Märkte und ihre Atmosphären: Mikrologien räumlichen Erlebens 9783495817643, 9783495489123


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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Zum Charakter von Märkten
1.1 Gemischte Märkte
1.1.1 Zur Geschichte der Märkte
1.1.2 Märkte als dynamische Ereignisorte und atmosphärische Räume
1.2 Markt-Plätze als Programm-Räume
1.2.1 Plätze in der Stadt
1.2.2 Plätze für Märkte
1.2.3 Zur Raumordnung von Plätzen
1.2.4 Plätze sind öffentliche Räume
1.2.5 Plätze sind Programm-Räume
1.2.6 Virtuelle Märkte
1.3 Blumenmärkte
1.3.1 Geschichte des »Blumenverkehrs«
1.3.2 Zur Etablierung des Blumenhandels
1.3.3 Blumengroßmärkte
1.3.4 Blumenauktionen und digitale Blumenmärkte
1.4 Fischmärkte
1.4.1 Fischereihäfen
1.4.2 »Fliegende« Ein-Mann-Fischmärkte
1.4.3 Die Hafenlogistik
1.4.4 Zur Atmosphäre auf Fischauktionen – ein Blick in die Geschichte
1.4.5 Das ethische Veto
1.5 Weihnachtsmärkte
1.5.1 Kulturhistorische Wurzeln
1.5.2 Städtische Event-Orte
1.5.3 Weihnachtsmärkte und ihre sedierenden Atmosphären
2. Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte
2.1 Die Groninger Platzfolge (Grote Markt und Vismarkt)
2.2 Der Grote Markt
2.2.1 Zum Situations-Charakter städtischer Ereignisräume
2.2.2 Die (überhörte) Lautlichkeit urbanen Treibens
2.3 Der gemischte Markt auf dem Vismarkt
2.3.1 Lebendige Bewegungsräume
2.3.2 Performative Dynamik
2.3.3 Das Ganze und das Einzelne
2.3.4 Geruchsräume
2.3.5 Klangräume
Lautliche Mannigfaltigkeit
Geräusch – Klang – Ton
Zur Situiertheit des Hörens
2.3.6 Musik und Atmosphäre
2.3.7 Eckräume
2.3.8 Tatsächlicher und atmosphärischer Raum
2.3.9 Das Plötzliche
2.3.10 Zur Verschachtelung von Situationen
2.3.11 Gesellschaftliche Atmosphären
2.3.12 Zum Wandel von Atmosphären
2.3.13 Atmosphärische Übergänge und Überlagerungen
2.3.14 Atmosphärische Spannungen
2.3.15 Zur Verortung von Atmosphären
2.3.16 Zum (interpretierenden) Verstehen von Situationen
2.4 Resümee
3. Zur Atmosphäre von Blumenmärkten
3.1 Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt
3.1.1 Lichterleben
Zur atmosphärischen Macht des Lichts
Das Helle
3.1.2 Performative Rhythmen
Zur situativen Dichte des Performativen
Choreographische Bewegungsmuster
Warten und Erwarten
Zeit-Orte
Zum Situations-Charakter des Marktes
3.1.3 Habitus
3.1.4 Gerüche und Geräusche
Zur Differenzierung von Gerüchen
Zur »Verortung« flüchtiger Gerüche
Ausbreitungsformen von Gerüchen und Geräuschen
3.1.5 Ästhetik
Ästhetik – Aisthetik
Der Schein des Schönen
3.1.6 Methodische Nachbemerkungen
3.2 Ein High-Tech-Blumenmarkt
3.2.1 Atmosphäre des Hypertechnischen
Technische »Ge-stelle«
Atmosphären der Spannung
3.2.2 Tempo und Atmosphäre
3.2.3 Spannungen im Verhältnis zwischen Natur und Technik
Natur hier – Kultur und Technik dort?
Der schöne Schein und das »Ge-stell«
Zur erkenntnisvermittelnden Macht des Augenblicks
3.2.4 Leibliche Präsenzen
Denkwürdige Gesten
Spannung und Affektdynamik
3.3 Resümee
4. Fischmärkte
4.1 Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen (Lauwersoog, Niederlande)
4.1.1 Erwartungen
4.1.2 Das vermeintliche Nichts als verdeckte Fülle
4.1.3 Ästhetische Spannungen
4.1.4 Dinge als Zeichen von Ordnungen
Dinge als Katalysatoren der Wahrnehmung von Atmosphären
Zur differenzierenden Macht zeichenhafter Dinge
Halbdinge – und was die Dinge übersteigt
Dinge werden vor dem Hintergrund von Situationen erlebt
4.1.5 Der Einfluss von Tieren auf die Konstitution von Atmosphären
Reste vom »unnützen« Tier als atmosphärische Medien
Das »schöne« Tier und sein atmosphärischer »Platz«
4.1.6 Mitlaufende Interpretation und das ethische Selbstgespräch
4.1.7 Eindrucksmomente der Irritation
Zur Funktion des Staunens, Stutzens und Erschreckens
»Begegnung«
4.2 Fischereihafen-Logistik am Vorabend einer Auktion
4.2.1 Zur situativen Ganzheitlichkeit von Eindrücken
Gelenkräume als Zwischenräume
4.2.2 Impressive und segmentierte Situationen als atmosphärische Medien
Die Entladung der Trawler – eine Collage mikrologischer Schauplätze
Ein »anderes« Schiff – eine verinselte Situation
Sinnliches Synchronerleben
4.2.3 Dominante Eindrücke
4.2.4 Tempi
4.3 Fischauktion in Hanstholm (Dänemark)
4.3.1 Ästhetische Präsenzen
4.3.2 Anwesenheiten
4.3.3 Zeitliche Rhythmen
4.3.4 Performative Dynamik
4.3.5 Das Plötzliche
4.3.6 Spannungsverhältnisse
4.3.7 Habituelle Präsenzen
4.4 Exkurs: Fischauktion in Grimsby (Großbritannien)
4.5 Historische Kontinuitäten
4.6 Resümee
5. Weihnachtsmärkte
5.1. Der Frankfurter Weihnachtsmarkt
5.2 Der Weihnachtsmarkt im Palais Thurn und Taxis
5.3 Der Weihnachtsmarkt auf der Ronneburg
5.4 Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten
5.4.1 Der Raum der Weihnachtsmärkte
5.4.2 Dinge als atmosphärische Medien
5.4.3 Habituelle Verortungen
5.4.4 Licht
5.4.5 Gerüche
5.5 Resümee
6. Ausblick
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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Märkte und ihre Atmosphären: Mikrologien räumlichen Erlebens
 9783495817643, 9783495489123

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Jürgen Hasse

Märkte und ihre Atmosphären Mikrologien räumlichen Erlebens

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817643

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B

Jürgen Hasse Märkte und ihre Atmosphären

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Jürgen Hasse Markets and their Atmospheres Micrologies of spatial experience Volume 2 Markets are live event spaces and deeply affecting milieus. Behind their lifeworldly familiar faces they prove to be highly complex situations. In phenomenological explorations, the deep structures of their happenings are made accessible to non-mundane reflections. Dense descriptions of the experience of these very ordinary places open up a differentiated understanding of diversified, colourful and multifaceted environments of their social world. Markets show themselves in intricate atmospheres woven into labyrinthine stories of daily life. In addition to the detailed exploration of a weekly market, the study examines semi-public flower and fish markets, as well as the therewith intertwined places of auction and logistics, from which the retail trade is supplied with goods. In view of these special worlds of particularly fast-paced trading, an »atmosphereology« unfolds, characterised by the irresolvable dependence of modern life on local and global markets (among other things and food). The Christmas markets, which are discussed in the concluding chapter, follow their own logic. Their focus is less on consumer goods than on feelings that are to be constituted against staged scenes of mythical and sentimental idealisation.

The author: Jürgen Hasse, born 1949, Professor emeritus at the Institute of Human Geography at Johann Wolfgang Goethe University in Frankfurt am Main. Specialist field: Spatial socialization of humans, spatial and environmental perception, phenomenological urban research, the relationship between humans and nature, aesthetics.

https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Jürgen Hasse Märkte und ihre Atmosphären Mikrologien räumlichen Erlebens Band 2 Märkte sind lebendige Ereignisräume und eindringlich affizierende Milieus. Hinter ihren lebensweltlich vertrauten Gesichtern erweisen sie sich als hochkomplexe Situationen. In phänomenologischen Erkundungen werden die Tiefenstrukturen ihres Geschehens dem nicht-alltäglichen Nachdenken zugänglich gemacht. Dichte Beschreibungen vom Erleben dieser ganz gewöhnlichen Orte eröffnen ein differenziertes Verstehen breit gefächerter, bunter und facettenreicher mitweltlicher Milieus. Märkte zeigen sich in verschachtelten Atmosphären, die in labyrinthische Geschichten des täglichen Lebens eingeflochten sind. Neben der detaillierten Erkundung eines Wochenmarktes widmet sich die Studie halb-öffentlichen Blumen- und Fischmärkten sowie den damit verflochtenen Orten der Auktion und Logistik, von denen aus der Einzelhandel mit Waren versorgt wird. Im Blick auf diese Sonderwelten eines besonders schnellen Handels entfaltet sich eine »Atmosphäreologie«, die von der unaufhebbaren Abhängigkeit des modernen Lebens von lokalen wie globalen Märkten (unter anderem der Nahrungsmittel) geprägt ist. Die in einem abschließenden Kapitel thematisierten Weihnachtsmärkte folgen ihrer eigenen Logik. Im Zentrum ihres Programmes stehen weniger Konsumgüter als vielmehr Gefühle, die sich vor inszenierten Kulissen mythischer und sentimentaler Verklärung konstituieren sollen.

Der Autor: Jürgen Hasse, geb. 1949, Professor emeritus am Institut für Humangeographie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Arbeitsgebiete: Räumliche Vergesellschaftung des Menschen, Raum- und Umweltwahrnehmung, phänomenologische Stadtforschung, Mensch-Natur-Verhältnisse, Ästhetik.

https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Jürgen Hasse

Märkte und ihre Atmosphären Mikrologien räumlichen Erlebens Band 2

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Jürgen Hasse Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48912-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81764-3

https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Zum Charakter von Märkten . . . . . . . . . . . . 1.1 Gemischte Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Zur Geschichte der Märkte . . . . . . . . . 1.1.2 Märkte als dynamische Ereignisorte und atmosphärische Räume . . . . . . . . . . . 1.2 Markt-Plätze als Programm-Räume . . . . . . . . 1.2.1 Plätze in der Stadt . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Plätze für Märkte . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Zur Raumordnung von Plätzen . . . . . . . 1.2.4 Plätze sind öffentliche Räume . . . . . . . . 1.2.5 Plätze sind Programm-Räume . . . . . . . . 1.2.6 Virtuelle Märkte . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Blumenmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Geschichte des »Blumenverkehrs« . . . . . 1.3.2 Zur Etablierung des Blumenhandels . . . . . 1.3.3 Blumengroßmärkte . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Blumenauktionen und digitale Blumenmärkte 1.4 Fischmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Fischereihäfen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 »Fliegende« Ein-Mann-Fischmärkte . . . . . 1.4.3 Die Hafenlogistik . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Zur Atmosphäre auf Fischauktionen – ein Blick in die Geschichte . . . . . . . . . . 1.4.5 Das ethische Veto . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Weihnachtsmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Kulturhistorische Wurzeln . . . . . . . . . 1.5.2 Städtische Event-Orte . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Weihnachtsmärkte und ihre sedierenden Atmosphären . . . . . . . . . . . . . . . .

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21 22 23

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27 35 35 39 40 42 43 45 46 47 49 53 55 57 59 61 62

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68 75 79 80 82

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Inhalt

2. Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte . . . . . . . . 2.1 Die Groninger Platzfolge (Grote Markt und Vismarkt) 2.2 Der Grote Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Zum Situations-Charakter städtischer Ereignisräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die (überhörte) Lautlichkeit urbanen Treibens . 2.3 Der gemischte Markt auf dem Vismarkt . . . . . . . . 2.3.1 Lebendige Bewegungsräume . . . . . . . . . . 2.3.2 Performative Dynamik . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Das Ganze und das Einzelne . . . . . . . . . . 2.3.4 Geruchsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Klangräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 Musik und Atmosphäre . . . . . . . . . . . . 2.3.7 Eckräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.8 Tatsächlicher und atmosphärischer Raum . . . 2.3.9 Das Plötzliche . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.10 Zur Verschachtelung von Situationen . . . . . 2.3.11 Gesellschaftliche Atmosphären . . . . . . . . . 2.3.12 Zum Wandel von Atmosphären . . . . . . . . 2.3.13 Atmosphärische Übergänge und Überlagerungen 2.3.14 Atmosphärische Spannungen . . . . . . . . . 2.3.15 Zur Verortung von Atmosphären . . . . . . . 2.3.16 Zum (interpretierenden) Verstehen von Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Atmosphäre von Blumenmärkten . . . . . . . . 3.1 Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Lichterleben . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Performative Rhythmen . . . . . . . . . . 3.1.3 Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Gerüche und Geräusche . . . . . . . . . . . 3.1.5 Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.6 Methodische Nachbemerkungen . . . . . . 3.2 Ein High-Tech-Blumenmarkt . . . . . . . . . . . 3.2.1 Atmosphäre des Hypertechnischen . . . . . 3.2.2 Tempo und Atmosphäre . . . . . . . . . . .

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. 206 . 213

. . . 220 . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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221 234 240 247 250 256 264 265 278 286

Inhalt

3.2.3 Spannungen im Verhältnis zwischen Natur und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Leibliche Präsenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fischmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen (Lauwersoog, Niederlande) . . . . . . . . . . . 4.1.1 Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Das vermeintliche Nichts als verdeckte Fülle . . 4.1.3 Ästhetische Spannungen . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Dinge als Zeichen von Ordnungen . . . . . . . 4.1.5 Der Einfluss von Tieren auf die Konstitution von Atmosphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.6 Mitlaufende Interpretation und das ethische Selbstgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.7 Eindrucksmomente der Irritation . . . . . . . . 4.2 Fischereihafen-Logistik am Vorabend einer Auktion . . 4.2.1 Zur situativen Ganzheitlichkeit von Eindrücken . 4.2.2 Impressive und segmentierte Situationen als atmosphärische Medien . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Dominante Eindrücke . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Tempi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Fischauktion in Hanstholm (Dänemark) . . . . . . . . 4.3.1 Ästhetische Präsenzen . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Anwesenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Zeitliche Rhythmen . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Performative Dynamik . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Das Plötzliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 Spannungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . 4.3.7 Habituelle Präsenzen . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Exkurs: Fischauktion in Grimsby (Großbritannien) . . 4.5 Historische Kontinuitäten . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. 5.1. 5.2 5.3

Weihnachtsmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . Der Frankfurter Weihnachtsmarkt . . . . . . . . Der Weihnachtsmarkt im Palais Thurn und Taxis Der Weihnachtsmarkt auf der Ronneburg . . . .

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289 296 302

. 306 . . . . .

307 318 323 327 334

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349 352 363 380

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387 396 399 406 418 425 428 431 436 438 442 448 457 461

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467 468 477 482

9 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Inhalt

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488 493 500 505 508 512 518

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.4 Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten 5.4.1 Der Raum der Weihnachtsmärkte . . . . . . . 5.4.2 Dinge als atmosphärische Medien . . . . . . . 5.4.3 Habituelle Verortungen . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Gerüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.

Stichwortverzeichnis

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10 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Einleitung

Märkte gehören zu den gewöhnlichsten und zugleich lebendigsten Orten einer jeden Stadt. Es gibt sie aber ebenso auf dem Lande, wenn sie dort in aller Regel auch weniger komplex und eher überschaubar sind. In allen Ländern und Kulturen spiegelt sich in ihnen wider, wie Menschen sich mit dem Notwendigsten des täglichen Lebens versorgen und mit allen möglichen Dingen bis hin zu exotischen Produkten und Luxusgütern Handel treiben. Es gibt gemischte Märkte, auf denen die sogenannten Endverbraucher vom Fisch über den Salat und den Käse bis hin zum frisch gebackenem Fladenbrot ihren täglichen Lebensmittelbedarf decken. Auf diesen Märkten sind die Menschen zu Hause; sie bilden gewissermaßen Knoten oder Weichen im räumlichen Bewegungsnetz des Wohnens. Deshalb spiegelt sich in den Wochenmärkten auch eine Facette städtischen bzw. ländlichen Lebens wider. * * * Die Atmosphären dieser »normalen« Märkte sind je nach Tages- und Jahreszeit, Wetter, Dichte der sich auf ihren Plätzen bewegenden Menschen sowie nach anderen wechselnden Bedingungen einem mitunter krassen Wandel unterworfen. Wenn auch ein jeder aus Erfahrung eine Vorstellung vom Gefühl des Mitschwimmens in ihren dynamischen Atmosphären haben mag, die manchmal lethargisch und beinahe wie gelähmt erscheinen und sich dann wieder in geradezu ekstatischen Turbulenzen überschlagen, so erschöpft sich die Erinnerung im Allgemeinen doch schnell in diffusen Bildern. Es sind dann eher von der Dauer der Zeit und dem Druck der Normalität »verwischte« Eindrücke, die sich in die Erinnerung eingeprägt haben als detailreiche und vielfältige Vorstellungen vom performativen Gesicht der zwischen den vielen Ständen, Zelten und Verkaufswagen ablaufenden Oszillogramme. Es ist aber nie »der« Markt im Allgemeinen, der beeindruckt; es 11 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Einleitung

sind die zu einer Zeit auf einem Platz zahllos sich ereignenden Geschehnisse, die zusammen einen stets besonderen Markt ausmachen – Augenblicke, die sich atmosphärisch zu spüren geben und sich in Segmenten in der Erinnerung festsetzen: beiläufige und beinahe notwendig oberflächliche Kontakte zwischen Händlern und Kunden, kaum bemerkte Berührungen zwischen Menschen, die sich in ihrem Leben nie wiedersehen werden, Begegnungen von Individuen, deren alltägliche Lebensbahnen sich nach langer Zeit zufällig an einem Verkaufsstand überkreuzt haben – aber auch Irritationen, überraschende und rätselhaft bleibende Ereignisse. Solche Segmente ragen als Fetzen eines vergangenen Irgendwann und -wo aus der gelebten Zeit heraus wie Felsen aus dem Wasser. Sie werden erinnert wie ein Zitat, dessen Quelltext in Vergessenheit geraten ist. Trotz ihres infra-gewöhnlichen und selbstverständlichen Charakters strahlen die gemischten Märkte, die periodisch stattfinden und zum Leben einer jeden Stadt gehören, eine beträchtliche Attraktivität für die Menschen aus. Sonst gäbe es sie angesichts des bequemen Einkaufs im modernen Supermarkt, der ein zudem viel differenzierteres Warenangebot bereithalten kann, schon längst nicht mehr. Dabei dürften es nicht allein die mitunter preisgünstigen Angebote sein, die die Menschen auf die Wochenmärkte führen. Deren Attraktivität ist umso bemerkenswerter, als der auf einem städtischen Platz stattfindende öffentliche Markt mit seinen Zeit beanspruchenden Face-to-Face-Situationen eine Ausnahme unter den Märkten bildet, sind die (Selbstbedienungs-)Supermärkte nicht nur im Bereich der Lebensmittel doch schon lange zu einer unhinterfragten Normalität geworden. So werden die Dinge des täglichen Bedarfs zu ihrem überwiegend größten Teil nicht auf Wochenmärkten gekauft, sondern in aller Regel zeitsparend und preisgünstig aus den Regalen der Supermärkte genommen, zu einer Kasse gefahren und nach dem Einscannen der hinter Barcodes verborgenen Preise vermehrt auf elektronischem Wege bezahlt – abstrakt, distanziert, stumm und seriell. Das hoch differenzierte System einer vielfältig diversifizierten Einzelhandelsökonomie hat die »alten« Märkte, die traditionell auf großen innerstädtischen Plätzen gehalten wurden und noch werden, zwar als prioritäre Orte des Handels verdrängt; als kulturelle und atmosphärische Milieus gehören sie jedoch ins Zentrum einer Kultur der Urbanität. Daran hat auch der Umstand nichts geändert, dass es zumindest in den großen Städten in der Gegenwart ein weit verzweigtes Netz an 12 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Einleitung

Geschäften eines hoch spezialisierten Einzelhandels gibt. Dieser gliedert sich nicht nur nach speziellen Warengruppen, sondern auch nach lebensstilspezifischen Angeboten. Die in bestimmten Wohnquartieren vieler Großstädte ansässigen Bio-Supermärkte lassen (noch in ihrer Zugehörigkeit zu Einkaufs- und Distributionsketten) einen hohen Grad der Konsolidierung »alternativer« vornehmlich urbaner Lebensstile erkennen. Die verschiedensten Spezialisierungen richten sich mit lifestyle-spezifischen Angeboten unter anderem an Menschen mit veganen Ernährungsgewohnheiten oder radikal-ökologischen bis esoterischen Einstellungsmustern. In High-Tech-Zeiten expandiert daneben der Typ des Online-Shops mit Liefer-Service, sowohl als Antwort auf den demographischen Wandel wie auch als Dienstleistung für Menschen, die sich die Anstrengung des eigenhändigen Transports des Selbstverständlichsten im täglichen Leben ersparen wollen. Die Einzelhandels-Ökonomie hat ein engmaschiges Netz an Warenangeboten etabliert, das nach rationalen Kriterien der Zweckmäßigkeit des einfachen und effizienten Einkaufs dem gemischten Markt in vielen Punkten überlegen ist. Umso mehr stellt sich die Frage nach den Gründen einer offensichtlichen Attraktivität gleichsam archaischer Märkte in der Mitte der Städte. Die vom »traditionellen« Wochenmarkt ausgehende hohe Anziehungskraft dürfte einen wesentlichen Grund in atmosphärischen Raumqualitäten haben. Allein Erwägungen der Kosteneinsparung und der Frische können die große Resonanz nicht erklären. Viele der wöchentlich stattfindenden gemischten Märkte werden außerdem als Quartiersmärkte gehalten. Als soziale Orte der Begegnung stärken sie das Eigene und Unverwechselbare lokaler Inseln des Wohnens in der Stadt. Solche Quartiersmärkte fungieren neben ihrer Versorgungsfunktion ganz wesentlich als Medien der Vermittlung von Gemeinschaftsgefühlen, die nicht erst über abstrakte (globalisierungs- und EU-politische) Ideologien gestiftet werden können, sich vielmehr im infra-gewöhnlichen Fluss alltäglicher Erfahrung von Ähnlichkeit im eigenen Lebensumfeld konstituieren. Aber auch der »große« städtische Wochenmarkt vermittelt die Identifikation mit der eigenen Stadt. Märkte sind lokale Ereignisorte, und sie werden viel weniger als die Abläufe in einem ganz alltäglichen Supermarkt von abstrakten Prozessen bestimmt. Schon ihre minimalistische Organisation verlangt den unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontakt, den zumindest knappen wörtlichen Dialog und den Austausch 13 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Einleitung

mit anderen Menschen, eine Form nicht technisch verstellter Kommunikation. Die »archaischen« Märkte stehen für das Andere anonymer und maschinistischer Markt-Systeme, die den Handel im Alltag immer mehr prägen. Nicht zuletzt beeindrucken die improvisierten Verkaufszelte und -wagen im Kontrast zu artifiziellen Selbstbedienungsläden (s. Abb. 0.1). Märkte vom Typ des Wochenmarktes sind in ihrer Physiognomie in gewisser Weise »architekturfreie« Räume. Die errichteten »Bauten« haben temporären Charakter; sie sind nicht fest mit dem Boden verbunden; baurechtlich werden sie als »fliegende Bauten« angesehen. Aber auch als vorübergehende Errichtungen an einer Stelle im Raum gehören sie als gestaltete und konstruierte Gebilde im weiteren Sinne zur »gebauten« Welt. * * * Gemischte Märkte bieten den Menschen schließlich neben einer Fülle von Waren etwas, worum es bei deren Kauf im engeren Sinne gar nicht geht – die sinnliche und ästhetische Erfahrung in der überschaubaren Sozialgestalt urbaner Lebendigkeit. Vielleicht werden sie auch deshalb – als Orte der Urbanität – von Menschen gern (zweckfrei) überquert oder zu Orten des kurzfristigen Aufenthalts. Wochenmärkten eignet ein archaisch soziales Moment, das sich atmosphärisch kontrastreich von den zahllosen innerstädtischen Märkten des hypermodernen Einzelhandels unterscheidet. Der schon lange selbstverständlich gewordene Begriff des »Supermarktes« erinnert daran. Die modernen Selbstbedienungsläden sind nicht nur funktional und organisatorisch, sondern auch atmosphärisch Märkte ganz anderer Art als die auf städtischen Plätzen oder breiten Straßen im öffentlichen Raum vorübergehend gehaltenen Wochenmärkte. Sie sind – sinnlich wie ästhetisch – eigenartige Räume. Meist liegen die Waren in offenen Auslagen auf rohen, abgenutzten Brettern; vor allem befinden sie sich räumlich (symbolisch vielsagend) zwischen Verkäufer und Käufer, die sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Der improvisiert-temporäre Charakter von Märkten impliziert eine prozedurale Einfachheit der Abläufe, wonach die Teilnahme am Marktgeschehen weitaus einfacher und umstandsloser ist als in der technischen Welt der Supermärkte. Im Vorbeigehen an einem Verkaufszelt kann der eine oder andere Einkauf im Sinne des Wortes beiläufig erledigt werden. Jeder Handel hat eine ungleich »persön14 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 0.1: Ekstatische Innenarchitektur im Einzelhandel (Amsterdam)

lichere« Note als der Erwerb derselben Sache in einem Fachgeschäft oder anonymen Selbstbedienungsläden. Die auf Märkten herrschende räumliche Ordnung ist als Ausdruck einer Improvisation der Stände und Wagen für den gleichsam »einfachen« Handel disponiert, der an die Urform des Tausches erinnert. Zumindest gibt es keine ökonomischen, distributiven und unternehmensrechtlich komplizierten Konstruktionen, die über so manchen Kauf selbst einfachster Dinge des täglichen Bedarfs den Schatten des Ungewissen einer ubiquitären Welt juristischer Überregulierung legen. * * * Die Turbulenz eines Marktes drückt sich zur Zeit seiner intensiven Nutzung in einem engen und zähen Bewegungsfluss aus. Dessen Rhythmus unterscheidet sich vom dichten Treiben in einer Fußgängerzone; im Milieu des Marktes ist der Wechsel von Stehen und Gehen bestimmend und nicht ein Bedürfnis reibungslos zügigen Vorankommens. Die Lebendigkeit eines Wochenmarktes zeigt sich für jeden, der sich in sein Dahin einfädelt, auf leiblich spürbare Weise. Die mal Gehenden und mal Stehenden kommen sich in einer Weise 15 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Einleitung

nahe, die sich von anderen Bewegungsmustern im öffentlichen Raum abhebt. Auch die sozialen Abstände sind deutlich geringer als im erzwungenen Warten in Schlangen, das durch die Markierung einer roten Bodenlinie ein intuitives Moment zwischenmenschlicher Beziehungen an die Form einer disziplinierenden, quasi-juristischen Regulierung verliert. Das enge Aneinander-Vorbei ist schon durch die Raumordnung des Marktes zumindest in den Zeiten seiner stärksten Frequentierung unvermeidlich. Die Reihen der Stände werden nicht durch breite Wege geprägt, sondern eher durch enge Gassen, die den Eindruck eines ganz eigenartigen sozialen Dichte-Raums vermitteln. In ihrem Erleben zeichnen sich Märkte durch eine situationsspezifische Dichte und Überlagerung von Atmosphären aus. Es gibt die übergreifende oder rahmende Atmosphäre eines Marktes; aber es gibt – als deren fraktale Brechung – auch die Vielzahl mikrologischer Atmosphären an den einzelnen Ständen. Das Neben- und Ineinander immer wieder stockender Bewegungsströme (gleichsam Rhythmen der Vitalität) haben ihren besonderen Einfluss auf die eigenartige Herumwirklichkeit einfacher Märkte, deren sonderweltliche Milieus atmosphärisch so anziehenden sind. Sie verdanken sich ganz wesentlich einer zeitlich rhythmisierten Wirklichkeit, die sich geradezu krass von der technifizierten und logistisch hoch komplex organisierten Welt spätmodernen Handels unterscheiden. Kein Markt geht in einer singulären Situation auf. Und dies nicht erst, weil er in seinen Außengrenzen tendenziell verschwommen ist, weil er – von den Markthallen abgesehen – keine architektonisch trennenden Mauern, Türen und Fenster hat. Zwar sind situationsspezifische Programme leitend, die (hintergründig) in Marktordnungen juristisch auch fixiert sind. Daneben verdankt sich die Situation eines Marktes aber doch einer Mannigfaltigkeit, Eigenart und Vielfalt großmaßstäblicher Orte in Gestalt von Zelten, Wagen und Ständen, die je nach Marktgröße mehr oder weniger stark variiert. Die Auslagen eines Gemüsehändlers sind ganz anders angeordnet und »organisiert« als die eines Metzgers, der schon durch die notwendige Einhaltung von Hygienevorschriften gezwungen ist, Würste, Steaks und Innereien nicht einfach wie Äpfel und Kartoffeln auf offene Flächen zu schütten. * * *

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Einleitung

Oft unterscheiden sich auch die Verkäufer und Verkäuferinnen in ihrem Habitus eindrücklich voneinander, sodass sie (vielleicht ungewollt) mit einem Schlage etwas Essentielles von sich zu verstehen geben. Die Kleidung spielt dabei neben der »architektonischen« Inszenierung der Stände eine wichtige Rolle. So symbolisiert der Anbieter von ökologischem Brot und Gebäck schon durch eine verwaschene und ausgeleierte Strickjacke, dass er (samt seinem Angebot) »anders« ist als der gleich nebenan seinen Stand betreibende Verkäufer von industriellem Serien-Toast und Fabrik-Gebäck. Auf großen Märkten verschwimmen die so unterschiedlichen Situationen mit ihren je eigenen Atmosphären diffus ineinander und bilden in ihrem kaleidoskopischen Charakter bunte Gemengelagen. Zur typischen Markt-Atmosphäre gehört eine spezifische Ungleichzeitigkeit: Eine ganz eigenartige Unübersichtlichkeit (zum Beispiel etwa in der Enge des Treibens) sowie eine erwartbare Übersichtlichkeit (zum Beispiel in der Organisation der Standreihen wie der systemischen Einfachheit der Abwicklung der Einkäufe). Wer einen Markt besucht, darf ganz bestimmte Raumbilder erwarten – aber nicht zugleich auch ein ganz bestimmtes Geschehen an lokalen Orten; im Einzelnen sind diese stets Hotspots der Überraschung, des Performativen, Plötzlichen und Unvorhersehbaren. Schließlich sind Märkte, deren architektonische Struktur aus Zelten und Wagen besteht, temporäre Ereignisorte. Damit kommen sie in ihrem Wesen dem Zirkus nahe. Auch dann, wenn ein Wochenmarkt nicht wie sein Name suggeriert, nur einmal, sondern mitunter mehrmals in der Woche gehalten wird, verschwindet er doch an jedem Abend eines Tages wieder in Gänze, um an einem anderen Tag derselben Woche wieder ganz von vorne zu beginnen. Die raumzeitliche Terminierung der Märkte bedingt eine sich selbst regulierende Lebendigkeit der Bewegungs- und Aktionsmuster, die Ausdruck besonderer Zeitlichkeit ist. Diese hat in atmosphärisch akzentuierender Weise unter anderem zur Folge, dass die Händler mit Waren wie Abfällen improvisierend ganz anders umgehen als sie das in permanenten Gebäuden tun könnten und dürften. Märkte sind nicht zuletzt Event-Räume eigener Art. * * * Während Erinnerungsbilder alltäglicher Märkte prinzipiell leicht wieder aktualisiert werden können, gibt es zu einer Vielzahl von 17 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Einleitung

Märkten gar kein lebensweltliches Erfahrungswissen, wenn sie in der Versorgung zum Beispiel mit Lebensmitteln tatsächlich auch (unbemerkt) eine große Rolle spielen mögen. Aber sie sind in einer gewissen Verdecktheit bzw. Hintergründigkeit der individuellen sinnlichen Erfahrung weitgehend entzogen. So finden die virtuelle Märkte als exklusive Orte nur für Insider statt, zu denen nur registrierte Händler Zutritt haben; beispielhaft sei auf die Finanzmärkte an den Börsen verwiesen, die Orte des Diamantenhandels, die im Internet abgewickelten Agrartermingeschäfte, zum größten Teil aber auch der Großhandel mit Blumen und frisch gefangenem Seefisch. Diese Märkte sind für den »Endverbraucher« Closed Shops. Sie sind das Andere dessen, was die Menschen von den ihnen vertrauten Wochenmärkten aus der alltäglichen Erlebnisperspektive ganz selbstverständlich kennen. Neben dem Beispiel eines in der niederländischen Großstadt Groningen mehrmals wöchentlich stattfindenden gemischten Marktes (Kapitel 2.3) werden in diesem Band auch zwei Markt-Typen mit einem je eigenen Charakter zum Gegenstand mikrologischer Durchquerung. Es sind dies Markt-Orte, Markt-Hallen und Auktionen, die abseits alltäglicher Aufmerksamkeit liegen. Diese speziellen Märkte finden nicht im öffentlichen Raum statt, sondern in technologischen und logistischen Spezialgebäuden. So sind auch die Blumengroßmärkte (Kapitel 3) und die Fischauktionsmärkte (Kapitel 4) dem Einzelhandel, wo und wie dieser auch immer stattfinden mag, vorgelagert. Die in zwei Beispielen beschriebenen Blumenmärkte haben ihr je eigenes technisches, logistisches und atmosphärisches Gesicht. Sie können nicht mit denen verglichen werden, die seit dem 19. Jahrhundert auf öffentlichen Plätzen gehalten wurden und mitunter auch heute noch in Gestalt größerer Wagengruppen oder Standordnungen in der Nähe zentraler Straßenkreuzungen oder an kleinen Plätzen anzutreffen sind. Thema dieses Kapitels ist zunächst ein Blumengroßmarkt mit regionaler Bedeutung für den großräumlichen Ballungsraum des Rhein-Main-Gebietes. Solche Großmärkte werden nächtlich und frühmorgendlich betrieben. Sie finden in einem raumzeitlichen Schatten weit abseits lebensweltlich erfahrbarer Stadträume statt, auch wenn sie sich topographisch inmitten der Stadt befinden. Die Blumenhändler decken hier oft täglich – zwischen Nacht und frühem Morgen – den Bedarf ihrer Geschäfte für die nächsten Tage (Kapitel 3.1). Die zweite dichte Beschreibung dieser thematisch speziellen Mikrologie widmet sich einem Blumenmarkt, der noch weiter 18 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Einleitung

von den Vorstellungen alltäglich vertrauter Blumenläden entfernt ist. Der nun in den Fokus rückende Auktionshandel ist international organisiert und mit globalen Zulieferernetzen verknüpft. Das Beispiel einer niederländischen Blumenversteigerung rückt eine Markt-Form in den Mittelpunkt, die beinahe in Gänze auf moderner Computertechnologie und High-Tech-Logistik basiert. Bei der Royal FloraHolland (hier in Eelde bei Groningen) decken die Einkäufer des regionalen und überregionalen Großhandels den Bedarf für ihre Kunden im Einzelhandel (Kapitel 3.2). Es schließt sich ein größeres Kapitel über spezielle Fischmärkte an. Es besteht aus mehreren Mikrologien und macht je eigene Situationen der Fischereiwirtschaft denkwürdig. Am Beginn steht die Atmosphäre im niederländischen Garnelenumschlaghafen Lauwersoog, der sich an einem Samstagmorgen in einem schlafähnlichen Zustand befand und wie ausgestorben wirkte (Kapitel 4.1). Zur Zeit der Beobachtung gab es keine hafenwirtschaftlichen Aktivitäten; alle typischen Transportabläufe des Seehafens hatten sich in gewisser Weise in einen Latenz-Zustand zurückgezogen. Nur die vom letzten großen Treiben im Hafen zurückgebliebenen Dinge der Fischereiwirtschaft hatten auf einen hintergründig spürbaren Fischmarkt verwiesen. Die Leere eines (logistischen) Marktplatzes hat in besonders immersiver Weise das Wesen des internationalen Handels mit Fisch und Seegetier problematisiert. Es war die dichte Atmosphäre einer anwesenden Abwesenheit, die unter anderem ethische Fragen evozierte. Eine zweite Mikrologie beschreibt die hyperaktiven, flinken und bisweilen turbulenten Aktivitäten in Hanstholm, einem der größten am Skagerrak gelegenen dänischen Fischereihäfen. Die Mikrologie gliedert sich in zwei Teile. Der erste handelt von der Entladung der an den Kais festgemachten Fischtrawlern (Kapitel 4.2), deren Mannschaften eilig damit beschäftigt waren, den frisch gefangenen Seefisch in Kühlhallen einzulagern. Der zweite Teil widmet sich der am frühen Morgen des nächsten Tages in Kühlhallen durchgeführten Versteigerung der Fänge (Kapitel 4.3). Eine letzte Gruppe von drei Beschreibungen subjektiven Markterlebens handelt von Weihnachtsmärkten und damit einem MarktTyp, auf dem es im engeren Sinne nicht um den Handel mit Dingen geht, sondern die Zirkulation von Atmosphären und sentimentalen Gefühlen weihnachtlicher Harmonie (Kapitel 5). Auch diese »Märkte« gehören neben den Wochenmärkten und den Flohmärkten zu jenen Orten, die in einer gewissen Selbstverständlichkeit versinken. 19 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Umso mehr fördert die vergleichende phänomenologische Reflexion dieser ganz speziellen Erlebnisorte der Sentimentalisierung Atmosphären zu Tage, die einen Markt-Typ verständlicher werden lassen, dessen primäre Funktion darin besteht, Gemeinschaftsgefühle leiblich spürbar werden zu lassen. * * * Während konkrete Hinweise und knappe Erläuterungen zu den lokalen Orten und Situationen einzelner (zum Beispiel Fisch-, Blumenoder Weihnachts-) Märkte in den betreffenden Kapiteln zu finden sind, seien im Folgenden allgemeine Erläuterungen zur Eigenart und Geschichte der thematisierten Markt-Typen vorangestellt. Dass diese in ihrem Umfang unterschiedlich ausfallen, liegt im Wesentlichen daran, dass die relevante wissenschaftliche und historisch-regionalkundliche Literatur zum Beispiel über Fischmärkte recht facettenreich, über Blumen- aber auch Weihnachtsmärkte eher spärlich ist. In diesem Band wird auf die ausführliche Darstellung der erkenntnistheoretischen Orientierung sowie die phänomenologische Begründung der Methode der Mikrologien als erkenntnistheoretischer Weg der Annäherung an die Erlebniswirklichkeit atmosphärischer Räume verzichtet. Alle auch für diesen Band relevanten Ausführungen finden sich in den Kapiteln 1 bis 3 von Band 1 »Die Aura des Einfachen. Mikrologien räumlichen Erlebens«.

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1. Zum Charakter von Märkten

Der Begriff des Marktes hat vielfältige Bedeutungen. Er steht für unterschiedliche Veranstaltungen zum Handel mit Waren und Dienstleistungen. Dieses Kapitel wird sich auf jene Markt-Typen beschränken, die in den Mikrologien durch subjektive Eindrucksbeschreibungen thematisiert werden. Dies sind zunächst (in Kapitel 1.1) die gemischten Märkte, die seit der Antike in den Städten dem öffentlichen Handel dienen. Sie leben in der Form der Wochenmärkte fort. Ihr prädestinierter Ort ist nach wie vor der öffentliche Platz. Deshalb setzt sich das Kapitel 1.2 mit den Markt-Plätzen auseinander, auf denen bis in der Gegenwart neben dem Wochenmarkt und dem Flohmarkt zum Beispiel der Weihnachtsmarkt gehalten wird. Die auf Plätzen stattfindenden Märkte sind öffentliche Veranstaltungen. Sie erinnern an Idee und Funktion des »Urmarktes«, der in der Mitte der Stadt seinen Platz hatte, weil er dort von vielen Menschen umstandslos erreicht werden konnte. Märkte wurden und werden jedoch nicht immer auf Plätzen bzw. unter freiem Himmel gehalten. Schon im vorchristlichen Griechenland fanden sie unter anderem in Gebäuden statt, wenn diese auch nicht allein der Marktfunktion vorbehalten waren. So war die Basilika auch »eine einfache Art von Markthalle oder Börse«. 1 Das Kapitel 1.3 wird sich mit einem Beispiel zum internationalen Blumenhandel der speziellen Marktform der Auktion zuwenden, die keinen öffentlichen Charakter hat, sondern allein für Großkunden ausgerichtet wird. Die Auktions-»Märkte« werden nicht auf Plätzen gehalten, sondern in speziellen Bauten, die die je nach Warengattung nötigen technischen Infrastrukturen aufweisen. Da der Handel mit Blumen, vor allem im Hinblick auf die ihm eigene atmosphärische Qualität und situationsspezifische Dynamik im Schrifttum kaum Niederschlag gefunden hat, wird dieses Kapitel weit weniger ausführlich sein als das über die Fischmärkte. Diese haben in der (vor allem 1

Neuburger, Die Technik des Altertums, S. 378.

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Zum Charakter von Märkten

historischen Literatur zur Situation des Handels im 19. und frühen 20. Jahrhundert) relativ große Beachtung gefunden (s. Kapitel 1.4). Das mag zum einen daran liegen, dass der Fischhandel stets herausragende wirtschaftliche Bedeutung für die Seehafenstädte hatte. Daneben nahm die Diskussion der Sicherung der Ernährungsgrundlagen einer seinerzeit schnell wachsenden Bevölkerung großen Raum ein. Der Fischhandel (die Anlandung der Fänge in den Seehäfen, ihre Einlagerung in Kühlhäusern und der schnellstmögliche Umschlag über Auktionen) spielte in diesem Rahmen eine wichtige Rolle. Ein weiterer Grund dürfte mit dem kostenaufwendigen, jedoch unverzichtbaren Ausbau einer entsprechenden Infrastruktur für die Lagerung der Fänge (Kühlhäuser) und den Güterumschlag (Auktionshallen, Schienennetze der Bahn) zu tun haben. Wie die modernen Blumenauktionen so sind auch die in der Gegenwart durchgeführten Fischversteigerungen Insider-Märkte. Sie sprechen den Großhandel an, der die ersteigerten Einkäufe an die Geschäfte des Einzelhandels weiterverkauft. Ein letztes kürzeres Unterkapitel (1.5) zum Weihnachtsmarkt wird sich abschließend wieder einem auf öffentlichen Plätzen in der Mitte der Stadt ausgerichteten Markt-Typ zuwenden.

1.1 Gemischte Märkte Die antike Stadt hatte ihren Markt innerhalb des Tempelbezirks. Die dort befindlichen Speicher enthielten »eine unendliche Vielzahl von Artikeln: Korn, Sesamsaat als Rohstoff zur Ölgewinnung, Gemüse, Bier, Datteln, Wein, Fisch (getrocknet oder eingesalzen), Fett, Wolle, Häute, riesige Mengen von Schilf und Binsen, Asphalt und Steine.« 2 In gewisser Weise ließen sich diese antiken Märkte als gemischte Märkte bezeichnen, auf denen das Spektrum der heute auf ihnen zu findenden Waren jedoch in einer schwer vorstellenbaren Weise vielfältiger und heterogener gewesen sein muss. Der »große Markt« (als topographischer Name ist dieser Begriff in vielen Städten bis heute aus der Geschichte erhalten geblieben) war in seiner Zeit schon deshalb ein urbaner Ort, weil auf ihm die für das Leben innerhalb der Befestigung erforderlichen Dinge – vor allem Nahrungsmittel und Kleidung – verkauft bzw. versteigert wurden. Infolge dieser Funktion 2

Mumford, Die Stadt, S. 85.

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Gemischte Märkte

war er zwangsläufig eine soziale Weiche an zentraler Stelle im Raum der Stadt. Er war zentraler Ort der Kommunikation, der erste Ort des Austauschs formeller wie informeller Informationen und Nachrichten – schlechthin »der« Knotenpunkt jedweder Begegnung. Lewis Mumford führt die Verwendung des sumerischen Schriftbildzeichens Y für »Markt« auf diese Schnittstellenfunktion zurück. 3

1.1.1 Zur Geschichte der Märkte Der Markt war für das städtische Leben unverzichtbar. Das Zusammenleben einer nicht nur zahlreichen, sondern in ihrer Sozialstruktur heterogenen Bevölkerung setzte ihn infolge höchst vielfältiger Nachfragen nach unterschiedlichsten Waren gleichsam voraus. Die Stadt war ein Ort regen Handels, der nicht zuletzt den Kaufleuten ein gutes Auskommen sicherte. Er sorgte aber auch für weitreichende ökonomische und kulturelle Austauschbeziehungen weit über die Grenzen der Stadt hinaus. 4 Spätestens um 2000 vor der Zeitrechnung haben sich nach Lewis Mumford zwei klassische Marktformen etabliert: zum einen der offene Platz oder überdachte Basar und zum anderen »die von Verschlägen oder Läden eingefaßte Straße« 5. Erst später etablierte sich die Institution eines Marktes als eine eher flüchtige Veranstaltungsform. Märkte konstituierten sich ursprünglich mit der Versammlung wandernder Krämer, um zu bestimmten Zeiten an geeigneten Orten Handel zu treiben. Sie hießen auch »öffentliche Verkäufe«, die oft anlässlich kulturell herausragender Ereignisse stattfanden und spätestens seit dem Mittelalter nach bestimmten Warengattungen (auf je eigenen Plätzen) gehalten wurden. 6 Bis in die Gegenwart sind Platz- und Marktnamen erhalten, die auf einen rituellen Anlass, eine bestimmte Bedeutung oder die gehandelte Warengattung hinweisen: Großer Markt, Weihnachtsmarkt, Ostermarkt, Pfingstmarkt, Getreidemarkt, Kornmarkt, Gemüsemarkt, Fleischmarkt, Viehmarkt (bzw. Rindermarkt, Roßmarkt), Fischmarkt 7 usw. In früheren Jahrhunder-

3 4 5 6 7

Vgl. ebd., S. 84. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84. Vgl. Schachner, Märkte und Markthallen, Bd. I, S. 18. Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 1648.

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Zum Charakter von Märkten

ten waren die allgemeinen Märkte (im Sinne der Wochenmärkte) wichtige Handelsplätze, auf denen die landwirtschaftlichen Produkte aus der Region direkt an den Verbraucher verkauft wurden. Diese Institutionen waren für die Versorgung der Bevölkerung mit frischen Lebensmitteln wichtig. Die Waren wurden, wie nicht selten noch in der Gegenwart üblich, zum Zwecke ihrer Präsentation wie des Verkaufs auf einfachen hölzernen Auslagen ausgebreitet, die auf Böcke gelegt wurden (»Schragenstände« 8). Sie wurden aber auch direkt in den Transportwagen angeboten, mit denen die Erzeuger die Waren auf den Markt brachten (s. Abb. 1.1). Märkte verlangten in ihrer regelmäßigen Wiederholung auf je bestimmten Plätzen eine Reihe zum Teil technischer Vorkehrungen, die den reibungslosen Ablauf des Handels erst verbürgten, ihm zumindest fördernd entgegenkamen. So gab es früher zum Beispiel oft einen Brunnen, der »zum Reinigen und Auffrischen von Grünzeug, Gemüse usw.« 9 diente. Die Ansammlung großer Menschenmengen zum Teil über die gesamte Dauer des Marktes (das betraf in erster Linie die Händler und ihre Helfer) erforderte nicht zuletzt die Anlage sanitärer Einrichtungen: »Bei großen Marktanlagen sind mehrere Bedürfnisanstalten, auch für den allgemeinen Verkehr, vorzusehen« 10, merkte Schachner noch Anfang des 20. Jahrhunderts an. Öffentliche Toilettenanlagen befinden sich auch beim Großen Markt in Groningen; sie sind unterirdisch angelegt und vom Fischmarkt leicht zu erreichen (s. Kapitel 2.1). Schon im Mittelalter unternahmen die Städte Anstrengungen zur Gewährleistung der Sauberkeit auf den Markt-Plätzen. Eine Reihe von Vorschriften sollte zum Beispiel Praktiken verhindern, bei denen allzu leicht Geruchs- und Gestank-Emissionen entstanden. Die Schweinehaltung auf den Märkten war eine besondere Quelle der Verunreinigung, weshalb sie den Garbrätern verboten wurde. 11 Es gab weitere Regeln, die die hygienischen Bedingungen des Verkaufs betrafen; so durften keine wandelbaren Sachen verkauft werden, und bestimmte Waren (wie Butter) mussten in speziellen Gefäßen angeboten werden. Schließlich wurden Vorkehrungen getroffen, die sicherstellen sollten, dass kein verdorbenes Fleisch verkauft wurde Schachner, Märkte und Markthallen, Bd. I, S. 49. Ebd., S. 47. 10 Ebd., S. 50. 11 Vgl. Tschipke, Lebensformen in der spätmittelalterlichen Stadt, S. 22. 8 9

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Gemischte Märkte

Abb. 1.1: Gemischter Markt in Groningen (Niederlande) um 1900

(etwa über die Fleischbeschau) und unkonservierter Fisch gar nicht erst in den Handel gelangte. 12 Die Marktknechte und Stadtwächter hatten dafür zu sorgen, dass sich die Verstöße im Rahmen hielten. Sie waren auch dafür zuständig, auf sogenannten »Dreckwagen« den während der Zeit des Marktes anfallenden Müll und Kehricht abzutransportieren. 13 Auch die architektonische Ausgestaltung der Plätze sollte unangenehme Gerüche, durch die die Käufer hätten belästigt werden können, verhindern. Deshalb war es schon in der Zeit des Mittelalters oft üblich, die Platzanlagen mit einem Steinpflaster zu versiegeln. So konnten sie leichter gereinigt werden, und auch in ihrer Benutzung fiel weniger Schmutz an. Schließlich waren gepflasterte Plätze in gewisser Weise wetterbeständig, reichte doch sonst schon ein kräftiger Regenschauer, um den Boden aufzuweichen, zu verschlammen und praktisch unbenutzbar zu machen, in jedem Falle aber eine hygienisch prekäre Situation entstehen zu lassen. Um die Plätze herum 12 13

Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 23.

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Zum Charakter von Märkten

waren für die Oberflächenentwässerung auch Abflussrinnen angelegt. Von ihnen stiegen nicht selten ekelerregende Schwaden auf, war es doch üblich, alles Mögliche in die Gossen zu werfen, das nach heutigen Hygienevorstellungen auf andere Weise entsorgt würde. Die Bereitschaft der Menschen, einen Markt zu besuchen, wurde zu allen Zeiten nicht zuletzt durch rein äußerliche Bedingungen des Klimas und des Wetters bestimmt. Insbesondere in der feuchten und kalten Jahreszeit waren Märkte unter freiem Himmel mit ihren dann eher unwirtlichen Atmosphären zu allen Zeiten keine besonders beliebten Orte des vorübergehenden Aufenthalts. Zahlreiche Städte in Italien, aber auch in Mittel- und Norddeutschland suchten deshalb schon früh nach architektonischen Lösungen für die wetterunabhängige Verstetigung der Märkte. »Im Mittelalter und auch späterhin wurden häufig im Erdgeschosse der an Hauptplätzen und Hauptstraßen gelegenen Häuser Säulenhallen und Bogengänge (14) eingebaut, in denen sich neben dem Markte auf dem freien Platze ein Teil des Handelsverkehrs abspielte.« 15

Märkte fanden jedoch nicht ausschließlich auf öffentlichen Plätzen und in besonderen Straßenräumen statt, sondern auch in speziellen Markthallen. 16 lm arabischen Raum waren es die heute weithin noch erhaltenen Basare 17, die sich in einem labyrinthisch verzweigten System überbauter Ladengassen im inneren Außenraum der mittelalterlichen Bebauung befanden und ähnliche Aufgaben im Raum der Stadt erfüllten wie die Markthallen in Europa. Die 1862–1865 als westliche Begrenzung des Groninger Fischmarkts errichtete neoklassizistische Kornbörse bietet ein solches Beispiel (s. Kapitel 2.1). Die Kornbörse war eine spezielle Markthalle, in der Getreide gehandelt wurde; in ihr fand kein gemischter Markt und schon gar kein Fischmarkt statt. Ihre Errichtung ging auf eine ökonomische Notwendigkeit zurück; die jährlichen Getreideernten waren so umfänglich, dass angesichts der überregionalen Bedeutsamkeit ihrer Vermarktung die Schaffung Diese wurden ebenso »Lauben« oder »Bögen« genannt. Schachner, Märkte und Markthallen, Bd. I, S. 8. 16 Markthallen dienten zum Beispiel als »überdachter Raum für den Wochenmarkt«; vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 1653, vgl. auch Bd. 10, Sp. 231. Ausführlich widmet sich Wasmuths Lexikon der Baukunst den Markthallen. Dabei werden vor allem die sich durch die Größe der Bauwerke schon fordernde, besondere konstruktive, ästhetische Seite ihrer Architektur gewürdigt; vgl. Wasmuth, Wasmuths Lexikon der Baukunst, Band 3, S. 580–584. 17 Bazar, steht in der persischen Sprache für Markt. 14 15

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Gemischte Märkte

eines geeigneten Umschlagsortes geboten erschien. Ihrem Typ nach entspricht diese Architektur in etwa dem, was heute Fisch- oder Blumenauktionshallen leisten. Zur Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden in vielen europäischen Städten Markthallen unter anderem in (wettergeschützten) Arkaden bzw. Laubengängen errichtet. In den 1910er und 20er Jahren entstanden in vielen Großstädten architektonisch und konstruktiv herausragende Großmarkthallen 18 (zum Beispiel in Breslau, Hamburg, München, Frankfurt am Main, Leipzig, Reims und Basel) 19. Wenn heute auf Wochenmärkten zunehmend einfache gastronomische Dienstleistungen angeboten werden, so drückt sich darin nur scheinbar eine postmoderne Innovation aus. Tatsächlich hat zum Beispiel der Verkauf von Kaffee auf großen Märkten Tradition: »Gut gehende Geschäfte bilden auf den offenen Märkten Kaffeebuden und Verkaufsstände für warme Würste und dergleichen« 20, merkte Schachner 1914 an. Auch die mikrologische Beschreibung des Geschehens auf dem niederländischen Wochenmarkt in Groningen enthält eine Anmerkung zum Angebot von frischem Kaffee an einem speziell für diesen Zweck gebauten, bunt lackierten Kabinenroller (s. Abb. 2.9, S. 109).

1.1.2 Märkte als dynamische Ereignisorte und atmosphärische Räume Gemischte oder Wochenmärkte bieten kein homogenes oder einfarbiges Bild. Sie beeindrucken vielmehr als sinnlich mannigfaltige Milieus. Die physiognomische Vielfalt der Stände, Wagen und Zelte kehrt ästhetisch in einer Buntheit der Farben und Gerüche wieder. Auch die Händler, Verkäufer und Verkäuferinnen geben sich in ihrem Habitus auf eine Weise zu verstehen, die etwas über ihr Verhältnis zu den angebotenen Waren verrät. Nicht selten scheinen sie ideologisch Zur baulichen Physiognomie und Geschichte der Markthallen vgl. auch Müller, Die Markthalle. Müller weist darauf hin, dass ein Zweck der Markthallen nicht zuletzt darin bestanden hat, die obrigkeitliche bzw. polizeiliche Kontrolle nicht nur über das Treiben auf Märkten, sondern ebenfalls über die Bevölkerung der Städte effektiv ausüben zu können; vgl. S. 206. 19 Vgl. Wasmuth, Wasmuths Lexikon der Baukunst, Band 3, S. 584. 20 Schachner, Märkte und Markthallen, Bd. I, S. 50 f. 18

27 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

an ihre Waren gleichsam gebunden zu sein, sodass sie sich schon in ihrer körperlichen Sichtbarkeit von anderen Anbietern ähnlicher Waren unterscheiden wollen. Im Milieu von Wochenmärkten entfalten sich chaotische Ordnungen des Vielen, Heterogenen, Ähnlichen, aber auch des Seltsamen und Eigenartigen. Über die Medien der Dinge und Personen konstituieren sich dicht, mitunter hektisch, dann wiederum gelassen wirkende Atmosphären. In ihrer olfaktorischen, visuellen und lautlichen Präsenz sind sie oft wechselhaft. Dennoch ähneln sich die meisten bestimmenden Markt-Atmosphären, die von einer ganz spezifischen Lebendigkeit geprägt sind, auch wenn diese oft ihren Rhythmus verändert und nicht auf etwas Einfaches (im singulären Sinne) festgelegt werden kann. Die beobachtbaren performativen Oszillogramme sind Ausdruck eines improvisierten Geschehens, das jeden temporären Markt kennzeichnet. Dies bringt sich nicht zuletzt in einem überraschungsreichen Ablauf in Gestalt geschäftigen Treibens vor und hinter den Ständen zur Geltung. Der habituell vorherrschende Bewegungs-Rhythmus auf einem Markt ist durch einen Wechsel zwischen eher langsamem, schiebendem, schlenderndem Gehen zum einen und gelassen-wartendem Hier-und-dort-Stehen zum anderen getaktet. Wer über einen Markt hetzt, gehört nicht zu ihm, überquert ihn aus irgendwelchen Gründen, die nichts mit ihm zu tun haben. Ein belebter Markt hat die dialogische Grundmelodie eines vitalen Rhythmus, der sich im persönlichen Austausch zwischen den Menschen zeigt. Die Bewegungsmuster vor und hinter den Ständen spielen sich in wechselseitigen Resonanzen ab und entfalten ihre eigene Theatralik. Im Gesicht solcher Rhythmen bahnt sich schließlich am späten Nachmittag – zunächst langsam, sich zuspitzend und sodann geradezu lärmend – das Marktende an (s. auch Kapitel 2). Mit dem Wandel des Marktgeschehens verändern sich meist auch seine Programme; sie passen sich dann »flüssig« an die sich verändernden Situationen an. Aber auch sachverhaltliche Änderungen sind nur Spiegel von Programmen – als Antwort auf die aktuelle Marktsituation oder als Folgewirkung eines Problems. Aktuelle Markt-Programme wandeln sich über die gesamte Dauer eines Marktes in einem autopoietischen Sinne permanent – bis »der Markt aus ist« 21. Bis in die Gegenwart entfaltet sich die atmosphärische Vitalqualität der Märkte in einem virulenten und dichten Milieu. Spätes21

Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 1645.

28 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Gemischte Märkte

tens seit mittelalterlichen Zeiten waren und sind Märkte nicht nur kommerzielle Orte, sondern in der Versammlung von Menschen Orte »der größten Öffentlichkeit« 22. Diese war stets mit einer anderen atmosphärischen Lebendigkeit verbunden als das Treiben in abgelegenen Straßen, Hinterhöfen oder anderen Orten abseits der Konzentration großer Menschenmengen. Was wir heute Urbanität nennen, hat seine Wurzeln zu einem beträchtlichen Umfang in der historisch je spezifischen Lebendigkeit der Märkte. Vor allem die speziellen Märkte haben sich stets nicht nur nach Warengattungen, sondern auch nach den sich mit diesen Waren auf ganz eigene Weise verbindenden Atmosphären und herumräumlichen Erlebnisqualitäten unterschieden. Die Dinge haben ihr eigenes »Ausdrucksleben«. Pflanzliche Produkte »sind« nicht nur anders als tierische, sie riechen auch anders und geben sich schließlich für je naheliegende Gebrauchs- und Verwertungsformen zu erkennen. Nicht zuletzt stellen sich mit ihnen – mehr hintergründig als evident – spezifisch ethische Fragen und Probleme. Diese sind auf latente Weise mit der sinnlichen Gegenwart der Waren präsent (s. dazu die Mikrologien zum Blumen- wie zum Fischmarkt). Beim Handel mit geschlachteten Tieren suggerieren sich mitunter im Moment des sinnlichen Erlebens der ausgelegten Exemplare sogar leibliche Regungen des Ekels. In jedem Falle berühren gegenwärtige Tiere oder Teile von ihnen in anderer Weise emotional als pflanzliche Produkte, Backwaren, Eier oder ein Käselaib. Nicht nur, aber auch deshalb hat ein Fischmarkt eine andere Atmosphäre als ein Trödelmarkt und dieser wiederum eine andere als ein Textilmarkt. Zu besonderen Märkten gehören besondere Atmosphären. Diese sind so fragil wie alle Atmosphären. Schon durch einen plötzlichen Regenguss können sie aufgelöst oder so grundlegend umgestimmt werden, dass sie auf einmal zu anderen werden. Oft sind es Sachverhalte (was in einer Situation ist), die einen atmosphärischen Wandel einleiten. Die sich in Atmosphären facettenreich zur Geltung bringende Gegenwart ausliegender Waren macht darauf aufmerksam, dass diese nicht zuletzt einen ästhetischen Wert haben. Mitunter kann er sogar maßgeblich ihren ökonomischen Tausch- und praktischen Gebrauchswert bestimmen. So folgt der Handel mit Schnittblumen in Gänze ästhetischen Kategorien. Das ist selbst bei solchen Blumen und Pflanzen im Prinzip nicht anders, die zum Beispiel als Heilkräuter 22

Ebd., Sp. 1649.

29 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

angeboten werden. Wenn diese zum Beispiel eines bestimmten Geschmacks wegen gekauft werden, gehört diese ästhetische Qualität als sinnliche, halbdinghafte Eigenschaft untrennbar zum Charakter der Pflanze. Beinahe alle Lebensmittel – von Obst über Gemüse, Käse und Gebäck bis hin zu Fisch und Geflügel – werden nur ausnahmsweise allein aus »guten« (ernährungsphysiologischen) Gründen gekauft. Zumindest werden sie auch an kulinarischen Kriterien ihres Geschmacks gemessen. Mit anderen Worten: Die Lebensmittel, die Menschen auf Märkten kaufen, sollen nicht nur der Sättigung dienen und nicht allein der biologischen Versorgung des Körpers mit Nährstoffen. Sie sollen ebenso einem ästhetischen Zweck dienen, das heißt »schön« aussehen, vor allem aber gut schmecken. Das heißt letztlich, dass die gesamte Ökonomie der auf einem gemischten Markt angebotenen Lebensmittel einer sinnlich-ästhetischen Rationalität der Präsentation wie der Rezeption unterworfen ist. Noch deutlicher wird der Stellenwert ästhetischer Erwägungen auf den Weihnachtsmärkten. In ihrem romantizistisch-sentimentalisierenden Programm steht der Wunsch nach dem Schönen, Guten und Harmonischen geradezu im Vordergrund. Schließlich verdankt sich die soziale Atmosphäre auf gemischten Märkten einer leibnäheren Qualität als eine Atmosphäre im öffentlichen Straßenraum der Stadt oder beim »distanzierten« Kauf von Waren in einem Supermarkt. Die kleinteiligen, lokalen Atmosphären eines Marktes werden ebenso ganz wesentlich durch die sinnliche Nähe der Käufer zum Produkt bestimmt. Diese ergibt sich nicht von selbst; die Möglichkeit der Annäherung ist mal mehr durch die Art der Waren bedingt, mal mehr durch behördliche Regulierungen disponiert. Während bestimmte Lebensmittel taktil berührt werden dürfen (Paprikaschoten, Kartoffeln, Tomaten etc.), müssen andere – in aller Regel aus hygienischen Gründen – abgeschirmt werden (das frisch geschlachtete Huhn, die Forelle oder der sich noch windende Aal). Deshalb liegt frisches Fleisch – zumindest im nordeuropäischen Kulturkreis – meist in gekühlten Auslagen und ist zudem durch Glasscheiben vom potentiellen Käufer ent-fernt. So wird die sinnliche und ästhetische Beziehung der Markt-Kunden zu den Waren auch – gleichsam in der mikrologischen Perspektive einer Proto-Theorie der Architektur wie des Designs – durch eine gewisse »Architektonisierung« der Lebensmittel gestimmt, das heißt durch warenspezifische Innen-Außen-Verhältnisse. Die taktilen Beziehungen zu »familienähnlichen« Waren müs30 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Gemischte Märkte

sen ihrer Möglichkeit nach indes nicht erst durch die »architektonische Intervention«, also die Errichtung von Glas- oder anderen Trennwänden, reguliert werden, wenn diese sichernden Grenzen in aller Regel auch schon zur Ausstattung der speziellen Wagen für den Verkauf von Fleisch, Käse oder Fisch gehören. Schon über die Aura ihres Erscheinens zeigen sich Abstand gebietende Dinge als weniger berührbar denn solche, die man wie Obst oder Gemüse sowie Früchte, die eine Schale haben, gewohnt ist unmittelbar vor sich zu haben. Die Dinge suggerieren durch ihre Physiognomie von sich aus, aber auch durch das, was man von ihnen und ihrem Gebrauch weiß, zulässige Nähe oder gebotene Distanz. Daneben gibt es kulturabhängige Gebrauchstraditionen, die die Dinge in ihrer Wahrnehmung zu etwas ganz und gar Alltäglichem oder aber zu etwas Exotischem, mitunter sogar Spektakulärem machen. Auch die kulturelle Einbettung der Dinge in Gebrauchsgewohnheiten reguliert mögliche wie unzulässige Nähe-Verhältnisse der Menschen zu den optionalen Objekten ihres Begehrens. Die Aura der Dinge suggeriert durch das, was diese uns alltagskulturell bedeuten, nicht zuletzt taktile Barrieren der Unberührbarkeit. Das Verstehen von Distanz-Geboten wie (möglichen) Nähe-Beziehungen vermittelt sich auf dem Wege der Protentionen durch synästhetisches Spüren 23. Es geht dabei eher um spürbare als sichtbare Grenzen. Die Verhältnisse zu toten Tieren, die die Menschen am Beginn des 21. Jahrhunderts auf dem Hintergrund ihrer nordeuropäisch-industriegesellschaftlichen Kultur- und Zivilisationsgeschichte einverleibt haben, können nur um den Preis der bewussten Überwindung sinnlicher, ästhetischer und ethischer Barrieren wieder »geöffnet« werden, sodass sich erst in der Folge ihrer Reflexion neue Rezeptionsund Gebrauchs-Kulturen etablieren können. Es sind ebenso regionale bis nationale Kulturen, die habituell in situ aktualisieren, in welcher Weise vor allem (ganze tote) Tiere oder zum Verzehr herausgetrennte und noch nicht lebensmittelindustriell »hübsch gemachte« Teile davon emotional erlebt werden. 24 Die Mikrologie zum Groninger Wochenmarkt wird zeigen, in welcher Weise sich in den Rhythmen eines infra-normalen Marktes solche nationalen Kulturen zum Ausdruck bringen und den Ablauf sowohl des Geschehens akzentuieren wie auch seine Vielfalt in Szene setzen. Es sind schon optional an23 24

Vgl. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 57–69. Vgl. dazu auch Hasse, Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung.

31 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

stehende und nicht erst praktisch gelebte Beziehungen zu Waren, die auf höchst luzide Weise (indem von sinnlichen Aversionen und Affinitäten expressis verbis ja nichts ausgesprochen wird) die lokal je spürbar werdenden Vitalqualität einer Atmosphäre disponieren, die im Umfeld besonderer Waren eines Marktstandes im Raum stehen. Das bedeutet, dass auf einem Markt im Prinzip alle Dinge des potentiellen Erwerbs atmosphärisch gefasst sind. Auf diese Weise konstituiert sich ein diffuser Erlebnishintergrund, in dem mehr »ist«, als das, was an der Stofflichkeit der Dinge sichtbar wird. Und so spielt das Unaussprechliche wie Unausgesprochene in den habituellen Verläufen auf offenen Märkten unter freiem Himmel eine gewichtige Rolle. Märkte lassen sich als performative Situationen verstehen, die neben den sie bestimmenden Sachverhalten (Ständen, Zelten, Wagen, Verkäufern, Kunden etc.) durch Programme gelenkt werden (u. a. durch die Begrenzung des gesamten Marktgeschehens auf das Zeitfenster zwischen seinem Anfang und seinem Ende). Schon der Wechsel des Wetters etwa durch den Wandel von Temperaturen, der Luftfeuchtigkeit sowie des natürlichen Lichts (am frühen Morgen wie zur Zeit des dämmernden Abends) führt nicht nur zu einer Veränderung von Sachverhalten, sondern auch zu einer Anpassung von (Verkaufswie Einkaufs-)Programmen. Die gesamte Rahmensituation eines Marktes ist situativ und gesellschaftlich getaktet, insbesondere jedoch durch die sozio-ökonomischen wie -kulturellen Einzugsbereiche. Die soziale Struktur des Stadtquartiers, in dem ein Markt gehalten wird, spiegelt sich in habituellen Bildern wie sozialen Bewegungsmustern wider. Selbst wenn in zwei ganz gegensätzlichen Quartieren (hinsichtlich der arrangierten Sachverhalte) der »gleiche« Markt gehalten würde, so wäre er doch in seinen Atmosphären wie seiner sozialen Performanz hier wie dort ein je anderer. Deshalb bringen sich viele Händler auch in Bezug auf das Quartier »ihres« Marktes gleichsam in Stellung, indem sie zum Zwecke der Adressatenorientierung sozialraumspezifische Anbieter-Cluster bilden. Im Wissen um zu erwartende quartiersspezifische Lebensstile und daran gebundene Kulturen der Nachfrage kombinieren die Händler dann mitunter ihre Angebote. Daher werden in einem Stadtviertel sogenannter »Alternativer« (zumindest auch) andere Waren angeboten (etwa »nachhaltige« Öko-Produkte, Angebote für Veganer etc.) als in Quartieren, in denen solche Werthaltungen eher marginal ausgeprägt sind. In Wohnvierteln mit einem hohen Anteil von Migranten aus Süd- und Südosteuropa, Asien und Afrika gibt es zudem meist spezialisierte 32 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Gemischte Märkte

Stände mit Obst- und Gemüsesorten, die es vor allem zugewanderten Menschen erlauben, ihre gewohnten Ernährungstraditionen fortzuführen. Die besondere Atmosphären von Märkten verdankt sich schließlich insofern auch topographischer Gegebenheiten, als ein innerstädtischer Markt mit einer spürbar anderen herumwirklichen Erlebnisqualität aufgeladen ist als ein Markt am Stadtrand; dies weniger in symbolischer Hinsicht, denn als Ausdruck der Ein-Ordnung eines Platzes samt dem auf ihm befindlichen Markt in den urbanen Kontext. Ein Platz in der Mitte der Stadt ist schnell und leicht für den täglichen Einkauf erreichbar, und seine Vernetzung mit dem Raster der Stadtstraßen gewährleistet die umstandslose An- und Abfuhr der Waren. Wenn Raymond Unwin angesichts der alten griechischen und römischen Plätze im Vergleich mit der gegenwärtigen Zeit »auf ein anderes Lebensbild« 25 verweist, das sich in der Gestalt dieser großen und belebten Plätze ausdrückt, so trifft das sicherlich beispielhaft für all jene großen historischen Plätze zu, die nicht nur in der Mitte des topographischen Stadtraumes lagen, sondern zugleich die Mitte der lebendigen Stadt repräsentierten. Die Märkte haben zu allen Zeiten am besten dort hingepasst, wo das »neuronale« Zentrum der gelebten Stadt war. 26 Schließlich ist es die gelebte Zeit der Wochentage, die einen soziologisch je eigenen Markt-Rhythmus disponiert. An einem Montag konstituiert sich auf einem gemischten Markt eine ganz andere Lebendigkeit als am letzten Tag einer zu Ende gehenden Woche. Die Lebendigkeit, in der sich ein Markt atmosphärisch zu spüren gibt, wird durch ein Zeitgefühl rhythmisiert, das die Kommunikation zwischen Händlern und Kunden atmosphärisch auflädt. Eugène Minkowski sprach in seiner »gelebten Zeit« von einem »vitalen Kontakt mit der Wirklichkeit« und unterschiedlichen Zyklen des personalen Elans. 27 Mit anderen Worten: »Lebendigkeit« gibt es in einem vitalistischen Sinne nicht a priori; sie ist vielmehr Ausdruck leiblicher und

Unwin, Grundlagen des Städtebaues, S. 103. Raymond Unwin zeigt an einer Reihe von Kartogrammen historischer Platzordnungen, in welch unterschiedlicher Weise ein Platz in die funktionalen Verkehrsnetze der Stadt eingeknüpft sein kann, vgl. ebd., Abb. 126 A bis J auf S. 105. Plätze, die nicht an den Verkehrsstrom angeschlossen sind, stehen immer vor der Gefahr des Bedeutungsverlustes. 27 Vgl. Minkowski, Die gelebte Zeit, Bd. I, Kapitel III. 25 26

33 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

gefühlsmäßiger Dispositionen sowie habitueller Präsenzen im Spiegel raumzeitlicher Affektbeziehungen. Wenn in der Gegenwart vermehrt Märkte nicht nur in bestimmten Stadtquartieren gehalten werden, sondern in gewisser Weise für sie, so handelt es sich dabei weniger um gemischte Märkte im üblichen und traditionellen Sinne, sondern eher um kulturell situierte Veranstaltungen, die im Wesentlichen atmosphärisch von lokalen Lebensgefühlen getragen werden. Quartiersmärkte sind in besonderer Weise mediale Räume der Bekräftigung einer gemeinsamen (quartiersspezifischen) Identität. Sie bieten sich als räumliche Katalysatoren der Intensivierung gemeinsamer Situationen an. Zwar sind sie auch Orte des Erwerbs von Gütern des täglichen Bedarfs; aber ihr sozialer Zweck macht sie auf einem verdeckten Niveau zugleich zu kulturellen Orten der Inszenierung von Gemeinschaftsgefühlen. Die angebotenen Waren fungieren dann als soziale Medien (sub-)kultureller Quartiersmilieus. Um die Selbstvergewisserung einer mit Ideologien aufgeladenen Werte-Gemeinschaft geht es auf einem Meta-Niveau der Märkte auch, wenn zum Beispiel in Universitätsmensen mit der räumlichen Herkunft der verarbeiteten Lebensmittel von regionalen Anbietern geworben wird. Dass diese Nahrungsmittel auf Plakaten als »alternative« und »ökologische« und im Unterschied zu gewöhnlichen Produkten ubiquitärer Lieferanten großer Distributionsketten implizit als moralisch besser präsentiert werden, macht nur auf einen mythischen Charakter aufmerksam, der sich auf dem Wege der verklärenden Inszenierung imaginärer Märkte hinter scheinbar banalen Konsummustern verbirgt. Prinzipiell steht ein Lieferant aus der Region allein für kurze Wege, nicht aber a priori schon für eine wie auch immer begründete »bessere« Qualität der angelieferten Lebensmittel. Würde zum Beispiel die Universität Vechta mit diesem Slogan werben, könnte sie mit dem Versprechen der Nachhaltigkeit Hähnchenfleisch »aus der Region« präsentieren, das von jenen ortsnahen Massentierhaltungsbetrieben käme, die alljährlich wegen tierethischer Einwände in die nationale Kritik geraten. Es gibt eine ganze Reihe weiterer spezieller Märkte, die gerade in großen Städten und polyzentrischen Ballungsräumen in interessierten Kreisen einer heterogenen Bevölkerung auf große Resonanz stoßen, so zum Beispiel die Buchmesse, die Internationale Automobilausstellung – aber auch so abseitig anmutende Veranstaltungen wie Esoterik-Märkte und Erotik-Messen oder jedwede andere speziali34 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Markt-Plätze als Programm-Räume

sierte Präsentations- und kommerzielle Verkaufsveranstaltung mit Markt-Charakter in einem weiteren Sinne. Diese sollen hier allein aus Platzgründen keine weitere Aufmerksamkeit finden.

1.2 Markt-Plätze als Programm-Räume Zunächst sind Plätze leere Stellen im Raum der Stadt. Sie entstehen zufällig, wenn durch nicht beabsichtigtes Freilassen einer im Prinzip bebaubaren Stelle für die unterschiedlichsten Funktionen Platz gewährt wird. 28 Sie verdanken sich dann der Planung bzw. dem zielgerichteten Freilassen einer Fläche, wenn diese nach ästhetischen oder utilitären Prinzipien der Freiraumplanung als »Platz« zur Verfügung stehen soll. Die gestalterischen Erwägungen folgen auf privatem Grund im Allgemeinen anderen Interessen als im öffentlichen Raum einer Kommune. 29

1.2.1 Plätze in der Stadt Städtebauliche Beachtung verdienen unter den Plätzen vor allem jene, die öffentliche Räume sind. Dass die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum – das gilt auch für Plätze – zunehmend verwischen, das heißt tatsächlich öffentlich genutzte Räume in einem juristischen und eigentumsrechtlichen Sinne oft private Räume sind, sei hier am Rande vermerkt. Wegen ihrer praktischen und repräsentationspolitischen Bedeutung spielen die Plätze im Leben der Bürger wie der Fremden einer Stadt oder Landgemeinde eine wichtige Rolle. Weil Plätze in aller Regel an zentralen Orten im städtischen oder ländlichen Siedlungsraum liegen, stellt sich ihre architektonische Gestaltung zugleich als eine ästhetische dar, soweit sich hierfür überhaupt nach der Art und Lage des Platzes Spielräume ergeben. Die Plätze in der europäischen Stadt liegen seit dem Mittelalter im Allgemeinen in der Nähe einer großen Kirche (s. dazu auch das

In zahllosen Städten werden solche für eine gewisse Zeit nicht beanspruchten »Freiräume« als provisorische Parkplätze genutzt. Sobald dann eine rentable Flächennutzung aktuell wird, gelangt die Zwischennutzung als Park-Platz an ihr Ende. 29 Ein privater Platz kann einer höchst speziellen und gegenüber der Öffentlichkeit völlig abgeschotteten Nutzung zugeführt werden. 28

35 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

Beispiel der Groninger Platzfolge in Kapitel 2.1). Von ähnlicher Bedeutung ist die Nähe zu säkularen, das heißt politisch, ökonomisch und kulturell signifikanten Gebäuden. Der wichtigste (Haupt-)Platz einer Stadt liegt üblicherweise in ihrer topographischen Mitte. Oft wurde die innerstädtische Platzmitte durch eine Randbebauung mit signifikanten Objekten symbolisch noch einmal gesteigert. Von den entstandenen politischen und kulturellen Synergieeffekten profitierte vor allem die Architektur, denn repräsentative Bauten ließen sich ästhetisch am wirkungsvollsten da errichten, wo die beste Sichtbarkeit gegeben war. Hier konnten sie in eindrucksmächtigen Atmosphären zur Erscheinung kommen. Besonders seit der Renaissance und dem Barock waren solche repräsentations-ästhetischen Kalküle in der Anlage von Plätzen wie der Platzierung signifikanter Bauten wichtig. Unter dem Einfluss von Baron Haußmann verstand man einen Platz als jene Stelle, »die an den Kreuzungspunkten der vielen diagonalen oder radialen Straßenzüge« lag. 30 Der Platz sollte einen zentralen Ort in der Stadt bilden, zugleich aber auch in seiner Gestaltung gelungen sein. Solche Plätze haben meistens einen abgeschlossenen Raum-Charakter, der sich einer regelmäßigen Rahmung durch signifikante (sakrale wie säkulare) Bauten wie Kirche und Rathaus verdankt. »Wenn wir eine Reihe von alten Plätzen prüfen, werden wir sehen, daß, ob durch Zufall oder planmäßigen Entwurf, die Einmündungen in der Regel so angeordnet sind, daß sie den Rahmen der Gebäude sehr wenig durchbrechen.« 31

Die auf den Platz mündenden oder von ihm ausgehenden Straßen sind aufgrund ihres Querschnitts wie der Einsehbarkeit ihres weiteren Verlaufs aus der Perspektive des Platzes meistens verdeckt. Das unterstreicht die Raumwirkung der Abgeschlossenheit des Platzes bzw. den Eindruck seiner Umfriedung durch die bergende Haut umrahmender Bauten. In diesem Sinne lässt sich auch die städtebauliche Situation des Groninger Fischmarktes beschreiben. 32 Camillo Sitte, an dem sich Raymond Unwin orientierte, hatte indes weitaus Unwin, Grundlagen des Städtebaues, S. 112. Ebd., S. 113. 32 Gestalterisch wichtig sind dort vor allem die südlich in die Altstadt führenden Gassen, insbesondere die südwestliche Ecksituation im Bereich der Kornbörse (Abb. 2.18) und des Café de Beurs (Abb. 2.20). 30 31

36 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Markt-Plätze als Programm-Räume

Abb. 1.2: Grote Markt mit dem »Abschlussbau« der Martinikerk (Groningen, Niederlande, vor dem Zweiten Weltkrieg)

starrere Vorstellungen, was die Geschlossenheit eines Platzes betraf. Davon wollte er nur dann sprechen, wenn nur eine Straße am Ende eines Platzes einzusehen sei. 33 Daneben könne der Eindruck der Abgeschlossenheit – vor allem bei größeren Plätzen – auch dann überzeugen, wenn das Ende eines Platzes in einem öffentlichen Gebäude ein »Abschlußbild« 34 erhalte (s. Abb. 1.2). 33 34

Vgl. Jöchner, Das Innen im Außen, S. 53. Unwin, Grundlagen des Städtebaues, S. 124.

37 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

Wo die Plätze in der Mitte der Stadt lagen, waren sie als zentrale soziale Weichen im urbanen Leben oft auch Schauplätze historischer Ereignisse. Es war der freie und offene Raum, der die Plätze für die Durchführung verschiedener Veranstaltungen und Menschen-Versammlungen disponierte. In der kollektiven Erinnerung verbinden sich diese Orte dann nicht nur mit Geschichten, sondern auch mit diesen gleichsam anhaftenden Atmosphären. Am Beispiel des Prager Wenzelsplatzes beschreibt das Ota Filip so: »Jedem auf dem Wenzelsplatz begonnenen Umsturz, jedem revolutionären Ausbruch, der ›unterm Pferd‹ mit stürmischem Jubel begrüßt wurde, folgte Resignation und eine nur schwer definierbare Ernüchterung.« 35 Es sind diese kollektiven Befindlichkeiten, die sich über die Aktualität eines Perspektiven eröffnenden wie verschließenden, erleichternden Ereignisses wie schicksalhaft lastenden Widerfahrnisses hinaus ins kollektive Gedächtnis eingegraben und mit der spürbaren Gegenwart des Platzraumes atmosphärisch verbunden haben. Unwin weist aber auch auf eine doppelte Funktion der Abgeschlossenheit von Plätzen hin. Diese liege einmal darin, dass ein abgeschlossener Platz den Eindruck der Ruhe vermitteln könne. Zum anderen bietet ein Platz einen ästhetischen Hintergrund für die wirkmächtige Präsenz öffentlicher Gebäude. 36 In phänomenologischer Perspektive ist Unwins Verständnis eines Platzes als »Innenraum« 37 bemerkenswert. Inwieweit sich hier das Denken von Camillo Sitte widerspiegelt, wird im Grundsatz vom Bau der Stadt nach humanen Kriterien schnell deutlich. 38 Gerade Raymond Unwins Bemerkungen zur anzustrebenden Geschlossenheit eines Platzes sind als eine Antwort auf Sittes Anmerkung zu verstehen, wonach große offene Plätze Beklemmungen auslösen. 39 Das macht auf eine Ambivalenz relationalräumlicher Großflächigkeit von Plätzen aufmerksam – zum einen vermitteln sie das Gefühl der Verlorenheit, zugleich aber auch das einer atmosphärischen Beengung, zum anderen schließlich durch eine umfriedende Bebauung an Platzrändern ein weitendes Gefühl der Geborgenheit. Aus der Erlebnisperspektive der leeren Offenheit der großen Platzmitte sichert die (nun nur noch) »ferne« Umfriedung Filip, Große Geschichte und kleine Nebengeschichten, S. 97. Vgl. ebd., S. 114. 37 Vgl. dazu ausführlich Jöchner, Das Innen im Außen sowie Semsroth, Vorwort, S. VI. 38 Vgl. Sonne, Politische Konnotationen des malerischen Städtebaus, S. 78. 39 Vgl. Semsroth, Vorwort, S. VII. 35 36

38 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Markt-Plätze als Programm-Räume

ein Gefühl der Verlorenheit und Ausgeliefertheit. Dabei spielt das Verhältnis der Platzgröße zur Größe der Gebäude eine beachtenswerte Rolle. 40 Angesichts der Verstricktheit ästhetischer Implikationen leiblichen Platzerlebens darf es nicht verwundern, dass Unwin keine Norm für die maximale Größe eines Platzes nennt; vielmehr gibt er – viel wirkungsvoller und sensibler – »nur« Relationen im Sinne von Beziehungen zu bedenken. Das sich im Erleben großer und offener Platzflächen leicht einstellende Gefühl der Beengung und Ausgeliefertheit verliert sich dann, wenn ein großer Platz aktuell als Raum eines Events fungiert, also zum Beispiel durch die Errichtung einer mächtigen Bühne (die ja Platz braucht) verkleinert erscheint. In der Situation der Märkte ist das ähnlich, aber im Detail doch anders. Dann vermittelt die (relationalräumliche) Enge zwischen den Standreihen kein leiblich beengendes, sondern ein behagendes Gefühl. Werden die Ströme der Menschen indes zur Haupteinkaufszeit allzu dicht und das Treiben zu eng, so kann wiederum eine gewisse Not der Beengung aufkommen. Dieses Gefühl hat dann aber im Vergleich zu der auf einer offenen und leeren Fläche empfundenen Enge einen entgegengesetzten Vitalcharakter. Es ist nun kein protopathisches, sich diffus in eine Weite verlierendes Gefühl der Beengung, sondern ein epikritisches Engegefühl, das durch taktile (in einem synästhetischen Sinne) spitze und scharfe geradezu angreifende Eindrücke ausgelöst wird. 41

1.2.2 Plätze für Märkte In den Städten der Griechen und der Römer gab es zwei Platztypen: »1. einen großen Sammelplatz, wo sich das Volk zu öffentlichen Verrichtungen versammelte, 2. andere, gewöhnlich kleinere Versammlungsplätze, wo es sich zum Handel und Gewerbe traf.« 42 Die Plätze bzw. Agoren waren oft von Laubengängen umgeben, die eine Aufenthaltsqualität sicherten, meistens als architektonische Antwort auf gewisse regional-klimatische Ungunst-Situationen. Um den großen Zentralplatz »herum gruppierten sich die Ratsstube oder das Haus Vgl. Unwin, Grundlagen des Städtebaues, S. 116. Zur Differenzierung zwischen leiblichen Eindrücken des Epikritischen und Protopathischen vgl. auch Schmitz, Band III, Teil 1, S. 166 ff. 42 Unwin, Grundlagen des Städtebaues, S. 102. 40 41

39 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

des Senats, das Theater, das oft teilweise am Abhang lag, die Musikhalle« 43. Insbesondere im Mittelalter diente »einer der Hauptplätze der Stadt auch zur Abhaltung der Märkte.« 44 Diese haben sich »besonders in kleineren und mittleren Städten […] hunderte von Jahren auf jenen alten Plätzen erhalten.« 45 Markt-Orte des Handels waren in der Geschichte aber nicht nur Plätze im Sinne des Wortes, sondern oft auch sogenannte Marktstraßen, die im Mittelalter zahlreich angelegt worden sind; dies waren »Straßenzüge von doppelter und dreifacher Breite gewöhnlicher Straßen. Sie dienten zur Aufstellung der den Markt besuchenden Fuhrwerke und dem Marktverkehr selbst.« 46 Ein Beispiel gibt Wasmuth mit dem ehemaligen Markt von Kemnath (Oberpfalz/Bayern), der heute »Stadtplatz« heißt. Als Vergleich dient ihm ein typisch mittelalterlicher Marktplatz, den er (s. Abb. 1.3) am Beispiel der Stadt Holzminden im Zusammenhang einer Platzfolge dargestellt hat; er entspricht ganz dem räumlichen Muster der Groninger Altstadtplätze (s. Kapitel 2.1). Diese Marktstraßen waren aufgrund ihres platzähnlichen Charakters wie die regulären Plätze Orte erhebender wie niederschmetternder Ereignisse.

1.2.3 Zur Raumordnung von Plätzen Sowohl die Märkte als auch andere Veranstaltungen, die auf den zentralen Plätzen stattfanden – von Gerichtsprozessen bis zur Vollstreckung von Hinrichtungen –, stellten bestimmte räumliche Ansprüche. Die einen benötigten mehr, die anderen weniger Raum, die einen Platz für die Versammlung zahlreicher Menschen, die anderen hinreichend freie Flächen für das Abstellen von Fahrzeugen und Gerät. Das Wasmuth’sche Lexikon der Baukunst weist auf physiognomische Merkmale von Marktplätzen hin, die »in der Regel mit wenigstens einer Seite an einer Hauptverkehrsader [liegen]; jedenfalls müssen Marktplätze vom Durchgangsverkehr der Fuhrwerke frei sein, der sich auf die Randstreifen zu beschränken hat.« 47 In relatio-

43 44 45 46 47

Ebd. Märkte und Markthallen, Bd. I, S. 6. Ebd., S. 6. Wasmuth, Wasmuths Lexikon der Baukunst, Band 3, S. 584. Wasmuth, Wasmuths Lexikon der Baukunst, Band 4, S. 74.

40 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Markt-Plätze als Programm-Räume

Abb. 1.3: Marktplatz (Holzminden) und Marktstraße (Kemnath)

nalräumlicher Hinsicht sind die Marktplätze groß und offen. In programmatischer Hinsicht sind sie vor allem offen für eine große, aber kaum vorhersehbare Vielfalt von Nutzungen. Deshalb mussten die Plätze, auf denen der Markt gehalten wurde, nach dessen Schluss »wieder dem allgemeinen Verkehr übergeben« 48 werden. Bis in die Gegenwart haben (fliegende) Märkte auch deshalb temporären Charakter. An ihrem Ende sind sie abzuräumen, sodass wieder freier Raum für die Aufnahme anderer Funktionen entsteht. Darin unterstreicht sich noch einmal die Wandlungsfähigkeit der Plätze wie die Flüchtigkeit ihrer Atmosphären. Je nach ihrer Nutzung sind sie mal »volkreiche« 49 und schon bald darauf auch wieder beinahe menschenleere Räume. Weil ein Platz dafür geschaffen ist, unterschiedlichsten Funktionen Raum zu bieten, eignet er sich auch für die Durchführung von Märkten. Er unterscheidet sich nicht nur physiognomisch von der Straße; vor allem in seiner performativen Atmosphäre ist er als besonderer städtischer Raum in anderer Weise lebendig als die Straße. Daher vermitteln die auf Plätzen stattfindenden Märkte in der ihnen eigenen Rhythmik und Lebendigkeit ein wichtiges Moment in der Konstitution von Urbanität. Angesichts der großen Bedeutung, die die Veranstaltung von Märkten vor allem in frühen Jahrhunderten in der Stadt hatten, ist es bemerkenswert, dass ihre Abhaltung nur allergeringste organisatorische Ansprüche stellte. Bis heute kommen 48 49

Schachner, Märkte und Markthallen für Lebensmittel. Band I, S. 46. Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 1649.

41 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

die Händler mit Fahrzeugen, die sich am Ende eines Markttages relativ leicht und schnell wieder demontieren und wegfahren lassen. Märkte sind autopoietische Gebilde. Darin unterscheiden sie sich von anderen Veranstaltungsformen, die auf Plätzen realisiert wurden, die zumindest teilweise einen gewissen technischen und organisatorischen Aufwand erfordern, wie etwa das Prozedere von Gerichtsverhandlungen, öffentliche Hinrichtungen oder Hexenverbrennungen. Eine der wenigen Ordnungs-Funktionen, die bis in die Gegenwart von der Kommune zu erfüllen ist, reklamiert sich am Ende des Marktes – die am Abend zu gewährleistende Platzreinigung (s. dazu die Beschreibungen zu der Dynamik eines zu Ende gehenden Wochenmarktes in Kapitel 2.3). Von den Plätzen, die sich dank ihrer Offenheit für die Abhaltung von Märkten angeboten haben, sind die Schmuck- und Verkehrsplätze schon in ihrer Architektur zu unterscheiden. Von ihnen muss hier nicht die Rede sein.

1.2.4 Plätze sind öffentliche Räume Plätze waren und sind öffentliche Räume. Neben offensichtlich zu erfüllenden Funktionen (zum Zwecke der Versammlung sowie der Abhaltung von Märkten, der Durchführung politischer Veranstaltungen etc.) sind sie vor allem soziale Orte. Auf diesem Hintergrund sieht Jan Pieper das Wesen des Platzes (und nicht erst das des Marktes) in einem vergemeinschaftenden Effekt. »Der städtische Platz […] schafft Platz für die Bauten der Gemeinschaft […], um sie so zueinander in einen Sinnzusammenhang zu setzen, daß sich die Gesellschaft darin mit ihren grundlegenden Werten und Strukturen wiedererkennt und bestätigt findet.« 50 Ein Platz zentriert das urbane Leben damit nicht zuletzt atmosphärisch mit der Macht der Gefühle! Diesem Verständnis entspricht es auch, wenn Cornelia Jöchner Plätze als »Gelenk«-Räume bezeichnet, die das öffentliche Leben in der Mitte der Stadt verklammern. 51 In dieser Hinsicht dürfte auch den Märkten eine gemeinschaftsbildende Aufgabe zugefallen sein. Schon an diesem Punkt kommt die urbanistische Bedeutung des Platzes auf viel komplexere Weise in den Blick, als diese sich allein aus Pieper, Der Platz, S. 108. Jöchner spricht hier vom städtischen Eingangsplatz; vgl. Jöchner, Der Platz hinter dem Tor, S. 144.

50 51

42 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Markt-Plätze als Programm-Räume

evidenten Raum-»Nutzungen« zu verstehen gibt. In der Literatur dominieren historische, politische und ökonomische Betrachtungsweisen. Ephemere und flüchtige Vitalqualitäten von Plätzen sowie Fragen atmosphärischer Virulenz spielen eine erstaunlich geringe Rolle. Im gegebenen phänomenologischen Rahmen treten besonders diese Beziehungen zwischen Mensch und Raum in den Vordergrund. Wenn die Rede von Markt-Plätzen ist, so ist die Realität eines tatsächlichen Marktes im Sinne der Zusammenkunft einer Vielzahl von Menschen in einem öffentlichen Raum ebenso vorausgesetzt wie eine kommunale Fläche, auf der sich plurale Aktivitäten von Händlern, Verkäufern und Kunden an den Schnittstellen der Verkaufsstände und -wagen entfalten können. Von einem Markt im Sinne eines auf einem öffentlichen Platz stattfindenden Handels ist erst da die Rede, wo sich mehrere Marktstände zu einer größeren Gruppe versammeln. Solche räumlich dichten Ordnungen erfordern Platz. Deshalb bietet ein Marktplatz in aller Regel nicht nur viele Standplätze, sondern auch hinreichend großen (Abstands-)Raum, sodass Platz für den Markt als Bewegungsraum entsteht. Schon deshalb fordert die Versammlung »fliegender« Händler a priori einen (Markt-)Platz im öffentlichen Raum der Stadt, wie man ihn aus der Geschichte der Städte seit Jahrhunderten kennt. Aufgrund ihres temporären Charakters spricht Schachner von »fliegende(n) Märkte(n)« 52. Diese können sich im Prinzip überall niederlassen, sofern ausreichend Platz zur Verfügung steht. Entscheidend ist, dass sich die Händler in einem Raum (im Sinne einer Ordnung von Stellen) niederlassen wollen und dürfen. Sobald der Markt sodann begonnen hat, verwandelt sich der Markt-Platz in einen dynamischen Ereignisraum des Handels.

1.2.5 Plätze sind Programm-Räume Plätze gab und gibt es nur als Programm-Räume. In ihrer unbebauten und freien Offenheit waren sie immer schon dafür prädestiniert, vorübergehenden Nutzungen Raum zu geben. Mit dem »Platznehmen« 53 der Händler entsteht nicht nur der Markt, sondern auch dessen Programm, das das Markt-Geschehen lenkt. Es sind hier nicht die Programme vom Charakter der Marktordnungen relevant, die seit 52 53

Schachner, Märkte und Markthallen für Lebensmittel. Band I, S. 47. Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, Sp. 1918.

43 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

Jahrhunderten bekanntgegeben und immer wieder an neue historische Situationen angepasst werden, um im Wesentlichen Formales zu regeln. Die im phänomenologischen Sinne zu verstehenden Markt-Programme verdanken sich nur in einem nachrangigen Sinne förmlich-normativer Setzungen. Sie entfalten vielmehr ein performatives Gesicht des Handels, das sich mit dem nie frei von Zufällen »dahinströmenden« Geschehen mal in diesen, mal in jenen Zügen zeigt und atmosphärisch das aktuelle So-Sein eines Marktes zu spüren gibt. Was sich im programmatischen Rahmen einer Marktes dynamisch entfalten kann, geschieht immer innerhalb der räumlichen Struktur eines Markt-Platzes. Eine ihrer Aufgaben sah die Architektur deshalb stets darin, durch die bauliche Gestaltung des Raumes die Bewegung von Menschen und Dingen (programmatisch) zu organisieren. Die daraus resultierenden architektonischen Effekte verdanken sich nicht erst so evidenter Gesten, wie sie sich durch Treppe, Tür, Fenster und Wand kommunizieren. Bewegungsrichtungen können auch über die Freiraumgestaltung suggeriert werden. Weite und offene Übergänge von einem Platz in den Eingangsraum einer Straße haben einladende Wirkung, während »dunkle«, versteckte und verwinkelte Gassen der Aufnahme großer Menschenmengen gestisch eher entgegenstehen. Die Herstellung gelingender Übergänge verlangt eine hohe Sensibilität für die Vitalqualität von Schnittstellen, mit anderen Worten für die Situation leiblicher Kommunikation zwischen der Architektur von Bauten und der Gestaltung des städtischen Freiraums. Plätze sind Gelenkräume, die den Wohnraum der Wohnung mit dem der Stadt verbinden. Schon daher können sich solche Gestaltungsaufgaben nie in einer allein funktionalistisch verstandenen Herstellung gleichsam trajektologischer Achsen erfüllen. Aufgrund ihrer programmatischen Offenheit sind Plätze nicht-strukturierte Bewegungsräume, dies jedoch in anderer Weise als Garten, Park oder Uferpromenade, 54 denn der Platz birgt in der Latenz stets eine ausstehende Nutzung. Er ist also, solange er frei und leer ist, Raum für ein mögliches Geschehen. So haben auch seine »Möblierungen« stets nur einen aktuell-situativen und performativen Charakter; dies schließt bestimmte Bewegungsprogramme ein. Ein Platz ist ein prinzipiell offener Raum, in dem sich die verschiedensten Nutzungen ausbreiten können; nach 54

Vgl. in historischer Sicht dazu Nitschke, Körper in Bewegung, S. 256 ff.

44 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Markt-Plätze als Programm-Räume

deren Zu-Ende-Kommen muss er wieder leer werden. Die Menschen müssen – je nach Platzprogramm – auf bestimmte Weise kommen, bleiben und wieder gehen. Das in Kapitel 2 ausführlich dargestellte Beispiel eines allmählich – zunächst kaum bemerkbar, dann schneller und schließlich geradezu ekstatisch – zu Ende gehenden Wochenmarktes lässt die Choreographien dieses Wandels atmosphärisch hervortreten.

1.2.6 Virtuelle Märkte Märkte finden nicht nur auf tatsächlichen Plätzen statt, schon gar nicht unter der Bedingung des internationalen und globalen Handels. Aber der Begriff des »Platzes« lässt sich auch in einem weiteren Sinne verwenden, so wie die Börse als Handels-»Platz« für Wertpapiere verstanden wird. »Plätze« sind in diesem weiteren Sinne situative Orte, an denen unter Einsatz unterschiedlichster Mittel – unter anderem der High-Tech-Kommunikation – Handel getrieben wird. So geht der Begriff des Marktes in seiner ökonomischen Bedeutung weit über das am historischen Bild des Wochenmarktes orientierte Platz-Verständnis hinaus. Die in den folgenden Kapiteln vorzustellenden speziellen Märkte lassen eine kurze Vorbemerkung zur ökonomischen Bedeutung des Markt-Begriffes opportun erscheinen, machen die Blumen- und Fischmärkte doch darauf aufmerksam, dass es »platzlose« Märkte gibt. Daraus folgt aber nicht, dass sie keinen Platz bzw. keinen Raum benötigen. Das ist noch nicht einmal im Bereich des sogenannten E-Commerce der Fall, müssen doch selbst die Waren des InternetHandels an irgendeinem Platz gelagert werden. Jene Blumenmärkte, die in der Form der Auktion abgewickelt werden, finden (ähnlich aber nicht in gleicher Weise wie die Fischauktionen) in festen Gebäuden statt. Diese sind in gewisser Weise mit den Markthallen vergleichbar, wenn sie sich von diesen auch dadurch unterscheiden, dass der Handel in ihnen in aller Regel nicht-öffentlichen Charakter hat. Was ist ein Markt? In der Volkswirtschaftslehre werden mindestens drei Markt-Begriffe unterschieden, die angesichts der verschiedenen Typen, die in diesem Band durch je eigene Mikrologien illustriert werden, kurz angesprochen werden sollen. Die Umgangssprache meint mit einem »Markt« jenen Ort, an dem Menschen zum Zwecke des Tauschs zusammen kommen (a). »Hier liegt der Ur45 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

sprung des Marktbegriffs (vom lateinischen »mercatus«)« 55. Nach dem modelltheoretischen Markt-Begriff (b) ist ein Markt »der ökonomische Ort des Aufeinandertreffens von Angebot und Nachfrage« 56. Schließlich ist ein drittes Verständnis auch in der Unterscheidung der hier thematisierten Märkte von Bedeutung, und zwar der marketingtheoretische Markt-Begriff (c), wonach »Markt« der Name für einen über Marktstrukturen und Marktregeln geordneten Marktprozess 57 ist. Von den beiden im Folgenden darzustellenden Markttypen zum einen des Blumenmarktes und zum anderen des Fischmarktes hat letzterer eine lange, ersterer eine eher kurze Geschichte. Beide finden nicht auf einem innerstädtisch zentral gelegenen Platz im öffentlichen Raum statt, der wie der mittelalterliche Markt in der Nähe der Kirche oder des Rathauses gelegen wäre. In den Blick kommen spezielle Markt-Orte, deren Organisationsstrukturen einer Begegnung von Angebot und Nachfrage, das heißt von Verkäufern und Käufern dienen sollen, die auf die Eigenart der gehandelten Waren relativ genau bezogen sind. Die jeweiligen Marktstrukturen und Marktregeln folgen Erfordernissen, die sich aus der Eigenart der Waren ergeben. Das hat zur Folge, dass die Waren unter bestimmten (architektonisch und technologisch arrangierten) Bedingungen in der aktuellen Situation des Handels sichtbar werden und nicht wie auf einem gemischten Markt in Gänze zum Verkauf ausgebreitet sind. Wo das – wie bei den Fischversteigerungen – dennoch der Fall ist, sichern entsprechende technische und logistische Vorkehrungen die warenadäquate Behandlung am Ort des Marktes.

1.3 Blumenmärkte Im wissenschaftlichen Schrifttum finden die Blumenmärkte eine auffallend geringe Beachtung. Das ist in der besonderen Geschichte des Handels mit Schnittblumen und Zierpflanzen begründet. Der Handel mit ihnen hat in der Gesellschaft sehr lange keine quantitativ herausragende Rolle gespielt. Schnittblumen waren zu allen Zeiten für die

55 56 57

Handelsblatt, Wirtschaftslexikon, Band 7, S. 3744. Ebd., S. 3745. Vgl. ebd.

46 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Blumenmärkte

meisten Menschen, die auf der Grundlage abhängiger Arbeitsverhältnisse ihren Lebensunterhalt bestreiten mussten, wenig relevant, sodass sie bis weit ins 19. Jahrhundert andere Sorgen hatten als die Ästhetisierung ihrer Wohnstuben mit schnell vergänglichem Blumenschmuck. Solange das wirtschaftliche Auskommen über das Allernötigste hinaus keine Spielräume der Lebensführung für ästhetische Belange eröffnete, konnten sich als Folge geringer Nachfrage in größerem Umfang keine Blumenmärkte etablieren. Daher gab es keinen nennenswerten Blumenhandel, und auch im Bild der Städte gehörte das später übliche Ladengeschäft für Schnittblumen folglich zur Ausnahme.

1.3.1 Geschichte des »Blumenverkehrs« Von Blumenmärkten im engeren Sinne, die auch größere Mengen umsetzten, kann erst im 19. Jahrhundert die Rede sein. Es sind aber schon in der Antike verschiedene kulturelle Gebrauchsformen von Schnittblumen bekannt, die einen gewissen Warenaustausch voraussetzen. Aufgrund historischer Besonderheiten des Warenverkehrs, die vom gängigen Marktverständnis abweichen, soll der Handel mit Schnittblumen und Zierpflanzen im Folgenden unter dem Begriff des »Blumenverkehrs« thematisiert werden. Auch lange bevor sich spezielle Märkte für Blumen etabliert hatten und auch noch kein (über rudimentäre Organisationsstrukturen hinausgehender) Handel mit Blumen und Pflanzen existierte, muss von einem zum Teil intensiven Blumenverkehr die Rede sein. Bereits in der Antike waren Schnittblumen wichtige Medien der Symbolisierung. Vor allem bei öffentlich ausgetragenen kultischen Riten dienten sie der Huldigung der Götter; bestimmte Blumen waren dabei auf bestimmte Götter bezogen, sodass von einer »sakralen Floristik« die Rede sein kann, die sich an den Bedeutungen der Mythologie orientierte. Wohlhabenden Familien dienten Blumen daneben bei festlichen Anlässen ästhetischen Zwecken. Sie fungierten als Medien der Dekoration wie Repräsentation und wurden natürlich zum Zwecke der sozialen Distinktion inszenierend eingesetzt. Der kulturelle Gebrauch von Schnittblumen und Zierpflanzen folgte bis ins 19. Jahrhundert im Wesentlichen den ästhetischen Bedürfnissen aristokratischer und großbürgerlicher Familien. Eine herausragende Rolle spielte die landschaftsarchitektonische Freiraum47 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

gestaltung der Park- und Gartenanlagen. 58 In den gartenarchitektonischen Arrangements waren neben heimischen und exotischen Baum- und anderen Gehölzarten (vor allem exotische) Zierpflanzen unverzichtbar. Die Adelshäuser mussten ihren großen Bedarf im Allgemeinen aber nicht über Händler eines freien »Marktes« decken. Sie betrieben meistens ihre eigenen Gewächshäuser und Orangerien, sodass sie von einem freien Markt weitgehend unabhängig waren. Ein großer Teil der in den gewerblich betriebenen Gärtnereien erzeugten Produktion wurde mehr oder weniger direkt vom Adel und Großbürgertum in Auftrag gegeben, sodass von »freien« Betrieben meistens nicht die Rede sein kann. Von den ästhetischen »Moden« bzw. Stilen der Garten- und Anlagengestaltung der Schlösser war abhängig, was in den Gewächshäusern produziert wurde. In der ästhetischen Inszenierung der Renaissance-Gärten und später der barocken Schlossanlagen kamen im 16. und 17. Jahrhundert Unmengen von Zierpflanzen zum Einsatz. Im Vergleich dazu beschränkte sich die Begrünung der im 18. und 19. Jahrhundert angelegten englischen bzw. landschaftlichen Gärten aufgrund der damals herrschenden Naturvorstellung weitgehend auf »natürliches« Grün. In der ästhetischen Rauminszenierung und Tischdekoration spielten exotische Schnittblumen eine zentrale Rolle. Nicht nur in ihrer Exotik und Exzentrik, sondern auch in ihrer Vergänglichkeit standen sie für kulturelle Besonderheit und symbolisierten als Geste der Naturaneignung eine gewisse Macht über Natur und (qua affizierender Ästhetisierung) Gesellschaft. Sie wurden in prächtigen Vasen sowie Gefäßen aus Glas oder Keramik auf festlichen Tafeln präsentiert und zur Inszenierung von Erkern verwendet. Ihre Sonderrolle war vor allem darin begründet, dass sie zum einen auf einen zeitlich sehr kurzen Gebrauchshorizont bezogen war und zum anderen in ihrer Verwendung in gewisser Weise mobilen Charakter hatte. Darin unterscheidet sich die Schnittblume bis heute von all jenen Arten, die für eine Vegetationsperiode oder auch dauerhaft in den Boden eingepflanzt wurden (von den einjährigen Pflanzen wie Ringelblumen und Hanf, über die niedrigen Gehölze wie Liguster und Ilex, die Stauden wie Farne oder Lavendel bis hin zu den Bäumen). Die Schnittblume folgt in ihrer ästhetischen Situierung einer ganz anderen Raum-Programmatik und Bedeutungsordnung als die im Freiland von Garten und herrschaftlicher Schlossanlage wachsenden Arten. Während auf 58

Vgl. i. d. S. Harrison, Gärten.

48 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Blumenmärkte

Dauer im Boden verwurzelte Pflanzen als Medien der Landschaftsarchitektur fungieren, folgt die Schnittblume in ihrem mobilen und temporären Gebrauch einer Ästhetik der Innenräume. Die Gärtnereibetriebe waren auf die Deckung spezifischer Nachfragen aus aristokratischen und höheren bürgerlichen Kreisen spezialisiert. Für die Gärten und Parks zogen sie Stauden, Buschwerk und Bäume vor, züchteten aber ebenso Schnittblumen für den saisonalen Bedarf. In Kreisen der ärmeren oder gar mittellosen Bevölkerung spielte der käufliche Erwerb von (exotischen) Schnittblumen lange keine Rolle, da man die eher knappen finanziellen Mittel für unmittelbar lebensdienliche Zwecke verwenden musste, und sich ein Bedürfnis nach ästhetischem Luxus kaum entfalten konnte. Dagegen war die Schnittblume zu allen Zeiten auch in der Bevölkerung »unterhalb« aristokratischer und großbürgerlicher Kreise bei Festen und Feiern in ihrer differenzierten Symbolik als ästhetisches Medium der Kommunikation selbstverständlich. In der Sepulkralkultur war sie ohnehin unverzichtbar. Doch bedurften die situationsbezogenen Arrangements nicht zwingend teurer und exotischer Blütenstängel, die man in den Gärtnereibetrieben erst hätte erwerben müssen. In Feld und Flur bot die Natur mit wild wachsenden Arten ein hinreichend vielfältiges Angebot. Auch »einfache« Schnittblumen, deren Beschaffung keinen finanziellen Aufwand erforderte, eigneten sich als Medien der Symbolisierung. Der italienische Schriftsteller der Frührenaissance Franco Sacchetti (1335–1400) poetisierte in seinem Gedicht Die Blumenleserinnen das sporadische Blumensammeln von Frauen in einem Garten. 59 So waren Wildblumen in weiten Kreisen der soziokulturell und -ökonomisch nicht privilegierten Bevölkerung beliebt. Einer speziellen Ökonomie bedurfte es nicht.

1.3.2 Zur Etablierung des Blumenhandels Einen frühen Vorläufer des Blumenhandels gab es in den Niederlanden schon im 16. Jahrhundert. Die Tulpe löste wegen ihrer besonderen Ästhetik im 17. Jahrhundert eine sogenannte »Tulpenmanie« aus, in deren »Rausch« sie sich vorzüglich kommerzialisieren ließ. Es kam – ähnlich spätmoderner Spekulationsblasen – zu wahren ökonomischen Exzessen bis hin zu spekulativen Leerverkäufen von Blumen59

Sacchetti, Blumenleserinnen.

49 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

zwiebeln, die noch gar nicht gerodet waren. Vor allem sehr risikobereite Kaufleute dürften im Rahmen von Auktionen das spekulative Geschäft mit Tulpenzwiebeln angefeuert haben. 60 Dieser Blumenhandel ist indes nicht mit dem vergleichbar, der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst langsam und ganz an der Struktur des traditionellen Einzelhandels orientiert in Europa ausgebreitet hat. Der sich in den Städten schrittweise konsolidierende Handel mit Schnittblumen hat eine Wende in der Naturästhetik zur Voraussetzung gehabt. Erst nachdem die Natur nicht mehr als etwas Widriges, Lebensfeindliches und zu Bekämpfendes galt, sondern in ihren verschiedenen Arten und für bestimmte ästhetische Situationen emotionalisiert und romantisiert worden ist, 61 war ein sentimentalistischer Boden für die Ausbreitung historisch neuer Standards des Ästhetischen geebnet. So kam der Blumenstrauß – in der Antike noch Opferund Grabbeigabe mit (sepulkral-)kultureller Bedeutung – im europäischen Bürgertum erst Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf. 62 Die neue Hinwendung zur Natur drückte sich auch in der Darstellung von Blumenmärkten in Gemälden und selbst als Motiv bebilderter Postkarten aus (s. Abb. 1.4). Bis dahin war der ästhetische Gebrauch von Schnittblumen, die nicht in der freien Natur auf dem Spaziergang für die Fensterbank des eigenen Heims gepflückt worden sind, weitgehend der aristokratischen Gesellschaft vorbehalten, in der andere ästhetische Kriterien galten als in Kreisen »einfacher Leute«. Beispielhaft scheint die (Sozial-)Geschichte der Blumenmärkte in einer Firmenbiographie vor, die in der Denkschrift anlässlich des 175-jährigen Bestehens des Familienbetriebes Blumen-Hanisch (Leipzig und Frankfurt am Main) dokumentiert ist. 63 Schon seit 1793 gab es in Wittenberg eine Gärtnerei des Unternehmens, das sich als königlicher Hoflieferant einen Namen gemacht hatte. Zur Eröffnung eines Stadtgeschäfts für den Verkauf von Schnittblumen kam es erst im Jahre 1885 in Leipzig. Zum Nachweis guter Reputation führte das Geschäft seinerzeit noch die Bezeichnung »Hoflieferant« 64. Die vermehrt seit Mitte des 19. Jahrhunderts betriebenen Blumengeschäfte waren als »Märkte« Bestandteil der lokalen Einzelhandelsstruktur

60 61 62 63 64

Vgl. »Tulpenmanie«; https://de.wikipedia.org/wiki/Tulpenmanie (02. 09. 2016). Vgl. auch Gloy, Das Verständnis der Natur, S. 104 f. Vgl. auch Schönborn, Die Blume in der Kulturgeschichte. Hanisch, 175 Jahre Blumen-Hanisch. Vgl. ebd., S. 7 f.

50 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Blumenmärkte

Abb. 1.4: Marché aux Fleurs um 1920

und somit jenen Ladengeschäften vergleichbar, die es bis in die Gegenwart nicht nur in den Großstädten, sondern selbst in kleineren ländlichen Siedlungen der Provinz gibt. Zu jener Zeit existierten im engeren Sinne keine Blumenmärkte, wie es gemischte Märkte, Flohmärkte oder andere nur einer speziellen Warengattung gewidmete Märkte gab. Schachner stellt zur Funktion der ständigen offenen Märkte 65 fest: »In der Hauptsache dienen diese Märkte dem Handel mit Gemüse, Obst, Grünzeug, Blumen und dergleichen.« 66 Auch in der Hansestadt Hamburg erfolgte die Vermarktung von Blumen neben der von Obst und Gemüse aus den Vierund Marschlanden an verschiedenen Marktplätzen, unter anderem am Hopfenmarkt, dem Platz des ehemaligen Fischmarktes. Noch heute gibt es auf Wochenmärkten kleinere Ansammlungen von Ständen und Zelten, an denen lokale oder regionale Blumen (groß)händler die Gelegenheit der großen Märkte nutzen, um ihre Waren anzubieten. Schließlich kommt es in großen Städten vor, dass Blumenhändler räumlich und institutionell ganz unabhängig von einem gemischten Markt einen Verkaufsstand an innerstädtisch zentraler Stelle errichten und ihre Angebote präsentieren – an einer 65 66

Im Unterschied zu den fliegenden Märkten. Schachner, Märkte und Markthallen für Lebensmittel. Band I, S. 48.

51 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

Abb. 1.5: Blumenstand auf dem Gehweg einer Hauptverkehrsstraße in Groningen

Kreuzung oder in der Nähe einer Einkaufsstraße (s. Abb. 1.5). Die Fotografie einer Blumenverkäuferin (Marchande de fleurs, Rue Mouffetard devant / 5e arr; 1899) von Eugéne Atget, die in Paris ganz ohne eigenen Verkaufsstand und nur mit einem Korb voller Sträuße an der Straße steht, repräsentiert eine Art des Blumenhandels zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (s. Abb. 1.6). Zweifellos führten diese sehr kleinräumlichen, temporären »Märkte« zu einer atmosphärischen Stimmung der betreffenden Gegenden. Ebenso wurde Fisch auf diese Weise über »Ein-Personen-Märkte«, die Atgets mit einer Fotografie beispielhaft zeigt, verkauft. Auch die fliegenden (meist niederländischen) Blumenhändler, die manchmal auf Wochenmärkten zu sehen sind und sich aus der Masse der anderen Standbetreiber herausheben, indem sie Sonderangebote auf den Ladeklappen ihrer Lastwagen in einem versteigerungsähnlichen Spektakel unter die Leute bringen, konstituieren sich mitunter als eindrucksvolle atmosphärische Inseln. Auch dies sind eher (singuläre) Orte des Blumenhandels, aber keine Märkte mit einer diversifizierten Struktur.

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Blumenmärkte

Abb. 1.6: Eugéne Atget: Marchande de fleurs (Rue Mouffetard devant / 5e arr.) (1899)

1.3.3 Blumengroßmärkte Als Blumen-Märkte im engeren Sinne sollen im Folgenden und im Hinblick auf atmosphärische Erlebnisqualitäten solche Orte thematisiert werden, die sich durch typische marktspezifische Strukturen auszeichnen. Dazu gehören meistens auch technisch differenzierte logistische Einrichtungen. Von besonderer distributiver wie wirtschaftlicher Bedeutung sind die Blumengroßmärkte, die es in jeder Metropole bzw. in polyzentrischen Städtesystemen gibt. Oft haben 53 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

sich diese Märkte an Orten etabliert, an denen schon früher – im Kontext größerer Märkte – Blumen verkauft worden sind. So liegen die Wurzeln des Hamburgischen Blumengroßmarktes nicht zufällig in der Nähe des Hopfenmarktes. Bis ins 19. Jahrhundert fand der Blumenhandel in der Hansestadt unter anderem dort unter freiem Himmel statt. Im Jahre 1912 beschlossen Senat und Bürgerschaft dann den Bau einer überdachten Blumenmarkthalle. In der Folge wurde Am Klosterwall ein zweigeschossiges Gebäude errichtet, die heute als Veranstaltungsort genutzte »Markthalle Hamburg«. Der Hamburger Blumengroßmarkt wurde am 8. Dezember 1914 eröffnet und 1950 baulich erweitert. Seit 1964 gibt es die Blumenhalle der Marktgemeinschaft Blumengroßmarkt Hamburg e. G., die sich auf dem Gelände der Großmarkthalle beim Oberhafen befindet (heute Blumengroßmarkt Hamburg GmbH). 67 Der Hamburger Blumenmarkt ist einer der größten in Deutschland. Auf ihm werden schon zur nächtlichen Zeit, vor allem aber in den frühen Morgenstunden die Blumen und Pflanzen in großen Mengen verkauft. Noch am Morgen desselben Tages werden sie den Kunden in den Ladengschäften des Einzelhandels angeboten. Eine der beiden Mikrologien zum Blumenmarkt beschreibt die Atmosphären eines solchen frühmorgendlichen Blumenhandels im Blumen- und Zierpflanzengroßmarkt Rhein-Main eG in Frankfurt am Main (s. Kapitel 3.1). Blumengroßmärkte sind Handelsplattformen einer spezialisierten Ökonomie. Sie wenden sich an eine homogene Käuferschaft, die sowohl lokal als auch regional vernetzt ist. Die Angebote kommen indes aus globalen Handels- und Distributionsnetzen. Blumengroßmärkte sind in aller Regel nicht-öffentliche Orte. Sie befinden sich auch auf keinem Markt-Platz in der Mitte der Stadt und sind schon ihrer Lage wegen (meistens befinden sie sich am Rande der Stadt) sowie in ihrer innenarchitektonisch nüchternen Einrichtung keine Orte für jedermann. Sie sind Umschlagplätze, an denen sich die KunMarktgemeinschaft Blumengroßmarkt Hamburg eG (Hg.): Blumengroßmarkt Hamburg – Historie; http://images.google.de/imgres?imgurl=http%3A%2F%2F www.blumengrossmarkt-hh.de%2Fupload%25255Cbgm%25255Cimages%25255 CHistorisch_BGM-HH_IMG0009.jpg&imgrefurl=http%3A%2F%2Fwww.blumen grossmarkt-hh.de%2Fdocs%2F4556%2Fhistorisches.aspx&h=193&w=260&tbnid= g2cEd3wZW72htM%3A&docid=de17vQsu1d_RoM&ei=klyjV_mfFMPjUYvNsrAK &tbm=isch&iact=rc&uact=3&dur=1720&page=1&start=0&ndsp=43&ved=0ahUKE wj5sJ-ah6jOAhXDcRQKHYumDKYQMwhQKBUwFQ&bih=876&biw=1920 (04. 08. 2016).

67

54 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Blumenmärkte

den tatsächlich (und nicht nur virtuell) einfinden, um die erworbenen Waren am Ende des Handels mit ihren Lastwagen, Anhängern und Kombis abzutransportieren. Wegen der im gesamten Handel mit Schnittblumen gebotenen Eile liegen die meisten Blumengroßmärkte als logistische Weichen zwischen dem lokalen Einzelhandel und einer global vernetzten Blumen-Ökonomie an den Hauptverkehrsachsen des überregionalen Verkehrs, bei einer Autobahnzufahrt und in der Nähe eines Flughafens.

1.3.4 Blumenauktionen und digitale Blumenmärkte Blumenmärkte haben in High-Tech-Zeiten immer weniger den Charakter von Märkten, die auf direkter Vis-a-Vis-Kommunikation beruhen und auf denen Waren zum Verkauf stehen, die wie auf dem Wochenmarkt physisch und sinnlich auch gegenwärtig sind. Während die Dinge im E-Commerce gänzlich abwesend sind und eine gewisse Form sinnlicher Gegenwart der zum Verkauf stehenden Waren allein durch Bilder auf digitalen Computer-Bildschirmen simuliert wird, werden die Schnittblumen, Deko-Kürbisse, Farne und andere Pflanzen in den Auktionssälen zumindest exemplarisch in speziellen Wagen vor den auf hohen Rängen sitzenden Käufern vorbeigefahren. So gewinnen die Händler wenigstens einen vagen Eindruck dessen, worauf sie ein Gebot abgeben können. Für den Online-Handel registrierte Käufer können sich von jedem Ort der Welt über ein WLANNetz mit einem Computer ins aktuelle Auktionsgeschäft einwählen, echtzeitlich Gebote abgeben und gewünschte Mengen verbindlich ordern. Den größten Anteil am digitalen Blumenauktionshandel decken niederländische Unternehmen ab. Die niederländischen Blumenauktionen folgen nicht steigenden Preisen, wie das in der Versteigerung von Fisch üblich ist (s. Kapitel 3.2 und 4.3), sondern sinkenden Preisen. Ordern können aber schon im sogenannten Uhrenvorverkauf abgegeben werden. Dann bestimmt sich der Preis nach den Vorgaben des jeweiligen Züchters, der über den Auktionspreisen liegt. Der Vorteil des vorgezogenen Erwerbs besteht in der Sicherheit, eine bestimmte Ware auch zu erhalten. Bei der Auktion sitzen die Einkäufer auf sogenannten »Tribüneneinkaufsarbeitsplätzen« (s. u. a. Abb. 3.20, S. 277), während der Auktionspreis pro Charge an einer sogenannten »Uhr« angezeigt 55 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

wird. Seit über 100 Jahren wird der Blumenhandel nach diesem Verfahren abgewickelt, wenn auch ehemals auf dem Niveau der verfügbaren »einfachen« Technik. Es versteht sich von selbst, dass der gesamte Prozess in der Gegenwart auf der Grundlage von High-TechSystemen organisiert ist: »Ein roter Punkt rast ein Ziffernblatt entlang, das in Ein-Cent-Schritte untergliedert ist. Die Skala beginnt bei 100 Cent und endet nach einer Umdrehung bei null Cent. Jeder Händler hat einen Knopf vor sich, drückt er diesen, hält er den Punkt an seinem aktuellen Ort an. Wer zuerst drückt, bekommt die Charge und muss zu diesem Preis kaufen, das Geld wird sofort abgebucht. Wer länger wartet, kann einen niedrigeren Centbetrag pro Blume erzielen. Der ganze Vorgang dauert dabei pro Runde nur vier Sekunden.« 68

Auf der Uhr ist neben dem auf- und abspringenden Preis (meistens auf einen Stängel bezogen) die Anzahl der Stapelwagen ersichtlich; ebenso die Menge der Behälter pro Wagen und die Anzahl der Stängel pro Behälter. Auch die Mindestabnahme (auf Behälter bezogen) ist beziffert. Daneben sind konkretisierende Angaben zu den Partien ausgewiesen, wie Züchtername, Ursprungsland, Zuverlässigkeitsindex und die Qualitätsklasse, minimale Länge des Stiels, Anzahl der Blütenknospen, Reifephase sowie die Anzahl der Stängel pro Bund (zur Beschreibung der Abläufe am niederländischen Auktionsort Eelde s. auch Kapitel 3.2). Der größte Teil der Käufe wird nicht durch die in den Auktionshallen anwesenden Händler getätigt, sondern über sogenannte »Fernkäufe«; der hierauf entfallende Anteil liegt bei rund 75 %. Bei dieser Form der Marktteilnahme ist die Qualität der Informationen, die via Computerbildschirm übertragen werden, entscheidend. Im Prinzip zeigt der Bildschirm jedoch dasselbe wie die überdimensional großen Computer-Bildschirme, die vor der Tribüne neben den Auktionsuhren hängen. Zu den Basisinformationen gehört eine freigestellte Fotografie der gerade in Auktion befindlichen Ware. Die tatsächliche Präsentation von Blumen entfällt im digitalen Handel zwangsläufig. Umso unverzichtbarer sind verlässliche Informationen über Eigenschaften und Qualitätsmerkmale der Angebote. 69

Krischan, Die Wallstreet der Blumen. Royal FloraHolland: Anliefern an der Versteigerungsuhr. https://www.youtube. com/watch?v=cZi5o5e2PNQ (31. 08. 2016).

68 69

56 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

1.4 Fischmärkte Fischmärkte sind spezielle Märkte, die im Unterschied zu Blumenmärkten eine historisch lange Tradition haben. Dies ist mit der Zivilisationsgeschichte der Ernährung verbunden. In der Antike gehörte der Fisch neben Vögeln und kleineren Säugetieren, die von jedermann gejagt oder anderweitig beschafft werden konnten, zu den gewöhnlichen Nahrungsmitteln. 70 Daher wird das Leben in den Städten auch bestimmte Formen des Fischhandels erfordert haben, um die Bevölkerung mit Essbarem zu versorgen. Ob es sich dabei um regelrechte Fischmärkte gehandelt hat oder ob der Verkauf von Fisch innerhalb allgemeiner bzw. gemischter Märkte stattgefunden hat, ist an dieser Stelle von nachrangiger Bedeutung. Zu allen Zeiten mussten (besonders in den Städten des Binnenlandes) auf den regelmäßig gehaltenen Märkten Fischangebote im Rahmen einer gewissen Ernährungsgrundsicherung gewährleistet werden. Jede Form des Handels mit Fisch verlangte, wenn ein größerer Umfang erreicht war, Infrastrukturen des Transports wie der Lagerung, die historisch jeweils an den Stand der Technik angepasst waren. Im vorchristlichen Rom dürfte es einen ganz speziellen Fischmarkt-Typ gegeben haben, der eher neben anderen Geschäften betrieben worden sein dürfte, weil er keine eigenständige Erwerbsgrundlage sichern konnte. Dessen Aufgabe hatte darin bestanden, für aristokratische Kreise die Ausstattung der Fischteiche sicherzustellen. Bei dem dabei verwendeten Fisch hat es sich meist nicht um heimische, regional verfügbare Arten gehandelt, sondern um exotische Tiere, die als repräsentativ wirkungsvolle Medien der Bewunderung Aufmerksamkeit garantieren konnten. 71 Wie bei Märkten im Allgemeinen so ist auch bei den Fischmärkten zwischen den Orten, also den Markt-Plätzen des tatsächlichen Fischumschlages, und dem Markt als Institution des Handels zu unterscheiden. Zu allen Zeiten war der Gegenstand dieses speziellen Handels von den Fischereitechniken und der Erschließung maritimer Ressourcen abhängig. Das ist in der Gegenwart nur noch für den auf offener See gefangenen Fisch so geblieben. Daneben steigen die auf

Vgl. Martini, Griechische Antike, S. 29. Im Unterschied dazu war der Verzehr großer Tiere stets mit kultisch regulierten religiösen Handlungen verbunden. 71 Vgl. Küppers, Vergnügen, S. 104. 70

57 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

Aquakulturen entfallenden Marktanteile schnell an. Mit den internationalen Fischmärkten, auf denen fangfrischer Seefisch versteigert wird, verbindet sich indes eine Ungewissheit, die nur im weitesten Sinne mit jener der Landwirtschaft verglichen werden kann. Was die Fischereiflotten in die Seehäfen bringen, hängt zum einen von der Art der betriebenen Fischerei ab, zum anderen von den natürlichen Vorkommen fischereiwirtschaftlich relevanter Arten, aber auch vom Wetter, den Meeresströmungen und anderen unvorhersehbaren bis zufälligen Bedingungen der Hochseefischerei. Auf ganz andere Weise ist in der Unterscheidung der MarktOrte zu differenzieren. Zunächst ist auch bei den Fischmärkten an die Markt-Plätze zu denken, die in der Geschichte der Stadtentwicklung vielfarbige Metamorphosen durchgemacht haben. Vor allem in den Seehafenstädten gab es schon in früheren Jahrhunderten speziellere Formen des Fischhandels. Zum einen war er in den gemischten Markt integriert, ähnlich wie das auch in der Gegenwart noch der Fall ist. Zum anderen gab es Fischmärkte im engeren Sinne, auf denen nur Fisch verkauft wurde. Darin kam eine Markt-Spezialisierung zum Ausdruck, wie es sie auch in anderen Branchen, zum Beispiel der Vermarktung von Getreide oder Vieh gab (Kornmärkte, Rossmärkte, s. oben). Spezielle Märkte mit regionaler Bedeutung verlangten zu allen Zeiten spezielle logistisch effiziente Infrastrukturen sowie ökonomische Institutionen des Handels, die auf die großen Warenmengen einer Produktfamilie angepasst waren. Reine Fischmärkte gab es neben Vieh-, Korn- und anderen speziellen Märkten schon zu mittelaltelterlichen Zeiten auch im Binnenland. 72 Auf dem seit 1807 in München stattfindenden Viktualienmarkt fand der Handel getrennt nach Waren statt. Über die Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts berichtet Richard Schachner: »Auf dem Markt werden Lebensmittel aller Art gehandelt, im allgemeinen sind den verschiedenen Gattungen besondere Bezirke zugewiesen.« 73 Es ist der südlichen und seefernen Lage der Stadt geschuldet, dass der Handel mit Seefisch dort seinerzeit eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Dennoch wurde neben Süßwasserfischen, die an einem

So zum Beispiel in Münster in der Nähe der Lambertikirche nahe der frühmittelalterlichen von Bremen kommenden Fernstraße; vgl. Klötzer, Drubbel, Roggenmarkt, Alter Fischmarkt, S. 39. 73 Schachner, Märkte und Markthallen für Lebensmittel. Band II, S. 108. 72

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Fischmärkte

speziellen Platz auf dem Marktplatz verkauft wurden, der Seefisch in einer Verkaufshalle der Nordseefischerei angeboten. 74 Als Fischmärkte sind in einem weiteren Sinne auch die Einzelhandelsgeschäfte in den Städten und selbst die Verkaufsstände für Fisch auf Wochenmärkten anzusehen. 75 Ebenso sind die Orte der Fischauktionen spezielle Märkte, die vor allem den Großhandel mit Waren versorgt haben und versorgen. Folglich sind ebenso die digitalen Märkte der modernen High-Tech-Datenübertragung fischereiwirtschaftliche virtuelle Markt-»Plätze«. Nicht zuletzt sind die Fischereihäfen, die über die Anlandung und (Zwischen-)Lagerung von Fisch hinaus auch dessen Handel und Distribution dienen, in einem weiteren Sinne Markt-Orte.

1.4.1 Fischereihäfen Fischereihäfen sind in aller Regel Seehäfen. Infolge ihrer Lage am offenen Meer und wegen der Anlandung großer Mengen oft zudem bestimmter Arten müssen sie logistisch bedarfsgerecht eingerichtet und ausgestattet sein, denn der massenhafte Umschlag verlangt die Vorhaltung spezieller Lager-, Aufbereitungs- und Transport-Technologien. Dies ist in besonderer Weise bei solchen Häfen der Fall, die nicht auf die Anlandung wie den Umschlag von Fisch spezialisiert sind, sondern nahezu ausschließlich auf spezielle Arten wie etwa Garnelen. Der niederländische Hafen Lauwersoog, der neben Den Helder einer der national bedeutendsten Umschlags- und Auktionsplätze für Nordseegarnelen ist, kann hier als Beispiel betrachtet werden. Im Unterschied dazu wird im dänischen See- und Fischereihafen Hanstholm der im Skagerrak gefangene Fisch angelandet und versteigert, aber keine Garnelen. Die Seehäfen von Lauwersoog und Hanstholm weisen die seit dem 19. Jahrhundert in größeren Häfen üblichen Kaianlagen für die technisch effiziente Entladung der Kutter bzw. Trawler auf. Neben den weitläufigen Kaianlagen liegen jeweils die Lagerund Kühlhäuser der Hafenverwaltung wie der Großhändler.

Vgl. ebd., S. 112. Es gehört zur Vielfalt der gegenwärtigen Einzelhandelsstruktur in den Städten sowie zur Freiheit der Selbstzuschreibung von Identitäten und Namen, dass sich Einzelhandelsgeschäfte mitunter selbst als »Gemüse-« oder (ganz allgemein) »Lebensmittel-Märkte« bezeichnen und in der Folge eben auch als »Fischmärkte«.

74 75

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Zum Charakter von Märkten

Abb. 1.7: Fischmarkt auf dem Platz des Hamburger Holzhafens um 1890

Einer der wichtigsten deutschen Hauptumschlagplätze für Frischfisch war lange der Hamburger Fischereihafen. Seit 1843 wurde in Hamburg der Fischhandel auf dem Hopfenmarkt in der Altstadt betrieben. Im Jahre 1876 kam es zur Umlegung nach Hamburg St. Pauli; zugleich gab es in Altona einen Fischmarkt (s. Abb. 1.7). An beiden Standorten fanden ab 1887 öffentliche Auktionen statt; die Fischauktionshalle in Altona wurde 1896 errichtet; 76 der Betrieb ruht jedoch seit Mitte der 1950er Jahre. Die als Baudenkmal geschützte Stahlkonstruktion in der Nähe der Landungsbrücken ist heute kultureller Veranstaltungsort und eine touristische Attraktion, die kaum vom Reeperbahn-Tourismus zu trennen ist. In der Gegenwart hat sich in Hamburg-Altona ein modernes Handels- und Dienstleistungszentrum der Fischwirtschaft etabliert. Nach wie vor wird hier mit Fisch gehandelt, wenn auch nicht mehr in romantisch anmutenden kaiserzeitlichen Hallen, sondern in kühltechnisch zeitgemäßen Gebäuden. 77

76 77

Vgl. Fischmarkt Hamburg-Altona, Butt aus Altona. Vgl. ebd.

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Fischmärkte

Abb. 1.8: Eugéne Atget: Marchandede poisson, place Saint-Médard, 5e arr. (1899)

1.4.2 »Fliegende« Ein-Mann-Fischmärkte Wenn in der Gegenwart die Fischmärkte auch an wenigen hoch spezialisierten Orten konzentriert sind, so gab es doch im 19. Jahrhundert auch gleichsam mikrologische Fischmärkte in Gestalt fliegender Händler, die im öffentlichen Raum der Stadt den Fisch anboten, den sie zuvor bei einem Großhändler erworben hatten. Einen solchen gleichsam kleinsten in gewisser Weise individualisierten Fisch-Markt hat Eugène Atget in einer Fotografie aus dem Jahre 1899 in Paris dokumentiert (s. Abb. 1.8). Die Aufnahme zeigt nicht zuletzt, dass diese äußerst einfache Form des Fischhandels sinnlich ein noch viel unmittelbareres Verhältnis zum Fisch bedeutete als in hochmodernen Logistik- und Vermarktungszentren. Unter den Vorzeichen »hygienischer« Märkte gilt der rohe Fisch heute als etwas gleichsam Unantastbares, weshalb er vom Verkäufer oft nur mit Handschuhen an61 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

gefasst und schließlich von meist mehrschichtigen Verpackungen umhüllt der Kundin überreicht wird. 78 Über eine andere individualisierte Form des Fischhandels im weiteren Sinne wird in einer Beschreibung berichtet, die sich auf den Rathausplatz der Seehafenstadt Emden in der Mitte des 19. Jahrhunderts bezieht: »›Dienst am Kunden‹ war schon damals die Losung der Emder Geschäftswelt, man bot seine Warenbestände durch die Zeitung, durch den Ausrufer an. Leider waren in jenen gottgesegneten Zeiten manche Leser des ›Emder Blatje‹ aus wohlerwogenen Sparsamkeitsrücksichten nur ›Gruppenbezieher‹, sodaß die letzten Gruppenleser mit ihren Kenntnissen annähernd 24 Stunden im Rückstand waren. Als Aushilfsmittel trat dann ›Harm Bilker, der Ausrufer‹ auf den Plan. […] Aber Harm Bilkers Ausruferei glich mit der Zeit immer mehr der Stimme eines Propheten in der Wüste, verhallte ungehört.« 79

Der Zeitungsbericht erinnert an eine dem Fischhandel vorangestellte kommunikative Weiche in Gestalt eines Ausrufers. Der Handel mit Fisch dürfte sich schon deshalb besonders für die Ausruferei angeboten haben, weil man so dem Gebot der Schnelligkeit am ehesten nachkommen konnte, war frischer Fisch doch weit weniger lagerfähig als frisch geerntetes Gemüse oder Obst. Die Zeit der Ausrufer war jedoch spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts vorüber und andere Informationsmedien, vor allem die Zeitung, traten an seine Stelle. Schon dadurch erhielten die Märkte einen unpersönlicheren Charakter.

1.4.3 Die Hafenlogistik Später gab es in der Seehafenstadt Emden, von der aus bereits seit dem 16. Jahrhundert Seefischerei betrieben wurde, differenzierte fischwirtschaftliche Infrastrukturen, wozu auch Auktionshallen gehörten: »Am 19. Juni 1872 wurde die Emder Heringsfischerei Akt. =Ges. gegründet.« 80 »Noch heute steht Emdens Heringsfischerei-

Auf diesem Hintergrund wird es umso verständlicher, dass Fisch in nicht ausgenommenem Zustand außerhalb der professionellen Restaurantbewirtschaftung beinahe unverkäuflich geworden ist. 79 N.N. (Fr. B.), Fischmarkt in alter Zeit. 80 N.N., Emden als Fischmarkt, S. 1. 78

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Fischmärkte

Abb. 1.9: »Emder Heringe«, Anzeige aus dem Jahre 1928

flotte an erster Stelle« 81, heißt es in Bezug auf die Situation der 1920er Jahre (s. auch Abb. 1.9). Nach dem Ersten Weltkrieg »hat sich die Flotte der Emder Fischdampfer ständig vergrößert und heute sind in Emden 20 moderne Fischdampfer beheimatet, welche alle Fischgründe der Nordsee, bei Island und dem Weißen Meer aufsuchen können. Alle Vorbedingungen für eine weitere Entwicklung der Gesellschaften sind in Emden gegeben. Die Stadt hat den Gesellschaften einen geräumigen Hafen überlassen und alle notwendigen Einrichtungen sind an diesem getroffen. Auktions- und Versandhallen, Fischabfallverwertung, Tranfabrik, Räuchereien und Marinieranstalten sind an diesem Fischereihafen errichtet, wo die Eisenbahnverwaltung die Fische, sowohl in Waggonladungen als auch in Körben zum Versand entgegennimmt. Die in der Nacht gelöschten, am frühen Morgen von den Fischhändlern in der Auktion gekauften Fische kommen somit in der Regel schon mittags zum Versand und es muß anerkannt werden, daß die zuständige Eisenbahndirektion Münster für eine rasche Ablieferung sorgt, so daß die Fische noch in der Nacht in Rheinland und Westfalen ankommen.« 82

81 82

Ebd. Ebd., S. 2.

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Zum Charakter von Märkten

Schon diese Beschreibung hafenlogistischer Strukturen enthält zumindest verdeckte Hinweise auf die atmosphärische Dynamik und spezifische Lebendigkeit des Treibens in den Fischereihäfen und den dort ansässigen Märkten (dazu s. auch unten) zur Zeit der 1920er Jahre. Mit der modernen Dampfschifffahrt, die in besonderer Weise die Hochseefischerei verändern sollte, mussten Ende des 19. Jahrhunderts in den Seehäfen spezielle Infrastrukturen geschaffen werden, mit denen zum einen die Entladung der Fischereiboote effizient abgewickelt, zum anderen aber auch der Umschlag, die Auktionen sowie der schnelle Abtransport ins Binnenland sichergestellt werden konnte. Eine besonders wichtige Rolle kam der Reichsbahn in der Schaffung entsprechender Schienenwege wie dem Angebot von Expresszügen mit Fisch-Kühlwagen zu. 83 Der zeitgemäße Ausbau der Fischereihäfen ist in historischen Quellen am Beispiel des Nordseehafens Cuxhaven gut dokumentiert. Cuxhaven war um 1900 einer der bedeutendsten Fischereihäfen und -märkte an der deutschen Nordseeküste. »Der Fischmarkt Cuxhaven konnte am 23. Februar 1933 den Tag feiern, an dem vor 25 Jahren der Seefischmarkt eröffnet wurde. […] Der Auktionsumsatz ist von 8 ½ Mill. Pfund im Jahre 1908 auf 145 Mill. Pfund im Jahre 1933 gestiegen.« 84

Trotz stark gestiegener Umsätze wurde die mangelnde Nachfrage aus dem Binnenland beklagt und mit entsprechenden Werbekampagnen zu verbessern versucht 85 (s. Abb. 1.10). Der Fischmarkt Cuxhaven wurde 1908 gegründet und 1920–1922 erweitert. 86 »Wichtig für die Förderung des Seefischhandels ist die Hilfe der Reichsbahn, welche im vergangenen Jahre viel zur Verbilligung und Vereinfachung der Beförderung durch Gewährung von Frachtermäßigung, Einführung von Lieferfristen, Einstellung von Fischzügen und Einstellung von Kühlwagen getan hat«; Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Jahresbericht 1925, S. 39. 84 Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Jahresbericht 1932, S. 54. 85 »Unter dem Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage leidet auch der Seefischhandel. Der Seefischhandel nimmt die Produktion nicht auf. In manchen Monaten stockt die Nachfrage aus dem Binnenlande fast vollständig. Der Handel hat seine große Aufgabe, die erhöhte Produktion abzusetzen, neue Verbraucherkreise zu gewinnen, nicht erfüllen können. In Hamburg durch die preiswerten Fischtage der Hamburgischen Fischereidirektion oder in Berlin durch Abhaltung der billigen Seefischtage sind wohl Anstrengungen zur Besserung gemacht, aber die notwendige planmäßige und großzügige Absatzförderung des gesamten Fischhandels in enger 83

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Fischmärkte

Abb. 1.10: »Esst Fisch!«, Anzeige aus dem Jahre 1928

Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Institution der Fischauktionen. Bis dahin kamen den in ihre Heimathäfen zurückkehrenden Fischerbooten Zwischenhändler in den Küstengewässern entgegen, die die Fänge übernahmen, um sie in den Verkauf zu bringen. Sie zahlten aber schlechte Preise, sodass die direkte Vermarktung in zentralen Auktionshallen in den großen Fischereihäfen einen größeren Gewinn für die Fischer versprach. »Auf Auktionen konnten die Verbindung mit den übrigen Zweigen der Fischwirtschaft fehlt völlig.«; Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Jahresbericht 1925, S. 38 f. 86 Der Fischhandel an den großen Vermarktungsplätzen der deutschen Nordseeküste wird von zwei Arten der Seefischerei beliefert, zum einen von den Hochseemotorkuttern, die die näheren Küstengewässer befischen, und zum anderen von den »technisch hochentwickelten Fischdampfern« mit einem weitaus größeren Aktionsradius. »Außer von der eigentlichen Nordsee werden von deutschen Fischdampfern das Skagerrak und das Kattegatt aufgesucht, ferner werden die Meeresgegenden bei den Shetlandinseln und Färöer häufig befischt, daneben auch mit wachsender Bedeutung die isländischen Gewässer und die Barents-See«; Gilg / Kahle, Der Fischmarkt Cuxhaven, S. 23.

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Zum Charakter von Märkten

Waren außerdem in kürzester Zeit verkauft werden, und das war nötig, denn mit dem Aufkommen der schnellen Fischdampfer vervielfachte sich die Fangmenge.« 87 Die erste Fischauktion in Hamburg Altona fand am 22. Juni 1887 statt. 88 Die Umsätze vervielfachten sich schnell, sodass in Hamburg St. Pauli und Cuxhaven neue Fischauktionshallen eröffnet werden mussten. 89 In den 1920er Jahren sind große Anstrengungen unternommen worden, um den Absatz von Seefisch zu erhöhen. Zur Optimierung der wirtschaftlichen Situation wurde auch die Qualität des Fischs verbessert (sorgsame Anlieferung, Konservierung, Einfrieren etc.). In den Fischereihäfen wurden Kühlhäuser gebaut und die Bahn bot für den Transport an die regionalen und lokalen Märkte spezielle Kühlwagen an. 90 Schon in den 1920er Jahren verlangte der Verbraucher das weitgehend küchenfertige Filet und nicht den ganzen Fisch. 91 Im Zuge einer differenziert betriebenen Intensivierung des Fischhandels wurden sogar spezielle »Verteilungsautomobile« gebaut, die (mit der Aufschrift »Fischversorgung«, s. Abb. 1.11) die Kunden an Ort und Stelle beliefern sollten. Voraussetzung für die unterschiedlichsten Initiativen um eine Intensivierung des Seefisch-Absatzes war ein effizienter, das heißt schneller, qualitätssichernder und in großen Mengen durchführbarer Umschlag in den Seehäfen der Fischanlandung. Damit stellten sich nicht zuletzt (hygiene-)technische Anforderungen an die Errichtung und Ausstattung von Fischauktionshallen, die direkt mit der einschlägigen Fisch-Logistik und -Ökonomie verknüpft waren. Die Ende des 19. Jahrhunderts in der Elbmündung gefangenen Fische wurden hauptsächlich in Cuxhaven angelandet, sodass der Hamburgische Staat 1890 bis 1892 im alten Hafen einen Großfischmarkt errichten ließ. 92

Freie und Hansestadt Hamburg: zum Zweiten, zum Dritten, Verkauft!; http:// www.hamburg.de/altona/anekdoten/74254/auktion/ (03. 08. 2016). 88 Ebd. 89 Wichtige Fischauktionsplätze an der deutschen Nordsee waren bis in das erste Viertel des 20. Jahrhunderts neben Hamburg, Wesermünde und Bremerhaven auch Cuxhaven, Emden und Altona; vgl. Seyffert, Wirtschaftslehre des Handelns, S. 98. 90 Vgl. Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Jahresbericht 1926, S. 24. 91 »Die Hausfrau von heute legt im allgemeinen keinen großen Wert darauf, selbst den Fisch vorzubereiten. Ihr fehlt in den meisten Fällen die nötige Zeit und die nötige Hilfe, sehr häufig auch das nötige Interesse für diese Arbeiten.« Vgl. ebd., S. 25. 92 Am 01. 04. 1924 wurde der staatlich ausgeübte Betrieb dann in die Fischmarkt Cux87

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Fischmärkte

Abb. 1.11: »Fischversorgung« – Fischauslieferungs-Kleinlaster

»Am 24. Februar 1908 konnte die Cuxhavener Fischmarktanlage dem Verkehr übergeben werden, und in den 10 Monaten dieses Jahres löschten bereits 270 Fischdampfer und 686 Hochseesegelfischereifahrzeuge neben 4140 Küstenfischerfahrzeugen ihre Fänge an der neuen Anlage«. 93

Am Tag der Eröffnung fand auch die erste Fischauktion statt. 94 Die »mächtigen Fischauktions- und Packhallen von fast 900 m Länge und 37 m Breite« lagen an der Westseite des staatlichen Betriebsgebäudes. 95 Es gab dem Stand der damaligen Technik entsprechend hochmoderne Abfertigungs-, Lager- und Transporteinrichtungen: »Elektrische Schleppautos bringen die Eiswagen an die Schiffe oder zu den Fischgeschäften.« 96 Eine auf den Bedarf des Fischmarktes spezialisierte und recht breit gefächerte Ökonomie stand mit Instant-Dienstleistungen bereit, um alle Aktivitäten schnellstmöglich und reibungslos zu gewährleisten, die mit dem Einlaufen und Entladen der Schiffe ebenso verbunden waren wie mit den Vorbereitungen für das erneute Auslaufen der Fangschiffe (Anlieferung von Kohle, Eis und Proviant, Schnelldurchführung von Reparaturen auf den Schiffen, Instandsetzung beschädigter Netze, An- und Abmusterung von Seeleuten beim paritätihaven G.m.b.H., »deren sämtliche Anteile dem Hamburgischen Staat gehörten, umgewandelt.« Lübberts, Die Entwicklung des Cuxhavener Fischmarktes, S. 12. 93 Ebd., S. 9 94 Vgl. ebd., S. 11. Die Frischmarktanlage wurde im Jahre 1920 erweitert; vgl. ebd., S. 5. 95 Vgl. ebd., S. 9. 96 Ebd., S. 11.

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Zum Charakter von Märkten

schen Heuerbüro im Seemannsheim, aber auch die wiederum schnell gebotene Weiterverarbeitung von Nebenprodukten wie die Herstellung von Tran aus der von der letzten Fahrt mitgebrachten Fischleber). Nach der Vorbereitung der Frachtbriefe bei den Versandbetrieben musste bis drei Uhr nachmittags der gesamte Versand erledigt sein, damit die Halle wieder für den nächsten Versteigerungs-Zyklus vorbereitet werden konnte. Bis vier Uhr verließen die Fischzüge dann den Cuxhavener Fischmarkt; es gab sogar spezielle Kurs-, Orts- und Sammelwagen (für mehrere Fischhändler an einem Ort). Am Bahnhof in Bremen, wo die Waren umgeladen werden mussten, fuhren spezielle Fischsonderzüge ins Binnenland. Die gegenwärtig bedeutendste deutsche Seehafenstadt für den Handel mit Seefisch ist Bremerhaven. Insgesamt gibt es in Deutschland heute keine Fischauktionen mehr, wie sie zum Beispiel von Johann Meinken (s. unten) beschrieben worden sind. Der Handel findet nun im Wesentlichen im virtuellen Raum digitaler und telekommunikativer Ströme statt. Die voranstehenden Beschreibungen zur technischen und logistischen Struktur der Fischereihäfen wie -auktionen sind insofern zur Beurteilung der atmosphärischen Milieus in den Fischereihäfen und Auktionen wichtig, als sie den situativen Rahmen abstecken, innerhalb dessen die auktions- und hafenwirtschaftlichen Aktivitätsmuster erst nachvollziehbar werden können, die in den folgenden historischen Beschreibungen thematisiert werden.

1.4.4 Zur Atmosphäre auf Fischauktionen – ein Blick in die Geschichte Wenige Beschreibungen zu den nicht selten hektischen Abläufen einer höchst lebendigen Auktion lassen auf die Atmosphären schließen, die sich mit dem regen Treiben des Fischhandels in den 1920er Jahren ausgebreitet haben dürften (s. auch Abb. 1.12). Da es keine expliziten Beschreibungen der Atmosphären dieser Markt-Situationen gibt, muss »zwischen den Zeilen« auf die spezifischen MilieuQualitäten der oft dicht ineinander verschachtelten Situationen des Auktionshandels geschlossen werden. Deshalb werden im Folgenden relativ lange Textauszüge wiedergegeben. Jede stärkere Kürzung oder raffende Zusammenfassung würde zur weitgehenden Aufhebung der meist ohnehin nur versteckten Hinweise auf atmosphärische Vital68 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Abb. 1.12: Fischauktion in Hamburg Altona Ende des 19. Jahrhunderts

qualitäten in den wechselnden Situationen einer Versteigerung führen. Ergiebige Illustrationen finden sich in den Ausführungen von Hans Lübberts aus dem Jahre 1925 über den Umschlag im Cuxhavener Fischmarkt: »Ein fabelhafter Anblick ist es, wenn bei großen Anfuhren morgens die nahezu 900 m langen Auktionshallen von einem bis zum anderen Ende mit Fischen angefüllt sind. Die Versteigerungsbeamten besorgen in öffentlicher Auktion den schnellen Verkauf der ungeheuren Mengen […]. Bei grossen Zufuhren werden eine Million Pfund Fische und darüber in zwei bis drei Stunden verkauft. Die Fische werden dann sofort nach Beendigung der Auktion auf Karren und Wagen in die hinter den Auktionshallen ebenfalls in fast 900 m Längenausdehnung liegenden 74 Abteilungen der Fischversandgeschäfte gebracht, und dort entweder in Weidenkörben oder in ganzen Waggonladungen zum Versand ins Binnenland verpackt. Wieder bringen elektrische Schleppautos die lange Reihe der mit gefüllten Fischkörben beladenen Plattformwagen zum Fischereihafenversandbahnhof.« 97

Weitere, mehr noch die Auktion betreffende Beschreibungen sind den Aufzeichnungen von Johann Meinken zu verdanken:

Ebd., S. 11. Während der »normale« Fisch auf einem Fischmarkt selbstverständlich gewesen sein dürfte, so haben Heilbutte, die mit Größen von bis 250 Pfd. der Reihe nach auf dem Boden der Halle ausgelegt wurden sowie mächtige Herings- und Grundhaie stets besondere Aufmerksamkeit gefunden; vgl. ebd., S. 31 f.

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Zum Charakter von Märkten

»Zum raschen und reibungslosen Verkauf der Fische werden diese nach Sorten und Grössen getrennt in Kisten zu 100 Pfund in der Versteigerungshalle aufgestellt. Die Sortierung wird grundsätzlich schon auf See beim Schlachten und Reinigen des gesamten Fanges von der Besatzung des Dampfers vorgenommen. Bei den kleineren Fischsorten, die naturgemäß in geringeren Mengen gefangen werden, ist wegen Raummangel ein getrenntes Verstauen an Bord nicht möglich. Auch geraten Fische aus verschiedenen Stapeln durch das Herausnehmen der Schotten und das gleichzeitige Arbeiten der Löschmannschaften in 4 Hocken in geringem Masse durcheinander. Daher ist durch die oben erwähnten Grabbler(98, JH) eine Nachsortierung notwendig. Die Fische werden dann auf den auf der Rampe aufgestellten Wagschalen von beeidigten Wägern in die Kisten zu 100 Pfund verwogen. Leute mit kleinen Handkarren befördern die gefüllten Kisten dann in die an die Rampe anschliessende Versteigerungshalle, wo sie nach Anweisung der Vorleute und Hallenaufseher nach Sorten und Grössen getrennt sauber und übersichtlich aufgestapelt werden. 99 […] Der Verkauf der Fische ist aus dem gleichen Grunde [Kühle der Nacht, JH] in die frühesten Morgenstunden verlegt und beginnt um ½ 7 Uhr morgens. Schon eine geraume Zeit vorher erscheinen in der Versteigerungshalle Hallenmeister und Versteigerungsbeamte zur Nachprüfung und Begutachtung der aufgestellten Fischmengen, spazieren Fischhändler und Fischindustrielle bezw. deren Einkäufer über die Fischkisten hinweg, um die Ware einzuschätzen und auf Grund der an den Markt gebrachten Sorten ihre Einkäufe zu überlegen. Die Fischkisten sind zu diesem Zweck an der Oberkante der Seitenbretter mit Leisten versehen, damit die Interessenten auf den Kisten stehen und entlang gehen können, ohne die Ware zu beschädigen oder zu zertreten. Nur vereinzelt kommt es vor, dass Neulinge oder Unachtsame von den Leisten abgleiten und zum Gaudium der Umstehenden in unangenehme körperliche Berührung mit den Fischen und Fischkistenkanten kommen.« 100

Wenn Johann Meinken mit diesen Illustrationen auch nicht im engeren Sinne die Schilderung von Atmosphären zum Ziel gehabt haben dürfte, sondern die Beschreibung der unterschiedlichsten Abläufe und mikrologischen Situationen in ihrer Verkettung zu versteigerungsspezifischen Verhaltensmustern, so zeichnet er mit seinen ausdrucksstarken Worten und detailreichen Schilderungen doch plastische Situations-Bilder, die unmittelbare Rückschlüsse auf die atmo»Grabbler« waren Arbeiter, die die Fische aus den Körben in Kisten umschütteten, dabei das Eis entfernten und Nachsortierungen erledigten; vgl. ebd., S. 28. 99 Meinken, Der Betrieb des Cuxhavener Fischmarktes, S. 28 f. 100 Ebd., S. 30. 98

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Fischmärkte

sphärische Vitalqualität der RaumZeit einer damaligen Fischversteigerung zulassen. Im Folgenden wird von Johann Meinken der Ablauf einer Auktion der 1920er Jahre wiedergeben: »Zwei Auktionatoren verkaufen gleichzeitig eine Dampferladung, indem sie an den äussersten Pfosten anfangen. Die Ware wird folgendermassen angeboten: ›60 Kisten Schellfisch, 1 oder 20, wieviel dafür?‹ Der Zwischensatz 1 oder 20 bedeutet, dass der Käufer, sobald er den Zuschlag erhält, mindestens eine oder höchsten 20 Kisten kaufen kann. Diese Begrenzung nach oben wird entsprechend der vorhandenen Kistenzahl festgesetzt, damit ein einzelner Käufer nicht mit einem Zuschlag die ganze Sorte wegschnappen kann. Einer der Käufer ruft nun einen Preis, z. B. 30 Pfg. und nun beginnt der Auktionator ein lautes und schnelles Zählen 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, dann 40 ¼ – ½ – ¾ – 41 Pfg. usw. Die bietenden Käufer zeigen durch Erheben einer Hand, eines Fingers, durch Kopfnicken oder Zurufe, manche nur, indem sie den Auktionator scharf ansehen oder mit den Augen blinzeln, an, dass sie den Preis halten. Nach und nach fallen die Käufer ab, bis der zuletzt Bietende mit vielleicht 45 ¾ Pfg. das Pfund den Zuschlag erhält, indem der Auktionator mit einem Hammer auf die Kanzel schlägt und den Namen des Käufers bezw. seiner Firma laut ausruft. Gleichzeitig beginnen die Protokollführer damit, den Kauf zu registrieren und ein Aufleger legt aus einem langen Kasten, den er in der Hand trägt und der Blocks mit Namenzetteln aller Käufer enthält, die Namenzettel des betreffenden Käufers auf die Kistenzahl, die dieser dem Auktionator zugerufen hat, z. B. ›10 Kisten‹. Sobald die 10 Kisten mit den Zetteln belegt sind, ruft der Aufleger aus: ›10 Kisten für X‹ (Name des Käufers). [] Dem uneingeweihten Zuschauer erscheint diese schnelle und unauffällige Verkaufsart rätselhaft und er sieht staunend und ratlos vom Auktionator zum Käuferkreis, ohne feststellen zu können, auf welche Weise der jemalige Verkauf zustande kommt.« 101

Schon diese Beschreibungen illustrieren, dass die dicht ineinander verschachtelten Situationen durch äußerst schnelle Prozessabläufe gekennzeichnet waren. Das gesamte Geschehen drückte sich in seiner Schnelligkeit in atmosphärisch spürbarer Hektik, großer Lebendigkeit und performativer Spannung aus. Dabei darf man aber nicht von einzelnen Situationen (in einem exakt lokalisierbaren Hier und Dort) ausgehen, wenn Meinken sie zum Zwecke der Beschreibung auch isolieren musste, wären sie doch sonst als etwas »eigenes« der Explikation gar nicht zugänglich gewesen. Tatsächlich dürfte ein lebendiges, vor allem aber schnelles Ineinander-über-gehen aller Aktio101

Ebd., S. 32.

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Zum Charakter von Märkten

nen die Dynamik der »ganzen« Situation des Auktionshandels bestimmt haben. Sämtliche an einer Auktion beteiligten Personen wurden auf den eiligen und spannungsvollen Rhythmus des anstehenden Geschehens in gewisser Weise schon dadurch lautlich eingestimmt, dass der Beginn der Auktion mit einer Sirene signalisiert wurde. In ihrer Schrillheit kündigte sie schon nichts Leises, Langsames und Gemächliches an, womit man im Rhythmus des bevorstehenden Handels hätte rechnen können. Die Sirene setzte ein ekstatisches Zeichen, das niemand überhören durfte. Unüberhörbar »lärmend« wurde auf diese Weise jedermann zur Kenntnis gebracht, dass von nun an kein gemütlicher Handel erwartet werden durfte und höchste Konzentration geboten war. Damit war ein herausgehobenes Erregungsniveau »markiert« und die Aufmerksamkeit für die bevorstehende Zeit der Auktion zugespitzt. Schon »dem Zuschauer fällt unbedingt die aussergewöhnliche Eile auf, mit der der Leiter des Geschäfts und sämtliche Angestellten und Arbeiter ihr Werk verrichten.« 102 Eine spannungsreiche Lebendigkeit ganz anderer Art herrschte aber schon in der Zeit der Erwartung der Fangschiffe in den Häfen. So war die Ankunft der Fischdampfer bereits von vager Ungewissheit umwoben. Zwar wurden die voraussichtlich bald eintreffenden Schiffe mit Kreide auf Tafeln notiert; diese Ankündigungen waren aber unsicher, weil Dampfer oft ausblieben oder in der Nacht viel mehr Schiffe kamen als erwartet und zudem so große Fangmengen an Land brachten, dass die schnelle Versteigerung besondere Herausforderungen an die Hafenverwaltung stellte. Auf alle Unwägbarkeiten musste der Versteigerungsbetrieb flexibel reagieren können, denn die von den Dampfern entladenen Fische mussten schnellstens auf den Weg in die Geschäfte des Binnenlandes gebracht werden. Die situative Spannung einer Auktion drückte sich vor allem durch hohe Schnelligkeit aus, die den Rhythmus aller Aktivitäten bestimmte, nicht erst des Fischhandels auf einem Fischmarkt, sondern zugleich aller Bewegungen und Aktivitäten auf dem Hafengelände. Es ist evident, dass sich das »nervöse Zentrum« der Atmosphären einer Auktion in der Person des Auktionators verdichtete. Er taktete in der Art und Weise, wie er seine Arbeit machte und habituell dabei präsent war, das Tempo aller sichtbaren wie hörbaren Phasen des Marktgeschehens. In seinem zielsicheren, eiligen Tun kristalli102

Ebd., S. 36.

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Fischmärkte

sierte sich die augenblicksspezifische und stets schnell wechselnde Atmosphäre einer Versteigerung heraus. Dabei fand diese nicht – wie eine Auktion von Antiquitäten oder Kunstwerken – an einer fixen Stelle im Raum der Versteigerung statt. Seinerzeit wurde eine Kanzel, hinter der der Auktionator agierte, immer so weit vorgefahren, wie die Auktion in den Reihen der zur Versteigerung anstehenden Kisten vorwärts gekommen war. Die bereits verkauften Fischmengen wurden derweil parallel zur weitergehenden Auktion in die Kühlräume der Fischhändler oder auf die Gespanne und Lastwagen vor der Halle abtransportiert. Die schnelle Verzahnung der logistischen Prozessschritte war wegen der begrenzten Haltbarkeit zum großen Teil noch nicht einmal ausgenommener Fische geboten, führte aber zu einer im Sinne des Wortes ganz eigenartigen Lebendigkeit der Atmosphäre, die sich im schnellen Wandel aktueller SituationsSegmente noch einmal steigerte. In besonderer Weise musste der Auktionator selbst dem Geschäft der Versteigerung in äußerster Anspannung zugewandt sein. Und dies in einer Weise, die auch für die anwesenden Käufer leiblich spürbar gewesen sein muss, war der Auktionator trotz aller Eile und Dichte der um seine Kanzel versammelten Menschen doch für alle Teilnehmer ersichtlich in der Lage, die Gebote selbst derer noch zur Kenntnis zu nehmen, die hinter ihm standen und agierten. Das von Johann Meinken beschriebene Prozedere einer Auktion (s. oben) muss durch eine gleichsam knisternde Spannung aufgeladen gewesen sein, die nicht nur die im unmittelbaren Wettbewerb stehenden Bieter erfasst haben dürfte, sondern jeden, der aufmerksam und halbwegs empathisch dem Geschehen beigewohnt hatte. Die Herde dieser lokalisierbaren atmosphärischen Vitalqualitäten hatten sich mit dem gesamten Treiben in der Halle verbunden, das mit dem Handel und Transport des Fischs zu tun hatte. Das Auktionsgeschehen um den Auktionator herum dürfte wie eine »Leit-Atmosphäre« alle anderen zeitgleich anstehenden atmosphärischen Raumerlebnisqualitäten eingefärbt und an sich gezogen haben. Die von Meinken beschriebenen Eindrücke sind denen äußerst ähnlich, die man in einer gegenwärtig in einem hochmodernen Fischereihafen stattfindenden Fischauktion beobachten kann (s. Kapitel 4.3). Das in den historischen Quellen beschriebene Treiben folgte dem Rhythmus einer so mächtig raumgreifenden Dynamik, dass extra breite Verkehrsstraßen angelegt werden mussten, um den sicheren Betrieb in der Halle gewährleisten zu können. So schnell der Handel 73 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

abgewickelt wurde, so schnell löste sich die Geschäftigkeit nach dem Verkauf der letzten Kiste Fisch aber auch wieder auf: »Inzwischen rollen unaufhörlich Karren, Handwagen und Fuhrwerke mit Fischkisten durch die Hallen, während in der Ferne noch immer das Zählen des Auktionators und seine Hammerschläge zu hören sind. Kurze Zeit nach beendigter Versteigerung sind die Hallen von Fischen gesäubert.« 103

In der gegenwärtigen Zeit sind Abläufe wie die von Meinken geschilderten schwer vorstellbar, vor allem wegen der Vielschichtigkeit und Turbulenz im handwerklichen Tun zahllos wirkender Menschen – all dies zudem im kalten bis kühlen, in jedem Falle feuchten Mikroklima. Fotografien von Fischmärkten zur Zeit des frühen 20. Jahrhunderts illustrieren die Beschreibungen eindrücklich; die Abbildung einer laufenden Auktion in Dieppe (Frankreich) zeigt, dass Versteigerungen auch unter freiem Himmel auf dem Platz eines (zumindest aktuellen) Fischmarktes stattgefunden haben (s. Abb. 1.13). Es ist umso bemerkenswerter, dass die wesentlichen Strukturmomente und Atmosphären eines Fisch-Auktionshandels, sein organisatorischer wie performativer Ablauf, die Verkettung der Handlungssequenzen und die symbolisch-habituellen Präsenz eines Auktionators sowie die oft spürbar nervöse Anwesenheit von Händlern noch rund 100 Jahre später (kaum variiert) das Grundmuster dessen charakterisieren, worauf man als Teilnehmer an einer Fischauktion gefasst sein muss. Auch der Einsatz modernster High-TechKommunikations-Mittel und Methoden der Datenverarbeitung hat daran nicht viel geändert (s. Kapitel 4.5). Wenngleich noch heute die auf dem Wege der Versteigerung gehandelten Waren auch ganz unterschiedlicher bis gegensätzlicher Art sein mögen, so haben Fisch- und Blumenauktionen doch auch ein gemeinsames Merkmal. Beide Warengattungen – sowohl fangfrischer Fisch als auch Schnittblumen – sind äußerst verderblich; und so gilt das oberste Gebot der möglichst schnellen und reibungslosen auktionstechnischen Abwicklung der Versteigerung sowie des abermals schnellstmöglichen Abtransports der ersteigerten Chargen zu den Endverkaufsstellen. Es ist aber nur vordergründig allein ein motorischer Rhythmus der Schnelligkeit, welcher den Handel auf diesen Märkten atmosphärisch so nachhaltig und eindrücklich prägt. Viel mehr noch ist es eine habituelle Schnelligkeit, die sich atmosphärisch 103

Ebd., S. 34.

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Fischmärkte

Abb. 1.13: Fischmarkt in Dieppe (Frankreich) um 1920

im Umgang mit begrenzt haltbaren Fischen wie Blumen in der Abwicklung aller Prozessschritte einer Auktion zur Geltung bringt und sämtliche logistischen, technischen, architektonischen, organisatorischen und ästhetischen Beziehungen der Menschen untereinander wie zum Fisch reguliert. Daher ist das, was an den Orten dieses Handels in der mikrologischen Fokussierung der Aufmerksamkeit erlebt werden kann, in hohem Maße von technisch-pragmatischen Rahmenbedingungen des Transports und der Lagerung abhängig.

1.4.5 Das ethische Veto In der Gegenwart wird auch das Geschehen auf den Fischmärkten (zumindest in Deutschland, wo tendenziell hysterische Reaktionen auf sich andeutende Krisen zum Alltag gehören) im Spiegel gesellschaftlicher Werte betrachtet. Während in den 1920er Jahren die Verbesserung des Fischabsatzes und die Konsolidierung der Fischmärkte ein erklärtes ernährungspolitisches Ziel war, werden unter den Vorzeichen sich schnell verdichtender ökologischer Problemlagen die kritischen Stimmen immer zahlreicher und lauter, die neben der Thematisierung prekärer meeresökologischer Folgesituationen einer

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Zum Charakter von Märkten

industriell betriebenen Hochseefischerei ethische Bedenken formulieren. Es darf nicht überraschen, dass mit dem Fang und Verzehr von Fisch vor allem von Tierschützern und Tierethikern eine ganze Fülle weitgehend offener Fragen der Legitimation des Fangs und Konsums von Fisch und anderen Meerestieren assoziiert wird. Dabei sind die formulierten Kritikpunkte an herrschenden Praktiken und Techniken des Fischfangs (insbesondere industrieller Methoden des Einsatzes von Fabrikschiffen), des Transports der Fänge, ihrer Distribution sowie des Handels und Konsums mitunter außerordentlich weit von annähernd realistischen Perspektiven politischer Umsetzbarkeit in fischereirechtliche Normen entfernt. In der Forderung der Betäubung eines jeden (einzelnen) Tieres vor der Tötung 104 spitzt sich diese Diskrepanz zwischen utopischem Wunsch und einer Realität des Alltäglichen ebenso zu wie in der Diskussion der einem Fisch möglicherweise zuzugestehenden Persönlichkeitsrechte. Solche Diskurse münden in absehbare Wertedebatten, wonach die Tötung von Fischen für die menschlichen Ernährung als strittig gilt. 105 So argumentiert Klaus Petrus dafür, dass die Haltung, Gefangennahme und Tötung von Fischen und anderen Meerestieren (das gälte dann noch für Garnelen, JH) nur dann moralisch zulässig sein kann, wenn es keine (zum Beispiel veganen) Ernährungsalternativen gäbe. 106 Es versteht sich von selbst, dass kulturhistorisch und regional geprägte Traditionen des Essens und Trinkens, die sich auf dem gesamten Globus mit der Geschichte der Menschheit verbinden, hier von vornherein keine Aufmerksamkeit finden und auch keine Berechtigung zu haben scheinen. Beinahe am Rande wird die ökologische Dimension der vor allem industriell betriebenen Hochseefischerei diskutiert. Ein philosophisch grundlegendes Format hatten ethische Fragen der Ernährung bereits in der antiken Philosophie zum Beispiel bei Sokrates. Sie sind dort mit weitergehenden Erwägungen zur Verwirklichung eines guten Lebens und der Sorge um das eigene Selbst verknüpft. Belange der Ernährung rückten so in einen direkten Zusammenhang mit der Rechtfertigung von Praktiken guten Lebens. Solches Zusammenhangsdenken setzte aber voraus, dass die Menschen zum einen wissen mussten, wie sich bestimmte Nahrungsmit104 105 106

Vgl. Studer, »Fischerei«, S. 110. Vgl. Petrus, »Tierethik für Fische?«, S. 111. Vgl. ebd., S. 112.

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Fischmärkte

tel (und Ernährungsgewohnheiten im Allgemeinen) auf den eigenen Körper auswirkten; zum anderen musste es auch Vorstellungen davon geben, was ein »gutes Leben« sein könnte oder sollte. 107 »Die ethische Sorge um sich beinhaltet auch das bedächtige Besorgen von Lebensmitteln und die alltägliche Versorgung mit guten Produkten vom Markt als praktischer Beweis der eigenen kulinarischen Weisheit sowie als allgemeine Voraussetzung einer gastrosophischen Esskultur.« 108

Diese Reflexion ergab sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sich der griechische Wohlstand eines zumindest in Ansätzen entwickelten globalen Marktes verdankte. So wussten die Athener, wo man die besten Aale fangen konnte und welcher Fisch ein besonders gutes Essen ergab. 109 Die Übungen zur Legitimation dessen, was man aß, stellten sich zum einen als eine Aufgabe ethischen Bedenkens dar, zum anderen aber auch als Verfolgung von Wegen eines guten Lebens durch gutes Essen. Und so stand zum Beispiel bei Archestratos, als er sich für die Verwendung regionaler Produkte aussprach, das eigene Wohlergehen im Vordergrund. Die aus der Nähe kommenden Nahrungsmittel verbürgten nämlich mehr Frische und einen größeren Reichtum im Geschmack als jene Dinge, die auf langen Wegen der Herbeischaffung schon viel von ihrer Würze verloren hatten. Auf die gegenwärtigen Ernährungs- und Konsumgewohnheiten von Lebensmitteln bezogen, reklamiert auch Kurt Röttgers einen eklatanten Mangel an »kulinarischer Vernunft«, die um die Frage kreist, »was man essen soll«. 110 Damit stellt sich weit oberhalb »nur« ökologischer Fragen eine solche zur Biopolitik, deren Kern darin liegt, dass sie »die (kontingente und stets prekäre) Unterscheidung zwischen Politik und Leben, Kultur und Natur, zwischen dem Unverfügbaren und fraglos Gegebenen einerseits und dem moralisch-rechtlich zu verantwortenden Handeln andererseits sichtbar macht.« 111 Darauf konzentriert sich auch ein großes Thema im Spätwerk der Philosophie von Michel Foucault. »Foucault bestimmt die Eigenart der Biomacht darin, dass sie sterben ›lässt‹ und leben ›macht‹ – im Gegensatz zur Souveränitätsmacht, die sterben macht oder leben

107 108 109 110 111

Vgl. Lemke, Ethik des Essens, S. 260. Ebd., S. 258. Vgl. ebd., S. 259. Röttgers, Die fehlende Kritik der kulinarischen Vernunft, S. 124. Lemke, Biopolitik, S. 44.

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Zum Charakter von Märkten

lässt« 112. Foucaults Biomacht-Verständnis ist auf das Leben in Gänze bezogen. Bios versteht er dabei als »die Art und Weise, wie sich die Welt uns unmittelbar im Laufe unserer Existenz darbietet« 113. Im Fokus der Biopolitik stellt sich das Leben als ein der Rechtfertigung bedürftiges Denkstück dar, in dem sich die Reflexion der »Modalitäten der Selbsterfahrung« 114 herausfordert. Biopolitik geht – so gesehen – weit über im engeren Sinne ökologische oder tierethische Fragen hinaus und deckt die gesamte Rechtfertigungsbedürftigkeit menschlichen Tuns in pluralen Beziehungen zur Natur ab. Das Essen und Trinken wird damit ebenso bedenklich wie der Erwerb der Lebensmittel (der nicht allein der tierischen, sondern auch der pflanzlichen) auf allen nur erdenklichen Märkten. Der Marktstand des lokalen Fischhändlers auf dem Wochenmarkt kommt in dieser Sicht ebenso in den kritischen Blick wie die fischereirechtliche Organisation der Hochseefischerei, die Auktion der geradezu unvorstellbar riesigen allein in einem Hafen angelandeten Fischmengen, die Distribution sowie der Einzelhandel, in dem die kulinarische Verwendung des Fischs schon auf ein imaginiertes Menü bezogen ist. Die tierethische Rechtfertigung und Reflexion des nahrungsmittelökonomischen Umgangs mit dem Fisch (im Konkreten wie im Allgemeinen) ist keineswegs von allein akademischer Relevanz. Sie überträgt sich dank des moralischen Wissens, das im gegenwärtigen Zeitgeist spätmoderner demokratischer Gesellschaften eine Facette des öffentlichen Bewusstseins bildet, auf die über Fischmärkten und -auktionen liegenden Atmosphären. Das unterscheidet die historische Fischwirtschaft der 1920er Jahre, wie sie hier in einigen Zitaten zur Geltung gekommen ist, von jener in spätmodernen Rechtfertigungs-Gesellschaften, in denen sich gleichsam über allem, was Menschen tun, der Schatten eines optional schlechten Gewissens ausbreitet. Den Atmosphären auf Fischmärkten sind drei mikrologische Beschreibungen gewidmet, eine (a) zur Situation der Latenz eines mehr atmosphärisch als in tatsächlichen Aktionen vorscheinenden Fischmarktes, auf den kaum mehr als Artefakte und relikthaft dingliche Kulissen eines nahezu leeren Fischereihafens sowie erkennbare Spuren eines vergangenen Umschlags von Garnelen verweisen (Lauwers112 113 114

Ebd., S. 50. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 593. Ebd., S. 594.

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Weihnachtsmärkte

oog / NL), (b) zur Situation eines vitalen Fischereihafens, in dem die Entladung der Trawler vor sich geht und die Fisch-Container in die Kühlhäuser zur Auktion am frühen Morgen des folgenden Tages eingelagert werden (Hanstholm / DK) und (c) zur Situation einer Fischauktion, in der der fangfrische Seefisch an die Einkäufer des Großhandels versteigert wird (Hanstholm sowie in annotierenden Umrissen zum englischen Fischereihafen Grimsby, s. Kapitel 4.4). Aber schon in Kapitel 2 spielt ein gleichsam »disperser« Fischmarkt in Gestalt etlicher unabhängig voneinander betriebener Verkaufsstände auf einem gemischten Markt eine atmosphärisch bemerkenswerte Rolle.

1.5 Weihnachtsmärkte Wenn das historische Schrifttum zur näheren Bestimmung der Anfänge und Ausprägungen der Blumenmärkte schon dürftig war, so drückt sich dieser Mangel für die Situation der Weihnachtsmärkte noch deutlicher aus. Zwar gibt es Quellen, die sich der lokalen Tradition von Weihnachtsmärkten widmen (wie dem Christkindl-Markt in Nürnberg oder München); solche zur Kulturgeschichte der Weihnachtsmärkte im Allgemeinen sind dagegen bestenfalls in Nachschlagewerken zu finden, und auch da sind sie mitunter in Artikeln zu übergeordneten Stichworten versteckt. Es ist bemerkenswert, dass in der Brockhaus Enzyklopädie das Stichwort »Weihnachtsmarkt« bis zur Ausgabe 1999 nicht erscheint und erstmals 2006 Erwähnung findet. 115 Deshalb werden schon aus Gründen der außerordentlich dürftigen Quellenlage die allgemeinen Vorbemerkungen zu Weihnachtsmärkten eher knapp ausfallen müssen. Weihnachtsmärkte ziehen die Menschen alljährlich in großen Massen an. Die Marktformate variieren nicht nur lokal und regional, sondern auch national. Schon innerhalb Deutschlands wird die Breite des je Besonderen von Jahr zu Jahr größer, vom wiederaufgelegten »traditionellen« Nürnberger Christkindl-Markt bis zur moralisch und ideologisch überladenen Veranstaltung für den sprichwörtlich guten Zweck. Während der chinesische Weihnachtsmarkt in Shanghai eher als eine Kopie des deutschen im fernen Osten reüssiert, hat der basarähnliche Markt von Tepito (einem Barrio in Mexico-Stadt) 115

Brockhaus, Die Enzyklopädie, 1999 und 2006 (Band 29), S. 574.

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Zum Charakter von Märkten

nur noch wenig mit deutscher Gemütlichkeit zu tun. Anstelle heimatlicher Schnitzereien und Honig aus ökologischer Imkerei ist es hier der Schwarzmarkt, der mit einer aufsehenerregenden Kriminalitätsrate anlässlich des bevorstehenden Weihnachtsfestes unter anderem aufblasbare Supermänner und Barbies in allen Größen und Sorten zu bieten hat. 116 Eines verbindet alle Veranstaltungsformen trotz großer Vielfalt: Sie sind saisonale Zentren einer ganz eigenartigen Ökonomie. Hierzulande setzt die vorweihnachtliche Emotionalisierung – mit hybriden Mythen christlicher bis säkularer Bedeutungen imprägniert – sentimentale Reflexe frei. Als Medien bieten sich unterschiedlichste Dinge an: flirrendes Lametta, klebrige Lebkuchenherzen, Selbst-Gebasteltes aller Art, gebrannte Mandeln, leuchtende Weihnachtssterne, süßlich-schwerer Glühwein, »alternative« Produkte jeder Art etc. Die Dinge haben neben ihren evidenten, aber marginalen Zwecken vor allem eine psychologische Funktion. Sie sind gefühlsweltliche Katalysatoren, die (synästhetisch) mit Werten des Sanften, Milden, vor allem aber Mitmenschlichen verklammert sind. Weihnachtsmärkte sind autosuggestive Räume der Simulation von Gemeinschafts-Gefühlen, die im neoliberalen Durchsetzungs- und Selbstbehauptungs-Alltag rar geworden sind, bestenfalls in privaten Rückzugswelten noch gelebt werden. Im nüchternen Blick auf kollektiv verklärte Befindlichkeiten erweisen sich warmherzige Gefühlsappelle als romantizistische Platzhalter anachronistischer Heimat-Utopien. Das Beispiel der Weihnachtsmärkte zeigt beispielhaft, dass und wie sich Gefühle im Geltungsraum von Zeitfenstern steuern und kulturindustriell instrumentalisieren lassen, wenn die stimmungsgenerierenden Medien nur eindrucksmächtig genug in Szene gesetzt sind.

1.5.1 Kulturhistorische Wurzeln Die Anfänge der Weihnachtsmärkte haben ihre Wurzeln in einem traditionellen und keinem kulturindustriellen Boden. Im 14. Jahrhundert kam in der Vorweihnachtszeit »der Brauch auf, Handwer116 Vgl. AIREN: Weihnachtsmarkt in Tepito. Ein Basar als Nervenzusammenbruch. FAZ vom 22. 12. 2014; vgl. auch http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/weihnachts markt-in-tepito-mexiko-alles-gefaehrlich-und-brutal-13333407-p2.html?printPaged Article=true#pageIndex_2; 27. 10. 2016.

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Weihnachtsmärkte

Abb. 1.14: Weihnachtsmarkt in Berlin auf dem Schlossplatz in der Breitenstraße (1776)

kern, Zuckerbäckern u. a. zu erlauben, auf dem allgemeinen Markt Stände zu errichten, um Spielsachen zu verkaufen. Schon damals wurde auch das leibliche Wohl der Marktbesucher berücksichtigt: Es gab »geröstete Kastanien, Nüsse und Mandeln zum Wohlbefinden.« 117 Die Weihnachtsmärkte sind aus »gewöhnlichen Wochenmärkten und Kirchfesten hervorgegangen.« 118 Als eigenständige Veranstaltungen sind sie mit dem Jahr 1310 in München nachgewiesen; im 15. Jahrhundert gab es in Dresden den »Striezelmarkt«, der seit 1708 mehrtägig abgehalten wurde. Um 1640–1650 ist in Nürnberg der »Christkindlesmarkt« entstanden, und »im 18. Jahrhundert wurde der Weihnachtsmarkt in Berlin sehr populär.« 119 (s. auch Abb. 1.14). Zu allen Zeiten spielte die Illumination eine atmosphärisch zentrale Rolle. Sie nimmt den Lichterschein des Weihnachtsbaumes gewissermaßen vorweg und leistet ihren Beitrag zur Erzeugung festlicher Atmosphären. Schon im späten November sichert die mit christlichen Symbolen gesättigte Weihnachtsbeleuchtung eine sentimentale 117 118 119

Becker, Lexikon der Bräuche und Feste, S. 430. Brockhaus, Die Enzyklopädie, Bd. 29, S. 574. Ebd.

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Zum Charakter von Märkten

Grundstimmung, der die frühe Dunkelheit des winterlichen Vorabends fördernd entgegenkommt. Der illuminierte Weihnachtsbaum ist ein Kulturfolger des vom Kerzenleuchter ausgehenden Lichterscheins. Mit dem Jahr 1660 ist bezeugt, »wie die Lichter vom Weihnachtsleuchter allmählich auf den Baum wandern, bis der lichtergeschmückte Baum die allgemeine Form des Weihnachtsbaumes wird.« 120 Dabei wandern mit dem Ortswechsel des Lichts neben seiner wärmenden Funktion auch seine mythischen Bedeutungen auf den Tannenbaum: die Bewahrung vor Übel, Hexenspuk und Gespenstern. 121 Bis heute vermischen sich in der suggestiven Ausstrahlungsmacht weihnachtlichen Lichterscheins heidnische und christliche Bedeutungen. In erster Linie sorgt die Illumination der Städte in der kalten und dunklen Winterzeit im Sinne des Wortes für Licht. Schon darin hat sie eine erfreuende Wirkung und ist Sinnbild des Lebens. 122 Indem es aber auch der Finsternis gegenübersteht, verbildlicht es zugleich das Rettende. Gott selbst ist im Alten Testament das Licht und damit das Gute, Hoffnungsvolle und Hilfreiche. 123 In der Logik christlicher wie säkularer Mythologie steht es für die Freude. Da die Stimmungen der Menschen in der dunklen Zeit des Jahres oft von Gefühlen der Niedergeschlagenheit am Boden gehalten werden, vermittelt es nicht nur die optische, sondern als Freudenfeuer auch die stimmungsmäßige Aufhellung. Im Volkstum finden sich mit großer regionaler Variation zahlreiche Beispiele für winterlich-vorweihnachtliche Feuer. In Deutschland geht die Sitte auf das 12. Jahrhundert zurück. 124 Das Licht hellt in einem doppelten Sinne auf – die frühabendlich dunkle Stadt wie die faden und tristen Stimmungen der Menschen.

1.5.2 Städtische Event-Orte Weihnachtsmärkte sind zur Zeit des ausklingenden Jahres gleichsam rituell-kommerzielle Zentren. Deshalb sind sie in ihrer affizierenden Wirkung auch nicht auf ihre lokalen Inseln begrenzt. Sie fungieren 120 Bächthold-Stäubli, Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, Band IX, Sp. 915. 121 Vgl. ebd., Sp. 916. 122 Vgl. ebd., Sp. 915. 123 Vgl. Vorgrimler, Neues Theologisches Wörterbuch, S. 393. 124 Vgl. Grimm, Deutsche Mythologie, S. 522.

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Weihnachtsmärkte

als Stimmungskollektoren, sodass sich der örtlich-punktuelle Event intensivierter Fröhlichkeit in eine allgemeine Lust am Konsum ausweiten mag. Im vorweihnachtlichen Schein des Guten und Schönen aktualisiert sich die Kultur-Ökonomie der Stadt in einer saisonalen Welt des Spektakels. Und so diffundieren die atmosphärischen Milieus weit über die Grenzen der Plätze der Weihnachtsmärkte hinaus und versetzen die gesamte City in einen atmosphärischen Ausnahmezustand. Schon mit einfachen Mitteln (Tannengrün und Lichterflut) lassen sich die innerstädtischen Einkaufszonen in heterochrone Wirklichkeiten gewissermaßen »umkleiden«. Das auf dem Sandstein einer neoklassizistischen Fassade tagtäglich weich wirkende Licht der Gebäudeillumination verwandelt sich im Halbdunkel romantischer Gemütlichkeit ins sentimentale Medium. Das im Prinzip profane Licht wird dank der Macht vorweihnachtlicher Atmosphären mythisch umgestimmt. Wenn infolge fortgeschrittener Säkularisierung die christlichen Mythen auch fast schon vergessen sind, so genügen schon residuale Fragmente religiöser Symbole, um auch außerhalb christlicher Glaubensgemeinschaften Gefühle des Versöhnlichen zu wecken. Diese verbinden sich in ihrem dispositiven Charakter mit einer erhöhten Konsumbereitschaft. Diese Synchronisierung kehrt zwar in den meisten Stadt-Ästhetisierungen wieder; es ist aber ein charakteristisches Merkmal, das sie mit dem versöhnlichen Schein des Vorweihnachtlichen verbindet: Die Herabsetzung der Kaufschwellen hat ihre Gründe weniger in warenspezifischen Bedürfnissen als im Wunsch der Teilhabe an einer befriedenden Stimmung.

1.5.3 Weihnachtsmärkte und ihre sedierenden Atmosphären Weihnachtsmärkte sind Tauschbörsen, auf denen es nur vordergründig um gebrannte Mandeln, Glühwein oder rustikale Schnitzereien geht. Die an heimelig inszenierten Ständen gehandelten Dinge suggerieren zwischen Hoffnung und Versprechen schwimmende Gefühle einer guten Harmonie. In ihrer temporären Sedierungen nehmen sie den Härten des Alltags die bittersten Spitzen – wenn auch nur symbolisch und im Ausnahmezustand aktueller Verklärung. Nicht zufällig bieten sich die atmosphärischen Christmas-Welten als Milieu dissuasiver Konfliktbesänftigung an. 83 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zum Charakter von Märkten

Wie kaum andere in der urbanen Welt affizierende Events boomen die Weihnachtsmärkte alljährlich als Sammelplätze für Betriebsbelegschaften und Vereinsmenschen. Was sich als emotionales Highlight im aktuellen Befinden festsetzt, verdankt sich der sanften Betäubung vergemeinschaftender Atmosphären, deren Erleben im Alltag hinter Konkurrenz, Verdrängung, Neid, Wettbewerb und Aufstiegsgerangel schon längst flüchtig geworden ist. An der vorweihnachtlichen Zirkulation romantizistischer Gefühlszumutungen bekräftigt sich mit Nachdruck, weshalb Sigmund Freud die Grenze zwischen dem Ich und der Außenwelt nur unsicher gezogen hat, 125 ist das Spektakel der Weihnachtsmärkte doch systematisch darauf angelegt, über räumliche und dingliche Arrangements die Affektregime nicht nur Einzelner, sondern gesellschaftlicher Kollektive zu stimmen. So wäre es auch naiv, das süßlich-illuminative Spektakel in den Städten nur als Ausdruck christlicher Traditionen zu begreifen. Wie das religiöse Sinnreservoir in seiner massensuggestiven Wirkungsmacht nur aus einer ethnopsychoanalytischen Perspektive verstanden werden kann, so die christlich-weihnachtlichen Heils-Versprechen nur auf dem psychoanalytischen Horizont massenkulturell regulierter Affekte. Dass es dabei vor allem um die Abfederung eines strukturell im täglichen Leben begründeten Unbehagens geht, liegt auf der Hand. Deshalb streben euphorisierende Events im Glanz von Sinterklaas und Christkindl auch danach, den Einfluss der Phantasie auf die Grundstimmungen der Menschen zu stärken. Das Kalkül verlangt schon deshalb eindrucksmächtige Nachhaltigkeit, weil die Phantasmen robust genug sein müssen, um im Genuss trotz aller »Abweichung von der Wirklichkeit« 126 zu verharren. Die Arrangements können ihre improvisierten Biotope des Versöhnlichen aber nur im Modus zeitlicher Punktualisierug des Erlebnisses 127 am Leben erhalten, weil es eine Kontinuität »guten« Erlebens noch nicht einmal in der Imagination gibt. »Wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig.« 128

Vgl. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 199. Ebd., S. 212. 127 Das Moment limitierter– eben punktualisierter – Dauer des Erlebnisses (im Unterschied zum Erleben) hatte vor allem Wilhelm Dilthey zu einem Thema seiner Philosophie gemacht; vgl. dazu besonders Sauerland, Diltheys Erlebnisbegriff. 128 Ebd., S. 208. 125 126

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Weihnachtsmärkte

Wenn die Rezepte zur »Decodierung« der protofestlichen Imprägnierung innerstädtischer Einkaufsstraßen und zentraler Plätze für jedermanns Verständnis gleich mitgeliefert würden, liefe die Macht der Illusion von vornherein ins Leere und die sanfte Narkose müsste verpuffen. Alle auf suggestive Wirkungen hin inszenierten Events bauen, um dispositive Erfolge nicht aufs Spiel zu setzen, auf eine Differenz des Wissens, die die Akteure von den Patheuren trennt. So erweisen sich die kultur- und zivilisationshistorisch errichteten Grenzen zwischen einer Welt der Gefühle und einer des Denkens in der sozialen Wirklichkeit der Weihnachtsmärkte als unverzichtbare Garanten der Übertragung von heilsbesetzten Illusionen, Sehnsüchten und Phantasien. Die Mikrologien drehen diese Logik der Affizierung herum, und so liegt das Ziel phänomenologisch autopsierender Durchquerungen sentimentaler »Markt«-Welten auch darin, deren Wirkungsweisen aufzudecken und dem kritisch nachdenkenden Verstehen zugänglich zu machen. Die Mikrologien in Kapitel 5 streben in der Explikation des Erlebens atmosphärisch inszenierter Gefühlswelten die Rekonstruktion der Affekt-Grammatik quasi-heterotoper Illusions-Räume an. Mehr als bei allen anderen Mikrologien stellt sich hier die Aufgabe der Beherrschung von Gefühlen, die als ureigene erlebt werden, sich aber eindrucksmächtiger Konstruktionen verdanken. Schon die hier aufgeführten Vorbemerkungen zum Thema zeigen, dass es keinen Weg der Annäherung an sentimentalisierte Milieus gibt, der nicht mit Bedeutungen besiedelt wäre und schon deshalb der verstehenden Rekonstruktion verdeckter Codes bedürfte. Darin kehrt das immer wieder diskutierte erkenntnistheoretische Problem der Projektionen wieder, das seinen Kern in der Tatsache hat, dass es schon im Allgemeinen keinen Weg der Begegnung mit Menschen, Dingen oder Situationen gibt, der nicht durch Vorwissen mehr oder weniger gelenkt würde. 129 Die Herausforderung besteht deshalb auch nicht darin, solche Filter des Erlebens wie Verstehens auszuschalten, sondern sie schon im Zuge der Beschreibung (im Moment ihrer Bewusstwerdung) und mehr noch im Rahmen der Interpretation kritisch zu reflektieren.

129

Vgl. auch Kapitel 3.5 in Hasse, Mikrologien, Band 1.

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2. Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

Die folgenden Mikrologien sind dem raumzeitlichen Erleben der Situation zweier Märkte in der niederländischen Großstadt Groningen gewidmet. Die Plätze liegen dicht nebeneinander und stehen über eine gemeinsame Stadtgeschichte in einem vielschichtigen Zusammenhang. Auf einem Teil der Fläche des Großen Marktplatzes (Grote Markt 1) findet ein Textil- und Trödelmarkt statt, auf dem westlich davon liegenden langgestreckten Platz (Vismarkt) ein gemischter Markt. Beide werden wöchentlich mehrmals gehalten. Grote Markt wie Vismarkt bilden seit Jahrhunderten schon wegen ihrer zentralen Lage in der alten Stadt gewissermaßen neuronale Zentren des urbanen Lebens. Beide auf diesen Plätzen stattfindenden Märkte können trotz ihrer Unterschiedlichkeit insofern als »Wochenmärkte« angesprochen werden, als sie jeweils regelmäßig an mehreren Tagen der Woche gehalten werden. Das folgende Kapitel stellt den beiden Mikrologien kurze Erläuterungen zur Bedeutung der Plätze in stadt- wie architekturhistorischer Hinsicht voran. Zur ausführlichen Diskussion von Plätzen und Märkten im Allgemeinen siehe auch Kapitel 1.1 und 1.2.

2.1 Die Groninger Platzfolge (Grote Markt und Vismarkt) In der historischen Entwicklung der Stadt Groningen hat der Bau der Sint Maartenskerk (Martinikerk) eine insbesondere in symbolischer Hinsicht herausragende Bedeutung (s. Abb. 2.1 oben sowie Nr. 1 in Abb. 2.2). Noch in der Gegenwart ist die Kirche einer der stadt-, kultur- wie architekturhistorisch zentralen Orte in der Altstadt. Um 800 wurde der Sakralbau zunächst aus Holz konstruiert; etwa 300 Jahre später entstand dicht daneben die Sint Walburgkerk aus Tuffstein (s. Abb. 2.1 oben links); darüber hinaus wurde 1247 die Aakerk er1

In einer Karte aus dem Jahre 1652 heißt er noch Breede Marckt, s. Abb. 2.1.

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Die Groninger Platzfolge (Grote Markt und Vismarkt)

Abb. 2.1: Die Groninger Marktplätze; historische Karte von 1652

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Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

Abb. 2.2: Plätze und Architektur (aktuelle Situation); 1: Martinikerk, 2: Rathaus, 3: Kornbörse, 4: Oude Kerk, P1: Grote Markt, P2: Vismarkt

richtet (s. Abb. 2.1 unten sowie 2.2. Nr. 4); sie wurde an der Westkante des Vismarkt in beeindruckender Höhe und Größe gebaut und hatte im religiösen Leben der Stadt herausragende Bedeutung. In diese Zeit fällt auch die Anlage der beiden zentralen Plätze, erst der Vismarkt und dann der Grote Markt (s. Abb. 2.1 oben Grote Markt noch als Breede Marckt bezeichnet und unten Vis Marckt sowie Abb. 2.2. Nr. P1 und P2). Auf dem Grote Markt entstand 1635 auch das Goldkontor (Belastingskontoor bzw. Provinviaal Collectiehuis) im Renaissance-Stil. 2 Es waren also nicht nur die sakralen, sondern auch die äußerst repräsentativen säkularen Bauten, die in ihrer eindrucksmächtigen Architektur weit über die Grenzen der Stadt hinaus deren Bild symbolisierten. In früheren Jahrhunderten verband sich mit ihrer atmosphärischen Ausstrahlung die Erwartung einer machtvollen politischen und ökonomischen Potenz der Stadt, nicht zuletzt als Zentrum der Provinz. Beide Plätze hatten seit ihrer Anlage eine die Stadtentwicklung geradezu lenkende Funktion. Für die raumphysio2

Vgl. Abb. 2.1, kleines Bauwerk unten links auf dem Breede Marckt.

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Die Groninger Platzfolge (Grote Markt und Vismarkt)

gnomische Struktur der europäischen Stadt kann ihre Anlage und Gestaltung als paradigmatisch angesehen werden. Beide Plätze waren in ihrer Doppelfunktion (Versammlungsort und Marktplatz) von Anfang an urbane Räume, in ihrer programmatischen Offenheit architektonisch komponierte Räume im Kontinuum der Stadt. 3 Der architektonisch schon durch seine langgestreckte Form geschlossen wirkende Vismarkt wird von zwei Straßen gerahmt (s. Abb. 2.1 und 2.2). Von dort führen Abzweigungen vor allem in nördlich und südlich gelegene Quartiere der Altstadt. Das atmosphärische Gefühl, mitten in der Stadt zu sein, wird durch die Sichtbeziehungen an den Ecken und Rändern des Platzes unterstützt. Über Blickachsen verbindet sich das jeweilige Platzgeschehen mit dem an den Übergängen in die meist engen Gassen vorscheinenden Leben in der Altstadt. An der Westseite des Grote Markt entstand um 1300 ein Rathaus. Nach mehrmaligen Umbauten zeigt sich die neoklassizistische Architektur aus dem Jahre 1872 bis heute als symbolisches Zentrum der politischen Stadt. Etwa zur gleichen Zeit wurde zwischen Aakerk und Vismarkt (1863–1865) die Kornbörse (Korenbeurs) ebenfalls im neoklassizistischen Stil gebaut (s. Abb. 2.2, Nr. 3). Sie unterstreicht die über lange Zeit der Stadt wie der Region ökonomischen Wohlstand garantierende Bedeutung der Agrarwirtschaft. 4 Auf historischen Karten bestimmt die sich zwischen Martinikerk im Osten und Aakerk im Westen erstreckende Platzfolge von Grote Markt und Vismarkt das Bild des Zentrums (s. Abb. 2.1). Wie der »Klassizismus bei seinen Platzgestaltungen wieder auf die monumentale Raumwirkung des Solitärs« setzt, um »eine dialogische Beziehung zu anderen freistehenden Baukörpern« herzustellen, 5 so wurde das ästhetische Prinzip der räumlichen Pointierung durch Verinselungseffekte auch im Neoklassizismus wieder in Anspruch genommen, nun mit der signifikanten Platzierung von Rathaus und Kornbörse. Historische Gemälde und Stiche weisen beide Plätze als Versammlungs- und Veranstaltungsorte von hohem politischem Rang aus. Im April 1945 verursachten Bombardierungen an der Nordzeile der barocken Platzrandbebauung beträchtliche Zerstörungen. Die großen in die Altstadtbebauung gerissenen Lücken wurden nach 3 4 5

Vgl. Pieper, Der Platz, S. 104. Vgl. Stenvert, Monumenten in Nederland, S. 108. Pieper, Der Platz, S. 109.

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Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

dem Krieg wieder geschlossen. Der Wiederaufbau erfolgte im Bereich des Grote Markt in einem zehn bis fünfzehn Meter zurückgesetzten Verlauf, um eine freiere Sicht auf die Martinikerk zu ermöglichen. Im räumlichen Kontext barocker und neoklassizistischer Bebauung wirkt das neu Entstandene wie ein friedenspolitisches Mahnmal in der Mitte der Stadt. Zwischen den barocken Hausfassaden sind die Lückenschlüsse nicht übersehbare Wunden der Stadt. Die ab den 1950er Jahren erfolgten Neubauten stellen einen unheilbaren ästhetischen Bruch dar, der immer wieder Wünsche nach einer historischen Rekonstruktion weckt (zur städtebaulichen und architektonischen Situation vor dem Zweiten Weltkrieg s. auch Abb. 1.2, S. 37). Aus der phänomenologischen Perspektive des alltäglichen Platzerlebens stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Kriegswunden in der gebauten Stadt aktuell im Raum spürbar werden können. Wird dieser als Bühne politischer Veranstaltungen genutzt, liegt die Aktualisierung erinnerbarer Spuren der Geschichte nahe. In einer gewissen Latenz werden sie selbst dann noch gegenwärtig sein, wenn der Platz nur eine freie Fläche ist und der Blick auf das Bild seiner disharmonischen Randbebauung durch nichts abgelenkt wird. Dagegen werden die Menetekel einer verheerenden Kriegsgeschichte in der Zeit des Wochenmarktes eher in einem stummen Hintergrund schweigen. Plätze sind für wechselnde Situationen gemacht und daher wandeln sich mit den Nutzungsprogrammen auch ihre Atmosphären. Die Tradition der Abhaltung von Märkten 6 auf beiden innerstädtischen Plätzen lebt bis in die Gegenwart fort – auf dem Grote Markt der Handel mit Kleidung und Trödel aller Art und auf dem Vismarkt ein gemischter Markt (Handel mit Obst und Gemüse, Käse, Brot- und Teigwaren sowie Fisch und Seegetier). Vor allem der an vier Werktagen auf dem Vismarkt regelmäßig stattfindende gemischte Markt drückt eine äußerst lebendige kulturelle Dynamik im urbanen Leben der Stadt aus. Beide Plätze haben mit ihren Märkten für die Einwohner der Stadt große lebenspraktische Bedeutung; zugleich haben sie die hohe Attraktivität der Stadt vor allem für Tagestouristen aus Deutschland gestärkt. Die hohe Anziehungskraft der Plätze für BeEine Dokumentation zur historischen Fotografie aus dem frühen 20. Jahrhundert zeigt den Fischmarkt als Ort der Veranstaltung eines gemischten Marktes, der seinerzeit lediglich aus zwei Reihen einfacher zeltartiger Marktstände bestand; vgl. Bijhouwer, De Schoonheid van ons Land.

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Der Grote Markt

wohner wie Touristen dürfte sich wesentlich daraus erklären, dass beide in einem urbanen atmosphärischen Milieu erlebt werden können. Lange nicht in allen Städten Nordeuropas bilden die historischen Plätze bis in die Gegenwart das raumphysiognomisch evidente und in ihrer kulturellen Bedeutung unbestreitbare Zentrum der Stadt.

2.2 Der Grote Markt Die erste dichte Beschreibung basiert auf einer etwa halbstündigen Beobachtung des Treibens auf dem zwischen Martinikerk und Stadhuis (Rathaus) liegenden Grote Markt (s. Abb. 2.1). Die Niederschrift 7 der Eindrücke erfolgte nicht in der Mitte des Markttreibens, sondern am Rande des Platzes vor den Straßencafés, die sich in den unteren Geschossen der historischen Bebauung befinden (s. * in Abb. 2.2). Dieser Bereich ist – halb Platz, halb Straße – eine Durchgangszone, die als Verbindung zum Vismarkt genutzt wird. Die erste Mikrologie dieses Bandes kann in ihrer kurzen sowie sich auf lediglich zwei Kapitel beschränkende Interpretation zum einen als Hinführung zum Thema des Erlebens von Marktatmosphären verstanden werden, zum anderen aber auch als Beispiel der Anwendung der Methode der Mikrologien, wie sie ausführlich in Kapitel 3 von Band 1 dargestellt ist. Neben der seitlichen Fassade des Rathauses reihen sich Verkaufsstände mit Textilien, Taschen und diversem Trödel aneinander. Gegenüber liegt ein Straßencafé neben dem anderen. Die Fußgängerströme kommen vom Vismarkt wie vom Grote Markt und passieren hier eine Raumenge in der Gestalt eines Flaschenhalses. Das in drei Raumachsen – eine Café-Zone an der historischen Bebauung, eine gegenüberliegende Reihe mit Verkaufsständen sowie eine hoch dynamische Zone dazwischen hindurchströmender Menschen – vor sich gehende Treiben ist zwar unmittelbar sichtbar, in einer geradezu einnehmenden Weise aber auch spürbar. Obwohl es an dieser Stelle keine Enge im physischen Raum gibt, ist die »Vitalqualität« 8 der Situation beengend. Zu diesem Eindruck tragen insbesondere die geradezu über-

7 8

Tag und Zeit der Protokollierung: 03. 10. 2014, 15–15:30 h, sonnig, ca. 20 Grad. Vgl. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum.

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Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

bordenden Geräusche bei. Das Gewirr des Hörbaren vermischt sich dabei mit einem chaotischen Gemenge des Sichtbaren. In der Wahrnehmung durchdringen sich die sinnlich verschiedenen Eindrücke zu einer atmosphärischen Rauminsel. Zahllose Stimmen vermischen sich zu einem rauschend-oszillierenden Klanggewirr. Die meisten vorübergehenden Menschen sprechen nicht miteinander – auch dann nicht, wenn sie zu zweit oder zu dritt nebeneinander gehen. Man kann sprechende und telefonierende Stimmen unterscheiden. In einem engeren Sinne »sprechen« zwar beide, aber die Telefonierer tun es resonanzlos – als redeten sie in ein Nichts hinein. Ihre habituelle Präsenz ist ganz anders, als würden sie mit einem leibhaftig gegenwärtigen Menschen kommunizieren. Was man zu hören bekommt, klingt wie ein autistisches Vor-sichhin-Reden. Die kommunikations-technisch bedingte Ent-fernung leiblich abwesender Dialogpartner bringt eine atmosphärisch eigene Form des Sprechens mit sich. Fahrräder werden (lautlos) geschoben, Kinder schreien, ab und zu bellt kurz ein Hund. Asiaten, Afrikaner, »bunte Vögel« mit gelben und blauen Haaren, Strohhüten und Miniröcken, eine Frau in wallendem Kleid aus durchsichtiger Gaze gleiten vorüber – wie zusammenhanglose Elemente höchst verschiedener Filmsequenzen. Eine Frau schreitet mit schnellen, harten Schritten über das Pflaster. Ihr Kommen, Vorübergehen und sich ankündigendes Verschwinden drückt sich in Gestalt einer Gauß’schen Klangkurve aus. Metallkanten unter den Absätzen sichern ihr eine kurz aufzuckende, aber zugleich beiläufige Aufmerksamkeit. Ein Kellner trägt ein Tablett mit allem Möglichen zwischen Eisschleckern und -löfflern hindurch. Die Eis-Esser und Kaffee-Trinker sitzen unter freiem Himmel da, als wollten sie gegen einen sich ankündigenden aber atmosphärisch noch hintergründig bleibenden Herbst opponieren. Die zahlreich vor den Cafés sitzenden Menschen sind in ihrem Erscheinen so vielfältig, dass man zumindest unmittelbar zu erkennen glaubt, sie müssten jeweils »für sich« da sein. In der Menge scheinen die Vielen, die nur Ähnliches tun, durch nichts zusammengehalten zu werden. In den Oszillogrammen des Dahin und Hindurch hinterlässt dies alles ein spürbar beengendes Gefühl. Der Strom der Passanten, der scheinbar unaufhörlich in gegenläufigen und querenden Richtungen eher langsamen als schnellen Schrittes dahin- und durcheinanderfließt, reißt nicht ab. Aber er wechselt in seiner dahinfließenden Gestalt – mal locker, dann wieder 92 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der Grote Markt

gedrängt und kompakt, mal träge und dann wieder für einen Moment flink, mal eher apathisch und dann wieder lebendig. Trotz aller Lebendigkeit wirkt die Atmosphäre des Raumes in gewisser Weise leer. Alles ist beiläufig gestimmt. Die Daher-Gehenden wie die Da-Sitzenden tun eigentlich gar nichts. Die Art und Weise, wie sie sitzen, kommen oder gehen, macht den Eindruck, als sei ihnen der Ort ihrer aktuellen Umgebung völlig gleichgültig. Sie sehen ziellos aus, stehen anscheinend zufällig herum. Hier und da gibt es Einzelne, die auf jemanden oder etwas warten.

2.2.1 Zum Situations-Charakter städtischer Ereignisräume Die Beschreibung lässt eher auf einen Platz- denn auf einen MarktCharakter schließen; das liegt daran, dass der autofreie Raum vor den Straßencafés eine dreifache Funktion hat: die einer Fußgängerzone, eines quasi-öffentlichen Raumes, der von gastronomischen Betrieben genutzt wird, und die der Randzone eines Platzes, auf dem gerade ein Markt gehalten wird. In der beschriebenen Situation überlagern sich mehrere Raumqualitäten, die darin ihren situativen Charakter haben, dass Zuständliches und Aktuelles zueinander in Beziehung stehen. Beides ist bzw. ereignet sich im Sinne von Graf Dürckheim im »tatsächlichen Raum«. Worauf es bei dieser »Raumform ankommt, ist: Wassein, Sosein, und Wosein des Raumes, sofern es eindeutig fixierbar ist, fixierbar in einem Sinn, in dem er vom erlebenden Subjekt und dessen augenblicklicher oder überaugenblicklicher Standorts- und Lebensbestimmtheit losgelöst Bestand hat.« 9

In modernen sozialwissenschaftlichen Diskursen ist vom relationalen oder relativen Raum die Rede, vom Abstandsraum, in dem nicht das Gefühl und nicht das Erleben des Erscheinens der Dinge entscheidend ist, sondern das, was sich objektivierend über Größen, Abstandsbeziehungen etc. sagen lässt. 10

Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 61. Vgl. im Sinne eines zusammenfassenden Überblicks auch Hasse, Atmosphären. Gefühlte Orte.

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Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

In diesem tatsächlichen Raum überlagern sich die situativen Momente aktueller wie zuständlicher Situationen. 11 Zuständlich sind die architektonischen und ausstattungsspezifischen Merkmale des Raumes sowie alles, was in der mittleren Dauer der Zeit beharrt, also nicht in jedem Moment anders sein kann, wie im gegebenen Beispiel u. a. die vor den Cafés aufgestellten Tische, Stühle, die im Außenraum stehenden gastronomischen Utensilien und natürlich die architektonischen Bauten, technischen Infrastrukturen und vieles mehr. Aber auch die temporär über längere Zeit – zum Beispiel für die Dauer des Sommers und noch lauen Frühherbstes – im Raum fixierten Dinge sollten zu den Ausstattungsmerkmalen des tatsächlichen Raumes gezählt werden, die den Rahmen einer zuständlichen Situation ausmachen. Was sich dagegen aktuell im Raum Gestalt geben kann, ist ganz und gar vom Augenblick, vom Verlauf der Ereignisse, Geschehnisse wie den dahinströmenden sozialen Prozessen abhängig. So zeigt sich in allem, was die dichte Beschreibung urbaner Lebendigkeit und dynamischer Bewegungen expliziert, das Gesicht einer gerade aktuellen Situation. Aktuelle Situationen befinden sich im Fluss dauernder Wandlung. Sie kennen insofern keinen Bestand, als sie an der Dauer jener Rhythmen gleichsam hängen, die ihr Gesicht erst hervorbringen. Das Spektrum ihrer Beweglichkeit, die Flexibilität, in der sie sich in einer Resonanzbeziehung 12 zu einem Herum darstellen können, kann sich allein im Rahmen maßgeblich zuständlicher (nicht irgendwelcher) Situationen herausbilden. Das hat aber auch zur Folge, dass sich zwischen beiden Situationen – den zuständlichen wie den aktuellen – im Sinne einer Kommunikation (oder wiederum einer Resonanzbeziehung) je spezifische Atmosphären herausbilden. Was im tatsächlichen Raum zuständlich ist, disponiert den Rahmen möglicher aktueller Atmosphären, wie diese, was zuständlich ist, in bestimmten atmosphärischen Farben erscheinen lassen. Atmosphären verdanken sich immer des Zusammenwirkens von aktuellen und zuständlichen Situationen »auf dem Boden« des tatsächlichen Raumes. Die Stelle vor den Cafés, an der die mikrologische Beschreibung des Durchgangsraumes expliziert wurde, gibt sich (als aktuelle Situation) in der schneidenden Kälte eines winterlichen Tages atmosphärisch Zum phänomenologischen Verständnis einer »Situation« vgl. besonders Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 65 ff. 12 Im Sinne dessen, was Rosa unter Resonanz versteht; vgl. Rosa, Resonanz. 11

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Der Grote Markt

ganz anders zu spüren, weil die Menschen dann kein Eis essen und sich nicht gelassen in modischer Kleidung im öffentlichen Raum präsentieren, sondern in eisiger, zudem nasser und beklemmender Kälte eilig vorübergehen oder vielleicht im Inneren eines Café verschwinden. Die Mikrologie gibt eine Reihe von Beispielen, die illustrieren, in welcher Weise sich aktuelle und zuständliche Situationen atmosphärisch von selbst synchronisieren. Das Beispiel zeigt zudem, dass sich zwischen eigenen (bzw. eigenartigen) Räumen situationscharakteristische Atmosphären konstituieren können, die sich ganz der autopoietischen Synchronisierung verschiedener Ordnungen zuständlicher und aktueller Situationen verdanken. Am gegebenen Beispiel werden die in beide Richtungen dahinströmenden Menschen in der Art ihrer habituellen Präsenz durch den Zwischenraum des Hin- und Hergehens gestimmt. Sie gehören als Auf-dem-Weg-Befindliche weder zum einen noch zum anderen Raum. Ihre aktuelle Situation kann es aber nur geben, weil es zugleich die rahmende Verklammerung anderer aktueller und zuständlicher Situationen gibt, nämlich die der beiden Plätze und Märkte, zwischen denen sie hin- und hergehen. Eine andere aktuelle Situation stellt sich für jene Menschen dar, die vor den Cafés an den Tischen sitzen, das Treiben beobachten oder – in welcher Befindlichkeit auch immer – einfach nur da sind. Gleichwohl wird auch deren aktuelle Situation vom Strom der vorüberziehenden Menschen gestimmt.

2.2.2 Die (überhörte) Lautlichkeit urbanen Treibens Die Beschreibung macht deutlich, dass in der sinnlichen Vielfalt des Platzgeschehens neben den visuellen Wahrnehmungen einer gleichsam überbordenden Gestaltvielfalt der dasitzenden und vorüberziehenden Menschen die Lautlichkeit eine in ihrer Eindrücklichkeit sehr nachhaltige Rolle spielt. Das lautliche Erleben kann auf dem Hintergrund der obigen Beschreibungen in mindestens sechsfacher Hinsicht differenziert werden. Erstens beeindruckt die Gesamtheit des lautlich Vernehmbaren in einem leiblich beengenden Sinne. Diese Eindrucksqualität ist Folge eines gleichsam bedrängend- und nicht behagend-umhüllenden Gewirrs von Stimmen, Schritten und diffusen Geräuschen, die in ihrer hintergründigen Herkunft oft gar nicht näher identifiziert werden 95 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

können. Die Gleichzeitigkeit des Vielen mündet in ein asynchron empfundenes Ganzes, das dennoch als ein Ganzes erlebt wird. Zweitens modulieren die mehr lautlich als semantisch hörbaren Sprachfetzen der vorübergehenden, dasitzenden und umherstehenden Menschen den Herumraum als ein spezifisch menschliches Milieu. Die besondere atmosphärische Qualität wird dabei weniger durch das expressis verbis Gesprochene (die wörtliche Rede) bestimmt als durch die Art und Weise, wie die Menschen sprechen (als leiblich anwesende Sprecher oder distanzierte Telefonierer). Drittens sind es nicht nur im akustischen Sinne hörbare Geräusche, die den Raum lautlich füllen, sondern auch das in der Aktualität eines Geschehens situativ »Mitgehörte«. Dieses synästhetische »Synchron-Hören« möchte ich als eine Form leiblich akzentuierten Erlebens verstehen, mehr als mitspürende Resonanz denn ein tatsächliches Hören. Der evident erscheinende Zusammenhang einer Situation führt dazu, dass Geräusche gleichsam apperzipiert werden, die eigentlich gar nicht hörbar sind. Eine sinnliche Eindruckslücke wird so gleichsam autopoietisch gefüllt. So werden die lautlos dahergeschobenen Fahrräder als etwas (eigentlich) Lautliches wahrgenommen, das sich infolge der Überlagerung anderer (lauterer) Geräusche der Wahrnehmung entzieht. Indem das Vorbeischieben von Rädern als »lautlos« beschrieben wird, kommt ein lautliches Moment zumindest atmosphärisch im aktuellen Raumerleben zur Geltung, wenn auch nicht in einem akustisch vernehmbaren Sinne; sonst hätte der Hinweis auf die Lautlosigkeit der vorbeigeschobenen Räder auch unterbleiben können. Viertens gehören zu einer jeden vitalen städtischen Situation die Geräusche von Tieren (im Beispiel sind es bellende Hunde und schreiende Möwen etc.). Wenn Tiere auch als affektive Brücken des Sich-hinein-Fühlens in eine vermeintlich »erste« Natur erlebt werden, so werden sie nun als jene archaischen Kontrastmedien erlebt, die den artifiziellen Charakter des pluralen urbanen und sinnlichen Dichteraumes der Stadt intensivieren. Fünftens sind kleine Kinder in anderer Weise im lautlichen (aber nicht im sprachlichen) Raum der Stadt präsent als erwachsene Menschen. Sie runden das Hörbild eines typisch menschlichen Milieus in einem komplettierenden Sinne ab. Sie ergänzen den atmosphärischen Raum der Stadt im Metier der Lautlichkeit und verleihen dem öffentlichen Raum einen charakteristischen Akzent der tendenziell grenzenlosen Mannigfaltigkeit von Passendem und Widersprüchlichem. 96 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der Grote Markt

Auch deshalb wird die Stadt im Spiegel einer collagenhaften Chaotik lebensgeschichtlicher Dynamik spürbar. Sechstens bilden die Schritte der Vorübergehenden eine Klangkulisse, die man in ihrer Infra-Normalität alltäglich zwar hört, aber in aller Regel doch nicht zur Kenntnis nimmt. Als Element eines zu Bewusstsein gelangenden Klangbildes geben sie über Rhythmus und Habitus der Dahingehenden Aufschluss. Das in aller Regel nur hintergründig und diffus Gehörte verbindet sich szenisch mit sichtbaren Bewegungsmustern auf Straßen und Plätzen. Das Beispiel schnell und hart klingender Schritte einer vorübergehenden Frau weist darauf hin, dass belebte Räume der Stadt choreographische Milieus sind. Die den Raum auf flüchtige Weise »beschreibenden« Bewegungsfiguren haben neben einer motorischen Dimension eine (meist überhörte) klangliche und oft auch olfaktorische. Die so oder so Gehenden erscheinen zwar in ihrem je eigenen Habitus, aber was diesem zugrunde liegt (eine Haltung, ein Programm, ein Affekt, eine Grundstimmung etc.) ist ihm nicht »anzusehen«. Was sich der sinnlichen Wahrnehmung auf noch so eindringliche Weise aufdrängen mag, bleibt doch letztlich im Charakter eines oberflächenartigen Erscheinens gefangen. Aller Konkretheit dessen zum Trotz, was »ganz deutlich« gesehen und gehört werden kann, bleibt die individuelle Verknüpfung einer habituellen Präsenz mit Bedeutungen in schattenhafte biographische Gestalten verwickelt. Gerade der soziale Dichteraum der Stadt stellt sich in seinem ästhetischen ÜberschussCharakter (Georg Simmel sprach von einer »Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht« 13) in einer Rhetorik der »Überredung« dar, deren laute Omnipräsenz von einer strukturellen Rätselhaftigkeit dessen ablenkt, was den Strom des täglichen Dahins in seiner Vitalität antreibt. Die vielen (in der fokussierenden Aufmerksamkeit isolierbaren) Eindrücke verschmelzen in der aktuellen Situation der Wahrnehmung der Randzone eines Platzes zu einem leiblich spürbar werdenden Gesamterleben. In ihm gehen alle Segmente gleichsam dahinfließenden Geschehens in einer Simultaneität des Zugleichs, Ineinanders und Durcheinanders auf. Aber die szenisch wechselnden Bilder geben keinen Sinn frei, der dem dynamisch erscheinenden und sich als abgestimmt suggerierenden Treiben vorausliegen mag. Die sich in die 13

Vgl. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S. 119.

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Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

Mikrologie eines Platzgeschehens vertiefende Aufmerksamkeit führt eine Essenz des Urbanen vor Augen – das Bild eines Oszillogramms zahlloser Beiläufigkeiten. Der Platz kann trotz seiner architektonischen Programmatik, trotz seiner aktuellen Inszenierung doch nur als ein transitorischer Raum, ein Ort rätselhafter Ströme wie deren Unterbrechung erfasst werden. Er konstituiert sich atmosphärisch als chaotisch-mannigfaltige Situation. Vieles ist im Heterogenen und Homogenen mit evidenten Bedeutungen verklammert – aber nicht alles. Was Menschen tun wollen und wovon sie aus einem nicht bewussten Impuls nur getragen werden, geht im ästhetischen Weichbild der ganzheitlichen Atmosphäre einer situationstypischen urbanen Lebendigkeit auf. Die aktuellen Gesichter einer Stadt geben oberhalb ihrer vielfarbigen und -gestaltigen Ästhetik wenig Hintergründiges preis. Und so müssen auch alle auf der Grundlage der folgenden Mikrologie ausgeführten Interpretationen letztlich Deutungen bleiben, die auf eine gewisse Plausibiltät dessen bauen, was eindrücklich wird und sich in situativen Bildern zu verstehen gibt. Dieses von keiner phänomenologischen Autopsie situierten Geschehens zu lösende erkenntnistheoretische wie methodologische Problem kündigt sich schon in der kurzen Beschreibung dieses Kapitels darin an, dass im Prozess der verstehenden Wahrnehmung infolge sich suggerierender Evidenz sozialer Sinn immer wieder »untergeschoben« wird, der letztlich hypothetisch bleiben muss. Anders ist aber kein Verstehen möglich. Dieses Vorgehen legitimiert sich mit dem erwartbaren Erfolg aus der Übung der Steigerung von Plausibilität im NachdenkenKönnen über Situationen.

2.3 Der gemischte Markt auf dem Vismarkt Die zweite, sehr ausführliche Beschreibung gibt eine rund vierstündige Beobachtung der höchst wechselhaften Atmosphären eines Wochenmarktes bzw. gemischten Marktes wieder. Dieser Markt wurde nur etwa hundert Meter vom Grote Markt entfernt auf der Fläche des Vismarkt gehalten (früher auch als Vis Marckt bezeichnet, s. auch P2 in Abb. 2.2). Am Tag der Protokollierung der folgenden Mikrologie war das Wetter sonnig, die Temperatur lag am Nachmittag bei rund 20 Grad. Unter diesen Bedingungen entfaltete sich der Markt als ein ästhetisch schillernder Ort. Es war neben der großen und vor 98 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der gemischte Markt auf dem Vismarkt

allem dichten städtischen Lebendigkeit auch die Exotik der angebotenen Waren – vor allem bei den Fischhändlern – und die kulturelle Vielfalt der flanierenden Menschen, die den Markt in einen geradezu spektakulären Erlebnisraum verwandelt haben. Das Prinzip »Stadt« verdichtete sich atmosphärisch auf einer temporären Bühne der Improvisationen. Die Ausführlichkeit der Mikrologie geht auf die Dauer einer knapp vierstündigen Anwesenheit und Beobachtung zurück; die der Interpretation ist darin begründet, dass in diesem ersten Kapitel vieler im weiteren folgenden Markt-Mikrologien die Möglichkeiten der Interpretation eindrücklichen Erlebens im erkenntnistheoretischen Rahmen tendenziell unerschöpflicher Ausdeutungen nachlaufenden Verstehens exemplarisch anschaulich werden sollen. Die Beschreibung wird in ihrem zeitlichen Verlauf zunächst von der Lebendigkeit des üblichen Markttreibens bestimmt, konzentriert sich dann aber zunehmend auf das sich langsam ankündigende, jedoch bald in einer eigenen Performativität durchsetzende Ende des Marktes. Die Mikrologie 14 wird trotz ihrer Länge nicht untergliedert. Wie es im Erleben eines Marktes, der sich allmählich auflöst und schließlich ganz verschwunden ist, keine Gliederung gibt, so soll auch diese Beschreibung die Abfolge und ungebrochene Kontinuität eines Wandels wiedergeben. Vor manchen Ständen stehen die Menschen in zwei Reihen. In den Gängen herrscht dichtes Treiben, wie man es von Märkten bei gutem Wetter kennt. Der zwischen den Standreihen verlaufende Weg ist gerade einmal so breit, dass es im Gedränge trotz aller Enge nicht zu Kollisionen kommt. Es entsteht eine für stark frequentierte Märkte typische Atmosphäre der Dichte und Trägheit der Bewegungen. – Die Gassen sind nicht nur Gehwege, sondern ebenso Räume der Begegnung und der Kommunikation (s. Abb. 2.3). Die kulturelle und bildhafte Buntheit des Treibens verdankt sich nicht zuletzt habituell vielgestaltiger Bewegungsmuster. Die Menschen schlendern, stehen auf der Stelle, wenn sie an einem Stand auf die Bedienung warten; wenige hetzen auch durch die Menge, einige schieben Fahrräder durch die eigentlich viel zu engen Wege oder stellen plötzlich – mitten im zähen Bewegungsstrom der Menschen – ihre Tüten auf den Boden, um etwas hinzuzustecken oder eine Geldbörse herauszunehmen. 14

Tag und Zeit der Protokollierung: 03. 10. 2014, 15:30–19:15 h.

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Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

Abb. 2.3: Markt als Raum des chaotisch Mannigfaltigen

Es scheint einstweilen keine einzelnen, herausragenden Eindrücke zu geben, die das atmosphärische Erleben des »Ganzen« dominieren. In einer überlaufenden Dichte und Verschiedenheit der Dinge, Verkaufsstände, Menschen und Bewegungsrhythmen zeigt sich etwas Chaotisches – ein urbaner Kosmos, der als etwas Ganzes beeindruckt. Dennoch kann er ohne die Beschreibung von Einzelnem kaum erfasst werden. Die schier endlos wirkende Vielzahl und Vielfalt der Einzelheiten bringt dieses schwer aussagbare »Ganze« hervor – als ein sich selbst synchronisierendes Theater. Es drückt sich in einer Gemengelage ungezählter mikrologischer Schauplätze aus. Aber diese halbwegs überschaubaren Segmente lassen sich wiederum nur mühsam aus dem performativen Synchron-Theater des Marktes isolieren. Das Ganze ist eben eindrucksbestimmend, sodass Einzelnes erst in der gerichteten und konzentrierten Aufmerksamkeit aus dem Erlebnis-Fluss des dahinströmenden Geschehens beinahe mühsam »herausgearbeitet« werden muss. Sogar als distanzierter Teilhaber werde ich von der Turbulenz und atmosphärischen Virulenz des Ortes affektiv gefangen. Jeder Versuch der Konzentration der Aufmerksamkeit auf eine Ereignis-Insel gelingt nur bedingt. Stets drängt sich das »ganze« Marktgeschehen in seiner Vielfalt und oszillierenden Lebendigkeit in die Beobachtung eines wie auch immer sich präsentierenden Einzelnen hinein. 100 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der gemischte Markt auf dem Vismarkt

Abb. 2.4: Verkauf von Fischresten

Die bunte Menge der vielen Arten und Sorten von Gemüse, Wurst, Käse, Fisch und Seegetier lässt sich mit einem Blick nicht erfassen. Die Übersicht wird schließlich durch die schnellen Aktionen der sich mehr laut als zurückhaltend artikulierenden wie raumgreifend gestikulierenden Verkäuferinnen und Verkäufer noch einmal verwirrt. Sie rufen Preise in die Menge, reichen Tüten über die Auslagen hinweg, nehmen Geld entgegen und sind dabei gleichzeitig in rege Gespräche verwickelt. Ich gewinne den Eindruck, als würden sich 101 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

die Ereignisse an den Marktständen zu einer Endlosschleife sich immerzu wiederholender und nur geringfügig variierender Abläufe verbinden. Trotz der Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit der Abläufe scheint sich alles in einer Monotonie des Ähnlichen zu verlieren. Das Immer-Gleiche weist aber doch eine gewisse »Rauigkeit« auf, denn die Verständigung über Waren und Preise verläuft nicht immer reibungslos. Die Menschen vor den Ständen geraten in ihrem Warten durcheinander und kommen sich in die Quere – vor allem, wenn sie meinen, endlich an der Reihe zu sein. Dieses Markttheater ist ein kalkulierbares Durcheinander. Am Stand eines Fischhändlers greift eine Afrikanerin entschlossen und selbstbewusst in eine Kiste, in der Reste größerer Fische liegen (s. Abb. 2.4). Es scheinen Kabeljauköpfe zu sein, von denen noch lange Skelettteile mit Fleischresten herabhängen – vielleicht beim Filetieren Übriggebliebenes. Eine Asiatin hebt einen großen Krebs hoch, um ihn von allen Seiten zu prüfen. In fast erlahmten Bewegungen kündet das Tier vom absterbenden Rest seines in einer Marktkiste zu Ende gehenden Lebens. Die Fischverkäufer sind besonders offensiv, lauter als die Käsehändler oder die Frauen, die Süßigkeiten anbieten. Vielleicht ist dieses Selbstbewusstsein Ausdruck einer speziellen Beziehung zu diesen Tieren, die in einer ganz anderen sinnlichen Präsenz gegenwärtig sind als Hühnerkeulen oder Filetstücke, die vom ganzen Tier abgeschnitten worden sind. Vor allem größere Fische, die vom Kopf bis zum Schwanz so lang sind, dass sie beinahe die ganze Tiefe der Auslagen beanspruchen, mögen eine archaische Beziehung zum erlegten Beutetier (zumindest symbolisch) fördern. Der Handel mit großen Fischen und Krebsen hat etwas Exotisches und ästhetisch Faszinierendes (s. Abb. 2.5). Es drängt sich die Frage auf, inwieweit das Geschehen vor und hinter den Verkaufsständen, -wagen oder -zelten auch von der kulturellen Bedeutung der Waren abhängig ist – vor allem im Unterschied zwischen Pflanze und (ganzem) Tier. Warum sollte der Handel mit Lebensmitteln höchst unterschiedlicher Art nicht im Prinzip in ähnlich spezifischer Weise habituell geprägt sein wie der Handel mit anderen sehr unterschiedlichen Dingen – Autos zum einen und Hosen oder Jacken zum anderen? Das Wechselspiel zwischen den Eindrücken des ganzen Marktes und dem, was ich von konkreten Marktstand-Geschichten mitbekomme, setzt die Aufmerksamkeit auf einen Grat. Mitunter beeindrucken Geruchsmischungen, die wie Schwaden scheinbar aus dem Nichts 102 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der gemischte Markt auf dem Vismarkt

Abb. 2.5: Fischverkäufer

kommen und plötzlich wieder verschwunden sind. So evident dieses Erleben ist, so unbestreitbar ist die Verankerung einzelner Gerüche an lokalen »Herden«. Die angebotenen Waren – Obst, Gemüse, Süßigkeiten, Mandeln, Muscheln oder Fisch – »emittieren« ihre je eigenen Geruchswolken da, wo sie sich befinden, mehr und intensiver noch da, wo etwas gebraten, gebacken, frittiert, gegrillt, gekocht oder köchelnd zubereitet wird. Wenn die Gerüche in ihrer besonderen Eindringlichkeit auch von diesen Orten kommen, so sind sie doch auch ein paar Meter weiter weg noch zu vernehmen, wenngleich sie sich dann vermischen und zunehmend »dünner« werden. Am Rande des Marktes – beinahe schon nicht mehr auf dem Platz – steht vor dem Groninger Café De Beurs ein Klavier, halb auf der Straße, halb auf dem Basaltpflaster des Gehweges. Ein junger Mann spielt unauffällig gefällige Melodien vor sich hin (s. Abb. 2.7, Mitte links). Neben ihm steht ein Vogelkäfig, in dem ein bunter Papagei auf einer Stange sitzt. Im öffentlichen Raum und unter freiem Himmel erscheint mir das Instrument zunächst fehl am Platz. Es ist mir vertraut aus Wohnungen, Konzertsälen, Bühnen oder Veranstaltungsräumen, die sich meistens aber nicht im Freien befinden. Nun steht es genau auf der Ecke eines Platzes inmitten eines turbulenten Spektakels – nicht ganz auf der Straße, nicht ganz auf dem Platz. Aber 103 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

Abb. 2.6: Ecke des Marktes (schematisch)

doch befindet es sich unzweifelhaft im öffentlichen Raum, in dem gerade einiges »ist« und passiert, was es üblicherweise dort nicht gibt. Der Vogelkäfig verwirrt die Szene umso mehr, weil man in jedem Moment damit rechnen muss, dass der Papagei beginnt, in die recht leise gespielten Melodien hineinzu-»sprechen«. In dieser ganz besonderen Eck-Situation sind alltäglich vertraute Raumgrenzen verwischt – auch atmosphärische Grenzen lassen sich in dem Durcheinander kaum ausmachen. Allein bestimmend ist an dieser Ecke ein chaotisches Vielerlei, das sich in einer immens lebendigen, vielstimmigen Vitalität präsentiert. Das Ganze erlebe ich als etwas »Authentisches«, vielleicht weil das Spektakel den Eindruck einer spontanen Inszenierung macht. Der situative Raum der Ecke stellt sich als ein Milieu mehrfacher Übergänge dar – nicht mehr Innenraum des Cafés, aber doch zum Café gehörig, nicht mehr Straße, aber doch zu ihr gehörig, nicht mehr Marktplatz, aber doch mitten in seinem Geschehen, nichts Typisches für einen Markt, aber doch eine Zuspitzung seiner Atmosphäre (s. auch Abb. 2.6). Die Ecke bedeutet eine Situation des Übergangs und sie gibt diesen atmosphärisch zu spüren. Es gehört zum Wesen von Ecken, dass sich an ihnen unterschiedliche Richtungen gabeln. An Ecken verliert sich manches ins Diffuse. Diese Ecke ist ein hybrider Ort des Vielen, das nicht zusammenpassen will. Sie ist ein changierender Ort, der sich atmosphärisch in seinem collagenartigen Charak104 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.7: Café de Beurs mit Klavierspieler im Hintergrund

105 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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ter in die plurale Eindruckslandschaft des Marktes einfädelt. Das merkwürdige Geschehen an dieser Ecke erscheint wie die gelebte Laborsituation eines urbanistischen Experiments – als ein kulturelles Spiel, in dem es um die Auslotung von Möglichkeiten der Erweiterung der kulturellen Vielfalt des Städtischen zu gehen scheint. Vor dem Café De Beurs sitzen, die Ecke gleichsam flankierend, mit direktem Blick auf das Marktgeschehen und in geringem Abstand zu den Fischhändlern und Fischbrätereien, Junge und Alte, Pärchen und Einzelne, Bürgerliche und »Andere«, um Kaffee oder ein Glas Wasser zu trinken (s. auch Abb. 2.7 sowie 2.20, S. 165). Oder sie sitzen einfach nur vor einem leergegessenen Kuchenteller und schauen in das Markttreiben. Gleich neben einem Fischwagen stehen aufgeklappte Partybänke, auf denen Leute mit Plastikgabeln frisch frittierten Fisch aus PVC-Schalen picken. Es ist ein improvisierter Ort für den schnellen Genuss von Nicht-Alltäglichem inmitten eines gedrängten Getümmels. Der Marktpatz wird von einer umlaufenden Straße gesäumt. Mit kleinen Geschäften und Lokalen ist auch diese – gleichsam hinter dem Marktgeschehen – eine lebendige städtische Zone. Auch in diesem etwas ruhigeren Nischenraum am Rande des Marktgeschehens präsentieren sich die Menschen im öffentlichen Raum: selbstbewusste Individuen aus der Mitte der Gesellschaft, Schwule, Transvestiten und junge Leute, die sich in auffälligem »Outfit« zeigen (s. auch Abb. 2.8). Andere sitzen einfach nur da und sehen vor sich hin. Am Rande des Marktes wecken die mitunter schnell wechselnden exotischen Szenen aber nur eine laue Aufmerksamkeit. Trotzdem fügt sich alles ins bunte Spiel des Platzes ein – als könne dieser alles nur Erdenkliche im Sinne einer Bereicherung in sich aufnehmen. Mit geradezu demonstrativer Gelassenheit wird der performative »Auftritt« vorüberflanierender Damen von anderen ignoriert, die in eigener ostentativer Extravaganz und extrovertierten Gesten ihrerseits Aufmerksamkeit beanspruchen. Die sprichwörtliche Toleranz der Niederländer beeindruckt durch ausgeprägte Unaufgeregtheit. Der Markt ist ein Raum der Implosion der Augenblicke. Noch das Absurdeste wird in seinem Überraschungscharakter in gewisser Weise vorhersehbar. So erscheint der Markt wie ein merkwürdig nicht-menschliches, aber dennoch lebendiges Wesen, das sich in einer schier endlos wirkenden Kette von Augenblicks-Ekstasen, kurzwelligen Oszillogrammen, plötzlichen Geschehnissen und theatralischen Schauplätzen zeigt, die sprunghaft wie aus einem Nichts emporschie106 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.8: Urbaner Backstage-Raum

ßen. In einer unauflöslichen Verkettung von allem Möglichen vermischen sich die Bewegungsmuster und Lebensäußerungen. Und immer fällt eine Synchronisierung des Ungleichen auf – zum Beispiel in den habituellen Arten und Weisen, wie die Menschen am Treiben auf dem Platz teilhaben: manche angespannt und eilig, andere langsam und anscheinend ziellos, wieder andere gelangweilt, selbstvergessen oder so intensiv in ein Gespräch verwickelt, dass sie gar nicht bemerken, wie sie anderen im Wege stehen. Schließlich gibt es die »Schaulustigen«, die in einer auf merkwürdige Weise spürbaren Dis107 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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tanziertheit nicht auf dem Markt sind, um etwas einzukaufen, sondern weil sie ihn als eine Art »Reality-Theater« erleben wollen. Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks wird der Vismarkt von einem wechselhaft rhythmisierten Treiben belebt. Der Platz selbst hat sich – als topographischer »Grund und Boden« – ganz unter dem aktuellen Markt-Spektakel zurückgezogen. Auf ihm scheint alles mobil zu sein. In seiner turbulenten »Bespielung« ist es beinahe unvorstellbar, dass es (lange) Zeiten gibt, in denen auf dem Vismarkt gar nichts ist und nichts passiert. Das aktuelle Bild performativer Dichte bietet keinen assoziativen Spielraum für die Vorstellung völliger Leere. Mit fortschreitender Zeit (es ist 18 Uhr, und das heißt: eine Stunde vor Schluss des Marktes) werden einige Gemüsehändler lauter. Ich wundere mich über die mächtige Resonanz dieser raumgreifenden Stimmen, die sich in Dialogfetzen vom hintergründigen Chaos verrauchender Klänge, Töne und Geräusche abheben. Die stimmlichen Gesten greifen beinahe schon taktil in den atmosphärischen Raum ein. In einer ersten, geradezu zaghaften Demontage bahnt sich, noch kaum bemerkbar, ein Beginn des Markt-Endes an: Der Betreiber eines gelben Kaffee-Wagens räumt seine Abfälle zusammen, presst sie in große graue Plastiktüten und verstaut sie vor und auf dem Beifahrersitz seiner Piaggio Ape, einem dreirädrigen Motorroller-Gefährt mit einem Kastenaufbau (s. Abb. 2.9). Graubraunes Abwasser rinnt aus der Kaffeemaschine hinter einem Fleischwagen in den Gully. Das Klappern und Scheppern von Gerätschaften sowie das gluckernde Ablaufen flüssiger Rückstände geht (weniger akustisch als atmosphärisch) in der Situation des fortgesetzten Markttreibens unter. (Die auf dem Markt herumlaufenden Menschen nehmen keine Notiz von diesem eigentlich nicht zur lebendigen Marktszene passenden Abbau.) Das Vordach des Fahrzeugs wird heruntergeklappt. Damit ist das »erste Ende« einer Marktpräsenz besiegelt. Aus einer Klappe in der Rückwand des Gefährts hängt noch ein Bund von Elektrokabeln heraus, sonst ist alles verstaut. Bereits einige Minuten später ist der Stellplatz geräumt und eine erste, wenn auch einstweilen kleine Lücke klafft. Trotz aller Sichtbarkeit und Hörbarkeit des Rückzuges (der Abbau des Wagens ging keineswegs geräuschlos vor sich) stört das Manöver den weiterhin turbulenten Rhythmus des Marktes nicht. Es kommt kein Zweifel an dessen Weitergehen auf. Vorläufig hat sich das Ende des großen Spektakels auf einen Einzelfall begrenzt, auf den Abbau und die Wegfahrt eines 108 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.9: Abbau eines Kaffee-Wagens

schrill-gelben Kabinenrollers. Den beinahe unübersichtlichen sozialen Kosmos des Marktgeschehens hat das kaum berührt. Die bunten Reihen der Wagen und mit Planen überspannten Stände haben auch ihre Hinterseiten. Diese liegen zum einen zwischen den Reihen; zum anderen bilden sie eine rückwärtige Zone, die man im Vorübergehen sieht, ohne wirklich hinsehen zu wollen. Eine liegt an der den Vismarkt säumenden Straße. Es ist ein langgestreckter, gleichsam linearer Unort, der beinahe den ganzen Markt umschließt – eine ästhetische Kehr(icht)seite. Während der Zeit des Marktes schichten sich hier alle betriebsbedingten Abfälle auf: überflüssige Kartons, nutzlos gewordenes Verpackungsmaterial, entleerte Kanister, verschmierte Gemüsereste und »unschöne« Früchte, die das gute Ansehen der Waren auf den Schauseiten der Stände nur stören würden. Am Rande dieser Straße sitzen ein paar anscheinend afrikanischstämmige Männer auf und neben einer öffentlichen metallenen Sitzbank (s. Abb. 2.10); sie sprechen miteinander und beobachten das Geschehen mit beiläufiger Aufmerksamkeit. Auf hohen Hockern haben sich einige Frauen vor den Tischen eines Cafés platziert – in einem stil- wie selbstbewussten Habitus. Sie nutzen den ästhetischen Kontrast als Bühne der Selbstinszenierung. In dieser schmalen Zone der 109 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.10: Hinter einer seitlichen Standreihe

abrupten Übergänge werden wiederum eigene Rhythmen städtischer Lebendigkeit gelebt. Die kleinen Cafés und Restaurants, die kulinarische Besonderheiten anbieten, werden weder vom herumliegenden Müll und Abfall beeinträchtigt noch von den keineswegs leisen Transport-Aktivitäten hinter den Ständen. Es hat eher den Anschein, dass das scheinbar Störende die besondere Atmosphäre dieses Ortes, der ja im engeren Sinne nicht mehr zum Markt gehört, geradezu bereichert. Vielleicht ist es der atmosphärische Kontrast zu einer infra-gewöhnlichen Welt, der diesen rückseitigen Schattenraum als Milieu des distinktiven Genusses von Wein und Sekt erst adelt. In diesem Lichte strahlen die kleinen Lokale hinter den Ständen als ästhetische Bühnen der Selbstpräsentation sogar eine unbestreitbare Attraktivität aus. Es dürften nicht nur die eigenen Gefühle der Dasitzenden sein, die das Grenzmilieu so faszinierend machen, sondern auch die kalkulierten, erhofften, erwünschten, vielleicht aber auch ausbleibenden Blicke derer, die vorbeigehen. Trotz des noch regen Markttreibens fahren die ersten Lieferwagen von hinten über die platzsäumende Straße an die Stände heran und laden nicht mehr benötigte Kisten und überzählige Waren ein. Die Aktivitäten stimmen die Geräuschkulisse: Kisten, Container, Kartons und Eimer schlagen hinter den Wagen laut hörbar aufs Pflaster. 110 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Die einsetzenden Demontagen bringen sich eher lautlich als visuell zur Geltung. Während vorne der Handel ungebrochen weitergeht, beginnt hinter den Ständen der Rückzug. Der Markt zerfällt in zwei heterochrone Zonen: Vorne setzt sich die Zeit des Marktes fort, hinten bahnt sich sein Ende an. Es sind aber nicht nur Abbau-Arbeiten und logistische Umtriebe, die vom bevorstehenden Ende künden. Ein mit der Situation des vitalen Marktes brechender Zeittakt zeigt sich auch in Nebengeschäften, die die Händler am Rande abwickeln. Ein Fischverkäufer gibt eine Tüte Seegetier offensichtlich verbilligt (oder ganz umsonst?) an eine Afrikanerin ab. Sobald das eine oder andere verschenkt wird, scheint der ökonomische Rahmen eines jeden Marktes brüchig geworden zu sein. Der Markt geht langsam, aber kontinuierlich in einen Prozess seiner Auflösung über. Der Wandel vollzieht sich an vielen Orten in ähnlicher Weise. Dabei laufen die Geschäfte weiter. Aber die Situation des Abbaus, Aufräumens und Verladens gerät nun zunehmend in ein atmosphärisches Spannungsverhältnis zum (noch) vitalen Handel. Das Ab- und Wegräumen verstetigt sich und gewinnt eine atmosphärisch immer größer werdende Eindrucksmacht. Vor allem die Geräusche werden nun so eindringlich, dass die Aktivitäten des Abbaus die des Handels zu übertönen beginnen. Männer pfeifen beim Zusammenstellen der Reste und Abräumen von Platten, Planen und Kisten so laut, als wollten sie sich Mut machen, den Handel für heute endlich zu einem Ende zu bringen. Leere Behälter werfen sie laut rutschend und scharrend übers Pflaster; sie rufen sich gegenseitig etwas zu und übertönen allmählich die eigentlichen Marktgeräusche. Eine spürbare Konkurrenz der Atmosphären wird spürbar. Es wird immer lauter. Alle nur erdenklichen Geräusche gehen in der beherrschenden Kulisse des sich auflösenden Marktes durcheinander. Quietschende, polternde, rauschende, selbst donnernde Geräusche springen lautlich hervor. Die Vielfalt des Tönens, Dröhnens und Hämmerns nimmt stets neue lautliche Gestalt an: Behälter schlagen laut auf, Metallplatten werden lärmend herumgeschoben, Bretter scharren über das Pflaster, aus den Verkaufsständen herausgezogene Schubfächer fallen klackend auf die Ladeflächen von Anhängern und Lastern, feuchte, halb zerrissene Kartons schleifen hörbar schmierend über den Boden, Schalen und Schüsseln werden auf die Ladeflächen von kleinen Tiefladern geworfen, Eisblöcke zerschellen prasselnd auf dem Pflaster in Tausend Stücke (s. Abb. 2.11). Die Geräuschkulisse wird durch das Tuckern der Lieferwagen-, Laster- und Kombimoto111 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.11: Reinigungsarbeiten am Stand eines Fischhändlers

ren, die angelassen und wieder abgestellt werden, noch einmal bereichert. Die Situation des allein auf mikrologischen Inseln halb-vital noch vor sich hin flackernden Marktes tritt immer mehr hinter die kontinuierlich mächtiger werdenden Eindrücke seines Fahrt aufnehmenden Verschwindens zurück. Zum Markt gehört sein Ende, das in der vitalen Mitte seiner Dynamik beginnt. Die Lücken zwischen den Ständen werden zahlreicher und größer (s. Abb. 2.12a und b). Immer mehr Verkaufsstellen werden in ihre Einzelteile zerlegt. Der Ort wird von anderen Rhythmen bestimmt als denen eines lebendigen Handels. Die Dinge, die am Morgen aus Containern und Behältern herausgeholt wurden, verschwinden in denselben oder anderen Kisten und mit ihnen schließlich auf den Ladeflächen von Nutzfahrzeugen. Im Umgang mit leeren Transportboxen, in denen die Waren antransportiert wurden, müssen die Arbeiter nun keine Rücksicht auf Empfindlichkeiten mehr nehmen. So fliegen die Kisten und Kästen, die Container und Fässer, die Kartons und Kanister lärmend in die Wagen, als käme es auf Minuten an. Der Umgang mit den Dingen gibt zu spüren, was sie nun nur noch sind: wertloses, ehemals zweckdienliches Zeug, das mit dem sich auflösenden Markt zunächst seinen Sinn verloren hat. Nach dem Abräumen der Stände kommt die Fläche des Platzes 112 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.12a/b: Abzug der Händler

113 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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allmählich wieder zum Vorschein. Der Platz des Marktes kommt »unter« der transitorischen Virulenz dieses sich selbst auflösenden Theaters ans Licht. In die entstehenden Freiräume werfen die Händler Abfälle und wertlose Reste. An den Fahrzeugen beginnt die Verstauung metallener Regalböden und aller möglichen Einzelteile. Tische und Edelstahlbecken werden mit schäumenden Reinigungsmitteln gescheuert und für die Verladung vorbereitet. Die Appetit anregenden Düfte von Gewürzen, Gebratenem und Geröstetem sind verweht. Nun breiten sich beißende und ätzende Ausdünstungen chemischer Reinigungs- und Desinfektionsmittel aus. Merkwürdig riechende Flüssigkeiten in synthetisch wirkenden Farben fließen durch den Rinnstein. Die Gestänke vermehren und vermischen sich in einer Atmosphäre der Zersetzung und Auflösung. Je mehr Wagen wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheinen, desto unüberhörbarer fällt ein anderes Leben gleichsam »aus dem Himmel«. Man muss nicht erst hin-sehen, um die Ausbreitung einer fast archaischen Atmosphäre zu bemerken. Das Neue, das plötzlich da ist, ist nicht zu überhören. Während der lebendige Marktbetrieb von Dohlen und Tauben eher unauffällig begleitet wurde, machen sich in der Phase seiner Demontage große Silbermöwen in lautem Geschrei breit. Eine zweite Wirklichkeit fällt in der Schlussphase des Marktes im wahrsten Sinne des Wortes »aus dem Himmel«. Zahlreich lassen sie sich nieder, wo die Händler ihre Abfälle hingeworfen haben. Sie eignen sich alles an, was nur noch im entferntesten an ein Stück Obst, Gemüse oder einen Rest vom Fisch erinnert. Ihre nicht zu überhörende, aber auch im Bild wilder Bewegungsbahnen eindrucksmächtige Präsenz kündigt den Beginn einer weiteren Phase im Abbau des Marktes an: eine kurze Zeit der Konzentration aller Abfälle und Reste, aber auch der dispersen Verteilung von kleinteiligem Gammel auf dem immer lichter werdenden Platz. Die hellbraunen jungen und weißen ausgewachsenen Vögel stürzen sich auf alles halbwegs Schluckbare. Im Streit um ein zertretenes belegtes Brötchen werden Tauben und Dohlen, die sich den Möwen nähern, vertrieben. In der Zeit der größten Konkurrenz unter den tierischen Resteverwertern sind sie jetzt in der Position der Stärkeren. Dohlen und Tauben müssen sich dahin zurückziehen, wo die Möwen keine Präsenz zeigen. So bleibt ihnen allein noch das Kleinste unter dem Kleinen: Körner, Brotreste, Überbleibsel von Teigfladen und ähnliches. Die Möwen haben in einem nahrungswirtschaftlichen Schattenraum der modernen Zivilisation die Herrschaft über die Verteilung substanzieller Fress-Res114 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.13: Einfall der Möwen

sourcen übernommen. Nur da, wo sie keine Vorrechte geltend machen, setzen auch andere Vögel zur Landung an. Die Allgegenwart der Möwen rundet das atmosphärische Bild der Situation des zu Ende gehenden Marktes hörbar und sichtbar ab (s. Abb. 2.13). In einem schreienden Herumgereiße wird alles zum Streitobjekt, was für Möwenmägen verdaulich ist: Zerdrücktes, Zertretenes, schlecht Riechendes, An- und Durchgefaultes – nicht selten werden selbst unverdauliche Dinge wie verschmierte Pappdeckel oder zerbeulte Plastikbecher zumindest einmal gewendet, bevor sie als finaler Müll liegen bleiben. Der Markt scheint vorbei zu sein, obwohl er noch nicht ganz abgebaut ist. Und so dürfte an den wenigen Ständen, an denen immer noch letzte Waren zu verbilligten Preisen zu haben sind, kaum noch ein halbwegs gutes Geschäft zu machen sein. Im Milieu des Verfalls und der Abfälle breiten sich Atmosphären aus, die dem Erwerb von frischen Lebensmitteln eher entgegenstehen – für manchen erst recht ein Grund den Raum zu durchstreifen (s. Abb. 2.14). An der Ecke des weitgehend abgeräumten Marktes, erklingt beim Café de Beurs neben der klassizistischen Getreidebörse immer noch (oder wieder?) das Klavier – als sollten die musikalischen Klänge dem Geschrei der Möwen eine kulturell beharrende Geste entgegen115 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.14: Der sich leerende Markt als Bühne

116 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.15: Jazz in der Endzeit des Marktes

setzen und die sich ausbreitende Landschaft des Morbiden, des Verfalls und des Moders vergessen machen. Am Klavier sitzt jetzt eine junge Japanerin; ein Mann begleitet sie am Bass (s. Abb. 2.15). In professioneller Sicherheit und routinierter Schnelligkeit wirken die Jazzimprovisationen in die doppelt spürbare Kühle des Platzes gleichsam hinein. Das Spiel übt in dieser bizarren Situation eine an Ort und Stelle geradezu festhaltende Faszination auf mich aus. Neben dem Duo steht immer noch der Vogelkäfig. Der Papagei sitzt auf seiner Stange und schlägt mit seinem kräftigen Schnabel gegen eine goldene Glocke. Die musikalischen Klänge haben sich der Situation des dämmernden Abends und dahingehenden Marktes angepasst. Folgte das ganz andere Spiel zur Zeit des regen Markttreibens noch dem harmonischen Programm atmosphärischer Leichtigkeit, so ist vor der Kulisse herumliegender Abfälle und größer werdender Müllhaufen kein süßlicher Klang der Versöhnung mehr zu hören. Die Ecke vor dem Café hat sich aus ihrem am Nachmittag noch spürbaren – wenn auch gebrochenen – räumlichen Verbund mit dem Markt nun gelöst. Zwar 117 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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steht das Klavier noch immer an derselben Stelle im tatsächlichen Raum, aber der atmosphärische Ort hat sich gehäutet – rundherum ist es leer und beinahe öde geworden. Das Publikum ist auch verschwunden. Aufgelöst hat sich die Situation, in der sich zwei kommunizierende Atmosphären – eine der oszillierenden Lebendigkeit des Marktes und eine der schwingenden Musik-Rhythmen – trotz aller ästhetischen Spannungen letztlich auf stimmige Weise berührt, überkreuzt, überlagert und bereichert hatten. Mit dem sukzessive vorschreitenden Wegzug der Händler hat sich auch der »atmosphärische Wind« an dieser Ecke gedreht. Die Ästhetik, in der die Atmosphären des Urbanen vor zwei Stunden noch regelrecht eutrophierten, ist dahin. Zum Platz gehören nun die changierenden Atmosphären einer fast dystopisch wirkenden Transformation, die sich auch an anderen Stellen in Gesichtern des Ungleichzeitigen zeigen. In die Stimmung der sich langsam über dem Platz absenkenden fahlen Dämmerung des frühen Abends sowie durch die merklich fallenden Temperaturen haben sich die musikalischen Motive eingefühlt. So korrespondieren die arhythmischen und oft wie zerrissen wirkenden Improvisationen mit der Atmosphäre eines Platzes, der sich in einem spürbaren Umbruch befindet. Mit diesem Spiel beginnt etwas Neues. Die a-symmetrischen Klangfiguren kommentieren in einer höchst vitalen Geste die »große Demontage« und die herumliegenden und ausdünstenden Reste. Bizarre Jazz-Rhythmen geben dem Dahinsterben einer Situation in musikalischen Klangfolgen auf ästhetisch packende Weise ein hörbar morbides »Gesicht«. Aber die wenig »gefällige« Musik opponiert im weichen abendlichen Licht auch gegen die Verstetigung einer Atmosphäre des Morbiden, die vom Bild und Geruch faulenden Moders aufsteigt. In der lautlichen Welt fortwährenden Krachens und Polterns, Anlassens von Motoren, Zuschlagens von Autotüren und Wegfahrens kleiner und großer Gespanne entsteht ein ästhetischer Dialog – in einem Milieu sich aneinander reibender Atmosphären. Die Jazzimprovisationen sind eine klanglich-vitale Resonanz auf die Situation des verschwindenden Marktes. Die so heterogenen Atmosphären, die aktuell nebeneinander liegen, konkurrieren aber nicht miteinander. Sie bilden vielmehr eine herb-bittere Synthese, die ihre Spannung einer melancholischen Präsenz des Unpassenden verdankt. Trotzdem haben die Klänge eine ästhetische Eigenständigkeit, die sich immer wieder als etwas Unabhän118 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.16: Eine Restesammlerin

giges von der Atmosphäre des Sowohl-als-Auch trennt. Die Farbe der Lebendigkeit dieser aktuellen Situation ist nicht harmonisch, sondern »schräg«. Sie ist im Übrigen weit entfernt von werbeartigen Glamour-Bildern, in denen die Stadt ganz in hyperästhetisierten Schauseiten aufgeht. Hintergründig und beiläufig zeigt sie sich in einem Gesicht, das wir allzu oft übersehen, wenn wir – Zielen und Zwecken folgend – durch die urbane Welt der Institutionen eilen wie durch eine abstrakte trajektologische Sphäre. Das, was gerade ist, weckt die Aufmerksamkeit in einem auf- und nachspürenden Sinne nur selten. Der schnelle Rhythmus des Alltags erzeugt einen Sog der Beschleunigung, dem folgend wir das schöne Neue suchen und das verfallende Alte fliehen. Zwischenzeitlich haben sich auf dem Platz Berge von Abfällen aller Art aufgetürmt. In ihnen liegt über- und durcheinander, was vom großen Markt übrig geblieben ist und den Händlern des Mitnehmens nicht wert schien. Neben den alles verzehrenden Vögeln streben von den Rändern des Platzes nun andere Reste-Sammler zu den riesigen Müllhaufen: junge, ältere und alte Menschen, Männer und Frauen. Es ist bemerkenswert, dass nicht in erster Linie (anscheinend) Arme und Obdachlose kommen, um zu nehmen, was für den Müll zu schade ist. Es müssen andere Gründe als solche materieller 119 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.17: Müllberge (Kornbörse im Hintergrund)

Not sein, die die meist ganz bürgerlich aussehenden Menschen aus der Mitte der Stadtgesellschaft dazu bringen, noch gut Verwertbares einzusammeln. Eine gepflegt erscheinende, vielleicht siebzehn- oder achtzehnjährige junge Frau streicht mit ihrem Rucksack und einem großen Skateboard suchend um die Müllberge herum. Hier und da nimmt sie eine Frucht aus den weggeworfenen Kartons oder Kisten und steckt sie in eine Tüte (s. Abb. 2.16). Die Restesammler aus dem sozialen Raum der Stadt sind die letzten dem beinahe schon verschwundenen Markt »nachlaufenden« Kunden, die absichtlich spät, aber nicht zu spät kommen. Sie bewegen sich außerhalb einer offiziellen Kultur, agieren mit einer ultimativen Vernunft und doch wie Wölfe im Schatten einer Ökonomie, die jenseits des Verkäuflichen keine Reste kennt. Für die Option »wilder« Zugriffe aufs Zurückgelassene öffnet sich zwischen dem Abzug der letzten Händler und dem Eintreffen der ersten städtischen Reinigungsfahrzeuge nur ein kleines Zeitfenster. Aber auch diese urbanen Sammler lassen absolut Ungenießbares in Gestalt eines dispersen Films zahlloser Abfälle auf dem Pflaster zurück. Eine Omnipräsenz der Reste bestimmt nun das Bild wie den Geruch des Platzes (s. Abb. 2.17). An seinen Rändern haben die ersten (kleineren) Reinigungsfahr120 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.18: Städtische Reinigungsfahrzeuge

zeuge mit ihren rotierenden Besen angefangen, die Abfälle an wenigen Orten zu konzentrieren. Kleinere Verunreinigungen fegen sie zusammen, um sie dann in einen Mülltank zu saugen. Systematisch fahren sie eine Bahn nach der anderen und tilgen in kurzer Zeit die Abfall-Spuren eines großen Marktes. Immer noch stehen allerletzte Marktwagen herum, die den Platz aber nun verlassen – ein Personenwagen mit Anhänger, ein Kombi und ein Sattelschlepper, der einen gelben, großen, mehrachsigen Käseverkaufswagen wegzieht. Der Markt ist jetzt verschwunden und der Platz wird in seiner leeren Größe wieder sichtbar. An die Stelle der Lebendigkeit seines abgerissenen Lebens tritt ein anderes – das eines schnellen Auf und Ab von Reinigungsfahrzeugen, zu denen abermals eigene Geräusch- und Bewegungsbilder gehören. Schließlich kommen die roten, großen, schweren Müllwagen (s. Abb. 2.18). Männer in orange-gelben Overalls räumen die Berge abgelegter Reste blitzschnell und rückstandslos in die aufgeklappten und in den Raum ragenden Kippen der beim Rückwärtsfahren permanent fiependen Speziallaster. In einem Cocktail aus Kompostierbarem und Restmüll kommen nun Äpfel, Orangen, Fischköpfe, Feigen, aufgeweichte Kartonreste, Holzpaletten und geborstene Kanister auf aberwitzige Weise zusammen. Alles wird zu einer amorphen 121 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 2.19: Abschließende Wässerung des Pflasters

Masse zusammengepresst. Der Markt ist weg. Allein letzte Spuren müssen noch »restlos« beseitigt werden. Dies geht so schnell, dass in den umliegenden Gassen schon die nächsten Wagen einer anderen Veranstaltung darauf warten könnten im Rahmen eines neunen und ganz anderen Marktzyklus Platz zu nehmen. Zum Abschluss – wie man am Ende eines rauschenden Gelages den Tisch mit einem Tuch abwischt – fährt ein Tankwagen auf und spritzt Wasser mit Hochdruck hörbar über das Pflaster (s. Abb. 2.19). Eine letzte Fahrt mit rollenden Besen gibt dem Platz wieder jenes Gesicht, das er am frühen Morgen hatte – bevor der Markt begann. Um 19 Uhr ist der Vismarkt wieder ein Platz und nicht mehr. An seinen Rändern kündigen sich allmählich die ersten Zeichen vorabendlich urbanen Lebens an: Menschen gehen die Straßen entlang oder überqueren den freien Platz und verschwinden auf der anderen Seite in einer Gasse. Der Platz ist wieder ein Raum der Optionen.

Der Ertrag der phänomenologischen Methode der Mikrologien zeigt sich in der dichten Beschreibung eines gemischten Marktes beispielhaft. Sie widmet sich der Vielfalt und Lebendigkeit des Infra-Gewöhnlichen in einer alltäglichen Situation. Dabei fördert sie zu Tage, was sich der alltäglichen Wahrnehmung entzieht. Dies schon deshalb, weil im Allgemeinen niemand, der einen Markt besucht, in erster 122 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Linie diesem (wenn überhaupt) seine Aufmerksamkeit widmet, sondern dem Kauf von Gemüse, Kartoffeln oder was auch immer. Schließlich entzieht sich die schnelle und dichte Verkettung von Eindrücken (in situativen Momenten oder in einem Hier und einem Dort) schon deshalb der Erinnerung und damit der Möglichkeit nachhaltigen Bedenkens, weil sich das Viele und Banale im Infra-Gewöhnlichen nur brüchig und flüchtig mit lebensweltlichen Bedeutungen verbindet. Die Mikrologie öffnet genaugenommen nicht den Markt der Reflexion, sondern sein teilhabendes Erleben. Indem aber beides nicht zu trennen ist, vertiefen sich die Beschreibungen wie die phänomenologischen Ausdeutungen zum einen ins Verstehen dessen, was (auf der Objektseite der Situation) erscheint, und zum anderen in die Art und Weise des vom Mit-Sein (auf der Subjektseite der Situation) ausgehenden affektiven Erlebens. Auch die Atmosphären des Marktes gibt es auf einer Objektseite und einer Subjektseite. Herumwirkliche Vitalqualitäten sind im sozialen Raum der Kommunikation zugänglich; sie müssen aber von den davon ausgehenden Stimmungen unterschieden werden, die ein Individuum affektiv tangieren. Die obige Mikrologie verdankt sich wie alle anderen in diesem Band der Methode genauen Selbst-Hinsehens und -Hinspürens. Darin legt sie (im Sinne der Autopsie) frei, was dem Nachdenken eines sich in wechselnden Situationen darstellenden Ortes überhaupt erst einen hinreichend differenzierten Anhalt bietet. Die vorstehende Beschreibung »definiert« nicht, was ein Markt »ist«; sie gibt zu verstehen, wie sich sein in Raum und Zeit wechselndes Erleben zur Geltung bringt. Damit bahnt sie eine doppelte Reflexion an – (a) des Wirklichen eines Geschehens im tatsächlichen Raum und (b) der Erlebnisweise dieser Wirklichkeit. Der hohe Grad der Präzisierung verdankt sich dem phänomenologischen Verfahren der Explikation atmosphärischen Erlebens in situ. In keiner zeitlich gleichsam nachlaufenden (erinnernd-rekonstruierenden) Erfassung wäre dieser Detaillierungsgrad erreichbar – weder im Hinblick auf Situationen auf der Objektseite noch solche auf der Subjektseite. Der umfangsbedingt große Maßstab der Mikrologie zwingt im Folgenden zu einer beispielhaften Begrenzung der interpretierenden Ausleuchtungen situativen Markterlebens. Dennoch erscheint die Diskussion der folgenden 16 Aspekte angesichts der Vielfalt des Materials unverzichtbar.

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2.3.1 Lebendige Bewegungsräume Die Bewegung gehört – nicht nur in der Wahrnehmung von Mensch und Tier – zu den ersten Eindrücken, die uns ein Bild der Dynamik dessen vermitteln, was in einer Gegend geschieht und wie sie atmosphärisch gestimmt ist. Bewegungsprofile zeigen den Grad der Lebendigkeit eines Feldes an. Dabei sind es im Falle eines Raumes, der durch eine Situation gleichsam umklammert wird (wie das bei einem Markt der Fall ist), nicht nur die Bewegungen einzelner Individuen, sondern mehr noch die ein ganzes räumliches Milieus gestaltenden Bewegungsfiguren. So ist in der Mikrologie auch von einem Treiben auf dem Markt die Rede, das sich in Gestalt von Bewegungsverläufen darstellte. Die Art und Weise, in der sich Menschen bewegen, spiegelt zumindest etwas von ihrem aktuellen Befinden in einer Situation wider. So gaben sich die Menschen auf dem Markt in ihren Bewegungen in anderer Weise zu verstehen, als die es tun, die zum Beispiel von ihrer Wohnung zu ihrer Arbeitsstätte gehen. Nur scheinbar weichen die einen wie die anderen Formen des Gehens aber allein im Tempo der (allokativen) Fortbewegung voneinander ab. In Bewegungs-Rhythmen drücken sich vielmehr Haltungen zum eigenen (situierten) Selbst aus. Im Bewegungsraum »Markt« gibt sich über individuelle wie gemeinsame habituelle Bewegungsfiguren zu erkennen, in welcher Weise die Menschen an einer Situation teilhaben. Das sich in oszillierenden Bildern darstellende »Treiben« eines Marktes verdankt sich keiner homogenen Gestalt. Plurale soziale Situationen implizieren auch plurale Bewegungsmuster der zu ihnen gehörenden Menschen. Die Vielfalt einer markttypischen Lebendigkeit drückt sich in einem Rauschen aus, in dem Eigenartiges und Ähnliches in einem heterogenen Bild verlaufen. So weist auch diese Mikrologie darauf hin, dass sich die Menschen unterschiedlich fortbewegen, wenn sie so oder so stehen, sich in bestimmter Weise langsam oder eher schnell bewegen usw. Die Vielfalt der Bewegungsmuster hebt sich als Ganzes indes von anderen strukturell ähnlichen Rahmensituationen ab, wie man sie zum Beispiel aus einem Supermarkt kennt. Das liegt auch daran, dass dieser eine andere Vitalqualität hat als ein unter freiem Himmel stattfindender Markt. Der Selbstbedienungsladen ist – auch wenn er über ein ähnliches Angebotsspektrum verfügt wie ein gemischter Markt – ein Ort des schnellen, günstigen und effizienten Erwerbs von Lebensmitteln, eine sich im Alltag be124 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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währende Welt, die den »Rationalisten« in jedem Menschen anspricht. Ein Markt ist anders; er rechnet mit der Einstimmung der Menschen in seinen qualitativ langsameren Takt der Abläufe, aber auch mit der Bereitschaft zur Teilhabe an einem Bewegungsfluss, der nicht nach Effizienz getaktet ist, in dem es vielmehr unerwartete Begegnungen und andere Überraschungen geben kann. Auf einem Markt bewegen sich aber auch die in ihrem eigenen Rhythmus, die keinem kontemplativen Programm folgen wollen, die schnell einen Fisch kaufen oder die einfach nur den Platz des Marktes überqueren wollen. Die Beschreibung ist voller Hinweise auf diese so unterschiedlichen Daseins-Weisen. Wie sich die Menschen bewegen, ist in aller Regel nur Spiegel bestimmter meist aktueller Beziehungen, die sie zu etwas einnehmen. Wer etwas ganz Bestimmtes an diesem und nicht einem x-beliebigen Stand kaufen will, um den Markt sodann möglichst schnell wieder verlassen zu können, geht entschlossenen Schrittes zu einem angestrebten Ziel (durch den Raum). Wer dagegen nichts Bestimmtes sucht, sich vielleicht auf erwartungsoffenes Finden eingestellt hat, sich von der Vielfalt und Buntheit der Marktatmosphäre tragen lassen will und schauend dahinschlendert, bewegt sich schon deshalb anders, weil er keinem Programm der Suche unterworfen ist. Aus dieser Haltung resultiert Bewegung, die nicht begrenzt und wenig gerichtet ist. 15 Nicht-begrenzte Bewegungen nennt Straus »präsentische« Bewegungen. »Die präsentische, nicht gerichtete und nicht begrenzte Bewegung […] kennt nur ein An- und Abschwellen, eine Steigerung und ein Verebben. Sie führt keine Veränderung herbei, ist kein historischer Prozeß.« 16 In ihr kommt nicht zuletzt ein anderes Verhältnis zu Raum und Zeit zur Geltung als im Fluss zielgerichteter Bewegungen. In diesem Sinne präsentisch sind auch die ostentativen sozialen Choreographien an den gastronomischen Randzonen des Marktes, die sich als Bühnen distinktionsbewusster Repräsentations-»Spiele« angeboten haben. Hier kündigen sich – in einer gewissen Analogie zum Tanz (s. unten) – Bewegungsformen an, die wenig mit der Erreichung von Zielen zu tun haben, mehr dagegen einem vitalen Antrieb folgen und in der Erschöpfung dieses An- und Vortriebs ihr Ende finden. 17 Straus, Die Formen des Räumlichen, S. 176. Ebd., S. 172 f. 17 Im Sinne einer Analogie dessen, was Straus über die habituelle Dynamik der Tanzbewegung sagt; vgl. auch ebd., S. 164. 15 16

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Die Bewegungsbilder, die in der Mikrologie des Marktes beschrieben werden, haben ein doppeltes Leben – zum einen in der Gestalt dessen, was die ungezählten Individuen auf dem Platz des Marktes von sich zum Ausdruck bringen, und zum anderen in der Art und Weise, wie sie das Bild dieses gelebten Raumes spürbar machen. Ein (ganz bestimmter) Markt hat in einer aktuellen Situation ein zu ihm passendes Bewegungsbild. Es verdankt sich dem Ganzen aller in seinem Feld stattfindenden Bewegungen (s. auch Kapitel 2.3.3). In dem, was es atmosphärisch ausmacht, kommt es nicht nur auf allokative Bewegungen an. Johannes Volkelt macht auf das Bewegende und Bewegte im persönlichen Ausdruck aufmerksam: »Ich fasse die menschliche Gestalt zunächst ins Auge, soweit sie als s i c h b e w e g e n d vor uns hintritt oder doch, wie in der bildenden Kunst, den Eindruck des Sichbewegens macht.« 18 Wo Bewegung eindrücklich wird, hat man es nicht immer auch schon mit allokativer Bewegung zu tun. Oft kündigen sich in einer baulichen, dinglichen oder habituellen Gestalt auch Bewegungen im Sinne von Protentionen an; Hermann Schmitz spricht dann von »Bewegungssuggestionen«. Das Innehalten im Greifen nach einer Gemüsekiste beim Abbau eines Marktstandes verstehe ich in diesem Sinne, denn es verweist auf eine schon vollzogene wie noch ausstehende Bewegung. Solche »Unterbrechungen« von (tatsächlichen wie optionalen oder auch nur imaginierten) Bewegungen gibt es in zahllosen Gestalten. Es gibt sie noch im Bereich des Statischen und gänzlich Unbewegten; so suggerieren auch die in der Mikrologie so variantenreich beschriebenen Geräusche, die beim immer schneller werdenden Abbau der Stände entstehen, zugleich schnelle Bewegungen, ohne dass man diese im Medium der Lautlichkeit als solche sehen könnte. Was sich nicht im dreidimensionalen Raum bewegt, sondern nur auf eine Bewegung verweist oder sie suggeriert, sehen wir auch nicht als etwas in motorischer Bewegung Befindliches, sondern – mit Schmitz – auf dem Wege leiblicher Kommunikation (s. auch Kapitel 2 in Band 1) als etwas, das auf eine Bewegung hinweist. Johannes Volkelt hat ein anderes wahrnehmungstheoretisches Verständnis, und so sieht er den Prozess der Wahrnehmung in einem eher rezeptiven Sinne und nicht als ein kommunikativ-dialogisches Wechselspiel von Ausdruck und Eindruck. Dabei lässt seine Wortwahl der »Bewegungsempfindungen« vermuten, er könnte die dyna18

Volkelt, System der Ästhetik, Erster Band, S. 225.

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mische Eindrucksmacht eines zur Erscheinung Kommenden unterschätzt haben. Ein rein rezeptionstheoretisches Verständnis der menschlichen Wahrnehmung hätte diesem aber keine ihm eigenen Einflüsse auf das Erleben zusprechen können. Und so betont Volkelt auch explizit, dass wir eine wahrgenommene Bewegung »in unserer Einbildung mit unserem eigenen Leibe« nachmachen. 19 Implizit sind damit Wechselwirkungen mitgedacht, die Schmitz später mit dem Begriff der »leiblichen Kommunikation« systematisch fassen wird. Der Soziologe Lars Frers untersucht die Bewegung wartender Menschen unter anderem an Orten des Wartens wie Bahnhöfen oder Fährstationen. Auch seine Überlegungen beinhalten Hinweise auf das Wahrnehmen von Bewegungssuggestionen, wenn er diese auch nicht beim Namen nennt. Er merkt an, dass auch das ruhige Dastehen und Sich-nicht-Bewegen einer Person als eine Art der Bewegung zu verstehen sei. 20 Nicht jede wahrnehmbare Bewegung kann danach als etwas Sichtbares, oft aber in Gestalt einer Atmosphäre erwartet werden. So versteht er zum Beispiel ein »starres« wie angegossenes Dastehen als Ausdruck affektiv spannungsreicher Bewegtheit. Dass ein menschlicher Köper auch dann, wenn er sich im alltagssprachlichen Sinne nicht bewegt, in Bewegung ist, indem zum Beispiel seine Muskulatur das Gelichgewicht sichern muss, ist in phänomenologischer Sicht nur dann von Belang, wenn sich in einer Form des Nicht-Bewegt-Seins eine befindliche Bewegung zum Ausdruck bringt. Mit anderen Worten: Es kommt auf die Formen leiblicher Bewegung an, die sich in der Motorik eines Körpers ausdrücken. Diese Bewegungsformen kommen in der Mikrologie zahlreich in all jenen Hinweisen zur Geltung, die auf phasenspezifische oder habituelle Rhythmisierungen von Bewegungsabläufen verweisen. Insbesondere im schnellen Abbau der Stände am Ende des Marktes sind es ja nicht nur allokative und muskulär vermittelte Bewegungen, die den Prozess der Demontage tragen, sondern zunächst affektive Be-

Ebd., S. 225. Vgl. Fers, Sinnreiche Bewegungen, S. 250. Frers versteht Bewegung im Übrigen auf einem akteurstheoretischen Hintergrund. Diese theoretische Herangehensweise ist für eine phänomenologische Sicht schon deshalb schwer nutzbar zu machen, weil Bewegungsmuster nach der konstruktivistischen These als »ausgehandelt« angesehen werden und die Auffassung vertreten wird, Bewegung konstituiere Sinn. Im phänomenologischen Blick kann nur umgekehrt davon ausgegangen werden, dass Bewegung (meist verdeckten und nur bedingt explizierbaren) Sinn widerspiegelt.

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reitschaften, die allokative Bewegungen über einen gezündeten vitalen Antrieb erst ermöglichen. Bewegungen sind unterschiedlich vermittelt, durch leibliche Impulse oder durch rationale, zielorientierte Absichten. Um zu einer tatsächlichen körperlichen Bewegung zu gelangen, müssen sich auch rationale, zielorientierte Absichten in einen leiblichen Impuls übertragen, sonst bleiben sie bloße Absichten. Während sich über intendierte Bewegungen leicht begründende wie erklärende Aussagen treffen lassen, ist das bei solchen weitaus schwieriger, die einem habituellen Impuls folgen. Mit beiden haben wir es in der dichten Beschreibung zu tun. Zahllose Bewegungen (der Händler beim Eintüten der verkauften Waren sowie der Kunden beim Verstauen der Einkäufe) drücken ein letztlich rational erklärbares Tun aus. Dagegen stellt sich die Reflexion solcher Bewegungsabläufe weitaus schwieriger dar, die Ausdruck einer habituell-befindlichen Disposition sind und vielleicht eine Stimmung widerspiegeln, aber keine Absicht. Ähnliches ließe sich für die Bewegungsrhythmen der Verkäufer bei der Abwicklung ihrer Geschäfte zeigen. Sie haben dies nach der Art ihrer Bewegungen ja nicht in immer gleicher Weise getan, sondern sich unter anderem an der Menge der Wartenden orientiert. So ist ein bewegungsvermitteltes Tun im Allgemeinen (was eine Bewegung an sich betrifft) davon zu unterscheiden, wie eine Bewegung choreographiert wird (langsam, schnell, gelangweilt, engagiert, freundlich oder desinteressiert). Eine Bewegung wird von der leiblich-befindlichen Disposition einer Person affektiv geformt. Das ändert nicht viel an dem Umstand, dass sie so oder so diese bleibt; aber ihr atmosphärischer Ton hängt ganz von ihrer habituellen Präsenz ab. So lassen sich auch über das einfache (rational begründbare) Gehen (von A nach B) leicht eindeutige Aussagen treffen, während das beim flanierenden »Herumgehen« sehr viel schwerer fällt. Deshalb hat Erwin Straus die Bewegungsgestalt alltäglichen Gehens (im Unterschied zur rational begründbaren allokativen Bewegung) mit der Ästhetik der Tanzbewegungen verglichen und zu letzterer angemerkt, dass man sich in deren Beschreibung einer Sprache bedienen müsse, die bildreich, deshalb jedoch »der Strenge des Begriffs, dem nüchternen Ernst wissenschaftlicher Darstellung nicht gemäß« 21 sei. Auch hierfür bietet die dichte Beschreibung wiederum Beispiele, die allesamt keine allokativen Bewegungen in ihrer Zielorientierung be21

Straus, Die Formen des Räumlichen, S. 166.

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treffen, sondern ihre habituelle Präsenz und atmosphärische Farbe. Die Arten der Fortbewegung, von denen in der Mikrologie die Rede ist, lassen sich in ihrer Unterschiedlichkeit nur auf der phänomenologischen Blickbahn einer unterlegten affektiv-leiblichen Disposition als diese oder jene Bewegung erklären. Eine leibliche Bewegung ist unteilbar, 22 sie ist absolute Bewegung, die nicht den Ortsraum, sondern den leiblichen Raum betrifft. 23 Wer über einen Marktplatz geht, ist dabei a priori leiblich disponiert, denn jede Form des Antriebs vermittelt sich leiblich. Dabei korrespondiert die Bewegung in Eile Gefühlen der Spannung und der Enge, während eine Bewegung eindrucksoffener Gelassenheit eher mit Gefühlen der Entspannung und Weite einhergeht. Dass jemand, der langsam oder schnell, gelangweilt oder gehetzt einen Marktplatz überquert, dabei mehr oder weniger dieselbe Strecke im Ortsraum zurücklegt, ist evident; für das subjektive Situationserleben ist die Länge der Strecke von nachgeordneter Bedeutung. Für jemanden, der vom Fischstand X zum Gemüsestand Y eilen muss, um einen bevorstehenden Termin nicht zu verpassen, kommt es nicht nur auf die optimale »Streckenplanung« seines Weges an, sondern auch auf seine affektive Involviertheit in den anstehenden Bewegungsablauf. Er kann ein und denselben Weg durch das Getümmel des Marktes gehetzt und von Stress getrieben zurücklegen, ihn aber auch – im Wissen um die verfügbare Zeit – gelassen gehen. Bewegungen werden also durch ihre habituelle Fassung nicht zuletzt energetisch formatiert. Menschen vollziehen in ihren Bewegungen fortwährend Ortswechsel. Die obige Beschreibung liefert auch dafür Beispiele. Gerade lebendige Räume wie Märkte zeichnen sich durch vielgestaltige Bewegungsmuster aus. Nie gehen die Menschen dabei aber allein in einem allokativen Sinne, wie tote Gegenstände bewegt werden. Sie folgen schon deshalb leiblich spürbaren Impulsen, weil sie in Bezug auf jede Bewegung situiert sind – auch wenn dies nicht bewusst ist und in ihren Gründen nicht expliziert werden kann. Deshalb müssen im Verstehen der Vitalqualitäten einer dynamischen Marktszene alle Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 140. Diese Unteilbarkeit bezieht sich auf die unaufhebbare Verknüpfung mit dem vitalen Antrieb einer (leiblichen) Bewegung, während sich eine körperliche – und noch die des physisch-körperlichen Menschen eben in naturwissenschaftlich-abstrakter und analytischer Sicht – in die Bewegung von Knochen hier und Muskeln dort auflösen lässt. 23 Vgl. ebd., S. 286. 22

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Bewegungs-Rhythmen als leiblich synchronisiert verstanden werden. Indem Menschen von einem Ort zum anderen gehen, lassen sie – meist verdeckt – ihre gefühlsmäßige Disposition für dieses Gehen erkennen. Unter anderem lässt ihre Körper-Haltung auf eine solche leibliche Disposition schließen (s. dazu auch das Beispiel der im schneidenden Wind über einen Steg gehenden Seeleute in Kap. 6.2.4 in Band 1). Die Menschen vollziehen ihre Bewegungen nicht nur »tatsächlich« langsam oder schnell, sondern auch in ihrem Befinden gelassen oder gehetzt, entspannt oder aufgeregt. Die Händler, die in der Phase des auslaufenden Marktes ihre Stände abbauen und alles nicht mehr Benötigte beiseite räumen, bewegen sich sichtbar zügig bis äußerst schnell, oft hektisch, zumindest aber eilig. Es ist das Programm des zu Ende gehenden Marktes, das sie leiblich mit dem nötigen Antrieb zum schnellen und nicht langsamen oder gar kontemplativ gelassenen Tun versorgt. Die Bewegtheit der wechselhaften Szenen eines Marktes bringt sich schließlich an Dingen zum Ausdruck, welche sich ohne Ortswechsel bewegen; man denke an das Kreisen von Dingen (z. B. eines Kreisels) oder den Schwindel als leiblich spürbare, aber nicht sichtbare Bewegung. 24 Auch die Bewegungsabläufe der Verkäufer beim Eintüten von Waren (oder im Gespräch mit den Käufern) sind als Bewegungen des Ortswechsels unbedeutend; Beachtung verdienen sie dagegen unter dem Aspekt gleichsam auf der Stelle stattfindender Bewegungen, die für eine Form der Anwesenheit von Menschen auf einem Markt steht, die eine atmosphärisch situationstypische Lebendigkeit verbürgt. Auch die Musiker an der Ecke des Platzes bewegen sich an ihren Instrumenten weniger in einem allokativen Sinne als vielmehr auf der Stelle. Wenn die Finger und Hände in schnellen Bewegungen über die Tastatur des Klaviers oder die Saiten des Basses fliegen, so kommt es dabei nur bedingt auf Ortsveränderungen (im relationalen Raum) an. Situativ bedeutsam sind vielmehr drehende, kreisende, rotierende, gleichsam vibrierende und flatternde Bewegungen, die gerade in ihrer »Ortsfestigkeit« die erwünschte Wirkung erreichen. Vieles im bewegten Bild von Märkten geschieht ganz in diesem Sinne »auf der Stelle« und zeigt in diesen zirkulierenden, gewissermaßen implodierenden Bewegungszyklen eine Bewegtheit an, die wir als Ausdruck von Lebendigkeit verstehen.

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Vgl. Schmitz, Band III, Teil 2, S. 104 ff.

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2.3.2 Performative Dynamik Mit dem Gewahr-Werden von Bewegungen als Anzeiger vitaler Lebendigkeit drückt sich im Rhythmus eines Geschehens zugleich ein ihm zugrunde liegender Impuls aus. Dieser wird im Milieu von Atmosphären wahrnehmbar; expressis verbis expliziert wird er in aller Regel nicht. Mit anderen Worten: Was Menschen tun, kann einem Plan folgen; dann streben die Individuen bewusst einem Ziel zu. Es kann aber auch »nur« Ausdruck einer Verkettung von Momenten, Zufällen, spontanen Impulsen oder anderer nicht-intendierter Antriebe sein. Wenn in der Mikrologie von einer performativen Dichte die Rede ist, so klingt darin eine gleichsam kompakte oder gestaute Überlagerung von Geschehnissen an, die in ihrer Spezifik ein habituelles Charakteristikum des Marktes kommentiert. Ein Markt hat in einem weiteren Sinne einen Habitus; dieser ist ebenso durch sein »Getümmel« gestimmt wie durch eine »chaotische« Prozesshaftigkeit, mit der das Ganze seines Geschehens abzulaufen scheint. Auch, was in der Mikrologie als Markt-»Getümmel« angesprochen wird und auf den spürbaren Sog eigenen Mitgenommen-Werdens von diesem Strom hinweist, ist für die performative Dynamik eines Marktes charakteristisch. Performativität macht auf das Andere des intellektualistischen Akteur-Seins aufmerksam, auf die »Grenze des Vollzugs, die der Entzug ist« 25. Sie unterscheidet sich nicht zuletzt dadurch vom Ablauf rationaler Handlungsketten, dass sie sich oft an schnell »einbrechenden« Ereignissen entzündet. Es sind insbesondere Situationen des Plötzlichen 26, die den relational und vor allem rational geordneten Raum in ein pathisches Herum verwandeln. Performativität verdankt sich einer Stimmung der Wahrnehmung, die auf mimetische Vermögen baut, sich Situationen kreativ anverwandeln zu können, um mit diesen auf dem Wege der Einfühlung bzw. leiblichen Kommunikation eins zu werden. In der zwischenmenschlichen Kommunikation gehören nonverbale Ausdrucksformen dazu, die einem anderen MenKrämer, »Performanz«, S. 1921. Im Plötzlichen gibt es keine Dauer mehr; vgl. Schmitz, Band IV, S. 487. Durch die Plötzlichkeit vermittelt sich die Unterbrechung, die uns den Unterschied zwischen Identität und Verschiedenheit erlebbar macht. Momente des Plötzlichen heben auch die Bezugspunkte der Orientierung situativ auf; nach Schmitz sind dies dann Situationen der »primitiven Gegenwart«, die solchen »entfalteter Gegenwart« entgegenstehen; vgl. ebd., S. 255.

25 26

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schen zum Beispiel über Blicke und habituelle Gesten etwas be-deuten. Performative Dynamik unterscheidet sich dadurch von der Ablaufhygiene zielorientierten Handelns, dass sie von einem Strom des Nicht-Vorhersehbaren getragen wird. Prozesse der Performativität werden vom Fluss gegenwärtigen Geschehens bestimmt, und zwar in einer Erlebnisqualität der Zeit, die Minkowski »das Werden« 27 nennt. Die Mikrologie verweist mehrfach auf eine Doppelstruktur aktuell ablaufender Geschehnisse. Zum einen folgen die Tätigkeiten, in denen die Menschen dies tun und jenes lassen, Zielen und Plänen. Zum anderen wird spürbar, dass die Individuen ihre intentionalen Impulse auch unterbrechen, indem sie sich situativ und atmosphärisch vom Marktgeschehen mitnehmen lassen. Wenn sich im gelebten Raum des Marktes und der je aktuellen Verkettung seiner Situationen ein Kosmos der Unvorhersehbarkeit zeigt, so drückt sich besonders in solchen Eindrücken der performative Charakter eines Marktes aus. Performative Prozesse folgen einem Rhythmus, den Eugène Minkowski mit dem Begriff des »vitalen Elans« angesprochen hatte. Dieser wird weder allein noch in erster Linie von der Kraft eines intentionalen Willens gespeist; er verdankt sich vielmehr der suggestiven Eindrucksmacht von Situationen und mündet in ein spontanes Mitgenommen-Werden in eine Bewegung. »Der Elan vital schafft vor uns die Zukunft, und ausschließlich er schafft sie. Alles, was im Leben eine Richtung in der Zeit hat, hat Elan, wirkt in die Zukunft, geht voran.« 28 Aber die aus der Performativität erwachsende Zukunft entfaltet einen ganz anderen Horizont als jene, die sich in der Verfolgung kalkülhaft angestrebter Ziele aufspannt. Die aus der Aktualität einer Situation quellende Energie speist eher irrationale als rational geplante Geschehensverläufe, die letztlich von einem »vitalen Elan« vorangetrieben werden. Während der vitale Elan eine rationale Handlung mit einem dynamischen Willen versorgt, so verwickelt er die sich in performativen Prozessen befindlichen »Akteure« und Patheure spontan und affektiv in Situationen. Das beschriebene Markt-Geschehen ist durch eine Verkettung von Geschehnissen gekennzeichnet, in denen die Grenzen zwischen dem, was Menschen planvoll tun wie anstreben, und dem, wovon sie sich ad hoc mitnehmen lassen, verschwommen. In allem Geschehen ist die 27 28

Minkowski, Die gelebte Zeit, Band I, S. 26. Ebd., S. 45.

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performative Lebendigkeit der sich zusammenfügenden Abläufe atmosphärisch jedoch spürbar präsent. In diesem Sinne haben die folgenden Prozesse performativen Charakter: die habituellen Vollzüge von Bewegungen und die Arten und Weisen, wie sich Menschen bewegen, die mikrologische Synchronisierung von Tätigkeitsabfolgen, das plötzliche und unerwartete Auftauchen von Möwen, die zufällige Hinwendung einer Restesammlerin zu einer »ansprechenden« Stelle in einem Haufen abgelegter Gemüsereste, die Jazzimprovisation, die den dahinsterbenden Markt umspielt, und vieles andere. Was wir mit dem Begriff der Performativität ansprechen können, drückt Heidegger mit dem Begriff der »Augenblicksstätten« des Daseins, 29 aus dem sich das »Da« des Seins schöpft, aus. Es ist das sich Ereignende, das »das Menschsein als geschichtliches durch die das Da-sein so oder so fordernde Er-eignung« 30 geschehen lässt. Ohne den Begriff explizit zu verwenden, rückt bei Heidegger die Performativität menschlichen Lebens in den Mittelpunkt. Dieser »Ort« des Da-seins ist keine Koordinate im relationalen Raum. Als »Augenblicksstätte« 31 ist er ein Ort in der Zeit. Dies ist kein topologischer Ort, sondern eine zeiträumlich verortbare Situation der »Erwesung des Seins als Ereignis« 32. Heideggers »Zeit-Raum« legt weder im Raum noch in der Zeit etwas fest. 33 »Zeit und Raum […] ›sind‹ nicht, sondern wesen« 34. Zeitigung und Räumung bilden die Einheit des Zeit-Raums, der in der Augenblicksstätte des Da kulminiert 35. In diesem Da ereignet sich, was in der Mikrologie metaphorisch als »Implosion der Augenblicke« umschrieben ist (s. S. 106) und in eine chaotische Verschiebung von Ereignissen (in- und übereinander) mündet. Der plötzlich inmitten des noch vitalen Markttreibens beginnende Abbau eines auf Rädern stehenden Kaffee-Wagens deutet sich ebenso als eine solche Augenblicksstätte des Da an, wie das Auftauchen der städtischen Reinigungsfahrzeuge, die in einem doppelten Sinne von den Rändern des Platzes wie seines Geschehens in dessen tatsächliche und atmosphärisch verblassende Mitte vordringen. Vgl. Heidegger, Gesamtausgabe, Band 65, dazu auch Rimpler, Prozessualität und Performativität, S. 107. 30 Heidegger, Gesamtausgabe, Band 65, S. 235 f. 31 Ebd., S. 323. 32 Ebd., S. 372. 33 Vgl. ebd., S. 382. 34 Ebd., S. 385. 35 Vgl. ebd., S. 384. 29

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Solche Atmosphären nimmt das Subjekt nicht in seinem empirischen Bewusstsein wahr, sondern als »einmalige[s] leibhafte[s] lebende[s] Wesen, in dessen lebensgeschichtliches Werden die Ereignisse eindringen.« 36 Und so gibt es keine »Topographie der Empfindungen. Im Erleben erfasse ich die Räumlichkeit der Welt, in ihr bestimmt sich mein Hier, gegenüber dem Dort, dem Anderen.« 37 Und so ist es gerade die Performativität, die einem Platz und insbesondere einem auf ihm stattfindenden Markt seine Lebendigkeit verleiht, in der man mehr spürend als wissend zwischen topographischen Orten und atmosphärischen Räumen gleichsam hin und her pendelt.

2.3.3 Das Ganze und das Einzelne Wie das Verhältnis des Einen zum Vielen sowie des Ganzen zu seinen Teilen gedacht werden kann, ist eine der ältesten Fragestellungen der Philosophie, die sich im Lichte neuer wissenschaftstheoretischer Strömungen immer wieder aktualisiert. Es scheint so, als gerate das Ganze im Blick auf das Einzelne aus dem Blick und umgekehrt, als trete das Einzelne in einen diffusen Hintergrund, wenn die Aufmerksamkeit dem Ganzen gewidmet wird. Das Dilemma erklärt sich aus den Wechselwirkungen zwischen Ganzem und dem Einzelnem. Nach Aristoteles ist das Ganze »das Vollständige, an dem kein Teil fehlt.« Ebenso gilt es »als das umfassende Band, welches das umfaßte Viele zu Einem zusammenfaßt«. 38 Dabei sind die Teile nicht nur in einem quantitativen Sinne zu verstehen, sondern ganz wesentlich auch in der qualitativen Art und Weise, wie sie auf ein Ganzes einwirken und es sogar ausmachen können. Das ist in Astronomie und Humanmedizin im Prinzip nicht anders als in Soziologie und Ethnologie. Auch die modernen Natur- und Sozialwissenschaften können diesem schwierigen Verhältnis nicht entkommen; stets müssen die Teile bzw. Facetten auf ein Ganzes hin gedacht werden, dessen Essenz schon deshalb unscharf bleiben muss, weil sein Verständnis des Wissens um seine Teile bedarf, die sich wiederum erst aus der Perspektive des Ganzen verstehen lassen. Diese epistemischen Lücken verändern Straus, Die Ästhesiologie und ihre Bedeutung für das Verständnis der Halluzinationen, S. 243. 37 Ebd., S. 246. 38 Kaulbach, »Ganzes/Teil«, Sp. 4. 36

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sich in gewisser Weise laufend in ihrer Art und Ausdehnung, weil die Wege der Forschung zum einen zwar Wissenszuwächse generieren und damit epistemische Lücken schließen, sich diese als Folge vermehrten Wissens aber auch erneut vergrößern. Das Einzelne ist nur auf dem Horizont eines Ganzen verständlich und das Ganze nur im Wissen um die Funktion und Seinsweise des Einzelnen in diesem umklammernden Ganzen. Das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen ist auf dem Hintergrund immer nur erreichten, aber nie abgeschlossenen Wissens strukturell offen und deshalb an den Stand verfügbaren Wissens gebunden. Georg Simmel merkte schon in seiner Grundlegung der Soziologie an, »die Welt können wir nicht eine nennen, wenn nicht jeder ihrer Teile irgendwie jeden beeinflußte, wenn irgendwo die, wie immer vermittelte, Gegenseitigkeit der Einwirkungen abgeschnitten wäre.« 39 Das Ganze bildet nicht nur Einzelnes, sondern auch – »wie das Meer die Wellen« 40 – dessen dynamische Existenz. So kommen auch in der Mikrologie im Prinzip alle Situationen und noch deren Segmente als Ausdruck und Spiegel eines Ganzen zur Geltung. Der gemischte Markt zeigte sich als etwas »Ganzes«, das insofern eine Einheit des Vielen gebildet hat, als sich dieses allein der lokalen Geschehnisse an einzelnen Schauplätzen verdankte. Das Einzelne im Lokalen ist stets eigenartig; es wird (an diesem Ort) als besonderes Geschehen eindrücklich. Eine solche Eigenart konstituiert sich zum einen durch Vielfalt; diese kann sich wiederum nur in den Grenzen dessen entfalten, was einen typischen Markt auszeichnet. Zu einem Markt gehört nie grenzenlose Vielfalt, sondern eine, die trotz aller noch so bunten und chaotischen Variation durch sein Programm zusammengehalten wird. Von Eigenart stiftender Vielfalt in diesem Sinne ist an zahlreichen Stellen der Mikrologie die Rede – einer Vielfalt der Waren, der Szenen des Handels, der Menschen, der Verkaufsstände und -wagen usw. Zum Ähnlichen gehört seine Wiederkehr, die in der Dauer der Zeit variiert, vor allem dann, wenn sich das Ähnliche – wie auf dem Markt – performativ generiert. Und so gerät die durch Ähnlichkeit geprägte vielfältige Eigenart dann auf den Grat der Monotonie, wenn sich das Ähnliche ohne plötzliche und unerwartete Variation wieder-

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Simmel, Soziologie, S. 5. Ebd., S. 1 f.

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holt. Das vielfältige Ganze eines Eigenartigen beindruckt dann als etwas Homogenes allein noch in langweiligen Atmosphären. Trotz seiner Vielfalt und chaotischen Mannigfaltigkeit ist der Markt in seiner Lebendigkeit etwas Einfaches. Er ist einfach, weil er zum Selbstverständlichsten des alltäglichen Lebens gehört. Man spürt, wann man sich auf einem Markt befindet; die Wirklichkeit seines Milieus gibt sich wortlos zu verstehen; man weiß mit einem Schlage, worum es sich bei diesem Treiben handelt. Das situativ anspringende Wissen meldet sich intuitiv und ist nicht erst Produkt theoretisch abstrakter Anstrengung. Es ist der für einen Markt charakteristische Geschehensfluss, der ihn als etwas Zusammenhängendes, eben Ganzes, erscheinen lässt. So ist auch in der Mikrologie von Anfang an zum einen von einem »Markt« die Rede und zum anderen daneben auch von Gemüsehändlern, Fischbratereien, Käseverkäuferinnen und exotisch anmutenden Fischen unter zeltartigen Dächern. Diese Art der (bipolaren) Verständigung »funktioniert«, weil ein jeder aus Lebenserfahrung weiß, dass ein Markt etwas »Ganzes« ist und dass es auf ihm merkwürdige wie oft genug auch faszinierende Dinge gibt. Das analytische, gleichsam Schritt für Schritt sich vorarbeitende Verstehen erübrigt sich, weil sich das Gegenwärtige in evidenten Zusammenhängen darstellt. Auch wo die Ähnlichkeit der Markt-Geschehnisse zur Sprache kommt, ist vorausgesetzt, dass es einen – mehr noch diesen besonderen – Markt als alles umklammerndes Milieu gibt. Ähnlichkeit setzt ein Ganzes voraus, in dem es auch Nicht-Ähnliches gibt und innerhalb dessen sich Ähnliches variiert. In diesem Sinne Ganzes spielt folglich auch in der Erwartung eine Erkenntnis vermittelnde Rolle – im Gefasst-Sein auf etwas, das in ganz spezifischen typologischen Grenzen ähnliche Variationen aufweist. Bei diesem Ähnlichen geht es abermals um Vieles, das von einem Ganzen – hier dem des Marktes – zusammengehalten wird – durch eine »gewisse«, aber doch schwer zu konkretisierende Vielfalt ähnlicher Waren (Lebensmittel wie Gemüse, Käse und Fisch, aber keine Arzneimittel), viele Menschen (wozu nicht Heerscharen von Männern in eleganten Anzügen gehören) und schließlich eine wiederum aufs Ganze bezogene gewisse Vielfalt von markttypischen Verhaltensmustern, die zwar nicht in einem engeren Sinne auf die Einkäufe von Dingen eines Marktes begrenzt sind, aber die Präsentation eines philosophischen Vortrages an einem in der Mitte des Marktes errichteten Rednerpult eher ausschließen. Als Problem erweist sich nicht die treffliche Nennung möglicher Va136 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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riationen lokalen Markt-Geschehens. Die Beschreibung liefert hierfür eine große Vielfalt explizierter Eindrücke. Probleme tauchen vielmehr mit dem Ausschluss dessen auf, was auf dem Hintergrund aller mit einem Markt gemachten Erfahrungen so fremd erscheinen muss, dass eine intuitive Integration in sein atmosphärisches, performatives und institutionelles Bild kaum in Frage kommt. Was sich erwartungsgemäß zu einem Ganzen fügt, kann aus keiner theoretischen Distanz gegenüber einem sich aktuell ereignenden Marktgeschehen antizipiert werden; es kann sich allein in der Praxis eines gelebten Marktes erweisen. Auf den in diesem Sinne irritierenden Eindruck eines öffentlichen Klavierspiels auf dem Markt werde ich am Schluss des Kapitels zurückkommen. Dass sich die Aufgabe der Synchronisierung von Eindruck und Erwartung fortlaufend im performativen Theater des Marktes als Aufgabe situativen Verstehens wie der Zuschreibung von Identität stellt, illustrieren die vielen Beispiele aus der Mikrologie. Einzelnes, das Beachtung findet, ragt für die Wahrnehmung aus einem (in sich ähnlichen) Ganzen heraus. In diesem Sinne taucht der Hinweis auf eine Afrikanerin auf, die Fischreste betrachtet, und eine Asiatin, die einen Krebs auf seine Verwertbarkeit in der Küche hin prüft. Das Beispiel der Beschreibung eines Marktes (als etwas Ganzes) konkretisiert auch andere theoretisch verwandte, grundlegende philosophische Themen und Fragestellungen. So stellt sich im Lichte der Mikrologie die Perspektive des methodologischen Individualismus im Sinne von Anthony Giddens 41 – als Beispiel für eine einflussreiche konstruktivistische Schule – als problematisch heraus. Danach zerfällt nämlich das Ganze der Gesellschaft in einzelne Handlungen (atomistischer Begriff des Sozialen 42) und steht damit als idealistischer Entwurf im Kontrast zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Der ihr zugrunde liegende Begriff eines Ganzen sieht das Sein der Subjekte nämlich auf dem Hintergrund eines vergesellschafteten Lebens 43 und viel weniger als ein individuelles. Aber der methodologische Individualismus lenkt nicht nur von einem umklammernden und oft genug determinierenden Ganzen ab; er marginalisiert auch das Zufällige, Performative und Plötzliche und nicht zuletzt jene Affektdynamik, die sich subjektiver Selbstverfügung weitgehend ent41 42 43

Vgl. Giddens, The Constitution of Society. Vgl. Bertram / Liptow, Holismus in der Philosophie, S. 22. Vgl. insbesondere Adorno / Horkheimer, Kulturindustrie.

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zieht. Der Preis dieses sozialen Atomismus ist die Absehung von jenen Facetten des Einzelnen, die sich in ihrer vitalen (und weniger in ihrer rationalen) Lebendigkeit, (unberechenbaren) Performativität und (irrationalen) Gefühlsbezogenheit der Utopie »vernünftig« agierender Individuen entziehen. Das Ganze dieses utopischen Subjekts ist durch Rationalität, Affektferne und tendenziell lückenlose Zurechnungsfähigkeit gekennzeichnet. Ein epistemologisches Problem stellt sich bei Martin Seel als eine universelle Aufgabe in der Bewältigung der Beziehung von Einzelnem und Ganzem. So merkt er an, dass »vieles verstanden werden muss, damit überhaupt eines verstanden werden kann.« 44 Loskommen kann auch diese wechselseitige Abhängigkeit der Erkenntnis nicht vom Problem der Vorläufigkeit allen Wissens oder – mit anderen Worten – von dem Umstand, »daß man keinen einzigen Begriff haben kann, ohne viele zu haben. Dies aber kann nur heißen: unbestimmt viele.« 45 Dabei geht es nicht um die historische bzw. zivilisatorische Begrenztheit des Wissens, sondern um die (oft genug nur aktuell) situativen Grenzen dessen, was man wissen kann und tatsächlich weiß, um von einem Ganzen auf Einzelnes und von erfahrenem Einzelnen auf ein Ganzes schließen zu können. Das komplexe wie komplizierte Wechselspiel von Ganzem und Einzelnem ist unaufhebbar. Friedrich Kambartel weist mit Wittgensteins Sprachphilosophie darauf hin, dass »der Wort-Satz-Holismus« in einen »Satz-Situations-Holismus« eingebettet ist. 46 Der hier angesprochene Situations-Holismus spielt im System der Philosophie von Hermann Schmitz eine zentrale Rolle (s. auch Kapitel 2.3.10). Schmitz fasst eine Situation im gestaltpsychologischen Sinne »der Geschlossenheit, Kohärenz und Abhebung« auf. 47 Ganzheit versteht er als »chaotische Mannigfaltigkeit der Situation, in der die einzelnen Sachverhalte, Programme und Probleme mehr oder weniger im Hintergrund verschlossen bleiben« 48. Bei den Schmitz’schen Situationen Seel, Für einen Holismus ohne Ganzes, S. 34. Ebd., S. 35. 46 Kambartel, Analyse versus Konstruktion, S. 212. 47 Schmitz, Der unerschöpflicher Gegenstand, S. 67. Die Gestaltpsychologie geht (z. B. in der Perls’schen Strömung) von einem »Gestaltzyklus« aus, wonach das Individuum eine »Homöostase des Organismus/der Person im Organismus/UmweltFeld« anstrebt, um im Prozess eines sich selbst entfaltenden Wachstums diese Gestalt wieder zu schließen; Boeckh, Gestalttherapie, S. 45. 48 Ebd. 44 45

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kommt es nicht auf gesprochene Sätze an, sondern auf leiblich spürbares Eindrücklich-Werden, worin schon das sinnliche Erleben die Erfahrung der Evidenz vermittelt. Eine schlagartige Wahrnehmbarkeit zum Beispiel des Geruches von gebratenem Fisch bedarf nicht erst der sprachlichen Explikation, um als Sachverhalt zu überzeugen. Es versteht sich aus dem Rahmen der Situation des Marktes von selbst, dass dieses olfaktorische Eindruckserleben auf diesen Markt bezogen ist. Seine aktuelle Wirklichkeit »plausibilisiert« in gewisser Weise die Situationsadäquatheit des Geruchs zu dieser Zeit an diesem Ort. Kein Mensch nimmt den Fischergeruch auf einem Markt für sich wahr, das heißt in einer den einzelnen Eindruck geradezu zwanghaft isolierenden Weise. Schlagartig wird er vielmehr in einem pathischen Sinne als ein Ausdruck des Marktes verstanden; und so reiht er sich in ein vielfältiges Spektrum von Eindrücken dessen ein, was man von einem Markt aus Erfahrung erwarten darf. Die Bedeutung, die einem Eindruck anhaftet – hier dem Geruch von gebratenem Fisch –, erklärt sich wortlos aus dem Rahmen einer gegebenen (Markt-) Situation. Am Beispiel der Mikrologie stehen marktspezifische Programme in deren Mitte, die bestimmte Ereignisse und Eindrücke als Ausdruck eben dieser Situation erwarten lassen. Zugleich verlangt die Zuschreibung schwammiger wie schwimmender Identität doch auch nach einer Präzisierung eines zu beschreibenden wesenhaften Charakters. Diese kann wiederum nur gelingen in der – wie das auch in der sprachlichen Explikation geschehen ist – zumindest punktuellen Auflösung des »ganzen« Marktes in die ihn letztlich erst ausmachenden Schauplätze. Die Notwendigkeit des permanenten Wechsels der Sicht zum einen auf das Ganze, zum anderen auf die gleichsam inselhaften Orte bzw. mikrologischen Situationen innerhalb des Ganzen entsteht nicht erst aus der Notwendigkeit der interpretierenden Aneignung der Mikrologie, sondern schon in der Situation der Explikation, denn schon das Mit-sein im Geschehen des Marktes verlangt eine gleichsam hin- und herspringende Aufmerksamkeit, die das Ganze im Blick hält, ohne das Einzelne aus dem Auge zu verlieren. Dabei lässt sich der Markt, so wie er sich in der subjektiven Beschreibung darstellt, insofern wiederum als etwas Einfaches verstehen, als er doch in der lebensweltlichen Wahrnehmung eher nicht als etwas Komplexes und schon gar nicht als etwas Kompliziertes und Verwickeltes gilt, noch nicht einmal als etwas, das besondere Ansprüche an sein Verstehen stellt. Umso mehr zeigt gerade diese Mikrologie, inwiefern genau dies der Fall wird, sobald sich 139 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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der Blick mit der Aufgabe verbindet, die hinter dem Infra-Gewöhnlichen verborgenen wie verwickelten Zusammenhänge von Einzelnem mit anderem Einzelnen und einem umklammernden Ganzen zu verstehen. In dieser Blickbahn erweist sich das Einfache nicht mehr als »einfach«, sondern als etwas hoch Komplexes, dessen Verstehen allein auf Oberflächen misslingt und daher den autopsierenden Blick in die Tiefen mikrologischer Verknüpfungen reklamiert. So gehörte die beginnende Demontage des fahrenden Steh-Cafés nur bedingt zum erwartbaren Geschehen auf einem Markt, der sich zu dieser Zeit noch nicht in der Phase seines Abbaus befand. Der Blick hinter das Gesicht des scheinbar Einfachen macht auf dem erkenntnistheoretischen Umweg selbstreferenziell werdender Wahrnehmung auf die Macht des Plötzlichen im Erleben aufmerksam, hat der Abbau des Wagens doch nicht a priori den Charakter des Plötzlichen, sondern nur in der florierenden Zeit des Marktes. Deshalb weckte er auch zu dieser Zeit die Aufmerksamkeit und aktualisierte – mehr intuitiv als expressis verbis – die Frage nach einer aus den Fugen geratenen Beziehung zwischen einem Einzelnen und einem Ganzen. Hätte der Abbau eine Stunde später stattgefunden, wäre nichts daran als etwas Besonderes auffällig geworden. Die Erfahrung von etwas als »plötzlich« ist Ausdruck der Resonanz gegenüber einer Abweichung vom erwarteten Spektrum dessen, was zu einer Zeit im Allgemeinen auf einem Markt geschieht. Auch die räumliche Annäherung an die Musiker vermittelt sich durch einen Eindruck des Plötzlichen und verbindet sich mit der (im Alltag nicht explizierten, sondern bestenfalls intuitiv aufkommenden) Frage zur Breite des Spektrums an Ähnlichem, das zu einem typischen Markt gehört. Am Abend, zur Zeit des fortgeschrittenen Abbaus und der sich langsam ausbreitenden Leere des Platzes gerät die (dann beinahe ganz andere) Situation der Musiker indes noch schärfer als zur turbulenten Hochzeit des Marktes auf einen Grat der Fragwürdigkeit: Kann noch als Ausdruck des Marktes überzeugen, was in seiner Gegend in Gestalt von Jazzimprovisationen stattfindet? Zumindest wird fragwürdig, ob dieses lokale Ereignis in der Vielfalt von Marktereignissen noch einen Platz finden kann. Dagegen fügt sich die frühabendlich-turbulente Auflösung des Marktes ins erwartete Bild seines Endes an diesem Tag, auch wenn der performative Lauf der Ereignisse voller Überraschungen ist. Das Ganze ist nun nicht mehr der Markt im engeren Sinne, sondern der Prozess seines Endes und damit in eine andere Situation eingekleidet. 140 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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2.3.4 Geruchsräume Die dichte Beschreibung eines gemischten Marktes (s. 2.3) enthält explizite Hinweise auf die von Gerüchen ausgehenden Eindrücke. Einer thematisiert am Beginn der Mikrologie die Räumlichkeit der Gerüche. Diese drängt sich situativ mit dem gleichzeitigen SpürbarWerden der unterschiedlichsten Aromen von frischem Obst, gebrannten Mandeln oder gebratenem Fisch auf. Schon die nie fix im Raum lokalisierbare, sondern gleichsam wabernde Vermischung der Gerüche wird zwar an einem Ort atmosphärisch zudringlich, auch wenn sie ihre Herkünfte an mehreren Orten hat. Zum einen kommt ein Geruch von einem Quellort; dieser mag insofern auch »sichtbar« sein, als an einem nahen Ort gesehen werden kann, wie Mandeln gebrannt oder Fische gebraten werden. Diese Sichtbarkeit schlägt aber keine Brücke zur Sichtbarkeit der Gerüche. Zudringlich werden diese auch nicht an fixen Orten im relationalen Raum, sondern allein im leiblichen Empfinden an absoluten Orten wechselnder Leibesinseln 49. Es gibt im Ortsraum keine Stelle, an der ein Geruch gleichsam »ankäme«. Vielmehr geht er in einem prädimensionalen atmosphärischen Volumen auf, weshalb die Alltagssprache den Begriff der Geruchs-»Wolke« kennt. Wolken haben keine festen Grenzen, und so gehören Vermischungen zu ihrem Wesen. In der Folge können verschiedene Gerüche mal »nebeneinander« wahrgenommen werden, dann aber auch ganz plötzlich wieder in einem Mischgeruch verschwimmen. Deshalb kann auch kein Geruch neben dem anderen »identifiziert« werden wie ein Granit neben einem Kalkstein. Der Hinweis auf die »verdünnte« Intensität eines Geruchs macht auf eine Diffusion aufmerksam, die sich von der Bewegung der physischen Dinge im relationalen Raum von Grund auf unterscheidet. Ein Ding bewegt sich im Ortsraum von A nach B, während ein Geruch zwar an einer Stelle im Ortsraum entsteht – nämlich genau da, wo etwas Geruchsemittierendes geschieht. Aber er breitet sich in seinem wolkigen Charakter sodann im atmosphärischen Raum aus und nicht im mathematischen. Noch nicht einmal in der IntensiLeibesinseln sind nach Hermann Schmitz die Gegenden des Körpers, an denen sich etwas (ein Schmerz, eine Spannung, ein Gefühl der Wärmer oder der Kälte usw.) zu spüren gibt. »Jede Leibesinsel hat ein verschwommenes prädimensionales Volumen ohne Flächen und Ränder. […] Leibesinseln sind nicht auf die Körpergrenzen eingeschränkt, sondern können auch in Enklaven ausgelagert sein«, wobei Schmitz vor allem an die Phantomschmerzen Amputierter denkt; Schmitz, Der Leib, S. 8.

49

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tät seiner Präsenz lässt sich ein Geruch auf eine relationalräumliche Entfernung zu einem Geruchsherd beziehen. Zwar schweben »starke« Gerüche weiter in den offenen Raum hinaus als »schwache«, aber die atmosphärischen Mischungen basieren in ihrem sinnlichen Erleben auf keiner quantitativen Logik der Gerüche, denn im leiblichen (Empfindungs-)Raum der sinnlichen Eindrücke überlagern sich nahe schwache mit fernen starken Gerüchen zu einem affizierenden Akkord. Eindrucksmächtig ist allein dieser Akkord samt der ihm anhaftenden Bedeutungen und nicht der eine oder andere in ihm aufgegangene olfaktorische »Anteil«. Selbst wenn die eine oder andere Geruchskomponente (etwas Scharfes, Stumpfes, Mattes oder Spitzes) aus einem solchen Eindrucks-Akkord vorragen mag, so bleibt er doch unlösbar mit seinem Geruchsganzen verknüpft. Die leibliche Wahrnehmung findet keinen Weg zur Quelle eines Geruchs, weil die von Gerüchen ausgehenden Richtungen unumkehrbar sind. Die Gerüche »verwirren« das Denken in relationalräumlichen Kategorien. Das hatten schon die im Kapitel 4 von Band 1 diskutierten Einlassungen auf ein situatives Geruchserleben gezeigt. 50 Das liegt auch daran, dass Gerüche nicht nur in einem olfaktorischen Sinne wahrgenommen werden; sie entfalten sich darüber hinaus im gesamten atmosphärischen Milieu aktuellen Erlebens. Willy Hellpach wies mit dem Begriff des »Ergehens« auf die Stimmung (i. S. einer affizierenden Einstellung) subjektiven Befindens durch Eindrücke hin. Die sich in der dichten Beschreibung findenden Hinweise auf das Geruchserleben unterstreichen diesen Zusammenhang zwischen dem von einem Geruch zum einen und einer Atmosphäre zum anderen ausgehenden Eindruck. Mit Blick auf urbane Welten sieht Gernot Böhme den Geruch als »ein wesentliches Element der Atmosphäre einer Stadt, vielleicht sogar [als] das Wesentlichste, denn Gerüche sind wie kaum ein anderes Sinnesphänomen atmosphärisch.« 51 Im atmosphärischen Milieu städtischer 52 Märkte verdichtet sich diese Bedeutung der Gerüche in Vgl. zum Thema des atmosphärischen Geruchserlebens auch die Ausführungen in Kapitel 4 dieses Bandes. 51 Böhme, Die Atmosphäre der Stadt, S. 150 52 Zwar finden auch auf dem Land Märkte statt; diese unterscheiden sich aber in ihrer mangelnden urbanen Lebendigkeit von städtischen. Nicht nur die Zahl der »Marktgänger« ist geringer, sondern auch die Vielfalt der Stände und der angebotenen Waren. In der Folge spielen auch die Gerüche im atmosphärischen Raumerleben dieser kleinen Märkte eine lokal viel begrenztere Rolle als in den großen ausgedehnten städ50

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besonders zudringlicher Weise. Johannes Volkelt hatte auf ihre große Wirkmacht in Markthallen verwiesen: »Zum ästhetischen Eindruck einer Markthalle gehören auch die von Gemüsen, Fleisch, Fischen, Käse u. s. w. ausströmenden Gerüche.« 53 Indem Volkelt vom »ästhetischen Eindruck einer Markthalle« spricht, schließt er ein, dass die Gerüche in diesen schon eingegangen sind, zu ihm unaufhebbar dazugehören. Dies macht auf ihre Wirkungsweise aufmerksam und konkretisiert, worauf Hellpachs Verständnis des (emotionalen) Ergehens hinausläuft. Ein Geruch stimmt in aller Regel ja nicht unmittelbar – gleichsam aus sich heraus – das eigene Befinden; er nimmt vielmehr einen »Umweg«, indem er sich mit allen anderen Eindruckskomponenten eines Milieus verbindet, um dann über die atmosphärische Stimm-ung die eigenen Gefühle zu färben. Deshalb stellt Johannes Volkelt auch heraus, dass ein Geruch kein selbständiger ästhetischer Gegenstand sein kann, vielmehr Synthesen eingeht, sodass er auch in den Stimmungseindruck eines Gegenstandes hineingezogen werden kann. Dies muss kein Gegenstand im engeren Sinne sein. Aufnehmend sind auch Milieus, atmosphärische Herumwirklichkeiten, auratische oder soziale Felder. An gängige Vorstellungen kann das Aufgehen eines Geruchs in einer Landschaft anknüpfen, die zum Beispiel durch den »warmen« Duft von Blüten zu einer »frühlingshaften Landschaft« wird. So »können die Gerüche, sei es in ihrer Vereinzelung, sei es in ihrem unbestimmten Zugleich und Nacheinander, den ästhetischen Wert mannigfaltiger Gegenstände eigentümlich färben und erhöhen.« 54 In der Verknüpfung mit anderen situationsbestimmenden Eindrücken wird letztlich auch jenes Ergehen gestimmt, das Hellpach rund vierzig Jahre nach Volkelt thematisieren sollte. Eine besondere Stimmungs-Macht der Gerüche kommt auch darin zur Geltung, dass sich die Gerüche »der Beschreibung mit Worten« weitgehend entziehen: »Sie sind nicht auf die Ebene der Abstraktion zu projizieren« 55, verharren vielmehr im affizierenden Wirkungsfeld der Atmosphären. In diesem Wirkungszusammenhang steht besonders der zweite tischen Märkten. Eine abermals andere Situation konstituiert sich in den großstädtischen Markthallen (vgl. dazu auch Kapitel 1.1), in denen sich Gerüche schon dadurch in einer ganz eigenen Intensität und Überlagerung entfalten können, weil sie von den baulichen Begrenzungen des Innenraumes gefangen werden. 53 Volkelt, System der Ästhetik, Erster Band, S. 102. 54 Ebd. 55 Simmel, Soziologie der Sinne, S. 147.

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in der atmosphärischen Marktbeschreibung enthaltene Hinweis auf die Eindrucksmacht der Gerüche. Am Ende des Marktes waren kaum noch Gerüche von Früchten, verschiedenen Sorten Käse oder anderen ausliegenden Lebensmitteln gegenwärtig. Indem sich in die Phase des Abbaus rege Aktivtäten der Reinigung der mobilen Bauteile aus den Ständen und Verkaufswagen mischten, kamen nun andere (situationstypische) Gerüche zur Geltung. Diese gingen von Reinigungsflüssigkeiten aus, die mitunter den beißenden und scharfen Charakter von Gestänken hatten. Sie standen genauso wenig »für sich« wie die Gerüche von gebratenem Fisch oder frischen Mandeln. Die olfaktorischen Eindrücke – ganz gleich ob Geruch oder Gestank – flossen jeweils in die situativ je charakteristische, den Platz-Raum gleichsam beherrschende Atmosphäre ein. Und so hatten die durch Reinigungsmittel emittierten Gerüche die aktuelle Situation des Marktabbaus letztlich nur unterstrichen. Wenn sich die »beißenden und ätzenden Ausdünstungen chemischer Reinigungs- und Desinfektionsmittel« auch in einer »Atmosphäre der Zersetzung und Auflösung« (s. o.) vermischt hatten, so würde es dem Verstehen des atmosphärischen Raumerlebens doch nicht gerecht, diese Eindrücke im Sinne einer Umkehr-Ästhetik auf etwas vordergründig »Negatives« zu reduzieren. Vielmehr bekräftigen sie den performativen Gang einer dahinfließenden Situation, die im Prozess des Übergangs nur ein Ziel kennt: die vollständige Auflösung des Marktes. Gerüche der Reinigung gehörten wesensmäßig zu dieser Situation und fügten sich in das ein, was man sehen konnte (zum Beispiel Flüssigkeiten, die in synthetisch erscheinenden Farben im Rinnstein dahinliefen), aber auch was man hören konnte (zum Beispiel Lärm der Demontage von Ständen und Wagen). Den Duft beschreibt Hubert Tellenbach als ein atmosphärisches Medium. 56 Das gilt erst Recht für die Gestänke, die sich ja nur im bewertenden Erleben von den Wohlgerüchen unterscheiden. In dem, was uns ein Geruch zu »verstehen« gibt, was er uns sinnlich vernehmen lässt, bringt sich etwas Ganzheitliches zur Geltung, das mit sprachlichen Mitteln der wörtlichen Rede schwer aussagbar ist: »In keiner anderen Erfahrung unserer Sinne wird so deutlich, daß über das im engeren Sinne Vernommene hinaus sich etwas vom Wesen dessen mitteilt, dem das Duftende entstammt.« 57 Was Tellenbach 56 57

Vgl. Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 46. Ebd.

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mit dem Begriff des Wesens anspricht, »west« in besonderer Weise in den umhüllenden Atmosphären, deren Zudringlichkeit im Milieu eines gemischten Marktes auf ganz andere Herkünfte verweist als in der Parfümerieabteilung eines Kaufhauses: »Der Duft verbreitet sich in der Luft und entdeckt uns so die Existenz der Atmosphäre. Indem wir den Duft gewahren, nehmen wir an der Atmosphäre teil.« 58 Dieses Teilnehmen basiert – nicht erst im Bereich der Gerüche – auf keinem Wissen und auf keiner Gewissheit, sondern allein auf Vertrauen als ein »Annehmen von ›Wahrheit‹« 59. Die Gerüche haben eine suggestive und immersive Macht, der man sich nicht entziehen kann wie einem Argument. Dabei spielt es eine bedeutungsvermittelnde Rolle, ob in einer romantisch verklärten Situation von der Blüte einer Rose eine Wirkung ausgeht oder von Dreck und Müll, der zum nüchternen Gegenstand der Entsorgung geworden ist. In Ergänzung der Überlegungen zum Wechselwirkungsverhältnis zwischen Einzelnem und einem rahmenden Ganzen (s. Kapitel 2.3.3) steht auch ein Hinweis von Volkelt zur Erlebnisweise der Gerüche. Darin macht er auf einen Synthese-Effekt aufmerksam, wonach von den sogenannten »niederen« Sinnen Wirkungen auf Eindrücke ausgehen, die wir über die höheren Sinne (sehend und hörend) erfahren. So merkt er an, »daß im Reiche des Sinnlich-Schönen sich die niederen Sinnesempfindungen, besonders Gerüche, gern den höheren Sinneswahrnehmungen hinzugesellen.« 60 Auch damit stellt sich noch einmal heraus, dass ein noch so konkreter Geruch nur scheinbar etwas Einzelnes ist. Wenn er auch in seinem atmosphärischen Charakter unteilbar ist, so kann er doch nicht wie ein gesprochenes Wort oder ein zur Vereinzelung fähiger Gegenstand »bei sich« bleiben. Er geht in einem Größeren auf, das Volkelt bei einem Gegenstand sieht. Gleichwohl meinen wir einen Geruch als »Dieses« identifizieren zu können. Wenn in der Mikrologie auch von einem beißenden Geruch die Rede ist, so gehörte dieser doch von Anfang an zur Szene des verschwindenden Marktes, jenem relationalen Ganzen, auf das alles Einzelne (im Sinne segmentierbarer Situationen) bezogen war. Abschließend muss eine transversale Funktion angesprochen werden, die sich mit dem Erleben von Gerüchen verbindet. Hierbei 58 59 60

Ebd., S. 47. Ebd., S. 51. Volkelt, System der Ästhetik, Zweiter Band, S. 234.

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geht es nicht um Synthesen zwischen dem auf sinnlich unterschiedliche Weise Vernommenem. In den Fokus rücken nun mehr epistemische Beziehungen zu dem, was uns etwas sagt, das im Medium der Gerüche 61 zudringlich wird. Gerüche sind Botenstoffe, die etwas über eine unsichtbar anwesende Welt mitteilen. Die Markt-Gerüche teilen etwas ganz anderes mit als Gerüche von Ölen, Schmierstoffen und warmgelaufenen Motoren, die man in einer Autowerkstatt vernehmen kann. Auf eigene Weise bauen sie Brücken in eine Welt der Vorstellungen und Phantasien. Auf dem Markt bringen die sinnlichen Eindrücke einer exotisch riechenden Frucht etwas Fremdes affektiv nahe, das wir mit einer räumlich entfernten Welt der Tropen oder Subtropen in Beziehung bringen. Solche transversalen Überbrückungen können keine Wahrheit beanspruchen; sie bewegen sich im Medium des Assoziierens, Erinnerns und Imaginierens und sind an keine Instanz der Wahrheitsprüfung gebunden. Die Gerüche eines Marktes vermitteln etwas atmosphärisch »Flirrendes«, das in seiner Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit einen (großen) Markt ästhetisch gerade so attraktiv macht. Sie können deshalb auch als atmosphärische Weichen verstanden werden (s. dazu auch Kapitel 2.3.13 bis 2.3.16).

2.3.5 Klangräume Märkte sind keine Ruhezonen. Auch die auf die Vielstimmigkeit des Groninger Marktes verweisende Beschreibung zeigt, inwieweit die Rahmensituation des »ganzen« Marktes ein pluraler sinnlicher Raum – und darin ein klanglicher – ist. Die Hervorhebung seiner Lautlichkeit impliziert indes eine gewisse Quadratur des Kreises, denn in der mehrdimensionalen und mannigfaltigen »Welt« des Marktes kann es keine für sich bestehenden sinnlichen Erlebnis-»Provinzen« des Hörens, Sehens, Tastens oder Riechens geben, die getrennt nebeneinander liegen. Jede Separierung einzelner sinnlicher Eindrücke spiegelt deshalb die Einnahme einer analytischen Perspektive wider. 62

Zu den Gerüchen im sinnlichen Erleben vgl. auch Hasse, Fundsachen der Sinne, Kapitel 2.1.4. 62 Dies gilt genauso für die schon oben diskutierten »Bewegungsräume« und »Geruchsräume« wie für jede noch folgende Segmentierung von Eindrücken aus einem ganzheitlichen Prozess leiblicher Kommunikation. 61

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Im Erleben, und selbst in der (Simmel’schen) Perspektive einer Soziologie der Sinne, ist die Unauflösbarkeit, in dem sie einen Zusammenhang bilden, evident. Neben anderen hob auch Georg Simmel eine »praktisch eigentlich unentwirrbare« 63 Simulaneität der Sinne hervor. Helmuth Plessner sprach von einer »umfassenden Einheit« der Sinne sowie ihrer »Einbettung in den Gesamtorganismus« 64. Dabei betonte er – entgegen neuzeitlich-konstruktivistischer Dogmen – die in diesem »Organismus« wirksame »Verschränkung von Körper und Leib« 65. Es ist aber nicht zu bestreiten, dass es – trotz aller Simultaneität der Sinne – Eindrücke gibt, die im Prozess der Wahrnehmung gleichsam von selbst herausgehoben werden. Das illustriert die Mikrologie ganz eindrucksvoll – neben den Gerüchen auch – für die Geräusche. Der Markt bringt sich in Vielem seiner aktuellen Seinsweise auch (zudem in einem synästhetischen Sinne) lautlich zur Geltung. Deshalb verlangt auch die folgende phänomenologisch vertiefende Durchquerung der Mikrologie zur Situation eines zu Ende gehenden Marktes immer wieder die fokussierende Segmentierung gehörter Eindrücke; dabei wird sie indes auf das »Große und Ganze« des Marktgeschehens bezogen bleiben müssen. Lautliche Mannigfaltigkeit Die in vielperspektivischer Hinsicht große Lebendigkeit des Groninger Wochenmarktes hatte auch in ihrer Lautlichkeit ein facettenreiches Gesicht. Dieses ging in einer »chaotischen Mannigfaltigkeit« der Eindrücke auf. Als »chaotisch« ist diese Mannigfaltigkeit insofern anzusehen, als der ganzheitliche Zusammenhang, von dem hier die Rede ist, hintergründig ist und sich dem schnellen, vornehmlich in der Erfassung von Selbstverständlichem geübten Blick entzieht. 66 Im sozialen Milieu des Marktes waren es auch die lautlichsprachlichen Äußerungen von Standbetreibern, die im Meer der atmosphärisch verschwimmenden Stimmen als markttypisch erlebt wurden. Mal verschwammen sie zu einem symmetrischen, mal asymmetrischen Klanggebilde. Die chaotische Mannigfaltigkeit der Simmel, Soziologie der Sinne, S. 138. Plessner, Gesammelte Schriften, Band III, S. 384. 65 Ebd., S. 385. 66 Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 67 f. Auf ihrem phänomenologisch gleichsam »autopsierbaren« Hintergrund werden solche Situationen durch Sachverhalte, Programme und Probleme zusammengehalten. 63 64

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Marktsituation spiegelt sich auch in den »Farben« wider, in denen die Menschen da waren – in Gestalt von Tonalität, Frequenz und emotionaler Gestimmtheit. Die Stimme einer jungen Frau klingt anders als die eines alten Mannes, die einer kreischenden Frau anders als die eines grölenden Mannes usw. Die vielen Stimmen repräsentieren als Ausdrucksspuren gelebten Lebens auch mannigfaltige Geschichten, die sich an mikrologischen Orten des Marktes ereignen. Immer geschieht an einem Gemüse-, Käse- oder Fischstand etwas Unverwechselbares. Im hörenden Raumerleben aktualisiert sich die oben geführte Diskussion zum Verhältnis von Einzelnem und Ganzem. Die Hinweise auf Stimmen, die – wie die der Fischverkäufer – nicht nur in ihrer Lautstärke, sondern auch in ihrer Eigenart aus dem Geräuschteppich des Marktes herausragten, illustrieren, in welcher Weise noch die Gestimmtheit der Stimmen durch ein Ganzes disponiert ist. Die lauten Rufe einzelner Händler hatten sich ja erst auf dem Hintergrund eines Meeres weniger lauter Stimmen als anders zu hören gegeben. In ihnen kamen letztlich Programme zum Vorschein, über die die Händler sich mit der spezifischen Situation des Marktes synchronisiert haben. Deshalb bedeutet das lautliche Herausragen einzelner »marktschreierischer« Stimmen auch weit mehr als nur eine beliebige Variation dessen, was in der Zeit eines Marktes immer vor sich geht. Die Verkäufer und Verkäuferinnen wurden ja nicht überdurchschnittlich laut, um in der Sache ihrer Rede besser verstanden zu werden, sondern weil sie – im Sinne eines Kampfes um Aufmerksamkeit – im atmosphärischen Milieu des Marktes auf eindringliche Weise präsent sein und wahrgenommen werden wollten. »Stimmen sind atmosphärisch wie Sturm und Kälte« sagt Erwin Straus. 67 Für das Erleben von Klang- und Geräuscheindrücken gilt in ähnlicher Weise, was schon für das Geruchserleben ausgeführt wurde: »Die sinnliche Wirklichkeit kennt keine Prüfung und Beweise; es genügt, daß ich mich betroffen fühle.« 68 Damit spielt Straus auf die affektiv berührende Macht menschlicher Stimmen an. In »ansprechenden« Affizierungs-Programmen dürften auch die werbenden Rufe mancher Fischhändler begründet gewesen sein, die ein evidentes Interesse an der Beschleunigung des Verkaufs schnell verderblicher Straus, Die Ästhesiologie und ihre Bedeutung für das Verständnis der Halluzinationen, S. 268. 68 Ebd., S. 241. 67

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Waren gehabt haben dürften. Dass am Ende der Marktzeit auch die anderen Händler ihren Stimmen hörbaren Nachdruck verliehen, lässt vermuten, dass sie ihre Waren lieber (zu) billig verkauft als wieder abtransportiert hätten. Ein charakteristisches Merkmal der Performativität von Märkten liegt auch darin, dass das Risiko, auf Resten sitzenzubleiben, in einem Konzert Gleich-Lauter allzu groß erscheinen mag. Es gehört zur zeitlichen wie rhythmischen Theatralität eines Marktes, dass an dessen Ende vieles anders ist als zu seiner mittäglichen Hochzeit. Und so reihte sich auch die anders gestimmte Atmosphäre immer lauter rufender Verkäuferinnen und Verkäufer in die Choreographie des seinem Ende entgegengehenden Marktes ein. Eine besondere Aufmerksamkeit widmet die Mikrologie den Abweichungen vom Programm des Marktes in Gestalt zweier musikalischer Darbietungen (s. Kapitel 2.3.6). Das Beispiel der »schrägen« Situierung von Musikern auf einem Markt macht auf die generelle Bedeutsamkeit der Situiertheit von allem aufmerksam, was auf einem Markt in Atmosphären gleichsam »eingewickelt« ist. Deshalb lässt sich das Hörbare auch nicht auf akustische Quantitäten reduzieren. Auch das »eigentlich« laut Vernehmbare kann je nach seiner Situierung in einer umgebenden Geräuschkulisse »untergehen«. Dies zeigt das Beispiel des geräuschvoll klappernd wie scheppernd vor sich gehenden Abbaus eines Piaggio-Wagens, dessen Betreiber den Verkauf von Kaffee noch zur Zeit des vitalen Marktgeschehens einstellte. Die Frage des Hörens beschränkt sich nicht auf ein Hören-Können dessen, was laut genug ist, um gehört werden zu können. Was man wie hört, ist nicht zuletzt von der Situierung eines Geräusches sowie des Hörbaren abhängig. So wurde von den umherlaufenden Menschen der laute Abbau des Wagens über-hört, weil er aus dem aktuellen Marktprogramm in gewisser Weise herausgefallen war. Wie jede Wahrnehmung, so wird auch das Hören nach der »Körnung« von Bedeutungen gefiltert, die situativ verwurzelt und durch Protentionen disponiert sind. In gewisser Weise »reinigt« die sich an Bedeutungen orientierende Wahrnehmung ihre Eindrücke im Sinne einer Homogenisierung des Erlebten nach situativer Kompatibilität. Geräusch – Klang – Ton Spätestens an dieser Stelle reklamiert sich aus phänomenologischer Sicht die genauere Bestimmung dessen, was sich mit dem Begriff des »Hörbaren« ansprechen lässt. Nach Hermann Schmitz unterscheidet 149 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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»sich das Hören von Tönen und Klängen phänomenologisch so tief vom Hören von Geräuschen, daß die Zusammenfassung beider Wahrnehmungsweisen unter dem Titel des Hörens problematisch wäre, wenn es um mehr als eine denominatio extrinseca ginge.« 69 In der Tat ist der Bereich der akustischen Eindrücke nicht nur äußerst vielfältig, sondern ebenso heterogen. Schon in etymologischer Hinsicht liegt die Unterscheidung von Geräusch zum einen und Klang sowie Ton zum anderen nahe. Dabei steht das Geräusch in seiner lautlichen und undifferenzierten Qualität am ehesten noch dem Schall nahe. Deshalb versteht man »Getöse, Lärm, Schall irgend welcher Art und Stärke« 70 auch als Geräusch. Es steht somit in einem »Gegensatz zum Klang, zum wohllautenden musikalischen Ton« 71. Das Geräusch hat eine gewisse Nähe zum chaotischen »Tönen«; ein Geräusch ist im Allgemeinen (von »akustischen« Kunstinterventionen abgesehen) nicht nach ästhetischen Regeln gegliedert. »Was unterscheidet das bloße Geräusch, das man nur angenehm nennt, von dem musikalischen Ton, den man schön nennt?« 72 Die in der Mikrologie explizierten Eindrücke illustrieren, inwieweit Klänge und Töne etwas anderes sind als Geräusche. Beide Arten und Weisen des Lautlichen tragen das Ihre zu je spezifischen Atmosphären bei – die Töne und Klänge des Klaviers ganz anders als die Geräusche der vom Himmel über den aufgehäuften Müll herfallenden Möwen. Sobald Töne und Klänge nicht mehr Dieses oder Jenes zu verstehen geben, gehen sie in einer ungeordneten Geräuschkulisse von allem möglichen unter, das man hören kann. Störende Geräusche übertragen sich in ein Gefühl der Enge des Leibes 73 und die als angenehm empfundenen in ein Gefühl der Weite des Leibes. Deshalb verlangen die Geräusche eine differenzierte Betrachtung im Hinblick auf ihre Situierung. Zur Geräuschkulisse des Marktes gehörte in der Mikrologie neben den vielen Stimmen auch eine unbestimmte Vielfalt im Allgemeinen hintergründiger Geräusche, die jedoch im aktuellen Markterleben in einer gewissen Klanglichkeit aufgingen. Mit anderen Worten: Zum Markt gehört ein charakteristischer Klang, mehr noch

69 70 71 72 73

Schmitz, Band III, Teil 5, S. 18. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 5, Sp. 3583. Ebd., Sp. 3584. Ebd. Vgl. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 135 f.

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eine Klanglandschaft oder eine Klangfarbe, die zur Situation eines Marktes – wie er gerade »ist« – passt. So konnte der Marktbetrieb auch so lange als störungsfrei (und »normal«) erlebt werden, wie die vom beginnenden Abbau erster Marktstände ausgehenden Geräusche in der Aufmerksamkeit der Marktteilnehmer keinen Raum einnahmen, weil der Handel atmosphärisch weiterhin bestimmend war. Der Markt wurde als ein kontinuierlich fortgesetztes Geschehen erlebt, obwohl doch neben der Virulenz in einem »Vorne« seine Demontage in einem »Hinten« bereits vorangeschritten war. Das Hintergrundgeräusch des noch florierenden Marktes hatte den klanglichen Charakter eines lautlichen »Bildes«, das den Protentionen einer vitalen Marktlebendigkeit stärker entsprach als das, was in der fokussierten Aufmerksamkeit gegenüber einem beginnenden Phasenwechsel in den Blick gekommen wäre. Der »Lärm« der Abbaugeräusche sollte die Atmosphäre des Marktes eindrucksmächtig erst dann bestimmen, als er so laut wurde, dass er die RaumZeit des vitalen Milieus hinter der des Abbaus zurücktreten ließ. Auch dann präsentierten sich die hörbaren und durchaus lärmenden Geräusche aber nicht nur als eine amorphe Geräuschkulisse, sondern als etwas Gestalthaftes. Die zahlreichen Hinweise auf ganz bestimmte Familien demontagespezifischer Geräusche hatten darauf verwiesen. So ging letztlich der Geräusch-Charakter des Lärmenden in die Gestalt des Hörbildes einer neuen Klanglichkeit auf, die im Erleben der veränderten Situation des Marktes entsprach. Nachdem die Aktivitäten des Räumens und Verschiebens schwerer Gegenstände schließlich alles zu übertönen begonnen hatten und die Männer laut pfeifend gegenwärtig (und nicht mehr mit der Anpreisung ihrer Waren beschäftigt) waren, behauptete sich eine gleichsam neue Atmosphäre des sich auflösenden Marktes. Wenn dennoch letzte Verkaufsaktivitäten fortgeführt wurden, so waren sie nun nur noch in der Nähe dieser Orte hörbar und nicht mehr als lokale Melodien eines großen klanglichen Markt-Konzerts. Auch der Ton gehört zunächst (als Dröhnen, Donnern oder einfaches Ertönen von allem möglichen) in die Kategorie der Geräusche: »Ton ist das ›Geräusch‹ und der ›Schall‹ im Allgemeinen.« 74 In diesem Sinne erzeugen der Wind wie der Donner oder der Schuss jeweils charakteristische Töne. Der Ton des Getöses kann ebenso ein Ge74

Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 21, Sp. 687.

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räusch sein wie ein starkes heftiges Tönen. 75 Wann ein Ton als Geräusch erlebt wird oder als etwas, das eher einem Klang zugehört, entscheidet sich nicht an (messbaren) Laut-Stärken, sondern wiederum an Situationen. So bestehen die Abräumgeräusche am Ende des Marktes aus einer Unzahl einzelner schallender Töne, die sich aber immer nur in ihrer Vermischung mit anderen im Geräuschteppich des zu Ende gehenden Marktes zu Gehör brachten. Zur Situiertheit des Hörens Wenn etwas Hörbares als Einzelnes beeindruckt, überzeugt es als Ton oder Tönendes. Wird es dagegen als nur vorscheinendes Element eines amorphen Durcheinanders vernommen, geht es gleichsam augenblicklich in einem Geräuscheindruck unter. Was als segmentierter Ausdruck eines übergreifenden Ganzen erlebt wird, beeindruckt innerhalb einer Klanggestalt. Darin verwobene Töne werden dann als Ausdruck eines Ganzen gehört. Die Töne bieten sich auch deshalb der hörenden Isolierung an, weil wir einen Ton (gleichwohl wiederum synästhetisch) als hell, dumpf, süß oder rau empfinden können. Auch Schmitz spricht von »Einzelgeräuschen«, die »deutlicher hervortreten und eventuell als Indizien dienen« 76 können. In der Beschreibung des Groninger Marktes summierten sich unendlich viele Töne zu Klanggestalten, die als Klangbilder je aktueller Situationen des Marktes erlebt wurden. Und noch das am Ende des Marktes sich zuspitzende und lautlich verdichtende Lärmen zahlloser Abbau- und Transport-Geräusche war nie einfach nur eine Geräusch, sondern als überaus lautes Getöse und Getöne noch ein atmosphärisch in sich stimmiges »Konzert«. Im Hinhören auf die Situation des zu Ende gehenden Marktes beeindruckt zum einen das Geräusch seiner aktuellen Situation, zum anderen jedoch zugleich der Krach »im Einzelnen« (als lautes Scharren, Quietschen, Poltern, Rauschen, Donnern, Scharren, Prasseln, schmierendes Schleifen, Klacken 77, Zuschlagen von Autotüren, Anlassen und Tuckern von Fahrzeugmotoren etc.). Hermann Schmitz merkt an, dass im Geräusch »bestimmte Situationen […] als CharakEbd., Sp. 689. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 135. 77 »Klacken« bedeutet so viel wie »schallendes Hinfallen«, Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 11, Sp. 891. 75 76

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tere von Dingen wahrgenommen werden« 78. Töne und Klänge sieht er damit eher auf der Seite der Situationen und weniger auf der der sie erzeugenden Dinge. Die lauten Marktgeräusche beeindrucken in der Phase des zu Ende gehenden Marktes in einem doppelten Sinne. Zum einen gehen sie in ihrer Tonhaltigkeit von klar identifizierbaren Dingen (fallenden Kisten, laufenden Motoren etc.) auf. Zum anderen gehören diese Töne aber auch zu einem geräuschhaften Lärm, der wiederum als klangartiges Gebilde wahrgenommen werden kann. Deshalb hat die Situation des dahinscheidenden Marktes am frühen Abend auch ihren ganz eigenen atmosphärischen »Klang«. Ein endender Markt »klingt« nicht wie ein vitaler Markt. Er klingt wie etwas, das schon fast vorüber ist, aber doch noch letzte Spuren einer warmen Markt-Geschichte freisetzt. So fädelt sich auch das Geräusch der schreienden Möwen, die über die herumliegenden Reste herfallen, in den finalen Klang dieses Ortes ein. Das hörbare Auftauchen der Vögel stellt sich als etwas Er-Tönendes dar, als Nachklang des Marktes, zugleich aber auch als Vorklang seines Endes. Wie sich in der Mikrologie die Geräuschkulisse als Ausdruck einer Marktsituation darstellt, so drücken viele großstädtische Geräusche das widersprüchliche urbane Klangbild (zu einer Zeit) aus. Das Durcheinander des Hörbaren – in dem nicht intentional hergestellte Geräusche bestimmend sind – wird dann als Ausdruck der Atmosphäre urbaner Lebendigkeit erlebt. Als Resonanz gelebten Lebens ist die Vielfalt dieser »Töne« vom Charakter der Geräusche weit entfernt. Wie die Beschreibung des Groninger Marktes zeigt, häuten sich diese in aller Regel zu situativen Klängen. Auf der Maßstabsebene der ganzen Stadt ist das grundsätzlich nicht anders. Über die Zeit des Baus der New Yorker Hochbahnen in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts schreibt Lewis Mumford: »In den Pausen zwischen dem Donner der Hochbahn klang das gelegentliche Läuten der Kuhglocke eines Lumpensammlers aus einer Seitenstraße oder das feierliche ›Alte Kleider, alte Kleider‹ eines Kleiderhändlers fast idyllisch, während Carmen, auf der Handdrehorgel eines Italieners, etwas in das Grau mischte.« 79

Das meist hintergründige Ganze, das den Klang vom Ton wie vom Geräusch abhebt, bringt sich in einer ganzen Reihe von Metaphern 78 79

Schmitz, Band III, Teil 5, S. 156. Mumford, Megapolis, S. 37.

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zur Geltung: dem sprichwörtlichen »Klang der Waffen« 80 (als Vorklang eines ruhmreichen Sieges oder blutreichen Verlustes). Auch abgeleitete Wörter wie »Einklang, Wohlklang, Missklang, Gleichklang, Ausklang« oder »Zauberklang« 81 verweisen mit symbolischem Nachdruck auf ein Ganzes, das völlig verschiedener Art sein kann; darin spielt das Klingende als etwas Akustisches aber keine oder bestenfalls eine marginale Rolle. Am Schluss der Mikrologie des Marktes unterstreicht das Auftauchen der städtischen Reinigungsfahrzeuge einen sichtbaren wie hörbaren Ausklang, denn nach dem Abzug der roten Sauger, Feger und Reiniger war der Markt gleichsam spurlos verschwunden. Dieser Ausklang drückte sich in lauten bis lärmenden Geräuschen aus. Holzpaletten, leere Behälter und Reste zerbrochener Bretter wurden in die Kippe der Müllwagen geworfen. Das hörbare Hochdruck-Spritzen der Wasserwerfer, die das Pflaster zischend mit einem nassen Reinigungsfilm überzogen haben, – dies war im wörtlichen Sinne das »Letzte«, was auf diesem Markt-Platz geschah, bevor er wieder der leere Vismarkt war. Wenn Simmel darauf hinweist, dass das Lautliche dem ihm zugehörigen Geschehen in ganz anderer Weise anhaftet als das Sichtbare, 82 so kommt darin mehr ein Wechselwirkungsverhältnis zwischen Sichtbarem und Hörbarem zur Geltung als nur eine Differenzierung. Schon jene eindrucksvollen Bilder aus der frühen Geschichte der Fotografie, die das Leben an konkreten städtischen Orten »fixiert« haben (zum Beispiel in John Thomsons Projekt Street-Life in London 83), sind letztlich nie »stumm« geblieben. In der Aura mancher Bilder setzen sich – weit über das nur Visuelle hinaus – atmosphärische Erlebnisqualitäten situativer Orte fest. 84 Solche ganzheitlichen »Epi«-Präsenzen eines Ortes sprach Lewis Mumford mit der Metapher der Farbe der Stadt 85 an. Das im Bild sichtbar Gemachte bildet Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 11, Sp. 947. Ebd. 82 »Eine soziologisch höchst zweckmäßige Ausgleichung dieser Leistungsdifferenz der Sinne liegt in der sehr viel stärkeren Erinnerungsfähigkeit für das gehörte gegenüber der für das Gesehene«; Simmel, Soziologie der Sinne, S. 141. 83 Thomson, Street-Life in London. 84 Vgl. dazu Hasse, Der Leib der Stadt, Kapitel 4. 85 Mumford, Megapolis, S. 35. Schon bei Ernst Cassirer kommt der Begriff der »Farbe« in einem ähnlichen synästhetischen Sinne vor. So versteht er den Ausdruckscharakter als »die ursprüngliche Farbe der Realität [], die sie erst zu einer Wahrnehmung von Wirklichkeit macht«; Cassirer, Gesammelte Werke, Band 13, Dritter Band, S. 81 f. 80 81

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eine Brücke ins atmosphärische Nach-Spüren dessen, was sich in Gestalt von Gerüchen, Klängen, Tönen und Geräuschen der Stadt dem visuellen »Bild« im engeren Sinne entzieht. Dennoch bleibt die leiblich spürbare Essenz allen Ertönens und Erklingens in einer strukturellen Abwesenheit gefangen.

2.3.6 Musik und Atmosphäre Die Frage der Beziehung zwischen Ton und Klang spitzt sich in der ästhetischen Verfremdung typischer Marktatmosphären durch informelle Musikaufführungen zweimal zu. 86 Die beiden Szenen (im Sinne von Schmitz »segmentierte Situationen«) haben sich in ihrem je eigenen situativen Rahmen unterschieden. Ich werde im Folgenden zunächst das melodische Klavierspiel am Nachmittag zum Anlass einiger Überlegungen nehmen und danach die Jazzimprovisation des frühen Abends ansprechen. Beide Darbietungen verlangen in ihrer Unterschiedlichkeit wie in ihrer Synchronisierung mit der jeweiligen Situation des Platzes eine zumindest knappe Reflexion. Gemeinsam ist ihnen eine atmosphärische »Rauigkeit« gegenüber dem Programm des Marktes; in gewisser Weise sind sie – obwohl sie wie der Markt im öffentlichen Raum stattfanden – aus dem Erwartungsspektrum dessen ausgeschert, was man aus lebensweltlicher Erfahrung auf dem Platz eines Marktes erwartet. Schon das nachmittägliche Klavierspiel gefälliger Rhythmen führte zu einer exotisierenden Verfremdung. Zur Infra-Normalität eines Wochenmarktes gehören keine musikalischen Darbietungen am Klavier, keine konventionellen und erst recht keine experimentellen. Dennoch sollte sich das performative Intermezzo in die Atmosphäre des Marktes einfügen. Die Inszenierung konnte von der ästhetischen Spannung der Ecke des Platzes profitieren und die Aufmerksamkeit der Menschen binden. Seine situative »Passung« verdankte das Spiel vor allem seinen harmonischen Rhythmen, die den »gemütlichen« Habitus des unaufgeregten Markt-Spektakels in geAm Beispiel der Musik führt Schmitz (mit Friedländer) den »Unterschied zwischen Tönen und Geräuschen darauf zurück, ›daß wir gewöhnt sind, bei der Musik auf die Eigenschaften der Töne selbst zu achten und im allgemeinen nicht so sehr auf die sie erzeugenden Instrumente, wohingegen bei Geräuschen sich unser Interesse nicht dem meist wenig erfreulichen Sinneseindruck, sondern in der Regel seinem Erzeuger zuwendet.‹«; Schmitz, Band III, Teil 5, S. 214.

86

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wisser Weise zum Klingen brachten. Das Spiel bedeutete keine Irritation im Nervenleben der Marktbenutzer, geschweige denn eine Provokation. Es war Resultat gelungener »Einstimmung« eines jungen Pianisten auf die aktuelle Atmosphäre eines Raumes. Dabei dürften vorübergehende und sich aufgeschlossen zeigende Passanten vor allem an den melodischen Klanggebilden Gefallen gefunden haben. Der Pianist verstand es, die aktuelle Atmosphäre des Marktes, zu der sein Spiel passen sollte, ästhetisch intuitiv zu erfassen. Aber es war auch der Klang dieses Instruments, der schon a priori ein zugeneigtes Interesse der Markt-Passanten erwarten lassen durfte. Diese GrundAttraktivität des Klaviers lag nicht nur am Spiel des Pianisten, sondern auch am Klang-Charakter des Instruments, das sich eher in die aktuelle Situation einfügen konnte als manch anderes – man denke zum Beispiel an die je eigene Ästhetik von Trommel, Bass oder Mundharmonika. 87 Vor allem für Solopräsentationen bieten sich – je nach Art der Situation, in die ein Spiel hineinpassen soll – einige Instrumente eher an, während andere recht ungeeignet sein dürften. Atmosphären des Klanglichen haben wenig mit Geräuschqualitäten gemeinsam. So eignet einem bestimmten Instrument ein Spektrum möglicher Atmosphären, die seinen Einsatz in einer Situation prädestinieren. Mit seiner spezifischen Klanglichkeit verbinden sich wiederum eigene ästhetischen Ordnungen, denen die Töne folgen, sodass sie schließlich situationsgemäß klingen und »auf das Gemüt« 88 der Menschen wirken. Deshalb achten wir auch weniger in einem nüchtern zuhörenden Sinne auf akustische Töne denn auf affizierende Gefühls-Töne. Im »dumpfen Ton der Sterbeglocken« 89 bringt sich die affizierende Macht der Klänge in (sepulkralkulturell) ganz eigener und anderer Weise zur Geltung als in den reißenden arhythmischen Tonfolgen des Free-Jazz. In vielen Bereichen des Lebens ist das KlangSo ist die Rede vom Glockenklang, Lautenklang, Posaunenklang oder vom »Klang der Harfe«, vom weichen »Klang der Flöte«, dem hellen »Klang der Hörner«, dem dumpfen »Klang der Trommeln« und dem rauschenden »Klang der Tanzmusik«; Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 11, Sp. 946. Den »rauschenden Klang der Tanzmusik« könnte man im vorschnellen Urteil unter die Geräusche subsumieren; aber das würde dem atmosphärischen Gehalt dieses situativen Rauschens nicht gerecht, ist es doch nicht dasselbe wie das nichts bezweckende Rauschen des Windes, sondern vielmehr ein Rauschen, das als Rhythmus die Tanzenden erfassen und eine Stimmung evozieren soll. 88 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 21, Sp. 693. 89 Ebd., Sp. 700. 87

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erleben kulturell disponiert, nicht deshalb in Gänze aber auch schon vorkonstruiert. Bestimmte Klangfolgen werden schließlich nach erreichtem »Sozialisations-Erfolg« durch Übung und Gewöhnung als angenehm (als etwas leiblich tendenziell Weitendes und darin Beruhigendes) erlebt, andere bleiben fortan (als etwas leiblich tendenziell Engendes und darin Schmerzhaftes) »das« Unangenehme schlechthin. Neben dem Klang der Instrumente spielte die Art seiner Bespielung eine atmosphärisch entscheidende Rolle. So gab der junge Pianist auf dem Markt harmonische Weisen zum Besten und nicht bizarr-frostige Klänge der Irritation. Er »wusste« offensichtlich aus einem ästhetischen Spürsinn, was er Passanten in dieser Situation schuldig war. Dabei kam es nicht nur auf den Ort des Marktes an sich an, sondern auf diesen mikrologischen Ort an einem seiner Ränder. Das Klavier stand ja nicht in der Mitte des Platzes, sondern auf der Ecke einer Randzone und damit in einem atmosphärischen Übergangsbereich, in dem die städtischen Rhythmen einen Wechsel erfuhren. Seichte Melodien hatten sich in besonderer Weise für die Implementierung in die performative Lebendigkeit des Marktes als geeignet erwiesen. Die Synthese zwischen dem atmosphärischen »Klang« des Marktes und dem Klang des Klaviers war stimmig. Schmitz versteht eine musikalische Klangfolge auch als »Gebärdenfigur«, die sinnlich als ein Volumen (im Sinne einer »Schallmasse« 90) gespürt werden kann. »Musik scheint in Bewegung zu sein; wir sprechen von steigenden, fallenden, kreisenden, vorwärtsdrängenden, stürmischen, trägen, langsamen, schnellen usw. Klangfolgen« 91. Auch Volkelt hob schon hervor, dass Musik Gefühls-Bilder vermitteln kann. Jedoch verstand er den Prozess der Gefühlsübertragung als »Einfühlung« und noch nicht in einem dialogischen Sinne wie Hermann Schmitz als »leibliche Kommunikation«. Johannes Volkelt sah das Produkt solcher Einfühlung in einer »Anregung unserer Phantasie zu Vorstellungen, die durch eine gewisse Ähnlichkeit mit den gehörten Klängen verbunden sind« 92. Im Fokus der Neuen Phänomenologie wären diese Übertragungen nicht als Phantasien zu verstehen, sondern als leibliche Eindrücke, die die Gefühle stimmen. 90 91 92

Schmitz, Band III, Teil 5, S. 39. Ebd., S. 37. Volkelt, System der Ästhetik, Erster Band, S. 117 f.

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Dem Erleben melodischer Musik stehen Menschen dann aufgeschlossen gegenüber, wenn sie sich selbst in einer Stimmung befinden, die dem Melodischen ästhetisch komplementär ist. Zum Harmonischen und Gemütlichen eines Raumes passt das Melodische, zum Aufgeregten und Hektischen eher das Arhythmische und Spitze. Am Abend hatte sich die Rahmensituation des Marktes von Grund auf verändert. Dieser Wandel hatte auch seinen Einfluss auf die möglichen Programme einer musikalischen Inszenierung. Die sanft-geschmeidigen Klänge des Nachmittags hätten sich der Atmosphäre des im Abbau befindlichen Marktes ästhetisch nicht mehr einfügen können. Die fortgeschrittene Demontage der Stände und Wagen bot keine beruhigende Atmosphäre mehr, sondern eine der Auflösung und des Formverlustes. Deshalb passten die Gebärdenfiguren von Jazzimprovisationen viel besser zur neuen Situation des dahinscheidenden Marktes. Auch die Ergänzung des Klaviers durch den Kontrabass folgte dem Vitalton eines sich spürbar im Umbruch befindlichen Milieus. Die immer wieder asymmetrisch und zerrissen wirkenden Jazzimprovisationen boten sich einer Rhythmik der Gefühle an, die weder durch raumzeitlich parallele Wohlgerüche frischer Mandeln und gebackener Fische gestimmt war noch durch das Bild gelassen über einen »gemütlichen« Markt flanierender Passanten. Der atmosphärische Raum hatte sich gehäutet. Er war nun durch laute Geräusche und Abbauaktivitäten erfüllt. Sein Bild war von herumliegendem Müll und Gemüseabfällen geprägt, fahler werdendem Licht, fühlbar absinkenden Temperaturen und einer sich allmählich ausbreitenden Leere des Platzes. Die Jazzimprovisationen stimmten sich in diese Situation des Übergangs ein, in der etwas ausklang, ohne dass etwas anderes schon angeklungen wäre. Mit anderen Worten: In dem, was auf diesem Platz geschah, wurde eine Schnittstelle in der RaumZeit des Marktes nicht nur sichtbar und hörbar; in der Synchronisierung der Atmosphären wurde sie im asymmetrischen Klang der Musik gleichsam schwingend auch spürbar. Die zugleich verlorene EckSituation der Musikdarbietung – durch den noch verlorener auf der Stange sitzenden Papagei zugespitzt – bekräftigte die atmosphärische Präsenz der transitorischen Situation des Platzes. Sofern im beiläufigen Eindruckserleben von Musik überhaupt von einem »Verstehen« die Rede sein kann (wenn zum Beispiel eine Klangfolge, Melodie oder ein Rhythmus als atmosphärisch angemessen empfunden wird), so doch nur im Sinne gefühlsmäßig intuitiven 158 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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»Verstehens«. Bezeichnend ist in diesem Kontext die Anmerkung in der Beschreibung der Mikrologie, wonach den Jazzklängen am frühen Abend eine unmittelbar »packende«, faszinierende und darin affizierende Wirkung zuerkannt wurde. Indes ist das, was diesen affizierenden Sog in seiner Binnenbedeutung ausgelöst hatte, weitgehend rätselhaft und gegenüber der Explikation in der wörtlichen Rede verschlossen geblieben. Musik spricht eher leiblich an, als dass sie die wörtliche Rede herausfordern würde. Schon Johannes Volkelt war sich darüber im Klaren, dass die Übertragung einer musikalischen Klangfolge in ein Gefühl keiner im engeren Sinne interpretativen Leistung bedurfte: »Ohne dazwischentretendes Bedeutungswissen hören wir aus einem Lied eine jubelnde, aus einem anderen eine entsagende Seele heraus.« 93 Indem er zusätzlich hervorhob, dass ein Klanggebilde »stoffliche Bedeutungsvorstellungen« 94 vermittle, rückte er eine leibliche Dimension des Erlebens in den Fokus und keine geistige oder gar intellektualistische Leistung des Verstehens. »In bedeutender Musik prägen sich Atmosphären, die Gefühle sind, für den Empfänglichen mit ergreifender Macht ab, aber Aussagen darüber, welche im Einzelnen es sind, bleiben merkwürdig unverbindlich, unsicher, unzulänglich.« 95

Was uns im Einzelnen an einer musikalischen Darbietung affiziert, entzieht sich der rationalen Einsehbarkeit. Musik ist von Anfang an (in der Produktion wie in der Rezeption) auf ganze, zusammenhängende und »akkordartige« 96 Gebilde angelegt. »In der Musik kommt es [das Gefühl, J. H.] als undurchschaubares Rätsel leibhaftig auf uns zu.« 97 Deshalb kommt ihr Ton 98 auch in besonderen, ausdrucksvollen Klangarten und Klangfarben 99 zu Gehör. Gerade die musikalischen Ebd., S. 169. Ebd., S. 118. 95 Schmitz, Band III, Teil 5, S. 259. 96 Willy Hellpach sprach die vieles Einzelne zu einem Ganzen zusammenfügende Funktion der Wahrnehmung mit dem Begriff des »Akkordes« an; vgl. Hellpach, Sinne und Seele, S. 64 f. 97 Schmitz, Band III, Teil 5, S. 260. 98 Erwin Straus hebt am Ton hervor, dass er im Unterschied zum räumlich ausgebreiteten Schall viel gerichteter sei: »Der Ton […] kommt auf uns zu, erreicht und erfaßt uns, schwebt vorbei, er erfüllt den Raum, gestaltet sich in einem zeitlichen Nacheinander«; Straus, Die Formen des Räumlichen, S. 146. 99 Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 21, Sp. 698, 700. 93 94

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Töne und zu Klanggebilden sich verbindenden Tonfolgen können auf synästhetischem Wege Gefühle wecken. Als »belebende, lockende, herzliche« oder als »anmutige, gute, fromme, unschuldige« 100 Klänge bergen sie schon im Moment ihres Erlebens Gefühle, die sich mit Atmosphären verbinden – oder von Stimmungen abgeschirmt werden. 101 Musik nimmt in einem eher verstärkenden als abschwächenden Sinne auf Stimmungen Einfluss. Beide Situationen der Mikrologie – die des melodischen Klavierspiels am Nachmittag wie die der Jazzimprovisationen am frühen Abend – illustrieren dies. Im Allgemeinen sah das für die Instrumentalmusik schon Joseph Jungmann in seiner Ästhetik. Als Jesuit war ihm daran gelegen, die Bedeutung des liturgischen Gesangs für die Vertiefung religiöser Gefühle herauszustreichen. 102 Dazu führte er das Beispiel des Einzugs eines Kardinals »in eine Kirche« 103 an. Das Erklingen der Instrumente – insbesondere der Orgel – habe situationsangemessen zu sein, weshalb »die Orgel in andächtiger und ernster Weise zu spielen sey« 104. Was Jungmann hier für die Liturgie sagte, ist im profanen Rahmen, in dem Musik als atmosphärisches Mittel der Intensivierung von Gefühlen eingesetzt wird, im Grunde nicht anders. Das Beispiel des Duos am Rande des Marktes illustriert das Prinzip in der Umkehrung. Musik wird hier nicht – wie beim Einzug des Kardinals in eine Kirche – in bestimmter Weise gespielt, um programmatisch eine Atmosphäre zu erzeugen; am Beispiel des Marktes folgte die Improvisation einer schon bestehenden Atmosphäre, die in gewisser Weise zu den arhythmischen Jazz-Klängen anregte. Medium der leiblichen Kommunikation der Musiker mit der atmosphärisch spürbaren Situation des Marktes waren die herumräumlichen Vitalqualitäten des Raumes (besonders die darin spürbaren Bewegungssuggestionen und Spannungen). Solche Eindrücke übertragen sich synästhetisch auf das rhythmische Empfinden. Synästhesien wirken aber nicht nur auf das scheinbar »passive« Hören von Musik, indem sich der »Hörer« in einen Rhythmus einfühlt. Ebenso spielen sie eine vermittelnde Rolle im aktiv gestaltenden ProEbd., Sp. 710. Von der Bedeutung der Töne als Ausdruck des Charakters einer Person oder ihrer aktuellen Stimmung (der Ton, in dem jemand spricht oder schreibt) kann hier abstrahiert werden. 102 Vgl. dazu Jungmann, Aesthetik, S. 792 ff. 103 Vgl. ebd., S. 828. 104 Ebd. 100 101

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zess der Produktion von Klangfolgen. Die leiblich gespürten Eindrücke ortsräumlicher Qualitäten werden dann in die Gestaltung eines klanglichen Ausdrucks übertragen. Deshalb merkt Volkelt an: Der »Rhythmus ist Ausdruck von Kraftbewegung, von regelmäßig fortschreitender Kräftegestaltung. Die Gehöreindrücke für sich allein würden dem Rhythmus kaum seinen ausgesprochen dynamischen Charakter zu geben vermögen. Dieser scheint nur durch die Hinzugesellung von Spannungs- und Bewegungsempfindungen möglich zu sein.« 105

Über die Funktion der Synästhesien sagt Volkelt im Kontext der »Bewegungsempfindungen«: »Den Tonempfindungen gesellen sich Bewegungsempfindungen zu, die zu solchen Bewegungsentladungen gehören, die mit den vernommenen Tonfolgen eine unverkennbare Analogie aufweisen.« 106

Diese zwischen dem Rhythmus einer Klangfolge und einem darin zum Ausdruck kommenden Gefühl gleichsam gespürten Analogien versteht er als »stimmungssymbolische Illusion« 107. Damit entfernt er das Fühlen vom Leib und macht es als etwas Geistiges zu einer Sache des Denkens. Bei Schmitz bleibt dagegen, was die Bewegungssuggestionen übertragen, im Bereich spürbarer affektiver Selbstgewahrwerdung und bedarf nicht erst der intellektualistischen Prüfung seiner Existenz, um als etwas anerkannt werden zu können, das das momentane Befinden stimmt. »In der Tat drängen diese Bewegungstendenzen, die nicht Bewegungen sind, sondern solche ankündigen, aufdrängen oder nahelegen, der Musik die motorischen und dynamischen Züge ein« 108.

Beide Beispiele zur Implementierung spontaner Musikinszenierungen in einem im Prinzip für die Darbietung von Musik nicht prädestinierten Raum haben diese atmosphärische Dynamik illustriert. Der mimetische Bezug der Musiker zu den sie umgebenden Atmosphären hat gezeigt, was uns im Schlaf des Alltäglichen entgeht: Atmosphärische Räume wirken mehr unbemerkt als bewusst auf das individuelle So- und Da-Sein ein, wie sie das ästhetische Ausdruckshandeln disponieren. 105 106 107 108

Volkelt, System der Ästhetik, Erster Band, S. 276. Ebd., S. 290. Ebd., S. 299. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 38.

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2.3.7 Eckräume Die Identifizierung von Ecken setzt einen Maßstab voraus, in dessen Dimensionen eine bestimmte räumliche Form überhaupt erst zu einer Ecke wird. Ecken, die im Maßstab 1:1 in ausgeprägt spitzer Form erscheinen, können sich in einem kleineren Maßstab (zum Beispiel 1:100) in einer unregelmäßigen Linie verlieren. Wenn hier von Ecken die Rede ist, so sind Orte auf dem Marktplatz gemeint, die sich aus der Perspektive der eigenleiblichen Bewegung im Raum des Marktes im alltagssprachlich engeren und weiteren Sinne als Ecken darstellen. Damit kommen auch solche in Betracht, die in einem metaphorischen Sinne den atmosphärischen Charakter einer speziellen »Gegend« haben. In der Mikrologie weckte der im letzten Kapitel diskutierte Ort der Musikdarbietungen eine besondere Aufmerksamkeit. Diese fand statt an einer Stelle im offenen Raum des Draußen, gleichsam »zwischen« der Ecke des Platzes und der des signifikanten und historischen Eckgebäudes Café de Beurs (s. Kapitel 2.21). 109 Zwar hatte es offensichtlich praktische Gründe, dass die Musik-Events auf einer bzw. dieser Ecke stattfanden und nicht an irgendeinem Platz auf dem Markt oder an einem seiner Ränder. Üblicherweise steht das Klavier im Café de Beurs; für den aktuellen Zweck wurde es in den öffentlichen Raum hinausgetragen. Auch deshalb stand es in unmittelbarer Nähe zum Eingang des Cafés. So konnte es in einer ganz spezifischen Eck-Situation im Raum zur Geltung kommen. Zunächst unterscheidet sich der Raum der Ecke vor dem Café schon dadurch vom offenen Raum des Platzes, dass hier das Marktgeschehen endet und das gewöhnliche Treiben im öffentlichen Stadtund Straßenraum beginnt. Die historische Situation des Eckhauses und seine bauliche Physiognomie verleihen dem Raum eine städtische Note. So ist die tatsächliche Ecke zugleich eine metaphorische Ecke. In ihrer Lebendigkeit beeindruckt zunächst ihr urbaner Charakter in Gestalt sich überlagernder, vielgestaltiger und heterogener Ereignisse. Auch der Einblick in zwei enge Gassen, die sich an der Front des Eckgebäudes gabeln, verbildlicht die Situation des mehrfachen Überganges. Die Ecke ist in ihrem besonderen Situations-Charakter nicht nur Schnittpunkt eines tatsächlichen Formwechsels in der Physiognomie der gebauten Stadt; sie ist zugleich im Sinne einer Gegend 109

Zur Ecke in der Architektur s. auch Hasse, Atmosphären der Stadt, S. 101–112.

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»Ecke« eines Milieu-Wechsels – hier der Markt, dort die den Platz umschließende Straße samt zwei Abzweigungen vor dem Café (s. auch Abb. 2.6, S. 104). »Dazwischen« ist der improvisierte Ort der Inszenierung eines musikalischen Intermezzos. Die atmosphärische Ecke macht eine Situation aktueller und vielfältiger Übergänge spürbar. Sie ist zum einen – bezogen auf den Markt und seinen Platz – Eingang und Ausgang; zum anderen ist sie eine transversale Weiche. Gerade die Situation der Mischungen, Auflösungen, Trennungen und Verbindungen macht auf eine metaphorische Bedeutung der Ecke als einen letztlich atmosphärisch zu verstehenden Raum aufmerksam. So imponiert die Raumstelle als eine »besondere Ecke«, die sich in ihrem urbanen Milieu zwischen Stadt und Markt durch ästhetische Turbulenzen metaphorisch wie physiognomisch zuspitzt (s. auch in der Beschreibung beider musikalischer Eck-Situationen den Hinweis auf ein »turbulentes Spektakel«). Die Redewendung »es geht bunt über Eck« 110 verweist auf jenen turbulenten Geschehens-Charakter, der sich beinahe typisch mit einem Markt verbindet und sich an dessen Ecken oft noch einmal verschärft. Auf Märkten geht vieles (beinahe programmgemäß) »durcheinander«. Erst wo sich Unterschiedliches und Ähnliches kreuzen und vermischen, kann es überhaupt erst zu jenem sprichwörtlichen Durchund Übereinander kommen. 111 Die Ecke der Musikdarbietung ist nicht nur ein relationaler Überschneidungsraum (Platz, Straße, Markt und städtische Bebauung), sondern auch ein Raum der atmosphärischen Gabelungen. Zunächst bieten sich allein Optionen der Bewegung an – in den Markt mit seinem ganz eigenen Rhythmus oder in die ganz anders »getakteten« städtischen Straßen. Die in der mikrologischen Beschreibung

Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 1, S. 351. Neben den turbulenten Ecken kennt die Alltagssprache die »stillen«, »gemütlichen« oder aber auch »verkommenen«, »dunklen« wie »finsteren« Ecken, die eher gemieden werden. Es gibt eine Reihe weiterer sprichwörtlicher Reden, die auf Bedeutungen der Ecke verweisen, welche nichts mit Übergängen zu tun haben – so die Rede von jener Ecke, in die man gedrängt werden kann. Man landet dann in der Ausweglosigkeit. Auch wer in eine Ecke »gestellt« wird, findet sich nicht in einem Milieu geweiteter Spielräume, hat den angewiesenen Platz vielmehr als Bestrafung zu empfinden; vgl. ebd. Diese Bedeutungen der Ecke verweisen auf besondere Orts- und Raumqualitäten, nur zeichnen sie sich eben dadurch aus, dass sie wie die sackartigen Enden von »Sackgassen« keinen Aus-weg mehr eröffnen, der ja für die Situation des Klavierspiels am Rande des Platzes charakteristisch ist. 110 111

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explizierte Faszination des Eck-Ortes kann auch als Resonanz auf eine ganz eigene atmosphärische Orts-Qualität bzw. einen Ort interferierender atmosphärischer Vitalqualitäten verstanden werden. 112 In seiner Theorie des Städtebaus hatte Raymond Unwin die besondere ästhetische Rolle von Eckgebäuden hervorgehoben. Deshalb möge die »Behandlung der Schlußgebäude an den Ecken der Nebenstraßen« 113 mit besonderer Sorgfalt erfolgen. Gerade das Raumerleben offener Plätze werde durch die Gestalt von Eckgebäuden ästhetisch entscheidend bestimmt. 114 Das Beispiel der Mikrologie belegt das eindrücklich, verdankt sich der Eckraum vor dem Café in seiner besonderen städtebaulichen Eigenart und Ästhetik ja gerade dieser Architektur des Café-Hauses (s. auch historische Darstellung in Abb. 2.20). Schließlich impliziert eine Ecke – zumindest im dichten und bebauten architektonischen Raum der Stadt – die Option des Verschwindens. 115 Auch die Ecke des Klavierspiels bzw. der abendlichen Jazzimprovisation bedeutet nicht nur einen imaginären Ausgang aus dem Raum des Marktes. Sie bietet sich an dessen Rand auch als Übergang an – als »Ecke des Verschwindens«. Wer über den Ort der Ecke hinausgeht, verschwindet aus der Welt des Marktes. Solches Verschwinden hat den Charakter eines Verlassens und Weggehens. Eine Ecke ist im Allgemeinen aber auch ein Raum ganz anderen Verschwindens im metaphorischen Sinne, nämlich eine Ecke, um die man sich »sich drücken« 116 kann. Für all diese so unterschiedlichen Ecken trifft zu, was Otto Friedrich Bollnow über die Erlebniswirkung von Räumen im Allgemeinen sagt, dass jeder Raum »seine bestimmte Stimmung« 117 habe. Mit diesem Begriff der Stimm-ung kommen in erster Linie jene atmosphärischen Präsenzen in den Blick, die Menschen so immersiv tangieren können, dass sie in ihrem Befinden – beengend wie weitend – gestimmt werden. 112 Auch die Redensart von »allen Ecken und Enden« (Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 3, Sp. 23) weist auf den Grenzcharakter von Ecken hin. 113 Unwin, Grundlagen des Städtebaues, S. 202. 114 Vgl. ebd., S. 114. 115 Wer jemanden still aus dem Wege räumt, bringt ihn in der sprichwörtlichen Rede auch »um die Ecke«, s. Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 1, S. 351. 116 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 3, Sp. 23. 117 Bollnow, Mensch und Raum, S. 231.

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Abb. 2.20: Café de Beurs um 1950

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Aber nicht nur die durch ihre besondere »Bespielung« klanglich »hervorspringende« Ecke der Musik war auf dem Hintergrund des atmosphärischen Rahmens eine besondere »Ecke« im metaphorischen Sinne. Auch so mancher Verkaufsstand beeindruckte als eine besondere »Ecke«, die sich szenisch, sinnlich und performativ von der Normalität der meisten anderen Stände abgehoben hatte; so zum Beispiel jene Fischhändler, die hörbar durch lautes Rufen auffielen wie sichtbar durch das Angebot exotischer Fische, oder der Stand, an dem eine Afrikanerin mit Skelettresten großer Fische hantierte (s. Abb. 2.4, S. 101). In einem abgewandelten Sinne sind selbst noch die den Platz umlaufenden und den Markt gleichsam umfriedenden Straßen ganz eigenartige »Ecken«. Vor allem durch ihren Übergangs- und Grenzraum-Charakter unterscheiden sie sich von den städtischen Einkaufsstraßen. Deshalb boten sie sich als Orte der Selbst-Präsentation an. Wenn es sich dabei auch eigentlich um umsäumende Räume von der Art eines Grenzgürtels gehandelt hat, so ragten darin doch im metaphorischen Sinne atmosphärisch eigenartige Ecken hervor. In der Mikrologie lagen sie vor jenen Bistros und Restaurants, an denen sich ein Treiben herauskristallisierte, das sich erst im »Schatten« des Marktes konstituieren konnte.

2.3.8 Tatsächlicher und atmosphärischer Raum Die Beschreibung des Markterlebens bezieht sich in einer intuitiv wechselnden Aufmerksamkeit auf eine zweifache Wirklichkeit – die des tatsächlichen und des atmosphärischen Raums. Wenn zu Beginn der Mikrologie von Kunden die Rede ist, die in zwei Reihen vor den Ständen warten, so wird damit eine temporäre Ordnung im tatsächlichen, also relationalen bzw. mathematischen Raum angesprochen. Karlfried Graf von Dürckheim nannte diese Bezugswelt sinnlicher Erfahrung den »tatsächlichen Raum«. In ihm kommt es auf den Sachverhalt an, dass hier Menschen an definierbaren Stellen in Reihen vor den Ständen warten. Im Fokus des tatsächlichen Raums ist es ohne Belang, in welchem Befinden diese Menschen dastehen – gespannt, ungeduldig, in einem hektischen Gefühl der Enge oder in gelassener und entspannter Weite. Ein zweites Beispiel zum tatsächlichen Raum findet sich dort in der Mikrologie, wo der Abbau der Stände beschrieben wird. Auch hier 166 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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sind primär die Dinge relevant, die weggeräumt und verladen werden, aber auch die Menschen, die all dies tun, – nur kommen sie in ihrem Dasein im tatsächlichen Raum als körperliche Quasi-Dinge in den Blick und nicht als leiblich disponierte Wesen. Dass das lärmende und hektische Räumen von Gegenständen in der Vitalqualität der Gegend der Markt-Demontage spürbar wird, weist auf den atmosphärischen Raum hin. Die Unterscheidung zwischen tatsächlichem und atmosphärischem Raum verdankt sich einer erkenntnistheoretisch-analytischen Perspektive. Im vitalen Mit-Sein im Fluss des Marktgeschehens sind beide Räume untrennbar ineinander verwunden. Schon wenn eine leere Fischkiste, die laut auf das Pflaster des Platzes geworfen wird, auf eine gewisse – und sei es nur eine noch so beiläufige – Aufmerksamkeit trifft, stimmt sie den aktuellen atmosphärischen Herumraum der Gegend eines Geschehens, das im tatsächlichen Raum einen relativen Ort hat. Atmosphären werden im affektiv getönten Raum wahrgenommen; darin konstituieren sie sich zwischen Gefühlen der Enge und Weite (s. auch Kapitel 2 in Band 1). Was als »Umwölkung« (Tellenbach) leiblich spürbar gegenwärtig ist, nennt Hermann Schmitz auf dem Hintergrund seines Systems der Philosophie Atmosphäre: »Gefühle sind […] unbestimmt weit ergossene Atmosphären, in die der von ihnen affektiv betroffene Mensch leiblich spürbar eingebettet ist; sie gleichen mit diesen Merkmalen dem Wetter« 118.

Die in Reihen vor den Marktständen wartenden Menschen stehen im tatsächlichen Raum; in ihrem Befinden sind sie aber (zugleich) im atmosphärischen Raum. Zum einen werden sie von den ausliegenden Waren atmosphärisch eingenommen, auf die sie emotional gerichtet sind (durch Bedürfnis und Interesse). Zum anderen sind die Menschen in einer bestimmten »Ausgangs«-Stimmung 119, die sie überhaupt in diesem auf-der-Stelle-wartenden Dasein situiert und das Interesse gegenüber diesen oder jenen Dingen orientiert. In völliger Depression wäre niemand emotional in der Lage, sich für eine Erwartung zu öffnen. Schon eine Stimmung der Gleichgültigkeit dürfte Schmitz, Band III, Teil 2, S. 185. Bollnow spricht in diesem Sinne von einem »Stimmungsuntergrund«, von »bestimmten Grundstimmungen oder Lebensstimmungen«; vgl Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 60 f. Bei Heidegger klingt die Grundstimmung als »fahle Ungestimmtheit, die den ›grauen Alltag‹ durchherrscht«, an; Heidegger, Sein und Zeit, S. 345. 118 119

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atmosphärische Sensibilitäten in beträchtlichem Umfange abstumpfen. Als räumlich zwischen Enge und Weite ausgedehnte Gefühle sieht Hermann Schmitz die Stimmung als speziellen Typ der Atmosphäre. 120 Daher liegt eine weitere erkenntnistheoretische Unterscheidung nach subjektiven und »objektiven« Situationen nahe, die die Art und Weise des Ergreifens einer Atmosphäre betrifft. Zum einen gibt es subjektiv stimmende Atmosphären, die in der Mikrologie zum Gegenstand der Bewusstwerdung eigenen Befindens werden. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die lebendige und turbulente Situation des Marktabbaus zum Thema der selbstreferenziellen Beschreibung subjektiven Mit-Seins im aktuellen Milieu des Marktes wird. In den Fokus der Aufmerksamkeit gelangen dann affizierende Eindrücke atmosphärischen Raumerlebens. Über solche am eigenen Leib erlebte Stimmungen können nur subjektive Aussagen in der ersten Person getroffen werden. Zum anderen kann man eine »anstehende« Atmosphäre aus einem emotionalen Abstand erfassen, ohne von ihr gestimmt zu werden. Auf einem äußerlichen gleichsam »objektiven« Niveau können wir sie unabhängig von einer eigenen Stimmung bemerken. So wirkte zum Beispiel das laute Rufen einiger Fischverkäufer auf die Atmosphäre des Marktes in anderer Weise ein als die immer rarer werdenden Verkaufsaktivitäten in der Schlussphase des Marktes. In ihnen war gleichwohl die Stimmung der Arbeiter für ihren schnellen Arbeitsrhythmus erkennbar. Aber es war deren Stimmung, und so hatte sie die Niederschrift der Mikrologie nicht berührt, weil ein Markt-Beobachter nicht unter dem Druck der Eile steht, von der die Arbeiter angetrieben wurden. Deshalb unterscheidet Schmitz zwischen einem (atmosphärischen) Gefühl mit und ohne affektives Betroffensein. 121 Eine Atmosphäre, die ich nur als etwas Äußerliches – etwa am Habitus anderer Menschen – wahrnehme, Vgl. Schmitz Band III, Teil 2, S. 259 f. »Das affektive Betroffensein von Gefühlen kommt […] durch deren Ergreifen in das leibliche Befinden zu Stande«; ebd., S. 161. Der Illustration der damit implizierten Abstufungen gefühlsmäßigen Betroffenseins dient das folgende Beispiel der (bedingten) Übertragung einer Atmosphäre des Wetters in das eigene Befinden: »Solange die Wehmut eines Regentages, das mit banger Sehnsucht geladene Brüten einer Frühlings- oder Gewitterlandschaft usw. mich nicht leiblich spürbar beschleichen, sondern nur etwa in ästhetisch-distanzierter Anteilnahme registriert werden, bin ich noch nicht in diese Atmosphären einbezogen und von ihrer Mächtigkeit betroffen.« Ebd., S. 153. 120 121

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bleibt mir affektiv fern, während eine Atmosphäre, die mich ergreift, zugleich stimmungsmäßig erfasst. Im Anschluss an Hermann Schmitz betont Gernot Böhme die Bedeutung der befindlichen Teilhabe an der räumlich ausstrahlenden Stimmungsqualität einer Umgebung. 122 Ob eine Atmosphäre die Stimmung eines Menschen ein- oder umstimmt, ist eine Frage ihrer emotionalen Reichweite. Erst wenn sie den Rand affektiven Befindens nicht nur berührt, sondern stimmend auch überspringt, geht sie affektiv nahe. Dies ist von der Mächtigkeit im atmosphärischen Raum anstehender Eindrücke ebenso abhängig wie von der persönlichen Offenheit gegenüber andrängenden Gefühlen. Die Beispiele der Mikrologie zeigen, unter welchen Umständen das subjektive Befinden von Geschehnissen im tatsächlichen Raum auch stimmungsmäßig tangiert werden kann (zum Beispiel unter dem Einfluss der Musik-Atmosphären). Die Jazzimprovisationen machen auf die große Bedeutung persönlicher Offenheit oder Verschlossenheit gegenüber einer Atmosphäre auf dem Hintergrund von Erfahrungen und (ästhetischen) Grundsteinstellungen aufmerksam. Nicht jeder Mensch wird sich von Jazzmusik in einer zugeneigten Weise berühren lassen. Die meisten wahrnehmbaren Dinge und Ereignisse sind mit subkulturell geprägten ästhetischen Präferenzen verbunden, die qua Sozialisation mit bestimmten Bedeutungen und Gefühlen (zwischen Zuneigung und Ablehnung) geladen sind. Die »äußerlichen« Atmosphären lassen sich wie Situationen auf der Objektseite in einem situationsverstehenden Sinne aus emotionaler Distanz thematisieren. Dies drückt sich in der Mikrologie in Hinweisen auf einige Frauen aus, die sich an Tischen eines Bistros direkt hinter den Marktständen auf dem Gehweg der den Patz umlaufenden Straße niedergelassen haben. Dem Habitus der sich inszenierenden Personen konnte ein ästhetisches Interesse der Selbstpräsentation sowie der darin besonders situierten Teilhabe an diesem Treiben angesehen werden. Sie »nutzten« die transversale KontrastAtmosphäre des Überganges – nicht mehr Markt und noch nicht ganz normale Stadtstraße – für ihre distinktiven Bedürfnisse. Auch zeichneten sich beide Musikinszenierungen durch eine doppelte Präsenz aus. Zum einen brachte die Beschreibung die Macht des Geschehens über das eigene atmosphärische Erleben zum Ausdruck, zum anderen aber auch über die Stimmung der Atmosphäre 122

Vgl. Böhme, Atmosphäre, S. 96.

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des Marktes (in dessen aktueller Situation). Auf dem Wege der leiblichen Kommunikation hatte sich das Duo in die gerade virulente Atmosphäre des Marktes eingestimmt und am Maßstab dieses Erlebens die Gestaltung des musikalischen Ausdrucks ge-stimmt. Die Jazzklänge waren also Produkt der pathischen Einlassung auf eine wirkmächtig stimmende Atmosphäre, die sich im Abbau-Geschehen des Marktes (im tatsächlichen Raum) konstituierte. Deshalb konnte man an den arhythmischen Klanggestalten des Jazz die gestimmte Einstellung der Musiker aus Distanz auch »erkennen« und verstehend nachvollziehen. Wenn das Erscheinen von »etwas« nicht zuletzt von (objektivierbaren) Bedingungen im tatsächlichen Raum abhängig ist, so wird dessen atmosphärisches Erleben doch ganz entscheidend von persönlichen affektiven Dispositionen und bereits virulenten Stimmungen mitgetragen. Wer Jazzmusik als aversiv und idiosynkratisch erlebt, wird sie vielleicht als etwas »Merkwürdiges« oder gar »Unangenehmes« empfinden. Aufgrund der ihr persönlich zugeschriebenen Bedeutung wird sie dann nicht die affektive Macht zur Veränderung einer persönlichen Stimmung entfalten können. Die leibliche Richtung, »die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt« 123, vermittelt eine Dynamik, die zur Zu- oder Abwendung von etwas im Raum führt. Der suggestiv in gewisser Weise andrängende Eindruck eines Geschehens zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Diese (meist synästhetische) Ausrichtung folgt keiner rationalen Richtung, sondern einem leiblich induzierten Impuls (Schmitz spricht hier vom »vitalen Antrieb« 124 und Minkowski in ganz ähnlicher Bedeutung vom »personalen Elan« 125). Wenn wir dann dennoch im tatsächlichen Raum zu einem relativen Ort hingehen, weil wir uns von »etwas« angezogen fühlen, so ist das die Folge einer im leiblichen Raum »gestisch« ansprechenden Atmosphäre.

2.3.9 Das Plötzliche Explizite wie implizite Aussagen weisen in der Mikrologie auf plötzliche Eindrücke hin, die auf Geschehnisse ganz unterschiedlicher Art 123 124 125

Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 54 f. Vgl. Schmitz, Der Leib, S. 83 ff. Vgl. Minkowski, Die gelebte Zeit, Band I, S. 51 ff.

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zurückgehen. Aussagen über »kurzwellige Oszillogramme plötzlicher Geschehnisse« oder die »Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit der Abläufe« thematisieren expressis verbis, in welchem zeitlichen Erlebnisrhythmus das vitale Milieu des Marktes erlebt worden ist. Die geradezu typische Dynamik des großstädtischen Marktes drückt sich unter anderem darin aus, dass der Markt als ein »Raum der Implosion der Augenblicke« angesprochen wird oder »AugenblicksEkstasen« hervorgehoben werden. Diese und eine Reihe weiterer Anmerkungen, die aus dem Sinnzusammenhang einer eindrücklich gewordenen Situation auf etwas plötzlich vor sich Gehendes verweisen, repräsentieren atmosphärische Eindrücke, die sich wesentlich durch lautliche und visuelle Bewegungen vermittelt haben. Alle ex- wie impliziten Hinweise auf plötzlich wahrnehmbar werdende performative Muster wie aufblitzende Ereignisse geben etwas über die atmosphärische Vitalqualität des Marktes zu verstehen – abhängig von Größe, Dichte und Mannigfaltigkeit an Dingen, Menschen und sinnlichen Eindrücken sowie einem sich daraus ergebenden – eben markttypischen – Rhythmus. Märkten ist – sofern sie dank ihrer Größe und trotz der Improvisation ihrer Architektur im städtischen Raum einen physiognomischen Inselcharakter haben – generell eine gewisse Plötzlichkeit der Geschehnisse eigen. Zu bestimmten Zeiten des Tages bilden sich je eigene szenisch wie atmosphärisch kurzwellige Amplituden heraus. Der Markt wird als ein turbulenter und changierender Raum mitunter schnell wechselnder Situationen und Bilder beschrieben. Darin kommt er trotz bzw. in seiner konkret-performativen Unvorhersehbarkeit als prinzipiell vorhersehbares Milieu zur Sprache. Man rechnet damit, dass sich die räumlich und materiell improvisierte Welt des Marktes in einer oszillierenden Lebendigkeit überlagerter und kollidierender Eindrücke schnell wechselnder Bilder präsentiert. In der mehrdimensionalen Buntheit der Dinge, Menschen und Situationen liegt der Keim einer vielfältigen Dynamik des Plötzlichen. Darin geben sich Märkte als raumzeitlich flüchtige Welten zu erkennen. Dies macht die von ihnen ausgehende Faszination und Attraktivität geradezu aus. Die atmosphärische Anziehungskraft eines Marktes liegt nicht zuletzt darin, dass seine eigenartige Identität anderer Art ist als die eines (singulären) Gegenstandes. Er hat keine einfache, sondern eine variable, fließende und in sich changierende Identität, zu der die Möglichkeit des plötzlichen Wechsels gehört. Es mag am improvisierten und temporären Charakter eines Marktes liegen, dass 171 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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er in einem Moment dieses und schon im nächsten jenes sein kann – eher im atmosphärischen Sinne denn in Gestalt physisch-materieller Transformationen. Das zeigen auch die Beschreibungen zur Schnelligkeit der zeitlichen Abfolge der Stand-Demontagen zur Zeit des nahenden MarktEndes. Transversale Situationen sind Horte des Plötzlichen. Das gilt aber nicht nur für die Welt der Märkte. Wenn etwas zu Ende geht, um einem Neuen Platz zu machen, verketten sich die Ereignisse der Wandlung. Und sie tun dies dann in einer plötzlichen Weise, wenn der Wandel – aus welchen Gründen auch immer – unter den Druck der Eile gerät und sich nicht beliebig in die Zeit hinein ausdehnen lässt. Die Atmosphäre des zu Ende gehenden Marktes hat sich als eine solche in sich vielfältig gegliederte plurale Übergangssituation dargestellt. In dieser Endphase erhielt das Bild des schnellen Wandels durch das plötzliche Auftauchen der Möwen zudem eine weitere Kontur. Das Einfallen der Tiere aus dem Himmel pointierte im schnell verschlingenden Wegfressen aller verdaubaren Reste das Gesicht dieses Wandels sehr eindrücklich. Eine abermalige Gesichtsveränderung sollte mit den über die Ränder allmählich auf den Platz fahrenden roten Reinigungsfahrzeugen der Stadt eintreten, die in einer ihnen eigenen Schnelligkeit den verschwindenden Markt final in einen leeren Platz zurückverwandeln sollten. Was sich am Beispiel des Marktes in einer sozialen, materiellen, szenischen und rhythmischen Verdichtung gezeigt hat, drückt zugleich etwas charakteristisch Urbanes aus. Zu jeder lebendigen Situation großer Städte gehört das Aufzucken des Plötzlichen aus dem performativen Strom dahingleitenden Lebens. Insbesondere darin unterscheiden sich urbane von ruralen und noch von kleinstädtischen Welten. In seiner berechenbaren Unberechenbarkeit macht das Plötzliche eine kulturelle Essenz der Großstadt aus. Mit anderen Worten: Simmels urbanistische Philosophie 126 hat ihren Akzent auch in der chaotischen Dynamik plötzlicher sozialer und szenischer Verlaufsbilder großer Städte. Das Plötzliche ist nicht auf räumliche oder andere Dichte-Situationen beschränkt, wenn es aufgrund seines Abweichungscharakters vom Immer-so-Weiter eines bestimmenden Stroms in ihnen auch

Umrisse einer solchen von ihm expressis verbis jedoch nie so bezeichneten Philosophie des Urbanen hat Simmel entworfen in: Die Großstädte und das Geistesleben.

126

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überaus deutlich werden mag. 127 Grundsätzlich ist das Plötzliche ein elementarer Modus aisthetischer Erfahrung. Jeder gelebte Prozess – und noch der vertrauteste und »normalste« – gelangt an Bifurkationspunkte, an denen sich »etwas« ändert. Diese Gablungen sind Brutstätten plötzlicher Augenblicke. Deshalb bedarf das Plötzliche zu seiner Bewusstwerdung auch keiner provokativ-schockartigen Vermittlung, etwa durch die moderne Kunst. Der Erfahrungsmodus des Plötzlichen ist aisthetischer und nicht (in einem engeren kunsttheoretischen Verständnis) ästhetischer Art. In jeder Begegnung mit einem Neuen beeindruckt irgendwann etwas Plötzliches. Dies ist nicht moralisch oder pädagogisch imprägniert; es ist allein prozeduraler bzw. performativer Ausdruck ewiger Wandlung. Das Plötzliche ist konstitutionelles Merkmal gelebten Lebens, Spiegel sich verändernder Verhältnisse, die Überraschungen in die Welt bringen und noch das Banale, Zufällige und Beiläufige in seiner sicher geglaubten Selbstverständlichkeit ins Fragwürdige reißen. Das Plötzliche »will« oder »soll« nichts, es geschieht. Auch Heinz Bohrer hält es innerhalb einer »Phänomenologie des Ästhetischen schlechthin für konstitutiv […], weil einzig die nichtintentionale, schreckhafte Wahrnehmungsschärfe des ›Plötzlichen‹ als eine gleichsam säkularisierte Epiphanie einen unideologischen Zugang zur Wirklichkeit verbürge« 128. Und so versteht er »Plötzlichkeit« »als Ausdruck und Zeichen von Diskontinuität und Nichtidentischem« 129. In der Vermittlung schlagartiger »Sichtigkeit« offenbart sich jene erkenntnistheoretisch nicht zu unterschätzende Macht der Zuspitzung der Wahrnehmung auf die Essenz des Augenblicks. Im Plötzlichen verliert das Alltägliche seinen unbedachten Charakter. Es zündet die Aufmerksamkeit. Aber – und darin mahnen sich Vorbehalte in der Sache der Bohrer’schen »Epiphanie« an – Einsichten stellen sich doch im Moment des Plötzlichen gerade nicht ein. Vielmehr lösen sich die zuvor noch geordnet ausgefalteten Dimensionen menschlicher Orientierung zunächst ins Unsichere wie in die Das Thema des Plötzlichen lässt sich philosophisch weit aufspannen. Die unter anderem von Platon über Kierkegaard bis Heidegger weisenden Spuren sollen hier aus Gründen der thematischen Disziplin und Bindung an die Mikrologie des Markterlebens nicht aufgenommen werden. Zur Bedeutung des Heidegger’schen Begriffs der Augenblicksstätte für das Verständnis des Plötzlichen vgl. auch Rimpler, Prozessualität und Performativität. 128 Zelle, »Schrecken / Schock«, S. 445. 129 Bohrer, Plötzlichkeit, S. 7. 127

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Gestalt verlorener Muster auf. Zumindest aber trüben sie die (subjektiv empfundene) Klarheit einer verstanden geglaubten Welt. Aber die Erfahrung des Plötzlichen impliziert die Option der nachdenkenden Rekonstruktion sicher geglaubter Ordnungen des Denkens. Etymologisch kommt »plötzlich« von »blitzlich«, steht also in einer unmittelbaren Bedeutungsverknüpfung mit der leiblichen Erfahrung des Blitzes und dem damit einhergehenden Erschrecken. 130 Plötzlich wie der Blitz kommen aber nicht nur Dinge und Ereignisse; ebenso plötzlich verschwinden sie auch wieder. In diesem Sinne wurde in der Mikrologie auf Gerüche verwiesen, »die wie Schwaden scheinbar aus dem Nichts kommen und plötzlich wieder verschwinden«. Im Phänomen wie Begriff des Plötzlichen kulminiert die Philosophie der Zeit. So ist das Plötzliche zunächst eine zeitlich – in abgerissener Dauer – gespürte Unterbrechung, in der Unterschiede zwischen Identität und Verschiedenheit verwischen. Momente des Plötzlichen heben deshalb nach Hermann Schmitz die Bezugspunkte der Orientierung auf und leiten in eine Situationen »primitiver Gegenwart« über, die (im Unterschied zur »entfalteten Gegenwart«) durch einen Mangel an subjektiver Orientiertheit nach erkenntnistheoretisch grundlegenden Dimensionen (Sein, Hier, Jetzt, Subjektivität, Dieses) 131 geprägt ist: »Die zeitliche Seite der primitiven Gegenwart ist das Plötzliche als der Andrang des Neuen, der in Gegenwart eindringt, indem er Dauer zerreißt und Gegenwart aus ihr abreißt« 132. Wer erschrickt, vermag im Moment des Schrecks über das Hier und Jetzt nur wenig Genaues zu sagen. Wenn die Eindrücke des Plötzlichen auch nicht, wie beim Schreck, die Kraft der Erkenntnis lähmen und die wache Aufmerksamkeit zunichtemachen, so »rütteln« sie doch an ihr, indem sie die Aufmerksamkeit mit Frage- und Ausrufezeichen versehen. Zur »Epiphanie« kann es somit also erst nach der schrittweisen Rekonstitution entfalteter Gegenwart kommen – nachdem sich die gleichsam implodierten Bezugspunkte der Orientierung neu ausgefaltet und zueinander in Beziehung gesetzt haben. Der Eindruck des Plötzlichen fordert erst dazu heraus, neue Netze zu spannen und das Alte im Licht des Veränderten auf angemessene Weise wieder verstehen zu können. Im Plötzlichen gibt 130 131 132

Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 13, Sp. 1937. Vgl. Schmitz, Neue Grundlagen, S. 110 ff. Vgl. Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 48.

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es keine Dauer. 133 Das in ihm aufscheinende Jetzt stellt sich nach Schmitz als »absoluter Augenblick« 134 dar. Es steht damit dem »absoluten Ort« leiblicher Selbstgewahrwerdung gegenüber. In phänomenologischer Sicht versteht sich von selbst, was Friedrich Nietzsche an der Eindrucksmacht des Plötzlichen relativiert: »Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben, führt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns«. 135 In dieser Relativierung scheint eine Limitierung subjektiver Vermögen der Wahrnehmung vor: »Es gibt eine unendliche Menge von Vorgängen in der Sekunde der Plötzlichkeit, die uns entgehen.« 136 Wie das Beispiel illustriert, werden Märkte erst dann zu einer auf produktive Weise irritierenden Welt des Plötzlichen, wenn sich die Aufmerksamkeit über das profane Interesse an Waren hinaus seinem Geschehenscharakter öffnet, sich gewissermaßen in eine Metaperspektive versetzt.

2.3.10 Zur Verschachtelung von Situationen Im letzten Kapitel hat sich im Fokus lebensweltlicher Situationen der Plötzlichkeit auch herausgestellt, in welcher Weise Situationen ineinander verschachtelt sein können. Aber es ist nicht nur das Plötzliche, das die Überlagerung und Durchdringung von Situationen zur Folge hat. Das Plötzliche macht dieses Neben- und Ineinander aufgrund seiner die Wahrnehmung »aufrüttelnden« Wirkung nur besonders deutlich. In einem analytischen Interesse ließe sich die Mikrologie des Markterlebens in zahllose Situationen des Neben- und Ineinanders zerlegen. Dass im Fluss des gelebten Raumes wie der gelebten Zeit aber alles als ein gleichsam verschwommenes Ganzes und fließendes Kontinuum erscheint, macht auf einen doppelten Modus der Wahrnehmung aufmerksam – einen differenzierenden und einen verwischenden. Schon die gewöhnliche Aufmerksamkeit hat ein Gespür für die »zwischen« Situation liegenden Grenzen, wenn dies auch keine scharfen Grenzen sind, sondern in ihrem Wesen äußerst schwer zu präzisierende Übergangsbereiche. Indem die Alltagssprache den Begriff der »Situation« kennt, weiß sie (intuitiv) auch um 133 134 135 136

Vgl. Schmitz, Band IV, S. 487. Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 57. Nietzsche, Gesammelte Schriften, Band II, S. 120. Ebd.

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deren Wechsel. Über die in den einleitenden Kapiteln kursorisch angesprochenen Hinweise auf den von Hermann Schmitz entwickelten phänomenologischen Situations-Begriff hinaus sollen im Folgenden in gebotener Kürze konzeptionelle Umrisse skizziert werden. Nach Schmitz ist eine Situation durch einen ganzheitlichen Zusammenhang von Bedeutungen gekennzeichnet, 137 weshalb sie als »die primären Heimstätten, Quellen und Partner alles menschlichen und tierischen Verhaltens« 138 verstanden werden kann. Bedeutungen kommen in einer Situation auf drei Ebenen vor: (a) auf der Ebene der »Sachverhalte (daß etwas ist, überhaupt oder irgendwie), (b) der Programme (daß etwas sein soll oder möge) und (c) der Probleme (ob etwas ist).« 139 Situationen bestehen mindestens aus Sachverhalten, oft auch aus Programmen und Problemen. Innerhalb seiner systematischen Binnendifferenzierung unterscheidet Schmitz weiter zwischen gemeinsamen und persönlichen Situationen. Individuelle Formen des Erlebens – zum Beispiel städtischer Orte wie eines Marktes – sind in Abhängigkeit von individuellen Stimmungen, erlernten Sensibilitäten der Wahrnehmung und der Differenziertheit des Wissens den persönlichen Situationen zuzurechnen. Eine persönliche Situation wird in aller Regel vom Rahmen einer gemeinsamen Situationen eingefasst. Gemeinsame Situationen konstituieren sich im Milieu eines Marktes zum Beispiel aufgrund der dort existierenden Sachverhalte (temporär auf dem Markt-Platz existierende Dinge und Menschen), vor allem aber durch die Programme, die letztlich die Ordnung und Anordnung der Sachverhalte lenken. Man kann einen Markt selbst als ein mikro-ökonomisches Programm betrachten, das sich raumzeitlich (insbesondere) auf geeigneten Plätzen 140 aktualisiert. Ein 137 Das Schmitz’sche Situationskonzept kann an dieser Stelle nicht im Detail dargestellt werden. Es ist gleichwohl für das Verständnis der in diesem Band geführten methodologischen Diskussion von grundlegender Bedeutung; vgl. im Einzelnen Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, S. 89 ff. sowie über das Schmitz’sche Konzept: Großheim, Der Situationsbegriff in der Philosophie, S. 114. Ich sehe an dieser Stelle vom existenzphilosophischen Situations-Begriff ab, wie er von Jaspers entwickelt wurde, der indes existenzielle Grenzsituationen fokussiert und nicht Situationen des dahinfließenden Lebens abseits existenzieller Krisen; vgl. dazu,die Psychologie der Weltanschauungen von Karl Jaspers, im Übrigen Bollnow, Schriften Band IV, S. 184 ff. 138 Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, S. 91. 139 Ebd., S. 89. 140 Zur Typologie des Marktes vgl. auch Kapitel 1.

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Der gemischte Markt auf dem Vismarkt

Markt, wie der auf dem Groninger Vismarkt gehaltene Wochenmarkt, setzt eine gemeinsame Situation voraus, die sich wesentlich der leiblichen Gegenwart von Händlern und Kunden verdankt (etwa im Unterschied zum »Markt« des Online-Handels, dem virtuelle Gegenwart genügt). Dies hat für jeden individuellen Markt-Teilnehmer die Konstitution einer persönlichen Situation zur Folge. Die Platzierung des Marktes im tatsächlichen Raum bringt eine Reihe lösungsbedürftiger Probleme mit sich (Heranschaffung und Abtransport der Waren, Stände und Wagen, Beseitigung der Reste etc.), die in der Zeit ihrer Bewältigung auf die aktuelle Situation des Marktes einwirken und seine Atmosphäre disponieren. Ein Markt setzt schon programmatisch die Synchronisierung seiner performativen Abläufe voraus. Deshalb vollzieht sich diese in einem gewissen Rauschen, das der Atmosphäre eines Marktes erst eine kulturell so attraktive Exotik verleiht. Im Hinblick auf die augenblickliche Gegebenheit einer Situation unterscheidet Schmitz zwischen »impressiven« Situationen, die »schon im Augenblick mit ihrer integrierenden Bedeutsamkeit ganz zum Vorschein kommen« 141, und »segmentierten« Situationen, deren Verstehen eine Einbettung in einen Zusammenhang erst erfordert. Im Hinblick auf den zeitlichen Verlauf von Situationen trennt er zwischen »aktuellen« Situationen, die sich eher des Augenblicks verdanken, und »zuständlichen«, die über längere Zeit beharren. 142 »Situationen sind unübersehbar in Situationen verschachtelt, namentlich aktuelle Situationen in zuständliche und segmentierte« 143. Immersive Macht entfaltet das unaussprechliche Ganze eines Marktes in der Verfugung seiner (je aktuellen) gemeinsamen Situationen mit zahllosen persönlichen Situationen. Die Art und Weise, in der sich diese Verschachtelung Gestalt gibt, bringt eine performative Dynamik hervor, die dem Markt-Geschehen wiederum eine (mehr oder weniger) urbane Lebendigkeit verleiht. An fünf Beispielen aus der Mikrologie soll illustriert werden, wie sich solche Verschachtelungs-Beziehungen zwischen den verschiedenen Situationen darstellen können:

141 142 143

Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, S. 91. Vgl. ebd., S. 92. Ebd.

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1. Der Markt wird zu Beginn seiner Beschreibung als eine »Gemengelage ungezählter mikrologischer Schauplätze« pointiert. In dieser Formulierung klingt implizit bereits die Verschachtelung von Vielem an, das durch ein übergreifendes Gemeinsames (im Sinne eines identifizierbaren Ganzen) gekennzeichnet ist. Im Begriff des »Schauplatzes« geht dieses Viele-in-Einem schon auf. Ein anregender bis spektakulärer Schauplatz beeindruckt im Allgemeinen durch Verschiedenes, das sich in der Regel performativ ereignet und als sinnliche Einheit erlebt wird. Die Verschachtelung von Situationen steht in einem direkten Zusammenhang zu den in Kapitel 2.3.3 diskutierten Beziehungen zwischen (verschiedenem) Einzelnem zu einem übergreifenden Ganzen. Auch die Gemengelage von Schauplätzen eines Marktes lässt sich als ein mosaikartiges Gefüge einzelner Ereignisorte verstehen, die ein übergreifendes Muster bilden. Die Dynamik des MarktGanzen verdankt sich dabei der Lebendigkeit aktueller Situationen an mikrologischen Stand-Orten. Die Situationen der »Einzel«Schauplätze fügen sich ihrerseits in die übergeordnete Gestalt und Ästhetik einer umfassenden (integrierenden) Situation des Marktes. Das Wechselspiel einzelner Situationen mit und innerhalb der übergreifenden Gesamt-Situation des Marktes folgt (a) aktuellen sachverhaltlichen Gegebenheiten und (b) markt-charakteristischen Programmen, die der Dynamik der einzelnen Schauplätze in Form individueller Marktstände überhaupt erst eine Richtung geben. Schließlich müssen (c) auf dem Niveau lokaler Situationen (noch kleinste) Probleme bewältigt werden, die dem reibungslosen Programmablauf immer wieder im Wege stehen; auch sind diverse Aufgaben zu bewältigen, die eine erfolgreiche Markt-Teilnahme voraussetzen (zum Beispiel Müllbeseitigung während der Zeit des Marktes sowie schnellstmöglicher Abbau aller Utensilien an seinem Ende). Die Verschachtelung der lokalen Situationen einzelner Schauplätze muss aber nicht erst durch »zuständige« Akteure zu einem Ganzen synchronisiert werden; sie verdankt sich im aktuellen Fluss routinierter Abläufe vielmehr einer autopoietischen Dynamik. Schließlich macht der Blick auf die »Gemengelage ungezählter mikrologischer Schauplätze« darauf aufmerksam, dass es auf einem raumzeitlich limitierten Markt im Prinzip nur aktuelle Situationen gibt. Dennoch reklamiert sich an diesem Punkt eine Relativierung, ist ein Markt für die Dauer seiner Präsenz und Virulenz doch zugleich durch einen zuständlichen Charakter geprägt, der den Rahmen für 178 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der gemischte Markt auf dem Vismarkt

die Variation einer unbestimmten Vielzahl aktueller Situationen bildet. Aber dies ist nur ein Zustand von kurzer Dauer. 2. Der Klavierspieler am Nachmittag wie das Jazz-Duo am Abend haben sich in einem szenischen Sinne jeweils aus dem Programm des Marktes herausgehoben. In besonderer Weise machen beide Beispiele darauf aufmerksam, dass eine Situation in ihren konstitutiven Elementen (Sachverhalten, Programmen und gegebenenfalls auch Problemen) als ganzheitliche Einheit schon in der intuitiven lebensweltlichen Wahrnehmung erfasst wird. Die Art und Weise, in der beide räumlich lokalisierbaren Schauplätze innerhalb des Marktes begrenzt waren, unterscheidet sich von der Art der im tatsächlichen Raum üblichen Praktiken der Grenzziehung, zum Beispiel in der Berührung benachbarter Grundstücke entlang der Linie eines Zaunes. Im atmosphärischen Geschehensfluss des Marktes grenzen keine relationalen Räume aneinander, sondern atmosphärisch wahrnehmbare Situationen, in denen sich etwas je Eigenes bzw. Eigenartiges zum Ausdruck bringt. Aus der Perspektive der Mikrologie ist die Situation aufgrund ihrer im engeren Sinne marktunüblichen Eigenart als »etwas« Eigenständiges erfasst worden. Dagegen hat sich – gleichsam aus der räumlichen Distanz – die Bedeutung der Situation innerhalb des Marktes nicht mit einem Schlage in Gänze dargestellt, sondern zunächst als etwas Segmentiertes. Nach ihrem intuitiven Verstehen als etwas auf nicht-alltägliche Weise in den Rahmen des Marktes Eingebettetes, wurde sie sodann zu einer impressiven Situation. Das Geschehen hat sich zudem in seinem Ereignis-Charakter als situationssynchron zu verstehen gegeben – als aktuelle Situation, die ihren atmosphärisch eigenartigen Platz in dieser Zeit des Marktgeschehens hatte. Insbesondere der abendliche Jazz hing in seiner aktuellen SituationsSynchronisierung an der tendenziell morbiden Atmosphäre des fast abgeräumten Marktes. Die Jazzdarbietungen waren in ihren Klangfolgen synästhetisch (und performativ) auf die Ästhetik der Demontage des Marktes bezogen, die sich selbst als eine aktuelle Situation innerhalb der halb zuständlichen, halb aktuellen Situation des Marktes in einem fließenden Sinne herausgebildet hatte. Das Beispiel zeigt, in welcher Weise aktuelle Situationen in ihrer Unterschiedlichkeit aufeinander bezogen und in ein situativ übergreifendes Ganzes eingefügt sein können. Schließlich haben wir es in diesem Beispiel mit zwei miteinander 179 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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kommunizierenden gemeinsamen Situationen zu tun. Beide Inszenierungen waren an eine unspezifische Markt-Öffentlichkeit adressiert und damit die gemeinsame Situation derer, die sich zur Zeit der jeweiligen Darbietungen im Raum des Marktes befanden. Zum einen konstituierten sich beide gemeinsamen Situationen in den sinnlichen Grenzen der Hörbarkeit. Nur wer im akustischen Einflussbereich der Darbietungen war, konnte sich – allein der Möglichkeit nach – in die gemeinsame Situation derer begeben, die in einer Beziehung zur gebotenen Musik standen. Zum anderen befanden sich aber die Menschen, die gleichzeitig auf dem Platz waren, in zwei unterschiedlichen (je für sich gemeinsamen) Situationen, denen der Kunden und denen der Verkäufer. Beide standen schon in einem je eigenen sachverhaltlichen Rahmen und folgten ihren Programmen. Die jeweils gemeinsamen Situationen variierten daher grundlegend, sodass das Erleben auf diesen sehr verschiedenen Bedeutungshintergründen auch je eigene (eben situationsspezifische) Betroffenheiten erzeugt haben dürften. Wer als Händler über die gesamte Dauer seiner Darbietung das Klavier hören »musste«, dürfte es in anderer Weise wahrgenommen haben als ein Marktkunde, der sich nur im Sinne eines kurzen zeitlichen Intermezzos in den atmosphärischen Wirkungsraum der Ecke des Platzes begeben hat. Während der Pianist am Nachmittag allein aus seiner persönlichen (Solo-)Situation heraus agierte, spielte das vorabendlich auftretende Duo im Rahmen einer gemeinsamen Situation. Wenn die von beiden Darbietungen angesprochene Öffentlichkeit auch unspezifisch war, da ja alle, die sich auf dem Platz befanden (ungefragt) dem Geschehen ausgesetzt waren, so haben sich doch jene, die sich jeweils haben berühren lassen und am Ort der Ecke für einige Momente stehen geblieben sind, durch eine wie auch immer begründete spezifische ästhetische Sensibilität von all denen abgegrenzt, deren Aufmerksamkeit durch kein Interesse geweckt werden konnte. Das Beispiel unterstreicht nicht zuletzt – vielleicht gerade in der Evidenz der sich abzeichnenden Unterschiede – den höchst produktiven Beitrag des Schmitz’schen Situations-Konzepts für ein vertiefendes Verstehen selbst- wie weltbezogenen Da- und Mit-Seins mit und neben anderen Menschen. 3. Die auf Partybänken neben einem Fischwagen sitzenden Städtetouristen, die gebratenen Fisch aus Plastikschüsseln verzehrten, hatten sich aufgrund der aktuellen Situation (des Essens) von jenen 180 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der gemischte Markt auf dem Vismarkt

Menschen unterschieden, die über den Markt gingen, um Einkäufe zu erledigen. Auch befanden sie sich in einer zuständlich ganz anderen Situation als die Verkäuferinnen hinter den Auslagen der Gemüseoder Fischwagen. Das Beispiel zeigt in ergänzender Weise, dass Situationen gleichsam schlagartig als »Einheiten« innerhalb eines »großen Ganzen« wahrgenommen werden können. Der je situationsspezifische Zusammenhang wird von Bedeutungen verklammert, die wiederum auf bestimmte Sachverhalte und Programme (als Bausteine einer Situation) bezogen sind. Die Ökologische Psychologie fokussiert solche sich in Situationen darstellenden Zusammenhänge mit dem Begriff der »behavior settings«. Das in den 1960er Jahren von Roger Barker – einem Gründer der Ökologischen Psychologie – entwickelte Konzept sollte standardisierte Einheiten räumlich gebundener Verhaltensmuster erfassen. Damit rücken – im Unterschied zur Neuen Phänomenologie – nicht subjektive Konstitutionsprozesse von Bedeutung in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses, sondern objektive Merkmale. 144 Insgesamt spielt der Situations-Begriff in der Psychologie bis heute eine unverzichtbare Rolle; aber er unterscheidet sich in einer Reihe theoretischer Merkmale (z. B. kognitivistische, positivistische Orientierung, handlungstheoretische Fokussierung etc.) von dem der Neuen Phänomenologie, 145 in deren Mitte die (auch gesellschaftlich vermittelte) Subjektivität von Bedeutungen steht, die sich in Sachverhalten, Programmen und Problemen ausdrücken. 4. Der Abbau des Piaggio-Kabinenrollers, an dem ein Händler frischen Kaffee an kleinen Stehtischen und Coffee to go verkaufte, fiel innerhalb des Marktgeschehens vor allem deshalb auf, weil er aus dem Muster des vitalen Marktbetriebes ausscherte. Der Abbau war nur deshalb etwas Besonderes und damit Auffälliges, weil er verfrüht einsetzte und damit die Grund-Atmosphäre des noch lebendigen Markttreibens störte. Das Übergangs-Programm des Markt-Abbaus hatte noch nicht eingesetzt, sodass sich diese (vorgezogene) Demontage als Bruch innerhalb der Situation des Marktes darstellen musste. 144 Vgl. auch Caesar, Der Beitrag der Ökologischen Psychologie Barkers zur Erforschung von sozialisatorischen Umwelten. Kritik an der Inselhaftigkeit der Konzeption von »settings« und an ihrem positivistischen Verständnis formulierte auch Koch, vgl. Koch, Behavior Setting und Forschungsmethodik Barkers. 145 Vgl. auch Schott, Überlegungen zur Bedeutung von »Situation« für die psychologische Forschung.

181 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Der aktuelle soziale Ort konnte sich nicht mehr in den atmosphärischen Rahmen des situationsbeherrschenden Markt-Treibens einfügen; dessen Ästhetik wurde durch den Abbau und Wegzug des Kabinenrollers in gewisser Weise »verunreinigt«. Dagegen konnte die nach dem Abzug des Gefährtes verbliebene räumliche Lücke auf dem Platz in das gelebte Bild des Marktes leicht wieder integriert werden, weil es kein abweichendes Programm mehr gab. Das Beispiel unterstreicht noch einmal die Bedeutung der Bewegung für die Entstehung ästhetischer Muster. 5. Schließlich konnte in der Abbauphase aller Stände und Wagen zur Zeit des endenden Marktes am frühen Abend die Verschachtelung von Situationen auf eindrückliche Weise beobachtet werden. Mit dem Fortschritt der Demontagen behauptete sich zum einen die aktuelle (Prozess-)Situation eines Markt-Finales. Die ekstatisch sich präsentierenden Szenen spiegelten die Situation des »ganzen« Marktes wider. Diese verdankte sich einer Vielzahl lokaler Schauplätze, die sich bestenfalls ähnlich waren. Wie sich der Stand eines Käsehändlers von dem eines Fischhändlers, Gemüsehändler oder Metzgers unterschieden hatte, so auch die Vielfalt der Aktivitäten des Abbaus dieser unterschiedlichen Lokalitäten. Dabei zeigte sich in den Demontagen sogar noch etwas von der Art der zuvor verkauften Produkte, denn selbst innerhalb der Ähnlichkeit aller Abbauhandlungen, -geräusche und -bilder gab es mikrologisch-lokale Variationen; die bildlichen, olfaktorischen und klanglichen Akkorde sind an einem Käsestand ganz anders als am Stand eines Fischhändlers, der große Mengen von Eiswürfeln entsorgen muss. In der Mannigfaltigkeit des Vielen traten in wechselnden Rhythmen lokale Inseln mit je eigenen warenspezifischen und sachverhaltlichen Mustern, Bewegungsabläufen, Geräuschen und Gerüchen hervor. Auch die Bewältigung situationstypischer Probleme musste bestimmten Warengruppen gerecht werden; so ging zum Beispiel die Entsorgung von Gemüseresten ganz anders vor sich als die von Fischresten. Deshalb gab es »die« (scheinbar singuläre) Situation des Markt-Endes auch nicht. Innerhalb dieser breiteten sich vielfältige, gleichsam implodierende Ereignis-Muster aus. Schon mehrfach zeigten sich Beziehungen zwischen zuständlichen und aktuellen Situationen des Großen Marktes und ihr Einfluss auf den Wechsel von Atmosphären. In der Frage der Verschachtelung von Situationen aktualisiert und variiert sich deshalb auch die Frage nach der Beziehung zwischen einem Einzelnen und einem Gan182 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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zen (s. auch Kapitel 2.3.3). Dazu gehört zudem die Beziehung zwischen Situationen auf der Objektseite (die jede zur differenzierten Wahrnehmung fähige Person explizieren kann) und Situationen auf der Subjektseite (worüber nur in der Ersten Person Aussagen getroffen werden können). Im Zentrum der sich wandelnden Situationen des Marktes stehen meistens Programme. Das veranschaulichen auch die obigen Beispiele (s. 2 bis 5). Im ersten steht die geradezu implosive Vielheit der Orte im Zentrum, die durch stark variierende Sachverhalte – je nach Eigenart des Standes – gekennzeichnet waren. So beeindruckten zunächst – nach dem Eintreten in die Szene des Marktes – die unterschiedlichen Waren, die an den verschiedenen Ständen verkauft wurden: Käse, Gemüse, Fische usw. In den anderen vier Beispielen beeindruckten dagegen jeweils aktuell hervortretende Programme, schließlich insbesondere das der Beendigung des Handels. Wenn durch schnelle Gewöhnung in einer Welt der Dinge vieles ähnlich wird, drängen sich schließlich weniger die Dinge in ihrer Besonderheit, Eigenart und Unterschiedlichkeit auf als das, was im Umgang mit ihnen an Orten atmosphärisch spürbar wird.

2.3.11 Gesellschaftliche Atmosphären Die Mikrologie verweist in vielfältigen, beinahe durchgängigen Explikationen auf den gesellschaftlichen Charakter von Markt-Atmosphären. Indem sich jeder Markt als Milieu der Überlagerung kultureller und ökonomischer Konstitutions- wie Konstruktionsbedingungen erweist, hat auch sein atmosphärisches Gesicht gesellschaftliche Züge. Das erscheint zunächst tautologisch und keiner Vertiefung zu bedürfen; jedoch zeigt sich, dass »die« Atmosphäre eines Marktes nicht singulär verstanden werden darf, weil sie durch innere Pluralität gekennzeichnet ist. Es gibt also genau genommen gar nicht »die« (gesellschaftliche) Atmosphäre eines Marktes, sondern ein sich fortwährend umgestaltendes Gesicht. Zwar spiegeln sich im Groninger Wochenmarkt Grundprinzipien eines Marktes im Allgemeinen wider; aber als dieser lokale Markt stellt er sich als ein Ort dar, an dem sich nationale, regionale bis lokale Gesichter von Kultur und Ökonomie zeigen. Muster eines Allgemeinen verdanken sich erst dieser lebendigen Pluralität und örtlichen Variation des Möglichen. In seiner gesellschaftlichen Disponiertheit ist der Groninger Wochenmarkt Ausdruck seiner Zeit 183 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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und damit Spiegel politischer, kultureller, technologischer, ökonomischer etc. Verhältnisse. Wenn das Besondere der Atmosphäre eines Marktes unter anderem in seiner sinnlichen Attraktivität zur Geltung kommt (zum Beispiel in einer farblichen und olfaktorischen Eindrucksvielfalt und Buntheit), so verdanken sich all diese collagenhaften Bilder letztlich einer globalen Ökonomie der Nahrungsmittel. Ohne den weltumspannenden Handel mit Früchten aus tropischen und subtropischen Räumen würde sich die sinnliche Welt des Marktes in blass-grünen, fahlen und eher selten in leuchtenden und bunten Farben darstellen. Die multinationale Ökonomie mit all ihren sozialen und mikro- wie makroökonomischen Implikationen, zu denen die Verschärfung globaler sozioökonomischer Disparitäten gehört, bildet einen imaginären Rahmen, innerhalb dessen sich die sinnlich affizierenden Atmosphären eines Marktes erst herausbilden können. Dem Marktkunden, der seinen lebensweltlichen Versorgungsbedürfnissen nachgeht und nicht in selbst- wie weltreflexiver Denkarbeit Metaperspektiven einnimmt, bleiben die systemischen »Verankerungen« dessen, was auf angenehme Weise als »urban«, »exotisch« oder »lebendig« empfunden werden mag, verborgen. Auch die Vielfalt dieses Marktes ist von spezifisch landeskulturellen Besonderheiten überschrieben. So beeindrucken kulinarische Spezialitäten aus Regionen der Niederlande wie gebratener Fisch oder Pfannkuchen. Der Wochenmarkt ist als Typ städtischer »Urökonomie« ein Ereignisort ganz spezieller gesellschaftlicher Prägung. Die Praktiken des Feilbietens von Waren unterscheiden sich ganz grundlegend von denen in einem Kaufhaus. Aufgrund des improvisierten und inszenierten Charakters temporärer Märkte drücken sich in ihrem tatsächlichen und atmosphärischen Raum kurzlebige, spontane, lokale, hybride bis global-ubiquitäre Gesichter aus. Der Kabinenroller, an dem ein Händler Coffee to go angeboten hatte, spiegelt im Gesicht eines fliegenden Händlers etwas vom Wesen einer mobilen Gesellschaft wider. In einem noch unmittelbareren und situativ gleichsam flüssigen Sinne ist der gemischte Markt im Auftauchen und Verschwinden subkultureller Ereignisse und Symbole im Medium atmosphärischer Präsenzen Spiegel einer generell in Bewegung befindlichen Gesellschaft. Ausdruck dieser Dynamik sind auch die Arten und Weisen, wie sich Menschen nicht nur im »Binnenraum« des Marktes, sondern auch an seinen Randzonen präsentieren. Diese sind ja nur deshalb anregende Räume der habituellen Präsentation und Inszenierung, weil sie im atmosphärischen Wirkungsfeld 184 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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des Marktes stehen. Die gesellschaftliche Situiertheit der Atmosphären des Marktes strahlt in angrenzende Räume und deren ästhetisches Erleben aus. Und noch die Darbietung der Waren in Wagen und Auslagen mobiler Stände folgt den Vorzeichen gesellschaftlicher und darin historisch-technologischer Verhältnisse. Die Atmosphären des Marktes sind schon deshalb a priori gesellschaftlich gestimmt, weil sie innerhalb einer sozialen Welt mehrheitlich systemischen Programmen folgen, die sich in einem sachverhaltlichen Rahmen entfalten, der sich dem Stand der Ökonomie und Technik verdankt. Große Wochenmärkte wie der in der Mikrologie beschriebene, sind in ihrem atmosphärisch-gesellschaftlichen Ausdruck auch beispielhafte Großstadtlabore der Improvisation. Improvisiert werden nicht nur die Verkaufsstände und Warenangebote, nicht nur die räumliche Ordnung des Platzes. Noch die unterschiedlichsten, gleichsam plötzlich aus dem »Boden« schießenden Ereignisse werden auf Probe inszeniert. Das Spiel mit dem Möglichen und experimentell Fragwürdigen orientiert sich am kulturellen Klima einer (Stadt-)Gesellschaft. Daher ist auch die atmosphärische Gemengelage des Vielen und oft gerade Nicht-Passenden Ausdruck mehr aktueller als zuständlicher gesellschaftlicher Atmosphären. Ein Markt ist Ort der Übergänge, Weiche der Überlagerung aller nur erdenklichen Ausdrucksformen einer sich in Wandlungen reproduzierenden Gesellschaft. Das Spiel mit dem Experiment muss wegen des kleinen Zeitfensters, in dem es einen Markt als aktuellen Ort nur gibt, starren Vorgaben von Bürokratie, Administration und geltendem Recht kaum folgen. Auch kulturell verankerten Traditionen muss er nur bedingt Rechnung tragen. Ehe das vielleicht Fragwürdige zum Anlass von Kritik und Revision werden kann, hat sich der Markt am Ende des Tages schon wieder aufgelöst. In seiner speziellen Chronologie liegen die Potentiale seiner Choreographie: Alles, was in der Welt eines Marktes geschieht, folgt einem Rhythmus des Performativen, Improvisatorischen, Temporären und Interventionistischen, ist in seinem terminierten Verfall Ausdrucksgestalt eines urbanen Labors. Was dagegen Bestand haben und in der Dauer der Zeit beharren will, findet in der Welt der Märkte kein geeignetes Milieu. Zweifellos sind es in besonderer Weise die Dinge, die auf einem Markt beeindrucken – von exotischen Früchten und großen Fischen bis zu technischen Improvisationen und merkwürdiger Kleidung, in der sich die Menschen zeigen. In einer neuen theoretischen Sensibi185 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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lität gegenüber dem Affektiven wenden sich einige kulturwissenschaftliche Debatten neuerdings der affektiven Aufladung der Dinge zu. Sophia Prinz thematisiert die auf soziale Situationen einwirkende affektive Macht der Dinge und verbindet damit eine Kritik am sozialwissenschaftlich ubiquitären Paradigma der konstruktivistischen Akteurstheorie: »Der soziale Akteur beherrscht die Dinge nicht, sondern wird durch deren Erscheinen oder sinnliche Qualität gleichfalls aktiv angezogen oder abgestoßen.« 146 Darin klingt ein »neuer Vitalismus« an, in dessen methodologischem Fokus die affektive Ansprache durch Dinge als Medien im Vergesellschaftungsprozess zum Thema wird. 147 Das Beispiel der Mikrologie des Marktes illustriert dies facettenreich, indem die im Gebrauch befindlichen Dinge in situativ gelebte soziale Bedeutungen eingewickelt sind. Bei der Hinwendung zu ihrer affizierenden Macht darf nicht übersehen werden, dass sich solche Gefühlsladungen in aller Regel einem atmosphärischen Rahmen verdanken, der die Dinge mit einer so ansprechenden Aura erst umhüllt. Dinge sind letztlich nur Medien der sich im städtischen Raum permanent bildenden Muster gesellschaftlicher Ordnung und Unordnung. Solche Ordnungen entstehen und verfallen mit besonderer Dynamik an den kurzatmig oszillierenden sozialen Ereignisorten im Raum der Stadt. Dazu gehören neben den großen Stadtstraßen vor allem die Plätze in ihrer lebendigen Nutzung wie zur Zeit der Märkte. Sie werden dann – situativ und bis auf weiteres – Dichte-Orte des Umschlags von Dingen, Gütern, Menschen, Ereignissen und Informationen. Wolfgang Gleixner verortet das Erleben dieser ortsgebundenen Situationen in einem lebensphilosophischen Kontext: »Diese existentielle Grund-Erfahrung von Ordnung und Un-Ordnung verweist uns, ohne jede ›reflexive Verrenkung‹, auf uns selbst als Daund-so-in-der-Welt-sein.« 148 Dieses aktuelle Sich-Finden in einer gesellschaftlichen Situation drückt sich genau genommen weder an Dingen noch an Menschen aus, die in ihrem Rahmen etwas tun, sondern an den Atmosphären, die sich in einem Milieu von Ordnungen und Unordnungen konstituieren. Im Raum des Marktes sind dies überwiegend gesellschaftliche Atmosphären. Damit rückt die Frage nach dem »Gegenstand« einer Atmosphäre ins Zentrum. Deren Was-Sein, »die charakteristische Weise, in der 146 147 148

Prinz, Die affektive Macht der Dinge, S. 55. Prinz / Göbel, Die Sinnlichkeit des Sozialen, S. 31. Gleixner, Lebenswelt Großstadt, S. 33.

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die Atmosphären anmuten« 149, spricht Gernot Böhme mit ihrem Charakter an. Ihr »gesellschaftlicher Charakter« vermittelt sich – so sein Argument – über Insignien und Symbole. 150 Beispielhaft nennt er soziale Orte, an denen diese sich konstituieren oder sogar regelrecht gezüchtet werden: »Gesellschaftliche Charaktere, also die Atmosphären von Macht, Reichtum, Eleganz usw. begegnen uns im Kontext humaner Welteinrichtungen, d. h. disziplinär gesprochen, der Architektur, Innenarchitektur, Werbung, Mode, Kosmetik.« 151 Nun sind es aber keineswegs nur »Herrschaftszeichen« und Symbole der Repräsentation, die sich als Medien der Konstruktion und Konstitution gesellschaftlicher Atmosphären – wie am Beispiel des Marktes – anbieten. Alle Dinge sind mehr oder weniger geeignet, an einem sozialen Ort in seiner historischen und gesellschaftlichen Situiertheit eine mediale Rolle zu spielen, nicht nur Dinge der Repräsentation im engeren Sinne. Der Ort ihrer medialen Präsenz bedarf der Offenheit gegenüber einer Erprobung all dessen, was sich als Methode des Marktes im Allgemeinen bewährt. So sieht Lewis Mumford in der »Methode des Marktplatzes« das kapitalistische Paradigma, das sich vom Ort des Marktes in alle nur erdenklichen gesellschaftlichen Bereiche ausbreitet, um sich dort den lokalen Erfordernissen gemäß variieren und gestaltspezifisch konkretisieren zu können. Dichter als im Kontext des Marktes könnte die gesellschaftliche Verwurzelung der Atmosphären nicht zur Geltung kommen. 152 In ihnen pointiert sich der Markt als Reagenzglas einer Ökonomie, die prinzipiell nach Entgrenzung strebt. Zum Ernst-Charakter mächtiger gesellschaftlicher »Spiele« wie der des Kapitalismus gehört die Abweichung vom herrschenden Programm der Konsolidierung und systemkonformen Differenzierung. Auch die Atmosphäre des Groninger Marktes bietet solche Abweichungen. Sie ereignen sich an sozialen Rändern, an denen das Leben Wegen folgt, die aus der Logik der Systeme ausscheren, wenngleich sie dann noch (wenn auch lockerer) an deren Logik gebunden bleiben. Ich will hier zudem auf das Beispiel der Vögel verweisen, die in der Phase der weit vorangeschrittenen Auflösung des Marktes als Restefresser über alles Liegengebliebene und noch Verzehrbare hergefallen 149 150 151 152

Böhme, Aisthesis, S. 87. Vgl. ebd., S. 102. Ebd. Vgl. Mumford, Die Stadt, Band 1, S. 478.

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sind. Die Tiere entziehen sich jeder Systemintegration, wenngleich auch sie nur im Schatten einer praktisch herrschenden Ökonomie ihre Nahrung finden können. Und noch die Atmosphäre einer Natur-Ekstase, die in die soziale Welt des Marktes gleichsam hineinfällt wie ein Regenschauer, bietet sich seiner gesellschaftlichen Interpretation an, fordert doch gerade ein Markt die Reflexion des MenschNatur-Metabolismus’ in ganz grundlegender Sicht heraus. Auf dem Groninger Wochenmarkt ist an seinem Ende das Auftauchen von Restesammlern aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft bemerkenswert. Gleichsam schlagartig verbindet sich mit ihrem suchenden Herumstreunen in der Wüste mehr ökonomischer als tatsächlicher Abfälle doch auf besonders immersive Weise eine gesellschaftliche Atmosphäre, die von einem Ton des stummen Protestes getragen wird, die das alltäglich gelebte Modell einer Ökonomie des Geldes fragwürdig macht.

2.3.12 Zum Wandel von Atmosphären Atmosphären stehen oft in vielfältigen Beziehungen zueinander. Im Folgenden sollen weder die Formen eines atmosphärischen »Dazwischen« noch atmosphärische Überlagerungen thematisiert werden. Unter dem Aspekt des Wandels stehen allein Binnentransformationen von Atmosphären zur Diskussion. Dies nicht zuletzt, weil sie der lebensweltlichen Aufmerksamkeit in ihrer Beiläufigkeit und unspektakulären Dynamik meistens entgehen, gleichwohl von grundlegender Bedeutung sind für das Verstehen der Anziehung, die von »gestimmten Räumen« 153 – hier den Märkten auf öffentlichen Plätzen – ausgeht. Wandel vollzieht sich zum einen im »Außen« einer Atmosphäre. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn sich die Bedingungen des Wetters verändern, die einen Raum belebenden Rhythmen langsamer oder schneller werden, das natürliche oder künstliche Licht heller, fahl oder gar dunkel wird oder wenn ein angenehm temperierter Raum plötzlich kalt wird. Aber auch das affektive Befinden der Menschen kann eine Veränderung im atmosphärischen Erleben bewirken, ohne dass ein Ereignis in einem »Außen« eingetreten wäre, das zu einer atmosphärischen Wandlung geführt hätte. Schon die Beispiele aus dem letzten Kapitel weisen auf diese und andere Trans153

Vgl. Kruse, Der gestimmte Raum.

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formationen von Atmosphären hin; sie bestimmen im Prinzip die gesamte Mikrologie. Zunächst soll die Aufmerksamkeit auf jene »neuen« Atmosphären beschränkt bleiben, die im weiteren Sinne aber gar nicht als »neu« anzusehen sind, weil sie sich autopoietisch »nur« verändern. In den folgenden beiden Kapiteln werden Überlagerungen und Spannungen zwischen unterschiedlichen Atmosphären diskutiert. Diese Beispiele berühren eine andere Qualität der Binnen- wie der Außengrenzen von Atmosphären als die hier in den Fokus rückenden. Dabei wird sich zeigen, dass angesichts der Prädimensionalität auratischer Gewölke die Rede von »innen« und »außen« nur in einem metaphorischen Sinne gerechtfertigt erscheint. Atmosphärische Umbrüche affizieren die Individuen, die sich in deren Einflussbereich befinden. Meistens bleiben solche Prozesse leiblich vernommener Tingierung von einem Gefühl unbemerkt. Sie stimmen über veränderte Vitalqualitäten von Umgebungen den Umgang der Menschen mit den Dingen, sich selbst und anderen; daraus erwachsen »neue« Präsenzen von Subjekten und Objekten in Situationen, aber nicht selbstverständlich auch schon »neue« Atmosphären. »Das Aufkommen einer neuen Atmosphäre [gibt] dem Dasein eine andere Färbung, einen anderen Ton, eine neue Gestimmtheit […], ehe man im positiven oder negativen Sinne von neuen Bedeutsamkeiten oder gar Bedeutungen sprechen kann.« 154 Wenn mitunter kaum bemerkbare Veränderungen atmosphärischer Momente das affektive Mit-Sein in Situationen auch umstimmen mögen, so ist die Rede von einer »neuen« Atmosphäre doch nicht immer treffend. Schon der in der Mikrologie zu findende Hinweis auf eine geradezu universelle Mobilität von Dingen und Menschen, die die Szene des Marktes gefüllt haben, macht eine Facette im Wesen eines Wochenmarktes deutlich: ein mannigfaltig-dichtes Treiben von hoher Dynamik. Bewegungen der verschiedensten Art bilden einen mehrdimensionalen Grundstrom, in dem sich ein Markt konstituiert. Diese Bewegungen vermitteln Wandlungen, die sich am Beispiel in bestehende Atmosphären gleichsam eingeschrieben haben. Schon geringfügige sachverhaltliche Verschiebungen einer Situation reichen im Einzelfall aus, um eine Atmosphäre in einem anderen »Vitalton« zur Erscheinung kommen zu lassen. Die Anmerkungen zu besonders lauten Ausrufern hinter ihren Warenauslagen weisen ebenso 154

Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 73.

189 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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auf solche atmosphärischen »Lichter« hin wie Gerüche oder Geräusche, die meist plötzlich (s. auch Kapitel 2.3.9) in den Bereich der Wahrnehmung traten. Mitunter waren es auch markttypische Ereignisse, wie die mit großen Fischresten hantierende Afrikanerin, die zur Atmosphäre des Marktes gehörten und sie zugleich geradezu ekstatisch zum Ausdruck gebracht haben. Schließlich haben diese und ähnlich markante atmosphärische Segmente den Wandel des »gestimmten Raumes« (Kruse) in Permanenz eindrücklich herausgestrichen. Selbst da, wo es im »Außen« des Marktes gar keine Veränderungen gibt, wenngleich das angesichts der Dynamik eines Marktes auch kaum denkbar ist, kann eine Atmosphäre noch nicht einmal für kurze Zeit als »diese« Atmosphäre beharren. Schon die kurzfristige Gewöhnung an eine Situation hätte Rückwirkungen auf die persönliche Stimmung und damit auf das affektive Resonanzmedium der Wahrnehmung. Eine Atmosphäre müsste sich in ihrem stimmungsmäßigen Erleben folglich auch dann transformieren, wenn sie sich (auf der Objektseite) gar nicht verändert hat, ist es doch die Macht der gelebten Zeit, die die Aufmerksamkeit eher ins Grelle zuspitzt oder ins Matte abschwächt. Die Mikrologie illustriert eine Permanenz des Wandels aller nur erdenklichen Bedingungen der Konstitution einer Atmosphäre. Ausschlaggebende Medien sind neben den Geschehnissen des Marktes auch die Modalitäten seines situativen Erscheinens. So stimmen Lichtverhältnisse einen Raum ebenso wie Temperaturen, der Lauf der Zeit (im Empfinden der Dauer bzw. der »gelebten Zeit«) und die Bewegung der Luft. Schon der Begriff der Atmosphäre erinnert als »etwas Luftiges um den Menschen herum« 155 an das pneumatische Wesen von Umwölkungen, den Aspekt des Wehenden und schließlich den Wind-Charakter, der Hermann Schmitz den Atmosphären im Allgemeinen zuschreibt und der zugleich in der Ikonographie des Windes eine zentrale Rolle spielt. 156 Der Wind steht in seiner unsichtbaren Bewegung schlechthin für den Wandel. Mit anderen Worten: Atmosphäre ist etwas Windartiges, das sich in seiner Spürbarkeit durch Dynamik und Wandel zu erkennen gibt. Auch deshalb merkt Martin Seel an:

155 156

Ogawa, Die Atmosphäre im Gefängnis von Sokrates, S. 371. Vgl. Nova, Das Buch des Windes.

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»Daß sich etwas in einem atmosphärischen Erscheinen zeigt, kann also durchaus bedeuten, daß sich etwas ins seinem atmosphärischen Erscheinen zeigt: daß eine bereits wirksame Atmosphäre auffällig wird. Es kann aber auch bedeuten, daß sich die Atmosphäre mit der ästhetischen Aufmerksamkeit schlagartig verändert […]« 157.

Dies macht einmal mehr auf die Dynamik und Lebendigkeit und Erlebnisabhängigkeit der Atmosphären aufmerksam. Sie können sich in der subjektiven Wirklichkeit des Erlebens verändern, wenn sie in uns einen Prozess der Bewusstwerdung auslösen oder die Aufmerksamkeit (um-)stimmen. Dass keine Atmosphäre in der Wahrnehmung je kürzer oder länger überdauern kann, ohne schon deshalb zum Gegenstand der Wandlung zu werden, macht uns der sprichwörtlich »erste Eindruck« 158 deutlich, den man immer nur bis auf Weiteres von einer noch fremden Person oder Sache gewinnen kann. Als »erster« Eindruck wird er schon bald durch einen zweiten und dritten erweitert, differenziert, oft revidiert oder ganz verworfen. Die Metapher des »ersten Eindrucks« setzt einen chronologisch-fließenden Charakter der Wahrnehmung voraus und damit schlechthin eine Wechselwirkung von Erscheinen und Erleben. Diese darf jedoch nicht in einem linearen Sinne verstanden werden. Wenn, wie Hermann Schmitz feststellt, »das als Atmosphäre mächtige Gefühl […] die Objekte der Vorstellung in sich« 159 aufsaugt, so bedeutet das nur, dass jede noch so geringfügige Veränderung einer Umgebung dazu führen kann, dass sich im Lichte eines Neuen gleichsam alles verändern kann. Bewegung als Modus des Wandels vermittelt sich nicht nur motorisch, sondern auch ästhetisch durch das Erscheinen der Dinge, die auf verschiedene Weise aus sich heraustreten. Das ästhetische Gesicht einer Reihe von Lindenbäumen ist der Wahrnehmung in der heißen Mittagssonne in anderer Weise gegeben als in einer kühlen Vollmondnacht oder bei feuchtem, dichtem Nebel. Die »relative Selbständigkeit« der Dinge 160 gerät insbesondere in ihrem ekstatischen Escheinen (in den sogenannten »Dingekstasen«) ins Wanken. Die Dinge sind – zumindest in phänomenologischer Hinsicht – nicht so Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 153. Zur atmosphärischen Wahrnehmung des »ersten Eindrucks« vgl. auch Griffero, Atmospheres: Aesthetics of Emotional Spaces, Kapitel 1.4. 159 Schmitz, Band III, Teil 2, S. 208. 160 Böhme, Das Ding und seine Ekstasen, S. 176. 157 158

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fixiert, wie sie der Common Sense aufgrund ihres physischen Beharrens in der Zeit versteht. Die Dingekstasen lassen »das Ding hervortreten […] und präsent sein«. 161 Damit tragen sie zum Erleben bewegter Dinge bei. Im Wandel der Atmosphären spielen die Halbdinge eine wichtige Rolle. Sie wirken unmittelbar auf die Modalitäten spürbarer herumräumlicher Vitalqualitäten ein. Am Beispiel der atmosphärischen Innenraumgestaltung im Klinikum München-Harlaching illustriert Werner Mally den Wandel des Raumerscheinens und -erlebens durch den architektonischen Einsatz von Farbe, Licht und Temperatur. 162 Wenn sich das Erleben auch gerade in der Zeit – zwischen Tag und Nacht – so eindrücklich wandelt, entfaltet nicht die relationale Zeit diese Eindrucksmacht, sondern die »gelebte Zeit«, die selbst für »Wandel« steht und die Dynamik der Atmosphären trägt. Wandel heißt nicht immer, dass etwas Neues kommt. Auch ein gewisses Nachwirken von Altem kann sich spürbar als etwas »Neues« ausdrücken. Das schließt das langsame Verschwinden und Abflauen der Vitalenergie von Atmosphären ein, die sich im Gefühlsraum persönlichen oder gemeinschaftlichen Erlebens gegen die immersive Macht einer sich ausbreitenden neuen Vitalqualität nicht mehr behaupten können. Das Beispiel des zu Ende gehenden Marktes macht diese Übergänge mit Nachdruck deutlich. Der Abbau des Marktes stellt sich schlechthin als »die große Wandlung« dar. Sie drückte sich atmosphärisch unter anderem durch Stimmen aus, die lauter wurden und sich aus einer (lautlich-)sprachlichen Klangkulisse herausgehoben haben: durch Abräumarbeiten, lautes Verladen von Dingen wie Kisten und Transportbehältern, anschwellende Geräusche (»es wird immer lauter«), Gerüche von Desinfektionsmitteln, das Einfallen von Möwen aus dem Himmel, das suchende Umherstreunen bürgerlicher Restesammler und schließlich das Auftauchen der städtischen Reinigungsfahrzeuge. Den Wandel von Atmosphären eines Marktes bemerkt man aber nicht nur an seinem sich schrittweise ankündigenden und dann immer unübersehbar werdendem Ende. Walter Benjamin beschreibt den Wandel eines Marktbeginns, und darin jene Phase, in der sich der frische Anfang in einem monotonen Treiben verliert:

161 162

Ebd. Mally, Tag&NachtRaum im Klinikum München-Harlaching.

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»Märkte sind die Orgien der Morgenstunden, und Hunger läutet, würde Jean Pal gesagt haben, den Tag ein wie Liebe ihn aus. Münzen fuhren synkopierend darein, und langsam schoben und stießen sich Mädchen mit Netzen, die schwellend von allen Seiten zum Genusse ihrer Rundungen luden. Kaum aber fand ich mich angekleidet zu ebener Erde und wollte die Bühne betreten, waren Glanz und Frische dahin. Ich begriff, daß alle Gaben des Morgens wie Sonnenaufgang auf Höhen empfangen sein wollen. Und war nicht, was dies zart gewürfelte Pflaster noch eben beglänzte, ein merkantiles Frührot gewesen? Nun lag es unter Papier und Abfall begraben. Statt Tanz und Musik nur Tausch und Betrieb. Nichts kann so unwiederbringlich wie ein Morgen dahin sein.« 163

Die Phasen eines beginnenden wie zu Ende gehenden Marktes machen die synchronen Geschehnisse innerhalb der Wandlung »einer« Atmosphäre denkwürdig, wenngleich die Einnahme dieser Metaperspektive von der gewöhnlichen Aufmerksamkeit meistens abgeschirmt wird. Die große Variation der Veränderungen des Dahinströmenden wirft derweil die Frage auf, wo die Grenze zwischen dem Wandel »einer« (singulären) Atmosphäre und deren Übergang in und Vermischung durch eine andere verläuft. Es sind nicht nur die sinnlichen Eindrücke im engeren Verständnis der einzelnen Sinne, die für Wandlung sorgen, sondern auch die Synästhesien, in denen sich multiple Eindrücke leiblich zu spüren geben. Ein Beispiel gibt der Architekt Peter Zumthor. Wenn er vom »Klang des Raumes« 164 spricht, so meint er nicht den lautlich hörbaren Klang, sondern das synästhetisch spürbare Anklingen einer Raum-Atmosphäre. Es geht im synästhetisch bewussten Bauen unter dem Aspekt des Hörbaren deshalb auch um weit mehr als nur die Anbahnung akustischer Resonanzen der Baustoffe und Materialien. Der Klang eines Raumes verdankt sich ganz wesentlich einer Belebung durch bewegungssuggestiv im Wege leiblicher Kommunikation sich übertragender Rhythmen, die den physischen Raum in einen gestimmten Raum verwandeln und ihn zu einer performativen Bühne machen.

163 164

Benjamin, Denkbilder, S. 53. Vg. Zumthor, Atmosphären. Architektonische Umgebungen, S. 29.

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2.3.13 Atmosphärische Übergänge und Überlagerungen Was soeben unter dem Aspekt der Wandlung »einer« Atmosphäre diskutiert wurde, macht zugleich auf die Diffusität der Grenze zwischen ihnen aufmerksam. Überlagerungen werden in der Mikrologie zahlreich beschrieben, wobei die Übergänge selbst (von einer gleichsam mikrologischen Atmosphäre in eine andere) als solche kaum in den Vordergrund der Aufmerksamkeit gerückt sind. Das Bemerken eines Überganges setzt ja die Wahrnehmung einer Schnittstelle voraus, an der eindrücklich wird, dass und wie sich das eine vom anderen trennt und dabei etwas Neues entsteht. Solche evidenten Schnittstellen gibt es beim Wechsel von Situationen in aller Regel aber nicht. Der Wandel (s. Kapitel 2.3.12) vollzieht sich meistens als diffuser Übergang, mündet in Übergänge oder ist Ausdruck von bereits stattgefundenen Übergängen, weshalb man Wandlungen auch als »fließend« bezeichnet. Die Mikrologie enthält einige Beispiele für solche atmosphärischen Übergänge und Überlagerungen, wenn sich diese der lebensweltlichen Wahrnehmung angesichts komplexer Marktsituationen im Allgemeinen auch nicht aufdrängen, 165 vielmehr als Ausdruck des dynamischen Wesens eines Wochenmarktes eher präreflexiv erlebt werden: 1. Schon die Bewegung vom Stand eines Gemüsehändlers zu dem eines Fischhändlers impliziert einen Übergang zwischen je eigenen (Mikro-)Atmosphären. Allein die große Unterschiedlichkeit der angebotenen Waren suggerierte etwas örtlich je Eigenes. Selbst mit der Identität der Waren haben sich oft bestimmte Atmosphären verbunden. Das heißt, dass sich Wareneigenschaften (bzw. die Eigenschaften von Dingen) auf die Atmosphäre der Gegend eines Marktstandes übertragen. Damit zeigt sich erneut die Verwurzelung von Atmosphären in Situationen, sind es doch gerade deren Sachverhalte (zum Beispiel: was an den einzelnen Ständen verkauft wird) und Programme (zum Beispiel: wie mit den Waren umgegangen wird), die das je Eigene eines großmaßstäblichen Marktortes kennzeichnen. Wenn »der« 165 Die Beschreibungen der Mikrologie fußen auf der programmatischen Fokussierung der Aufmerksamkeit für atmosphärische Eindrücke, setzen damit den erkenntnistheoretischen »Ausstieg« aus dem Rahmen der Lebenswelt voraus.

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Markt ästhetisch auch als eine Atmosphäre empfunden werden mag, so erweist sich diese doch bei genauerer (analytischer) Rekapitulation ihres Erlebens »nur« als Produkt einer unzählbaren, aber vielfältigen Collage von Mikrosituationen, die in Gestalt transatmosphärischer Übergänge und Überlagerungen ineinander aufgehen. 2. Noch neben dem Platz des Marktes war dessen Atmosphäre auf einer umlaufenden Straße spürbar. Darin drückt sich der prädimensionale Raumcharakter der Atmosphären aus, die nicht an einem exakt lokalisierbaren (mathematischen) Ort »bleiben«, sondern in ihrem wolkigen Wesen in »Gegenden« hinein diffundieren und sich mit anderen räumlichen Vitalqualitäten vermischen. So werden in der dichten Beschreibung einige Straßencafés auf dem Gehweg der den Platz umschließenden Stadtstraße angesprochen, die für mehrere Passantinnen offensichtlich attraktive Orte der Selbstpräsentation waren. Der »tatsächliche« Raum (Dürckheim) wies in diesem Bereich in seiner unmittelbaren Nähe zu den kahlen Rückseiten der Marktstände und den aufgehäuften Abfällen keine für Restaurants üblichen Umgebungsqualitäten auf. Als atmosphärische Übergangszone mit einer ganz eigenen, jedoch positiv erlebten »Rand«-Qualität hatte sich dagegen gerade dieser Bereich erwiesen. Das Beispiel erinnert daran, dass Atmosphären in ihrer anziehenden oder abweisenden Eindrucksmacht nie aus sich heraus verstanden werden können, weil der je vitale Affekt-Ton stets auch von persönlichen emotionalen Resonanzen abhängig ist. Zugleich versteht es sich von selbst, dass sich solche Affekt-Töne immer nur in bestehenden (lokalen bis nationalen) kulturellen Milieus entfalten können (s. auch Kapitel 2.3.11). Yuho Hisayama spricht diese Beziehungen mit den Begriffen »Homosphäre« und »Heterosphäre« an. »Die Homosphäre würde dabei eine der Leibessphäre gegenüber anders gestimmte Atmosphäre bezeichnen. Das heißt: Wenn eine Atmosphäre der Leibessphäre gegenüber fremd ist, wird sie als Heterosphäre wahrgenommen« 166.

Daraus folgt eine weitere Frage, die hier nur umrissen werden soll: Wo und wie sind die emotionalen Dispositionen begründet, die eine Atmosphäre der (attraktiven) leiblichen Weitung oder (aversiven) Engung erlebbar machen? Am gegebenen Beispiel kann dies ebenso 166

Hisayama, Erfahrungen des ki, S. 40.

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Gründe in der sozialisatorischen Vermittlung von Normen haben wie in intuitiv und habituell einverleibten Wahrnehmungsmustern als Spiegel der affektiven Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Situation mit ihren eigenen kulturell inkludierenden wie exkludierenden Werten und Symbolen. 3. Mit dem vorangehenden Beispiel verbindet sich ein weiteres. Die Rückseiten der Marktstände waren ja in ihrer Ästhetik auch dann der Wahrnehmung gegenüber präsent, als sie allein aus der Perspektive des Marktes wahrgenommen wurden. Während vor den Marktständen das Leben pulsierte und ganz vom dichten und permanenten Wechsel von Kaufen und Verkaufen getragen war, kündigte sich daneben, wo Gemüsereste und überzählige Verpackungen abgelegt wurden, schon deren Kehr(icht)seite an. So hatte der Markt – mehr im atmosphärischen als im tatsächlichen Raum – nicht nur ein »Vorne«, sondern auch ein »Hinten«. Dieses hat die differenzielle Vielfarbigkeit des Marktes aber nicht zum Widerspruch gesteigert, es fügte sich vielmehr ins heterogene Bild »der« typischen Atmosphäre des Marktes ein. Die Schauseiten der inszenierten Waren (vom Apfel bis zum Rochen) korrespondieren auf einem verdeckten Niveau der Aufmerksamkeit einer Abfallseite, die der schöne Schein der Vorderseite schon verlangt. Die »glättende« Wahrnehmung vollzieht sich prozesshaft innerhalb der »gelebten Zeit« des Marktes. Solange der vitale Handel das Markttreiben dominiert, sind die »störenden« Eindrücke noch eine Nebensache und können aus dem vorherrschenden Erlebnisbild herausgehalten werden, obwohl die Abfälle in den Zwischenräume neben den Wagen unverborgen sichtbar sind. Diese widerspruchstilgende Wahrnehmung ist nur Ausdruck der aktuellen Situation und Spiegel des gelebten und gestimmten Raumes. Es ist ganz vom dynamischen Verlauf der lebendigen Situation und Atmosphäre des florierenden Marktes abhängig, wie lange ästhetische Kehrseiten übersehen werden können, bevor sie ins Idiosynkratische kippen (s. auch 6). 4. Die Atmosphäre des Marktes wurde von einem dispersen Handel mit Kleinigkeiten getragen – von den marktzeitlich »ewigen« Kreisläufen des Verkaufens und Kaufens von Gemüse, Käse, Geflügel, Fisch und gebrannten Mandeln. Was aus dem Spektrum der Protentionen dessen abweicht, was von einem Markt erwartet werden darf, bildet Bruchzonen einer irritierenden Aufmerksamkeit. Die Mikro196 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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logie weist in diesem Sinne auf einen »abweichenden« AugenblicksEindruck hin, in dessen Zentrum ein marktkonstitutives Programm fragwürdig wurde: Ein Fischhändler tat etwas, dem es offensichtlich an jedem üblichen Geschäfts-Charakter mangelte, als er (nicht dort, wo üblicherweise der Fisch verkauft wird, sondern neben dem Stand) einiges Seegetier an eine Afrikanerin abgab – augenscheinlich ohne Bezahlung. Diese inoffizielle, vom Programm des Marktes abweichende Geste stellte sich augenblicklich als aufblitzende, segmentierte Auffälligkeit dar. Sie hatte (innerhalb der programmatischen Zuspitzung der Wahrnehmung) den Charakter eines undeutlich bleibenden Übergangs zwischen einer offiziellen und einer inoffiziellen Ökonomie. Der Eindruck hatte in seinem situationsimmanenten Widerstreit eine so große Macht, dass das gesamte Theater der globalen kapitalistischen Ökonomie auf den Grat ethischer Fragwürdigkeit geriet. Das Programm der ewigen Kreisläufe von Geld und Waren schien ja in diesem Moment aufgehoben. 5. Der Übergang zwischen Atmosphären zeigt sich selten als Wechsel, der sich vergleichen ließe mit dem Verlassen eines feuchten und kalten Kellerraumes und dem Eintritt in einen wohl temperierten und behaglichen Wohnraum. Der Wechsel zwischen den Atmosphären des Marktes – und dies dürfte ähnlich komplexen Situationen gleichen – vollzieht sich in aller Regel im Sinne kaum wahrnehmbarer Überlagerungen. Während das Eine noch spürbar ist, macht sich ein Anderes schon bemerkbar. Dann kommt es zu einer Überlagerung verschiedener Eindrucksfelder. 6. Spitzt die Überlagerung der Atmosphären die Gegensätze zu, kann es zu deren segmentierender Trennung kommen. Eindrücke, in denen sich etwas Trennendes zur Geltung bringt, künden dann das »Ende« einer Atmosphäre an. Indes ist die Differenzierung zwischen einem Übergang und einer Trennung schon deshalb schwer zu fassen, weil Trennung ja selbst eine spezielle Art des Übergangs ist, mit anderen Worten atmosphärischer Charakter des Übergangs zwischen mindestens zwei Atmosphären. Ich will an dieser Stelle deshalb auch offen lassen, worin sich das Ende des Marktes, also seine Trennung vom Raum des Platzes, atmosphärisch letztlich definitiv zu spüren gab. Es gab eine ganze Reihe von Ereignissen, die auf solche Trennungen in einem atmosphärisch »ankündigenden« Sinne hindeuteten. Ein Beispiel sei herausgehoben: Schon im lautlichen Anschwellen der Geräu197 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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sche des Abbaus der Stände zur Zeit des zu Ende gehenden Marktes kam es zu einer Überlagerung der Atmosphären, worin das Ende des Marktes vorschien. Der Eindruck des Endenden und Trennenden setzte sich aber erst durch, nachdem sich der zunächst parallel zur Demontage des Marktes noch fortgeführte Handel ganz aufgelöst hatte. 7. Zu einer multiplen Überlagerung heterogener Atmosphären kam es schließlich am Ende des Marktes mit dem Auftauchen Reste fressender Möwen, den Menschen, die jenseits jeder herrschenden Ökonomie nach Verwertbarem Ausschau hielten, den Müllfahrzeugen, die die Abfallhaufen aus faulendem Obst und zerbrochenen Paletten wegschafften, und schließlich den Reinigungsfahrzeugen der Stadt, die das Pflaster abfegten, übersprühten und dem Platz wieder zu reiner Sichtbarkeit verhalfen. Die Identität des Marktes geriet in dieser finalen Situation auf den Grat. Die sich überlagernden Atmosphären gingen, je mehr die Artefakte des Marktes verschwanden, zunehmend nicht mehr in einer umklammernden und eine Identität suggerierenden Gestalt auf. Vielmehr kündigte sich das endgültige Ende einer Situation in einer Art Rauschen der Bilder und Bedeutungen an und damit die irreversible Auflösung des Marktes, sodass sich die Atmosphäre eines leeren städtischen Platzes wieder ausbreiten konnte. 8. Nicht zuletzt überlagerten die beiden bereits ausführlich besprochenen Musikinszenierungen am Rande des Marktes dessen Atmosphären in eindrucksmächtiger Weise. Zwar berührten sich zwei im Prinzip inkommensurable Atmosphären; dennoch mündeten sie im Erleben nicht in den idiosynkratischen Bruch eines als Ganzes Empfundenen, sondern in eine atmosphärisch fruchtbare Synthese und Spannung. Vor allem zu dem in Demontage befindlichen Markt sollte die Jazzimprovisation »passen« (s. auch Kapitel 2.3.14 / 2). Das Beispiel zeigt, unter welchen Bedingungen eine Überlagerung des Heterogenen nicht zur Trennung führen muss, sondern sogar eine ästhetische Bereicherung vermitteln kann.

2.3.14 Atmosphärische Spannungen Sich überlagernde und konkurrierende Atmosphären verdanken sich oft spürbarer Spannungen, dies vor allem dann, wenn es eine Bezie198 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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hung der Inkongruenz, der Widersprüchlichkeit oder wie auch immer begründeter Inkompatibilität gibt. Solche Spannungen müssen aber nicht schon a priori aversiv oder idiosynkratisch wahrgenommen werden. Einige Beispiele aus der Mikrologie zeigen sogar ganz im Gegenteil, dass gerade Spannungen etwas Neues als beeindruckend und attraktiv erscheinen lassen können. Spannungen gibt es im Bereich der Naturwissenschaften unter anderem in der Physik (bei Körpern, die ihre Elastizität vorübergehend verloren haben), in der Elektrizität sowie in der Chemie. Hier sind nicht diese, sondern leibliche und geistige Spannungen von Belang. Sie zeigen sich in der Lebenswelt im Wesentlichen in zwei Bereichen, zum einen in der subjektiven (individuell wie kollektiv vorkommenden) Gespanntheit einer Erwartung 167, zum anderen aber auch in der Wahrnehmung gespannter Dinge, wie einer Brücke oder eines Seils, sowie schließlich gespannter Atmosphären in der sozialen Welt. Letztere sind dann durch die Überdehnung einer atmosphärischen Elastizität geprägt. Eine im weitesten Sinne »gespannte« Atmosphäre muss jedoch nicht auf (beeinträchtigte) zwischenmenschliche Beziehungen zurückgehen; sie kann sich auch durch die von Dingen ausgehenden Bewegungssuggestionen auf das emotionale Befinden übertragen. Zu solchen Spannungen kommt es zum Beispiel als Folge innenarchitektonischer Inszenierungen etwa in Kaufhäusern, Wartezimmern oder Kirchen. Deshalb sind die Kirchenbauer auf andere Weise als die Innenarchitekten von Kaufhäusern daran interessiert, Dinge im Raum so einzusetzen, dass ihr Erscheinen die Menschen in einem programmgemäßen Sinne stimmen möge, auf dass folglich Homosphären entstehen und nicht Heterosphären. Spannung steht in der Schmitz’schen Phänomenologie in einer antagonistischen Beziehung zur Schwellung; diese korrespondiert mit Enge, jene mit Weite. Durch ein Übergewicht der Spannung (zum Beispiel in der Angst oder im Schreck) kann der sich zwischen Enge und Weite aufbauende vitale Antrieb so weit aus dem Lot geraten, dass die Weite erdrückt wird. 168 Der Spannung eignet dann ein Moment zuspitzender Engung. Die Bewegungssuggestionen und synäs-

167 So deutete das Wort »Spanner« in seiner ursprünglichen Bedeutung auch nur auf jemanden hin, der in lebhafter Spannung und voller Erwartung eines wie auch immer gearteten Ereignisses ist; vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 16, Sp. 1916. 168 Vgl. Schmitz, Der Leib, S. 18.

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thetischen Charaktere sichern auf dem Wege leiblicher Kommunikation die »Übereinstimmung zwischen dem am eigenen Leib Gespürten und dem am Gegenstand Wahrgenommenen« 169 – oder sie führen zum heterosphärischen Bruch. An den Bauformen konkretisiert sich der Ausdrucksgehalt der gegenständlichen Formen, die sich in ein bedeutungskomplementäres Gefühl übertragen: »Der gotische Stil ist […] bestimmt durch Spannung« und Wölfflin zitierend ergänzt Schmitz: »eine gotische Haltung: jeder Muskel gespannt, die Bewegungen präzis, scharf, aufs Exakteste zugespitzt, nirgends ein Gehenlassen, nichts Schwammiges, überall bestimmtester Ausdruck eines Willens.« 170 In der Mikrologie kommt es nicht auf Baugestalten oder Artefakte der Kunst an, deren bewegungssuggestiver oder synästhetischer Ausdruck eine Spannung (oder eine Schwellung) hervorrufen würde, sondern auf Atmosphären, von denen leibliche Wirkungen auf das Befinden ausgehen. Auch sie werden über Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere übertragen. Auf diesem Hintergrund lassen sich einige in der Mikrologie explizierten Beschreibungen, in denen sich atmosphärische Spannungen andeuten, verständlicher machen: 1. Wenn Spannungen unter anderem durch Zuspitzungen entstehen, dann gilt dies nicht nur für die bewegungssuggestive Übertragung spitzer Bauformen (wie in der Gotik) in ein Gefühl der Spannung, sondern auch in anderen Situationen räumlichen Erlebens. So sieht man die spitze Ecke eines Gebäudes oder einen Platzes nicht nur im visuellen Sinne. Man bekommt sie als spitzen Ort im atmosphärischen Raum auch leiblich zu spüren. An einer gebauten Ecke spitzt sich nicht nur die geometrische Form eines Gegenstandes zu, sondern auch die Aufmerksamkeit. Das wird vor allem beim Übergang von einem offenen und atmosphärisch bergenden Raum in einen Eckraum deutlich, an dem sich neue Wege in ein Außen gabeln, das in einem Gefühl der Ungewissheit als etwas Unbekanntes in der sinnlichen Erfahrung noch aussteht. An Ecken wartet die Überraschung. Wer an einer Ecke aus einem räumlichen Weite-Erleben gleichsam herausgerissen wird, ist ins Plötzliche gestellt und damit einem Gefühl der Spannung ausgesetzt. 169 170

Ebd., S. 97. Ebd., S. 104.

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An Ecken öffnet sich der Horizont für mögliche Bifurkationen; die Protentionen des Vertrauten müssen einer geschärften Aufmerksamkeit gegenüber einem noch Unabsehbaren weichen. Solche Ecken hatte auch der Marktplatz; an einer platzierte sich – nicht zufällig – der Klavierspieler. An dieser Ecke endete auch das markttypische Treiben und ein neuer Horizont unsicherer Erwartungen musste sich erst langsam öffnen. Ecksituationen reklamieren erhöhte Wachsamkeit; man muss auf etwas Neues (was auch immer das vielleicht sein wird) gefasst sein. Damit stellt sich die Aufgabe der Rekonstitution der Bezugspunkte der Orientierung. 2. Wo das Unerwartete als etwas noch Unbekanntes eintritt, antwortet die leiblich spürbare Spannung auf einen Mangel an Vertrautheit. Ein Gefühl der Ent-spannung kehrt erst mit der Rekonstitution entfalteter Gegenwart zurück, das heißt mit der Wiedergewinnung einer grundlegenden Orientierung in den Kategorien Sein, Hier, Jetzt, Subjektivität, Dieses. 171 Spannungen hatten in diesem Sinne insbesondere die Jazzimprovisationen an der Ecke des Marktplatzes ausgelöst. Aber sie dienten zugleich auch der ästhetischen Bewältigung von Spannungen. Das Duo »antwortete« mit seinen asymmetrischen Klangfolgen auf eine angespannte Atmosphäre, in der die Spuren eines dahinsiechenden Marktes neben den höchst virulenten Aktivitäten seines Abbaus in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen präsent waren. Das spontane Spiel war unmittelbar auf diese aktuelle Situation des endenden Marktes bezogen und damit Entspannung suchender Ausdruck leiblicher Kommunikation. 3. An jenen Randzonen des Marktes, wo der Abfall aus dem laufenden Marktgeschäft abgelegt worden ist, entstand zumindest eine potentielle Spannung. Diese hatte einen ästhetischen Charakter, der in einem hauptsächlich visuellen Widerspruch zwischen den inszenierten Vorderseiten der präsentierten Waren zum einen und den Kehrichtseiten der Stände zum anderen bestand. An zwei mikrologischen Orten des Marktes zeigte dieser ein widersprüchliches, wenn auch nicht a priori schon »heterosphärisches« 172 Gesicht.

171 172

Vgl. Schmitz, Neue Grundlagen, S. 110 ff. Vgl. im Sinne von Hisayama, Ästhetik des kehai.

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4. Auch in einigen Zonen des Gehweges, wo sich einige Frauen in ostentativer Geste platzierten, wies der atmosphärische Raum eine ästhetische Spannung auf. Erneut war es die Kehrichtseite des Marktes, die zum übrigen Raum und seiner Ordnung in einem Verhältnis der Spannung stand. Diese wurde von den sich dort niederlassenden Passantinnen aber offensichtlich als willkommenes Milieu der Selbstdarstellung empfunden, sonst hätten sie sich nicht gerade hier niedergelassen. Sie verdoppelten die Spannung dieses Ortes durch ihre sichtbare Anwesenheit noch einmal, indem sie ihrerseits in ihrem Da-Sein einen spannungsreichen Gegensatz zum gebrochenen Bild des rückseitigen Marktes produzierten. 5. Zu einer dichten Folge atmosphärischer Spannungen kam es in der Phase des zu Ende gehenden Marktes. In der schnellen Überlagerung von Situationen der Standdemontage bildeten sich diese in Übergängen. Dabei war die Situation des zu Ende gehenden Marktes durch eine spannungsreiche Verkettung immer neuer und sich zudem mikrologisch zuspitzender Abbau-Situationen geprägt. Erst am Ende aller Aktivtäten, mit denen der Markt verschwand, konnte sich die Spannung zwischen den Übergängen verschiedenster Unruhe-Situationen in der Leere des Platzes auflösen. Die Beispiele zeigen, dass Spannungen nicht nur Ausdruck anziehender und abstoßender Beziehungen sind, die Menschen zu mitunter sehr kleinräumlich verdichteten Atmosphären einnehmen können. Spannungen gehören zur jeder lebendigen Performanz eines Marktes. Ohne sie mangelte es einem jeden an der ihn gerade so attraktiv machenden Eigenart. Ein »einfältiger« Markt, auf dem nicht viel los wäre, müsste in langweiliger Monotonie jedes ästhetische Interesse verfehlen. Schon zwischen zwei Marktständen besteht insofern notwendigerweise eine Spannung, als sich der eine vom anderen durch Merkmale der Differenz unterscheidet. Solche Differenzen gibt es nicht erst zwischen den Ständen von Fisch-, Gemüse- oder Geflügelfleisch-Händlern, sondern schon zwischen zwei Ständen ein und derselben Warengattung. Dies schon deshalb, weil die Verkäuferinnen und Verkäufer je andere sind und auch die ausliegenden Waren nicht mit denen eines benachbarten Standes identisch sein können. Spannungen können unter bestimmten Umständen eine fesselnde Macht über Menschen ausüben. Dabei kommt es nicht allein auf 202 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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die Suggestivität der Eindrücke an, sondern ebenso auf die persönliche Resonanzfähigkeit gegenüber einer erscheinenden Situation. Hat eine Atmosphäre Macht über das Befinden einer Person erlangt, kann diese nicht ohne weiteres wieder eine emotionale Distanz zu ihr einnehmen. Man kann sich ihr dann nur schwer wieder entziehen. Fesselnde Spannungen berühren das Nähe-Distanz-Verhältnis zwischen einer Atmosphäre und einem stimmungsmäßig erfassten Individuum. Der japanische Philosoph Yuho Hisayama spricht dieses Phänomen mit dem Wort kûki an. Das kûki ist nicht nur eine Atmosphäre, sondern ein mächtiger ›Zeitgeist‹ bzw. ›Ortsgeist‹. Dieser hat »auf die ihm gewissermaßen willenlos ausgesetzten Menschen gravierende Einflüsse« 173. Kûki wird als etwas »erfahren, das den Menschen unmittelbar affiziert und zudringlich auf ihn einwirkt, was […] wiederum eine Distanzierung von ihm erheblich erschwert.« 174 Es entsteht das Gefühl der »Zugehörigkeit zu einer Situation oder Gemeinschaft« 175. Nicht alle Atmosphären des Marktes zeichnen sich durch dieses Merkmal aus. Die meisten, die sich an und in der Gegend bestimmter Marktstände entfalteten, kann man ohne Distanz-Hindernisse wieder verlassen. Aber es gibt auch solche immersiven Atmosphären, die eine bindende und geradezu obsessive Macht ausstrahlen, sodass sie die unter diesem Einfluss stehenden Menschen festhalten, ohne im engeren Sinne Zwang auszuüben. Entsprechende Einflüsse können von den Waren eines exotischen Standes ebenso ausgehen wie von einer Performance, die das Treiben des Marktes auf verfremdende Weise unterbricht.

2.3.15 Zur Verortung von Atmosphären Atmosphären sind keine Dinge und deshalb auch nicht wie diese im relationalen Raum verortet. Sie sind in Umgebungen an-wesend; Umgebung ist dabei als »Gegend« zu verstehen (zum Begriff der Gegend s. auch Kapitel 4.2.1). Wie Atmosphären haben auch Gegenden keine Flächen und Kanten; sie sind prädimensional ausgedehnt und in dieser Ausdehnung da räumlich spürbar, wo wir in eine auratische 173 174 175

Hisayama, Individuum und Atmosphäre, S. 61. Ebd. Ebd., S. 67.

203 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Sphäre hineingezogen oder von ihr berührt werden. Atmosphären und Gegenden können nicht mit einem einzelnen Sinn wahrgenommen und nicht gesehen werden wie ein daliegender Stein und nicht gerochen werden wie ein in der Nähe schwelendes Feuer usw. Die Wahrnehmbarkeit einer Atmosphäre ist von der Intensität abhängig, über die sie sich dem leiblichen Spüren darbietet. Das schließt zwar immer sinnliche Wahrnehmungen ein, aber keine einzel-sinnlichen. Die Beispiele der Mikrologien zeigen, dass wir es meistens mit simultaner Wahrnehmung zu tun haben. »Wo« eine Atmosphäre letztlich ist, erweist sich immer auch als Frage nach unserem eigenen So-daSein. Wir spüren sie aber nicht in einer maximalen Intensität, denn das hieße, (allein der Möglichkeit nach) schlagartig in ihrer »Mitte« sein zu können. Damit würde übersehen, dass wir auf die eine oder andere Weise erst einmal in ihren Einflussbereich hineingeraten sein müssen. Meistens kommen wir – etwa im Zuge einer Bewegung – in ihre Nähe, wie wir uns aus dieser Nähe wieder entfernen. Dabei ist hier nur an solche Atmosphären zu denken, die es außerhalb unseres eigenen leiblichen Ortes schon gibt, bevor wir sie wahrgenommen haben. So hat es auch die vielen Atmosphären auf dem Markt unabhängig von unserem Eintreten in ihren Bereich an je eigenen Orten in der RaumZeit des Marktes gegeben, wenn sich darüber auch nichts aussagen lässt. Wir nähern uns dem »Ort« einer Atmosphäre anders als einem sichtbar sich »dort« befindenden materiellen Gegenstand. Yuho Hisayama macht auf eine Erlebniswirklichkeit der Näherung aufmerksam, für die die japanische Philosophie den Begriff des kehai kennt. Das kehai ist das Nähernde selbst. »Das, was sich hinter dem kehai versteckt, ist noch unklar – und daraus resultiert die angsterregende Unsicherheit« 176. Solche Näherung, die keineswegs immer angsterregend sein muss, gibt es nicht nur bei Personen, deren persönliche Aura in ihrer »Gegend« spürbar ist, sondern auch bei Atmosphären, die sich »zusammenbrauen«. In einem herumräumlichen Milieu geben sie sich dann mit zunehmender Eindrucksmacht zu spüren – je intensiver, je mehr wir uns nähern oder je mächtiger sie sich zusammenbraut. Wenn sie dennoch als zu Ende gehend und anfangend erlebt werden können, so sprechen wir hier von anderen Grenzen als denen, die wir

176

Hisayama, Ästhetik des kehai, S. 23.

204 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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aus dem Umgang mit relationalen Räumen (Grundstücksgrenzen) oder Dingen in solchen Räumen (sichtbar begrenzter Körper) kennen. Zum ersten kennen wir solche anderen Grenzen aus der Ökologie. Dort werden sie mit dem Begriff der »Grenzgürtel« angesprochen; dies sind diffuse Übergangszonen, in denen sich zum Beispiel eine Form der Vegetation zurückzieht, während sich eine andere schon auszubreiten beginnt. Auch solche Zonen entziehen sich jeder topographisch genauen Ein- wie Ausgrenzung und erst Recht jeder Vermessung. Schließlich sind solche Übergangs- und Überlagerungsbereiche schwimmend, sodass sich eine Ver-»Ort«-ung im Sinne des Wortes ausschließt. So bestimmen sich auch im Milieu der Atmosphären (eines Marktes) »Anfang« und »Ende« nach dem zyklischen Verlauf von Situationen und weniger nach verorteten Dingen, wenn diese auch ihre unverzichtbare Rolle im großen Spektakel eines Marktes spielen. Zum zweiten kennen wir andere Grenzen aus der Zeit. Der Markt ist ein geradezu paradigmatisches Beispiel für die Illustration dieser nicht-relationalräumlichen Grenzen, die auf Atmosphären hinweisen. So ist alles, was auf einem Markt erscheint und sich in Atmosphären ausdrückt, an die Zeitlichkeit eines meist so oder so verlaufenden Geschehens gebunden. Die Ver-»Ort«-ung der Atmosphären eines Marktes verlangt daher einen Blick auf die performativ-zeitlichen Muster, in denen sich ein Markt in seiner Prozesshaftigkeit überhaupt erst zeigt. Wenn wir aber sagen, die Atmosphären sind in der RaumZeit »da«, so hat das Rückwirkungen auf das, was wir unter solcher Verortung verstehen können. In der Rede über Atmosphären gibt es kein Drinnen und Draußen wie bei einem Haus oder Zimmer. Atmosphären haben ihren »Ort« in der RaumZeit – nicht allein in der Zeit und nicht allein im Raum. Deshalb sind atmosphärische Räume auch nicht verortbar wie physische Gegenstände. Sie haben eher den Charakter einer Haut. Wenn Rudolf zur Lippe anmerkt: »Häute sind nicht Grenzen, sondern Prozesse« 177, dann ist dies bei Atmosphären ähnlich. Sie existieren in der RaumZeit als etwas, das sich bewegt, überlagert, durchdringt, verschwindet und vielleicht in ähnlicher Weise wiederkommt. Der »Ort« der Atmosphären ist ein wirklicher Un-Ort in Raum und Zeit. Wir finden ihn, wenn wir ihn in der leiblichen Berührung antreffen.

177

Zur Lippe, Zeit-Ort im post-euklidischen Zeitalter, S. 120.

205 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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2.3.16 Zum (interpretierenden) Verstehen von Situationen In seinem Frühwerk hat Jean-Francois Lyotard die Phänomenologie als eine »Philosophie des Konkreten« bezeichnet. 178 Im Sinne von Husserl betrachtete er die Arbeit am Konkreten in einem radikalen Verständnis. Am Beispiel der phänomenologischen Beschreibung eines Stückes Wachs wird das Programm deutlich: »Man muß voraussetzungslos bei dem Wachsstück bleiben, es nur so beschreiben, wie es sich gibt.« 179 Aber woher weiß er, dass er es mit einem Stück Wachs zu tun hat und nicht mit einem täuschend ähnlich aussehenden Material? Schon das Wissen, dass es sich bei diesem Stück um Wachs handelt, springt gleichsam von selbst an, wenn sich etwas zeigt, das Wachs ist oder sein könnte. Es ist auf einem Erfahrungshintergrund – schon in der Kindheit – entstanden und hilft bei der Zuschreibung von Identität. Wie stellt sich also der assoziative und vor allem denkende Bezug zu etwas konkret Erscheinendem dar? In Ergänzung zur wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Diskussion der Methode der Mikrologien 180 muss an dieser Stelle noch einmal mit konkretem Bezug zu interpretativen Theorie-Elementen, die in jeder mikrologischen Beschreibung enthalten sind, die Frage aufgegriffen werden, was es bedeutet, sich von der Eindrücklichkeit einer Situation berühren zu lassen. Hermann Schmitz diskutiert auf dem Hintergrund der Husserl’schen Phänomenologie einen Phänomen-Begriff, der nur gelten lässt, was sich in »unvermittelter Anschauung sozusagen leibhaftig darbietet« 181 – dies ganz im Sinne der Rezeption bei Lyotard. Husserl propagiere diese »Reinheit« der Einklammerung, weil er sich – wie Schmitz sagt – »von keiner Theorie irre machen lassen« 182 wollte. Die Anstrebung aseptischer »Reinheit« der Wahrnehmung lässt sich aber schon deshalb nicht realisieren, weil jedes Verstehen die »Einmischung« grundlegender (meist lebensweltlicher) Episteme aus dem Feld der »Alltagstheorien« geradezu voraussetzt, wie schon das Beispiel des Wachsstückes bei Lyotard gezeigt hat. Oft sind es – je nach dem Alltag einer subjektiv-individuellen Erkenntnis-Praxis – aber nicht nur im engeren

178 179 180 181 182

Lyotard, Die Phänomenologie, S. 73. Ebd., S. 10. Vgl. Kapitel 3 in Band 1. Schmitz, Was ist ein Phänomen?, S. 14. Ebd.

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Sinne lebensweltliche Deutungsmuster, die das orientierende Verstehen anbahnen, sondern auch solche, die von Theoriefragmente aus den verschiedenen Wissenschaften durchsetzt sind. Diese Vermischung stellt sich in der spätmodernen Zeit im Allgemeinen als Signum einer Lebenswelt dar, die durch eine »ungeheure« Verwissenschaftlichung geradezu ubiquitär überfremdet ist. Zur Rolle des Verstehens im Prozess der Wahrnehmung merkt Schmitz an: »Daraus, daß etwas sich zeigt, ist ja nicht ohne Weiteres zu entnehmen, worum es sich handelt. […] Um eine sinnvolle Behauptung aufzustellen, muß man mindestens etwas, das sich zeigt, als etwas oder als Fall von etwas verstehen, also eine Subsumtion vornehmen.« 183

Jede Beobachtung – das war auch die Argumentation in Kapitel 3 von Band 1 – ist theoretisch imprägniert. 184 Deshalb wendet sich Schmitz auch von einem »naiven Sachbegriff des Phänomens« 185 ab und strebt in der programmatischen Kritik an der Kultur eines szientistischen Abstraktionismus’ danach, die »Abstraktionsbasis« phänomenologischer Aufmerksamkeit »tiefer in die Lebenserfahrung hineinzulegen, wenn auch ohne Hoffnung, Hypothesen und Konstruktionen je ganz zu Gunsten schlichter Natürlichkeit ablegen zu können.« 186 Gerade das Beispiel der Beschreibung des Marktgeschehens, das sich über die Zeit von mehr als drei Stunden erstreckte, zeigt sehr deutlich, dass und inwieweit »theoretische« Sätze die verstehende Beschreibung in beinahe intuitiver Weise begleiten; dies nicht als Ausdruck programmatischer (oder wie auch immer verselbständigter) »Theoriesucht«, sondern als dynamisches Moment kontextuellen Verstehens. An wenigen Beispielen (s. 1 bis 7) seien einige solcher theoretischen Brücken des Verstehens aus der dichten Beschreibung des Marktes angesprochen: 1. Die vielgestaltigen Bewegungsmuster, die das vitale Bild des Marktes charakterisiert haben, werden in der Mikrologie als »habituell« angesprochen. Zwar springt darin »Theorie« an, aber doch nur um herauszustreichen, dass sich diese Bewegungsmuster nicht im Sinne eines aseptischen Maschinismus dargestellt haben und auch nicht in 183 184 185 186

Ebd. Vgl. auch ebd. Ebd., S. 22. Ebd.

207 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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einem völlig beliebigen Muster von Abläufen, die von jedem situativen Rahmen entbunden gewesen und einfach nur motorischen Charakter gehabt hätten. Es hatte sich vielmehr um Bewegungsmuster gehandelt, die die soziale wie lebendige Wirklichkeit des Marktes geradezu hervorgebracht haben. So konnte sie auch nur verstanden werden im (impliziten) Wissen um die Bewegungswelt eines Marktes. 2. Der Hinweis auf ein als bemerkenswert empfundenes Selbstbewusstsein einiger Fischhändler wurde mit »einer ganz speziellen Beziehung zu diesen Tieren« in Beziehung gebracht. Weder den Gegenständen des Handels noch äußerlichen Merkmalen der Fischverkäufer war dies aber unmittelbar anzusehen. Indes hat sich die spekulative Randbemerkung als Ausdruck einer affektiv durch diese Marktszene geweckten Aufmerksamkeit in gewisser Weise als emotionale Brücke zum Verstehen der aktuellen Situation angeboten. Es kann schon aus Platzgründen an dieser Stelle nicht vertieft werden, inwieweit der von den Fischhändlern ausgehende Eindruck tatsächlich – zumindest auch – in einer psychologischen Beziehung zum Fisch begründet war. 187 Das Beispiel soll genügen, um die Rolle intuitiv-»interpretativer« Einlassungen im Vollzug der Beschreibung menschlichen Verhaltens in speziellen Situationen zu illustrieren, die eine affektive Bindung an das Erlebte und Beschriebene widerspiegeln. 3. Auch wenn das Ganze des Markttreibens »als etwas ›Authentisches‹« beschrieben wird, bringt sich darin keine theoriegeleitete Deutung zur Geltung, sondern ein Eindruck, in dessen emotionaler Färbung das »Ganze« des Marktes erlebt worden ist. Dieser erschien nicht als ein inszeniertes Theater, sondern als eines, das sich performativ in authentischen Handlungen aus sich heraus vollzog. Ein Wissen um sozial- und geisteswissenschaftliche Debatten zur schillernden Bedeutung des Authentizitäts-Begriffes hat jedoch zweifellos eine Hintergrundrolle gespielt. 4. Wenn schließlich in einer Randbemerkung das »Wesen von Ecken« thematisiert wird, so drückt sich auch darin kein »reiner« Eindruck

187

Vgl. dazu auch Wild, »Fisch / Fischfang«, S. 107.

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aus, vielmehr schwingt ein theoretisch implizites Wissen über Ecken mit. In der dichten Beschreibung werden diese Bedeutungen in theoretischer Hinsicht nicht vertieft. Es wird allein festgehalten, dass an diesem Ort – der Ecke – ein eigenartiger Raumcharakter spürbar geworden ist. 5. Auch der Hinweis auf die »ostentative Extravaganz« sowie auf »extrovertierte Gesten« bringt im engeren Sinne keine Theorie zur Geltung, ist jedoch Spiegel situativen Verstehens, das sich gleichwohl einem (recht allgemeinen) Vorverständniss gesellschaftlicher Segregations- und Distinktions-Prozesse verdankt. 6. Der Satz: »Die sprichwörtliche Toleranz der Niederländer beeindruckt durch ausgeprägte Unaufgeregtheit« illustriert die zwangsläufig unhintergehbare Virulenz von Vorwissen, das sich intuitiv und affektiv zu etwas Erlebtem in Beziehung setzt. Wer den erzwungenen Versuch machen würde, so zu tun, als wüsste er noch nicht einmal um den nationalen und kulturellen Ort dieses Marktes, stünde nicht nur sich selbst, sondern auch der phänomenologischen Interpretation des Erlebten im Wege. 7. Das gilt noch für Anmerkungen über den ästhetischen BühnenCharakter der kleinen Lokale hinter den Markt-Ständen, das Zerfallen des Marktes in zwei heterochrone Zonen, für die Feststellung des klassizistischen Baustils der Getreidebörse, die Beschreibung der abendlichen Musikimprovisationen als »Jazz« und die Deutung, dass es sich bei den Reste-Sammlern am Ende der Marktzeit »nicht in erster Linie um Arme und Obdachlose« gehandelt hat, sondern um »Menschen aus der Mitte der Stadtgesellschaft«, die »absichtlich spät, aber nicht zu spät« gekommen sind. Die Methode der Mikrologien hat auf dem Niveau detaillierter Vielfalt verdeutlicht, dass eine Trennung »interpretierender« Elemente von dem, was unmittelbar leiblich eindrücklich wird, sowohl methodisch als auch inhaltlich in die Irre führen muss. Vielmehr ist jede mitlaufende »Interpretation« Ausdruck affektiv gestimmter Aufmerksamkeit gegenüber einer aktuellen Situation und kann – bewusstgemacht als »mitlaufende« Deutung – in der phänomenologischen Interpretation nützlich sein. Die Interpretationen der mikrologischen Beobachtungen in den Kapiteln 2.3.1 bis 2.3.16 zeigen, dass es nicht diese 209 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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»Deutungen« waren, die das Verstehen der Situation des Marktes gelenkt haben, sondern die situativ ganzheitlichen Eindrücke des Marktgeschehens, worauf das Wissen mit »Theorie-Elementen« nur in gewisser Weise »geantwortet« hat. Der Situations-Charakter des Geschehens war es letztlich, dessen tieferes Verstehen vereinzelte epistemische »Zwischenrufe« herausforderte. Diese epistemische Formung der Beobachtung komplexer Situationen dringt vielleicht auch nur deshalb in dieser Studie so deutlich und unverstellt in den Vordergrund und wird damit so legitimationsbedürftig, weil die Protokollierung der Eindrücke räumlichen Erlebens nicht im Nachhinein und damit in einem disziplinierenden und konstruierenden Sinne erfolgte, sondern in situ, sodass jede Auslassung theoretischer »Zwischenrufe« nur auf eine Entfremdung von der eigenen Beobachtung hinausgelaufen wäre und das situative Verstehen auf künstliche Weise strukturiert hätte. Im Zuge der Reflexion von Atmosphären kommt dem Verstehen komplexer Situationen eine besondere Rolle zu. Tonino Griffero merkt an: »An atmospheric phenomenology will be nothing but a special declination of a more general philosophy of situations« 188. Wenn wir Atmosphären verstehen wollen, müssen wir bedenken, dass die ihnen anhaftenden Bedeutungen nicht nur im Leben derer stehen, die in sie eingebunden sind, sondern auch von denen verstanden werden müssen, die sich in einer analytischen Haltung zu ihnen in Beziehung setzen. Damit stellt sich eine doppelte hermeneutische Aufgabe. Zum einen sind die lebensweltlichen Netze zu verstehen, in denen Atmosphären ihr Gewicht haben. Zum anderen sind aber auch die geisteswissenschaftlichen Programme des Verstehens, die auf diese lebensweltlichen Netze gerichtet werden, selber verstehensbedürftig und der kritischen Prüfung zu unterziehen. Dabei stellt sich die Frage, ob die zum Einsatz gebrachten Deutungsmuster offen und unvoreingenommen genug sind, um auch jenen gelebten Sinn erfassen zu können, dessen Bedeutungen im Fokus theoretischer Distanz (und Erwartung) nicht gerade naheliegend sind. Ein Beispiel für das sich damit stellende methodologische Problem findet sich bei Hermann Schmitz: »Nach meiner Erfahrung begünstigen auch schäbige, verwahrloste und charakterlose Bauten, z. B. manche eintönig oder verkommen wirkenden Stra-

188

Griffero, Atmospheres: Aesthetics of Emotional Spaces, S. 31.

210 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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ßenzeilen großer Städte, die fade Atmosphäre, in der das leere Gefühl heimisch ist.« 189

Wenn sich der Charakter einer Atmosphäre als »Produkt« gelebter Bedeutungen konstituiert, die Menschen mit einem bestimmten Raum verbinden, so ist danach zu fragen, wo und wie sich diese sedimentiert und verklammert haben. Aus dem kunst- oder architekturtheoretischen Blickwinkel mag eine »öde Straße« das Resultat eines Mangels an ästhetischer Vielfalt und defizitären Möglichkeiten handelnder Aneignung sein. Für den langjährigen Bewohner solch »öder« Straßen kann derselbe Raum auf dem Hintergrund biographischer Bedeutungs-Geschichte(n) jedoch in einer ganz anderen Vitalqualität erlebt werden. Was aus Distanz atmosphärisch »öde« erscheint, kann in der Distanzlosigkeit des gelebten Raumes wie der gelebten Zeit im Spiegel subjektiver Lebensgeschichte Ausdruck vielfach überlagerter und positiv erlebter Bedeutungen sein – ein biographisches Palimpsest, eine dicht mit Affekten besiedelte Lebens-Landschaft diesseits der Öde, Langweiligkeit und Tristesse. Das Kapitel über den zu Ende gehenden Markt hat sich immer wieder auch auf die Deutung des Sinns anderer eingelassen, der in seiner möglichen lebensweltlichen Fundierung aber im Dunkeln geblieben ist (s. das Beispiel zur spekulativen Deutung der Fischverkäufer in Kapitel 2.3.16 / 2). Es zeichnet die phänomenologische Methode der Annäherung an Situationen aus, dass ihr Eindruck aus der Perspektive autopsierenden Mit-Seins dem Verstehen zugänglich gemacht wird und nicht – wie in der qualitativen Sozialforschung – auf dem Wege des (Interview-)Gesprächs mit meinem »Probanden«. Verstehen ist stets mehrfach gestimmt. Deshalb bedarf die hier praktizierte hermeneutische Interpretation der kritischen Bewertung. Das Problem solcher Deutungen hatte Ludwig Klages treffend bemerkt: »Die Wahrnehmung fremder Seelenzustände gründet also im bloß erlebten Eindruck ihrer Erscheinung und ist aufs strengste zu unterscheiden von der Besinnung auf deren gegenständliche Daten.« 190

Dies konfrontiert erneut mit der Problematik der Beschränkung jeder Wahrnehmung durch ihre (theoretische) Disponiertheit. Es unterstreicht aber auch die Unverzichtbarkeit, mit der sich die (durch theoretische und spekulative »Zwischenrufe« verständlich gemachte) Be189 190

Schmitz, Band III, Teil 2, S. 226 f. Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, S. 51.

211 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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obachtung menschlichen Ausdrucksverhaltens als eine wichtige Grundlage für das phänomenologische Verstehen komplexer Situationen erweist. Nach Heidegger gibt es kein nicht-gestimmtes Verstehen: »Verstehen ist immer gestimmtes.« 191 Wenn er auch lebensphilosophisch argumentiert, so lässt sich daraus doch auch für das phänomenologische Projekt des Verstehens von Situationen Grundlegendes ableiten. Zum einen ist hermeneutisches Verstehen, das einer wissenschaftlichen Methode folgt, nicht nur thematisch, sondern gleichermaßen in einem befindlich-affektiven Sinne gestimmt. Dies folgt schon daraus, dass jedes Verstehen gestimmt ist. 192 Von grundlegender Bedeutung ist folglich die Fehleranfälligkeit jeden Verstehens und damit auch der hermeneutischen Erkenntnisgewinnung, die durch keine methodisch noch so hoch regulierte Methode der Interpretation aus der Welt zu schaffen ist: »Und nur weil Dasein verstehend sein Da ist, kann es sich verlaufen und verkennen. Und sofern Verstehen befindliches ist und als dieses existenzial der Geworfenheit ausgeliefertes, hat das Dasein sich je schon verlaufen und verkannt. In seinem Seinkönnen ist es daher der Möglichkeit überantwortet, sich in seinen Möglichkeiten erst wieder zu finden.« 193

Es gibt kein sicheres, kein »lineares« Verstehen, das gleichsam geradewegs an ein wahrheitsgemäßes Ziel führen könnte. Der Preis des Verstehens ist das Sich-Verlaufen, Aufsitzen in verdeckten Vorannahmen und das Umgehen mit lückenhaftem, gleichwohl deutungsrelevantem Wissen. Die sich mit dem produktiven Verstehen verbindende Option, Verstehens-Möglichkeiten erst zu finden, stellt das Projekt des Verstehens methodisch in ein offenes Feld. Herausgefordert ist nicht erst die lebensphilosophische Aufgabe, die Horizonte des Verstehens eigenen Sein-Könnens ständig zu erweitern. Herausgefordert ist auch die geisteswissenschaftliche Methode der WeltErschließung durch die Erweiterung bewährter Wege der Erkenntnis. Wenn die Gestimmtheit jeden Verstehens über die Dimension des Heidegger, Sein und Zeit, S. 142. Der Prozess der Produktion wissenschaftlichen Wissens ist affektiv unterströmt, ohne dass die persönliche Involviertheit des Forschenden in »seinen« Gegenstand im Allgemeinen in angemessener Form zur Sache kritischer Reflexion würde. Dieses wissenschaftspsychologische Thema kann hier aus Platzgründen nicht weiter vertieft werden, vgl. dazu Hasse, Wissenschaft und Mythos. 193 Heidegger, Sein und Zeit, S. 144. 191 192

212 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Resümee

Affektiven hinaus aber auch verstanden werden kann als Gestimmtheit durch Wissen, so stellt sich geradezu offensiv die Aufgabe der Offenlegung der Art und Weise, in der beschreibendes und erklärendes Wissen in den hermeneutischen Prozess einfließt. Gegenstand der Reflexion und Interpretation der Mikrologien ist das Eindrückliche und mit ihm gegenwärtig werdende und sich in situ aktualisierende (lebensweltliche) Wissen, das jedem Verstehen Brücken baut. So richtet sich die Interpretation weder auf etwas Objektives noch auf etwas rein Subjektives, sondern auf das sich im aktuellen situativen Befinden, im aktuellen In-der-Welt-Sein Bewusstwerdende. Was affiziert, greift nie allein sinnlicher Merkmale wegen an, sondern weil es in seinem sinnlichen Erleben zumindest rudimentär schon (so oder so) verstanden ist. Das Gegenwärtig-Werden eines mitweltlich Gegebenen wird von situativ-intuitiv anspringendem Deutungs-Wissen sogar getragen. Dessen Funktion ist im Netz der Bedeutungen, über deren Fenster wir in die Welt blicken, stets subjektiv (in der Logik einer Biographie) verankert. Wenn dieses Wissen auch nicht die Form abstrakter wissenschaftlicher Theorien hat, so haben sich deren verdünnte Spuren zivilisationsgeschichtlich schon längst ins »einfache« lebensweltliche Wahrnehmen eingeschlichen.

2.4 Resümee Wenn es Einfaches im Sinne des Infra-Normalen, Banalen und keiner herausgehobenen Aufmerksamkeit Würdigen gibt, so gehören die Wochenmärkte sicher dazu. Sie sind, wie zahllose andere Situationen, die unseren Alltag nicht nur begleiten, sondern in gewisser Weise sogar fundieren, in so mächtige Selbstverständlichkeiten gewickelt, dass sie dem differenzierten Bewusstsein weitgehend entzogen bleiben. Zwar weiß ein jeder, wenn er auf einen Markt geht, womit er dort zu rechnen hat. Auch können in selbstverständlicher Weise elementare Aussagen über basale Sachverhalte eines Marktes und die ihn charakterisierende Ökonomie getroffen werden. Dass Märkte aber auch Aufschluss über strukturelle wie dynamische Aspekte einer Gesellschaft sowie zwischenmenschliche Beziehungen geben können, bleibt dem schnellen (lebensweltlich notwendigerweise oberflächlichen) Blick zunächst verborgen. Die Mikrologie eines gemischten Marktes gibt auf ihrem beschreibenden Niveau einen sehr kleinteiligen Einblick in eine Welt, deren infra-normale Langweiligkeit 213 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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sich zugunsten immens vielfältiger Gestalt- und Bewegungsmuster verliert. Auf der Grenze zwischen vertiefender Selbst- und Weltbetrachtung öffnet die dichte Beschreibung der Mikrologie einen zweifachen Blick. In ihm zeigt sich zunächst eine Welt des Alltäglichen, sodann (darin) eine Ressource der Stiftung von Nachdenklichkeit, ein Bild des Erklärungsbedürftigen, der Überraschungen und des in einem produktiven Sinne Denkwürdigen. In der Spannung beider Sichten wächst eine kreative Beunruhigung. Die Erwartung einer vermeintlichen Monotonie des Einfachen kippt angesichts der sichtbar gemachten Vielfalt an Seinsweisen und Gestalten des Wirklichen in die Fragwürdigkeit. Die geschärfte Sensibilität für die mikrologische Wahrnehmung von Situationen hat sich als Voraussetzung der Möglichkeit eines Selbst-genau-Hinsehens im Sinne des Wortes der »Autopsie« erwiesen. Diese Haltung der Wahrnehmung bildet den Fokus der existentiellen Phänomenologie der Stadt des Philosophen Wolfgang Gleixner, der nicht konstruieren will, sondern »wirklich einfach hin[-] und uns selbst zu[schauen]« 194. Dass dies in der Praxis der Wahrnehmung in so »reiner« Form nicht gelingen kann, haben viele Beschreibungen in der Mikrologie gezeigt, die ja gerade im Spiegel affektiver Betroffenheit von einem wirklichen Geschehen zustande gekommen sind und sich nicht erst der filternden Entfernung »deutender« Zugaben der Erkenntnis verdankt haben. Wenn es bei Hermann Schmitz heißt: Die Neue Phänomenologie strebe danach, »den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen« 195, so zielt er auf die Durcharbeitung von allem, was im Erlebnisrahmen von Situationen eindrücklich wird. Die Interpretationen der Kapitel 2.3.1 bis 2.3.16 illustrieren, dass noch nicht einmal in der infra-normalen Welt eines Wochenmarktes alles »von sich aus« verständlich ist, was sich zeigt. Das sich scheinbar von selbst Verstehende ist oft genug in versteckte Fragen und Rätsel gekleidet. Streng genommen lässt sich eine so komplexe Wirklichkeit wie die eines Wochenmarktes gar nicht erfassen und auch nicht als etwas »Ganzes« beschreiben. Das kann schon deshalb nicht gelingen, weil sich das Ganze in der Mannigfaltigkeit seiner »inneren« (ihm eigenen) Dynamik auf unvorhersehbare Weise ständig verändert. Die 194 195

Gleixner, Lebenswelt Großstadt, S. 147. Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, S. 7.

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Resümee

Autopsien dienen deshalb auch nicht – im Unterschied zur gerichtsmedizinischen Praxis der Obduktion – dazu, ein Bild tatsächlicher Verhältnisse ans Licht der »Wahrheit« zu fördern. Über jenen Schatten, den die Dynamik des situativen Wandels in die Erscheinungswelt – und noch in den tatsächlichen Raum realer Dinge – zurückwirft, können sie nicht hinaus. Die Autopsien bleiben Momentaufnahmen einer gleichsam flüssigen und flüchtigen Welt, die im Spektrum einer gewissen Ähnlichkeit der Bewegungen dahinströmt und deshalb von Menschen auch in immer wieder verwandten Bildern erlebt wird. Diese Wandlungen können – so betrachtet – als Ausdruck einer universellen Veränderung von allem verstanden werden, was in einem engeren wie weiteren Sinne lebt. Wer sich selbst in ewiger Veränderung befindet, dem fällt es leicht, die Veränderung dessen, was um ihn herum ist, als unbedenklich im Sinne des Wortes zu empfinden. Damit wird aber die Option preisgegeben, das eigene Leben wie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die dieses nur disponieren und situieren, der Kritik zu unterwerfen. Die dichte Beschreibung alltäglicher Situationen mitweltlichen Erlebens stellt in der phänomenologischen Durchquerung des Erscheinenden die erkenntnistheoretischen Instrumente zur methodologischen Kritik am Szientismus ebenso bereit wie zur Rekonstruktion übersehener leiblicher Verstrickungen in eine Welt des Wirklichen – hinter den Fassaden einer medialen und hypertechnischen Welt der Entfremdung vom eigenen Selbst, der Verführungen, Instrumentalisierungen und Kolonisierungen von Sinn. 196 Im Lichte der Mikrologien wird auch der künstliche (analytische) Charakter der Trennung von Raum und Zeit deutlich. Weder im Raum noch in der Zeit, sondern allein in der RaumZeit des Marktes verdichten sich auch die Geschichten eines Marktes. Minkowski spricht von einer Verschmelzung von Raum und Zeit »in einer Art Solidarität« 197. Damit meint er eine »Solidarität, in der der Raum der Zeit angeglichen wird und nicht umgekehrt.« 198 Die Situation des zu Ende gehenden Marktes spiegelt diese Bedeutung einer RaumZeit in diesem Sinne einer Angleichung des Raumes an die Zeit wider. Im Prozess der Auflösung des Marktes verschwinden mit den Dingen auch die sie fixierenden wie bewegenden Ereignisse, sodass sich der 196 197 198

Vgl. auch Böhme, Phänomenologie als Kritik. Minkowski, Die gelebte Zeit, Band I, S. 97. Ebd.

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Markt sukzessive in seine »Fermente« auflöst, bis schließlich die Patina seiner verstrichenen RaumZeit von den Reinigungsfahrzeugen der Stadt abgewaschen wird, sodass nichts bleibt als ein leerer Markt-Platz. In ihrer Dauer entfaltet sich die Zeit als ein Regime, in dem das Geschehen des Marktes gegenwärtig ist – sich zuspitzt, abschwellt und schließlich ganz auflöst. Der Markt macht in seinem Wandel lediglich im Allgemeinen deutlich, dass alle Räume auch »ihre Zeit« haben. Der große Platz des Marktes veranschaulicht die Bedeutung der Bewegung für die Entfaltung des Menschen sowie sein zwischen leiblicher Enge und Weite oszillierendes Tun. Aber der große Platz ist nur Möglichkeitsraum für die Lebbarkeit einer Zeit mit anderen. Plätze dienen letztlich nicht der Lagerung von Dingen; sie sind soziale Räume der Verdichtung des Lebens (s. auch Kapitel 1). Zwar muss ein Platz – um dieser Aufgabe gerecht werden zu können – a priori auch eine geometrische Ausdehnung haben. Diese steht jedoch in einem dienenden Verhältnis zu seiner Funktion im Leben der Stadt. Deshalb stellt Minkowski fest: »Das Leben breitet sich im Raum aus, ohne deshalb eigentliche geometrische Ausdehnung zu haben. Um zu leben, benötigen wir Ausdehnung, Perspektive. Der Raum ist ebenso unentbehrlich für die Entfaltung des Lebens wie die Zeit.« 199

Lebens-Perspektiven entfalten sich weder im geodätischen Raum noch in der chronologischen Zeit, sondern aus den vitalen Ressourcen der »gelebten Distanz« (Minkowski) in der RaumZeit eines Ortes: »Die Weite des Lebens ergibt sich aus diesem Tatbestand.« 200 Der Weg aus der Enge der »primitiven Gegenwart« (der Situation, in der die Bezugspunkte der Orientierung gleichsam auf einen Punkt zusammengeschrumpft sind) und der Weite der »entfalteten Gegenwart« (der Situation, in der diese Bezugspunkte entfaltet sind 201) führt über die Bewältigung von Beziehungen der »Resonanz« im Sinne von Hartmut Rosa. Das Resümee sei an dieser Stelle ein Platz der Revision, soll heißen, der Spiegelung des Vielen, das in diesem Kapitel entfaltet worden ist, in einer neuen Sicht. Ich werde deshalb im Folgenden die Minkowski, Die gelebte Zeit, Band II, S. 233. Ebd., S. 240. 201 Zur Erläuterung des Konzepts »primitiver« und »entfalteter Gegenwart« in der Neuen Phänomenologie vgl. auch S. 295. 199 200

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Resümee

soziologische Theorie der Resonanz von Hartmut Rosa für diese gleichsam querlaufende Schlussbetrachtung in einem pointierenden Sinne nutzbar machen. Alle Aspekte der Lebendigkeit des Marktes weisen auf eine übergeordnete existenzielle – speziell urbane – Kommunikation hin, die Rosa mit dem Begriff der Resonanz anspricht. Insbesondere in spannungsreichen atmosphärischen Beziehungen drückte sich diese Lebendigkeit in spürbarer Weise aus. Märkte sind also nicht nur in der urbanen Kosmologie ein Resonanzmedium par excellence, sie sind auch selbst urbane Kosmologien. »Resonanzen sind Ergebnis und Ausdruck einer spezifischen Form der Beziehung zwischen zwei Entitäten, insbesondere zwischen einem erfahrenden Subjekt und begegnenden Weltausschnitten.« 202

Hier kommt es auf wechselseitige Anpassungsbewegungen an, »die sich als ein aufeinander Einschwingen verstehen lassen« 203. Dabei versteht es sich, dass das, was hier als Subjekt und Weltgegebenheit in den Blick kommt, wiederum Resultat solcher Resonanzbeziehungen ist. »Resonanz« läuft – bezogen auf die dynamisch ablaufenden Prozesse städtischer Lebendigkeit – auf eine vitalistische Betrachtung hinaus, die ich an anderer Stelle in einer Studie zur leibphänomenologischen Rekapitulation von »Urbanität« mit der Metapher vom »Leib der Stadt« diskutiert habe. 204 Wie sich die vitalistische Aktualität und Potenz der gelebten Stadt weder einer Summe abstrakter Ideen noch einer großen Menge physischer Stoffe zur Errichtung von Bauten verdankt, so die selbst- wie weltbezogenen Beziehungen der Resonanz nicht allein intelligibler Erwägungen eines EntwederOder. In seiner »Soziologie der Weltbeziehungen« versteht Rosa »Resonanz« als einen leiblichen Prozess vieldimensionaler Kommunikation, in dem sich »physische, soziale, emotionale und kognitive Bedeutungen konstitutiv überlagern« 205. Schwingungsfähige Medien und Räume solcher Resonanz finden sich auf dem beschriebenen Markt in endloser Vielfalt und Schattierung. Sie entfalten sich zwischen den Individuen, unter denen sich in aller Regel noch nicht einmal signifikante Andere befinden. Die 202 203 204 205

Rosa, Resonanz, S. 633. Ebd., S. 283. Hasse, Der Leib der Stadt. Rosa, Resonanz, S. 83.

217 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre zweier Wochenmärkte

Kommunikation findet auch nicht in oder zwischen soziologischen Gruppen statt, sondern in einer anonymen Menge. Schon die Bewegung im Strom der Menschen kann nur auf dem Wege leiblicher Kommunikation gelingen, die sich in ihrem prädiskursiven Charakter durch ein basales Resonanzvermögen auszeichnet. So lässt sich auch die Mikrologie des Marktes selbst auf dem Horizont vielfältiger Resonanzbeziehungen verstehen, die auf einer geschärften Schwingungsfähigkeit der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung für spürbare Selbst- und Weltbeziehungen basiert. Schon das alltägliche Leben verlangt seiner allein halbwegs reibungslosen Funktion wegen ein hohes Maß von praktiziertem Resonanzvermögen unter anderem zwischen intelligiblem Denken und Gefühl. Schon geringe Überschreitungen des kulturell Gewohnten und (in Grenzkorridoren) des noch Tolerierten können zu atmosphärischen Spannungen und schwerwiegenden Konflikten führen. Das diesem Resonanzvermögen zugrunde liegende »einzelne« Vermögen entzieht sich unserem alltäglichen Wissen. Deshalb sind es auch gerade die »aus dem Rahmen« fallenden Verhaltensmuster, die uns zeigen, was gelingende und nicht gelingende Resonanz im sozialen Miteinander heißt. Auch das Beispiel des Marktes liefert – wenn auch verdeckt und von den meisten Menschen übersehen – ein Beispiel für solche Grenzgängerei. Der Fischhändler, der einer Afrikanerin neben dem Marktstand einen Plastikbeutel überreichte, praktizierte ein Resonanzverhalten, das vom markttypischen Spektrum der Handlungsmuster abwich. Wenn man die Waren als die Resonanzmedien eines Marktes betrachtet, so hat jeder von tradierten Normen abweichende Umgang mit ihnen insofern eine »gefährliche« Situation zur Folge, als sie die sozialen Regeln marktspezifischer Resonanz (der Möglichkeit nach) ins Wanken bringt. Dessen dürfte sich der Fischhändler intuitiv bewusst gewesen sein, und so wickelte er die Übergabe des Seegetiers, das vielleicht in seiner Qualität gar keinen Warencharakter mehr gehabt hat, »heimlich« bzw. inoffiziell neben dem Stand ab – da, wo Abfälle, unbrauchbare Reste und Verpackungen abgelegt wurden und nicht da, wo die Kunden für ihre Waren mit Geld bezahlen mussten. Märkte sind Reagenzgläser gesellschaftlicher Resonanzverhältnisse. Ihre gesamte Dynamik und Lebendigkeit lässt sich schließlich als ein mikroräumliches Resonanztheater verstehen. Aber es gibt dieses nicht als ein singuläres Geschehen, sondern als eine kosmologische Performanz, als autopoietische Synthese zahlloser Wechselwir218 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Resümee

kungsprozesse, die sich in einer fließenden Choreographie verbinden. Diese verdankt sich in einer mehrdimensionalen Praxis immer wieder der synthetisierenden Verfugung aktueller Situationen. In ihnen sind im Wesentlichen drei Elemente interaktionsrelevant: erstens der Sachverhalt bestimmter Waren (am gegebenen Beispiel Fisch, Gemüse, Käse, Geflügel etc.), zweitens das (Verkaufs-) Programm eines Verkäufers samt aller Tricks, Verführungen und ökonomischen Strategien, seinem Gegenüber Waren mit bestmöglichem ökonomischem Effekt zu verkaufen, und drittens das (Wunsch-)Programm eines Kunden, mit größter Zufriedenheit den Marktstand wieder zu verlassen. Solches Resonanz-Theater ist nicht auf Kommunikation im Modus wörtlicher Rede beschränkt! Tragend ist vielmehr, was Hermann Schmitz mit dem Begriff leiblicher Kommunikation anspricht (s. auch Kapitel 2 in Band 1); so ist im Verlauf eines jeden Handels schon das ästhetische Erscheinen einer Ware (eines glänzenden oder runzeligen Apfels) ein resonanzrelevanter Ausdruck. Resonanzen vermitteln sich nicht nur und erst über ausgesagte Sätze, sondern bereits über Eindrücke, die von einem Gegenstand ausgehen und eine bestimmte – auf ihn bezogene – Reaktion zur Folge haben. So übertragen in besonderer Weise die Bewegungssuggestionen und Gestaltverläufe (für wahrscheinlich gehaltene) Eigenschaften eines Gegenstandes, dessen Bewertung sodann den Verlauf aller weiteren Resonanzschritte in der Interaktion zwischen den Partnern eines Handels bestimmt. Der ganze Marktplatz lässt sich als Resonanz-Raum auffassen. 206 Der relationale Flächenraum bietet dabei im doppelten Sinne nur den »Platz«, auf dem sich die marktspezifischen Resonanzen in Beziehungen und atmosphärisch geladenen Situationen entfalten können. Der Platz verwandelt sich in der RaumZeit des Marktes im Leib der Stadt in einen raumzeitlich limitierten quasi-kosmologischen Schauplatz. Gerade die Spannungen, die sich zwischen Atmosphären gezeigt haben (s. Kapitel 2.3.14) deuten auf aufgebaute Beziehungen hin, die Resonanzverläufen letztlich ihre Richtung geben.

206 Rosa unterscheidet auch in diesem Sinne zwischen schwingungsfähigen Resonanzmedien und Resonanzräumen, vgl. auch ebd., S. 285.

219 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

3. Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

Die Mikrologie zu den Blumenmärkten besteht aus zwei Teilen. Das erste Beispiel handelt von den frühmorgendlichen Aufbau- und Verkaufsaktivitäten in einem Blumengroßmarkt, der Versorgungsfunktion für den polyzentrischen Ballungsraum des Rhein-Main-Gebietes hat. Das Marktgeschehen im engeren Sinne sollte eher verschlafen bleiben; es sind nur wenige Kunden erschienen, um für ihre Blumengeschäfte frische Ware einzukaufen. Das lag an den hohen spätsommerlichen Außentemperaturen, die in den Mittagsstunden über 30 º C erreichten. Die Käufer halten sich bei solchen Wetterlagen mit dem Erwerb ohnehin schnell verderblicher Schnittblumen zurück. Das Kapitel 3.2 handelt von einem hochtechnisierten, in gewisser Weise abstrakten und zum Teil virtuellen Blumenmarkt. Das zweite Beispiel illustriert eine in den Niederlanden durchgeführte Auktion und damit eine Markt-Situation, die noch weiter als die des Blumengroßmarktes von den lebensweltlichen Vorstellungen lebendiger Märkte unter freiem Himmel entfernt ist. Gleichwohl ist besonders diese Form des Handels durch eine geradezu markttypische Intensität und Dichte der Geschäfte gekennzeichnet. Beide Märkte unterscheiden sich in der relativ kurzen Dauer wie der Tageszeit ihres Betriebes von einem städtischen Markt auf einem innerstädtischen Platz, wie er im zweiten Kapitel beschrieben wird. Während die Händler dort mit dem morgendlichen Aufleben des städtischen Treibens ihre Geschäfte aufnehmen und die Verkäufe am frühen Abend eingestellt werden, konzentrieren sich die professionellen Blumenmärkte auf eine eher kurze und zudem frühe Zeit des Tages. Während der Blumengroßmarkt zwischen vier und acht Uhr am frühen Morgen stattfindet, laufen die Versteigerungen an der »Uhr« zwischen halb sieben und halb neun. Die relativ kurzen Zeiten weisen auf eine große Schnelligkeit des Handels hin, die schon der Verderblichkeit von Blumen geschuldet ist; entsprechend dicht und komprimiert sind alle zeitlichen Abläufe. Beide Märkte sind keine Orte für Laufkundschaft, sondern Closed Shops für Kaufleute. 220 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Den Beschreibungen sind jeweils kurze orts- und situationsspezifische Informationen vorangestellt. Grundlegende Hinweise zur Geschichte und Besonderheit der Blumenmärkte finden sich in Kapitel 1.3.

3.1 Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt Die Halle des Blumen- und Zierpflanzengroßmarktes Rhein-Main eG befindet sich in der Nähe des Frankfurter Unfallkrankenhauses im Norden der Stadt in der Nähe der Autobahnauffahrt Friedberger Landstraße (A 661) rund 5 km von der Innenstadt entfernt. Allein die Verkaufsfläche ist 7.200 m2 groß (120 � 60 Meter); Ergänzungsräume beanspruchen weitere 1.300 m2. Der Innenraum wird mit Deckenlampen künstlich beleuchtet. Schon wegen der frühen Marktzeiten (die Aufbauten beginnen zum Teil schon kurz nach Mitternacht) spielt sich der Handel größtenteils in der dunklen Zeit des Tages bzw. noch in der Nacht ab. Auf dem glatten Betonboden markieren weiße Linien die Bewegungsbahnen der großen Einkaufswagen. Auch die Händlerbereiche für die Aufstellung der Blumen-Container sind gekennzeichnet. Die Markthalle ist für den Großeinkauf durch Einzelhändler ausgestattet und daher funktional und zweckmäßig gestaltet. Viele logistische Schnittstellen sichern vor allem in der Hochzeit des Betriebes geordnete Abläufe in der Halle (hinter Rolltoren liegen die Durchfahrten für die Anlieferung bzw. den Abtransport von Blumen und Pflanzen mit Lastwagen, Kleintransportern, Anhängern oder anderen Fahrzeugen). Noch am frühen Morgen treffen immer wieder LKW ein, die an den Zufahrten entladen werden. Die Stände der Händler sind mit permanenten Firmenschildern gekennzeichnet, die an einem Träger der Deckenkonstruktion hängen. Es gibt auch größere ortsfeste Verkaufsbereiche, die in einem beinahe architektonischen Charakter erscheinen. Zu diesen fixen Händlerbereichen gehören dann meistens auch firmeneigene Kühlräume. Die Temperatur in der Halle lag zur Zeit der Beobachtungen bei etwa 20 Grad Celsius. 1

Tag und Zeit der Protokollierung: 13. 09. 2016 | 03:40–07:30 h; ich danke dem Leiter des Blumen- und Zierpflanzen Großmarkts Rhein-Main, Herrn Reiner Wilk, für die freundliche Unterstützung des Projekts.

1

221 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

Abb. 3.1: Hell ausgeleuchteter Verkaufsbereich eines Schnittblumenhändlers

Rege Aktivitäten beherrschen die aktuelle Atmosphäre in der Halle. Männer und Frauen (Angestellte der Firmen) laufen mit Blumensträußen, die sie zu Stapeln übereinander tragen, zwischen den großen fahrbaren Containern und den Abstellflächen der Blumenbehälter hin und her. Besonders im Bereich eines Schnittblumen-Großhändlers, der einen großflächigen Bereich der Halle nutzt, werden von zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Metallgitter-Container herumgeschoben, gelbe Plastikbehälter mit Blumen herangeschafft und auf metallenen Verkaufsflächen angeordnet (das sind etwa 40 cm hohe, auf Rollen stehende Leichtmetallregale, die – zusammengestellt – große Flächen ergeben). In kleineren Plastik-Containern werden Schnittblumen in Klarsichtfolie zu Sträußen zusammengestellt. Einige Mitarbeiterinnen tragen bei ihrer Arbeit schützende Gummihandschuhe, vielleicht wegen des ständigen Hautkontaktes mit den Blumenstängeln. An der Decke hängen helle Industrielampen, die den besonderen Verkaufsraum ausleuchten – alles tritt hier in Gestalt und Farbe klar und deutlich hervor (s. Abb. 3.1). Wenn man genauer hinsieht, bemerkt man, dass dies eigentlich gar kein eigener Raum ist, vielmehr nur andere Lampen an der Decke hängen, die sich vom Licht in den übrigen Bereichen der Halle unterscheiden. Weil es hier heller ist und alles deutlich intensiver und in klareren Konturen erscheint, suggeriert sich der Eindruck, man befände sich in einem eigenen Raum. Die 222 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Abb. 3.2: Standard-Blumen-Container und Neonlicht-Beleuchtung

übrige große und offene Halle ist mit Neonröhren, die unter den Eisenträgern befestigt sind, illuminiert; dort ist das Licht fahl, deutlich kälter und beinahe grau (s. Abb. 3.2). Die Hartgummirollen der fahrbaren, etwa zwei Meter hohen Roll-Wagen sind überall hörbar, dazu ein Scharren, das beim Hinund Herschieben der kleineren Blumenbehälter auf dem Betonboden entsteht. Die Aufbauaktivitäten an den Verkaufsständen erzeugen ein fast permanentes Hintergrundgeräusch. In dem hell ausgeleuchteten und dicht mit rollbaren Präsentations- und Verlaufsplattformen zugestellten Raum des großen Schnittblumenhändlers sind es dagegen eher Stimmen, Rufe, das Rascheln von Papier und das Herumschieben der kleinen Blumencontainer, die hier eine charakteristische Geräuschkulisse bilden. Obwohl noch kein Kunde da ist, laufen über ein an der Wand montiertes Display die aktuellen Preise angebotener Schnittblumen in einer Endlosschleife von links nach rechts (s. Abb. 3.3). Hier und da stehen leere Rollwagen neben den Abstellflächen. Viele Verkaufsstände sind noch verwaist; die Kassen scheinen einfacher und aufs unmittelbar technisch Gebotene reduziert und nicht mit denen vergleichbar zu sein, die man aus den Einzelhandelsgeschäften kennt. Die meisten Geräte befinden sich noch im Bereitschaftsmodus (s. Abb. 3.4). 223 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

Abb. 3.3: Verkaufsfläche mit digitaler Preisanzeige

Um vier Uhr macht das marktinterne Bistro auf (s. Abb. 3.5). Einige Frauen und Männer kaufen einen Kaffee im Pappbecher und gehen wieder an ihre Stände zurück. In der unmittelbaren Umgebung zahlloser Schnittblumen riecht es je nach den angebotenen Arten eigenartig. Man muss sich nur ein paar Meter in die eine oder andere Richtung bewegen und man gelangt von einer gleichsam »schwimmenden« Geruchsinsel zur nächsten. Um halb fünf wird das Neonlicht im bisher fahler beleuchteten Teil der Halle zugeschaltet, es ist hier jetzt deutlich heller; aber die Licht-Atmosphäre ist eine andere als unter den Industrielampen. Wenn es auch hell ist, so doch anders als in dem hell ausgeleuchteten Raum eines offensichtlich regional bedeutsamen SchnittblumenGroßhändlers. Die Räum- und Aufstell-Arbeiten sind weiterhin kontinuierlich im Gange. Da, wo kleine Sträucher und Topfpflanzen angeboten werden, riecht es kaum. Nur manchmal ist auch da ein frischer Hauch eines Pflanzengeruchs zu vernehmen. Die gesamte Halle ist in ihrer Inneneinrichtung, Ausstattung und Gestaltung nicht ästhetisiert wie ein moderner Großstadt-Supermarkt (s. Abb. 3.6). Überall liegen offene und zusammengeklappte Pappkartons, die für die schnelle Verpackung der Waren zur Hand sein müssen, da nur dann der Handel schnell abgewickelt werden 224 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Abb. 3.4: Verkaufsstand und Einkaufswagen

Abb. 3.5: Das noch menschenleere Markt-Bistro

225 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

Abb. 3.6: Zweckmäßige Raumnutzung

kann. Leere Kisten und Blumen-Behälter stehen ineinander gestapelt bei den Verkaufsständen der Händler. Und immer wieder werden die hohen Roll-Container hereingefahren und Blumen zur Präsentation in gelbe Plastik-Behälter gestellt. Dabei verzichten die Händler auf jede Ästhetisierung, wie es in der Bewirtschaftung der gesamten Halle keine Programme irgendeiner Ästhetisierung zu geben scheint. Die Blumen und Pflanzen müssen durch ihr Erscheinen – gleichsam von sich aus – überzeugen; die professionellen Groß- und Einzelhändler bedürfen zur Motivation ihrer Geschäfte keiner verhübschenden Inszenierungspraktiken. Die gesamte Gestaltung, Nutzung und Ausstattung der Halle beruht auf Erwägungen der Zweckmäßigkeit. Wer hier Blumen kauft, ist Einzelhändler und muss nicht durch ästhetizistische Tricks manipuliert werden. Es kommen erstmals einige Kunden. Meistens sind es Frauen, die für ein Blumengeschäft irgendetwas suchen (s. Abb. 3.7). Man kann sie in ihrem Habitus und oft auch an ihrer Kleidung vom Personal unterscheiden. Die Mitarbeiter der Großhändler tragen vielfach T-Shirts mit Firmenaufschriften. Die Kunden sind heterogen gekleidet. Viele laufen angesichts der hochsommerlichen Temperaturen mit kurzen Hosen herum. Das tun zwar hier und da auch die Angestellten und Arbeiter, aber sie tragen andere Hosen; sie gehören im weiteren 226 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Abb. 3.7: Eine der ersten Kundinnen mit zweistöckigem Rollwagen

Sinne zur Arbeitskleidung, sind weniger modisch als vielmehr zweckmäßig wie widerstandsfähig und zeigen oft Spuren getaner Arbeit. Eine ältere Frau ist als Kundin schon daran zu erkennen, dass sie einen kleinen an langen Bändern hängenden Rucksack auf dem Rücken trägt. Auch sie schiebt einen dreigeschossigen Metallgitterwagen auf Rollen durch die Halle, plant also offensichtlich einen größeren Einkauf. Wenn die Kundinnen und Kunden auch dieselben großen Einkaufswagen hinter sich her ziehen wie die Händler, wenn sie ihre Stände einrichten, so verhalten sie sich doch anders als diese oder ihre Arbeiter und Angestellten. Die Kunden und Kundinnen bewegen sich meistens relativ langsam in den verschiedenen Bereichen der Halle. Wenn sie auf ihre Wagen laden, was sie auf einem Zettel notiert haben, tun sie auch dies beinahe bedächtig, als stünden sie schon in einem anderen Verhältnis zu den Blumensträußen als jene, die sie wie x-beliebige Waren für den Verkauf zusammenstellen. Es kommt auch vor, dass jemand nur wenige Sträuße – etwa drei oder vier – kauft; aber das ist eher die Ausnahme. Je mehr Käufer kommen, desto stärker beginnen sich auch die Aktivitäten sichtbar wie hörbar zu vermischen. Hatten bis fünf Uhr die vorbereitenden Arbeiten an den Ständen der Händler das Bild der Abläufe und Bewegungen in dem offenen und riesigen Raum noch 227 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

bestimmt, so wird es nun allmählich durch die dynamische Präsenz der herumfahrenden und die Waren prüfend in Augenschein nehmenden Kunden verändert. Das eine ist neben dem anderen, und doch folgt alles einem gleichsam synchronen gemeinsamen Ablauf. All dies geht mit einer Vermehrung von Rollgeräuschen einher. Aber die Aktivitäten verteilen sich nicht einheitlich. In dem großen Verkaufsbereich des Schnittblumen-Großhändlers ist das Treiben unter dem hellen Licht der Industrielampen am intensivsten (s. Abb. 3.8), während es am Stand eines Gärtnereibetriebes, wo Heidekräuter angeboten werden, noch ganz ruhig ist. Weit und breit ist hier kein Kunde zu sehen. – Ein älterer Mann liest an seinem Stand eine über der Kasse ausgebreitete Zeitung. Es ist nicht viel los zu dieser Zeit an diesem Tag. Der Mitarbeiter eines Großhändlers (es ist gerade einmal fünf Uhr) isst eine Bratwurst mit Senf. Den Pappteller mit der Wurst hat er in einem Fach unter der Kasse abgelegt. Ab und zu kommt er, um ein Ende abzubeißen. Eine Frau läuft mit einer Brezel in der Hand herum und trinkt dabei Kaffee aus einem Einwegbecher – auch sie setzt dabei ihre Arbeit fort. Die Lebensrhythmen eines im Allgemeinen vom Tag-Nacht-Wechsel getakteten Alltages scheinen in dieser ganz eigenen Welt verschoben zu sein. Ein paar Leute sitzen nun auch im halboffenen Bereich des Bistros an Tischen, trinken Kaffee oder essen ein Brötchen. Auch eine Kundin kommt vorbei, kauft einen Coffee to go und setzt dann ihre Einkäufe fort. Ein junger Kassierer des Großanbieters von Schnittblumen fragt mich, was ich tue. Ich erkläre es ihm und es kommt zu einem kurzen Dialog. Das geschieht mehrmals an diesem frühen Morgen. Meistens wird mir empfohlen, besser an einem Donnerstag zu kommen, zumindest aber bei kühlerem Wetter, weil bei großer Hitze (es soll an diesem Tag im Rhein-Main-Raum über 30 º C werden) die Händler mit dem Einkauf von Blumen sehr zurückhaltend seien, da es in den Geschäftsräumen des Einzelhandels keine Kühlung gebe. Immer wieder laufen Kundinnen mit großen und kleinen Schnittblumen-Sträußen zu ihren hohen Einkaufs-Wagen, um sie dort auf einer der Ladeflächen abzulegen und mit den Gefährten dann polternd weiterzuziehen. In den Bereichen vieler Verkaufsflächen stehen die Händler wartend oder in irgendeine (Neben-)Tätigkeit vertieft an ihren Kassen, ohne dass eine Kundin oder ein Kunde zu sehen ist. Sie befinden sich an diesem ruhigen Morgen überwiegend im Wartestand. Es scheint, als übersteige die Zahl des Verkaufspersonals 228 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Abb. 3.8a/b: Beginnende Geschäftsaktivitäten

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Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

Abb. 3.9: Ein männlicher Kunde

noch immer die der Kundinnen und Kunden. Ein Mann mit einem kleinen weißen Pudel auf dem Arm legt mehrere Blumensträuße auf die Ablage seines Einkaufswagens. Einige Käufer haben sogar zwei Wagen, einen schieben sie, den anderen ziehen sie hinter sich her. Andere stehen im Gespräch zusammen und rauchen Zigaretten. Aus dem Einerlei der Aktivitäten, die die Rhythmen in der Halle bestimmen, sticht das Auffällige heraus; es hebt sich vom einheitlichmannigfaltigen Bild ab. So fällt immer wieder ein älterer Käufer durch seine Kleidung auf: Er trägt einen hellen Strohhut, ein elegantes braunes Jackett, eine weiße Hose und dunkle Lederschuhe (s. auch Abb. 3.9). Manchmal balanciert er mehrere übereinander liegende Blumenkartons mit einer Hand auf der Schulter aus der Halle heraus. Dann steht er wieder an einem Stand, spricht mit einem Händler, nimmt ausgesuchte Waren und verschwindet in einer überdachten, mit der Halle verbundenen Parkzone, in der die Kunden ihre Pkw, Kombis und Kleinlaster abstellen und beladen können. Was die Händler in der Großmarkthalle zum Verkauf anbieten, ist sehr vielfältig. Einer hat Gartenbedarf aller Art ausgestellt, vom gelben Gartenschlauch in großen Längen, über kleine und große Gartenzwerge, riesige Deko-Enten, -Frösche und -Schafe bis hin zu Schubkarren und spezieller Blumenerde für Gräber (Tierra para 230 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Abb. 3.10: Verkauf von Garten-Deko-Artikeln

sepulturas). In einem anderen Bereich der Halle werden ausschließlich Deko-Artikel angeboten (s. Abb. 3.10). Ein Händler steht am Computer und nimmt via Internet an einer niederländischen Blumenauktion teil. Auf dem Bildschirm ist die Auktions-Uhr zu sehen (vgl. dazu auch Kapitel 3.2), auf der ein leuchtender Punkt kreist; er zeigt den aktuellen Preis einer gerade in der Versteigerung befindlichen Ware an, der auch von den virtuellen Teilnehmern der Auktion angehalten werden kann, um einen Kauf zu diesem Preis zu fixieren. Wie bei den Auktionen in den Versteigerungssälen der niederländischen Blumenauktionen stoppt der Mann ab und zu – über die Computertastatur – den hin- und herlaufenden 231 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

Punkt und sichert sich damit Blumen zu einem definierten Preis; dann ordert er über die Eingabe einer Ziffer die gewünschte Menge. Manchmal muss er bestimmte Modalitäten – wie im Auktionssaal – via Headset mit dem Auktionator absprechen. Er sagt mir am Rande, früher habe er Jahre »auf der Tribüne« gesessen und an den Auktionen in den Niederlanden teilgenommen. – Auch an einem anderen Stand macht ein Händler bei einer niederländischen Online-Auktion mit. Ein Händler erklärt mir, dass der arbeitszeitliche Rhythmus, dem man bei der Arbeit in der Blumengroßmarkthalle unterworfen sei, nicht selten (vor allem bei Neueinsteigern in das Großmarktgeschäft) schon nach kurzer Zeit zur Auflösung des privaten Umfeldes führe, weil die Abende für die Begegnung mit anderen Menschen nicht mehr genutzt werden können. Manche Verkäufer müssen schon vor Mitternacht die Anreise antreten, um zum Beginn des Handels alles ausgeladen und in der Halle rechtzeitig aufgestellt zu haben. Mit fortschreitender Zeit vermehrt sich die Zahl der Käufer; mit ihnen werden die situativen Bilder des Handels facettenreicher: Blumen und Pflanzen, die in den Regalebenen der Wagen liegen, Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit, Geräusche der rollenden Wagen, das Scheppern der Blumenbehälter, die zu Türmen ineinander geworfen werden, wenn sie leer sind usw. Vielfältiger werden auch die Rhythmen des Verkaufens und Kaufens. An einigen Ständen wird nun mehr verkauft, an anderen trinken die Händler Kaffee oder lesen Zeitung, weil sie die Nachfrage immer noch nicht erreicht hat. Die Kontraste werden größer. Zur Vielfalt gehören nicht zuletzt das dichte Nebeneinander von »Schönem« und dessen Kehrseite – als sichtbarer Preis schnell und effizient abgewickelter Geschäfte: vorne stehen die Rosen in einfachen Plastikbehältern, Orchideen liegen in Schaukartons, die mit transparentem Papier überzogen sind, und hinter den Regalen stapeln sich auf dem Betonboden gleichzeitig (gewissermaßen zwangsläufig) die Abfälle. Der Handel in einem Blumengroßmarkt wendet sich nicht an den Endkunden, sondern an den Einzelhändler. Deshalb muss die Präsentation der Blumen und Pflanzen wie insgesamt aller Waren, die hier zum Verkauf stehen (von Gartenschläuchen über Schubkarren und Gartenzwerge bis hin zu Rosen, Orchideen und Kränzen) keiner ästhetischen Erwartung gerecht werden. Was hier geschieht, ist eine dem Endkunden gegenüber verdeckte Vorstufe des Handels mit Dingen, deren ästhetischer Charakter erst später zur Erscheinung kommen muss. Nichts bedarf hier 232 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Abb. 3.11: LKW-Zufahrt am Kopf einer Halle

der »schönen« Präsentation. Das atmosphärische Arrangement bleibt den Einzelhändlern vorbehalten, die ihren Kundinnen und Kunden vor allem Gefühle suggerieren müssen, deren Medien Blumen sind. Eine Frau türmt etliche Sträuße auf dem Arm zu einem Stapel, trägt sie zu ihrem Wagen und legt sie auf einer der Ablage-Etagen ab. Es ist sieben Uhr und der Mitarbeiter eines Großhändlers beginnt schon mit dem Abtransport von Schnittblumen und der Verladung der Container in einen LKW, der mit heruntergeklappter Ladefläche an einer der Hallendurchfahrten steht (s. Abb. 3.11). Zugleich intensiviert sich das Treiben gerade bei demselben Schnittblumen-Großhändler. Immer mehr dreistöckige Wagen werden zu den Kassen gefahren. Es sind immer noch mehrheitlich Frauen, die auf den Wegen zwischen den Verkaufsflächen der Händler hin- und herfahren, um zu suchen, was auf ihren Zetteln steht. Durch abgewickelte Verkäufe entstehen auf den Ausstellungsflächen Lücken, die wieder geschlossen werden, indem neue Blumenbehälter so lange nachgeschoben werden, bis die Fläche wieder einheitlich erscheint und das Bild eines (lokalen) homogenen Blumenmeeres wieder stimmig ist. Am Ende meiner Anwesenheit über mehrere Stunden seit halb vier am frühen Morgen spitzt sich für mich die Frage zu, welche Rückwirkungen die Teilnahme an diesem Geschäft auf die persönli233 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

chen Lebensrhythmen haben mag und wie der ganz eigene Arbeitsablauf, der so gegen den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus verstößt, empfunden und gelebt werden kann.

Ähnlich wie im zweiten Kapitel über den gemischten Markt werden sich auch die autopsierenden Durchquerungen zur Mikrologie des Blumengroßmarktes an den Themen orientieren, die sich aus der Niederschrift der Eindrücke ergeben.

3.1.1 Lichterleben Das Lichterleben spielt in der Beschreibung des Innenraumes der Blumengroßmarkthalle auf den ersten Blick keine herausragende Rolle. Die verschiedenen Situationen der Raumbeleuchtung nehmen in den expressiv verbis explizierten Niederschriften eher marginalen Raum ein. Das künstliche Licht ist in der Atmosphäre von Innenräumen so infra-gewöhnlich, dass man ihm erst dann Aufmerksamkeit schenkt, wenn es sich in irgendeiner Weise über die Qualität seiner Sinnlichkeit gleichsam von selbst thematisiert. Dann erst hebt die Wahrnehmung das Eindrückliche aus einem bis dahin unbewussten Hintergrund hervor und macht das Infra-Gewöhnliche zu einem Gegenstand des Bedenkens. Dies ist in folgenden impressiven Situationen der Fall: a) mit dem Hinweis auf die im Bereich eines größeren Schnittblumenhändlers an der Decke hängenden hell leuchtenden Industrielampen, die den Verkaufsraum so intensiv ausgeleuchtet haben, dass die Blumen in ihrer Farbe und Gestalt klarer und deutlicher hervorgetreten sind als bei den Verkaufsständen anderer Händler; b) mit dem kontrastierenden Hinweis auf das in der übrigen Halle vorherrschende Neonröhren-Licht, das als relativ kalt und grau empfunden wurde; c) schließlich mit dem Hinweis auf die Zuschaltung weiterer Lampen in dem zuvor eher fahl ausgeleuchteten Teil der Halle. Wenn es nun heller war als zuvor, so herrschte doch immer noch eine andere Licht-Atmosphäre als unter den Industrielampen über der großen Verkaufszone eines Schnittblumenhändlers.

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Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Die Illumination der Halle wurde immer dann thematisiert, wenn sie aus einem Kontrasterleben bewusst geworden ist. Das unterstreicht den lebensweltlich selbstverständlichen Charakter der von künstlichem Licht ausgehenden Eindrücke. Die Gründe für die strukturell hohe Schwelle der Aufmerksamkeit dürften in der Gewöhnung an das elektrische Licht liegen. Diese geht vor allem auf die Sozialisation in technisch modernen Gesellschaften zurück, hat in der Geschichte der technischen Zivilisation aber darüber hinaus noch tiefer liegende Wurzeln, die sich mit der mythischen Symbolik des Lichts verbinden. Zur atmosphärischen Macht des Lichts Im späten 19. Jahrhundert kommt das elektrische Licht als kulturelles Leitmedium zunächst in die urbane Welt. Es entfaltet großen innovativen Einfluss auf alle gesellschaftlichen Bereiche. 2 Von der »modernen großstädtischen Zivilisation« ist es seither nicht mehr zu trennen. 3 In welcher Weise es bis heute die Aufmerksamkeit der Menschen findet, wird nicht zuletzt von der Art des technischen Lichts bestimmt. So versinkt das alltägliche Gebrauchslicht tiefer in einer Selbstverständlichkeit des Unbedenklichen als die ästhetisierende und emotionalisierende Illumination historischer Bauten. Das meist dissuasive Programm der An-strahlung zielt auf die Produktion von Aufmerksamkeit ab. Es ist daher sinnvoll, zwischen verschiedenen Funktionen künstlichen Lichts zu unterscheiden, dient das die Fassade einer mittelalterlichen Festung illuminierende Licht doch einem anderen Zweck als das den Raum einer Industriehalle erhellende. In diesem Sinne hatte Gerhard Auer unter anderem von rationalem und von vitalistischem Licht gesprochen. 4 Während das rationale Licht ein typisches Medium der funktionalistischen und effizienzorientierten Moderne ist, beeindruckt vitalistisches Licht durch seine Ästhetik; es erregt die Gemüter und vermittelt den verklärten Blick auf das im Schein des Schönen Erstrahlende. Im Unterschied zum ästhetischen Licht, das in der Mikrologie zum Erleben der Weihnachtsmärkte eine zentrale Rolle spielen wird (s. Kapitel 5), indem es

»Nächtliche Beleuchtungsfülle und inszenierte Helligkeit prägten seit den ersten Beleuchtungsereignissen um 1880 die Vorstellung von Modernität und Urbanität.« Binder, Elektrifizierung als Vision, S. 351. 3 Schivelbusch, Lichtblicke, S. 76. 4 Vgl. Auer, Ahnung und Planung. Zum Licht-Bewußtsein des Architekten, S. 134. 2

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Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

die Menschen romantisierend sedieren soll, folgt der Autoscheinwerfer, der die Fahrstrecke eines Automobils in dunkler Nacht erhellt, dem Zweck pragmatischer Nützlichkeit. Auch das Licht in der Halle des Blumengroßmarktes dient der Erhellung eines an sich – schon wegen der frühen, fast noch nächtlichen Zeit des Handels – dunklen Raumes. Aber dieser sich so selbstverständlich aufdrängende und scheinbar allein aufs Rationale begrenzte Zweck von Neon- oder HighTech-Industrielampen geht nur auf den ersten Blick ganz in rationalen Kalkülen auf. Die Mikrologie gibt einen Hinweis auf unterschiedliche atmosphärische Vitalqualitäten im erlebenden Vergleich zweier Formen jenes technischen Lichts, das im Sinne von Gerhard Auer jeweils der Kategorie rationalen Lichts zugeordnet werden müsste. Indem es aber stets leiblich spürbaren Einfluss auf die Atmosphäre des Hallenraumes hatte, wirkte es zugleich auf das Raumerleben ein. So hatte sich die Gegend eines geschäftstüchtigen und um die affizierende Wirkung des Lichts wissenden Schnittblumenhändlers durch das helle Leuchten aus herabhängenden Lampen vom übrigen Raum der Halle ästhetisch abgehoben, obwohl es doch im architektonischen Sinne gar keinen klar abgetrennten Bereich gegeben hat. Der in gewisser Weise separierende Raum-Eindruck verdankte sich vornehmlich der im sinnlichen Einflussbereich dieses besonderen Lichts spürbar gewordenen atmosphärischen Vitalqualität eines im Sinne des Wortes eigenartigen »Lichtraums«. Darin dürfte auch der Grund für die Anbringung der Lichtinstallation durch den betreffenden Großhändler liegen, der dort dauerhaft sein Geschäft betreibt. Der sich schon in der Beschreibung der Mikrologie zur Geltung bringende Eindrucks-Effekt tritt ja nicht zufällig ein. Er dürfte vielmehr erwünscht gewesen sein, weil der hell gemachte Raum auf verdeckte Weise auf das gefühlsmäßige Befinden der Kunden Einfluss nimmt. Derweil gibt sich das »gute« Licht in der oberflächlichen Aufmerksamkeit der Marktkunden als Mittel »guten Sehens« und kaum – aus einer Metaperspektive – als architektonische Inszenierung eines Verkaufsbereichs zu verstehen. Das Beispiel macht zum einen auf die raumschaffende Eindrucksmacht des technischen Lichts aufmerksam, zum anderen aber auch auf dissuasive Machtpotentiale, die zum Zwecke der Erlangung von Wettbewerbsvorteilen über den Einsatz von künstlichem Licht ins Spiel gebracht werden können. Im Licht wird es nicht nur (mehr oder weniger) hell. Die Art und Weise einer Illumination schafft eigene »Gegenden« mit charakteris236 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

tischen Vitalqualitäten. Für Lagerhäuser wie für Bauten der Industriearchitektur mag eine gewisse Nüchternheit der Illumination wie die zweckmäßige Reduktion der baulichen Formen und räumlichen Ausstattungen auf das unmittelbar Zweckdienliche typisch sein. Eine charakteristische Raumsituation ist von einer dazu passenden elektrischen Beleuchtung gar nicht zu trennen. Das Licht bildet folglich mit der Eindrucksgestalt der Halle zusammen eine umfassende atmosphärische Einheit des Innenraums. 5 Was Christian Norberg-Schulz über den Zusammenhang von Licht und Genius eines Ortes sagt, ist in der Situation der Blumengroßmarkthalle im Prinzip nicht anders. Der Vitalton des technischen Lichts ist eine raumschaffende Kraft. Am gegebenen Beispiel macht es den Raum ganz wesentlich zu dem, was er im Erleben von sich preis gibt. Das Beispiel zeigt schließlich, dass sich der Genius eines Ortes innerhalb einer großen Bandbreite seiner technischen (und ästhetischen) Disponierbarkeit in bestimmter Weise herstellen lässt, sodass die in seiner Umgebung spürbare Atmosphäre die Aufmerksamkeit sammelt. Was generell für die Generierung einer spezifischen atmosphärischen Wirklichkeit durch das »rational« erhellende Licht gilt, trifft für Industriehallen, die auf die künstliche Beleuchtung ausgelegt sind, in unmittelbarer Weise zu. Das Licht disponiert die Beziehung zwischen Architektur und deren leiblichem Erleben. So trägt das technische Licht nicht nur »zum Verwischen von Grenzen« 6 bei, wie Karin Hirdina anmerkt; es gliedert den Raum auch in seiner Tiefe. Es schafft und verschließt Übergänge, die sich in Blickachsen ankündigen und verlieren. Das Helle Im Allgemeinen verbindet sich das Helle eines Raumes mit einer einladenden Geste, zumindest dann, wenn es mit atmosphärisch warmen und angenehmen Empfindungen einhergeht. Aber auch ein halbdunkler Raum kann einladend sein, sofern er in seiner Vitalqualität etwas Bergendes ausstrahlt. Das Beispiel zeigt, dass nicht allein die nach Lumen-Werten messbare Quantität des Lichts den atmosphärischen Vitalton eines Raumes stimmt, sondern die ganzheitliche Raumwirkung aller atmosphärischen Variablen. Es ist weniger das 5 6

Vgl. Norberg-Schulz, Das Licht und der Genius des Ortes, S. 145. Hirdina, belichten beleuchten erhellen, S. 24.

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naturwissenschaftlich-physikalische Licht, dem raumschaffende Potenzen eigen sind, als sein machtvoller Einfluss auf das konkrete, situative Raumerleben. Auf dem phänomenologischen Hintergrund der Leiblichkeit der Wahrnehmung ist das Erleben von Räumen stets in irgendeiner Weise auch vom Licht bestimmt. So entstehen auf einem synästhetischen Wege allein durch die Art einer Illumination warme und kalte Räume, dies aber nicht, weil sie in ihrer messbaren Temperatur, also im engeren Sinne warm oder kalt wären, sondern weil sie in ihrem atmosphärischen Vitalton (am eigenen Leib) als warm oder kalt erlebt werden. So wird auch in der Mikrologie das Raumerleben in bestimmten Bereichen der Halle als »kalt« beschrieben, womit die herumwirkliche Spürbarkeit einer kleinräumlichen Gegend gemeint ist. In ganz ähnlicher Weise deutet auch das Fahle und Graue nicht auf die Flächenfarbe von irgendwelchen Dingen hin, sondern auf eine befindliche Stimmung in diesem ganz spezifischen Lichtraum (s. oben b). Schmitz sagt zum Fahlen, es sei »die optisch neutrale Zone zwischen dem Hellen und dem Dunklen« 7 und weise eine synästhetische Verwandtschaft mit dem Kühlen auf. Im Unterschied zu den thermischen Qualitäten sind Kälte- oder Wärme-Eindrücke, die synästhetisch wahrnehmbar werden, auch viel weniger an Orte denn an Atmosphären gebunden. 8 Auch dies illustriert das Beispiel (s. oben c), wonach sich in der Folge der Zuschaltung weiterer Leuchten zu fortgeschrittener Zeit des frühen Morgens das zuvor als fahl und kalt empfundene Licht in einen anderen Vitalton verwandelt hat. Doch war die Veränderung der Situation nur scheinbar eine alleinige Folge der gesteigerten Intensität des Lichts; vielmehr hat die Veränderung der Illumination der Halle ein neues atmosphärisches Gesicht verliehen. Wenn es in diesem Teil des Innenraumes nun auch viel heller war als zuvor, so herrschte im atmosphärischen Herum doch ein anderes Licht als unter den technisch vielleicht ebenso hellen Industrielampen des Schnittblumenhändlers. In der Spätmoderne haben sich die Menschen schon lange an die Grellheit und Helle des technischen Lichts gewöhnt. Aber deshalb sind sie gegenüber den Erlebnisqualitäten der verschiedenen Arten des Lichts nicht unempfindlich geworden. Das technische Licht wird in aller Regel nie allein nach quantitativen Kriterien der Helligkeit 7 8

Schmitz, Band III, Teil 1, S. 165. Vgl. in diesem Sinne Schmitz, Band III, Teil 5, S. 207.

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beurteilt, sondern auch – je nach situativer Verwendung sogar ganz wesentlich – nach Eindrucks- und Erlebnisqualitäten emotionalen Befindens. Sonst hätten die Menschen keine Kerzen, die ja licht- wie emissionstechnisch mit zahlreichen Mängeln behaftet sind und auch praktische Nachteile haben (Kosten, Flecken von herunterlaufendem Wachs etc.). Jules Michelet klagte angesichts der Innovation des Gaslichts 1845: »In dieser Beleuchtung ist keine Illusion möglich. Unaufhörlich und unbarmherzig gemahnt sie an die Realität.« 9 In der Zeit des Übergangs zum elektrischen Licht ging diese Form einer noch ästhetischen Kritik an der technischen Zivilisation in die politische Kritik an einer strukturell panoptischen Helle über, die sich in der Gegenwart vom Licht im engeren Sinne auf panoptische Systeme übertragen hat. Das Licht gehört zum Erscheinen der Dinge. Ohne Licht käme in einem visuellen Sinne gar nichts zur Erscheinung. Deshalb macht es im Fokus der Phänomenologie auch keinen Sinn, es als etwas Eigenes, geschweige denn in einem physiologistischen Sinne als ein die Sinne »reizendes« Medium zu betrachten. Wo Licht ist, sind mit den Dingen zugleich die Räume »im Licht«, und so verbindet sich mit der aktuellen Situation eines Raumes das ihn stimmende Licht als etwas zu ihm Gehöriges. Auf ganz andere Weise gibt sich dieser Zusammenhang in marxistischer Sicht zu verstehen. So sieht Klaus Holzkamp die Wahrnehmung des Menschen aus der Perspektive ihrer Bindung an die vergesellschaftete Arbeit. 10 Darin kommt insofern eine Verzerrung zur Geltung, als es gar nicht immer mit der arbeitenden Aktivität des Menschen zu tun hat, ob ein Raum in dieser oder jener Weise, also zum Beispiel in kalter Helle oder behaglichem Dämmerlicht spürbar wird, sondern von der Gesamtheit aller Modalitäten seines Erscheinens. So hatten die hellen lichtdurchfluteten Teilräume der Markthalle eine einladendere Wirkung auf den Benutzer als jene Gegenden, die in einem dämmrig fahlen Grau lagen. Das Licht suggeriert Richtungen, die man suchen, und solche, die man meiden möchte. Die Möglichkeit, sich in eine Richtung bewegen zu können, »ist für den Menschen ein fundamentales Erlebnismoment des Raumgefühls, sie begründete erlebnismäßig die Raumtiefe.« 11 Die Möglichkeiten (aber Michelet, zit. bei Schivelbusch, Lichtblicke, S. 128. Vgl. Holzkamp, Sinnliche Erkenntnis, S. 29. 11 Gosztonyi, Grundlagen der Erkenntnis, S. 153. 9

10

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auch Beschränkungen), in einen Raum hineingehen zu können, sind durch äußere Gegebenheiten (Hindernisse im tatsächlichen Raum) ebenso disponiert wie durch leiblich verankerte Stimmungen. Schließlich stimmt das aktuelle leibliche Befinden – im hellen wie im (halb-)dunklen Raum – affektive Bewegungstendenzen: »Auch der augenblickliche Zustand des Leibes und der Psyche wirkt sich auf das Raumgefühl aus. Ist man erschöpft, so scheint eine Entfernung länger zu sein, als wenn man bei Kräften ist. Gute Stimmung verkürzt den Raum, bringt entfernte Raumstellen näher; Depressionen vergrößern ihn (mitunter bis in ›unerträgliche Dimensionen‹).« 12

Am Beispiel der Mikrologie muss hierbei an die Bedeutung der »gelebten Zeit« im Sinne von Minkowsi gedacht werden. Der gesamte leiblich disponierte Habitus in einer raumzeitlichen Situation wie der des beinahe noch nächtlichen Blumenmarktes ist infolge des spezifischen Zeiterlebens in den frühen Stunden der geradezu nächtlichen Zeit der Arbeit in der Großmarkthalle auf andere Weise getaktet, als würde der Handel im warmen und hellen Tageslicht der Sonne betrieben.

3.1.2 Performative Rhythmen Schon zur frühmorgendlichen Zeit der Vorbereitung der Verkaufsstände wird die Atmosphäre in der Halle von den regen Aktivitäten umherlaufender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Blumengroßhändler gestimmt. Dabei unterscheiden sich diese nach einer Kurz- oder Langwelligkeit ihrer Rhythmen; wo schnell verderbliche Schnittblumen hereintransportiert werden, sind die Bewegungsabläufe schneller als da, wo Heidekräuter, gebundene Kränze, Blumenerde, Dünger oder Deko-Figuren zum Verkauf stehen. Zur situativen Dichte des Performativen Zwar folgt alles, was im Verkaufsbereich eines Großhändlers arrangiert wird, seiner eigenen »Choreographie«. Mit dem Eintreffen der ersten Kunden müssen die Vorbereitungen zur Präsentation der Waren zumindest weitgehend abgeschlossen sein. Wie das Nötige auch 12

Ebd., S. 166.

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im Einzelnen vor sich gehen muss, so entzieht es sich doch einer linearen Logik und folgt keinem vorhersehbaren Ablauf, sondern einer Kette einzelner, sich performativ aneinanderreihender Episoden, spontan und voller Improvisation. Wenn das Ende des Ganzen auch absehbar ist, so hat die dynamische Struktur der mikrologischen Oszillogramme doch einen chaotischen und autopoietischen Charakter. Trotzdem werden die einzelnen, vom Tun individueller Personen getragenen Ablauf-Segmente durch das Wissen um einen herzustellenden Endzustand synchronisiert. Auch die Atmosphäre des Marktes wird wesentlich durch das sich fortlaufend aktualisierende Verhältnis zwischen dem Ganzen des Markes und allem Einzelnen seiner mikrologischen Situationen bestimmt (s. auch Kapitel 2.3.3). Wenn das Ganze eines Marktes in seiner charakteristischen Gestalt auch vorhersehbar ist, so doch nicht das ihn erst konstituierende Einzelne; sein lokales mikrologisches Geschehen ereignet sich in einem performativen Sinne. Es ist Ausdruck der Dynamik eines sich selbst regulierenden Ganzen. Vom Eindruck eines charakteristischen bzw. (situations-)typischen »Marktes« her betrachtet, konstituiert sich dieser in unterschiedlichen Ablauf-Rhythmen an verschiedenen lokalen (mikrologischen) Ereignis-Inseln innerhalb der Markthalle. Es ist gerade diese Unterschiedlichkeit, die die Markt-Zyklen in ihrer Lebendigkeit wie den ganzen Markt in seiner Eigenart ausmacht. Mit Hermann Schmitz ließe sich dieser Unterschied über den Begriff der Dichte charakterisieren. Was er damit meint, macht er am Beispiel der Stille deutlich, wonach die heitere Morgenstille eine geringere Dichte aufweise als eine drückenden Stille 13 zum Beispiel der Trauer. Die größte rhythmische Dichte herrscht in diesem Sinne in jenen Markt-Gegenden, in denen sich die Abläufe in großer Eile verzahnen. Einer geringeren Dichte begegnet man an jenen Marktständen, an denen Ruhe, Gelassenheit und beharrliches Warten auf die Kunden atmosphärisch bestimmend ist. Die Dichte-Rhythmen eines Marktes sind vielfältig und verleihen ihm wechselnde Gesichter; eines zeigt sich in der Kontinuität der Räum- und Aufstellarbeiten wie der Anlieferung der Blumen durch die Händler, ein anderes im Eintreffen der ersten Kunden, ein weiteres in der beginnenden Vermischung programmatisch heterogener Markt-Programme (verkaufen und kaufen). Alle folgen der übergreifenden bzw. rahmenden Logik dieses Blumengroßmarkt-Programmes. 13

Vgl. Schmitz, Situationen und Konstellationen, S. 205.

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Die in ihrer fluktuierenden Lebendigkeit beeindruckenden Abläufe werden immer wieder durch herausragende Eindrucksmomente unterbrochen. Diese »Unterbrechungen« halten aber den Lauf der Dinge nicht auf; sie unterbrechen nur die Selbstverständlichkeit der Gegebenheit des Marktes und machen ihn für Momente im Gesicht segmentierter Situationen bewusst: in plötzlich aus irgendwelchen Gründen auffällig werdenden Verhaltensmustern, in der eigenartigen habituellen Präsenz eines Käufers, durch ein besonderes Ereignis wie die Öffnung des Markt-Cafés um vier Uhr (noch bevor die ersten Kunden eingetroffen sind) und im eher eiligen als gelassenen Eintreffen erster Bistrokunden, die dann mit einem Brötchen oder einem Coffee to go schnell wieder zu ihrer Arbeit zurückkehren. Choreographische Bewegungsmuster Von emotionalen Bewegungen zunächst abgesehen, drücken sich die meisten Rhythmen in motorischen und allokativen Bewegungen im Raum aus: Kundinnen tragen Blumensträuße zu den Ablagen ihrer Einkaufswagen und fahren mit ihnen durch die Gänge der Halle. Und schon im akustischen Rauschen der Kulisse von Marktgeräuschen, -tönen und -klängen kündigen sich einzelne Bewegungen an – meistens von Dingen, die nun Resonanzkörper und Stimmungsmedien sind. Das Marktgeschehen ist in seinen Rhythmen mit den Bewegungen von Menschen synchronisiert – schnellen wie langsamen, entspannten wie aufgeregten, hektischen wie müden. Die Menschen gehen aber nicht nur von einem Ort zum anderen, sie bewegen sich auch gleichsam auf der Stelle. In der Art ihrer Bewegung lassen sie oft etwas von ihrer emotionalen Stimmung erkennen, die wiederum Spiegel einer aktuellen Markt-Situation sein kann. Zur Choreographie eines Marktes gehören deshalb nicht nur motorische Bewegungen, sondern ebenso emotionale Bewegtheiten, die sich habituell ausdrücken. Erwin Straus pointiert die durch ein (aktuelles) Befinden bedingte Unterschiedlichkeit der Bewegungen so: »Lassen wir irgend jemand zuerst seinen gewöhnlichen Gang gehen, dann nach einer Marschmusik marschieren, und zuletzt etwa sich nach den Klängen eines Menuetts bewegen, so können wir die völlige Wandlung der Bewegungsform gut beobachten.« 14 14

Straus, Die Formen des Räumlichen, S. 162 f.

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Die habituelle Art und Weise des Gehens wie der Bewegung im Allgemeinen wird schon durch Eindrücke gestimmt und nicht erst durch psychische Befindlichkeiten. In dem folgenden Beispiel spricht Straus zwei Formen raumerschließenden Gehens an, in denen sich je eigene Beziehungen zum umgebenden Raum wie zu der in ihm erlebten Zeit ausdrücken: »Beim Gehen bewegen wir uns durch den Raum, von einem Ort zum anderen, beim Tanzen bewegen wir uns im Raum. Beim Gehen legen wir eine bestimmte Entfernung zurück, gehend durchmessen wir den Raum. Der Tanz dagegen ist eine nicht-gerichtete und nicht-begrenzte Bewegung, es fehlt ihr, wie der Bezug auf Richtung und Entfernung, ebenso der Bezug auf räumliches Maß und auf räumliche und zeitliche Grenze.« 15

Das Gehen durch den Raum und das Gehen im Raum ist aber nicht ausschließlich an den Unterschied zweckgerichteter und in gewisser Weise zweckfreier Bewegung (des Tanzes) gebunden. Die Kunden, die durch die Halle gehen und bestimmte Blumen für ihre Schaufenster suchen, bewegen sich ja nur so lange durch den Raum, wie sie von einem Regal zum anderen gehen. Es gibt aber auch Situationen, in denen sie sich als Moment ihres Hier-Seins im Raum und nicht durch ihn hindurch bewegen, also dann, wenn sie zum Beispiel Blumensträuße auf den Ablagen ihres Einkaufswagens sortieren oder jemanden treffen und – auf der Stelle stehend – ein kurzes Gespräch führen. Auch die Händler und ihre Angestellten müssen sich in der Erledigung ihrer Arbeit immer wieder auf der Stelle bewegen, wenn sie in äußerst kurzen hin- und hergehenden Schritten zum Beispiel die Blumenbehälter neu anordnen, die leeren Container wieder mit neuen Sträußen auffüllen usw. Es kommt bei der Art der sich durch den Raum oder in ihm vollziehenden Bewegung nicht auf die Strecken an, die so oder so »zurückgelegt« werden, sondern auf das Programm, dem eine Bewegungsfigur folgt. Deshalb konstituiert sich auch nicht erst bei (scheinbar) zweckfreien Bewegungen »im Raum« (wie der des Tanzes) eine ganz eigene Beziehung zu den Grenzen von Raum und Zeit. Hier kommt es vielmehr auf das Programm an, dessen Struktur neben Bewegungsmustern je eigene Beziehungen zu räumlichen und zeitlichen Grenzen präjudizieren (s. auch Kapitel 2.3.1). Die Bewegungsrhythmen spiegeln in ihren Variationen (rational wie performativ) Programme wider, die die Dramaturgie eines insti15

Ebd., S. 164.

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tutionalisierten Raumes gleichsam ordnen. Der im Raum seine Arbeit verrichtende Blumenhändler ist, wenn er sich mehr im Raum als durch ihn bewegt (im Unterschied zum Tänzer), äußerst rational auf Richtung und Entfernung bezogen. Dass er in seinen Bewegungen (metrisch) nur auf äußerst kurze Entfernungen und naheliegende Richtungen bezogen ist, spielt dabei keine Rolle. Man würde der Sache dieser besonderen Bewegung (im Raum bzw. auf der Stelle) nicht gerecht, wollte man sie ihrer rationalen Veranlassung wegen nur als eine Variante der Bewegung durch den Raum verstehen; dies müsste schon deshalb auf Abwege führen, weil geringste Reichweiten einer Bewegung, die im engeren Sinne gar keinen allokativen Charakter hat, andere Raum-Zeit-Beziehungen konstituieren als ein den Raum querender Bewegungsfluss. Warten und Erwarten 16 Auch das Stehen an einem Platz impliziert Bewegungen im Raum, steht doch kein Mensch starr wie eine Marmorstatue an einer Stelle. Die nicht-allokative Bewegung ließe sich auch als Bewegung geringer Dichte beschreiben. Solchen Formen relativen Still-Stehens begegnet man in der frühmorgendlichen Situation des Marktes in Gestalt der an ihren Kassen wartenden Händler. Und schon die sich im Bereitschaftsmodus befindenden Kassen symbolisieren auf atmosphärisch immersive Weise das Warten. Wenn »warten« etymologisch zunächst die Bedeutung aufpassenden Hinsehens und wachsamen Wahrnehmens hat, 17 so kann man doch auch apathisch warten, vor allem dann, wenn die Erwartung eines Erwarteten so erlahmt ist, dass man vielleicht beinahe gar nichts mehr erwartet, dennoch im Programm des Wartens gleichsam festsitzt, weil es – wie in der situierten RaumZeit dieses Marktes – eine formale Zeit des Aushalten-Müssens gibt. Dies erinnert daran, dass Großmärkte unter anderem aufgrund ihres halböffentlichen Charakters heterotopologischen Charakter haben. Der Er-wartende lädt sich aufgrund seiner spezifischen Beziehung zu einem Ziel des Wartens mit einer stimmungsmäßigen Spannung auf, die sowohl von Hoffnung als auch von Furcht gefüllt sein kann. Auch im (wartenden) Harren ist diese spannungsgeladene Be16 17

Eine kleine Phänomenologie des Wartens befindet sich in Kapitel 7 von Band 1. Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 27, Sp. 2130.

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deutung des Erwartens 18 noch lebendig, wenn sie auch schon zu erstarren beginnt. Wer in die Leere einer ereignislosen Zeit hineinwartet, in der weder das Erhoffte noch das Befürchtete eintritt, kann sich auch »müde« oder »zum Narren warten« 19. Dieses gleichsam leere Warten charakterisiert an diesem Morgen die persönliche Situation so mancher Händler, die vergeblich auf Kundschaft warteten, wobei die Vergeblichkeit eines Wartens immer erst aus der Ex-post-Perspektive, das heißt aus der Distanz des Verstehens, interpretierend gesehen werden kann. Umso mehr zeigt sich in der Verstrickung des Wartens in bestimmte Erwartungen dessen Situiertheit. 20 Zeit-Orte Insbesondere das lange, in die Zeit hinein gedehnte Warten macht in seiner lockeren Dichte die Dauer bewusst und darauf aufmerksam, dass der Markt nicht nur seinen Ort hat, sondern auch seine Zeit. Im Rauschen seiner Kulisse wird seine RaumZeit in Gestalt eines sich permanent wandelnden, aber nicht einfach endenden performativen Stroms hörbar, im Herumfahren der Kunden mit ihren Einkaufswagen auf den im tatsächlichen Raum zurückgelegten Wegen indirekt aber auch sichtbar. Beinahe alle Abläufe des Marktgeschehens werden von Bewegungen getragen. Jede von ihnen braucht Zeit – wenn auch anders als im Metier des Denkens und des Fühlens. Im Sinne eines permanenten Wandels entfaltet sie sich (oft unbemerkt) in einer rhythmisch gebrochenen Kontinuität. Schließlich hat der Markt in seiner institutionellen Organisation »seine« Zeit, die mit der Metapher des »Zeitfensters« angesprochen wird, wobei Fenster die Bedeutung eines raumzeitlichen »Dazwischens« hat. Im wartenden Zeiterleben ist ein logischer Zeit-Begriff wenig hilfreich, verliert sich das Warten doch dann in einem Nichts, das sich zwischen einer immer schon vergangenen Vergangenheit und einer immer erst bevorstehenden Zukunft auf dem virtuellen Punkt eines abermaligen Nichts ereignen müsste. 21 In der Phänomenologie der Zeit kommt es auf die lebendige Spürbarkeit des Zeiterlebens an – hier in der Situation des Marktes. Eugène Minkowski spricht dieses 18 19 20 21

Vgl. ebd., Band 3, Sp. 1044. Ebd., Band 27, Sp. 2166. Zur Phänomenologie des Wartens vgl. auch Band 1, Kapitel 7.5.1 Vgl. dazu auch Minkowski, Die gelebte Zeit, Band I, S. 28.

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Zeiterleben mit dem Begriff der »gelebten Zeit« an. Diese versteht er als ein fließendes und wogendes Werden. 22 Es ist schließlich der sich aus der Struktur einer Situation ergebende persönliche Elan, der den Menschen in den Bewegungsfluss gleichsam hineinträgt und einen »gelebten Synchronismus« 23 verbürgt, wonach die Lebendigkeit von Abläufen überhaupt erst als etwas Verfugtes verstanden werden kann. Solche Rhythmen, die innerhalb des Rahmens einer Situation Einheiten bilden, folgen in ihrer Programmatik wiederum situationsimmanenten »Zyklen«, in denen der Elan in einen personalen Kontakt mit der Wirklichkeit tritt. 24 Mit anderen Worten: Die Zyklen der einen Blumenmarkt konstituierenden Bewegungen folgen in den nächtlichen Stunden der Vorbereitung der Verkaufsstände anderen Rhythmen als am frühen Morgen in der Zeit des Abtransports aller nicht verkauften Waren. Zum Situations-Charakter des Marktes Alle marktspezifischen Aktivitäts- und Bewegungsmuster sind in einem mehrfachen Sinne situativ gerahmt. Umgreifend ist die gemeinsame Situation des Großmarktes; sie ist auf seinen Raum und die Zeit seiner Abhaltung begrenzt. Solange der Markt gehalten wird, stellt sie sich als eine zuständliche (in der Zeit relativ beharrende) Situation dar, die nur innerhalb jenes Spektrums an Möglichkeiten variieren kann, das noch Ausdruck des spezifischen Markt-Programmes ist. 25 Alle möglichen Variationen unterscheiden sich je nach dem Typ eines Marktes, hängen also wesentlich von der Art der gehandelten Waren ab. Das Programm eines Blumengroßmarktes folgt den Anforderungen, die sich aus dem Handel mit Blumen ergeben und nicht mit Fisch oder Getreide. Am Beispiel des Weihnachtsmarktes wird sich dies insofern zuspitzen, als dort im engeren Sinne gar keine Waren gehandelt werden, sondern Gefühle, deren Versprechen durch Dienstleistungen gefüllt werden, wobei Waren nur eine medial unterstützende Rolle spielen (s. Kapitel 5). Die zuständliche Situation des Blumenmarktes, die zugleich eine gemeinsame ist, bettet die persön-

22 23 24 25

Vgl. ebd., S. 26. Ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 84. Vgl. Schmitz, Situationen und Konstellationen, S. 25.

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lichen Situationen der Angestellten, Händler und Kunden ein. 26 Alle an seinem Geschehen Teilnehmenden müssen sich in das gewissermaßen »herrschende« Markt-Programm einfügen bzw. können ihre Aktivitäten nur innerhalb seiner Flexibilität gegenüber marktkompatiblen Verhaltensmustern entfalten. 27 Das Markt-Programm bestimmt noch dann den Umgang mit Dingen, wenn der Markt wie an diesem frühen Morgen wegen der bevorstehenden Hitze nur schleppend in Gang kommt und träge bleibt. Daraus entsteht für die meisten Händler das wiederum situationsspezifische Problem ausbleibender Geschäfte. Und so sitzt die Erwartung in der Mitte zwischen Programm und Problem gleichsam fest, ohne dass sich aus dem Spielraum der Situation eine Möglichkeit böte, auf den Lauf der Geschehnisse fördernd Einfluss zu nehmen. Das Beispiel eines Händlers, der neben seinen dahindümpelnden Marktgeschäften an den Versteigerungen einer Online-Auktion teilnimmt, illustriert, dass aktuelle Situationen auch nebeneinander liegen, sich nicht nur berühren, sondern auch überlagern können. Solche intensive bzw. dichte Überlagerung verlangt von dem, der sich in zwei Situationen verwickeln lässt, die parallele (oft ganz unabhängig voneinander vollzogene) Synchronisierung der Aufmerksamkeit wie der Handlungskoordination. Nur dann kann das »doppelte Spiel« auf den je eigenen Bühnen gelingen, wenn solche Balanceakte frischer Wachsamkeit stets von dem Risiko begleitet werden, aus einem schließlich nicht mehr beherrschten Rhythmus herauszufallen.

3.1.3 Habitus Die Art und Weise, wie Menschen (nicht nur körperlich, sondern auch leiblich) unterschiedlich präsent sind, drückt sich habituell aus. Der vom Habit (der Mönche) abstammende Habitus-Begriff 28 fokussiert die ganze 29 Erscheinung einer Person. Dazu gehört die Kleidung, Vgl. ebd., S. 24. Zum situationstheoretischen Ansatz von Hermann Schmitz vgl. insbesondere, Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 67 ff., Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, S. 89 ff., Schmitz, Situationen und Konstellationen, S. 18 ff. sowie zusammenfassend Schmitz, Kurze Einführung, S. 47 ff. sowie die Kapitel 2.2.1 und 2.3.10 in diesem Band. 28 Zu Begriff und Konzept des Habitus vgl. auch Kapitel 6.2.4. in Band 1. 29 »Ganz« ist hier auf dem Hintergrund der Beziehungen zwischen einem »Ganzen 26 27

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die in aller Regel auch etwas von der Identität eines Individuums »verrät«; dazu gehört ebenso die Haltung, also die Art und Weise, wie ein Mensch »dasteht«, sich bewegt und äußert. Davon war bereits im letzten Kapitel die Rede. Auch in der Mikrologie zeigte sich, (erstens) dass man es dem Verkaufspersonal in seiner Einbettung in die sie in gewisser Weise »aufnehmende« Situation ihrer Rollen ansehen konnte, dass sie Blumen verkaufen und nicht kaufen wollten, (zweitens) dass sich die Choreographie eines Marktes als ein sich permanent wandelndes buntes Bild habitueller Vielfalt verstehen ließ und (drittens) dass die Bewegung der Menschen Charakteristisches von ihrem aktuellen Befinden (mehr als von ihrer Identität) zur Geltung brachte – etwa in der Art des Gehens. All dies sind »Ausdrucksweisen«, die sich nicht in der wörtlichen Rede mitteilen, sondern auf dem Wege leiblicher Kommunikation. 30 Eine aktuelle Verhaltensunsicherheit oder auch ein beeindruckend großes Selbstbewusstsein eines Menschen zeigt sich in einem je eigenen habituellen Gesicht. Die Frage, in welche Weise solche habituellen Präsenzen Produkt einer Selbst- oder Fremdzuschreibung von Identität sind, spielt dabei einstweilen keine Rolle. Schon die wenigen Beispiele machen auf ein sozialwissenschaftlich verbreitetes reduktionistisches Habitus-Verständnis aufmerksam, das sich an dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu orientiert, wonach ein Habitus auf soziale Zugehörigkeit und Herkunft verweist und damit letztlich als Spiegel gesellschaftlicher Zuschreibungen von Identität gilt. 31 Indem sich aber grundsätzlich einverleibte Bedeutungen in Stimmungen und Grundhaltungen niederschlagen, geht der Habitus-Begriff doch weit über allein sozial-hierarchisch programmiere Subjekt-Verortungen hinaus. Mit habitueller Präsenz hat man es auch unabhängig davon zu tun.

und seinen Teilen« im Sinne von Ganzheit (und nicht im Sinne eines esoterisch verklärten Begriffs von »Ganzheitlichkeit«) verstanden: »Zur Ganzheit gehört ein Mannigfaltiges mit Geschlossenheit nach Außen und Zusammenhalt im Inneren, vermittelt durch einen das Mannigfaltige überall durchdringenden und zusammenhaltenden Charakter oder Zug, gleich der ›persönlichen Note‹ der Handschrift oder Stimme eines Menschen.« Schmitz, Neue Grundlagen, S. 70, s. auch Kapitel 2.3.3. 30 Schmitz definiert »leibliche Kommunikation« unter anderem so: »Leibliche Kommunikation findet statt, wenn ein durch Spannung und ganzheitliche Regungen zusammengehaltener Leib in eine leibliche Dynamik aufgenommen wird, die ihn spaltet oder übertrifft, indem sie ihn mit etwas verbindet.« Schmitz, Der Leib, S. 29. 31 Bourdieu, Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld.

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Habituelle Fassungen sind in einem allgemeinen Sinne Ausdruck persönlicher Situationen (aktueller wie zuständlicher) und nicht allein Produkt der Zuschreibung von Identität. So drücken sich selbst dynamische (etwa zeitliche) Rhythmen, in denen sich soziale Gebilde zeigen, habituell aus. Ebenso sind Bewegungsmuster durch Sachverhalte und Programme situiert, die in sozialen Räumen wie Märkten »anstehen«. Im Verkaufsraum eines Juweliers folgen diese einem anderen Repräsentations- bzw. Ausdrucksprogramm als in dem eines Fisch- oder Gemüsehändlers. Auch die sich im Milieu eines Wochenmarktes zeigenden Bewegungsbilder variieren habituell mit dessen zeitlichem Verlauf, etwa zwischen florierendem Handel und abendlichem Standabbau. Während es hier die Zeit eines Marktes ist, die Rückwirkungen auf die befindliche Teilhabe an seiner Dynamik hat, so wird die habituelle Präsenz seiner Teilnehmer auch von der Art eines Marktes »justiert«. Deshalb sind die Einkäufer auf einer Fischauktion schon wegen ihrer leiblichen Anspannung in anderer Weise habituell gegenwärtig als die Angehörigen einer Betriebsbelegschaft, die einen entspannten gemeinsamen Abend auf einem Weihnachtsmarkt verbringen wollen. Dass auch Warengattungen (wegen der gesellschaftlich regulierten Beziehung zu ihnen) den Habitus von Händlern und Käufern stimmen, liegt angesichts der vielschichtigen Symbolik warenartiger Gegenstände nahe – bei einigen mehr bei anderen weniger. So sind die in den Handel mit Autos eingebundenen Personen habituell ganz anders präsent, als ginge es um den Verkauf lebender Tiere, wobei wiederum innerhalb der Gattung von Fahrzeugen wie Tieren hoch zu differenzieren wäre. Ähnliches ließe sich über die habituelle Dimension des Handels mit Juwelen versus Fleisch sagen, auch nun wieder in einer beträchtlichen Binnendifferenzierung. Dass es in besonderer Weise die Kleidung ist, über die sich eine Person habituell zur Geltung bringt und sozial verortet, ergibt sich aus dem Begriff des Habit. Wenn sich Kleidung auch in geradezu idealer Weise als Medium der Distinktion und Repräsentation anbietet, so spiegelt sie doch unabhängig von der Selbst- wie Fremdzuschreibung sozial-hierarchischer Rangplätze Essentielles von der aktuellen persönlichen Situation eines Menschen wider, etwa dann, wenn sie allein praktisch-pragmatische Funktion hat. Einen entsprechenden Hinweis enthält die Mikrologie zum Blumengroßmarkt dort, wo die Erkennbarkeit der Angehörigen des Verkaufspersonals eines großen Anbieters thematisiert wird, trug das Personal doch einheitliche Arbeitskleidung – im Unterschied zur Alltagskleidung der 249 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

Kundinnen und Kunden. Auch bewegten sich die Arbeiter und Angestellten in ihrer Arbeitskleidung in einer anderen Selbstverständlichkeit und Haltung im Raum des Marktes als die Kundinnen. In ihrem So-Sein spiegelten sich zentrale Merkmale des Marktprogrammes wider. Daneben bot sich die Präsenz eines älteren Kunden schon wegen seiner »besseren« Kleidung als Bestätigung der Bourdieu’sche These der Vergesellschaftung des Habitus an. Abschließend sei auf Gender-Identitäten aufmerksam gemacht, die sich in der Situation des Blumengroßmarktes habituell zur Geltung brachten. Die Eindrucksbeschreibungen zum Erleben des Geschehens in der Markthalle enthielten den Hinweis auf eine überdurchschnittliche Präsenz von Frauen, worin sich neben der Möglichkeit zufälliger Eindrücke auch Rollenzuschreibungen (wie -aneignungen) ausgedrückt haben dürften. Es soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, in welcher Weise Gender-Differenzen das Verhalten in den verschiedenen sozialen Rollen der Teilhabe an einem Markt (Kaufen und Verkaufen) beeinflussen können. Dazu sagen die Beschreibungen über den Hinweis auf eine evidente Dominanz von Frauen hinaus nichts aus. Indes dürfte allein der Sachverhalt relativ geschlechtshomogen zusammengesetzter sozialer Gruppen ein Indiz dafür sein, dass sich solche Ordnungen auch habituell ausdrücken. Eine Anmerkung zu habituellen Gender-Differenzen findet sich in der Mikrologie an der Stelle, wo ein distinktionsbewusster älterer Kunde beschrieben wird, der ja nicht nur in seiner für den Einkauf in einem Großmarkt geradezu extravaganten Kleidung »anders« war als die übrigen Kundinnen und Kunden; er verhielt sich auch anders. Die gestisch geradezu ekstatische Art und Weise, wie er seine Schnittblumen aus der Markthalle heraustrug, zeugt von Selbstbewusstsein und einem Bedürfnis nach Unterscheidung, das nicht zuletzt geschlechtsspezifisch begründet sein mag.

3.1.4 Gerüche und Geräusche Es ist bemerkenswert, dass in der Beschreibung des sinnlichen Erlebens einer Blumengroßmarkthalle die Geruchseindrücke eher marginale Beachtung finden. Dennoch spricht die Mikrologie mit wahrnehmbaren »Geruchsinseln« räumliche Bereiche oder Gegenden an, in denen Schnittblumen und andere Pflanzen gerochen werden konnten. Diese Gerüche sind oft noch nicht einmal in großer Nähe zu den 250 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Blumen eindrücklich geworden, von denen sie offensichtlich ausgegangen sind. Bei den Verkaufsständen von Heidekräutern, Tannengrün oder anderen nicht-blühenden Pflanzen gab es allenfalls gewisse Frischegerüche, die auf luzide Weise, also noch diffuser und disperser als in der Nähe von Schnittblumen wahrgenommen werden konnten. Zur Differenzierung von Gerüchen Gerüche von Blüten, Blumen wie allen möglichen Pflanzen stehen nicht »massiv« im Raum; sie kündigen sich in wolkigen, vorbeifliegenden Schwaden an. Meistens bleiben sie in einem Erlebnis-Hintergrund. Eine Herkunft solch schwimmender Geruchsfelder war nur dann »halbwegs« auszumachen, wenn sie offensichtlich von einem in der Nähe befindlichen Verkaufsstand kamen. Was in solchen Eindruckssituationen »Nähe« bedeuten kann, bleibt vage, sind Nähe und Ferne in der Olfaktorik doch nicht allein von der Intensität eines Emissionsherdes abhängig, sondern ebenso vom Vermögen differenzierter Geruchs-Wahrnehmung sowie von externen Bedingungen der Geruchsausbreitung wie Winden oder – in Innenräumen – einem gerade entstandenen Durchzug. Die Erwartung, in einen einnehmend ekstatischen Geruchsraum einzutreten, erfüllt sich nicht. Das Wenige, worin sich das olfaktorische Milieu der Großmarkthalle der Wahrnehmung präsentiert, führt eher in die Irritation und die unsicher gewordene Frage nach dem Wo der Atmosphären sprichwörtlicher »Wohlgerüche« Tausender von Blumen. In der Reflexion der Ausbreitung und Spürbarkeit von Blumengerüchen soll das phänomenologische Instrumentarium des Situationsverstehens – gewissermaßen die erkenntnistheoretische Bühne, auf der die herumwirklichen Räume begreiflich werden – nicht unangemessen erweitert werden. Die Suche nach naturwissenschaftlichen Antworten stellt daher keine Option dar. Als Aufgabe stellt sich vielmehr die Durchforstung des sinnlich wahrnehmbar Gewordenen. In der Lebenswelt wenden wir uns den Gerüchen wie den Geräuschen in aller Regel erst dann zu, wenn wir sie aus einer lebendigen Beziehung zu einer Situation zumindest in Umrissen in plausibel erscheinende Zusammenhänge einordnen können; so thematisiert die Rose ihren Wohlgeruch wie der schlecht gewordene Fisch seinen Gestank, aber es ist eben »ihr« Geruch und »sein« Gestank und nicht ein Geruch und ein Gestank. Zu einer Sache des Bedenkens werden beide 251 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

erst dann, wenn sie als etwas Eigenes gleichsam »für sich« thematisiert werden. Mehr als die Dinge erscheinen uns sinnliche Eindrücke vom Charakter der Halbdinge fast ausschließlich in situativen Bedeutungs-Kontexten verwoben. Das heißt, sie werden in der spezifischen Eindrucksmacht ihrer Stofflichkeit nur segmentiert, um ihre Wirkungsweise zu bedenken. Dabei bleibt diese Fokussierung meistens theoretischen Denk- und Thematisierungs-Programmen vorbehalten, die vom Interesse des alltäglichen Erlebens separiert sind, weil sie keinen lebensweltlich evidenten Gebrauchswert versprechen. Die Art und Weise, wie das Wenige der von Blumen und Pflanzen ausgehenden Gerüche gegenwärtig war, weist zunächst auf schwache Eindrücke hin, die kaum örtlich punktuell, sondern eher in einem ephemeren Sinne atmosphärisch spürbar wurden. 32 Von einem prägnanten Raumgeruch könnte erst dann die Rede sein, wenn der Raum in seinem sinnlichen Erleben ganz von schwadenhaften Blumen- und Blütengerüchen er- oder sogar ausgefüllt wäre. In der Markthalle gab es zwar solche geruchsräumlich vernehmbaren (mehr oder weniger starken) Intensitäten, aber keinen alle anderen Eindrücke überlagernden Raumgeruch. Zur »Verortung« flüchtiger Gerüche Olfaktorische Eindrücke machen in der Unmöglichkeit ihrer exakten »Verortung« auf eine spezifische Dimensionalität von Geruchsräumen aufmerksam. Deren erstes, sich schon der lebensweltlichen Aufmerksamkeit aufdrängendes Merkmal liegt darin, dass sie im tatsächlichen Raum nicht wie Gegenstände verortet werden können. Dem muss nicht deshalb das lebensweltliche Bedürfnis entgegenstehen, neben der olfaktorischen Präzisierung eines Geruchs auch dessen Herkunft bestimmen zu wollen: »Begegnet uns im Alltag ein Geruch, so versuchen wir meistens ihn sowie seine Quelle zu identifizieren« 33. Aber auch dann, wenn seine Herkunft an einem eindeutig identifizierbaren Ort lokalisiert werden kann (wie ein vergessener Eimer mit Kompostabfällen, der genau da unter der Spüle steht), ist die Frage der Räumlichkeit der Gerüche in keiner Weise beantwortet. Der atmosphärische Raum des Geruchs geht zwar von dieser Stelle des 32 Mădălina Diaconu diskutiert unter anderem die Differenzierung zwischen Geruchsraum und Raumgeruch; vgl. Diaconu, Raumgerüche und Geruchsräume. 33 Ebd., S. 42.

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Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Eimers aus, in dem vielleicht ein Fleischrest verfault, er ist aber in seiner Ausdehnung räumlich in einer Gegend, die selbst nicht in einem ortsräumlichen Charakter aufgeht. Ein Geruch ist auf ganz andere Weise im Raum als ein körperliches Ding. Wir können ihn nicht »genau hier« oder »genau dort« lokalisieren; er ist in Gestalt einer wolkigen Ausdehnung um uns herum; Gerüche erscheinen atmosphärisch. Zwar sind sie stofflich gegenwärtig, aber diese Stofflichkeit unterscheidet sich dadurch von der materieller Körper, dass sie keinen dinglichen Charakter hat und damit auch keine Flächen und Kanten. Atmosphären sind prädimensional. Im Unterschied zu physischdinglichen Gegenständen haben sie weder Anfang noch Ende, auch sind sie nicht begrenzt wie ein Stein, haben vielmehr einen »einhüllenden« 34 Charakter, der als »Herumwirklichkeit« 35 gegenwärtig ist. Gerüche schweben in gewisser Weise im Raum. Hubert Tellenbach sagt: »Der Duft verbreitet sich in der Luft und entdeckt uns so die Existenz der Atmosphäre.« 36 Weil sie sich ebenso plötzlich auflösen kann, wie sie von irgendwo her gekommen ist, eignet ihr etwas Flüchtiges. »Was« sie ist, lässt sich nicht in ähnlicher Weise bestimmen wie der Inhalt eines Glases Wasser; daher bleibt sie in ihrer Gegenständlichkeit oft strittig. Dies hat zur Folge, dass in der lebensweltlichen Aufmerksamkeit starke Interessen an der Beschreibung bzw. Benennung von Gerüchen selten vorkommen. Nach Mădălina Diaconu widmen sich aber auch wissenschaftlich betriebene phänomenologische Raumanalysen eher der Visualität, dem Tasten und der Bewegung und nur ausnahmsweise der Olfaktorik. 37 Das gesamte Eindruckserleben der Gerüche entzieht sich im Unterschied zu dem, was man von dinglichen Eigenschaften kennt, der Objektivierung und damit auch der Möglichkeit einer präzisen Verständigung über das »Was« eines Geruchs. Dies bedeutet für Hubert Tellenbach: »Infolge der Nicht-Objektivierbarkeit des Atmosphärischen kann niemand zur Anerkennung seiner Gegebenheiten gezwungen werden«. 38 Wenn die Bemerkung schon für Atmosphären

Lars Frers hat diese synästhetische Formel zur Charakterisierung der Raumwirkung von Atmosphären gebraucht; vgl. Frers, Einhüllende Materialitäten. 35 Vgl. in diesem Sinne Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum. 36 Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 47. 37 Diaconu, Raumgerüche und Geruchsräume, S. 35. 38 Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre, S. 60. 34

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Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

im Allgemeinen ihre Berechtigung hat, so drängt sich ihre Pointe mit Nachdruck für den Bereich der Gerüche auf. Die Schwierigkeit, Genaues über sie sagen zu können, liegt zum einen an ihrem prädimensionalen Ausdehnungscharakter 39, zum anderen aber auch daran, dass sie uns in ihrer Flüchtigkeit eher unbekannt und rätselhaft erscheinen: »Und das führt zu spezifischen Schwierigkeiten bei der Beschreibung dieser Voluminosität.« 40 Mădălina Diaconu sieht eine gewisse Parallele zur geheimnisumwobenen dunklen Nacht. Beide sind atmosphärische Räume, die »weder Oberflächen noch Abstände oder eine Ausdehnung, sondern die Tiefe (›profondeur‹) als einzige Dimension« 41 haben. Auch die Geräusche sind atmosphärische Eindrucksqualitäten, deren Reichweite zum einen davon abhängt, wie »laut« etwas vernehmlich ist, zum anderen aber auch davon, wie »viel« eine Person zu hören in der Lage ist. Das wurde schon für die Gerüche vermerkt. So machen olfaktorische wie lautliche Atmosphären auf eine Wechselwirkung zwischen Emission und Immission aufmerksam, deren Dynamik sich mit den Erkenntnismitteln naturwissenschaftlichen Kausalitätsdenkens nicht erfassen lässt. Ausbreitungsformen von Gerüchen und Geräuschen Ähnlich wie Gerüche weisen auch Geräusche, Töne und Klänge räumliche Ausbreitungseigenschaften auf, die eine einfache Verortung ihrer relationalräumlichen Herkunft erschweren. Wenn in der mikrologischen Beschreibung von Geräuschen des Scharrens, Schiebens, Rollens, Polterns und Raschelns die Rede ist, so stehen diese (zumindest hypothetisch) mit der Bewegung im tatsächlichen Raum verortbarer Gegenstände in Verbindung: Blumen-Container wurden herumgeschoben und erzeugten dabei ein scharrendes Geräusch, beim Einwickeln von Blumen entstand ein (in der Nähe vernehmbares) Papierrascheln, das Hin- und Herwerfen leerer Blumenbehälter oder Kartons erzeugt ein Poltern und die Einkaufswagen aus Metall machten auf dem Betonboden ein leichtes oder schweres Rollgeräusch. Unter den Geräuschen nehmen die Stimmen eine Sonder-

39 40 41

Vgl. dazu auch Diaconu, Raumgerüche und Geruchsräume, S. 37. Ebd. Ebd.

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stellung ein; sie sind die dem Menschen in gewisser Weise nächsten (Kommunikations-)Laute bzw. Laute, die im Hinblick auf ihre Quelle keinen Zweifel aufkommen lassen, wenngleich auch deren Verortung mit zunehmender Entfernung vom Wahrnehmenden undeutlich wird. Im »Rauschen« einer Klangkulisse geht schließlich alles lautlich Vernehmbare in einer eher amorphen, beinahe undefinierbaren Gemengelage auf als in einer regelmäßigen, aber verwaschenen Klangfigur. Das ephemere Wesen der Geräusche und mehr noch der Gerüche fordert die Sprache zur Erfindung konnotativer Um-schreibungen heraus. In besonderer Weise bieten sich die Metaphern und oft mehr noch die synästhetischen Charaktere an, welche über die einfachen sensualistischen Synästhesien (zum Beispiel kalt = blau oder warm = rot) hinausgehen und an das leibliche Mit-Spüren appellieren. So beschreibt Rilke den Wohlgeruch der Flammenblume (Phlox), die ihr intensivstes Geruchsaroma in der Dämmerung entfaltet, als einen »übersüßten Duft«, in dem ein »Bodensatz schierer Süßigkeit steht.« 42 Es dürfte die nachhaltige Immersivität synästhetischer Charaktere gewesen sein, die ihm eine Formulierung mit so großer ästhetischer Nachhaltigkeit nahegelegt hat und nicht die physiologische Verwandtschaft des Riechens und des Schmeckens. Auch bei Charles Baudelaire sind es weniger die Metaphern als die das leibliche Mitfühlen ansprechenden synästhetischen Charaktere, mit deren Ausdruck er die atmosphärische Intensität der Düfte umschreibt. So spricht er in seinen Gedichten unter anderem vom »schwere[n] Duft« des Pelzwerks 43, vom »schweren Duft« 44 der Kissen, auf denen Hippolyta wachte, und »leichten Düften« 45, die über Betten ruhen. Für Atmosphären des Geruchs wie des Geräuschs ist es schließlich charakteristisch, dass sie in einem schwebenden Sinne »aufsteigen« – im Unterschied zu Dingen, denen man solche Eigenschaften kaum zuschreiben würde: »Der Wind war erregt, neu, mild, und alles stieg auf: Gerüche, Rufe, Glocken.« 46 Dass die Macht lautlicher Atmosphären weit über das im engeren Sinne Hörbare hinausgeht, beschreibt Rilke, wenn er über die Geräusche, die ihn vom Einschla-

42 43 44 45 46

Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 1060. Baudelaire, »Der Duft«, S. 61. Baudelaire, »Frauen in Verdammnis«, S. 217. Baudelaire, »Der Tod der Liebenden«, S. 195. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 963.

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fen abhalten, sagt: »Das sind die Geräusche. Aber es gibt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille.« 47 An einer anderen Stelle unterstreicht er die geradezu abgründige Eindrucksmacht, die von der Quasi-Lautlichkeit der Stille ausgeht. Dazu bedient er sich des Beispiels der Gegenwart einer Katze, die »die Stille noch größer macht, indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen von den Rücken« 48. In der Markthalle waren es keine rätselhaften oder in besonderer Weise immersiven Eindrücke, die von Gerüchen oder Geräuschen ausgegangen sind, viel eher dagegen solche, die in der Alltäglichkeit des gänzlich »Unbedenklichen« bzw. Infra-Gewöhnlichen im Allgemeinen untergehen. Umso mehr haben sich gerade diese »einfachen« Eindrücke als Anlässe der Reflexion erwiesen. Sie geben zu bedenken, was und wie das ist, was uns tagtäglich umgibt. Dabei sind es nicht die ekstatischen Zuspitzungen im Medium des Hyperästhetischen gewesen, die in die denkende Autopsie des Erscheinenden gerufen haben, sondern was sich in einem Gewand des Infra-Gewöhnlichen gezeigt hat.

3.1.5 Ästhetik Die gesamte Innenraumgestaltung der Markthalle (Innenarchitektur sowie die Einrichtung der Händler-Verkaufsbereiche) hat ein praktisch-funktionales Gesicht. Erwägungen der Ästhetisierung haben sich hier gegenüber Prinzipien der nüchternen Einrichtung gar nicht erst entfalten können. Einzig der sich durch eine besonders helle Illumination hervorhebende Verkaufsbereich eines größeren Anbieters von Schnittblumen hat sich ästhetisch von den zahlreichen anderen Verkaufsständen unterschieden. Mit der Montage der hellen Leuchten dürften aber nicht allein bessere »Sichtverhältnisse« angestrebt worden sein, sondern zugleich – wenn nicht sogar in erster Linie – eine herausgehobene atmosphärische Präsenz dieses Verkaufsbereichs. Im Kontrast zu den überall in der Markthalle präsentierten Schnittblumen – als geradezu exemplarische Objekte der Ästhetisierung – zeigt sich der Markt fast ausnahmslos als eine ästhetische

47 48

Ebd., S. 928. Ebd., S. 950.

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Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

Brache; dies jedoch nicht als Ausdruck nachlässiger Planung, sondern als Zeichen einer offensichtlich gar nicht bestehenden Notwendigkeit verschönernder Inszenierungen. Während der Einzelhandel Wert auf die Ästhetisierung der Waren legt, die er in einer bewusst gestalteten Innenarchitektur seiner Verkaufsräumen anbietet, spielen dissuasive Kalküle in der Organisation einer Großmarkthalle, die sich ausschließlich an Händler wendet, keine Rolle. Aber nicht nur in ihrer Gestaltung des Innenraums spielten ästhetische Erwägungen keine Rolle; auch in der Bekleidung von Verkaufspersonal und Kundschaft sind Überlegungen der Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit offensichtlich wichtiger gewesen als Anstrengungen der Selbstästhetisierung. Während die Angestellten an den Verkaufsständen der Händler praktisch gekleidet waren und auch die meisten Käuferinnen den Großmarkt nicht als Milieu der Repräsentation angesehen haben, war das nur bei einem älteren Kunden anders (s. oben). Indes mag es gerade diese Ausnahme im Kontext einer im Übrigen vielfältigen, aber unauffälligen Bekleidungskultur gewesen sein, die auf die gleichsamen ubiquitäre Gegenwart des Ästhetischen (diesseits der Ästhetisierung) in allen Lebensbereichen aufmerksam gemacht hat. Darüber hinaus hat die mikrologisch-lokale Ebene einer Ästhetik der Bekleidung (weit diesseits der Mode) auf kleine und große Maßstabsebenen hingewiesen, auf denen es mehr oder weniger auf Modalitäten des Erscheinens ankam. Ästhetik – Aisthetik Es sind in besonderer Weise die Schnittblumen, die – nicht zuletzt in ihrer gesellschaftlichen Ubiquität – das Sinnliche in seiner Dualität zwischen Aisthetik und Ästhetik thematisieren. Nach Wolfgang Welsch impliziert das Sinnliche eine Erkenntnisbedeutung und eine Gefühlsbedeutung. 49 Dabei vermittle die Wahrnehmung die Erkenntnis und die Gefühle die Empfindung. Diese Dichotomisierung übersieht einen unmittelbaren Wirkungszusammenhang, wonach auch den Gefühlen erkenntnisvermittelnde wie aufmerksamkeitsleitende Funktionen zukommen. Umso mehr reklamieren sich in der Diskussion von Eindrücken des Ästhetischen auf dem Hintergrund der Mikrologie wenige theoretische Bemerkungen zur philosophischen

49

Vgl. Welsch, Das Ästhetische. Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, S. 26.

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Ästhetik. 50 Dabei soll es an dieser Stelle allein auf jene speziellen Aspekte ankommen, in deren Mitte die sinnliche Wahrnehmung und die gesellschaftliche Beziehung zum Schönen (s. unten) steht. Im 18. Jahrhundert hatte schon Baumgarten innerhalb der Ästhetik die Bedeutung der Sinnlichkeit der Wahrnehmung herausgestrichen und damit die Aisthetik als Lehre der sinnlichen Wahrnehmung von ihrer relationalen Bindung an philosophische Kategorien der Wahrheit entbunden. Alle Maßnahmen der Gestaltung menschlicher Umgebungen bewegen sich auf diesem Grat – von der Einrichtung der Wohnung einschließlich des Gebrauchs von Blumen und immergrünen Pflanzen bis zur postmodernen Glamourisierung der Innenstädte finanzstarker Metropolen. Sie beanspruchen die Wahrnehmung – darin sind sie aisthetisch – und sie spielen mit dem schönen Schein – darin sind sie ästhetisch. Beides hat auf den ersten Blick mit Werten des Guten und Wahren nichts zu tun. In diesem doppelten Fokus können auch Blumen als Medien der atmosphärischen Inszenierung aufgefasst werden. Auch die rein sachliche Gestaltung der Markthalle wirft Fragen zur Bedeutung von Praktiken und Techniken ästhetischen Erscheinen-Machens auf. Überall da, wo über die Herstellung sinnlicher Beziehungen zu Gegenständen und Räumen die Erfahrung des Schönen vermittelt werden soll, spricht Wolfgang Welsch von Ästhetisierung als Art der »verschönernden« Überformung gesellschaftlicher Bereiche. Und noch in jenen Räumen, in denen auf jede Ästhetisierung verzichtet wird (wie dies in der baulichen Gestaltung und Inneneinrichtung der Markthalle der Fall ist), stellt sich schon im Kontrast zu ästhetisierten Räumen und Dingen die Frage nach der Wahrnehmung scheinbar nicht gestalteter Räume bzw. nach den Gründen des Ästhetisierungsverzichts. Die Gestaltung der Dinge und Räume ist nur vordergründig allein Sache einer Oberflächenästhetisierung, etwa durch den Gebrauch von Blumen oder den Einsatz architektonischer Mittel der Raumgestaltung. Jede Oberflächenästhetisierung zielt in ihrer Umsetzung letztlich auf tiefenästhetisierende Wirkungen, das heißt auf den Umbau der Wirklichkeit wie der Beziehungen der Menschen

Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S. 59. Die Ästhetik widmet sich als eine Teildisziplin der Philosophie der »Herstellung und Erfahrung des Schönen in Kunst und Natur« und ist systematisch in umfassenden Werken abgehandelt worden; vgl. zum Beispiel Volkelt, System der Ästhetik, Erster Band sowie Lipps, Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst.

50

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zu ihr. Das ist im Gebrauch von Blumen evident, sollen sie ja nicht ihrer selbst wegen »schön« erscheinen und auch nicht allein der atmosphärischen Aufwertung eines Raumes dienen, sondern über ihre Situierung die Beziehung zu dem verändern, in dessen Kontext sie wahrnehmbar werden. Deshalb sieht Welsch die Tiefenästhetisierung auch als ein gesellschaftspolitisch relevantes Prozessfeld: »Tiefer als jene vordergründige, materielle Ästhetisierung reicht diese immaterielle Ästhetisierung. Sie betrifft nicht bloß einzelne Bestände der Wirklichkeit, sondern die Seinsweise der Wirklichkeit und unsere Auffassung von ihr im ganzen.« 51

Auf diesem Hintergrund lassen sich Blumen als höchst einfache und banale, zugleich aber auch hintergründig dissuasive Medien der Ästhetisierung verstehen. Dass sie sich in geradezu idealer Weise zur Oberflächenästhetisierung und als gestische Mittel der Emotionalisierung anbieten, versteht sich von selbst. Doch wäre es unzureichend, sie der Banalität dieses Gebrauchs halber allein auf ihr offensichtliches Wirkungsniveau beschränkt zu sehen, vermitteln sie doch in ihrem intendierten Effekt a priori eine in bestimmter Weise programmierte Tiefenästhetisierung. In Paarbeziehungen werden Schnittblumen zum Beispiel als niederschwellig funktionierende Medien der Affizierung eingesetzt (in sich anbahnenden Beziehungen mehr als in »kalten«). Im Prinzip funktioniert die Ästhetik architektonischer Fassaden ganz ähnlich. Nur scheinbar dienen diese allein der Produktion des schönen Scheins. Ihr Programm geht deshalb auch in keiner Logik der Äußerlichkeit auf. Während die ästhetischen Ausdrucksgestalten am einfachen Haus (wie dem Eigenheim) hauptsächlich ökonomische Potenz und kulturelles Prestige verkörpern sollen, folgt die Investition monetärer Mittel in die Gestaltung signifikanter Architektur im öffentlichen Raum in aller Regel der Symbolsprache politisch-ideologischer Programme. Auf einem Tiefenniveau zielen diese ästhetischen Investitionen auf die Herstellung oder Veränderung von Beziehungen ab, die Menschen zu dem haben sollen, was ein Gebäude repräsentiert. Beide Aspekte, das Ästhetische wie das Aisthetische, spielen in der Mikrologie eine zentrale Rolle. Ohne Reflexion dieses Wechselwirkungsverhältnisses verschließt sich der Handel mit Blumen jedem tiefer gehenden Verständnis. 51

Welsch, Das Ästhetische. Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, S. 20.

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Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

Der Schein des Schönen Blumen, insbesondere exotische Schnittblumen, bieten sich als emotionalisierende Medien der Kommunikation an, als gestische Mittel der Affizierung. Ihre gesellschaftlich definierte Schönheit kontrastiert sich am Beispiel der Mikrologie – ohne jedes soziale Programm – in einer ästhetischen Polarität zum nüchtern-funktionalen Raum der Markthalle. Ästhetische Spannungen bauen sich aber auch auf dem großen Maßstab einzelner Verkaufsstände auf, wenn neben den Packtischen die Abfälle liegen, die in der Abwicklung der Verkäufe anfallen. Auch die bereitliegenden, allein zweckmäßigen Pappkartons und Verpackungsmittel konterkarieren den schönen Schein der Blütenpracht. Im Milieu der Markthalle spielen Standards einer lebensweltlichen »Hygiene« des Ästhetischen keine Rolle, selbst wenn die Objekte, um die sich die gesamte Ökonomie dieses Marktes dreht, auch geradezu hermetisch dieser Logik unterliegen. Was gegenüber den massenmedial eingestellten Bilderwartungen des »Schönen« widerständig bleibt, klammert die Sonderwelt des Warenumschlages in einem beinahe phänomenologisch zu verstehenden Sinne ein. So ist es auch nicht das »Hässliche«, sondern das Unvermeidliche, das in den Schattenzonen dieses speziellen Markt-Milieus überall gegenwärtig ist. Das (subjektive) Geschmacksempfinden professioneller Händler folgt in der Situation eines Großmarktes anderen Maßstäben als in den klein- wie großbürgerlichen Welten eines bezahlbar gemachten »Schöner Wohnens« oder aufwendig arrangierten Ambientes der Repräsentation. Was sich in der Blumengroßmarkthalle gängigen Vorstellungen des Schönen entzieht, geht in einer anästhetischen Grauzone der Geschmacksempfindungen auf. Darin gibt es weder Genuss noch Missvergnügen. Von Händlern wird die Pracht von Blumen aus sachlicher Distanz rezipiert – nach Wareneigenschaften, in denen sich ästhetische Objekte in Dinge verwandeln, die rational erkannt und nüchtern bewertet werden. Dabei ist stets vorausgesetzt, dass der gesamte Blumenhandel auf kulturell zirkulierenden und standardisierten Schönheitsvorstellungen und -empfindungen basiert, mit denen gesellschaftlich gestimmte Bedeutungen und Symbole verbunden sind. Was in einem lebensweltlichen Sinne als »schön« gilt, ist von der Bedeutung des Schönen in der Philosophie zu unterscheiden. Wenn das Schöne in der philosophischen Ästhetik auch mit moralischen Werten des Guten und Wahren in einer direkten Beziehung steht, so stellt sich diese 260 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

in einem Blumengroßhandel, in dem das ästhetische Objekt nur eine Ware ist, ganz anders dar. Nach der Kant’schen Ästhetik folgen wir in der Beurteilung des Schönen nicht dem Verstand, sondern dem Gefühl. 52 Dadurch wird die Zuerkennung der Schönheit zu einer Sache des subjektiven Geschmacksurteils: »Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund n i c h t a n d e r s a l s s u b j e k t i v sein kann.« 53

Im subjektiven Geschmacksempfinden spielen moralische Kategorien der Bewertung eines sinnlich erlebten Gegenstandes keine Rolle; Schönheit ist (wie Hässlichkeit) gegenüber dem moralischen Veto imprägniert, wonach eine noch so anmutig erscheinende Blume nicht schön sein könnte, wenn sie unter arbeitsethisch und ökologisch illegitimen Bedingungen produziert worden wäre. Joseph Jungmann sprach dieses Schönheitsempfinden deshalb als ein vulgäres an: »Wenn die Schönheit im philosophischen Sinne genommen wird, so muß man freilich auch das Unsittlichste immer für häßlich und schön zugleich erklären […]. Ist dagegen von Schönheit im vulgären Sinne die Rede, dann ist Schönheit ohne Sittlichkeit nur in jenen Dingen denkbar, welche der ethischen Ordnung überhaupt nicht angehören.« 54

Blumen, die nicht als politische Gegenstände betrachtet werden und ebenso wenig als solche der Kunst, stehen dem einfachen Schönheitsempfinden im »vulgären Sinn des Wortes« 55 nahe. In der Frage der Ästhetik der Blumen spielt die Verbindung des Schönen mit dem Guten so lange eine sekundäre Rolle, wie die Schnittblume als Vegetation (aus dem Kosmos der Natur kommend) und als etwas von sich aus Entstehendes angesehen wird, und deshalb gar nicht erst als Kandidat der Bewertung nach moralischen Kategorien in den Blick gerät. Bei Blumen hat man es nicht mit Dingen zu tun, die – wie Gebrauchsgegenstände – von Menschen hergestellt worden sind. Kant spricht deshalb von »freien Schönheiten«, die mit dem Begriff des »Naturschönen« einen speziellen Gegenstandsbereich des ästhetischen Geschmacksurteils bilden. Sie setzen »keinen Begriff von dem voraus, 52 53 54 55

Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 67. Ebd., S. 68. Jungmann, Aesthetik, S. 178. Ebd., S. 175.

261 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

was der Gegenstand sein soll« 56; sie sind »für sich bestehende Schönheiten« 57. Über die Ästhetik der Blumen sagt Kant explizit: »Blumen sind freie Naturschönheiten. Was eine Blume für ein Ding sein soll, weiß, außer dem Botaniker, schwerlich sonst jemand; und selbst dieser, der daran das Befruchtungsorgan der Pflanze erkennt, nimmt, wenn er darüber durch Geschmack urteilt, auf diesen Naturzweck keine Rücksicht.« 58

Diese Auffassung ist vor allem darin modern, dass sie von religiösen Mythen absieht, die lange mit dem Naturschönen verbunden wurden, wie es als Zeugnis der Schöpferkraft Gottes gedeutet wurde. 59 Was an der Regelmäßigkeit und ästhetischen Ordnung einer Blume als schön empfunden wird, ist aber nicht allein dem freien persönlichen Geschmacksempfinden geschuldet. Bilder der Schönheit sind in beträchtlichem (oft maßgeblichem) Umfange durch ästhetische Werte formatiert, die ökonomische Akteure im Namen ihrer Interessen einer Sache erst zudichten, um ihren Preis in die Höhe zu treiben. Dass die ekstatische Präsenz mancher Schnittblumen insofern umkämpft ist, als sich mit ihrem (verknappenden) Handel hohe Preise erzielen lassen, versteht sich von selbst. Solche Zuschreibungen von Identität können im Rahmen suggestiv-dissuasiver Strategien relativ leicht gelingen, weil das (vulgäre) Urteil subjektiven Charakter hat. Mit anderen Worten: Was als schön gilt oder als hässlich, ist zu beträchtlichen Teilen Produkt einer interessegeleiteten und professionell wirkungsvoll arrangierten Zuschreibung von Identität. Seit Jahrhunderten ist der (in unserer Zeit globale) SchnittblumenHandel in diesem Sinne auch ein Geschäft des Tausches von ästhetischen Versprechen gegen (darauf bezogene) eingestellte Erwartungen (s. auch Kapitel 1.3). Zum Ästhetischen gehört – als dessen Kehrseite – das Anästhetische. Es ist das der Wahrnehmung Entzogene, das vom Schein des Schönen überstrahlt wird. Dieses Verhältnis betrifft auch das Sichtbare, das in einer Spannung zum Unsichtbaren steht. Im globalen Blumenhandel ist der schöne Schein der Blüte von einer schweren Schleppe ökologischer und (arbeits-)ethischer Probleme überschattet. Davon sei hier abgesehen. In der Mikrologie wird dagegen ein sinn-

56 57 58 59

Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 109. Ebd. Ebd. Vgl. Tonelli, »Naturschönheit/Kunstschönheit«, Sp. 624.

262 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Das nächtlich-frühmorgendliche Treiben auf einem Blumengroßmarkt

lich ganz unmittelbarer Kurzschluss zwischen Ästhetik und Anästhetik vermerkt. Dieser findet auf der Haut jener Arbeiterinnen statt, die andauernd mit Blumenstängeln hantieren müssen und so immer wieder mit dem physischen Stoff der Blumen und damit möglicherweise toxischen oder auch nur hautreizenden Spurenelementen in Kontakt geraten. Zur Vermeidung möglicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch den Hautkontakt mit den Pflanzen tragen viele von ihnen Gummihandschuhe. Der sich in dieser Form der Handhabung ausdrückende Widerspruch zwischen einem Gegenstand ästhetischer Begierde und dessen unsichtbarer Kehrseite bleibt auf die Welt des Großhandels beschränkt. Das alltagsweltlich verbreitete Schönheitsideal von Rosen, Orchideen und anderen exotischen Zuchtprodukten wird vom Wissen um zumindest potentiell toxische Stoffe nicht verzerrt. Schließlich scheint auf dem Blumengroßmarkt eine technische Seite des Ästhetischen vor. Sie aktualisiert sich sinnlich schon auf dem höchst banalen Niveau eines digitalen Displays, auf dem die gerade geltenden Preise etlicher Blumenangebote angezeigt werden. Dass der globale Blumenhandel von Computertechnologien nicht zu trennen ist, wird sich mit Nachdruck am Beispiel einer niederländischen Blumenauktion illustrieren (s. Kapitel 3.2). Mindestens zwei Händler haben aber auch in der Markthalle über ihre Computer an solchen digitalen Auktionen teilgenommen, womit sich räumlich weit entfernte Arenen innerhalb einer globalen Ökonomie überlagert haben. Die digitale Sphäre der Computer-Technologien ist schon lange in die Alltagskultur eingesickert und hat sich lebensweltlich bereits als etwas (neues) Infra-Gewöhnliches der Denkwürdigkeit entzogen. Wenn Franz Thalmair mit Nicholas Negroponte fragt, »ob das Digitale mit der Banalität von Plastik vergleichbar« ist, 60 so berührt er damit den Sachverhalt der ubiquitären Präsenz computierender Maschinismen im täglichen Leben. Gleichwohl scheint in der Präsenz des Hypertechnischen auf einem Blumenmarkt eine tendenziell idiosynkratische Spannung zwischen Technik und Natur zumindest vor – und bietet sich optional dem Bedenken an.

60

Thalmair, Postdigital 1, S. 39.

263 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

3.1.6 Methodische Nachbemerkungen Zwei die einführenden methodologischen Begründungen in Band 1 (s. Kapitel 3) ergänzenden und konkretisierenden Bemerkungen reklamieren sich an dieser Stelle. Die erste betrifft die auch dieser dichten Beschreibung zugrunde liegende Methode der nicht-teilnehmenden Beobachtung. Das Beispiel macht mit den Hinweisen auf spontane Gespräche mit Blumenhändlern deutlich, dass es bei lange andauernden Beobachtungen zwangsläufig zu »Feldberührungen« kommt, die imaginäre Grenzen zwischen Forscher und dem sozialen Milieu einer Beobachtung aufheben. Dies betrifft vor allem die Händler und ihre Verkäufer, die schon in beiläufiger Aufmerksamkeit Tätigkeiten zur Kenntnis nehmen, die aus den üblichen Verhaltensmustern eines Marktes ausscheren. Allein der häufige Griff zum Notizbuch gibt den Angestellten, die tagtäglich in der Markthalle arbeiten, eine für ihre Gewohnheiten auffällige Verhaltensabweichung zu verstehen. So wurden von Händlern oder deren Angestellten mehrfach Gespräche initiiert, die durch das Interesse an einem ihnen ungewöhnlich erscheinenden Verhalten motiviert waren. Die zweite Nachbemerkung betrifft die in der sozialwissenschaftlichen Literatur über qualitative Forschungsmethoden ubiquitäre Kritik an der projektionistischen Überschreibung von Beobachtungen durch Vorwissen und Erwartungen. Auch dieses Beispiel illustriert eindrucksvoll, in welcher Weise das Verstehen des Marktgeschehens von spezifischem Hintergrundwissen abhängig war. Der zu jedem Verstehen gehörende Rückgriff auf verfügbares Wissen rechtfertigt indes nicht den Einwand, die Einsichten im Feld seien bloßes Produkt einer Projektion. Nichts, das sich zeigt, kann ohne Wissen verstanden werden. Wissen, das im aktuellen forschungsimmanenten Prozess des Verstehens im Feld gleichsam von selbst »anspringt«, muss nicht geradezu zwanghaft einem sich nicht von selbst zu verstehen gebenden Eindruck übergestülpt werden, sodass dann mit einer gewissen Berechtigung von einer Übertragung gesprochen werden könnte. Wissen kann auch – wie in diesem Fall – Produkt einer aktuellen Auseinandersetzung mit den Sachverhalten, Programmen und Problemen einer Situation (hier der eines Blumengroßmarktes) sein; von nicht minderer Bedeutung sind zufällig erworbene, aber vorhandene und damit assoziativ erinnerbare Kenntnisse, die sich im tieferen Verstehen situationsimmanenter Ereignisse als relevant erweisen. Wis264 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Ein High-Tech-Blumenmarkt

sen ist schließlich stets von der Biographie des Forschenden abhängig und kann nie nur auf das bezogen werden, was sich aus dem Verstehen einer sinnlich unmittelbar gegenwärtig werdenden Szene reklamiert. In der Mikrologie zum Blumengroßmarkt konnten vor allem die beiden mit ihren Computern an Blumen-Online-Auktionen teilnehmenden Händler in ihrem Tun nur auf dem Hintergrund eines Vorwissens um die computertechnischen Prozeduren des OnlineHandels verstanden werden. In diesem konkreten Fall ist der Weg des Wissens nachvollziehbar, weil es sich den Erfahrungen aus der Teilnahme an einer niederländischen High-Tech-Blumenauktion verdankte (s. auch Kapitel 3.2). Auch in anderen Niederschriften dichter Beschreibungen wird sich immer wieder diese Wechselwirkung von Wahrnehmen-und-verstehen-Können und in der Situation einer Wahrnehmung wachwerdendem Deutungswissen zeigen. Inwieweit es sich dabei um rein theoretische Wissensstrukturen handeln kann, wird sich am Beispiel der Mikrologien zum Weihnachtsmarkt konkretisieren. Kein forschungsrelevantes Verstehen kann sich epistemisch allein auf das beziehen, was sich sinnlich aus einer Situation abschöpfen lässt.

3.2 Ein High-Tech-Blumenmarkt Der wohl modernste Handel mit Blumen findet in den Niederlanden in der Form von Versteigerungen statt, die sich in ihrem hochtechnischen Charakter von den in den Kapiteln 4.3 und 4.4 beschriebenen Fischauktionen unterscheiden. Das gesamte Arrangement des Handels basiert auf einem gleichsam hermetischen Netz digitaler Kommunikationsstrukturen. Die von montags bis freitags täglich stattfindenden Auktionen werden von der Royal FloraHolland betrieben (s. auch Kapitel 1.3), der weltweit größten Vermarktungsorganisation für Blumen und Pflanzen. »Royal FloraHolland ist eine genossenschaftliche Organisation von und für 5.000 Zierpflanzenzüchter.« 61 Das Unternehmen arbeitet mit den landesweit bedeutsamen großen Pflanzenzuchtbetrieben in den niederländischen Gartenbauregionen zusammen, den sogenannten »Greenports«. Es »besitzt einige Marktplätze mit einem Uhrenverkaufssystem und einem starken logistiRoyal FloraHolland: Internetinformationen (Marktplätze); https://www.royalflora holland.com/de/ (31. 08. 2016).

61

265 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 3.12: Lagerhalle hinter dem Auktionssaal der Royal Flora in Eelde

schen Netzwerk. In Aalsmeer, Naaldwijk und Rijnsburg liegt der Schwerpunkt vor allem auf exportierenden Kunden.« 62 Am Standort Aalsmeer (bei Amsterdam), dem weltgrößten Handelszentrum für Blumen und Pflanzen, werden 60 % des globalen Blumenhandels abgewickelt. Der Jahresumsatz von Royal FloraHolland liegt bei 4,6 Milliarden Euro; es werden 3.000 Mitarbeiter beschäftigt. 63 Die Vorarbeiten für die frühmorgendlichen Versteigerungen beginnen in der Nacht mit der LKW-Anlieferung der Auktionsware vom Airport Schiphol (Amsterdam) und ihrer Einlagerung in die gekühlten Lagerhallen, die sich direkt hinter dem Auktionssaal befinden (s. Abb. 3.12). Der Groninger Flughafen, der nur wenige KiloRoyal FloraHolland: Internetinformationen (Marktplätze); https://www.royalflora holland.com/de/ (31. 08. 2016). 63 Pro Jahr werden 12,6 Milliarden Stück Blumen und Pflanzen an rund 2.400 Kunden verkauft, die meisten über 36 Versteigerungsuhren. Der sich aus dem Blumenund Pflanzenhandel ergebende Beschäftigungseffekt liegt bei rund 250.000 Ganztagsarbeitsplätzen; ebd. 62

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meter von der Auktionshalle in Eelde entfernt ist, hat keine Bedeutung für den Güterlogistik. Der Handel beginnt um 06:30 h; es nehmen Einzel-und Großhändler aus den niederländischen Provinzen Groningen, Drenthe und Friesland teil sowie Kunden aus dem Nordwesten Deutschlands; Exporteure fahren nach Aalsmeer in der Nähe des internationalen Airports Schiphol. Die Vorbereitung der ersteigerten Blumen und Pflanzen zum Abtransport beginnt parallel zum Auktionsbetrieb; eine Stunde nach dessen Ende haben die Waren die Lagerhallen verlassen. Viele der Einkäufer nehmen sie am Ende der Auktion selbst mit einem eigenen Fahrzeug mit. Eine Mitarbeiterin der Royal FloraHolland führt mich zunächst an den gekühlten Lagerhallen vorbei, in denen die Schnittblumen sowie Pflanzen (Topfblumen, Deko-Kürbisse, Palmenwedel etc.) bis zur Auktion in Containern gelagert werden (s. Abb. 3.12). 64 Mehrere hintereinander liegende Hallen sind jeweils rund 80 � 80 Meter groß. In der Decke befinden sich zwar der Länge nach im Winkel von 45 Grad schräggestellte Fenster für den Einfall von Tageslicht; diese natürliche Belichtung ist als Arbeitslicht aber unzureichend, sodass zusätzlich Neonleuchten in der Decke eingeschaltet sind. Große Aggregate kühlen den riesigen Raum spürbar. Die Hallen haben einen spiegelglatten Betonboden; die Fahrstraßen sind über Durchfahrten und Rolltore, die gerade so breit sind, dass die Wagen und Zugmaschinen hindurchpassen, mit dem Auktionssaal verbunden (s. Abb. 3.13). Die Versteigerung findet in einem ca. 50 � 50 Meter großen, sehr hohen und klimatisierten Saal ohne natürliche Belichtung statt. Das Licht ist hell; es wirkt technisch und aseptisch. Es gibt drei Versteigerungs-Bildschirme, sogenannte Auktions-»Uhren« (zu Begriff und Funktion einer »Uhr« vgl. auch weiter unten und Kapitel 1.3). Neben jeder Uhr befindet sich eine Durchfahrt, durch die elektrische, automatisch fahrende Zugmaschinen mit mehreren Anhängern kommen, auf denen die Blumen-Container meistens in drei Etagen übereinander stehen. Die Steuerung der Fahrzeuge erfolgt über Magnetfelder, die im glatten Betonboden verborgen sind. Wenn sich die roten Fahrzeuge fortbewegen, blinken vorne auf der Motorhaube Lichter auf. Eine Mitarbeiterin der Royal FloraHolland stellt die gerade in Tag und Zeit der Protokollierung: 05. 09. 2016 | 07:00–08:35 h; ich danke Frau Jeanne de Vries von der Royal FloraHolland (Standort Eelde) für die freundliche Unterstützung.

64

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Abb. 3.13: Die automatischen Züge fahren in den Auktionssaal

der Auktion befindlichen Waren in ihrem Container so weit aus dem Wagon heraus, dass die Einkäufer einen (meist fernen) Blick darauf werfen können. Unten links kann man auf den Uhren zusätzlich eine fotografische Anzeige der zur Auktion aufgerufenen Ware sehen. Die Züge werden von virtueller Hand schon nach einigen Momenten weitergefahren, sobald die Chargen verkauft sind. In ein oder zwei Minuten sind ganze Wagenladungen, mitunter die Container eines ganzen Zuges versteigert. Dieser fährt dann durch ein anderes Rolltor wieder in die gekühlte Halle zurück, wo die Vorbereitung für den Abtransport oder die direkte Mitnahme durch die Händler erfolgt (s. Abb. 3.14). Auf den Rängen sitzen die Einkäufer in 10 wie in einem Hörsaal übereinander angeordneten Reihen (s. Abb. 3.15). Es gibt 280 Plätze, anwesend scheinen aktuell rund 100 Käufer zu sein. Die hochschießenden Reihen sind nicht für das Gespräch untereinander gemacht, sondern für die bestmögliche Bündelung der Aufmerksamkeit und Ausrichtung der Anwesenden auf die auf den drei Uhren dahinren268 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 3.14: Fahrt der Züge zurück in die Kühlhalle

Abb. 3.15: Plätze in den Rängen des Auktionssaals (in der Pause)

nende Informationsflut. Alle Auktionsteilnehmer tragen ein Headset. Unter den Bietern sind nur wenige Frauen. In den Reihen herrscht weitgehend Ruhe; nur das Herumfahren und Klappern der Züge sowie die Kulisse disperser, in der Weite des Saales sich (wie abgehackt) verlierender Gesprächsfetzen erzeugen ein gewisses Grundgeräusch. Die beredte Ruhe steigert die hypertechnische Atmosphäre ins Artifizielle. Auf der Oberfläche der Pulte befindet sich je ein Display mit digitalen Kontaktknöpfen für die Eingabe versteigerungsrelevanter Informationen. In der Frontplatte eines jeden Pultes ist ein silberner 269 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Metallknopf, über den ein Gebot abgegeben wird. Damit ein Bieter vom Auktionator »erkannt« wird, muss er sich mit einer Chipkarte (der sogenannten »Buyercard«) identifizieren. An jeder Seite des Saales sitzt ein Auktionator in einem halbhoch mit Glas verkleideten Balkon. Er nimmt die Gebote entgegen und fragt über die Headsets die gewünschten Mengen ab. Gleichsam fortwährend – aus der Perspektive des Rangplätze aber scheinbar lautlos – sprechen die Auktionatoren in ihren verglasten Balkonen über ihre datentechnischen Verbindungen mit den Bietern. An dieser »Sprachlosigkeit« wird sichtbar, dass in der ganzen Halle nicht gesprochen wird; von der Organisation aller Abläufe her gibt es hier einfach keinen Grund zu sprechen – außer auf dem genannten Wege. Die Auktionatoren geben auch die Weiterfahrt der »Blumenzüge« frei, sobald die dem Plenum zugewandten Waren einer Wagenreihe versteigert sind. Die Uhren sind keine »Uhren« im eigentlichen Sinne, sondern ca. 2,5 � 2,5 Meter große Displays, auf denen alle wichtigen Informationen zu den zur Versteigerung stehenden und auf den Wagen präsentierten Blumen angezeigt werden (s. Abb. 3.16). Darauf bewegt sich ein Leuchtpunkt um einen großen Kreis herum, der – zwischen 0 und 100 – von jedem Bieter durch Drücken des Knopfes angehalten werden kann. Das Prozedere geht so schnell, dass die Möglichkeit des Zuschlags nur für einen Moment besteht. Fixiert wird dann – für den Bruchteil einer Sekunde – der aktuelle Auktionspreis für eine Charge. Die Nummer des Bieters, der eine bestimmte Menge ersteigert hat, leuchtet in der Mitte der Uhr auf. Sofort kommt die Rotation des Preis-Punktes wieder in Gang – aber nur so lange, bis die Waren eines Wagens bzw. eines ganzen Zuges versteigert sind. Alle paar Minuten kommt ein Service-Mitarbeiter mit einem Tablett und bietet den Einkäufern Pappbecher mit Kaffee an. Manchmal verkauft er auch Sandwiches; er ist immer irgendwo im riesigen Saal unterwegs (s. Abb. 3.17). Dadurch entsteht ein verfremdender Eindruck, der die Situation einer aktuell fernen Sinnlichkeit vergegenwärtigt – zum einen, weil der Mann inmitten dieser digitalen Welt einen sinnlichen Stoff verkauft, zum anderen aber auch, weil er der Einzige ist, der in diesem kommerziell-technischen Kosmos kein Headset trägt. Er ist nicht in die digitalen Kreisläufe des Auktionssystems einbezogen. Die große Nachfrage nach seinen Angeboten zeigt aber, wie unverzichtbar er zu sein scheint. Aber er steht in seiner Funktion gänzlich außerhalb des gesamten Prozederes. So kontras270 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 3.16: Zwei »Uhren«

Abb. 3.17: Während der Auktion; Servicemitarbeiter und Kanzel eines Auktionators im Hintergrund

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tiert sich im Medium eines banalen Genussmittels eine Welt des Hypertechnischen. Die vorherrschende Form einer »residualen Sinnlichkeit« konstituiert sich in diesem Raum beinahe ausschließlich an virtuellen Schnittstellen von Bildschirmen, Medien der computergestützten Kommunikation zwischen Bietern und Auktionatoren, Auktionatoren, den Mitarbeiterinnen an den Zügen und nicht zuletzt den selbstfahrenden, computergesteuerten Zügen. Unterbrochen wird die High-Tech-Atmosphäre auch dadurch, dass hin und wieder (eher ausnahmsweise) jemand etwas in den Saal ruft – als müssten sich die Anspannungen und Zumutungen einer permanenten elektronischen Kommunikation auf archaische Weise entladen. Öfter als man Sprachfetzen zu hören bekommt, sind Pfiffe zu vernehmen. Immer wieder pfeift jemand – nur ganz kurz, mal hinten, mal vorne, links oder in der Mitte. Es ist gerade das sporadische, aber grundsätzlich doch bald schon vorhersehbare Pfeifen, das den angespannten Charakter der Atmosphäre zugleich betont wie aufhebt. Es gehört schon Selbstbewusstsein dazu, in die Menge der angestrengt und aufmerksam dasitzenden Käufer einfach hineinzupfeifen. – Oder geschieht das gar nicht bewusst? Die ganze räumliche, dingliche und situative Umgebung der Auktion ist eigentlich ein riesiger, auf merkwürdige Weise begehbarer Computer, der eine Reihe von Schnittstellen für die Vernetzung körperlich wie leiblich im tatsächlichen Raum der Auktionshalle gegenwärtiger Personen aufweist (s. Abb. 3.18). Die zentrale Präsenz der drei Uhren lässt keinen Zweifel an der alles bestimmenden Rationalität einer »Sprache« der Informatik aufkommen. Der Auktionssaal ist ein Maschinenraum ganz eigener Art – sauber und leise, effizient und schnell. Wenn es die sporadischen Zwischenrufe und die immer wieder hörbar werdenden Pfiffe nicht gäbe, müsste man an der ganz selbstverständlichen Gewissheit zweifeln, dass hier tatsächliche Menschen leiblich anwesend sind und nicht lebende Maschinen in menschlicher Gestalt. Man kommt in dieser ultratechnischen Umgebung gar nicht auf die Idee, sich der Ästhetik der angebotenen Blumen, Pflanzen, Kürbisse und Blattwedel zuzuwenden. Es geht in der Situation der Auktion auch in gewisser Weise nur indirekt um etwas Ästhetisches, vielmehr um etwas Verkäufliches, Waren, die zu einem möglichst guten Preis ersteigert werden müssen. Allein darauf ist die ganze Aufmerksamkeit der (potentiellen) Käufer gerichtet. Dass diese Waren vor dem Endkunden letztlich nur durch ihren ästhetischen Wert als Blu272 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 3.18: High-Tech-Ausstattung der Pulte vor den Klappsitzen

men überzeugen können, wissen die Einkäufer selbstverständlich – wenngleich dieses Wissen in der aktuellen Situation für sie völlig irrelevant ist. Im hitzigen Handel spielen ästhetische Empfindungen keine Rolle. Nur äußerst selten weht ein Geruch von Blumen vorbei, obwohl sie doch zu Tausenden in Container verstaut vor der Tribüne vorbeigefahren werden. Immer neue fahrerlose Züge kommen durch die Tore, bewegen sich in einem kurzen Bogen unter der Uhr vorbei und verschwinden wieder in einem Ausfahrtstor auf der anderen Seite des großformatigen Displays. Die genaue Zahl der Blumen und Pflanzen, die in den Zügen durch den Saal gefahren werden, bleibt im Dunkeln, sie lässt sich nur erahnen – es entsteht allein der letztlich diffus bleibende Eindruck einer immensen »Menge« von wohl Zigtausenden. Sie kommen so flink aus den großen Hallen hinter dem Auktionssaal, wie sie auch darin wieder verschwinden (s. Abb. 3.19). Alles geht beinahe lautlos, vor allem aber schnell. Hörbar ist stets ein Klappern, das von den Metallteilen der Zuganhänger ausgeht. Ein männlicher Kunde in meiner Nähe ist ein überdurchschnittlich aktiver Bieter. In einer unübersehbaren Nervosität drückt er (laut hörbar) immerzu auf den Bieter-Knopf – als säße er vor einem Spiel273 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 3.19: Durchfahrt der Züge (hier mit Deko-Kürbissen)

automaten und wäre vom Fieber einer fragilen Gewinn-Hoffnung getrieben; dabei ist er so unruhig, dass er nicht nur den Daumen am Knopf hektisch bewegt; die nervöse Dynamik hat sich auf seinen ganzen Körper übertragen. Manchmal ruft er sogar etwas in den Saal – kurz, abgehackt, aber nicht in der Erwartung, damit einen Dialog (mit wem auch immer) in Gang setzen zu können. Es hat den Anschein, als müsste er auf diese Weise eine sich immer wieder aufbauende Anspannung entladen. Während der Auktion herrscht eine latent geladene atmosphärische Spannung; dabei ist es beinahe unmöglich zu präzisieren, woran diese wahrnehmbar wird. Zwar rückt mitunter jemand offensichtlich nervös hin und her, sagt hektisch etwas vor sich hin oder drückt gestresst und irgendwie »getrieben« auf den Bieter-Knopf; aber eigentlich »zeigen« nicht diese einzelnen »Indikatoren«, dass die Gegenwart der Käufer mit einer in gewisser Weise elektrisierten Anspannung einhergeht; mehr ist es die Art dieser Anwesenheit selber, die eine latente Unruhe zu spüren gibt, ohne dass sich sagen ließe, was da im Einzelnen zu spüren ist. Indes ist an der Mimik mancher Käufer, die beinahe unentwegt Gebote über den Knopf abgeben, der Grad ihrer Anspannung zu erkennen, der das Mitmachen bei diesem Geschäft bedeutet. Auch darin wird ein Grund für die relative Ruhe, aber eben 274 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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auch für eine latente (mehr atmosphärisch als lautlich vernehmbare) Unruhe liegen. Alles geht sehr schnell; die individuelle Anspannung spiegelt das hohe Tempo nur wider, das das Dabei-Sein und Mitmachen verlangt. Für den Nicht-Eingeweihten bleibt das »Spektakel« der Versteigerung ziemlich unverständlich. Man weiß nur eines: Wer nicht blitzschnell mit dem Knopf auf den rotierenden Punkt der Auktions-Uhr reagiert, geht leer aus. Es ist 07:40 h und die Auktionatoren sagen eine kurze Pause von 15 Minuten an. Die meisten Einkäufer verlassen den Saal. Ich frage eine Kundin, die sitzen geblieben ist, nach dem Sinn des immer wieder hörbaren Pfeifens einiger Bieter. Meine Vermutung, es könnte eine symbolische Handlung innerhalb der Logik der Auktion sein, erweist sich als gegenstandslos. Wer pfeift, tut es ohne jeden auktionstechnischen Sinn und will auch niemandem etwas mitteilen. Wahrscheinlich entlädt sich auf diese Weise nur emotionaler Druck; die Auktion fordert Aufmerksamkeit und Anspannung, die pfeifend in gewisser Weise entladen werden könnte. Die an der Art des »bewegten« Dasitzens vieler Käufer sichtbar werdende leibliche Dynamik verstehe ich als einen deutlichen Hinweis darauf, dass diese Form des Auktionshandels nicht nur eine mental zugespitzte Präsenz von allen Bietern verlangt, sondern auch an den Nerven zehrt. Am Ende der Pause lässt einer der Auktionatoren zum Zeichen der Fortsetzung der Versteigerung einen (digitalen) Gong ertönen – keine Glocke, oder etwas sonst Archaisches. Es folgt eine bekräftigende Ansage durch die Saal-Lautsprecher, die während der Auktion sonst nicht benötigt werden – eine auffallend rare stimmliche Äußerung. Die Teilnehmer kommen zurück, nehmen ihre Plätze wieder ein – und schon jetzt ist hier und da bereits wieder ein Pfeifen zu hören, als müsste ein Anspannungsdruck prophylaktisch abgebaut werden. Es herrscht wieder weitgehend Ruhe. Zwar scheinen sich viele zu kennen, aber sie sprechen während der Auktion nur gelegentlich und dann auch nur leise miteinander. Plötzlich fliegt ein Schmetterling durch den Saal – hoch über den Köpfen der Einkäufer und unter den Neonröhren. Er muss in einem der Blumen-Container gesessen haben. Das Herumflattern des Insekts wirkt auf mich geradezu wie eine Geste, die an die Naturhaftigkeit (trotz aller Züchtung) all dessen erinnert, worum es in diesem Geschäft geht. Der hypertechnische Handel ist auf krasseste Weise das Andere dessen, was sich in der vitalen Präsenz eines Schmetterlings zeigt. Dabei ist es nur eine Sekunde, in dem das Tier den Cha275 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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rakter dieses Kommerzes in so unverdünnter Form vorscheinen lässt und damit ins Bewusstsein treibt. – Die Händler scheinen das Tier gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es werden Deko-Kürbisse vorgefahren; eine afrikanisch-stämmige Mitarbeiterin nimmt einen aus dem Wagen, hebt ihn hoch und präsentiert ihn den Käufern. Für 0,24 € pro Stück wird eine Charge versteigert, die folgende dann für 0,25 €, eine weitere für 0,26 € usw. Der nächste Zug unter der zweiten Uhr kommt nicht automatisch in den Saal; er wird von einer Frau hereingefahren, die auf der Zugmaschine steht. Der Eindruck eines hermetischen Automatismus bekommt (für mich) einen wohltuenden Riss. Durch die hinteren »Ränge« steigt wieder der Service-Mann, um Pappbecher mit Kaffee sowie Sandwiches zu verkaufen. Der rund zehn Meter neben mir sitzende Dauer-Bieter spricht erneut etwas in seine nähere Umgebung hinein – offensichtlich leicht erregt. Außer ihm gibt es noch andere Bieter, wenn auch nur wenige, die in ihrem nervösen Verhalten auffällig sind. Die viel kaufen, nehmen sich offenbar mehr heraus als andere. Die Menge der Dasitzenden ist nicht »gleich«; eine soziale Rangordnung wird aber nicht erkennbar, nur punktuell erahnbar. – Hier und da hantiert jemand mit einem Taschenrechner, einem Laptop oder einem Smartphone. Scheinbar nicht endende Ketten von Wagen und Zügen mit Sonnenblumen werden hereingefahren. Die meisten werden für 0,23 € bis 0,27 € pro Stengel versteigert; der Preis schwankt mit dem »fliegenden« Preis-Punkt auf der Uhr. Gerade die schier endlos erscheinende Kette von Kübeln voller Sonnenblumen illustriert in szenischer Weise eindrucksvoll, dass dieser Saal eine ökonomische und hypertechnische Weiche zwischen Natur und Kultur ist. Auf dem nächsten Wagen werden Deko-Palmenfächer angeboten – und für 0,12 € pro Stück ersteigert. In meiner Nähe ist wieder das hektische und emotional nachhaltige Drücken eines Bieter-Knopfes zu hören – beinahe wie eine nahe lautliche und atmosphärische Dauerkulisse. Es ist 08:20 h und das Ende der Auktion wird auf einem Bildschirm mit 08:30 h angekündigt. Immer noch ist der Service-Mann mit dem Kaffee unterwegs und wieder pfeift irgendwo jemand. Die Versteigerungen an der ersten Uhr werden beendet (s. Abb. 3.20). Dort fährt kein Zug mehr in den Saal. An der zweiten Uhr werden lange Gräser in Töpfen hereingefahren. Dann kommt auch an der dritten Uhr der letzte Zug. Die ersten Händler packen ihre Sachen zusammen und verlassen ruhig den Saal. Einige bieten noch, andere 276 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 3.20: Ende der Auktion – die Händler verlassen den Saal

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stehen vor ihren Pulten. Dann wird auch der Handel an der letzten Uhr geschlossen. Die Auktion geht genauso leise zu Ende, wie der ganze Handel stattgefunden hat.

Die folgende Reflexion der dichten Beschreibung einer Blumenauktion soll auf vier Aspekte beschränkt werden, auf die sich das Wesen des großen technischen Arrangements dieser speziellen Art des Blumenhandels verdichten lässt.

3.2.1 Atmosphäre des Hypertechnischen Schon mit dem Betreten der Lagerhallen, die dem Auktionssaal unmittelbar vorgelagert sind, drängt sich ein artifizieller Eindruck auf, wenn dieser zunächst auch allein von einfachen technischen Strukturen ausgeht. Bereits die Art der Anordnung der Blumen in PlastikContainern lässt auf technische Ansprüche schließen. Offene Gitterwagen stehen in langen Reihen hintereinander; ihre bauliche Ausführung orientiert sich an den technischen Erfordernissen für den Transport mit automatisch fahrenden elektrischen Lokomotiven. Glatt betonierte und mit weißen Streifen auf dem Beton markierte Fahrstraßen sollen einen geordneten und sicheren Fahrbetrieb gewährleisten. Der Auktionssaal beeindruckt schlagartig durch einen hypertechnischen Charakter: Drei rote, über unsichtbare Magnetschienen fast lautlos und selbstfahrend dahinkriechende Zugmaschinen gelangen durch selbstöffnende Tore in den Saal. Solange die Züge fahren, blinkt auf der Motorhaube der Elektro-Loks ein rotes Signallicht. Die Zugmaschinen schleppen eine Kette von Anhängern hinter sich her, auf denen zahllose Blumen in Containern auf den Etagen der Gitterwagen abgestellt sind. Das helle Licht im Versteigerungsaal wirkt technisch und aseptisch. Jeweils ca. 2,5 � 2,5 Meter große »Uhren«-Displays hängen leicht nach vorne geneigt über den Zügen, die durch drei Tore herein- und drei andere am Ende eines kurzen Halbkreises wieder herausfahren. Zwei verglaste Kanzeln an jeder Seite des Saales erinnern an ein Raumschiff, dienen aber den Auktionatoren nur als »Horste«, die ihnen einen idealen Überblick über die Ränge bieten. Ein geradezu klinisch-aseptisches Bild zeigt sich in den steilen weißen Rängen, auf denen meist Männer mit Headsets an einem Pult sitzen und ihren Blick nach vorne richten (s. Abb. 3.17, 278 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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S. 271). Die technische Infrastruktur der Pulte entpuppt sich erst bei genauerem Hinsehen (aus der Perspektive der Einkäufer) als eine tendenziell immersive Technologie, die die Menschen vollends mit der Mega-Maschine des Versteigerungs-Dispositivs verbindet. Die Pulte bieten mit ihren einfachen Klappstühlen nicht nur Sitzplätze; vor allem sind sie Schnittstellen eines unsichtbaren Computersystems. An ihrer schmalen Frontplatte befindet sich ein Einschub für die jeden Handel autorisierende Chip-Karte und der silbern glänzende metallene Druckknopf für die Abgabe eines Versteigerungs-Gebots. Der Auktionssaal hat das Gesicht eines in seiner konkreten Gestalt diffus bleibenden Computers, der sich in der Form einer Architektur versteckt. Ein in seiner Komplexität hintergründig bleibendes Programm lässt Züge mit Blumen automatisch fahren und anhalten sowie »in der Sache« der Blumen hoch differenzierte Datenblätter so lange auf dem Display einer »Uhr« aufleuchten, bis ein Auktionspreis fixiert ist. Die an dieser geradezu theatralisch wirkenden Performanz teilhabenden Personen verschmelzen über technische Schnittstellen mit dem unsichtbaren Mega-Maschinismus. Diese Synthese ist im atmosphärischen Bild des Arrangements so eindringlich, dass die Frage nach dem Verlauf der Grenze zwischen Mensch und Maschine in ihrer lebensweltlichen Einfachheit obsolet wird. Dabei sieht das weithin lautlos vor sich gehende Prozedere wie ein Spiel aus, das Kinder mit Tastaturen und Bildschirmen auf stupide Weise mit einem zugleich unbegreiflichen Vergnügen spielen. Im Bild dieser technischen Inszenierung verschwimmt die in allen gesellschaftlichen Bereichen so wichtige Trennlinie zwischen Spiel und Ernst. Es mag ein Charakteristikum high-tech-basierter System-Schnittstellen mit unbestreitbarem und in aller Regel ökonomisch höchst folgenreichem Ernst-Charakter sein, dass sie mitunter – entgegen ihrer tatsächlichen Funktion – aussehen, als schiene in ihnen nur eine Welt des Spiels vor. Die gespannte, gleichsam knisternde Ruhe im Saal, die in einem absurden Kontrast zum Klappern der herein- und wieder herausfahrenden Blumenzüge steht, lässt jedoch erahnen, dass hier kein Spiel gespielt wird. Das Technisch-Artifizielle suggeriert sich für den außenstehenden Beobachter nicht zuletzt durch den Kontrast des gigantischen Maschinensystems mit einer atmosphärisch zumindest latent »anstehenden« Ästhetik von Blumen.

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Technische »Ge-stelle« Für den »Gast«, der in der emotional distanzierten Teilhabe dem Lauf der schnell dahinschießenden Auktionsdynamik eine in gewisser Weise gelassene Aufmerksamkeit entgegenbringen kann, weil ihn der ablaufende Handel nicht mit ökonomischer Konsequenz berührt, provoziert die Szenerie die Frage nach der Rolle der Technik im Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Dazu merkt Reinhard Knodt an: »Der technisch gestellte (d. h. der nicht mehr auf sich und seine Nächsten gestellte) Mensch weicht auf der Basis des technischen ›Ge-stells‹ nicht in sublimem Bereiche bereicherten Lebens aus. Vielmehr ersetzt er zunehmend ästhetische Korrespondenz und damit lebbare Strukturen durch Selbstverschreibung an technische Abläufe und deren rationalisierte Wiederholung.« 65

So ließe sich ebenfalls die anästhetische Beziehung der Händler zu jenen Schnittblumen charakterisieren, die im Rahmen der Auktion allein ihres Waren-Charakters wegen Interesse finden, wenn sich ihr Handel letztlich (das heißt im Einzelhandel) auch allein ihrer Sinnlichkeit (und Symbolik) verdankt. Im situativen Kontext der Auktion ist diese Beziehung eingeklammert; alles bestimmend sind technische Abläufe, die allein der Logik eines ökonomischen Systems gehorchen und wiederum in technisch-logistische Aktionen münden. Das Naturschöne von Blumen (s. auch Kapitel 3.1.5) bleibt einstweilen hinter einer Sache technischer Verfügung verborgen. Der Maschinismus der Auktion transformiert Blumen in monetäre Tauschwertobjekte. Er allein ist in der Situation des Groß- wie des Auktionshandels von Belang. Mit der Metapher des Ge-stells rekurriert Reinhard Knodt auf Martin Heidegger, der das Verhältnis des modernen Menschen zu sich und seiner Welt aus einer medialen Beziehung zum Technischen heraus zu bedenken gibt. Als »Ge-stell« sieht Heidegger »das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d. h. dazu herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen.« 66 Im Arrangement des Technischen, das die Wege zur Erreichung der von Menschen selbst gesetzten Zwecke erleichtert, sieht er eine Aufgabe der Reflexion der Art und Weise, wie diese Verhältnisse den Menschen situieren. 65 66

Knodt, Ästhetische Korrespondenzen, S. 107. Heidegger, Die Frage nach der Technik, S. 20.

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Ein High-Tech-Blumenmarkt

Die gesamte Architektur der Auktionshalle, wozu auch die rückwärtigen Lagerhallen samt der logistischen Schnittstellen der Anund Ablieferung gehören, ist nach technischen Parametern errichtet und ausgestattet worden. Das Ganze ist ein Ge-stell par excellence, es dient einzig dem hoch spezialisierten Zweck der schnellstmöglichen und kostensparenden Durchführung des Güterumschlages. Dass es dabei um verderbliche Blumen geht, ist nur insofern von Belang, als die konstruierten technischen Gebilde in all ihren Facetten den Erfordernissen der Ware »Blume« gerecht werden müssen. Der Zweck des Ge-stells des Auktions-Maschinismus dient allein der Optimierung eines raumzeitlichen Dispositivs – der Beschleunigung der Wege vom Ort der Produktion einer Blume zum Ort ihrer ästhetischen Inszenierung in Wohnungen, Büros, auf Friedhöfen sowie bei Festlichkeiten und Feierstunden. Schon in dieser banalen Erinnerung der vom Blumenhandel – von der Quelle bis zum Ziel – betroffenen Orte konkretisiert sich der systemische Effekt der Optimierung logistischer Abläufe: Noch weiter entfernte Produktionsorte können mit noch weiter entfernten Orten des Konsums mit dem Ziel der Maximierung von Profiten verbunden werden. Der Blumenhandel hat in der Gegenwart nicht deshalb globale Bedeutung, weil Blumen prinzipiell von überall nach überall transportiert werden können, sondern weil logistische Distributions-Techniken (im Sinne eines »Ge-stells«) geschaffen worden sind, die diese Zirkulation ermöglichen. Es gehört zum Charakter des zeiträumlich überhitzten Geschäfts mit Schnittblumen, deren Tauschwert einzig in ihrem ästhetischen Potential liegt, dass diese Ästhetik des schönen Scheins von einer technizistisch-abstraktionistisch vermittelten Anästhesie verschluckt wird. Die technische Organisation der Präsentation wie die Modalitäten des Erwerbs von Blumen transformieren diese in allein geldwerte Waren. So werden aus duftenden und anmutigen Blüten gewöhnliche Dinge. Zu dieser Transformation gehört aber auch – am Ende der Kette eines vielgliedrigen Tauschgeschäfts – die Rückverwandlung eines Handelsgutes in ein sinnliches Medium der Kommunikation von Gefühlen. In den Blumenläden des Einzelhandels steht keine anästhetische »Ware« mehr in einem zweckmäßigen Plastik-TransportContainer; am Ort verheißungsvoller Versprechen wird die Ware (wieder) zu einer ästhetizistisch inszenierten Blume. Im Prinzip ist diese Transformation – die Entemotionalisierung der Blume und ihre temporäre Verwandlung in eine Ware – ein konstitutives Moment professionellen Blumenhandels, seitdem es ihn 281 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

gibt. Die high-tech-basierte Floristik macht insofern einen ontologischen Schnitt, als die prozessimmanente Abstraktion vom ästhetischen Charakter der Blume erlaubt, sie zu behandeln wie einen Fisch. Ihre Eigenart – im Sinne Heideggers das, was ihr »Wesen« ausmacht – spielt im inneren kommerziellen Prozess (vor dem Einzelhandel) nur in der Form der Übersetzung in normativ definierte Eigenschaften, die auf Displays sichtbar gemacht werden, eine Rolle. Der Großbzw. Auktionshandel ist in seiner technischen Form gegenüber sinnlich gegenwärtigen Vitalqualitäten radikal neutralisiert. Spezielle logistische Anforderungen, die Blumen (im Unterschied zu Fischen) stellen, drücken sich in einer Synthese von Technik und Architektur aus, die sich allein logistisch von der unterscheidet, die man für den Umschlag von Fisch benötigt. Der fremde Blick auf den Maschinismus des Blumen-Auktionshandels macht dessen Arrangement allein deshalb denkwürdig, weil dieser Umgang mit Blumen wie das ihm dienende Ge-stell des Technischen ganz ungewohnt sind. Es ist die ungewohnte Situierung des leiblich anwesenden Beobachters im Auktionssaal, in der das Erleben sich tagtäglich wiederholender Prozeduren so exotisch erscheinen muss, dass unter der Macht der Irritation zerbricht, was dem routinierten Einkäufer, der in den Praktiken dieser Ökonomie geübt ist, ganz selbstverständlich erscheint. Das eindrucksmächtige Bild der Auktion löst sich schließlich in Fragen evozierende Fraktale auf – in Segmente, in denen das Ganze des Bildes in immer neuen Facetten bedenklich wird. Damit setzt ein kritisches Bedenken des Technischen ein, das Heidegger immer wieder gefordert hat: »Darum liegt alles daran, daß wir den Anfang bedenken und andenkend hüten. Wie geschieht das? Vor allem anderen so, daß wir das Wesende in der Technik erblicken, statt nur auf das Technische zu starren.« 67

Der Imperativ, den Anfang zu bedenken, bleibt in der näheren Bestimmung eines Anfangs notwendig offen, gibt es doch in der Geschichte einer (speziellen) Technik nie einen einfachen (in einem singulären Sinne), eindeutig definierbaren Anfang, sondern vielmehr eine Kette von Veränderungen im Prozess der technischen Zivilisation, in deren Folge es immer wieder – nach ungeklärten und diffus bleibenden Anfängen – neue Anfänge gab und geben wird.

67

Ebd., S. 32.

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Ein High-Tech-Blumenmarkt

Atmosphären der Spannung Die Art und Weise des Stellens durch das Arrangement der technischen Situierung der Auktion samt aller Sachverhalte und Programme führt zwangsläufig zu einer leiblichen Disposition der Spannung, in die die Einkäufer für die Dauer ihrer Teilnahme am Handel versetzt werden. Dabei hat der Begriff der Spannung unterschiedliche Bedeutungen, die für den distanzierten Zuschauer in anderer Weise spürbar werden als für den professionellen Einkäufer, der dem schnellen Handel folgen will und muss, um gute Geschäfte abschließen zu können. Zum ersten spricht man von einer Spannung in den Gliedern, das heißt von einer muskulären Spannung 68. Diese ist »äußerlich« am auffallend unruhigen Habitus eines überaus aktiven Einkäufers sichtbar geworden. Zum zweiten gibt es die »Spannung der Nerven« 69, die man je nach persönlicher Sensibilität als Unruhe, Aufgeregtheit oder Gereiztheit an den Leibesinseln des Magens oder Herzens etc. verspüren kann. Zum dritten spricht man im Falle der Unstimmigkeit zwischen einzelnen Personen oder Gruppen auch von atmosphärischen Spannungen, die sich in aller Regel für die Betroffenen in einem Gefühl der Beengung ausdrücken. Was sich dann zu spüren gibt, hat – zum vierten – den Charakter leiblich spürbarer Spannungs-Gefühle. Diese können auf ganz unterschiedliche Gründe zurückgehen – wie ein physiologisch erklärbares Unbehagen, die sprichwörtlich »schlechte Atmosphäre« eines sozialen Milieus, ein aktuelles oder sich (atmosphärisch) ankündigendes Wetter oder eine wie auch immer begründete bedrohliche Situation. Solche Spannungen geben sich an sogenannten »Leibesinseln« zu spüren. Die Brüder Grimm sprechen ein Beispiel an, das sich beinahe direkt auf die gespannte Atmosphäre des Auktionssaales übertragen lässt: »spannung ist der indifferent scheinende zustand eines energischen wesens in völliger bereitschaft sich zu manifestiren, zu differenziren, zu polarisiren« 70.

Dies ist eine Spannung, die mit einer konzentrationsbedingt herausgehobenen Aufmerksamkeit einhergeht. Die Spannung, in der sich die Händler befinden, ist auf das Kommende und das Erwartete, viel68 69 70

Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 16, Sp. 1915. Ebd. Ebd.

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Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

leicht auch das Befürchtete gerichtet. Sie bezieht ihre essentielle Kraft eigentlich aus dem Vakuum dessen, was passieren wird, aber in der Sache noch offen ist. 71 Die aufmerksamkeitsbedingte Spannung ist mit einem Gefühl der Enge verbunden. Im Unterschied dazu stellt sich Weite in Situationen der Entspannung und der Ruhe ein. »Zwischen Enge und Weite tritt in der leiblichen Dynamik vermittelnd die leibliche Richtung ein, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt.« 72 Die leibliche Richtung ist in der Situation der Teilhabe am Auktionshandel bzw. als Folge der angespannten Eingebundenheit der Einkäufer in die äußerst schnell laufenden Geschäfte nach vorne gerichtet – auf die vorbeifahrenden Blumenwagen und die darüber befindlichen Bildschirme. Dieser Richtungsraum verbindet sich aber nicht mit einem Gefühl der Weite, sondern als Spiegel befindlicher Spannung in einem Gefühl fokussierender Enge. Richtung ist hier nicht in Bezug auf einen ganz bestimmten und präzise lokalisierbaren relativen Ort verstanden. Auch in der Mikrologie ist von der (Aus-) Richtung der am Aktionshandel teilnehmenden Personen »nach vorne« die Rede, wenn letztendlich zwangsläufig undeutlich bleiben muss, worauf genau in jenem »Vorne« die Aufmerksamkeit gerade fällt. Tatsächlich wechselt sie ja auch innerhalb des »Vorne« in einem Feld der Aufmerksamkeit von den Uhren zu den Blumenzügen und dann vielleicht zu einem der Auktionatoren usw. 73 Das maximale Gefühl der Enge resultiert aus dem Eindruck des Schrecks – im Unterschied zum Empfinden maximaler Weite im Moment des Einschlafens. 74 Während der Schreck auf einen momentanen und kurzfristigen Verlust der Orientierung hinausläuft, ist die Situation der gespannten Enge, in der sich die Händler befinden, durch gebündelte Konzentration, hohe Aufmerksamkeit und damit konzentriert-gerichtete Orientierung gekennzeichnet. Die schreckbedingte Enge und die der Aufmerksamkeit weisen in ihrer situativen Unterschiedlichkeit schon darauf hin, dass der Begriff der »Enge« an sich noch zu unspezifisch ist, um auf eine bestimmte persönliche Fas-

Vgl. auch Volkelt, System der Ästhetik, Erster Band, S. 543. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 54 f. 73 Vgl. dazu Schmitz, Band II, Teil 1, S. 110, insbesondere: »Es gibt nämlich Richtungen, die nicht nur ins Unbestimmte verlaufen, sondern auch aus dem Unbestimmten herkommen und in diesem Sinn […] abgründig sind, indem sie den Menschen überfallen und eventuell mit sich reißen.« Ebd. 74 Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 123. 71 72

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sung schließen zu können, die von einer Situation gleichsam rahmend ausgeht. Deshalb bezieht Schmitz Enge und der Weite auf eine zweite (korrespondierende) Achse, die zwischen Spannung und Schwellung in einem gegensätzlichen Sinne angeordnet ist. Der Rhythmus von Spannung und Schwellung vollzieht sich zum Beispiel in permanenten leiblichen Wechselzuständen der Atmung. Das Beispiel weist zwar auf die Ähnlichkeit der Polarität von Enge und Weite hin, zeigt aber doch auch, dass beides nicht dasselbe ist. Die sich mit der angespannten Aufmerksamkeit verbindenden Rhythmen sieht Schmitz durch Spannung und Schwellung getaktet: »Dominanz der Spannung im Verbund mit Schwellung liegt vor in der gespannten Aufmerksamkeit« 75. Während die Gewahrwerdung von Hässlichem – oder mehr noch von Ekelerregendem – mit Gefühlen der Enge korrespondiert, so der Eindruck des Schönen mit dem Gefühl der Weite. 76 Nun ist die Situation der Auktion für die teilnehmenden Händler aber dadurch gekennzeichnet, dass sich diese aufgrund ihrer professionellen Haltung gegenüber dem Eindruck eines ästhetisch »Schönen« gar nicht öffnen kann. Vielmehr beurteilen sie die Blumen nach objektivierten Kriterien als »Waren« und bleiben – weil die Situation von ihnen die ganze Aufmerksamkeit fordert – in der Spannung und damit in der Enge. Ob etwas als schön erlebt wird und entsprechend berührt, hängt schon im Allgemeinen nicht nur von den Eigenschaften des schönen Gegenstandes ab, sondern auch von der Beziehung, in der ein Subjekt zum Erscheinenden steht. Die Schönheit der Blumen wird im Rahmen der Auktion von der sachlichen Aufmerksamkeit und der Bündelung des ökonomischen Interesses an die Regeln des schnellen Handels eingeklammert, sodass »Schönheit« zu einer Potentialität wird, die zwar an der Sache hängt, aber doch in der Latenz verbleibt. Es ist im Wesentlichen das technisch formatierte Programm der Auktion, das die Teilnehmer in eine Rolle zwingt, die dem ästhetischen Erleben des Schönen (des Naturschönen im Sinne von Kant) verschlossen bleiben muss.

75 76

Ebd., S. 123. Ebd., S. 490 und 494.

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3.2.2 Tempo und Atmosphäre Der Rhythmus des Auktionshandels ist durch eine äußerst schnelle Abfolge der einzelnen Prozessphasen getaktet, die im Prinzip aus drei hoch verdichteten Sequenzen besteht: (erstens) dem Hereinfahren der Blumenzüge, (zweitens) dem kurzen Herauskippen der Container zur (Simulation der) sinnlichen Vergegenwärtigung der aktuell in der Auktion befindlichen Waren und (drittens) der Abgabe der Gebote, die den Preisangaben auf der »Uhr« in Gestalt eines kreisenden Punktes folgen. Dass die technische Schnelligkeit nicht auf »äußerliche«, lokomotorische Abläufe beschränkt bleibt, sondern im Befinden der Bieter auch eine spürbare Resonanz findet, drückt sich in der gespannten Ruhe aus, die gleichsam »über« dem ganzen Saal liegt. Ihre Atmosphäre überträgt sich in der Ungleichzeitigkeit mit dem hohen Tempo aller Abläufe auf die fast erstarrt auf ihren Plätzen sitzenden Kunden. Die im Raum herrschende Ruhe ist indes das Gegenteil von Stille (vgl. dazu auch Kapitel 5 in Band 1), also nicht Ausdruck zum Beispiel kontemplativer Selbstbesinnung, sondern ganz im Gegenteil Spiegel einer erhöhten – eben gespannten – Handlungs-Bereitschaft. Trotzdem hat sie mit der Stille eines gemeinsam: Die gleichsam stoffliche Intensität der Ruhe wird in besonderer Weise an Eindrücken des Leisen oder zumindest doch wenig Lauten zudringlich. Dies sind Laute und Geräusche, die – obwohl sie im eigentlichen Sinne der Wortes gar nicht (akustisch) laut sind – auf dem kontrastierenden Hintergrund weithin herrschender Ruhe in geradezu immersiver Weise vernommen werden können. Es genügt schon das leichte Knarren der Lehne eines Klappstuhls in den Rängen, um die besondere Macht dieser situationsgebundenen Ruhe atmosphärisch immersiv spüren zu können. Aus diesem atmosphärischen Rahmen heraus kann auch erst verständlich werden, weshalb die an sich leisen Klappergeräusche der Blumen-Wagen hinter den Loks überhaupt bemerkbar werden. Die trotz einer gewissen Kargheit der Ereignisse so mächtige atmosphärische Präsenz geht auf ein simultanes Zusammenwirken unterschiedlichster Eindrucksqualitäten zurück: das sichtbare Tempo der technischen Bewegungsabläufe, die mehr spürbare als hörbare Ruhe im Saal, die allein habituell vernehmbare Anspannung der Bieter, die wenigen in ihrer lautlichen Intensität herausragenden (Kontrast-)Geräusche, zu denen auch ein hier und da hörbares Pfeifen eines Einkäufers gehört usw. Wenn Tempo das »Zeitmaß einer Be286 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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wegung« 77 ist, so bringt sich Bewegung hier in vielen Gesichtern zur Geltung, die alle zusammen in einem Milieu der Eile verschwimmen. Die Atmosphäre des Raumes hat aber über ihre unmittelbare leibliche Spürbarkeit hinaus dahingehend viel zu sagen, als sie ja nur der befindliche und erlebbare Spiegel einer Form der Ökonomie ist, die eine Reihe von zivilisationstheoretischen Fragen aufwirft. Die schnellen Rhythmen der Auktion weisen nicht zuletzt auf den hohen Spezialisierungsgrad der professionellen Händler hin, die in der Lage sein müssen, mit minimalen Informationen, die zudem in kürzesten Zeitphasen »kommuniziert« werden, ökonomisch weitreichende Entscheidungen zu treffen. In dieser Extremsituation zeigt sich aber im Prinzip – wenn auch überhöht –, was die spätmoderne Technisierung der Arbeit aus den Menschen macht. Was die Anforderungen an die psychischen »Kompetenzen« betrifft, sprach vor über hundert Jahren Georg Simmel schon von einem Dilemma aus »Hypersensibilität und Unempfindlichkeit« 78. Im Bereitschaftsmodus der Bieter drückt sich jene von Arnold Gehlen in den 1950er Jahren diagnostizierte modernisierungs- wie technologiebedingte »Verwandlung der Person in einen ›Funktionsträger‹« und »Fachmann« 79 beispielhaft aus. Diese Transformation lässt die leibliche Person zum »Träger oder Inhaber von Qualifikationen, Ansprüchen, Merkmalen, Leistungen, Rechten usw.« 80 abblassen. Dass eine solche Umwandlung anthropologische Reichweiten hat und den Preis einer strukturellen »Entsinnlichung« 81 fordert, versteht sich am gegebenen Beispiel schon aus der dem gehetzten Zeitrhythmus der performativen Struktur des Handels von selbst. Grundsätzlich hinterlässt die technologiebedingte Mimesis des Menschen an die Strukturen einer auf dem Vermögen von Computern basierenden Automatisierung zivilisationstheoretisch denkwürdige Spuren im Resonanzvermögen der Menschen gegenüber sozialen Situationen wie der sinnlichen Begegnung mit ihrer inneren wie äußeren Natur. Die in personale Sachwalter transformierten Individuen können in ihrem Tun den systemischen Anforderungen aber nur dann in Gänze gerecht werden (Grauzonen der Unentschiedenheit kennen

77 78 79 80 81

Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 21, Sp. 252. Simmel, Soziologische Ästhetik, S. 92. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 119. Ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 25.

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maschinistische Systeme nicht), wenn sie an den Mensch-MaschineSchnittstellen vorhersehbar programmgemäß funktionieren. Dazu müssen – jedenfalls in der hier zur Diskussion stehenden Situation des Auktionshandels mit Blumen 82 – sinnliche Dinge in durchrationalisierte Waren-Gegenstände umgeformt werden. 83 Die Milieus, in denen nach entsprechenden technologischen Parametern (vom Charakter des Dispositivs) mit den Dingen ge-HAND-elt wird, werden zwangsläufig in hohem Maße auf aseptische und »kalte« Prozessphasen reduziert. Arnold Gehlen sprach solche Welten mit dem metaphorischen Begriff der »ereignisverdünnten Räume« 84 an. Es ist aber nicht nur die »Verdünnung« der Ereignisse unter weitgehendem Abzug der Sinnlichkeit der Dinge, sondern auch – wenn in der Situation dieses Auktionshandels nicht noch mehr – die zeitliche Verdichtung der Ereignisse zu einer Kette beschleunigter Abläufe, die keine Spielräume für die Wahrnehmung sinnlicher Qualitäten freigibt. Alle Abläufe der Blumenauktion folgen einem geradezu gehetzten Rhythmus, dessen innere Verkettung nur eine Ablauffolge zulässt. Schnell sind in diesem Sinne nicht nur die technischen Abläufe, sondern in deren Folge (als Anspruch an die teilhabenden Händler) auch die Reaktionen und Handlungen. Das Prozedere kann nur gelingend verlaufen und zu einem Erfolg für alle am Geschäft Beteiligten werden, wenn das hohe Tempo in seiner Kontinuität für die Dauer der Auktion gewährleistet ist, das Schnelle sich also als etwas »Gutes«, bezogen auf die Logik des Systems, erweist. In etymologischer Hinsicht verbinden sich mit besonders schnellen Handlungen aber auch negative Nebenbedeutungen. Wer etwas »auf die Schnelle« macht, setzt sich allzu leicht der Kritik aus, dabei unzuverlässig und flüchtig vorgegangen zu sein. 85 Auch im Wort der »Eilfertigkeit« schwingt eine Nebenbedeutung der Übereilung mit. 86 In der Redensart »Eile mit Weile« 87 wendet sich der negativierende Nebensinn zur Norm gemäßigter Schnelligkeit. In der etymologischen Bandbreite spannen sich die Bedeutungen des Schnellen zwiDass die Entsinnlichung und unmittelbare Verschneidung des Menschen mit der Maschine nicht a priori mit der Form einer modernen Auktion verbunden ist, wird das Beispiel der dänischen Fischauktion zeigen; vgl. Kapitel 4.3. 83 Vgl. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 34. 84 Ebd., S. 48. 85 Vgl. Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 3, S. 1390. 86 Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 15, Sp. 1289. 87 Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 1, S. 365. 82

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schen dem Kraftvollen und dem hohen Tempo auf. 88 Der Auktionshandel verlangt indes das über-schnelle Tempo, wenngleich der Erfolg der Geschäfte in Form reibungsloser Abläufe vom Risiko des Vorschnellen auch nicht bedroht werden darf. Die spezifische Schnelligkeit einer Blumen-Versteigerung ist systemimmanent und damit zwingend. Sie lässt keinen »gemäßigten« Takt des Mitmachens als den besseren gleichsam »menschlicheren«) Weg der Teilnahme zu. Wer dem Rhythmus nicht folgen will, bleibt vom Geschäft ausgeschlossen. Was Arnold Gehlen als Metamorphose von der Person zum Funktionsträger ansprach, brachte nicht nur im Milieu der Theorie jene Notwendigkeit zum Ausdruck, der die Menschen in ihrer Anpassung an die technologischen Erfordernisse industrieller wie gesellschaftlicher Systeme unterworfen waren. Die zivilisatorische »Reinkarnation« des leiblichen Menschen im anthropologisch formatierten Pawlow’schen Hund lässt sich kaum treffender ins Bild setzen als mit der Szenerie der in Rängen sitzenden Einkäufer, die die Augen auf Bildschirme fixieren und den Daumen zum Drücken des Bieter-Knopfes in nervöser Bereitschaft halten. Schon die architektonische Anordnung von Menschen auf Klappsitzen in steilen Rängen lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich hier die Transformation der Person zur maschinistischen Schnittstelle im Sinne einer zivilisatorischen Zwischenstufe (bis auf weiteres) vollendet hat.

3.2.3 Spannungen im Verhältnis zwischen Natur und Technik In der globalen Blumen-Ökonomie sind die Dinge der Natur nicht nur aufs engste mit denen der Technik verbunden; es besteht sogar eine tendenziell integrale Beziehung, sodass nicht umstandslos zwischen einem Naturgegebenen auf der einen Seite und einem artifiziell Technischen auf der anderen Seite unterschieden werden kann. Daran ändert auch die gewohnte lebensweltliche Wahrnehmung nichts, wonach Blumen a priori als reine und ursprüngliche Naturgestalten angesehen werden. Auf verdecken Hinterbühnen ihrer Erzeugung, Distribution und seriellen industriellen Produktion haben sie allein noch den Charakter »floristischer Produkte« und sind zutiefst von technischen Dispositiven durchzogen. Im Begriff des Dispositivs drückt sich nicht allein etwas Technisches im engeren Sinne aus; im Disposi88

Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 15, Sp. 1291.

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tiv (des Technischen) treten machtvolle Bündel aller möglichen Dinge und Situationen auf, die sich als einflussreiches Instrumentarium der Macht anbieten. 89 Nur auf dem Niveau einer Oberflächenästhetik bleibt der schöne Schein der Blumen bei sich. Als Objekt der Produktion, Distribution und Einfädelung in globale ökonomische Systeme ist insbesondere die Schnittblume nichts als eine Ware. Das in der gegenwärtigen Zeit ubiquitäre Wissen um den künstlichen Charakter tendenziell aller floristischen Produkte wird im Moment ihrer ästhetischen Präsenz in Kulturen ihres Gebrauchs indes rückstandslos abgespalten. Ihre ökonomisierte Sinnlichkeit lässt allein die affizierende Blütenpracht zur Erscheinung kommen. Erst auf einem verdecken Niveau gibt sich der vielgestaltige Schatten ihrer dispositiven Geschichte (wenigstens potentiell) zu bedenken. Die anästhetischen Seiten des schön Gemachten bieten sich dem kritischen Bedenken jedoch ungeachtet dessen schon auf dem Niveau des InfraGewöhnlichen an, denn um zu wissen, dass floristische Produkte auf keiner Wiese neben der Dorfkirche gepflückt wurden, bedarf es keiner wissenschaftlichen Unterstützung. Als Gegenstand der Reflexion bietet sich schlicht jede Schnittblume des Einzelhandels an, ist sie doch in aller Regel Produkt hoch komplexer Züchtung und nicht zu trennen von Praktiken einer ethisch meistens schwer legitimierbaren Instrumentalisierung menschlicher Arbeit und nicht zuletzt mit beträchtlichen – wenn auch unsichtbaren – ökologischen Problemen beladen. Natur hier – Kultur und Technik dort? Kaum ein anderer Gegenstand (neben Zuchttieren für die Fleischindustrie) kann auf so krasse Weise den hybriden Charakter einer tendenziell ubiquitären Kultur-Natur vor Augen führen wie die Schnittblume, obwohl sie lebensweltlich doch als reiner Vorschein einer gegenständlich gedachten Natur gilt. Der ästhetische Blick auf die »Natur« der Blumen profitiert von der Illusion einer Natur, die im Kontrast zu einer Welt der Kultur bzw. Technik steht. Diese Spaltung Ich verwende den Begriff des Dispositivs im Sinne von Michel Foucault, wonach ein »Dispositiv wesentlich strategischer Natur ist, was voraussetzt, daß es sich dabei um eine bestimmte Manipulation von Kräfteverhältnissen handelt, um ein rationelles und abgestimmtes Eingreifen in diese Kräfteverhältnisse […]. Das Dispositiv ist also immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben.« Foucault, Dispositive der Macht, S. 123.

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ist Resultat eines lebensweltlichen Denkens, wonach die Grenze zwischen Natur und Technik als evidente Trennlinie gedacht ist, auch wenn sich diese schon lange aufgelöst hat. Im Prinzip gibt es solche Grenzen in der Zivilisationsgeschichte des Menschen nicht mehr, seit dieser sich im Austausch mit der Umwelt einfachster Werkzeuge wie Stock und Hammer bedient, um Umgebungsbedingungen und Stoffe der Natur an eigene Bedürfnisse anzupassen. So konnte er schon mit einfachsten Mitteln die Grenzen überwinden, auf die ihn seine naturgegebene Ausstattung (zunächst) festgelegt hatte. Auch philosophisch begründete Differenzierungen zwischen Natur und Technik sitzen dem Dilemma wechselseitiger Durchdrungenheit auf. Wenn nach Ute Guzzoni (mit Aristoteles) das der Natur Zugehörige im Unterschied zum Technischen und vom Menschen Gemachten von sich aus sein könne und die Kraft zur Eigenbewegung habe, so trägt die auch damit wiederum gezogene Grenze letztendlich nicht. »Für den modernen Menschen ist die Natur eine einmal mehr, einmal weniger wahrgenommene Dimension des nicht-gemachten, naturwüchsigen Anderen, die gewissermaßen neben dem Bereich des zumeist technisch bestimmten Alltags liegt.« 90

Es ist seit der Antike üblich, den Begriff der Natur in zweifacher Weise für eine wichtige Unterscheidung zu gabeln: zwischen einer natura naturans zum einen (dem Kraftpotential der Bewegung und dem Erscheinen von Blume und Tier aus der Welt der Dinge sowie Wolke und Licht aus dem Bereich der Halbdinge) und einer natura naturata zum anderen (den physisch fassbaren Dingen der Natur). 91 Die Blume ist beides – physisch-stoffliche Natur und erscheinende (und letztendlich verwelkende) Gestalt. »Künstliche« Dinge sind im Unterschied zu den natürlichen solche, deren Entstehungsprinzip nicht auf sich selbst schöpfende Kräfte zurückgeht, sondern auf Initiativen, praktische Vermögen und Ideen, die von Menschen in die Herstellung einer Sache investiert werden. Das von sich aus Seiende ist zweckfrei, während das Gemachte menschlichen Zwecken folgt. 92 Bedingt gehören auch die Blumen, die im Zentrum aller Blumenmärkte stehen, zu den künstlichen Dingen, durch deren »Mitte« eine imaginäre Grenze verläuft, sind Blu-

90 91 92

Guzzoni, Über Natur, S. 35. Vgl. Gloy, Das Verständnis der Natur, Band I, S. 24. Vgl. auch ebd., S. 26.

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men doch schon lange zum Objekt einer Art der Züchtung geworden, die sich weitgehend barrierefrei entfalten kann, sodass sie sowohl auf Natur als auch auf (Bio-)Technik verweisen. Die Grenze ist vor allem deshalb so verwischt, weil ihr genetischer »Umbau« im Unterschied zum Eingriff in die biologische Matrix von Mensch und Tier keiner ethischen Legitimationspflicht unterliegt und »frei« nach ökonomischen Interessen, also potentiell exzessiv und nicht reguliert betrieben werden kann. Karen Gloy formuliert das sich im Allgemeinen daraus ergebende Problem so: »Die überall zu konstatierenden künstlichen Eingriffe in unsere natürliche Lebenswelt, die weitgehende Substitution der Naturvorgänge durch maschinelle Prozesse, kurzum, die immer weiter um sich greifende Technisierung der Natur wirft die Frage auf, wieviel an der Natur bzw. am Menschen überhaupt noch original und wieviel bereits artifiziell ist, wieviel künstlichtechnisch sein darf, um noch natürlich genannt werden zu können.« 93

Mit dem Gebrauch der Technik stellt sich zwangsläufig die Frage nach ihrem im anwendungsbezogenen Einzelfall zu begründenden Sinn. Karen Gloy unterscheidet zwischen einer Technik für den Menschen, die sich als Mittel der Naturbeherrschung bewährt, und einer solchen, die einem Selbstzweck dient und damit Natur ersetzt. 94 Der schöne Schein der Blüten deckt die ganze Breite dieser spannungsreichen Beziehung ab und spitzt sich ganz konkret in der Frage zu, in welcher Weise eine gezüchtete Zierpflanze (wie eine »Schnitt«Blume) eine dem Menschen dienliche Naturbeherrschung zur Geltung bringt oder eher eine Verselbständigung von Technik repräsentiert, die einer Logik des Begehrens gehorcht und vornehmlich ökonomischen Gesetzen folgt. Der schöne Schein und das »Ge-stell« Der größte Teil floristischer Produkte des globalen Marktes ist in ein maschinistisches System – vom Wesen eines »Gestells« (Heidegger) – eingebunden. Allein in einem entfernten Sinne erinnern sie an jene darin vorscheinende Natur-Beziehung, wonach Blumen noch unmittelbar dem Kreislauf der Natur entnommen wurden, wie der Frühlingsstrauß einst von der Wiese hinter dem Friedhof stammte. Die im

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Ebd., S. 227. Vgl. ebd., S. 237.

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Ein High-Tech-Blumenmarkt

Handel zirkulierenden Blumen sind als floristische Waren im Sinne Heideggers »be-stellte« Objekte und als transformierte Arten der Natur »ge-stellt«. Insgesamt stellt sich schon mit den ethisch entgrenzten Möglichkeiten der Produktion floristischer Produkte die Frage des Transhumanismus. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass in ihrem normativen Fokus der Mensch-Natur-Metabolismus nach Maßgabe der Interessen des Homo Sapiens wählbar wird. Im Prinzip folgt der zivilisatorische Pfad des Menschen jedoch schon so lange dieser Spur, seit dieser seine Evolution selbst in die Hand genommen hat. Die Idee des Transhumanismus verbindet diesen Prozess nun aber darüber hinaus mit dem Ziel, den Menschen in allen erdenklichen Daseins-Bereichen von den Zwängen der Natur tendenziell ganz zu befreien. Wenn die beliebige Transformation von Pflanzen in ästhetisch erwünschte Gestalten auch nichts mit der Entgrenzung der menschlichen Lebensdauer zu tun hat und ebenso wenig mit der Überwindung von Krankheit und Leid, so zeigt die biotechnische Züchtung floristischer Produkte doch wenigstens die ästhetische Seite eines technologischen Possibilismus, der biologische Potentiale radikal ausschöpft. Die Blumenmärkte können so auch als gleichsam spielerisches Reagenzglas transhumanistischer Interventionen im Mensch-Natur-Metabolismus betrachtet werden. 95 Zur erkenntnisvermittelnden Macht des Augenblicks Ein plötzlich in den Auktionssaal hereinflatternder Schmetterling stellt im Brennglas der Aktualität einer Situation die naturphilosophische Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur und ihren Atmosphären. Das Beispiel macht darauf aufmerksam, dass Tiere auf ganz eigene Weise atmosphärische Katalysatoren sind. 96 Zum Transhumanismus vgl. zusammenfassend Ferrari, Transhumanismus. Die sich der Idee des Transhumanismus widmende Organisation humanity+ sieht den Kern der Mission des Transhumanismus in der Überwindung der gleichsam naturgegeben biologischen Grenzen des Menschen: »Daily, medicine uncovers another way to make us better than well.«; http://humanityplus.org/about/mission/; 06. 12. 2016. 96 Die Anwesenheit von Tieren kann die Atmosphäre eines Ortes »färben«. Elias Canetti berichtet über ein tollwütiges Kamel, das in Marrakesch zum Schlachthaus geführt werden sollte: »Die Luft um das Kamel war von Angst geladen; am meisten Angst hatte es selbst.« Canetti, Die Stimmen von Marrakesch, S. 10. Rilke illustriert die Atmosphäre eines Ortes, die durch die Gegenwart einer Katze, die »die Stille noch größer macht, indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen 95

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Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

Die aktuelle Situation von äußerst kurzer Dauer führt zu einer atmosphärischen Überlagerung und optional zu einer Kollision. Mit dem plötzlichen Augenblick, in dem das Tier im Raum erscheint, begründet sich eine insofern denkwürdige Situation, als der Schmetterling das Andere dessen verkörpert, was den Gegenstand des Handels in seinem Charakter ausmacht. Er entzieht sich als zufallsbedingter »Fremdkörper« einer transnationalen Logistikkette jeder Behandlung; er steht für das Nicht-Gemachte und aus der Rationalität ökonomischer Kalküle Entwundene. Er konterkariert in der Freiheit seiner Bewegung unter anderem die artifizielle, geradezu zwanghaft erscheinende Sitzordnung und Disziplin im Saal. In ihrer Eindrücklichkeit entfaltet sich die aktuelle Situation nicht nur als eine Spannung in der Sache sich polarisierender Mensch-Natur-Beziehungen, sondern auch als eine Spannung in der Zeit. In die verdichtete Dauer der Auktion bricht ein Tier gleichsam ein, das keinem externen Zeitregime gehorcht. Der zeitliche Charakter der Gegenwart des Insekts verdient insofern die konzentrierte Aufmerksamkeit, als im Plötzlichen des Augenblicks der mögliche Beginn der Reflexion von Mensch-NaturVerhältnissen keimt, die in der Gegenwart massenhafter Zucht-Blumen vorscheinen. Indes bleibt das Bedenken des (individuell-subjektiven wie gesellschaftlich kollektiven) Seins im gegebenen MenschNatur-Metabolismus nur eine Möglichkeit. Diese dürfte unter der Macht der fortbestehenden Situation der Auktion in aller Regel auch gar nicht ergriffen werden können, weil die Aufmerksamkeit der Händler durch die ökonomischen Transaktionen ausgefüllt ist. Der plötzlich eindrücklich werdende, mit dem herrschenden Programm der Auktion jedoch kollidierende Augenblick kann seine Bedenklichkeit stiftende Macht dann nicht entfalten. Nach Platon ist das Plötzliche (des Augenblicks) jenes Wunderliche, »worin das Eine von Bewegung in Ruhe und von Ruhe in Bewegung umschlägt, […] sowie überhaupt alle Veränderungen erleidet, auch den Übergang von Sein zu Nichtsein oder von Nichtsein zu Sein.« 97 Deshalb ist für Heidegger das Jetzt aus dem plötzlichen von den Rücken.« Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 950. Auch für Canetti ist die ruhende Katze Symbol und Ausdruck atmosphärisch spürbarer Stille: »Man sieht die steinernen Stufen, die in die Etage führen, und oben findet man eine Katze vor. Sie verkörpert die Lautlosigkeit, nach der man sich gesehnt hat.« Canetti, Die Stimmen von Marrakesch, S. 28. 97 Theunissen, »Augenblick«, Sp. 649.

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Augenblick abkünftig. 98 »Der Augenblick ist der primäre und eigentliche Modus der Gegenwart« 99: »Die in der eigentlichen Zeitlichkeit gehaltene, mithin eigentliche Gegenwart nennen wir den Augenblick. Dieser Terminus muß im aktiven Sinne als Ekstase verstanden werden. Er meint die entschlossene, aber in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet.« 100

Der Augenblick entrückt das Begegnende, indem er es in ein eigenes zeitliches Milieu einschließt: das unmittelbar sich zuspitzende Gefühl für die Gegenwart. Hermann Schmitz spricht (erstens) vom absoluten Augenblick der primitiven Gegenwart – »ohne zeitliche Orientierung im Verhältnis zum Früheren oder Späteren, zu vergangenen oder künftigen Gegenwarten.« 101 Primitive Gegenwart steht der entfalteten Gegenwart entgegen, in der die Bezugspunkte der menschlichen Orientierung »entfaltet« sind, das heißt dem eigenen Tun Richtungen verheißen (können). Im Unterschied zum absoluten Augenblick kennt Schmitz (zweitens) den permanenten Augenblick »der zuständlichen Situationen, der verweilenden Gegenwart, der Retention (Husserls) usw.« 102 Damit tritt der zeitliche und Erkenntnis vermittelnde Charakter des Augenblicks noch schärfer heraus; so erklärt sich auch, inwieweit die Situation des hereinfliegenden Schmetterlings mit der Situation der Auktion kollidiert, verlangt doch jede Wahrnehmung die Kraft einer Aufmerksamkeit, dank derer sich eine Person einem Geschehen erst zuwenden kann. Wir haben es im Moment des erscheinenden Insekts also mit der Kollision von zwei Augenblicks-Situationen zu tun. Dabei fordert der permanente Augenblick der in Eile geführten Auktion das wache und aktive MitSein so nachhaltig, dass sich der aufgespannte Rahmen entfalteter Gegenwart anlässlich des plötzlichen Aufblitzens jenes absoluten Augenblicks nicht – auch nicht für einen kurzen Moment – zu öffnen vermag, sodass sich kein Vakuum der Orientierung auf ein Neu-Denken hin bilden kann. Die »kritische« Potenz der Abweichung des unerwarteten Geschehens kann sich deshalb in kein Nachdenken dessen freisetzen, was der gewohnte Blumenhandel jenseits des selbstverVetter, Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, S. 55. Ebd. 100 Heidegger, Sein und Zeit, S. 338. 101 Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 49. 102 Ebd. 98 99

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ständlichen Wissens um seine Strukturen und Prozeduren auch ist und bedeutet. 103

3.2.4 Leibliche Präsenzen Der technische Rahmen der Auktion rückt sinnliche Eindrücke, die man in der geradezu massenhaften Gegenwart von Blumen erwarten darf, in einen fernen Hintergrund. Dies drückte sich unter anderem in einem gelegentlich raren Vorbeiwehen von Blumengerüchen über die Sitze auf den Rängen des Auktionssaales aus. Wenn diese Form des Blumenhandels auch als »entsinnlicht« erscheinen mag, so stellt sich doch nicht schon deshalb der Auktionssaal als eine Welt »leibloser« Individuen dar. Leiblich ist ein Mensch im Prinzip in jeder Situation wachen Mit-Seins, in der er sich stets zwischen Gefühlen der Enge und der Weite sowie der Spannung und der Schwellung finden muss. Wenn in der Mikrologie eine im Raum der Auktion spürbar gespannte Nervosität unter den Händlern vermerkt wurde, so deutet sich darin eine leibliche Disposition der in den schnellen Handel involvierten Blumeneinkäufer an. Eine im Raum liegende atmosphärische Gespanntheit spiegelt sich aber auch in anderen Beobachtungen wider, in denen auf die Befindlichkeit der Menschen als Ausdruck ihrer aktiven Teilnahme an der aktuellen Situation des Handels hingewiesen wird: so zum Beispiel die weitgehende »Sprachlosigkeit«, die den Saal in eine gespannte Ruhe versetzt hat. Gespannte Ruhe ist nicht irgendeine Ruhe. 104 Ihre besondere Vitalqualität macht zunächst darauf aufmerksam, dass Ruhe (nicht nur in einem Raum) stets situationsbezogen gestimmt ist. Wie diese Ruhe durch eine starke Angespanntheit gekennzeichnet ist, die ihre leiblichen Wurzeln in der Gerichtetheit der Aufmerksamkeit der Händler auf die »vorne« stattfindende Versteigerung hatte, so liegt zum Beispiel die Ruhe beim Gebet in einer Kirche nicht in aufgeregter Nervosität, sondern in der kontemplativen Besinnung der Betenden auf eine mystische Glaubenswelt. Zur Ruhe gehört im Allgemeinen eine atmosphärisch eindrucksmächtige Lautlosigkeit. Wie die Stille so ist auch die Ruhe – gerade in sozialen 103 Zur Diskussion der Macht der vom Plötzlichen ausgehenden Irritation vgl. auch Kapitel 4.1. 104 Zur Differenzierung zwischen Ruhe und Stille vgl. auch Kapitel 5 in Band 1.

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Räumen – keine absolute, sondern eine relative Lautlosigkeit, deren atmosphärisches Volumen durch den performativen Rhythmus einer Situation durchstimmt wird. Denkwürdige Gesten Ganz spezifische Geräusche haben diese Ruhe als etwas gegenwärtig Anwesendes »hörbar« gemacht. Medien in diesem Sinne waren unter anderem Stimmen und Töne, die in einem atmosphärischen Kontrast zum Nicht-Ruhigen standen. Es ist diese ganz spezifische Klanglichkeit des (ruhigen) Raumes, die auf die leiblich-befindliche Einbindung der Menschen in die Situation der RaumZeit des Auktionshandels hingewiesen hatte. Im Prinzip wurde im Saal nicht gesprochen; das heißt aber nur, dass es keine übliche Kommunikation gab, wonach zwei oder mehr Menschen in wörtlicher Rede miteinander im Kontakt gestanden hätten. Dennoch lag eine sich deutlich zu spüren gebende »beredte Ruhe« im Raum; Gesprächsfetzen, die sich (wie abgehackt) in der Weite des Saales verloren haben, erzeugten ein diffuses Grundgeräusch. Die im Allgemeinen bestimmende Atmosphäre der Ruhe wurde durch gelegentliche Rufe, mehr aber noch durch ein unvermittelt in den Raum gleichsam hinein »schneidendes« Pfeifen unterbrochen. Wenn die Ruhe-Atmosphäre auch von einer geladenen, elektrisierten Spannung beherrscht wurde, so konnte ich das hektisch und gestresst wirkende Drücken des Bieter-Knopfes durch einen in meiner Nähe sitzenden Händler doch deutlich hören (s. Abb. 3.17, S. 271). Wenn er manchmal plötzlich und unerwartet sogar etwas in den Saal rief, verfolgte er damit nicht das Ziel, jemandem etwas mitzuteilen; vielmehr schien er durch solche »ekstatischen« Äußerungen seine Anspannung zu entladen. Es sind diese und andere Geräusche, die die sprichwörtliche Ruhe im Saal viel weniger unterbrochen als unterstrichen und so die Besonderheit dieser Ruhe bewusst gemacht haben. Die Anspannungen der Einkäufer brachten sich durch deren leiblich-habituelle Gegenwart atmosphärisch zur Geltung. Die leibliche Involviertheit in die über die Zeit einiger Stunden andauernde Situation des Auktionshandels erhielt darin auch ein kulinarisches Gesicht, dass ein Service-Mitarbeiter den Einkäufern Kaffee und Sandwiches angeboten hatte. Die an sich ganz und gar selbstverständlichen Bewegungsspuren, die der Mann dabei mit seinem Tablett – durch die Ränge steigend – im weithin bewegungslosen Bild des Saales hinterlassen hat, erzeugten ein performatives Muster, das 297 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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die Ruhe im Saal wiederum kontrastierte. Schließlich kommt in dem Umstand, dass der Service-Angestellte als wandelnde »Insel der Sinnlichkeit« kein Headset trug, ein leibliches Profil der gemeinsamen Situation derer zur Geltung, die im inneren Programmrahmen der Auktion ihre Rollen spielten. Die nervöse Atmosphäre im Saal gab sich auch in einem immer wieder hörbaren und ganz unvermittelten Pfeifen oder spontanen Rufen zu spüren. Dabei wurden Grenzen der in der Lebenswelt geltenden sittlichen Konventionen mitunter überschritten, pfeift oder ruft doch üblicherweise niemand in halb-öffentliche Räume hinein, in denen die Verhaltensmuster zudem hoch diszipliniert und reguliert sind. Solche Äußerungen sind im Unterschied dazu in solchen Settings geradewegs zu erwarten, zu deren programmgemäßer Dynamik es gehört, aus dem Rahmen zu fallen (wie in einem Fußballstadion oder in einer Schulklasse). Die den Ablauf der Auktion allein potentiell »störenden« Äußerungen wurden jedoch offensichtlich von niemandem als eine Verletzung der guten Sitten empfunden; zumindest waren keine Proteste oder Unmutserklärungen zu vernehmen, die man als eine Disziplinierung angesichts einer Überschreitung von Affektgrenzen hätte verstehen können. Im Übrigen wurde niemand in seiner sozialen Unversehrtheit berührt, als andere in der beschriebenen Weise ihren »spontanen Wallungen« 105 zum Ausdruck verhalfen und anstehende Affekte nicht dämpften. Dennoch verdienen diese spontanen Affekt-»Ausbrüche« Beachtung, hat der Prozess der Zivilisation im Allgemeinen doch nachhaltig gelehrt, Äußerungen dieser Art zugunsten sozialer Hygieneerfordernisse zu straffen und der Kontrolle zu unterwerfen. 106 In phänomenologischer Hinsicht bedürfen die in der Mikrologie festgehaltenen Beobachtungen einiger reflektierender Bemerkungen, verlangen sie doch nach Erklärungen, die in unmittelbar wahrnehmbaren Eindrücken keinen sicheren Halt finden. Die Etymologie des »Pfeifens« gibt Hinweise auf einen möglichen sozialen Sinn, wenn die sich damit anbietenden Begründungen in ihrer Plausibilität auch Annahmen bleiben müssen, steht doch die Möglichkeit der empirischen Überprüfung gar nicht zur Disposition. Grimm und Grimm weisen auf die noch in der gegenwärtigen All-

105 106

Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Band 2, S. 322. Vgl. ebd., S. 11.

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tagssprache lebendige Bedeutung hin, wonach »auf etwas pfeift« 107, wer eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber einem Geschehen oder Sachverhalt empfindet. Dabei geht es aber um ein metaphorisches und kein tatsächliches Pfeifen. Gleichwohl kommt in der Wendung eine mit dem Habitus des Pfeifens sich verbindende Einstellung zur Geltung, wonach ein entgangenes Geschäft gestisch hätte bagatellisiert worden sein können. Durch fortwährendes (lautlich vernehmbares) Pfeifen kann man jemanden vertreiben. 108 Ein solches Pfeifen könnte sich aber auch auf etwas richten, das im eigenleiblichen Befinden vertrieben werden soll, wie zum Beispiel eine aufgestaute Spannung, der man durch eine gewisse Druckverminderung (pfeifend) Luft machen möchte. Im (intransitiven) Pfeifen kann schließlich eine Verhöhnung oder Verspottung zum Ausdruck kommen. 109 Abhängig von unterschiedlichsten Motiven kann eine pfeifende Geste als ästhetischer »Kommentar« einer bestimmten Gefasstheit verstanden werden. Solche Äußerungen »sagen« etwas über leibliche Resonanzen auf eine aktuelle Situation (hier die der Auktion). Sie weisen schließlich auf ganz spezifische Formen des »Kontaktes« 110 hin, die mit nervösen Befindlichkeiten aufgeladen waren. Spannung und Affektdynamik Letztlich muss unbeantwortet bleiben, ob jemand bewusst gepfiffen und spontan in den Raum gerufen hat oder ob diese Äußerungen aktuelle Gefühlslagen eher intuitiv zum Ausdruck gebracht haben. Naheliegend ist die Hypothese ent-spannender Spontanäußerungen. Die Annahmen wird durch Hypothesen aus dem Bereich der Neurosenlehre gestützt. Mit Otto Fenichel diskutiert Siegfried Zepf neurotische Symptome zum Beispiel als »Abfuhrphänomene, die ohne Zustimmung des Ichs« 111 zustande kommen. »Eine relative Insuffizienz der Kontrolle seitens des Ichs« könne dabei unter anderem durch »vermehrt einströmende Erregung« 112 ausgelöst werden. Wenn es Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 13, Sp. 1647 und 1649. Vgl. ebd., Sp. 1647. 109 Vgl. ebd., Sp. 1648. 110 Schmitz versteht Kontakte als »Szenen, in denen Menschen zusammentreten und zusammenwirken«; Schmitz, Band V, S. 97. 111 Zepf, Allgemeine psychoanalytische Neurosenlehre, Bd. I, S. 168. 112 Fenichel, zit. bei Zepf, ebd. 107 108

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sich in der leiblichen Affektdynamik im Rahmen der Auktion auch sicher nicht um neurotische Symptome gehandelt hat, so ist der Zusammenhang von Eindrucksdichte und -schnelligkeit zum einen und (infolge der ökonomisch folgenreichen Involviertheit der Bieter in den Ablauf der Auktion) einer daraus resultierenden Spannung zum anderen doch evident. Der Hinweis, dass die Einkäufer von einem über die Ränge des Auktionssaales fliegenden Schmetterling keine Notiz genommen zu haben scheinen, mag zudem darauf hindeuten, dass ihre Aufmerksamkeit so nachhaltig durch die Auktion gebunden war, dass sie keine Spielräume für eine bewusste, wenn auch nur beiläufige Wahrnehmung von Nebenereignissen mehr hatten. Das Beispiel des Pfeifens und spontanen Rufens illustriert schließlich, dass sich das emotionale Gewicht eines Ereignisses im situativen Erleben nicht auf einer quantitativen Skala darstellen lässt, sondern ganz auf die Bedeutungs- und Relevanz-Kriterien eines Individuums (zum Beispiel zwischen ekstatisch und gewöhnlich) bezogen ist. Während die Abläufe der Auktion einen einheitlichen Handlungsrahmen für alle Teilnehmer der Versteigerung abgesteckt haben, hat sich die persönliche Situation individueller Teilnehmer schon darin unterschieden, dass einige Händler ökonomisch folgenreiche Geschäfte abgewickelt hatten, während andere eher mit marginalen Käufen beschäftigt waren. Weil die Einkäufer auf emotional je besondere Weise in das Auktionsgeschehen verwickelt waren, liegt es auf der Hand, dass die Pegel der Nervosität und Aufgeregtheit deshalb auch höchst unterschiedlich gewesen sein müssen. Zudem sind persönliche Resonanzen auf stressreiche Situationen von der nervlichen Robustheit abhängig, die den Rahmen für eine mehr oder weniger sensible (eher auf- oder eher abgeregte) Reaktion auf scheinbar gleiche umweltliche Einflüsse absteckt. Letztlich bleiben der phänomenologischen Reflexion die tieferen, in der persönlichen Situation eines Individuums liegenden Gründe für ein bestimmtes Verhalten verschlossen. Dies betrifft auch die Frage, ob die sichtbaren und spürbaren Unruhe-Äußerungen im Raum (im Sinne von Sigmund Freud) als »Affektentbindung« oder als »zentrifugale Aussonderung motorischer Impulse« 113 verstanden werden können. Aus der Perspektive des Raumerlebens bleibt im Blick auf das konkrete Erleben eines Individuums auch unklar, ob das Pfeifen und Rufen einiger Bieter den Aufbau oder den Abbau 113

Freud zit. bei Zepf, ebd., S. 153.

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von Spannungen angezeigt hat. In phänomenologischer Sicht soll es im Sinne eines tieferen Verstehens der persönlichen Involviertheit der Auktionsteilnehmer allein auf die gestische Explikation spannungsspezifischer Gefühle ankommen und nicht auf die Erklärung von Motiven eines gleichsam dahinter stehenden Tuns oder gar Handelns. In der Schärfung phänomenologischer Aufmerksamkeiten und erkenntnistheoretischer Orientierungen hilft indes die Neurosenlehre wie insgesamt die Psychoanalyse. Wenn das befindliche Erleben einer Situation auch individuell gerahmt ist, so beweist doch die Fähigkeit zur Empathie, zu der Menschen fähig sind, dass es diesseits der Introspektion in die höchst individuelle Erlebnis- und Affektdynamik einer Person prinzipiell eine Brücke zum Verstehen anderer Menschen gibt. So wird man aus dem Ausdruck bestimmter Befindlichkeiten auf Bedeutungen schließen können, die solchem Ausdrucksverhalten zugrunde liegen, ohne damit zugleich schon präzisieren zu müssen, worin das darin gründende Erleben individualpsychologisch fußt, denn: »Einsam bleibt jeder Mensch durch seine Subjektivität, indem die subjektiven Tatsachen, wodurch etwas ihn angeht oder ihm nahe geht, nur für ihn bei Gelegenheit seines Selbstbewußtseins bestimmt und daher nur durch ihn beschreibbar ist.« 114

Bestimmte Formen leiblicher Befindlichkeiten (wie Nervosität und Unruhe) äußern sich in ähnlichen Bewegungs- und Artikulationsmustern, die sich körperlich in motorischer oder gestischer Unruhe entladen, wie dies in der Mikrologie notiert wurde. Es gibt also einen direkten Zusammenhang zwischen körperlicher (z. B. muskulärer) Spannung und dem wahrnehmbaren leiblichen Ausdruck nervöser Angespanntheit: »Eine Verwandtschaft zwischen der leiblichen und der rein körperlichen Spannung ist nämlich unbestreitbar; vielleicht gehört Spannung sogar zu den Qualitäten, die, wie Temperatur […], sowohl am eigenen Leibe gespürt als auch durch Betasten des reinen Körpers festgestellt werden können.« 115

In der Psychoanalyse, die ihrerseits das Problem mangelnder empirischer Belegbarkeit eigener Thesen schwer aus der Welt schaffen kann, drängt sich die Frage auf, in welcher Weise hier eine gewisse

114 115

Schmitz, Band V, S. 163. Schmitz, Band II, Teil 1, S. 92.

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»Erregungs«-Quantität in der Analyse eines Spannungsaufbaus Aufmerksamkeit verdient. Aber auch dann, wenn man leibliche Spannung nach einem quantitativen Erlebnis-»Gewicht« beurteilen wollte, wäre auch dieses in seiner Bedeutsamkeit letztlich wieder mit der Qualität eines dazugehörigen Eindruckserlebens verbunden. In diesem Sinne ließe sich eine leiblich spürbare (Körper-)Spannung als Einflussmacht begreifen, die in bewertungsrelevanten Bedeutungen gründen würde.

3.3 Resümee Die in diesem Kapitel vorgestellten und phänomenologisch reflektierten dichten Beschreibungen des Erlebens zweier Blumenmärkte lassen eine Reihe von Merkmalen erkennen, die sich deutlich von dem unterscheiden, was in einem üblichen Blumengeschäft des Einzelhandels eindrücklich wird. Blumengroßmärkte sind in Gänze andere Welten als die eher kleinen Ladengeschäfte, wie sie in Wohnquartieren, in der Innenstadt oder am Bahnhof angetroffen werden können. Prinzipiell sind zwar alle Orte des Blumenhandles als »Märkte« in einem ökonomischen Sinne aufzufassen; aber dieses Verständnis findet sein lebensweltlich vertrautes Maß doch im Format der Ladengeschäfte des Einzelhandels. Die beiden hier vorgestellten Beispiele thematisieren im Unterschied dazu spezielle Märkte, die schon in ihrer Größe und Organisation mit diesen nicht verglichen werden können. Sowohl der Frankfurter Blumengroßmarkt als auch das international agierende niederländische Unternehmen Royal FloraHolland beliefern den Einzelhandel und heben sich schon darin von jedem gewöhnlichen Ladengeschäft ab, dass sie sich nicht an die Endkunden mit ihren oft emotionalisierten Beziehungen zu floristischen Erzeugnissen wenden. Diese Differenzierung bedürfte jedoch keiner phänomenologischen Reflexion, ergibt sie sich doch schon aus einem ganz und gar unspezifischen ökonomischen Grundwissen um die Organisation von Märkten in unserer Zeit. Von phänomenologischem Interesse sind dagegen die sich mit diesen speziellen Markt-Situationen verbindenden atmosphärischen Raum- und Umgebungsqualitäten. Das auf beiden Blumenmärkten stattfindende Geschehen folgt in einer gewissen Variation (je nach der Besonderheit des jeweiligen Marktes) technologischen, logistischen und architektonischen Rah302 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Resümee

menbedingungen. Es ist durch eine große Nähe zum professionellen Blumenhändler bestimmt und damit zugleich durch eine Ferne zum sogenannten Endverbraucher. Damit sind spezifische (unter anderem ästhetische) Beziehungen zum Gegenstand des Handels verbunden. Die gesamte Organisation und Ordnung beider Märkte setzt ein fachlich-professionelles Verhältnis zu floristischen Produkten voraus. Die emotionalisierte Aufmerksamkeit, die Blumen als ästhetische Objekte im Allgemeinen finden, ist auf Fachmärkten zwar nicht aufgehoben, aber in standardisierte »Raster« der Wahrnehmung integriert. Das heißt nicht, dass ästhetische Eigenschaften in der Wahrnehmung und ökonomischen Bewertung von Blumen und Pflanzen ohne Bedeutung wären. Aber sie bleiben auf Distanz, werden als (objektivierbare) Qualitätsmerkmale registriert und nicht in Gefühlen der Betroffenheit vom Schein des Schönen erlebt. Es ist für die Organisationsstruktur einer Auktion zum Beispiel charakteristisch, dass objektivierbare Wareneigenschaften über kaufrelevante Detailinformationen operationalisiert werden, zum Beispiel über die Definition minimaler Stiellängen, Farben und Größen der Blüten, Gewicht einer Schnittblume, Reifestadium, Anzahl der Blütenknospen pro Stängel usw. Der Händler muss in einer gewissen Übersetzung dieser Produktionsmerkmale auf das Affizierungspotential der angebotenen Waren schließen. Erst dann kann er realistische Preiserwartung einschätzen. Deshalb haben sich die Kunden sowohl in den Hallen des Blumengroßmarktes als auch auf den Rängen der Blumenauktion so sachlich und fachlich zu den Gegenständen des Kommerzes verhalten. Wenn dennoch im Ablaufgeschehen der Auktion affektgeladene Äußerungen zu beobachten waren, so dürften sich diese als stimmungsmäßige Resonanzen eher auf ökonomische Entscheidungen bezogen haben (gute oder entgangene Geschäfte) und sicher nicht Spiegel affektiver Ergriffenheit von der Aura des Naturschönen gewesen sein. Ein Händler weiß, dass er von dem abstrahieren muss, worauf es beim Kauf von Blumen durch den Endkunden eigentlich ankommt. Aus dieser strukturellen Situation der Einklammerung der ästhetischen Beziehungen zu einer Ware, die letztlich ökonomisch von tragender Bedeutung ist, resultiert ein (marktspezifisch) programmatischer Handlungsrahmen, der sich in der Gestalt quasiritualisierter Prozeduren ebenso zur Geltung bringt wie im Gesicht architektonischer Räume des Handels. Deshalb kann das räumliche Umfeld der Märkte in seiner Ausstattung auf logistische, technische 303 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur Atmosphäre von Blumenmärkten

und sonstige prozedurale Erfordernisse beschränkt sein und muss keine Rücksicht auf ästhetische Belange einer affizierenden Präsentation von Blumen nehmen. Die Blumen, wie die zum Verkauf stehenden Pflanzen und Deko-Artikel, sind als Waren präsent und nicht als ästhetische Gegenstände. So stehen diese fern der Endkunden des Einzelhandels stattfindenden Märkte auch in einer bemerkenswerten Spannung: zwischen einer geradezu technischen und nüchternen Inszenierung der Waren und einer sich a priori mit ihnen verbindenden, emotional aber auf Distanz bleibenden Ästhetik. Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich in den Hallen des Blumengroßmarktes auf andere Weise als im niederländischen Auktionshandel. Beide Orte sind jedoch Programm-Räume professioneller Einkäufer, deren ästhetische Beziehung zu den gehandelten Waren eine abstrakte und mittelbare ist. Sie können und müssen der Warentauglichkeit von Blumen und Pflanzen wegen vom persönlichen Schönheits- sowie Symbolempfinden abstrahieren, um die Angebote als Waren schnell, effizient und »nüchtern« in den Blick nehmen zu können. Der organisatorische Rahmen des Groß- und Auktionshandels lenkt die professionelle Aufmerksamkeit; die Fokussierung der Wahrnehmung auf eine sachliche Beziehung zum Gegenstand hat aber nicht zur Folge, dass dessen ästhetische Eigenschaften irrelevant werden. Deren professionelle Wahrnehmung ist durch die technisch-organisatorischen Markt-Strukturen überdeckt, nicht aber aufgehoben. Vorrang hat in der Situation des schnellen Handels nicht die Mimesis ans Schöne, sondern die effiziente, das heißt logistisch wie kaufmännisch möglichst reibungslose Abwicklung von Käufen. Der Händler konzentriert sich auf Wareneigenschaften, ohne sich in deren (ästhetischer) Bewertung von den unverstellt vorscheinenden Technostrukturen der Räume eines Marktes ablenken zu lassen. So stellt sich an den Orten des Groß- und Auktionshandels auch das Verhältnis von Oberflächen- und Tiefenästhetisierung in ganz anderer Weise dar als in den Ladengeschäften des Einzelhandels, wo Blumen schon im Moment ihrer Präsentation in einem symbolischen Rahmen stehen, aus dem heraus sie beeindrucken soll. Deshalb werden sie im engeren Sinne auch nicht allein ihrer naturgegebenen Aura wegen erworben, sondern mindestens zugleich als Blume für eine bestimmte Person oder Situation (zum Beispiel einer Feier) und damit als Medium zur Herstellung oder Beeinflussung sozialer Beziehungen. Die fehlende Oberflächeninszenierung der Räume des Groß304 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Resümee

marktes sowie des Auktionssaales entspricht ganz der Rationalität, nach der die Händler ihre Einkaufsentscheidungen treffen. Als Folge der marktspezifischen Anforderungen an den schnellen und umstandslosen Ablauf des Handels auf Blumengroßmärkten wie Blumenauktionen konstituieren sich ästhetisch spannungsreiche, sonderweltliche Atmosphären. Die allein auf die Zwecke des Handels orientierte Form der Präsentation von Blumen streicht deren WarenCharakter heraus. Die Option des Gefühls-Versprechens, das sich immer mit dem schönen Schein floristischer Arrangements verbindet, rückt im Milieu der nüchternen Zweckmäßigkeit der Räume in einen fernen Hintergrund, ohne als atmosphärische Essenz der Ware zu verschwinden. Wenn die Orte des professionellen Blumenhandels auf den ersten Blick auch als Heterotopien 116 erscheinen mögen, so erweisen sie sich bei genauerer Betrachtung als Anti-Heterotopien, in deren Binnenraum die Dinge in einer Welt der Ökonomie gleichsam »nackt« zur Erscheinung kommen, ohne jede mythische Einfassung. Damit scheinen schließlich scharfe wie facettenreiche Kontraste im Mensch-Natur-Metabolismus vor, erweisen sich doch gerade Schnittblumen in ihrer marktgerechten Ästhetik als Ausdruck einer standardisierten Formatierung »an sich« (bzw. allein theoretisch) frei wachsender Vegetationsarten nach technischen wie kulturindustriellen Normen. Wo Natur-Dinge zu Waren werden, gerät mit deren Aura auch ihr eigenartiger sinnlicher Charakter in einen Hintergrund aktuellen Erlebens. Der sich allein auf ökonomische Maximen konzentrierende schnelle Handel impliziert eine gewisse Anästhesie der Sinnlichkeit des Naturschönen. Was in der Natur von sich aus ist, verschwindet im Rahmen des Handels in Gesichtern geldwerter Gegenstände. Ein plötzlich in den Auktionssaal hereinfliegender Schmetterling, der wie die Vogelspinne mit den Bananen über die kontinentalen Grenzen gekommen ist, spitzt die ästhetische Spannung im Blumenhandel zur strukturellen Spaltung im MenschNatur-Verhältnis zu.

116 Heterotopien sind Orte, die in gewisser Weise (wie Geschwüre, Tumore, Geschwulste etc.) am falschen Platz sind; vgl. auch Foucault, Die Heterotopien sowie S. 496.

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4. Fischmärkte

Das folgende Kapitel besteht aus drei Mikrologien, die dem Erleben von Märkten nachgehen. In ihren Bewegungs- und Ereignismustern werden nicht Wochen-, Trödel- oder Weihnachtsmärkte beschrieben, die sich an innerstädtischen Orten in besonderer Lebendigkeit und Dynamik mitunter geradezu ekstatisch entfalten, sondern – ähnlich wie im vorangehenden Kapitel über die Blumenmärkte – die dem Einzelhandel gleichsam vorgeschalteten Handelsplätze. Bei den speziellen Fisch-Märkten dieses Kapitels geht es nicht um Märkte, auf denen Endverbraucher einkaufen, und auch nicht um jene Großmärkte, auf denen unter anderem Restaurantbesitzer eher größere als kleinere Mengen Fisch einkaufen. Die im Folgenden thematisierten Orte der Fischereiwirtschaft sind in aller Regel dem Großhandel vorgeschaltete Märkte. Die drei Mikrologien lassen sich nur bedingt vergleichen. Sie konkretisieren das Treiben in je eigenen fischerwirtschaftlichen Situationsräumen. Das folgende Kapitel 4.1 widmet sich dem Erleben des niederländischen Fischereihafens Lauwersoog, in dem zur Zeit der dichten Beschreibung keine Aktivitäten stattfanden. Es gab keine Versteigerung und es wurden keine Kutter entladen. Im Eindruck eines gleichsam »eingeschlafenen« Hafenbetriebes drängte sich in der Gegend der Kaianlagen zwischen den Lager- und Auktionsgebäuden eine atmosphärisch mächtige Leere auf. Die Beobachtungen sind jedoch gerade auf dem Hintergrund der spürbaren Ferne der alltäglich üblichen Vitalität eines Seehafens aufschlussreich. Die Spuren des Rückzugs hafenwirtschaftlicher Routineabläufe vermittelten – zwischen Ruhe und Stille – ein ganz charakteristisches Raumgefühl. In der Perspektive des »Mangels« konkretisieren sich Bildsegmente einer Lebendigkeit, die im Gesicht von Dingen, Orten und Bauten gleichsam erstarrt sind. Solche Atmosphären haben indes nichts mit Abgestorbenem gemeinsam, das vom Tod oder von Totem künden würde. In ihnen ist vielmehr auf verdeckte Weise etwas höchst leben-

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Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen

dig – so wie im Schlaf das Leben weitergeht, nur eben in einer Phase der Latenz. Das zweite Kapitel (4.2) behandelt die am Nachmittag und Abend in einem Seehafen stattfindenden Arbeiten der Entladung und Einlagerung der Fänge, die Hochseetrawler unterschiedlicher Nationalität in einem der größten dänischen Fischereihäfen (Hanstholm) angelandet haben. Die Aktivitäten standen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer großen Fischauktion des folgenden Tages. Das dritte Kapitel (4.3) widmet sich sodann ganz dieser Auktion, die in den frühen Morgenstunden in den Hanstholmer Kühlhallen der Hafenverwaltung begann und bereits gegen 9 Uhr abgeschlossen war. Alle Unterkapitel liefern eine facettenreiche Illustration zur Erlebniswirklichkeit von Nordsee-Fischereihäfen.

4.1 Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen (Lauwersoog, Niederlande) Die folgende Mikrologie gibt die Eindrücke eines Aufenthalts in einem Fischereihafen wieder. Auf dessen Gelände hat jedoch kein Fischmarkt stattgefunden. Alle hafenwirtschaftlichen Aktivitäten schienen wie abgestorben. Zwar wirbt der niederländische Küstenort Lauwersoog mit einem an jedem Samstag zwischen 10 und 13 Uhr stattfindenden Fischmarkt; tatsächlich erwies sich dieser Fisch»Markt« aber als ein kleines Ladenlokal eines Einzelhändlers, der neben zahlreichen Betrieben der Fischerei- und Hafenwirtschaft in Lauwersoog ansässig ist. Fischanlandungen und Auktionen finden werktags am frühen Morgen statt. An Samstagen liegt der Fischereihafen weitgehend brach. Im Übrigen dürfte die Hafenverwaltung daran interessiert sein, die Aufmerksamkeit des Tourismus gar nicht erst auf diesen national und international bedeutenden Garnelenumschlagsplatz zu lenken, weil »Schaulustige« zwangsläufig die routinierten und schnellen Prozesse der Hafenlogistik stören müssten. 1 Vielleicht sind auch deshalb die Internetseiten der Hafenverwaltung von Lauwersoog nur in niederländischer Sprache verfasst, sodass zumindest

Täglich verkehrt mehrmals eine Personen- und Autofähre zur Insel Schiermonnigkoog; vgl. Haven Lauwersoog (Hg.): Haven Lauwersoog / Haven algemeen; http:// www.havenlauwersoog.nl; 06. 08. 2016.

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Fischmärkte

die mit den Touristenströmen aus Deutschland kommenden Reisenden vom täglich im Fischereihafen stattfindenden Treiben nicht viel erfahren dürften. Lauwersoog gehört zur Gemeinde De Marne. Der Ort liegt an der Grenze der beiden niederländischen Provinzen Groningen und Friesland. Siedlung und Hafen sind erst nach der 1969 abgeschlossenen Eindeichung der Lauwerszee entstanden. Lauwersoog ist der größte niederländische Seehafen und Umschlagsplatz für Garnelen; er wurde 1985 erweitert und bietet Platz für rund 150 Fangschiffe. Aufgrund seiner Lagegunst am Wattenmeer ist der hier stattfindende Handel von internationaler Bedeutung. In Lauwersoog finden regelmäßig Fischauktionen statt; mit dem Abschluss der Lauwerszee verloren die bis dahin in Zoutkamp und Dokkumer Nieuwe Zijlen erfolgten Anlandungen und Auktionen ihre Bedeutung. Seit 1973 findet der Umschlag der Fischereierträge allein in Lauwersoog statt. Deshalb befinden sich auch die Großhandelsbetriebe mit ihren eigenen Kühlund Lagerräumen in der Nähe der Kaianlagen. Daneben gibt es die typischen maritimen Anbieter von Dienstleistungen sowie diversifizierte Fachgeschäfte für den Schiffsbedarf. In einem Schwimmdock können Wartungsarbeiten an Fangschiffen durchgeführt werden. Die folgenden Beschreibungen reflektieren die Situation eines »ausgestorbenen« Fischereihafens. 2 In der Situation der Abwesenheit der üblichen Hafenwirtschaft konstituierte sich – gewissermaßen aus der Perspektive eines Negativs – dennoch etwas für einen Fischereihafen Charakteristisches. Der samstags angeblich stattfindende Fischmarkt ist kein großer Markt, sondern ein Fischladen auf dem Gelände des Fischereihafens. Ein paar Kilo Fische sind zur Kundenpräsentation auf Edelstahlblechen nebeneinander angeordnet und locker mit Eis bepackt. Sie liegen aber nicht da wie an den Ständen der Fischhändler auf einem Wochenmarkt, sie sind vielmehr in großen flachen Metallbecken dekorativ inszeniert, ja geradezu drapiert. Die Fischhändler auf den Wochenmärkten bieten ihre Waren umstandsloser an. Das Arrangement wirkt in diesem über-hygienisierten Verkaufsraum artifiziell und geradezu aseptisch (s. Abb. 4.1). Der Fisch sieht »hübsch« und appetitlich aus. An diesem inselhaften Ort – inmitten einer maschinistischen

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Ort und Zeit der Beschreibung: Samstag, 06. 08. 2016, 10 bis 12:30 h.

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Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen

Abb. 4.1: Fischladen De Groene Vis im Fischereihafen von Lawuersoog

Fisch-Aneignungs-Industrie – zeigt sich das kulinarische wie ästhetisierte Gesicht einer globalen Fischwirtschaft. Zugleich wird darin eine Falte im Gesicht postmoderner Konsumkulturen sichtbar, die auf Oberflächen, Etiketten und Verhübschungen fixiert sind. Auf alle nur erdenkliche Weise werden die Seiten dessen schön gemacht, was dem nüchternen Anblick, klaren Verstand wie empathischen Gefühl verborgen bleiben soll. Das Ladenlokal des Fischhändlers befindet sich zwischen typischen Anbietern maritimer Dienstleistungen im Gebäude eines Großhändlers der Fischereiwirtschaft (s. Abb. 4.2). Der Fischereihafen liegt derweil leblos da (s. Abb. 4.3). Er erstreckt sich über eine Länge mehrerer hundert Meter. Auf einer weitgehend leeren, gepflasterten Fläche liegen neben Holz-Paletten, riesigen Baumkurren-Gestängen, Haufen schwerer Auftriebskugeln und Gummirollen zur Beschwerung der Grundleinen viele andere Utensilien aus der Fischereitechnik herum. Ob das Zeug zwischengelagert ist oder (vielleicht zum Teil) für die Entsorgung bereitliegt, bleibt ungewiss. Unüberschaubar viele Kutter und Trawler sind an den schwimmenden Piers festgemacht, etliche liegen an der Kaimauer. Insgesamt scheinen es um die hundert zu sein – die meisten sind mittlere bis größere, moderne Garnelen-Kutter (s. Abb. 4.4). Es finden keine hafenlogistischen Aktivitäten statt. Das Hafen309 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Abb. 4.2: Das Ladengeschäft im Hafengebiet

Abb. 4.3: Lager- und Auktionshallen

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Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen

Abb. 4.4: Fischkutter im Seehafen von Lauwersoog

gelände ist trist und leer; es wirkt beinahe tot. Nur gelegentlich gehen ein paar Touristen über die Freifläche, vielleicht in der Erwartung, etwas von dem zu sehen, was man sich in einem Fischereihafen zu sehen wünscht – Fisch oder irgendwelches Seegetier. Das Gelände unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von einer x-beliebigen Gewerbefläche. Dass sich hier alles um Fisch dreht, ist wegen der Vielzahl der festgemachten Kutter dennoch offensichtlich. Auch an den Fassaden-Aufschriften der Lagerhäuser, Großhändler und Gebäude sonstiger maritimer Firmen wie an herumstehenden Fischkühlwagen ist das leicht zu erkennen (s. Abb. 4.5 und 4.6). Schließlich stehen zahllose, meist ineinander und übereinander gestapelte Transportkisten aus Plastik herum, die wahrscheinlich der Lagerung und dem Transport von Garnelen gedient haben und sicher bald wieder diesem Zweck dienen werden – in Gelb, Blau, Weiß, Rot, Grau und anderen Farben, neu und glänzend, alt und abgeschabt, angeschlagen, eingerissen, zerschlissen. Die direkt an der Kaimauer liegenden Kutter lassen keinen Zweifel daran, dass dies ein Fischereihafen ist, wenn auch einer, der in eine Art Schlaf versunken zu sein scheint. Die Temperatur ist lau und der Wind weht schwach. Die Fahnen, die auf einigen Betriebsgebäuden wehen, bewegen sich gerade einmal so stark, dass man die Werbeaufschriften lesen kann. Eine alte zwei311 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Abb. 4.5: Ein ausgestorben wirkender Fischereihafen

Abb. 4.6: Die raue Atmosphäre eines Fischereihafens

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Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen

Abb. 4.7: Verwaister Hafenbetrieb

blättrige Lagerwey 3-Windkraftanlage dreht sich so schnell wie immer, solange es nur etwas windig ist (s. Abb. 4.7). Sie macht ein beinahe 3 Lagerwey ist ein niederländischer Hersteller von Windkraftanlagen. In den 1980er Jahren war er mit technisch einfachen, zweiblättrigen Anlagen Pionier auf dem Markt

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gleichmäßiges, schleifendes Geräusch. Der Himmel ist stark bewölkt. Auch die umherfliegenden Silbermöwen geben zu erkennen, dass dies ein Platz am Meer ist. Wenn Silbermöwen auch einen ubiquitären Charakter haben, so klingt ihr Schreien im Himmel über einem Seehafen doch anders als über einer Müllkippe. Wiederholt kreuzen Touristen zu Fuß, mit dem Pkw oder dem Fahrrad samt Kinderanhänger den weithin freien Platz zwischen den Kaianlagen und den gegenüberliegenden Hafengebäuden. Es ist bemerkenswert, dass es an diesem Ort der Fischerei nicht nach Fisch riecht. Dagegen wehen immer wieder Schwaden von Dieselgeruch vorüber, ebenso gerade einmal geruchlich wahrnehmbare Spuren von Maschinenöl und undefinierbaren Rückständen, die von Hydraulik-Anlagen heruntergetropft sind, sich mit dem Bodenstaub vermischt haben oder in die Unkrautritzen zwischen den Pflastersteinen eingesickert sind. Solche Gerüche gibt es eigentlich auf jeder Gewerbefläche, auf der schwere Fahrzeuge und Maschinen betrieben werden. Hafentypisch sind sie eher nicht. Immer wieder fahren Personenwagen und Wohnmobile mit Touristen langsam vorüber – es sind Leute, die nach »Sehenswürdigkeiten« im engeren Sinne des Wortes Ausschau halten und sich vielleicht vor der Abfahrt der Fähre ihre Zeit auf diese Weise vertreiben wollen. Eigentlich ist nichts zu sehen. Das Bedürfnis, über das Hafengelände zu fahren, scheint in der Hoffnung zu gründen, etwas zu begegnen, das typisch ist für einen Fischereihafen. Aber diese Erwartung wird nur sehr bedingt erfüllt; im engeren Sinne sind es nur die Schiffe, die sich ins klischeehafte Bild maritimer Atmosphären einfügen. Eher selten gehen Männer in Overalls oder sonstiger Arbeitskleidung vorüber; man sieht, dass sie keine Touristen sind; sie verschwinden schnell in irgendwelchen Schuppen, Gebäudeeingängen, seitlichen Werkstätten oder Garagen. Im offenen Eingangsbereich zur Verladeeinrichtung eines Fischgroßhändlers sind zahlreiche leere Transport- und Lagerkisten übereinandergestapelt (s. Abb. 4.8). Sonst ist der Raum leer. Hinter einem großen Hallentor ist es absolut ruhig – kein Mensch weit und breit, kein Geräusch, von was auch immer. In der menschenleeren Umgebung ist dies eine Ruhe, die sich im regelmäßig schnellen Rhythmus des deutlich hörbaren Schleifens der Windkraftanlage fast zur Stille der Windenergieanlagen. Heute baut auch dieser Hersteller nur noch große dreiblättrige Anlagen.

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Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen

Abb. 4.8: Triste Leere vor den Lagerhallen

steigert. – Plötzlich riecht es intensiv nach Fisch, obwohl alles saubergespritzt zu sein scheint und keine Fisch- oder Garnelen-Reste von einer Verladeaktion liegen geblieben sind. Nicht ein Fisch ist zu sehen. Wenn nicht die wenigen Menschen gleichsam streunend über den Platz gehen und etliche Autos darüber fahren würden, müsste der Raum gänzlich verlassen erscheinen. Allerdings macht ihn auch die Anwesenheit von x-beliebigen Menschen noch nicht zu einem lebendigen Raum, eher eine merkwürdig sedierende Be-lebung, die der Gegend eines Fischereihafens eigentlich fremd ist; wie ein fahles Gefühl »meldet sich« eine quasi-lebendige Atmosphäre. Eine Möwe schreit in sie hinein – ohne jeden Nachhall, wie abgehackt. Für einen kurzen Moment behauptet sich die öde Leere und Stille eines Raumes, der üblicherweise schon in den frühen Stunden der Wochentage ein Ort turbulenten Treibens sein muss. Und wieder weht eine Böe von Fischgeruch vorüber – gleichsam aus dem Nichts kommend und sogleich auch wieder darin verschwindend. Noch verlorener als die umherstehenden leeren Kisten, die erst wieder nach der Anlandung der nächsten Fänge benutzt werden, liegen zwei Tonnen schwer wirkende Knäuel ineinander verwickelter und unentwirrbar erscheinender kaputter Fangnetze auf dem Pflaster. Doch das Gewirr vermittelt eine ganz unerwartete Begegnung mit 315 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 4.9: Abgelegte Netzabfälle

einigem (allerdings totem) Seegetier: abgebrochene Krebsscheren, der Panzer einer großen Krabbe mit ein paar übrig gebliebenen Beinen – das alles hat sich in einen kompakten Haufen von Netzabfällen verwickelt (s. Abb. 4.9). Die atmosphärisch so gesättigte aktuelle Situation des Platzes spiegelt sich in diesem Eindruck trefflich wider. Das Tote starrt wie eine stumme Anklage in ein Nichts der Ruhe, Leere, Öde – in einen trostlosen Ort, an dem alles zum Stillstand gekommen zu sein scheint. Das vom lebenden Tier Übriggebliebene, das hinter stramm gezogenen Fäden, Seilen und Bändern eingeklemmt ist, ist atmosphärisch in immersiver Weise gegenwärtig – gleich einer beredten Geste. In die menetekelhafte Atmosphäre stimmen sich andere herumliegende Dinge ein: die von einigen Fischern – vielleicht zur Reparatur – auf dem Platz abgestellten riesig wirkenden eisernen Kurrengeschirre sowie stählerne und Tonnen schwere Scher-»Bretter« von Grundschleppnetzen. Das Tote an diesem Ort (nur Reste und Abfälle) ist nur eine Falte im Gesicht einer modernen Fischereitechnik, die der Utopie nachhaltiger Fischerei zum Zerrbild gerät. – In den Auslagen des Fischladens waren die Fische noch »hübsch gemacht« und dem Blick in einer gefälligen Weise präsentiert. Die leere Stille dieser mikro-räumlich-lokalen Atmosphäre des Morbiden und alles Erdrückenden wird lautlich durch das Rauschen 316 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen

Abb. 4.10: Rückseite des Auktionsgebäudes mit Kühlaggregaten

von Kühlgeräten umfasst, die an der fensterlosen Rückseite der Halle des zentralen Lager- und Versteigerungsgebäudes auf Eisengestellen zu einer Reihe verbunden sind (s. Abb. 4.10). Vielleicht ist es nur diese ganz spezielle Ordnung der Dinge auf kleinem Raum, in der das imaginäre Bild einer Fischindustrie aufblitzt, deren Gigantismus keinen Zweifel an ihrem monströs-maschinistischen Charakter lässt. Die Lautstärke der drehenden Propeller in den Kühlgeräten ist ungleichmäßig. Die technische Form rhythmischer Pseudo-Lebendigkeit kontrastiert im Milieu dieser atmosphärisch-mikrologischen Insel inmitten des nun noch riesiger wirkenden Geländes das Bild des aus den Netzabfällen gleichsam herausstarrenden sinnlosen wie vielsagen Todes von »nutzlosem« Krabbengetier sowie fragmentarisch erkennbaren Resten davon.

Die Mikrologie unterscheidet sich vor allem dadurch von der zum Erleben eines turbulenten Wochenmarktes (s. Kapitel 2), dass sich die Beobachtungen nicht durch eine unübersichtliche Fülle von Ereignissen und Eindrücken gleichsam hindurcharbeiten müssen, um sich aus einer akuten Not der Explikation heraus einen Weg erst zäh zu bahnen. Die Situation ist vielmehr gegenteilig disponiert – der Raum 317 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

dieses Nordsee-Fischereihafens beeindruckt durch eine atmosphärisch mächtige Leere, durch ein Nichts, dessen verborgene Fülle an Bedeutungen und hinweisenden Zeichen erst Zug um Zug freigelegt werden muss. Der Wahrnehmung und Beobachtung drängt sich nichts auf, das gerade geschieht; die Beobachtung verliert sich vielmehr in ein vermeintliches Nichts, hinter dessen Gesicht in einem Meer des Unauffälligen, Infra-Gewöhnlichen und Abwesenden eine essentiell vielfältige und mannigfaltige Realität und Wirklichkeit erst freigelegt werden muss.

4.1.1 Erwartungen Wer sich in eine Situation begibt oder auch nur in sie »hineingerät« wie in ein Wetter, verlässt sich – zumindest zunächst – auf Erwartungen. Sie lenken die Orientierung und schaffen die imaginierte Ordnung eines Bevorstehenden, in der dem noch gar nicht Eingetretenen ein Platz schon zugewiesen ist. Keine bevorstehende Situation geht aber in Gänze in der Ordnung eines Erwarteten auf. Zur Erwartung gehört die Erwartung des Unerwarteten. Nur so kann es überhaupt zu Begegnungen im engeren Sinne kommen (s. auch Kapitel 4.1.7). Erwartungen sind Ausdruck existierender Bilder lebensweltlicher Orientierung 4, die sich bestenfalls mit dem mehr oder weniger »genauen« Eintritt des Vorhergesehenen bestätigen. Ohne Erwartungen gäbe es im Ding- und Situationsverstehen keine Sicherheit stiftende Orientierung. So haben sie im Prozess der Wahrnehmung auch eine gewisse Macht. Wer nichts erwartet, steht (für den Fall der dauerhaften Erwartungslosigkeit) im offenen Feld des Fremden und muss gegen lähmende Zustände zwischen Vertrautheit und Unsicherheit ankämpfen. Das Fremde – die Gegend eines unbekannten Hafens zum Beispiel – gibt sich oft erst Zug um Zug zu verstehen. Einem Hermann Schmitz spricht von »entfalteter Gegenwart«, wenn Sachverhalte der Vereinzelung zugänglich sind, »weil sich nun etwas einzeln vom Dasein als dem Hintergrund abzuheben vermag«; Schmitz, Band IV, S. 13. Was mit dem Begriff der »Entfaltung« (im Gegensatz zu dem der primitiven Gegenwart) angesprochen wird, betrifft das zur Differenzierung fähige Bewusstsein. Im Unterschied dazu schnurren im Zustand primitiver Gegenwart diese entfalteten Orientierungsbezüge gewissermaßen zusammen, sodass nur noch Betroffenheit (etwa des Schrecks oder der Angst) in der Form leiblicher Engung empfunden werden kann, die Bezugspunkte der Orientierung in einer umgebenden Welt also (zunächst) aufgehoben sind.

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Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen

solchen schrittweisen Hineingeraten in eine Gegend entsprach das in der Mikrologie beschriebene Umgebungserleben im Raum des Fischereihafens von Lauwersoog. Sein aktueller Charakter hatte sich nicht mit einem Schlage in eindeutiger Weise gezeigt; zudem entsprach er nicht dem Bild eines lebendig erwarteten Fischereihafens. Durch das momentane Leerlaufen von Erwartungen musste sich das Verstehen gleichsam Schritt für Schritt an das aktuelle Erscheinen des Raumes erst annähern. Zug um Zug wurde die Macht der Erwartung eines bestimmten Bildes schwächer, zugunsten der Öffnung gegenüber einem noch Unvertrautem und Neuem. Bestätigte wie enttäuschte oder leerlaufende Erwartungen bestehen aus Vielem, was ganzheitlich auf eine komplexe Situation übertragen wird. Das Erwartungsbild eines lebendigen Fischereihafens dürfte in diesem Sinne aus zahlreichen hafentypischen Dingen, Gebäuden, Fischtrawlern, Kuttern und Utensilien der Fischerei bestehen, aber auch aus Atmosphären und Gerüchen. Es gibt Orte, die solchen Erwartungen trotz einer hohen Variation ihrer Merkmale in einer recht großen Unschärfe entsprechen; es gibt aber auch solche Orte, die sich – zumindest aus der Laienperspektive – geradezu schlagartig weitgehend erwartungsgemäß zu erkennen geben (wie ein Operationssaal oder der Klassenraum einer Schule). Wer in den Raum eines Fischereihafens gelangt, muss insofern auf eine halb-offene Situation gefasst sein, als Erwartungen in aller Regel nur bedingt erfüllt werden. Sie vermitteln nur mehr oder weniger treffende Orientierung; dennoch stimmen sie das Verhältnis ganz wesentlich mit, in dem etwas dem Eigenen Nahes (als Erwartetes) wie etwas Fremdes (als etwas in Erwartungen noch nicht Eingeordnetes) zueinander in Beziehung stehen. Indem sich Grenzen im Gebiet eines Hafens wie diesem in keiner eindeutigen Weise im Sinne eines Drinnen und Draußen der Wahrnehmung anbieten, steht die Orientierung vor zusätzlichen Herausforderungen. Wenn auch verschwommen sein mag, was genau diesen Fischereihafen in der Gemengelage all dessen ausmacht, was sich in einem situativen Erlebnisbild zeigt, so fungieren Erwartungen als Trittsteine auf dem Weg der Anbahnung eines Verstehens. Erwartungen werden von Wissensbeständen gefüllt, die sich auf selbst erworbene Erfahrungen beziehen, auf dem schwimmenden Boden des Hörensagens stehen und sich einem Wissen aus zweiter Hand 5 verdanken. Zum einen stiften Er5

Arnold Gehlen spricht von Erfahrungsverlust, der zu einer Expansion der »Erfah-

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wartungen (vermeintliche) Sicherheit, zum anderen stellen sie das Individuum auf den Grat der Unsicherheit gegenüber dem Verstehen von allem Bevorstehenden. Darin kommt ein Grundzug des menschlichen Lebens zur Geltung: die permanente Notwendigkeit, zwischen Optionen zu wählen, Probleme zu lösen und komplexe Situationen begreifend zu erschließen. So entspricht der Eintritt in einen unerwartet »leeren« Fischereihafen auch in dieser ersten Mikrologie einer gleichsam pendelnden Annäherung an ein Milieu, das sich zum einen in erwarteten Bildern zu erkennen gibt, zum anderen in der Konfrontation mit dem Unerwarteten jedoch fremd bleibt. In der Folge solcher »Unsynchronisiertheit« von Eindrücken stellt sich der Prozess der Wahrnehmung als eine »Arbeit« der Annäherung dar und damit als reibungsintensiver Weg, auf dem Fremdes in eine verstehende Beziehung zu Eigenem erst gebracht werden muss. Die erste sich nicht erfüllende Erwartung war am Beispiel der Mikrologie durch ein Wissen begründet, das vielleicht nur auf einem Missverständnis basierte und niemandem als bewusste Fehllenkung der Aufmerksamkeit angelastet werden kann. Was als Markt eines Typs erwartet wurde, wie er im Allgemeinen auf Plätzen im öffentlichen Raum oder in großen Hallen stattfindet, hatte sich als einfaches Fischgeschäft auf dem Hafengelände erwiesen. Dessen Eindruck entsprach zwar dem üblichen Bild eines Fischgeschäfts des Einzelhandels, sollte aber in der Retrospektive (am Ende einer sinnlichen Verwicklung in das Milieu des Hafengeländes) doch einen ästhetischen Kontrast bilden, der sich wiederum als Medium des kritischen Selbstgesprächs wie des Bedenkens ethischer Implikationen der menschlichen Ernährung erweisen sollte. Enttäuschte Erwartungen hatten in der spezifischen Verkettung der Eindrücke eine Begegnung mit einer Situation wie deren Denkwürdigkeit geweckt, die das Produkt einer Spannung von Erwartungen und Enttäuschungen war. Das Beispiel macht aber nicht nur auf die Dynamik der Wege der Erfahrung zweiter Hand« führe (Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 51 ff.). Er führt die Diagnose (zu seiner Zeit der 1950er Jahre) auf die systembedingte Spezialisierung nicht nur institutioneller, sondern auch lebensweltlicher Erfahrungsbereiche zurück, woraus sich die Folge eines schleichenden Kontrollverlustes über die Auswirkungen eigenen Tuns in »ereignisverdünnten Räumen« ergebe. Unter den Vorzeichen eines in alle lebensweltlichen Bereiche eindringenden Dispositivs der Digitalisierung von Handlungen wie Wahrnehmungen gewinnt diese Anmerkung aktuell an zivilisationskritischer Sprengkraft.

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Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen

rung aufmerksam, sondern ebenso auf die diese Wege eröffnende Macht der Zufalls. Auch die zweite Enttäuschung einer Erwartung gründete in einer Atmosphäre, die der oben beschriebenen sehr ähnlich war. In ihrem Kern bestanden die aufmerksamkeitslenkenden Erwartungen ja nicht allein in bestimmten hafentypischen Dingen, sondern auch in einer charakteristischen fischereiwirtschaftlichen Dynamik. Indes sollte sich der Hafenbetrieb – in einer Situation der Latenz – als eine abgestorben erscheinende Welt der Fischwirtschaft zeigen. Die Enttäuschungen in Gestalt ausbleibender Eindrücke hatte nicht zuletzt olfaktorischen Charakter, blieben doch auch die in einem Fischereihafen erwarteten Gerüche aus. Als höchst flüchtige Eindrücke weckten sie schließlich mehr Gefühle der Unsicherheit, als dass sie das atmosphärische Erlebnisbild eines Seehafens für den Umschlag von Garnelen in irgendeiner Weise bestätigt hätten. Auch die immer wieder auf der feien Fläche des Hafengeländes umherfahrenden Personenwagen und Wohnmobile mit Touristen fügten sich nur deshalb in das gleichsam sekundäre Erwartungs-Bild eines Fischereihafens ein, weil dieser schon als touristische Attraktion vorausgesetzt war. Aber auch in diesen Bewegungsmustern spiegelte sich insofern eine Enttäuschung von Erwartungen anderer Personen wider, als die Hin- und Hergehenden den Eindruck machten, mehr herumzuirren, als gefunden zu haben, was sie an »Sehenswürdigkeiten« im engeren Sinne des Wortes anzutreffen erwartet hatten. Im Sinne eines Kontrastes zeigten sich in einigen Männern, die in Overalls oder anderer Arbeitskleidung das Hafengelände überquerten, hinter Türen und Toren aber schnell wieder verschwanden, zumindest relikthafte Spuren einer hafenwirtschaftlichen Lebendigkeit. Vor allem in ihrer habituellen Präsenz fügten sie sich ins Bild einer erwarteten Hafenszene ein. Dazu gehörte eine beiläufige Form der Aufmerksamkeit, die sich vom Erscheinen umhergehender Touristen deutlich unterschieden hatte. Mit einem Habitus verbinden sich oft auch bestimmte Bewegungsrhythmen, denen eine Beziehung zum umgebenden Milieu anzusehen ist. Die gelassen und selbstverständlich wirkende Art ihrer Bewegung hatte sich deutlich vom Habitus der Touristen abgehoben, welche sich langsam gehend bis schlendernd und schauend ihrem »Herum« gegenüber interessiert zeigten. Dagegen folgten die Männer in ihren Overalls einer in gewisser Weise automatischen Bewegungsroutine; sie sahen nicht nach rechts und nicht nach links, nicht in den Himmel, nicht zu den Schiffen und ver321 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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schwanden dann plötzlich in einem Gebäudeeingang, hinter der seitlichen Tür einer Werkstatt oder in einer offenstehenden Garage. Während diese Bewegungsmuster hinter den habituellen »Gesichtern« der berufsmäßig in einen Hafen »gehörenden« Männer dem Erwartungsbild des Seehafens entsprachen, fielen die Touristen von vornherein aus diesem Bild heraus. Diese sporadischen Bewegungsbilder der Arbeiter traten wohl nur deshalb so stark in den Fokus der Aufmerksamkeit, weil sie rare Hinweise auf einen zumindest nicht in Gänze erstarrten Hafen gaben. So erinnerten sie wenigstens an die Erwartung eines virulenten Milieus. Immer dann, wenn sich Erwartungen nicht einlösen, verlangsamt sich der reibungslose Prozess der Wahrnehmung. Die Mischung von Erwartetem und Fremdem ist in der Dauer einer sich aktuell konstituierenden Erfahrung meistens ambivalent. Zum einen stört das Fremde den Kreislauf von Kennen und Wiedererkennen, zum anderen öffnet es diesen in einem höchst produktiven Sinne für die Durchbrechung der Grenzen von wahrnehmungsspezifischen Erwartungs-Passepartouts. Solange sich eine Erwartung in der sinnlichen Berührung mit einem Wirklichen erfüllt, muss nichts fragwürdig werden; alles sich Zeigende kann mit schon existierendem und geordnetem Wissen begriffen werden. Deshalb war es am Beispiel der Mikrologie gerade das Herausfallen aller Eindrücke aus dem Bild eines lebendigen Fischereihafens, das mehr Irritationen geweckt als bestehende Vorstellungen bekräftigt hat. Erwartungen lenken die Aufmerksamkeit. So »dominiert das Gewicht der Protentionen in der Wahrnehmung, indem es dieser diktiert, was an Sachen niederer Stufe überhaupt wahrgenommen wird.« 6 Das hat zum einen zur Folge, dass nur oder vor allem gesehen wird, was ins Fenster des Erwarteten passt, zum anderen aber auch, dass denkwürdig werden kann, was als Fremdes der Einbettung in vorhandene Orientierungsmuster erst noch bedarf. Von »Sachen niederer Stufe« spricht Schmitz im Unterschied zu Sachverhalten, die in Situationen verklammert sind und mit den einfachen Sachen zugleich Bedeutungen thematisieren. Im Beispiel des Lauwersooger Hafens waren es aber weniger die sich erfüllenden Protentionen, die die Wahrnehmung in vertraute Bahnen gelenkt und orientiert haben, als vielmehr deren Enttäuschungen, die das Nachdenken in Bewe-

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Schmitz, Band III, Teil 5, S. 158.

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Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen

gung versetzt, das Erlebte mit unsicheren Fragen verbunden und in einen problemhaltigen Charakter eingekleidet hatten. Erwartungen wie ihre Enttäuschung berühren ganz wesentlich die subjektive Stimmung einer Person in Beziehung zum herumwirklichen Milieu eines aktuellen Erlebens. Sie stellen nicht nur die Aufmerksamkeit auf etwas noch Ausstehendes ein; sie stimmen auch das affektive Befinden in einer Situation, indem Erwartungen bestehende Ordnungssysteme der Wahrnehmung bestätigen und behagende Gefühle der Vertrautheit stiften. Damit wirken sie wesentlich auf das »Ergehen« 7 in einer Gegend ein. Willy Hellpach machte mit diesem Begriff einen wichtigen Unterschied, der auch das Erleben der in der Mikrologie beschriebenen Hafensituation verständlicher macht. Er differenzierte zwischen einem Einfluss aufs Erleben und einem von diesem Erleben ausgehenden Einfluss aufs Ergehen. Ein auf bestimmte Weise situiertes Erleben hat – wie das Beispiel deutlich macht – stimmende Macht und tönt das Ergehen in der Situation eines Erlebens. Das Beispiel zeigt schließlich, in welcher Weise sich lebensweltliche Erwartungen in den Prozess verstehenden Deutens bzw. Interpretierens einmischen müssen, um dieses mit einem Horizont des Vorverständnisses im Sinne eines flüssigen wie erfahrungsoffenen erkenntnistheoretischen Basisrasters verbinden zu können. Zur methodologischen Problematik der eine Beobachtung nicht nur begleitenden, sondern lenkenden Interpretation vgl. auch Kapitel 4.1.6 sowie Kapitel 3 in Band 1.

4.1.2 Das vermeintliche Nichts als verdeckte Fülle Der in der Mikrologie beschriebene atmosphärische Eindruck wurde von einer herumräumlich spürbaren Leere bestimmt, die als öde, trist und tot beschrieben wird. Dieser Eindruck steht im Gegensatz zu den Erwartungen eines lebendigen Hafens. Die unter anderem als trist beschriebene »Leere« machte sich insbesondere am Ausbleiben erwarteter Hafenaktivitäten fest. In das Bild der Leere fügten sich auch als atypisch empfundene Bewegungsmuster von Personen ein. So ging – von wenigen Touristen abgesehen – kaum jemand über das Gelände des Hafens. Der Eindruck einer menschenleeren Ruhe wurde 7

Hellpach, Sinne und Seele, S. 65.

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durch das kontrastierende Empfinden des technisch-monoton schleifenden Geräuschs einer Windkraftanlage noch unterstrichen; der Eindruck einer situationsspezifischen Ruhe entfaltete sich also unter anderem am Unruhigen. Dies erinnert daran, dass sich auch ein Eindruck der Stille durch etwas lautlich Hervortretendes – eine Bewegung oder etwas in anderer Weise Unruhiges – in der Intensivierung von geräuschloser Ruhe in besonderer Weise herausschälen kann. In die Logik dieses Kontrasterlebens fügt sich auch die Aufmerksamkeit weckende Macht einiger Möwenschreie, die das Leere-Empfinden im Raum des Hafens vergegenwärtigt haben. In der dichten Eindrucksbeschreibung ist von abgehackten Vogelschreien die Rede, die ohne jeden Nachhall die atmosphärisch spürbare Leere in einer gewissen Mehrdimensionalität betonten, sodass sich für einen kurzen Moment eine öde Leere und Stille ausbreiten konnte. Verschiedene Eindrücke liegen im atmosphärischen Raumerleben in ihren Bedeutungen dicht nebeneinander: Leere, Öde, Ruhe und Stille sowie schließlich ein gleichsam bedrängendes Nichts, das sich bei genauerer Betrachtung jedoch als eine Füllung mit bestimmten Eindrücken der Ruhe, Leere und Stille erweisen sollte, die auf undefinierbare Weise zueinander in Beziehung standen. 8 Wenn eine Gegend atmosphärisch als »leer« beeindruckt, so ergibt sich schon daraus, dass sie ganz und gar nicht als leer im Sinne des Wortes empfunden worden sein kann, sondern als in bestimmter Weise mit Erlebnis-Bildern gefüllt. Die Leere, die sich in der Mikrologie als Öde oder Ruhe eines Stillstandes suggerierte, wurde also als »etwas« gegenwärtig Spürbares empfunden. Dabei handelte es sich um etwas in besonderer Weise Sichtbares, Hörbares, Tastbares oder geschmacklich sowie olfaktorisch Vernehmbares. Das atmosphärische »Leere«-Erleben steht schon nach unsystematischer Reflexion der lebensweltlichen Vorstellung des Leeren und Öden entgegen, ist eine atmosphärisch eindrücklich werdende Leere doch keineswegs ein Nichts, sondern »etwas«. Tatsächlich gibt es eine atmosphärische Leere, die sich (wie die Stille über ein sie kontrastierendes Geräusch) durch gegensätzliche Eindrücke zu einer gefühlsmäßig spürbaren Mächtigkeit steigert. Wenn eine Situation wie die des scheinbar tot daliegenden Hafens auch durch eine atmosphärische Leere beeindrucken mag, so kommt diese in ihrem privativen Charakter (noch im

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Zur Differenzierung zwischen Ruhe und Stille vgl. auch Kapitel 5.1.2 in Band 1.

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Atmosphären der Latenz: Ein »schlafender« Fischereihafen

atmosphärischen Erleben öder Leere) auch als etwas Spürbares zur Erscheinung. Damit stellt sich ein Problem der Explikation, das sich auch in dieser Mikrologie zeigt: das Unvermögen, ein komplexes atmosphärisches Eindruckserleben – wie das der Öde oder Leere – in affektiv angemessenen Worten aussagen zu können. Die Beschreibung eines Gefühls muss insofern immer unangemessen bleiben, als sie hinter der Vitalqualität eines eindrücklich Werdenden zurückbleiben muss; mit anderen Worten: Die wörtliche Rede ist dem emotionalen Erleben inkommensurabel. Darauf hatte schon Heinrich Barth in seiner Philosophie des Erscheinens aufmerksam gemacht: »Wenn ›schön‹ das ist, ›was ohne Begriff gefällt‹, dann bedeutet dies nicht eine Begriffsferne des Schönen, sondern daß das Gefallen nicht von einem der Anschauung vorgreifenden Begriffe in Beschlag genommen werden kann.« 9

In ähnlicher Weise lässt sich auch die dichte Beschreibung des Raumerlebens im leer und öde empfundenen Hafen von Lauwersoog kommentieren. Der eindrücklich werdende Raum wurde als ein leeres, ödes, totes und in der Folge langweiliges Milieu beschrieben. Die sprachlichen Explikationen sind in ihrer diskursiven Rationalität dem leiblichen Erleben inkommensurabel, sodass jede Aussage nur als eine mehr oder weniger treffende Annäherung an die Vitalqualität leiblichen Mit-Seins verstanden werden darf. Zu diesem gebrochenen Kontakt kommt ein zweites Transformationsproblem hinzu, das die Rede über atmosphärische Eindrücke nicht leichter macht. Es betrifft die zeitliche Synchronisation von Wahrnehmen und Erscheinen. Mit Bezug auf Barth merkt in diesem Sinne Christian Graf an: »Erscheinung ist für Barth niemals ein Gegebenes, wohl aber ein Sich-Geben, das nicht auf ein schon Konstituiertes Gegenüber trifft, das nur darauf wartet, die Gabe in ein Gegebenes zu verwandeln, um mit ihm nach Belieben schalten und walten zu können. Das Sich-Geben schafft sich sein Gegenüber erst. Spontane Subjektivität findet in der Erscheinung ihren Ermöglichungsgrund.« 10

Die Atmosphäre des Raumes war also nicht erst Produkt der Wahrnehmung (so würden sozialkonstruktivistische Sozialwissenschaftler argumentieren), sie trat situativ aus sich heraus, darf aber auch nicht 9 10

Barth, Philosophie der Erscheinung, Zweiter Teil, S. 478. Graf, Krisis aller Gegebenheit, S. 46.

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auf die bloß passive Rezeption beschränkt werden. Wenn vom Erscheinen der Dinge, Halbdinge und Situationen die Rede ist, so impliziert dies im übertragenen Sinne auch eine »Aktivität« des Heraustretens. Beim Wind ist es das Wehen, bei Wolken das Dahinziehen, bei Blumen das Blühen. All diesen zum Teil ekstatischen Erscheinungsweisen eignet insofern ein aktives Moment, als jeder Ausdruck prozesshaften Charakter hat. Die Leere, die im Raum des Hafens herrschte, war daher auch eine gänzlich andere als die des absoluten Nichts des Todes, über die Vladimir Jankélévitch sagt: »[D]er Tod ist der unteilbare Schnitt zwischen Vorher und Nachher, die Schnittlinie zwischen vitaler Fülle und letaler Leere« 11. Das atmosphärische Nichts des wie tot daliegenden Hafens hat aber nichts mit letaler Leere gemeinsam. Die leere Atmosphäre des Raumes ist eine lebendige Leere, weil durch sie die Spuren einer vorübergehend nicht mehr anwesenden Fülle noch hindurchwehen. Etwas Leeres und Ödes drückt die »Aktualität des Erscheinens von Sein« 12 atmosphärisch aus. Wenn uns dies deshalb langweilt, so als Folge der Enttäuschung einer Erwartung und nicht, weil es etwas an sich Langweiliges gäbe. Hätte ich einen Hafen als Raum der Leere, Öde und Tristesse erwartet, hätte mich dieses Erscheinen auch nicht enttäuscht; meine Erwartung wäre in Erfüllung gegangen. In der Mikrologie zum Erleben des Hafens von Lauwersoog ist es aber ganz offensichtlich so, dass die Leere des Raumes nicht erwartet wurde, sondern ein aktives Treiben. Die Leere und Öde war also unerwartet und hinterließ infolge der Monotonie des räumlichen Erlebens ein gewisses Gefühl der Langweiligkeit. Schon Otto Fenichel hatte darauf hingewiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen Monotonie und Langeweile gibt. 13 Dieser stelle sich aber nicht als Kausalbeziehung zwischen einem in einer Außenwelt Erscheinenden und dem Gefühl der Langeweile dar, vielmehr sei Langeweile das Ergebnis einer sich nicht erfüllenden Erwartung. 14 Damit ist gesagt, dass es zwischen einem Erscheinenden und einem Gefühl eine Beziehung gibt, die keinen deterministischen Charakter hat. Wenn Fenichel auch mit Winterstein pointiert, »nicht ich 11 12 13 14

Jankélévitch, Der Tod, S. 329. Barth, Philosophie der Erscheinung, Zweiter Teil, S. 632. Vgl. Fenichel, Zur Psychologie der Langeweile, S. 300. Vgl. ebd., S. 307.

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langweile mich, es sind die anderen, die mich langweilen« 15, so macht das zunächst nur auf einen Unterschied zwischen einer transitiven und einer intransitiven Form des Langweiligen aufmerksam. Das Hauptgewicht der Langeweile liegt da, wo das Individuum selbst etwas mit sich geschehen lässt und sich nicht lediglich als Produkt von Umgebungsbedingungen empfindet. Ob eine Außenwelt als minder anregend empfunden wird, ist keine Frage objektivierbarer Monotonie-Eigenschaften, sondern eine zum individuellen Imaginationsvermögen. Deshalb stellt Otto Fenichel schon am Beginn seines Beitrages über die Langeweile fest, dass es »sehr häufig nicht äußerer Wirklichkeit entspricht«, wenn etwas ein »Mangel der Anregung« zugesprochen werde. Langeweile sei viel eher in der Unfähigkeit begründet, »sich anregen zu lassen« 16. Die Leere und Öde des Hafens erscheint nun nicht als Leere einer Situation auf der Objektseite, sondern zumindest potentiell als Fülle von Anregungen sowie als Provokation des Bedenkens dessen, was da in seinem privativen Charakter zur Erscheinung kommt. Das scheinbare Nichts einer Leere ruft geradezu ins Bedenken, was empfundener Leere als situativ komplementärer Fülle entsprechen könnte.

4.1.3 Ästhetische Spannungen Nicht immer werden sinnliche Eindrücke als widerspruchsfrei empfunden. Am Beispiel der Mikrologie hinterließen sie eine irritierende Spannung. Eine solche erwuchs schon aus der enttäuschten Erwartung, in einem Fischereihafen etwas vom Fisch oder Seegetier riechen zu können. Sie wurde um ein weiteres erhöht, als dann – gleichsam im Widerspruch zur enttäuschten Erwartung – doch zumindest flüchtige Geruchsschwaden aus dem Nichts auftauchten und auch schnell wieder verschwanden. Dieser (letztlich dann doch auf Umwegen erwartungsgemäße) Eindruck wurde jedoch dadurch wiederum verwirrt, dass sich diese Gerüche von Fisch und Meeresgetier nicht behaupten konnten, dagegen solche von Maschinendiesel und Hydrauliköl atmosphärisch mächtig im Raum standen. Während sich diese Widersprüche im Prozess synchronen Raumerlebens konstituierten, ergaben sich andere aus der Verklam15 16

Ebd., S. 307. Ebd., S. 297.

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merung von Eindrücken, evozierten (oder provozierten) also erst mit dem Fortschritt situationsimmanenter Erfahrung den Eindruck einer Spannung und das Gefühl, dass etwas nicht stimmen sollte. Die Rahmung einer Situation fasste in einem Fenster der Gleichzeitigkeit (oder heterochronen Synthese) zusammen, was letztlich doch nicht passte. So deckten die sinnlichen Eindrücke der Auslagen eines Fischgeschäftes in ihrer »verhübschenden« Präsentation zwar das Bild einer dekorativen, über-hygienisierten, artifiziellen und geradezu aseptischen Inszenierung. Aus der Retrospektive der Eindrücke eines Fischereihafens, dessen Spuren auf Prozesse einer industriellen Aneignung von Fisch und Seegetier verwiesen haben, thematisierten sich dagegen ethische Bedenken. In der zweiten Hälfte der dichten Beschreibung werden diese auch expliziert und illustrieren die situationsimmanente Verknüpfung sinnlicher Eindrücke mit ihrer reflektierenden Verarbeitung. Ästhetische und diskursive Rationalität standen – gerade in der Bewusstwerdung von Brüchen zwischen Erleben und Wissen – schon in der aktuellen Situation des Mit-Seins in einem dialogischen Verhältnis zueinander. Darin zeigt sich nicht zuletzt ein weiteres Mal die Unhintergehbarkeit interpretierenden Verstehens als Moment aufmerksamer Beobachtung. Indes folgt das Denken mehr optional als zwangsläufig und tatsächlich auf eine (im Prinzip) denkwürdige Situation. Dass wir nicht denken, reklamierte schon Heidegger und markierte darin einen zentralen kulturellen Problemherd. Der sich mit der Frage verbindende Imperativ hatte sich weniger auf die Art und Weise des Denkens bezogen, als auf die Bestimmung dessen, »was uns in das Denken befiehlt, was uns denken heißt.« 17 Indem sich nicht alles, was eindrücklich wird, in gleicher Weiser dem Denken anbietet, wird Heideggers Fragehaltung und -richtung erkenntnistheoretisch, psychologisch und politisch bedeutsam. Nicht immer fordert das mit den Sinnen Wahrgenommene das Nach-denken dessen heraus, was eindrücklich geworden ist. Ob die reflektierende Revision ästhetischer Eindrücke gewissermaßen als sich selbst geschuldete Übung der Selbstgewahrwerdung angenommen wird, ist zum einen von der individuellen Bereitschaft, aber auch vom individuellen Vermögen abhängig, solche Reflektion in einer sich von der Sache her fordernden Tiefe her betreiben zu können. Die Frage entscheidet sich aber nicht allein im Blick aufs Individuum. Die Nähe bzw. Ferne bestimmter Themen zu 17

Heidegger, Was heisst Denken?, S. 80.

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ihrer reflektierenden Durchquerung wird ganz wesentlich von gesellschaftlichen und politischen Bedeutungen eingestellt. Die Option des Denkens rückt zum einen dann in eine gewisse Ferne, wenn einflussreiche gesellschaftliche Interessen einen größeren Nutzen vom Ausschweigen als vom Bedenken einer Sache haben und medial deshalb verfügbare Ressourcen der (in aller Regel massenmedialen) Macht geltend machen, um Sachverhalte zu dethematisieren. In der Praxis gefühlsmanipulativer Tagespolitik ist dies ein alltäglicher Vorgang, ein geradezu banales politikwissenschaftliches Thema. Zum anderen stehen individualpsychologische Beziehungen zu einem Gegenstand dessen Thematisierung und nachdenkender Reflektion im Wege, wenn die zu erwartenden Befunde nachdenkender Autopsie die Bedrohung lieb gewordener Gewohnheiten zur Folge haben. Mit beidem haben wir es bei dem gegebenem Thema zu tun. Heidegger ruft aber auch dazu auf, die Themen und Kategorien des Denkens nicht bei den Wissenschaften zu suchen, haben sie die die Menschen unmittelbar angehenden Sachverhalte doch in abstrakte Konstellationen und Konstruktionen verwandelt und damit vom leiblich und befindlich wahrnehmenden Menschen entfernt. Das Denken verlangt sich nicht in erster Linie und nicht zuerst aus einer abstraktionistischen Vogelperspektive, vielmehr von der Seite der unmittelbaren Begegnung (s. auch unten 4.1.7) mit sinnlich berührenden Eindrücken und Ereignissen. Am gegebenen Beispiel wurde dieses Denken durch den erwarteten, aber letztlich doch beinahe ganz ausbleibenden bzw. auf luzide Weise vorüberwehenden Fischgeruch geradezu provozierte, der in einen unmittelbaren ästhetischen Kontrast zum Geruch von Öl und Maschinen geriet. Eine Ethik des Essens ist damit auf gleichsam geradem Wege aufgerufen, einschließlich einer Gastrosophie 18, die sich nicht auf die Formen der technischen Beschaffung von Fisch zu beschränken, sondern auch die Methoden der Distribution, kulturindustriellen Kommunikation von Begehrlichkeit und nicht zuletzt die Routinen des Konsums vor allem tierischer Nahrungsmittel einzuschließen hätte. Der Weg in dieses Bedenken erschließt sich nicht von selbst. Nur dann wird er jedoch durch gesellschaftliche und politische Institutionen auch geebnet, wenn die absehbaren Erfolge spezifischen Systeminteressen nicht entgegenkommen, sie zumindest in der wie auch immer motivierten Systemdifferenzierung und -entfaltung nicht 18

Vgl. dazu auch Lemke, Ethik des Essens.

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substanziell einschränken. Heidegger sprach deshalb von einem Ergreifen der Möglichkeit des Denkens. Erst wo sich das Denken am Bestand machterhaltender Denkbarrieren abarbeitet, erreicht es die Zentren des Denkwürdigen. Deshalb sind diese in aller Regel auch durch Interessen dicht verstellt. Mit Bezug zu dem in der Mikrologie zum Erleben des Fischereihafens beschriebenen ästhetischen Erfahrungsmilieu genügt es an dieser Stelle, auf die Interessen einer weit verzweigten Fischbeschaffungs- und Vermarktungs-Ökonomie zu verweisen, um zu erkennen, dass die sich provozierenden Felder des Bedenkens allesamt den Konsum von Fisch als Ware einer globalen Lebensmittelindustrie eher verlangsamen als befördern dürften. Reinhard Knodt spricht Beziehungen des Menschen zur Natur, wie sie am Beispiel der Mikrologie in einer situativ dichten und erlebniszeitlich eng gepackten Gemengelage sinnlich-ästhetischer Eindrücke des gleichsam »fischfreien« Geländes eines Fischereihafens konkret wurden, als Korrespondenzen zwischen dem technischen Raum und dem Menschen als ästhetischem Wesen an. 19 Wenn es auch nicht nur der technische Raum ist, der den ästhetischen Menschen herausfordert, seine Eindrücke zu bedenken, so spitzt doch gerade das Beispiel des ästhetisch abwesenden Fischs bzw. Seegetiers im brach daliegenden Fischereihafen das Technische in seiner Hintergründigkeit zu. Knodt spricht in diesem Kontrasterleben von ästhetischen Korrespondenzen. Hartmut Rosa beschreibt solche Beziehungen als Resonanzen, in denen zwei Seiten zusammenkommen, die zunächst nicht zusammenpassen. Auch hier bietet sich die dichte Beschreibung zur Illustration an. So passte der Eindruck der in den Auslagen des Fischgeschäfts schön gemachten Fische nicht zum Wesen des zur Ware gewordenen Fischs. Er erschien in dieser Situation im Kant’schen Sinne ja nicht als eine freie Naturschönheit (s. oben Kap. 3.1.5), sodass sich sein ästhetisches Erleben auf das subjektive Geschmacksurteil begrenzen ließe. Der »schön gemachte« Fisch steht in einer (ästhetisch korresponsiven) Beziehung zu den vom Schein des Schönen verdeckten Schattenseiten seiner Kommerzialisierung. Der ästhetisierte Fisch stand in einer höchst spannungsreichen Resonanzbeziehung zur abwesenden Gestalt frisch gefangener, konkreter, individueller Tiere. Oberflächenästhetisierte Schauseiten eines im Prinzip ganz alltäglichen und infra-gewöhnlichen Ladengeschäfts haben die technisch-erbarmungs19

Vgl. Knodt, Ästhetische Korrespondenzen, S. 11.

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lose Aneignung lebender Tiere für die serielle nahrungsmittelindustrielle Weiterverarbeitung schließlich überstrahlt. Solche Überstrahlung im Medium der Ästhetisierung muss an allen Orten des Einzelhandels mit Fisch allein zum Zwecke der Beschleunigung eines unbedachten und im Bild der Waren entproblematisierten Konsums betrieben werden. In dieses idiosynkratische Denkprogramm fädelte sich eine weitere Resonanz ein, die ihrerseits durch einen Widerspruch des NichtPassenden gekennzeichnet war. Situationscharakteristisch war in diesem Sinne ein Fischgeruch, der zunächst ausblieb, dann aber in seinem luziden Vorüberwehen immer wieder vom Maschinen- und Dieselgeruch unterbrochen, wenn nicht verdrängt wurde. Dabei repräsentierte die Konkurrenz der Gerüche auf treffliche Weise einen Mensch-Natur-Metabolismus, in dem die industrielle Aneignung von Tieren und ihre Transformation zu Waren zur Anschauung kam. In den vermischten Gerüchen von Fisch zum einen und Maschinen- sowie Hydraulik-Öl zum anderen thematisiert sich im Medium des Olfaktorischen eine Facette im Mensch-Natur-Metabolismus, der sich im Rahmen der Situation der Mikrologie als eine Falte im Verhältnis der Menschen zu sich selbst und zugleich zur Nahrungsmittelindustrie aufwirft. Nicht zueinanderpassende Gerüche sind nur Zeichen eines zivilisatorischen Bruches; sie rufen die ethische Reflexion von Lebensweisen auf, die es als Folge einer spezifischen gesellschaftlichen und unternehmenspolitischen Organisation der Nahrungsmittelindustrie nicht zuletzt auch deshalb gibt, weil sie weitgehend toleriert werden, das heißt auf dem Nicht-Bedenken technisch-ökonomischer Dispositive ruhen. Mit dem Sinnlichen verbinden sich Gefühle der Betroffenheit und mit ihnen Werte und Normen. Deshalb betrachtet Früchtl die Ästhetik der Natur von der Seite der Ethik: »Die Ästhetik der Natur ist auf die Ethik verwiesen, denn diese bildet das seinerseits affektiv erfahrene Fundament dafür, Situationen Stimmungen zuzuschreiben.« 20 Zweifellos gebietet die Ethik Gefühle, die den Umgang mit den Dingen der Natur regeln sollen; sie regulieren, wie man dies tun darf und etwas anderes nicht. Aber sie vermitteln auch eine Weitung der Perspektive. So haben die Gefühle doch schon diesseits abgewogenen und ethisch legitimierten Handelns ihren tiefgreifenden Einfluss auf das menschliche Tun. Im Bereich der kulinarischen Begehren sind 20

Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, S. 404.

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es vor allem die Lüste, die das Interesse am Seegetier (hier der Garnele) stimmen und in der Folge den Konsum auf ein hohes und vor allem unbedachtes Niveau treiben – obwohl das ethische Veto schon längst hätte Einhalt gebieten müssen. Zu Recht sieht Rosa Resonanzerfahrungen als Weichen der Identitätsbildung 21 und in der Folge verstummende Resonanzen einer nicht mehr »antwortenden« Natur als Ausdruck einer Entfremdung von ihr. Diese dürfte dann schon eingetreten sein, wenn Resonanzerfahrung im unmittelbaren sinnlich-ästhetischen Kontakt mit den Arten der Natur gar nicht mehr gesucht wird. Der Fisch ist ein gleichsam paradigmatisches Medium, um dieses Schweigen des Subjekts und seiner entfremdeten Resonanzsuche zu illustrieren, fungiert er doch bestenfalls noch als abstraktes Resonanzmedium zweiter Natur: Zwar ist der Fisch ein alltäglich wichtiges und unverzichtbares Lebensmittel. Indes wird er kaum noch als ganzes Tier erworben, das ein Ausnehmen der Organe verlangt. Der sinnlich konkrete Fisch ist schon lange verschwunden, aufgegangen in einem breit gefächerten Angebot von Convenience Food (sprachlich abgeleitet von »bequemem Essen«), verpackten Halbfertiggerichten oder nur noch aufwärmungsbedürften Menüs. Für die Masse der Menschen ist die Beziehung zum Fisch in eine Beziehung zum Objekt einer kulinarischen Ware transformiert. So macht das Gestell der Technik den Fisch als Tier verschwinden und überschreibt die auf ihn bezogenen NaturResonanzen durch die Macht technisch-ökonomischer Dispositive der fischereitechnischen »Beschaffung«, Distribution, industriellen Verarbeitung, Chemikalisierung, Offerierung, Dekorierung und Kommerzialisierung. Die Atmosphären, in denen der Fischereihafen in der Mikrologie eindrücklich wurde, thematisieren diese technischen Facetten im Spiegel affektiven Erlebens: am Bild der an den Kais liegenden modernen Fangschiffen, der Fanggeschirre, den zahllos herumstehenden und von geradezu unvorstellbaren Mengen gefangener Garnelen zeugenden Behältern für den Transport in Schwerlastern bis hin zu den technisch gekühlten Hallen für die Auktion der Fangerträge. Diese technisch vermittelte Natur-Resonanz wird sich in der Mikrologie zur Fischauktion im dänischen Hanstholm sowie im Exkurs zum Fischereihafen Grimsby (Großbritannien) als Ausdruck einer strukturellen Entfremdung von der Natur des Fisches noch weitaus krasser zuspitzen (s. auch Kapitel 4.3 und 4.4.). 21

Vgl. Rosa, Die Natur als Resonanzraum und als Quelle starker Wertungen.

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Jedes Resonanz- oder Korrespondenz-Erleben ereignet sich auf dem Hintergrund des subjektiven Wahrnehmungsvermögens eines biographisch individuell geprägten Menschen. Auf die individuelle Gebundenheit aller Erfahrung macht Josef Früchtl aufmerksam: »Die Menschen haben verschiedene Biographien, und wo der eine sich angesichts eines Gartens, in dem knallroter Tulpen blühen und die Rotkehlchen zwitschern, an glückliche Kindertage erinnert fühlt, muß der andere daran denken, wie in einem solchen Garten einst vor seinen Augen der Tante die Kehle durchgeschnitten wurde.« 22

Die individuelle Prägung einer Biographie ist ebenso wenig zu bestreiten wie der individuelle Charakter eines Resonanzerlebens. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass jedes individuelle Subjekt zugleich ein vergesellschaftetes und damit in gewisser Weise allgemeines Subjekt ist. Wenn Früchtl in seiner Argumentation so tut, als gäbe es nur und vor allem das individuelle und nicht das kollektive Resonanzvermögen, übersieht er die insbesondere in der Ästhetischen Theorie Adornos herausgestrichene Macht von Sozialisation und massenbildender Vergesellschaftung nach Maßgabe aktuell je herrschender Werte und Normen. Sozialisationsprozesse sind (vor allem in ihrer kulturindustriellen Prägung) oft viel mächtiger als die individuelle Häutung einer Person. Der Verlauf der Vergesellschaftung ist systemerhaltend, weniger dagegen die Geschichte individueller Personwerdung, die sich auf einer Matrix dessen entfaltet, was Vergesellschaftung schon disponiert hat. Das kollektivierte Subjekt, das sich mitunter schnell in Mengen und dann in Horden formiert, folgt in seinem Denken, Fühlen, Urteilen und Tun gesellschaftlich zirkulierenden Mustern: »Der Prozess der universalen Informatisierung mit all seinen ökonomischen, technischen, gesellschaftlichen und politischen Konnotationen übt einen kaum zu überschätzenden Systemdruck auf das Individuum und seine Subjektivität aus.« 23

Insofern ist Früchtls Beispiel depolitisierend. Indirekt wird nämlich das Kollektive im Subjekt entwertet im Unterschied zum individuellbeliebigen Erleben, das sich aus einer biographischen Perspektive eines Singulären zu verstehen gibt. Daher dürfte die Argumentation

22 23

Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, S. 403. Schmiede, Informationstechnik im gegenwärtigen Kapitalismus, S. 181.

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von Früchtl für Psychologie und Psychoanalyse von größerem Interesse sein als für die sozialwissenschaftliche Analyse von MenschUmwelt-Beziehungen. Die in der Mikrologie vorscheinende Beziehung zum Fisch wird zwar aus dem Rahmen individuellen Erlebens thematisiert; gleichwohl zeigt die phänomenologische wie kulturwissenschaftliche »Obduktion« der dichten Beschreibung und ihre Durchforstung nach verborgenen und sich im Explizierten ausdrückenden allgemeinen gesellschaftlichen Wahrnehmungsmustern, in welcher Weise das Individuelle ins kollektiv Ähnliche überführt wird. Deshalb merkt Peter Sloterdijk auch mit Blick auf »den« Verbraucher (das heißt einen kulturindustriell formatierten Mainstream-Konsumenten-Typ) an: »In seiner Eigenschaft als Verbraucher nimmt der Mensch des neuen Jahrtausends seine Stellung im Bodenlosen wahr.« 24 Die fehlende Regulierung des Verhältnisses zwischen subjektiven Begierden und einer Politik der vernünftigen Beschränkung springt ins Auge. Was sich in der Mikrologie dieses Kapitels zum Menschen-Tier-Verhältnis erst ankündigt, wird sich in den Kapiteln 4.3 und 4.4 noch um Einiges verschärfen.

4.1.4 Dinge als Zeichen von Ordnungen Einen Fischereihafen erkennt man leicht an der spezifischen Ordnung fixer und mobiler Dinge, an den Gebäuden maritimer Unternehmen, Kaianlagen, den an ihnen festgemachten Fangschiffen, Kühlwagen für den Transport von Fisch oder anderem Seegetier und zahllos herumliegendem Zeug, das typischerweise zu einem Fischereihafen gehört. Von einer »Ordnung« darf hier insofern die Rede sein, als die Dinge durch die sie verbindenden Bedeutungsketten in einem Zusammenhang stehen, der gleichsam mit einem Schlage im Moment des Hinzutretens in den Raum eines Hafens als etwas Ganzes eindrücklich wird. Solche Eindrücke eines Zusammengehörenden müssen nicht widerspruchsfrei sein; Zusammengehörigkeit ist oft sogar in charakteristischer Weise durch Widersprüche gekennzeichnet. Man erkennt einen Fischereihafen aber nicht nur an Dingen, sondern auch an Atmosphären. Diese müssen nicht an den Dingen hängen und dürfen im Sinne von Niklas Luhmann ebenso wenig als 24

Sloterdijk, Minima Cosmetica – Versuch über die Selbsterhöhung. S. 323.

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»besetzter Raum« verstanden werden. 25 Atmosphären gibt es wie die Freude, die Frische der Luft oder die Wärme der Sonne auch dies- und jenseits der Dinge. Wenngleich diese eine unzweifelhaft wichtige Rolle spielen, so legen sich die Atmosphären doch nicht wie ein Staub über sie; sie bilden eine eigene Wirklichkeit. Wenn sie auch an Dingen zur Erscheinung kommen, so stehen sie doch nicht im Verhältnis einer Kausalbeziehung zu ihnen. Das Beispiel von Teilen zerdrückter Schalentiere, die in Fischnetzen eingequetscht waren, kann das verdeutlichen. Dinge als Katalysatoren der Wahrnehmung von Atmosphären Als atmosphärische »Katalysatoren« werden in der Mikrologie unter anderem die folgenden Dinge genannt: Krabbenkutter, Fischtrawler, schwimmende Piers, Holz-Paletten, Baumkurren-Gestänge, Haufen schwerer Auftriebskugeln, Gummirollen zur Beschwerung der Grundleinen, scheinbar zahllos ineinander und übereinander gestapelte Plastik-Transportkisten in allen möglichen Farben und Verschleißzuständen. All diese Dinge sind schon auf dem Niveau der dichten Beschreibung in ihrem Zeichen-Charakter vermerkt. Darin verweisen sie auf die Bedeutungsordnung der Hochseegarnelenfischerei und zugleich auf die mit ihr verklammerten Sachverhalte, Programme und Probleme. Aber diese Verweise bilden sich nicht linear; sie hängen in ihrem Symbol-Charakter in Bedeutungsordnungen, die dem »Standpunkt« einer persönlichen (individuellen oder gemeinsamen) Situation folgen. Insofern stehen die Zeichen (einschließlich ihres Fragen evozierenden Potentials) weniger im Raum mit den erscheinenden Dingen an, als dass ihre symbolischen »Anhaftungen« im Fokus betroffen machenden Erlebens kollidieren und das Nachdenken provozieren. Zeichen sind keine Abbilder; so verweisen sie auch nicht auf eine zu ihnen »gehörende« Realität. Das tun sie noch nicht einmal dann, wenn solche Verweisungszusammenhänge evident zu sein scheinen. Zwar stehen die Dinge oft in einem unmittelbaren Sinne für das, woher sie kommen, so die Baumkurren für die Kutter, zu deren Fischereitechnik sie gehören, oder die Netze zum Fanggeschirr. Die Dinge zeigen schließlich auf etwas, das sich im engeren Sinne gar Nach Luhmann verschwinden mit den Dingen auch die Atmosphären; vgl. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 181.

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nicht veranschaulichen lässt: ein System der Fischereiwirtschaft und der Nahrungsmittelbeschaffung aus den Kreisläufen der Natur und spezifische Verhältnisse im Mensch-Natur-Metabolismus usw. Dass diese über den Rand der Dinge hinausgehenden Verweise auch schon im Moment eindrücklichen Ding-Erlebens gegenwärtig sind, illustriert eine Reihe von Anmerkungen in der dichten Beschreibung. Auf einen ästhetischen Erlebnismodus des Hafengebiets weisen die dort umherlaufenden und mit ihren Wohnmobilen herumfahrenden Touristen hin. Wenn sie sich vor der Abfahrt ihrer Insel-Fähre die Zeit damit vertreiben, nach »Sensationen« Ausschau zu halten, so werden sie in aller Regel anregende und vor allem exotische Eindrücke suchen. Für sie werden die Dinge der Fischerei daher eher ästhetische Schaumedien als idiosynkratische Zeichen einer sich fordernden Kritik an der Fischwirtschaft sein. Wenn Touristen auch an allen Orten in Erscheinung treten, an denen es nach gängigen Erwartungsklischees etwas »zu sehen« gibt, so gehören sie doch im engeren Sinne gerade nicht zu den Milieus ihres temporären Aufenthalts, denn es ist der Sensations-Charakter des Fremden und Exotischen, der sie anzieht und damit (als lustvolle Observatoren) zu störenden »Gästen« macht. Deutlicher könnte sich das Widerspruchspotential nicht zeigen als in raum- bzw. milieubezogenen Aneignungspraxen, die in ihren je eigenen Bedeutungsordnungen stehen und illustrieren, dass Aufmerksamkeiten affektiv getaktet sind. Als was etwas Beachtung findet, zum Objekt der Schaulust oder Gegenstand der Systemkritik wird, entscheidet sich nach der Verwicklung eines Individuums in seine persönliche, oft mehr noch in eine einfassende gemeinsame Situation. In Situationen keimen die Bedeutungen und mit ihnen die affektiv gestimmten Aufmerksamkeiten, die etwas in dieser oder jener Weise erlebbar machen und diese oder jene Betroffenheit stiften. Es sind somit auch nicht nur die Dinge, die in ihrer Verknüpfung mit Situationen changieren, sondern mit ihnen zugleich auch die Atmosphären. Die Atmosphären eines Raumes werden unter anderem durch die habituelle Präsenz derer gestimmt, die sich regelmäßig in ihm aufhalten und in ihm bewegen. Auch dies bringt die dichte Beschreibung anschaulich zur Geltung. Zur differenzierenden Macht zeichenhafter Dinge Wenn die Zeichen auch meistens in einer Verbindung mit sprachlich gefassten Bedeutungen stehen, so darf doch nicht übersehen werden, 336 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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dass sie in wohl noch mächtigerer Weise Gefühle stimmen, die sich mit einem erscheinenden Ding, einer Situation oder einer Atmosphäre verbinden. So haftet den Zeichen die Hypothek ihres Verstehens an, die sowohl denkend als auch fühlend abgelöst werden kann. Mit anderen Worten: Das Verstehen einer Situation mag die Form der rationalen Rekonstruktion von Bedeutungen haben, kann aber auch durch etwas vom oder am Ding Erscheinendes vermittelt werden, das (ohne den »Umweg« über das Denken) unmittelbar die Gefühle anspricht. Der in der dichten Beschreibung zu findende Hinweis auf ein auf dem Pflaster liegendes, schwer wirkendes Knäuel ineinander verwickelter und unentwirrbar erscheinender Reste von Fangnetzen illustriert das. In jener Situation wurde nichts in einem intellektualistischen Sinne verstanden, vielmehr sprach der aus den Netzresten »gleichsam herausstarrende sinnlose wie vielsagende Tod von ›nutzlosem‹ Krabbengetier« (s. oben) affektiv an und löste noch in der aktuellen Situation der Begegnung eine ethische Reflexion aus. Die Zeichen stehen, ganz gleich wie sie verstanden werden, in einer Beziehung zu flexiblen Ordnungen. Diese Flexibilität ergibt sich zum einen aus der Dynamik der Abläufe, in denen die Dinge nicht nur ihre Ort wechseln, sondern auch ihre Funktion finden und verlieren. Die gleichsam an ihnen klebenden Bedeutungen werden deshalb durch jeden sie erfassenden Wandel immer wieder aufs Neue an eine aktuelle Situation angepasst. Damit ist aber noch etwas anderes gemeint. Auch die Ordnungen selbst, in denen die Zeichen mit symbolischen Bedeutungen wurzeln, bilden eigene sinnhaft strukturierte Ganzheiten, aus denen heraus die Dinge erscheinen. So bildet die touristische Welt eine andere ganzheitliche Sinn- und Resonanzwelt als die der Fischerei. Die Referenzierung der Zeichen folgt also bedeutungsmäßigen Ordnungen wie sinngebenden Syntaxen. Ein und dasselbe Ding geht so auf je eigene Weise in je eigenen Bedeutungswelten auf – mal als Dieses, mal als Jenes. Am Beispiel der Mikrologie erscheinen die gegenständlichen Dinge auf dem Hintergrund der (Bedeutungs-)Ordnung der Garnelen-Hochseefischerei. In diesem Fokus erscheinen dann auch die herumlaufenden Touristen als Subjekt-Objekte, die der Situation des Seehafens zum einen fremd und zum anderen zugleich eigen sind, gehört es doch zu den Atmosphären großer Häfen dazu, dass sie ohne die habituell ganz eigenartige Gegenwart von Touristen kaum vorstellbar sind. Indem sich die Dinge in ihrem Zusammenhang als Dieses oder 337 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Jenes erweisen, 26 eignet ihnen ein verbindendes und trennendes Moment, wonach sie in einer sozialen Wirklichkeit verortet werden: »Dinge verbinden und trennen Menschen mit und von anderen Menschen.« 27 An den Dingen, die in je eigenen Bedeutungswelten verwurzelt sind, scheinen spezifische Weltbilder und ethische wie politische Werthaltungen vor. Deshalb können die im Seehafen auffindbaren Dinge eine funktionierende Hochseefischerei symbolisieren oder auch – wie in der Mikrologie – im Erscheinen einer Krebsschere, die in einem Haufen voller Netzabfälle eingequetscht ist, die erbarmungslose Rationalität einer modernen Garnelenfischerei und Nahrungsmittelindustrie. Für die Wahrnehmung von Dingen ist am Beispiel bezeichnend, dass gleichsam »mit« ihnen (wie dem Panzer einer großen Krabbe, abgebrochenen Beinen und Scheren) in Atmosphären gekleidete Affekte vorscheinen, die in vagen Umrissen an eine Ordnung ethischer Werte appellieren. Das geweckte Befinden wird schließlich durch ein kontrastierendes Maschinengeräusch – das Rauschen von Kühlgeräten – in eine mikro-räumlich lokale Atmosphäre leerer Stille des Morbiden gesteigert. Dabei sind es nicht einzelne Dinge, die die Vitalqualität einer Atmosphäre entstehen lassen. Die von den Dingen ausstrahlenden Symbole gehen schließlich in das imaginäre Erlebnis-Bild einer Fischerei ein, die – so die Notiz in der Mikrologie – am Gigantismus und monströs-maschinistischen Charakter einer globalen Fischaneignungsindustrie keinen Zweifel lassen. Das Technische der räumlichen Situation (das Rauschen der Kühlaggregate an der Außenwand der Auktionshalle) macht die Leere des Geländes noch größer und verwandelt sie zugleich in eine mehrdimensionale Öde, die für romantizistische Naturvorstellungen keine Spielräume anbietet. Halbdinge – und was die Dinge übersteigt Ute Guzzoni fragt, »ob uns wirklich vornehmlich Dinge begegnen oder nicht vielmehr zumindest ebenso Dingzusammenhänge, Dingzustände, oder auch Farben, Düfte, Geschwindigkeiten.« 28 Beim atmosphärischen Erscheinen spielen Dinge oft eine unterstützende

26 27 28

Vgl. Guzzoni, Unter anderem: die Dinge, S. 9. Ebd., S. 20. Ebd., S. 14.

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bzw. medial vermittelnde Rolle, aber bilden nicht die Statik der Atmosphären. Diese können zwar von Dingen ausgehen wie die gleichmäßig schleifenden Geräusche einer alten zweiblättrigen Windkraftanlage oder das Rauschen von Kühlventilatoren. Dennoch sind sie etwas Eigenes wie Eigenartiges; sie sind auf andere Weise im Raum als geodätisch verortbare Dinge. Die Gerüche sind selbst Atmosphären und unterscheiden sich daher deutlich von den materiellen Dingen. So ist ein Hauch von ab und zu vorüberwehendem Fischgeruch, wovon in der Mikrologie die Rede ist, ähnlich wie ein Geräusch »unverbindlicher« im Raum als ein fester Gegenstand an einer lokalisierbaren Stelle. Aber es gibt auch Geräusche, denen noch dann, wenn ihre Herkunft unzweifelhaft ausgemacht werden kann, eine mehrpolige phänomenale Eigenständigkeit zuerkannt werden muss. Das ist bei den in der Beschreibung thematisierten Möwenschreien so, könnten sie sich doch sonst – als »biologisch« ein und dieselben Schreie – im Himmel über einem Seehafen nicht anders anhören als über einer Müllkippe. Die Möwenschreie in der dichten Beschreibung dürfen deshalb auch nicht als akustische »Äußerungen« eines Möwen-Dings missverstanden werden. Zum einen beeindrucken sie in ihrer Lautlichkeit für sich, zum anderen lassen sie den Seevogel in seiner charakteristischen Eigenart erscheinen. Die Dinge strahlen unter bestimmten Bedingungen ihres Escheinens etwas aus, das ihren Charakter zum Ausdruck bringt, ihn aber zum Beispiel auch übersteigen kann – das ist bei der Möwe der Fall, die mit ihrem lautlichen und bildlichen Erscheinen den Charakter einer Gegend wie eines Ortes bekräftigt. Was Ute Guzzoni im Sinne eines Überschusses der Dinge zu denken gibt, spitzt sich in der ontologischen Eigenart der »Halbdinge« zu, die Hermann Schmitz kategorial von den Dingen unterscheidet. Er hat sie in seiner Phänomenologie deshalb besonders herausgestellt, weil sie »im Horizont unserer Wahrnehmung mindestens so viel Platz wie Dinge« 29 ausfüllen. Als »die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung« 30 spielen sie vor allem im Erleben von Atmosphären eine wichtige und eindrucksmächtige Rolle. »Sie unterscheiden sich von Dingen auf zwei Weisen: dadurch daß sie verschwinden und wiederkommen, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind, und dadurch, daß sie spürbar wirken und

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Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 79. Ebd., S. 79.

339 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

betroffen machen, ohne als Ursache hinter dem Einfluß zu stehen, den sie ausüben« 31.

Exemplarisch nennt Schmitz unter anderem den Wind, die Stille, den Schmerz und die Freude; am Beispiel der Mikrologie tritt eine ganze Reihe von Halbdingen geradezu fesselnd in den Fokus der Wahrnehmung von Atmosphären: vorüberwehende Gerüche, eine Aura des Morbiden im scheinbar tot daliegenden Hafen, das Glänzende, Abgeschabte und Alte aufgestapelter Fischkisten usw. Halbdinge und die von ihnen gestimmten Atmosphären wirken in einem affizierenden Sinne anders auf den sie wahrnehmenden Menschen als Dinge. Auf die Umhüllung von Dingen durch Halbdinge und Atmosphären hatte Ute Guzzoni hingewiesen, als sie zu bedenken gab, dass man zu Dingen im Modus der Begegnung in Beziehung treten kann: »Dinge können begegnen, während Substanzen lediglich einfach da oder vorhanden sind, bloß vorkommen.« 32 Was sie zu den Dingen sagt, gilt mit mindestens gleichem, wenn nicht größerem Gewicht für die Halbdinge, die Situationen und die Atmosphären. Dinge werden vor dem Hintergrund von Situationen erlebt Von geradezu zentraler Bedeutung sind die Hinweise zum atmosphärischen Raumerleben im Hafen von Lauweersoog. Zwar waren die hafentypischen Dinge synästhetische Medien der Übertragung spürbar werdender Bedeutungen; die sich an den verschiedenen Orten konstituierenden Atmosphären lösten sich jedoch von den Dingen und affizierten als etwas atmosphärisch Eigenes. Die Affektordnung, in der der Raum des Hafens erlebt wurde, stellte sich als eine Ordnung der Gefühle (und Gefühlserwartungen) dar, von der die Dinge in ihrer Zeichenhaftigkeit gleichsam aufgesogen wurden. Bestimmend war das vielgestaltige Bild einer leeren Atmosphäre, die mal

Ebd., S. 80. Guzzoni, Unter anderem: die Dinge, S. 21. Zum Begriff der Begegnung ergänzt sie: »›Begegnen‹ in diesem – weiten – Sinne heißt immer schon, daß etwas sich zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum und d. h. auch unter Anderem, in Zusammenhängen einer jeweiligen Welt zeigt und uns entgegenkommt«; ebd. Ich werde an späterer Stelle auf die Frage zurückkommen, inwieweit man im Kontakt mit dinglichen oder situativen Wirklichkeiten von einer »Begegnung« sprechen kann.

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als leblos, dann als trist, beinahe tot, mitunter sogar als ein Nichts der Ruhe, Leere und Öde beschrieben wird. Deshalb konnte sich eine zweite atmosphärisch intuitive »Deutung« gegen die Eindrücklichkeit einer morbiden Atmosphäre des Quasi-Toten im Gesicht einer gleichsam »abgebrochenen« Lebendigkeit gar nicht erst behaupten. Der wie tot wirkende Hafen hätte in seiner aktuellen Wirklichkeit aber ebenso auf eine performative Rückseite seiner Rhythmik verweisen können. Was in der Mikrologie als tot und öde empfunden worden ist, hätte sich dann in einem ganz anderen Charakter zu verstehen gegeben. Die Rahmensituation des Hafens wäre somit nicht als Tod, sondern als Ruhe nach getaner Arbeit, als Unterbrechung alltäglich schneller Systemabläufe, als Pause des Handels und als temporäres Zur-Ruhe-Kommen hektischer Abläufe erlebt worden. Die sich über das Erscheinen von Dingen und segmentierten Situationen darstellende Leblosigkeit des Geländes wäre nun in keinem Gesicht des Toten oder des Todes aufgegangen, sondern als eine temporäre Phase der Unterbrechung und Regeneration empfunden worden und die herumliegenden Gerätschaften der Kutter nur als Zeichen einer in gewisser Weise »pausierenden« Fischereiwirtschaft. Indes drängt sich zumindest die These auf, dass sich in der eindrücklichen Beschreibung nicht stattfindender Aktivitäten das Bild des Quasi-Toten aus einem kulturellen Grunde durchgesetzt und einer »würdigenden« Erlebnisweise keinen Entfaltungsspielraum geboten hat. Die nordeuropäischen Gesellschaften sind in ihrer Mentalität aufs Schaffen, Produzieren und dauerhaft Dynamische fixiert, sodass Unterbrechungen im hyperaktiven gesellschaftlichen Leben leicht als Schwäche, Mangel und Defizit erscheinen. Dass der atmosphärische Eindruck des Toten dem übergreifenden Charakter eines Fischereihafens nicht gerecht werden konnte, zeigt sich auch darin, dass ein Tod in seinem irreversiblen Abschluss ein »Leben erst zu einer Ganzheit macht« 33. Die Ruhe des Hafens in der Situation der Mikrologie drückt aber nichts in einem finalen Sinne zu Ende Gegangenes aus, findet der Hafenbetrieb nach dem Ende seiner Unterbrechung zu seinem pulsierenden Rhythmus doch wieder zurück. 34 So Simmel, Rembrandt, S. 89. Auf das Beispiel einer final zu Ende gegangenen Quartiersgeschichte komme ich in einem Exkurs zur Atmosphäre der im 19. Jahrhundert angelegten Fish-Docks im englischen Fischereihafen Grimsby (Lincolnshire) zurück; vgl. Kapitel 4.4.

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erscheint das Öde und Leere des Hafens in der aktuellen, sich in der Mikrologie widerspiegelnden Situation aufgrund der Eindrucksmächtigkeit des sich atmosphärisch als leer und öde aufdrängenden Erlebnisbildes in einem authentischen Sinne als unbelebt und tot und nicht als eine pausierende Phase zwischen den Wellen einer hyperaktiven Dynamik. Noch nicht einmal das selbstverständliche Wissen um eine zweite aktive Seite der Wirklichkeit dieses Hafens konnte sich im Sinne eines gefühlsmäßigen Vetos gegen die Macht der aktuell eindrücklichen Situation behaupten. Trotz aller noch so evidenten Verweisungszusammenhänge, aus denen heraus die Dinge erlebt und verstanden werden, gehen sie doch nicht in einem (sub-)kulturell und historisch zirkulierenden Meer an Bedeutungen auf. Sie repräsentieren nicht nur etwas Bestimmtes, sie strahlen darüber hinaus die Aura einer eigenen »Dunkelheit« aus, in der sie geheimnisvoll bleiben. 35 Nur so ist zu erklären, dass die profansten Dinge die Kreativität und die Kraft der Imagination ansprechen und Vorstellungen provozieren können, die vom großen Strom des schon Definierten abweichen. Zu diesem Eigenleben der erscheinenden Dinge gehört es, dass sie nicht nur als Zeichen auf etwas zurückweisen, sondern auch das kritische Nachdenken evozieren können, um schließlich selbstverständliche Bedeutungsordnungen zu zersetzen – wie dies am Beispiel der zerrissenen Reste toter Krabben geschah, die in Netzfragmenten auf dem Pflaster lagen. 36

4.1.5 Der Einfluss von Tieren auf die Konstitution von Atmosphären Die Anwesenheit von Tieren wirkt auf offene bis subtile Weise auf das Zustandekommen von Atmosphären ein. Dies spiegelt sich auch im atmosphärischen Raumerleben des Hafengeländes von Lauwersoog wider. Dinge unterstützen, akzentuieren und imprägnieren Atmosphären in anderer Weise als Tiere. Diese sind vor allem darin anders, dass sie lebendige Individuen sind. Wegen ihrer Nähe zum Menschen werden sie im Unterschied zu toten Dingen daher auch in einer gleichsam »atmenden« Aura erlebt. Zudem ist ihnen der zivilisierte Mensch aus einer Solidarität der Lebewesen untereinander eine Vgl. Guzzoni, Unter anderem: die Dinge, S. 170. Zur Philosophie des Zeichens vgl. zusammenfassend auch Kolmer / Wildfeuer, Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 3, S. 2621–2635.

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Rücksicht schuldig, sodass er mit ihnen nicht in Gänze frei und schrankenlos schalten und walten kann, wie er es im Umgang mit Dingen gewohnt ist. Tiere belegen andere ethische Plätze im Kosmos der menschlichen Welt als Dinge. Sie erscheinen auch in anderer Weise als tote Stoffe. In einer gewissen Ähnlichkeit mit den Tieren reklamieren noch die Kunstgegenstände einen rücksichtsvolleren Umgang, als man ihn »einfachen« Dingen schuldig sein muss, wenn sich in ihrer Gegenwart letztlich auch nur ein Respekt des Menschen vor sich selbst reklamiert. Wenn das Gebot vorsichtiger Rücksicht auch eine atmosphärische Exklusion der Tiere in eine Sonderzone zur Folge hat, in der bestimmte Formen des Austauschs – insbesondere der interessenspezifischen und verwertungsorientierten Aneignung – moralisch, oft aber auch juristisch geregelt sind, ist die praktisch gelebte Beziehung zu Tieren doch höchst vielgestaltig und von einem dichten Netz der Widersprüche durchzogen. So werden lange nicht allen Tieren dieselben Rechte zuerkannt. Dabei stehen nicht biologische Kriterien im Vordergrund. Nicht die neuronale, affektive und kognitive Empfindsamkeit der Tiere entscheidet über Grenzen dessen, was den Individuen der verschiedenen Arten zugemutet werden darf, sondern viel eher das Nutzungsinteresse einerseits am kapitalisierbaren, andererseits am sentimentalisierbaren Tier. Entscheidungsrelevant für die Selbstverpflichtung zum Mitleid wie zur Zuerkennung von Rechten sind zum einen menschliche Gefühle, zum anderen monetäre Interessen, mit denen sich – etwa im Gesicht kulinarischer Begehren – abermals menschliche Gefühle verbinden. Bevor Tiere in den Fokus der Mitmenschlichkeit gelangen können, müssen sie zu Partnern und damit zu Trägern spezifischer Interessen werden. Erst dann gelangen sie – gleichwohl in einer denkwürdigen Rangfolge der Arten – als Objekte bzw. Quasi-Partner in den Blick. Jene Arten, die von ökonomisch motivierten Verwertungsinteressen »frei« sind, kommen (gleichsam kompensatorisch) als Kandidaten sentimentalistischer Sonderung in Frage. Das gilt aber nicht generell für alle Repräsentanten einer Art (zum Beispiel des Hundes), sondern für jene Individuen oder Gruppen von ihnen, die außerhalb von Wertschöpfungs-Interessen liegen oder davon nicht berührt werden, in anderer Weise als die Mitglieder jener Kohorten, deren Mitglieder gegessen werden. Auf diesem Hierarchisierungshintergrund werden Haustiere mythologisiert und auf idealisierende wie irrationale Weise in quasi-heterotopologische Sonderzonen eingeordnet, während andere (höher ent343 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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wickelte Säuge-)Tiere einem erbarmungslosen, hermetischen Aneignungsmaschinismus unterworfen werden. Dieses auf zivilisatorischen Schwundstufen ausagierte und politisch in aller Regel goutierte Handeln bringt am Ende lebensmittelindustrielle Transformationsprodukte mit kulinarischen Namen hervor, die die artspezifische Herkunft der Tiere zur Unkenntlichkeit wegästhetisierten (»Wiener Schnitzel«, »Kalbsschnitzchen«, »Hamburger«, Wildpastete oder »Cordon bleu«). Auch die Tiere, die sich in der dichten Beschreibung als atmosphärische Medien erweisen, stehen in einem mehr als nur zweipoligen Spannungsverhältnis von Utilitarismus und Ästhetik. Während die Garnele, der der große ökonomische und logistische Aufwand des Güterumschlags im Lauwersooger Hafen gilt, in der Mikrologie selbst unsichtbar bleibt, werden andere Tiere – von sporadisch vorüberwehenden Fischgerüchen ganz zu schweigen – wiederum auf zwei Wegen eindrucksmächtig. Zum einen (a) als Reste von totem Seegetier, die aus zerrissenen Fischereinetzen herausragen und die ethische Reflexion der industriellen Beschaffung sowie seriellen Produktion von Nahrungsmitteln evozieren. Zum anderen kommt die Silbermöwe (b, s. unten) als ein ausschließlich »ästhetisches« Tier in den Blick (s. dazu auch die Anmerkungen zur Möwe als Medium atmosphärischen Erlebens in Kapitel 2.3.5). Reste vom »unnützen« Tier als atmosphärische Medien An einem Strand sind abgebrochene Beine und Scheren sowie umherliegende Panzer von großen und kleinen Krabben Sensationen einer alles verzehrenden touristischen Schaulust. In der gegebenen Situation wurden sie zu Medien ethischen Bedenkens. In ihrem situativen Erscheinen – eben nicht an einem Strand, sondern von den Nylonbändern der Reste von unbrauchbaren Baumkurrennetzen eingeschnürt – reklamierten sie die Reflexion des nahrungsmittelwirtschaftlichen Umgangs mit dem Tier im Allgemeinen, welches den Interessen der Menschen unterworfen wird. Das von großen toten Krabben Übriggebliebene wird so in der Mikrologie zum idiosynkratischen Medium. Es vermittelt die schlagartige Konstitution eines Hot Spots kritischer Gastrosophie. In der Mikrologie heißt es, das Tote starre »wie eine stumme Anklage in ein Nichts der Ruhe, Leere, Öde – in einen trostlosen Ort, an dem alles zum Stillstand gekommen zu sein scheint.« Das vom einst lebenden Tier Übriggebliebene wird 344 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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zur beredten Geste. Die »Dinge« (zu denen Teile vom toten Tier werden) haben etwas zu »sagen«, auch wenn sie nicht sprechen können; sie zeigen Spuren einer Geschichte, die an ihnen vorüber oder durch sie hindurch gegangen ist. Es mag am starren und vertrockneten Zustand der Tierreste gelegen haben, dass sie weder Gefühle des Ekels, noch solche der gleichzeitigen Abstoßung und Anziehung 37 wachgerufen haben, die das Denken vielleicht blockiert hätten. Es dürfte allein der situativen Abfolge der Eindrücke auf dem Wege der Durchquerung des Hafens geschuldet sein, dass die mentekelhaften Zeichen des nutzlos Toten nicht lediglich als spektakuläre Objekte der Erfrischung der Aufmerksamkeit erlebt worden sind, sondern zu Medien der Skandalisierung einer konkret vorscheinenden Schnittstelle im Mensch-NaturMetabolismus geworden sind und damit zu denkwürdigen Sachen im Sinne Heideggers. Auf sich dann verzweigenden Denkwegen geschah mit toten Dingen, was üblicherweise an »Höherwertigem« geübt wird: leblose Schalen, abgebrochene Beine und verloren herumhängende Krebsscheren wurden zu Kandidaten ethischen Nachdenkens. Vladimir Jankélévitch sagt: »Der Tod stilisiert das dahingegangene Leben und macht es groß und würdig« 38. Diese jämmerlich eingequetschten Reste vom Krebsgetier sind – so wie sie daliegen – aber »nur« Abfall. Bestenfalls geben sie sich noch als Medien eines zivilisationskritischen Rückblicks auf die gesellschaftliche Realität alltäglicher und nicht bedachter Ernährungspraxen zu bedenken. So lässt sich (mit Bedacht und relativiert) auf das Tote bzw. die in der Mikrologie vermerkten Reste toter Tiere übertragen, was Vladimir Jankélévitch über die Toten sagt: »Der Tote hingegen ist im umgekehrten Sinne anwesend-abwesend, da er eine kaum anwesende Abwesenheit ist.« 39 Die spezifische Form solch anwesender Abwesenheit hat in der Situation der Niederschrift der Mikrologie erst die Denkwürdigkeit vermittelt. So thematisiert sich im Milieu der Atmosphären eine an ökonomischen Interessen und kulinarischen Begehren hängende Beziehung zum Tier, das als Ressource und in der Masse in den Blick kommt und nicht als individuelles Tier. Eindrücklich werden in der Situation des Mit-Seins im Raum des Hafens abgerissene Teile von 37 38 39

Vgl. auch Schmitz, Der Leib, S. 68. Jankélévitch, Der Tod, S. 153. Ebd., S. 306.

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unerwünschten Tieren, die als Beifänge von Anfang an noch nicht einmal »Reste« waren, sondern überflüssige, Aufwand und Kosten verursachende Abfälle. Im situativen Erleben werden sie nicht nur zu Zeichen einer industriell auf See betriebenen (Garnelen-)Fischerei, sondern weit darüber hinaus zum Symbol eines hinzunehmenden massenhaften Todes, der als Kehrseite guter Produktpreise ernährungspolitisch bagatellisiert wird. Wie der Zweck die Mittel heiligt, so ist der Lebens-Abfall von einem fragwürdigen ökonomischen »Sinn« gedeckt, der sich zudem als Bedingung eines falsch verstandenen »guten Lebens« zu verstehen gibt. Derweil wird das von der PRDemagogik einer globalen Nahrungsmittelindustrie sauber geredete Bild der Beschaffungsmethoden von Fisch und sogenannten »Meeresfrüchten« schon im flüchtigen Blick auf die Zivilisationsgeschichte des Essens und Trinkens rissig – erst recht hinter den Vorzeichen der sich im Spätkapitalismus zuspitzenden Widersprüche im MenschNatur-Verhältnis. Vor allem an den Küsten des Wattenmeeres galt das Fleisch verschiedener Krebsarten, darunter auch das der Garnelen, bis ins 19. Jahrhundert als wichtige Proteinquelle in der Ernährungskultur der »einfachen Leute«. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Garnele zunächst als teure Delikatesse gehandelt, infolge globaler Produktions-, Verarbeitungs- und Vermarktungsketten stand sie dem Konsumenten jedoch bald massenhaft zur Verfügung. Auf See gefischte Arten stehen in ihrem Warencharakter in Konkurrenz mit Produkten aus (vor allem asiatischen) Aquakulturen, die nicht selten mit chemischen und pharmazeutischen Rückständen belastet sind. In der Gegenwart gehen Garnelen, deren Konsum seit Beginn des zweiten Jahrtausends sprunghaft angestiegen ist, als semi-exklusive Massenware im Spektrum »normaler« Supermarkt-Lebensmittel auf. Im Unterschied zu mehr als hundert Jahre zurückliegenden Ernährungsnotlagen sind sie heute beinahe ausschließlich Objekte kulinarischen Begehrens und dienen dem Genuss; ihre Rolle der Sicherung eines ernährungsphysiologisch wichtigen Bausteins gehört in überernährten Gesellschaften reicher Länder der Geschichte an. 40 Wenn die Garnele auch kein prädestinierter Kandidat der Tierethik ist, so fordert die Selbstverständlichkeit ihres Verzehrs doch die Konsequenz einer ethischen Reflexion der Art und Weise der Beschaffung von Nahrungsmitteln aus den Kreisläufen der Natur. 40

Vgl. auch Hasse, Im Schatten der Esskultur.

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Was Jankélévitch zum Tod im Allgemeinen anmerkt, lässt sich auf den Tod selbst niederer Tiere wie Dekapoden noch beziehen, ist der Tod doch ungeachtet dessen, den er trifft, ein finales Ereignis, das zu einer Zeit an einem Ort im Raum eintritt. 41 Dennoch gehört es zur Methode der industriellen Fleischbeschaffung, dass die zwangsläufig hinzunehmenden Tode strukturell verschwiegen werden und namenlos bleiben. Das hat Rückwirkungen auf die Wahrnehmung jener fischereiwirtschaftlich »unerwünschten« Tiere, die schon Abfall waren, als sie in die Netze gingen. Sie sind Zeichen des Wertlosen par excellence, allenfalls Kinder noch begeisternde Fundstücke aus einer merkwürdigen wie antiquierten Fantasy-Welt der Meere. Was im Umgang mit abfallartigen Resten von Schwein und Rind schon aus Gründen des Ekels der ethischer Reflexion entzogen ist, ist bei Resten vom Fisch wie anderem Meeresgetier ähnlich. Weil der Blick sich also abwendet, darf unverborgen herumliegen, was die moderne Lebensmittelindustrie und konsumbegleitende Kulturindustrie im Prinzip in die Denkwürdigkeit treiben könnte. Wenn Harald Lemke sich gegen eine Entmoralisierung des gesellschaftlich vorherrschenden Geschmacks ausspricht, dann deshalb weil eine allgemeine Theorie des ethisch guten Essens durchaus begründbar erscheint. 42 Allein die Option des Bedenkens gesellschaftlich vorherrschender Kulturen des Essens und Trinkens scheint an allem auf, was die Menschen verzehren, und erst Recht an dem, was sie davon wegwerfen. Die Mikrologie spiegelt eine Begegnung wider, in der denkwürdig wird, was die Routinen des Alltages der Wahrnehmung entziehen. Das »schöne« Tier und sein atmosphärischer »Platz« Die zweite Perspektive innerhalb des bipolaren Spannungsverhältnisses von Utilitarismus und Ästhetik, die sich aus der dichten Beschreibung zum Erscheinen von Tieren ergibt (b), betrifft die Silbermöwe. Im Unterschied zur utilitaristischen Beziehung zur Garnele erscheint der Vogel in einer ästhetischen und damit von Grund auf anderen Beziehung als die aus Netzen starrenden Teile von toten Krabben. Der kategoriale Unterschied besteht darin, dass der Vogel im atmosphärischen Raumerleben des Hafens als ästhetisches Objekt berührt. Der Vogel existiert diesseits nahrungsmittel-ökonomischer Interes41 42

Vgl. Jankélévitch, Der Tod, S. 298 f. Vgl. Lemke, Ethik des Essens, S. 216.

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sen; darin ist er den wertlosen Dingen ähnlich. In Küstenregionen wie in Seehäfen sind Möwen als »freie« Vögel »klimatologische Anzeiger«. Aber sie »kommunizieren« nicht nur objektivierbare Eigenschaften, weit darüber hinaus sind sie atmosphärische Wesen. Als solche komplettieren sie in gewisser Weise die (erwartete) Erlebniswirklichkeit einer Küstenlandschaft wie einer Stadt am Meer. Die Möwe verbindet in ihrem Flug wie ihrem Schrei Himmel und Erde in küstentypischer Weise. So ist in der Beschreibung auch explizit vermerkt, dass die umherfliegenden Silbermöwen einen Platz in der lebensweltlichen Vorstellungswelt von Meer und Küste haben. Bemerkenswert ist auch der Hinweis auf ihren ubiquitären Charakter, der jedoch nicht zur »Neutralisierung« des Ortes ihres ekstatischen Erscheinens führt, »klingt ihr Schreien im Himmel über einem Seehafen doch anders als über einer Müllkippe« (s. o.). Besonders in ihrem Flug über dem Horizont der offenen See symbolisiert die Möwe die unverfügbare Seite der Meeresnatur. Ihr Klang- und Flugbild bietet sich als synästhetische Brücke zum Erleben von Meergegenden und Häfen an. Möwen sind Luftwesen, die zugleich auf dem Wasser schwimmen und auf der Erde laufen. In ihren sichtbaren Flugbewegungen und hörbaren Schreien verbinden sie Himmel und Erde. In ihrem Flugbild drückt sich die (selbst unsichtbare) Dynamik des Windes aus. Ihre weiße und aerodynamische Körpergestalt legt Assoziationen mit leichten, reinen sowie hoffnungsvollen Bedeutungen nahe – etwa im Unterschied zu schwarzen Rabenvögeln, die in der Mythologie mit Symbolen der Finsternis, des Satans und anderer Übel belastet sind. 43 Während Möwen in der Nähe des Meeres im Erlebnishorizont der Mikrologie erwartet werden konnten, resultierte die Begegnung mit den Resten von totem Seegetier allein aus einem Zufall. Ein anderer Weg über das Gelände des Hafens hätte an ihnen vorbeigeführt, Während eine ganze Reihe von Vögeln mythologisch konnotiert ist (wie Adler, Rabe, Elster, Kuckuck, Grünspecht und Storch), hat sich die Möwe bemerkenswerterweise außerhalb lebensweltlich kursierender Bedeutungen nicht als narrative Brücke in mythische Bedeutungswelten angeboten; vgl. auch Grimm, Deutsche Mythologie, besonders S. 558–569. Mit Bezug auf eine Erzählung von Botho Strauß, in der eine Zwittergestalt zwischen Frau und Möwe vorkommt, weist Helga Arendt darauf hin, dass »die Möwe einerseits eine Sehnsucht nach dem Unendlichen, dem ganz Anderen, symbolisiert, andererseits das Animalische der Möwe auf den Triebcharakter des Menschen verweist, der ihn an seinen Körper fesselt.« Arend, Sirene, Taube und Möwe, S. 122.

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und das Bedenken des sich in diesem Hafen zeigenden Gesichts der Fischerei hätte die Affekte nicht tangiert; vielleicht wäre gar kein ethisches Selbstgespräch zustande gekommen. Die Macht des Zufalls weist am gegebenen Beispiel weit über die im Prinzip nicht kalkulierbare Verkettung von Eindrücken hinaus und macht in erkenntnistheoretischer Hinsicht die Generierung von Theorie im Allgemeinen denkwürdig. Während es am Beispiel der Mikrologie allokative Wege waren, die den tatsächlichen Raum des Hafens erschlossen haben, so werden in der Wissenschaft kognitive Wege nach prinzipiell jedoch vergleichbaren Zufällen eingeschlagen – infolge der Verwicklung in soziale Netze, der (emotionalen) Affinität gegenüber bestimmten Denkschulen und -stilen, der subjektiven Bahnung von Erkenntniswegen durch die epistemischen Bestände einer wissenschaftlichen Disziplin usw.

4.1.6 Mitlaufende Interpretation und das ethische Selbstgespräch In Ergänzung zu den in Band 1 ausführlich diskutierten phänomenologischen Anmerkungen zur methodischen Durchführung der dichten Beschreibungen (s. auch Kapitel 3, besonders 3.2.2.) seien im Folgenden einige ergänzende Hinweise diskutiert, die den Zweck der Mikrologien am konkreten Beispiel noch einmal herausstreichen können. Diese reklamieren sich an dieser Stelle, weil die Eindrücke der Mikrologie dieses Kapitels in besonderer Weise zu interpretativen Verwicklungen herausgefordert haben. Wenn es Sache der Phänomenologie ist, subjektives Befinden aus dem Blickwinkel affektiver Involviertheit in Situationen zum Gegenstand der Reflexion zu machen, so sind es gerade diese deutenden Einlassungen, die über ein aktuelles persönliches Verhältnis zu etwas Eindrücklich-Werdendem Aufschluss geben. Phänomenologie ist Schule der Selbstreflexion schlechthin, weil sie »die unwillkürliche Lebenserfahrung zusammenhängender Besinnung wieder zugänglich« 44 macht und auf diesem Wege »die Abstraktionsbasis der Begriffsbildung näher an die unwillkürliche Lebenserfahrung« 45 heranlegt. Dies bedeutet aber nicht den Verzicht auf jede Art und Form der

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Schmitz, Kurze Einführung, S. 7. Ebd., S. 13.

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Abstraktion, theoretischen und metatheoretischen Reflexion von Eindrücken des täglichen Lebens; vielmehr liegt im erkenntnistheoretischen Programm der Phänomenologie die Aufforderung, solche kognitiv-reflexiven Einlassungen auf etwas, das zudringlich geworden ist, auf die Quellen dessen zurückzuführen, was auf welche Weise Aufmerksamkeit geweckt hat. Beobachtung kann nur Beobachtbares explizieren. Die spontanen interpretativen Einlassungen in das Geschehen einer Situation sind daher im engeren Sinne auch keine Beobachtungen, wie sie auf dem theoretischen Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Methodologie zu verstehen wären. Treffender können sie als subjektive Resonanzen aufgefasst werden, die – wesentlich durch Gefühle ausgelöst – im Sinne eines Selbstgesprächs auf Eindrücke »antworten«. Wenn dieser Monolog auch von den Grenzen individueller Subjektivität in gewisser Weise gefangen ist, so schließt das doch insofern die Verwurzelung der Bezugspunkte des Denkens in gesellschaftlichen Wertorientierungen nicht aus, ist doch das, was ein Individuum in seiner Identität ausmacht, auf dem Wege der Kommunikation in gemeinsamen Situationen – also gesellschaftlich – geprägt worden. Die auf sinnliche Eindrücke antwortenden Reflexionen können und dürfen nicht an jenem Anspruch der Nachvollziehbarkeit gemessen werden, wie dies in den Naturwissenschaften üblich ist und in abgewandelter Form noch in einer Reihe von Sozialwissenschaften in ähnlicher Form gilt. Die reflexiven Exkurse der Mikrologien haben den Charakter der Versprachlichung von Interpretationen, sind also Ausdruck einer subjektiven Beziehung zum Gegenstand eines Erlebens. Was sich als Interpretation darstellt, ist weniger Beschreibung einer Situation auf der Objektseite als vielmehr Explikation einer subjektiven Beziehung zu einer in ihrer Tatsächlichkeit letztlich unscharf bleibenden Situation. Interpretationen bieten sich als Brücken besseren Verstehens der befindlichen Verwicklung einer Person in ein situatives Erleben (durch das Passepartout von Bedeutungen) an. Sie legen auch offen, in welcher Weise die Beziehung zu einem Gegenstand von Bedeutungen gelenkt wie von Gefühlen imprägniert ist. Das auf diesen Wegen angebahnte Verstehen der affektiven Verwicklung in eine Situation antwortet auf eine Begegnung, in die ein Individuum im Sinne eines Selbstbildungsprozesses einbezogen ist. Die Fokussierung einer wertenden Beziehung zu einem Gegenstand des Erlebens entspricht in etwa dem, was auch die Methode der psychologischen Selbstbeobachtung erfassen will. Sie hat unter ande350 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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rem das Ziel, individuelle Resonanzen auf ein Erleben – vor allem die von diesem Erleben berührten Gefühle – der Deutung zu erschließen. Psychologische wie phänomenologische Methoden der Selbstbeobachtung finden nach der Krise des Positivismus wieder eine vermehrte Beachtung. Die Hinwendung zur subjektiven Form emotionaler Verstrickungen in Situationen steht dabei in einem »ausgleichenden« Kontrast zum suggerierten Objektivitäts- und Glaubwürdigkeitsanspruch statistischer Verfahren. Dass gerade die Wissenschaften selbst diesen Befunden oft unkritisch gegenüberstanden, erhöht die Skepsis gegenüber jedem »Wahrheits«-Versprechen durch die Anwendung empirischer Verfahren noch einmal beträchtlich. Die Methode der Selbstbeobachtung soll nach Thomas Raab »Aspekte des Denkverlaufs« 46 erschließen. Dabei muss sie nicht solipsistisch enden, sondern kann vielmehr zum besseren Verstehen der Schnittstellen subjektiven Erlebens zum einen und (gesellschaftlich vermitteltem) situativem Erscheinen zum anderen beitragen. Zwar sah schon Husserl »im subjektiv erlebten ›Phänomen‹ eine unauflösliche Mischung von Beobachtetem und Beobachter« 47; indem er aber an einer phänomenologischen Innenschau interessiert war, widmete er seine Aufmerksamkeit der individuellen Psychodynamik und viel weniger dem, was eindrücklich auf das Erleben eingewirkt hat. Dieses kommt neben der Subjektseite mitweltlichen Erlebens in der Schmitz’schen Phänomenologie in den Blick. Selbstreflexion stellt sich in der Mikrologie als Folge ihrer Verwurzelung in einem je aktuellen Geschehen nicht nur als systematische Durchdringung sinnlicher Eindrücke dar. Sie ist vielmehr als sprachlicher Ausdruck einer »monologischen« Begegnung zu verstehen, in der die Dinge zu sprechen beginnen und das Denken provozieren. Die Beispiele aus der Eindrucksbeschreibung des Lauwersooger Hafens zeigen, dass spontane Interpretationen untrennbar mit einer Beobachtung in situ zusammenhängen. Eine methodische Abtrennung – wie in sozialwissenschaftlicher Methodologie üblich – müsste eine eindrucksverfremdende Abspaltung zur Folge haben, die jedes Verstehen nicht erleichtern, sondern erschweren würde. Indem Reflexion die Abstandnahme voraussetzt, stellt sie aus der Perspektive der Distanz Bezugspunkte des Denkens her. Eine im authentischen Sinne erlebnis-adäquate Explikation subjektiven Er46 47

Raab, Selbstbeobachtung, S. 19. Ebd., S. 22.

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lebens kann daher programmatisch auf keine naive Sicht begrenzt werden, die alles ausklammern würde, was mit »Theorie« zu tun hat und als Produkt wie auch immer zustande gekommener Bildung angesehen werden müsste. So stellt sich auch das in diesem Kapitel reflektierende »Hineinreden« in die Beschreibung eines aktuellen Erlebens als eine Form der Selbstgewahrwerdung dar. Solche spontanen Interventionen können – mit Michel Foucault – daher als Spiegel praktizierter Sorge um das eigene Selbst verstanden werden. Die bei Foucault im Rückgriff auf die griechische Philosophie (hier des Alkibiades) diskutierte Selbstsorge verfolgt »keinen anderen Zweck und kein anderes Ziel, als daß man sich in sich selbst niederläßt, ›in sich selbst wohnt‹ und dort verweilt.« 48 Auch diese Sorge um das eigene Selbst bedarf einer Methode, und so empfiehlt Foucault: »Notizen über das Gelesene machen, über die Gespräche und über die Gedanken, die man gehört hat oder sich selbst macht.« 49

4.1.7 Eindrucksmomente der Irritation Allen Eindrücken, die sich durch ein tendenziell plötzliches Aufmerken vom reibungslosen und erwartungsgemäßen Wahrnehmen abheben, eignet ein Moment der Unterbrechung. Solche Unterbrechungen stimmen die Aufmerksamkeit nach unterschiedlichen Graden der Intensität. Im Unterschied zum Schreck, der wie ein Blitz in die Ordnung selbstverständlichen Verstehens hineinfährt, werden weniger irritierende Eindrücke von einem Erstaunen oder Stutzen begleitet. Der Schreck führt zunächst noch nicht zu einer Schärfung der Aufmerksamkeit, eher zu einer Verwirrung der Bezugspunkte der Orientierung. Diese müssen in der Folge Schritt für Schritt wieder koordiniert werden. Die meisten in ihrem Charakter »aufweckenden« Eindrücke erscheinen in einem Gesicht des Plötzlichen. Dieses hat darin eine erkenntnistheoretische Funktion, dass es eine Irritation vermittelt, die – zumindest kurzfristig – das ordnende Nachdenken verlangt. Der Schreck gibt schon in seiner Urform im biologischen (und nicht erst anthropologischen) Sinne eine alarmierende Warnung zu spüren und mündet in ein Erstarrt- oder Gebannt-Sein. Auch das Stutzen kommuniziert – wie das Erstaunen – ein Gebot der Steige48 49

Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 603. Ebd., S. 610.

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rung der Aufmerksamkeit. Die so verschiedenen erkenntnistheoretischen Irritationsanzeiger folgen mit je situationsangepasster Intensität einer hinweisenden Logik: Hier stimmt etwas nicht! Dies ist immer dann der Fall, wenn sich die Routinen der Wahrnehmung verlangsamen und das Gewohnte nicht mehr als etwas schon Gewusstes, sondern ein erst Klärungsbedürftiges erscheint. Dieses Kapitel wird der Frage nachgehen, was geschieht, wenn irritierende Eindrücke die Aufmerksamkeit verwirren. Daran schließt sich die weitere Frage an, unter welchen Bedingungen ein Erkenntnisprozess zustande kommt, der die Qualität einer »Begegnung« hat. Zur Funktion des Staunens, Stutzens und Erschreckens Dies soll an Beispielen aus den dichten Beschreibungen verdeutlicht werden (s. auch Kapitel 2 und 3 in Band 1). Auf dem Gelände des niederländischen Fischereihafens von Lauwersoog wurde ein stutzend machender Eindruck insbesondere von der unerwarteten und plötzlichen Gegenwart von Totem in Gestalt von Tierresten in den Fangnetzen ausgelöst, die an diesem Ort nur als Rest und Abfall erschienen sind. In diesen Dingen zeigte sich eine Falte im Gesicht einer modernen Fischereitechnik, in der die Utopie nachhaltiger Fischerei zum Zerrbild geriet (s. oben). Noch innerhalb der aktuellen Situation ihres Eindrücklich-Werdens lösten die toten Dinge eine zumindest einsetzende ethische Reflexion von Bedeutungszusammenhängen aus, die sich in der Gegenwart ganz allgemein mit den Methoden der industriellen Beschaffung, Produktion und Konsumption von Lebensmitteln verbindet. In der Mikrologie zum Wochenmarkt war es die wiederum unerwartete Szene spätsommerlicher Jazzimprovisationen, die das Erleben eines (infra-gewöhnlichen) Marktes so nachhaltig durch Eindrücke eines Neuen und Nicht-Passenden irritiert hatte, dass die gewohnte Ordnung der Dinge für einige Momente durcheinander geraten war. In der dichten Beschreibung der Atmosphäre einer Blumenversteigerung war es schließlich ein plötzlich in den hypertechnischen Auktionssaal hereinfliegender Schmetterling, der Fragen zum Mensch-Natur-Metabolismus herausforderte. Auf dem Frankfurter Blumengroßmarkt vermittelte das zufällige Zusammentreffen mit einem Händler, der mit dem Ersteigern von Waren im digitalen Onlinehandel in den Niederlanden beschäftigt war, ein ganz anderes Bild dessen, was alltagsweltlich in der Gestalt von »Blumenmärkten« vertraut ist, wie man sie in jeder Stadt finden kann. In all 353 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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diesen Situationen waren es stets fremde oder exotische Eindrücke, die Fragen evoziert und damit die Neuorientierung mentaler Ordnungssysteme herausgefordert haben. Die Notwendigkeit der Neuausrichtung der Orientierung betrifft indes nicht nur kognitive Muster der Wahrnehmung, sondern auch emotionale Erwartungen. So sind es auch keine kognitiven »Gedanken«, die uns irritieren, wenn wir etwas spontan nicht mehr in gewohnter Weise verstehen können, sondern affektiv fundierte Aufmerksamkeiten. Gefühle lassen uns stutzen und zwingen zu einem Nachdenken dessen, was sich in einer aktuellen Situation des Verstehens als brüchig erweist. In den meisten herausfordernden Eindrücken war es nicht der Schreck, der die Irritation vermittelt hatte, sondern »lediglich« ein erstauntes Stutzen. Das Erstaunen ist – weit über eine gewisse pädagogische Bedeutsamkeit hinaus – von erkenntnistheoretisch grundlegender Relevanz. Nach Heidegger durchherrscht es sogar »jeden Schritt der Philosophie« 50. Das sich in seinem Medium vermittelnde Denken verdankt sich dabei in seiner Initiierung einer ambivalenten Stimmung der Abstandnahme und gleichzeitigen Anziehung: »Im Erstaunen halten wir uns an (être en arrêt). Wir treten gleichsam zurück vor dem Seienden – davor, daß es ist und so und nicht anders ist. Auch erschöpft sich das Erstaunen nicht in diesem Zurücktreten vor dem Sein des Seienden, sondern es ist, als dieses Zurücktreten und Ansichhalten, zugleich hingerissen zu dem und gleichsam gefesselt durch das, wovor es zurücktritt.« 51

Heidegger macht sogar den historischen Beginn der Philosophie bei den Griechen an der Grundstimmung des ersten Anfangs fest und damit am Moment des Erstaunens. 52 Das Erstaunen vermittelt sich schon deshalb durch die Eindrucksmacht des Plötzlichen, weil es »in die reine Anerkenntnis der Ungewöhnlichkeit des Gewöhnlichen« 53 mündet. Die aufmerkende Zuspitzung der Wahrnehmung angesichts der Not unzureichenden Wissens um das, was gerade »ist«, bezieht ihre Energie aus der Eindrucksmacht des Plötzlichen, das in einer milden Form schon dem Sich-Wundern eignet. Während im Bewundern der Gegenstand des Bewunderns noch Sache der Aufmerksamkeit ist, 50 51 52 53

Heidegger, Was ist das – Die Philosophie?, S. 39. Ebd., S. 40. Vgl. Suehsia, Die Grundstimmung Japans, S. 118. Heidegger, zit. bei ebd., S. 122.

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wendet sich das Blatt im Staunen und Bestaunen, sodass das Subjekt ganz von der Ausstrahlungsmacht des Erscheinenden gefangen wird. »Genau in diesem Sinne kann man von einem sich Unterstellen des Menschen im Staunen und Bestaunen sprechen«. 54 Im Unterschied zur »nur« interessierten Hinwendung des Sich-Wundernden an einen Gegenstand des Wunderns entfaltet sich im Staunen eine Macht des Plötzlichen, die das Subjekt von einem Erscheinenden gebannt sein lässt. Der Schreck entfaltet, »indem er […] leiblich spürbar in die Glieder fährt und die orientierten Lebensbezüge augenblicklich abreißt« 55, im Medium des Plötzlichen seine ganze Intensität und lässt den Betroffenen zusammenfahren. Die beinahe im wörtlichen Sinne zu verstehende umwälzende Macht des Schrecks wird mitunter durch das Stutzen eingeleitet, tritt aber ebenso allein auf. Im Stutzen sieht Hermann Schmitz »eine dem Schreck zugeordnete Vorform des elementar-leiblichen Betroffenseins« 56, das sich in einem mehr oder weniger angreifenden Gefühl leiblicher Engung ausdrückt. 57 »Schreck ist privative Engung des Leibes, die das Band intensiver und rhythmischer Konkurrenz leiblicher Engung und Weitung nach der Seite der Engung überdehnt, so daß die Spannung […] plötzlich aussetzt und die Enge des Leibes ruckartig abgespalten wird.« 58

Im privativen Charakter der Engung drückt sich in der eigenen spürbaren Gestalt leiblichen Empfindens jene von Heidegger angesprochene Abstandnahme aus, die zugleich durch eine Macht der Anziehung an ihren Gegenstand gebunden bleibt. Indem sich in einem solchen Gefühl der Engung die Spaltung von etwas Trennendem vermittelt, wird eine festhaltende Beziehung zum Getrennten hergestellt. Es ist die Macht des weg- und zugleich hinstrebenden Impulses, die die Aufmerksamkeit beim Gegenstand hält. Würde sie diesen indes verlieren, die Spaltung also radikal werden, verlöre der Scheck in seiner Engung seinen produktiven Einfluss auf die Sammlung aller Kräfte zur Differenzierung der Wahrnehmung und des strukturierten Denkens. Er würde in gewisser Weise nutzlos. Die Neuausrichtung der Wahrnehmung für die Erfassung des noch nicht Vertrauten reklamiert zunächst die zeitliche Qualität der Dauer, um sich für die 54 55 56 57 58

Suehsia, Die Grundstimmung Japans, S. 126. Schmitz, Neue Grundlagen, S. 97. Ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 121. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 80.

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Rekonstitution der Bezugspunkte der Orientierung zu sammeln. Daher betont Hermann Schmitz: »Im Schreck ist vielmehr die Dauer ›weg‹, in der etwas lang oder kurz sein kann. Das Plötzliche, die primitive Gegenwart, offenbart auf diese Weise im Schreck besonders deutlich seinen verzehrenden, das Kontinuum (hier die gleitende Dauer) annullierenden Charakter«. 59

In der Dauer dieses Abrisses der Zeit öffnet sich ein Fenster aktueller und situativer Selbstbildung. Damit reklamiert sich indes keine Bildung im bildungstheoretischen Sinne, sondern die Bildung erkenntnistheoretischer Strukturen, die bei der Reetablierung eines sicheren Gefühls für die Ordnung der Dinge helfen können. In zahllosen neuen Eindrücken bildet die Irritation eine Brücke zur Anbahnung der Rückgewinnung lebensweltlicher Gewissheiten und damit der produktiven Ausfüllung von Leerstellen aktuellen Verstehens. »Irritation« wird in einem psychologischen Sinne hier als Ergebnis einer erhöhten Reizbarkeit (Irritabilität) durch Einwirkungen aus der Außenwelt verstanden. 60 Johann Friedrich Blumenbach 61 betrachtete Irritabilität noch in einem physiologischen Sinne als Bildungskraft und Moment der Lebenskraft. Erst bei Kant wurden »organische Kräfte« in einem weiteren Verständnis aufgefasst, 62 in ihrer Bedeutung aber erst auf dem Hintergrund eines weniger biologistischen Menschenbildes zugunsten eines produktiven und kreativen Verständnisses der Menschwerdung geöffnet. Irritation kommt nun auch der Entfaltung kultureller Kräfte der Selbst-Bildung zugute. Vor allem das Irritiert-Werden gelangt als Prozessphase der eigenen SelbstBildung in den Blick. Irritationen haben einen produktiven Einfluss auf den Verlauf von Wegen der Selbstkonstitution situativ bedrohter Selbstgewissheit. Es genügt aber nicht, sie allein aus der pathischen Perspektive des Bewegt-Werdens zu betrachten; auch die erscheinende Eindrücklichkeit von etwas, das zur Irritation führt bzw. sie auslöst, verdient Beachtung. Ihre Reflexion gibt erst darüber Auskunft, in welcher spezifischen Weise eine Person zu ihrem Herum in Beziehung steht, wenn die selbstverständliche Ordnung der Dinge – zuSchmitz, Band IV, S. 284. Vgl. Kirchner / Michaëlis, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 562. 61 Joahnn Friedrich Blumenbach (1752–1840) war Begründer der empirischen Anthropologie; vgl. Hoffmann / Laitko / Müller-Wille, Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Band 1, S. 190 ff. 62 Vgl. Engels, »Lebenskraft«, Sp. 124. 59 60

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mindest vorübergehend – brüchig wird. Irritation verdankt sich der Qualität einer Schnittstelle, auf der die Beziehung eines Individuums zu seinem Herum problematisch wird. Während der Problem-Begriff alltagsprachlich eher negativ besetzt ist, findet er hier (und auch auf dem Hintergrund des philosophischen Verständnisses einer Situation (im Sinne der Neuen Phänomenologie) in einem produktiv-konstruktiven Verständnis Beachtung. Was zu einem Problem im erkenntnistheoretischen Sinne wird, büßt seine Griffigkeit ein und wird als Gegenüber eines sich reklamierenden Begreifens spröde und brüchig. Deshalb gilt im Sinne der Methode der sich dem Infra-Gewöhnlichen gegenüber aufgeschlossen zeigenden Mikrologien, was Eduard Kaeser über das in einem nicht-touristischen Sinne »Sehenswürdige« im Infra-Gewöhnlichen sagt: »[G]erade da, wo man nichts zu sehen hat, lernt man wieder sehen.« 63 Und so ist es gerade die Irritation, die »hellsichtig machen« 64 kann, nachdem sie das InfraGewöhnliche, das sich nicht in die Formate vertrauten Wiedererkennens hat fügen lassen wollen, exotisiert hat. Irritation zeigt sich als eine Form asymmetrischer Begegnung von der Qualität aufgefrischter Aufmerksamkeit. Der Begriff der Begegnung deckt eine phänomenologisch relevante Bedeutung ab. Begegnung ist eine atmosphärisch geladene Schnittstelle zwischen dem Selbst und einem Anderen, auf der sich spontane Erfahrung ereignet, aber nicht – wie in institutionalisierten Bildungsprozessen – förmlich arrangiert wird. Der Begegnungsbegriff ist jedoch nicht unstrittig. Ich gehe hier (aus Platzgründen) lediglich auf zwei unterschiedliche Auffassungen ein, die sich in einem Diskurs zwischen Otto Friedrich Bollnow und dem Religionsphilosophen Romano Guardini 65 (1885–1968) rekonstruieren lassen. »Begegnung« Einig sind sich beide Philosophen in der Auffassung, dass sich eine Begegnung ereignet, also weder planvoll gesucht noch arrangiert werden kann. Planung steht ihrem situativ ergreifenden Eintreten sogar

Kaeser, Ästhetik der Irritation, S. 149. Ebd., S. 162. 65 Romano Guardini war Professor für Religionsphilosophie (zuletzt und bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1964 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München); 1910 wurde er zum katholischen Priester geweiht. 63 64

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entgegen: »Ja die Weisheit sagt, echte Begegnung werde durch Wollen und Planen sogar gestört.« 66 Für Guardini entspringt schließlich das Philosophieren dem Hineingeraten in Situationen vom Charakter einer Begegnung. 67 Allerdings dürfte ihm Bollnow in dieser Auffassung nicht folgen, beschränkt sich seine Vorstellung doch allein auf Situationen des zwischenmenschlichen Zusammentreffens. So lassen sich auch die Eindrücke eines wie abgestorben daliegenden Fischereihafens nur unter bestimmten Denkvoraussetzungen als eine Begegnung auffassen. Indes bietet sich das Beispiel für die Diskussion der letztlich erkenntnistheoretischen Frage an, was als »Partner« einer Begegnung überhaupt in Frage kommen kann. Die erkenntnis- und bildungstheoretische Bedeutung des Begriffs der »Begegnung« erörterte Romano Guardini schon im Jahre 1928 ausführlich. Der seinerzeit erschienene Text wurde von Otto Friedrich Bollnow 1956 in einem Heft zum Thema Begegnung und Bildung erneut herausgegeben; er war nun jedoch in eine von Bollnow geführte Debatte zum Begegnungsbegriff eingebettet. 68 Guardini merkt in seinen Überlegungen, die er zunächst allein auf Begriff und Phänomen der Begegnung und noch nicht auf bildungstheoretische Fragen bezogen hatte, an, dass man von einer Erscheinung betroffen werde bzw. unter die Macht eines affektiven »Ergriffenwerdens« 69 gerate. Begegnung vermittle etwas Neues, eine noch ungewohnte Sicht auf etwas, das bis dahin als vertraut und selbstverständlich galt. Im Widerspruch zur Begegnung stehen für ihn deshalb »Gewohnheit, Gleichgültigkeit, Blasiertheit.« 70 Zu Medien einer Begegnung können nach seiner Auffassung neben Menschen auch Dinge der unterschiedlichsten Art werden, ebenso Tiere oder – was Hermann Schmitz »Halbdinge« nennt – ein Windhauch wie ein Regenguss. 71 Entscheidend sei, dass durch das Zusammentreffen eines Menschen mit etwas Erweckendem oder in besonderer Weise eindrücklich Werdendem ein gewohntes Denken neu geordnet werden müsse. Begegnung ist in diesem Sinne mehr als nur ein Erscheinen oder Sich-Ereignen; Begegnung zwingt – über die Macht des darin eindrücklich Werdenden – zur Reflexion und in aller Regel auch zur 66 67 68 69 70 71

Guardini, Die Begegnung, S. 17. Vgl. ebd., S. 14. Guardini / Bollnow, Begegnung und Bildung. Guardini, Die Begegnung, S. 14. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 14.

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Revision tradierter Muster des Wahrnehmens und Verstehens. Guardini fasst das so zusammen: »In ihr [der Begegnung, JH] geschieht das erste Betreffen des Entgegentretenden, wodurch der Betroffene aus seinem unmittelbaren Selbersein herausgerufen und zum Weggehen von sich in das Anrufende hinein aufgefordert wird.« 72

Am Beispiel der Begegnung mit einem Baum zeigt er, dass auch Dinge (und nicht erst Menschen) eine Begegnung vermitteln bzw. initiieren können. Neben dem Sich-Öffnen eines Menschen gegenüber einem Erscheinenden komme es entscheidend auf dessen Aus-sichHeraustreten an. Insofern sei Begegnung nie einseitig; sie betreffe nicht nur den Menschen, »der um des Entgegentretenden willen aus sich selbst hinaustritt, sondern auch den Gegenstand, dessen Wesen aus der Verhülltheit in ihm selbst heraustritt, auf den Menschen zu und ihm offen wird.« 73 Deutlich wird damit ein Verständnis des Erscheinens, wonach noch die Dinge (und Halbdinge) sich in einer Weise »äußern«, die vom wahrnehmenden Menschen im Sinne eines dialogischen Ausdrucksverstehens als etwas Lebendiges aufgefasst werden. Dieses Verstehen darf nicht in einem passiven Sinne (neudeutsch) als ein »Lesen« von Texten oder Eigenschaften, denen keine dynamisch-lebendige Ausdruckskraft zukommt, aufgefasst werden. Guardini sieht die Dinge als wandlungsfähig, sodass sie sich »äußern« und in lebendiger Weise zeigen. Im Unterschied dazu hat Bollnow – im Regress auf Karl Löwith – ein viel enger gefasstes Verständnis von Begegnung. Für ihn hat sie nämlich allein eine zwischenmenschliche Qualität. Mit Löwith betont er: »Zur Begegnung gehört also nach Löwith die Wechselseitigkeit des Verhältnisses, von Person zu Person, an der beide aktiv beteiligt sein müssen und die daher auch von beiden Seiten eingegangen und verhindert werden kann.« 74 Indem Bollnow Begegnung an ein existenzielles Moment bindet, 75 bringt er den Begriff in seiner Bedeutung in die Nähe der Jaspers’schen »Grenzsituation«, wenngleich diese in erster Linie auf Grenzen des Lebens im engeren Sinne bezogen war und nicht auf irgendeine in ihrer Eindrucksmacht ergreifende Begegnung. 72 73 74 75

Ebd., S. 24. Ebd., S. 23. Bollnow, Begegnung und Bildung, S. 42. Vgl. ebd., S. 52.

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Die Begrenzung der Bedeutungen des Begegnungs-Begriffes auf ein dialogisches Moment zwischen Menschen scheint Bollnow so wichtig und unverzichtbar zu sein, dass er Guardinis Verständnis von Begegnung einseitig rezipiert und schließlich tatsächlich behauptet, diesem gehe es um »die Begegnung eines Menschen mit einem lebendigen anderen Menschen« 76. Am Rande sei hier angemerkt, dass er damit auch der sich zwischen einem lebenden und einem toten Menschen (etwa angesichts dessen sinnlich präsenter Leiche) anbahnende Beziehung die Qualität einer Begegnung aberkennen müsste. 77 So stutzt er in gewisser Weise Guardnis viel weiter gehendes, erkenntnistheoretisch außerordentlich fruchtbares Begegnungsverständnis zugunsten eines eingeschränkteren Begriffes auf seine eigene Sicht der Welt zurecht. Damit sieht er von einem wesentlichen Moment ganz ab, das Guardini wie folgt beschreibt: »›Begegnung‹ im eigentlichen Sinne findet erst statt, wenn der Mensch es ist, der mit der Wirklichkeit zusammentrifft.« 78

Ein Wirkliches kann diesseits menschlicher Gegenwart ein Baum, ein Vogel und noch ein Raum sein, der im phänomenologischen Sinne aus sich heraus tritt – wie die atmosphärisch gesättigte Raumsituation der Jesuitenkirche Sankt Michael in München (s. auch Kapitel 5.2 in Band 1) oder eben ein Haufen von Fischern zurückgelassener Netze, in denen abgerissene Körperteile von verendetem »nutzlosem« Seegetier eingeklemmt sind. Es ist bemerkenswert, dass das in gewisser Weise weltoffene und in einem existenzphilosophischen Sinne umrissene Verständnis von Begegnung, das nicht an die Gegenwart eines anderen Menschen geknüpft ist, ausgerechnet von Guardini und nicht von Bollnow (dem Philosophen und Pädagogen) vertreten wird. Romano Guardini stand als Theologe und Religionsphilosoph außermenschlichen Einflüssen auf den Prozess der Gewinnung von Erfahrung weitaus offener gegenüber als Bollnow. Das muss insofern einen denkwürdigen EinBollnow, Nachwort, S. 53. Solche Beziehungen haben sich in der Geschichte der Seefahrt (vor allem im 18. und 19. Jahrhundert) mit besonders immersiver atmosphärischer Macht den Küstenbewohnern geboten, die namenlose ertrunkene Seeleute an den Stränden in der erschütternden Gestalt halb zersetzter Leichen aufgefunden hatten und dann am Strand schnellstmöglich bestatten mussten; vgl. dazu auch Hasse, Versunkene Seelen. Begräbnisplätze ertrunkener Seeleute im 19. Jahrhundert, insbesondere Kapitel 4. 78 Guardini, Die Begegnung, S. 11. 76 77

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druck hinterlassen, als der Pädagoge Bollnow damit ein Bildungsverständnis zu erkennen gibt, das in einer eher religiösen Weise verständlich werden lässt, weshalb er der sozialen Welt einen so mächtigen, beinahe ausschließlichen Einfluss zuerkennt, die Bedeutung der Dinge dagegen abwertet. Eine weitere Verengung von Bollnows Verständnis einer Begegnung findet sich in seinem 1941 erstmals erschienenen Buch über die Stimmungen. Darin führt er aus, dass »grundsätzlich schon immer durch die Stimmung entschieden ist, was dem Menschen begegnen kann und was nicht.« 79 Das Argument überzeugt nur insoweit, als die Grundstimmung, in der sich ein Mensch samt aller aktuellen Variationen befindet, die Aufmerksamkeit gegenüber bestimmten Eindrücken öffnet, wie sie sie anderen gegenüber tendenziell verschließt. Ein stimmungsbedingter Determinismus gegenüber Eindrücken vom Potential der Vermittlung einer Begegnung dürfte dagegen nicht nachvollziehbar sein, wenn Bollnows Anmerkung auch in diese Richtung weist. In einer zweiten Hinsicht ist Bollnows Aussage ebenso bemerkenswert. In ihr ist nämlich noch vom »Was« eines Begegnenden die Rede und nicht ausschließlich von einem »Wer«, wie das in der später erschienenen Schrift der Fall ist. Mit anderen Worten: In seinem früheren Denken sah er – wie das später im Unterschied zu ihm dann nur noch Romano Guardini betont hatte – Begegnung durch alles Mögliche vermittelbar und nicht allein durch Menschen. Die Gründe für diesen anthropozentrischen Schwenk sind schwer erkennbar; seine erziehungswissenschaftliche Prägung durch Georg Misch und Hermann Nohl hatte er in jener Zeit, also Mitte der 1950er Jahre, jedenfalls schon mehr als 30 Jahre hinter sich. Der in seinem Eindruck abgestorben wirkend Fischereihafen könnte im Sinne der von Bollnow 1956 vertretenen Position keine Begegnung vermitteln. Für Guardini hängt dagegen die Frage, ob sich eine Begegnung anbahnen kann oder nicht, davon ab, inwieweit ein idiosynkratisches Moment erkenntnistheoretisch in einer Weise wirksam werden kann, dass ein situatives Aus-sich-Heraustreten als so stark erlebt wird, dass sich existenziell grundsätzliche Fragen aufwerfen. Dies belegt die dichte Beschreibung der Mikrologie. Darin wird ein Eindruckserleben von der Qualität einer Begegnung expliziert. Diese hat den Charakter eines Erlebnisses, tritt der Eindruck doch in seinem als ekstatisch empfundenen Grad der Affizierung aus 79

Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, S. 135.

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dem Fluss dahinströmender Wahrnehmung im Sinne einer Verinselung heraus und evoziert das Nachdenken und in der Folge die Notwendigkeit der Neuordnung all dessen, was alltäglich vertraut ist. Zudem sollten sich die Eindrücke eines Fischmarktes, der sich lediglich als einfaches Fischgeschäft herausstellte, ex post als Quelle einer Begegnung im Sinne von Guardini erweisen. In der aktuellen Situation der kurzen Zeit des Aufenthalts im Raum des Geschäfts zeigte sich nur Infra-Gewöhnliches und zunächst nichts, was die Aufmerksamkeit über das Maß des Alltäglichen hinaus berührte. Erst auf dem Hintergrund kontrastierender Eindrücke konnte ein banales Fischgeschäft zu einem Denkstück werden. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich darin zeigt, dass eine Begegnung nicht mit dem zeitlichen Moment identisch sein muss, in dem etwas Begegnendes wahrgenommen wird, vielmehr erst dann zustande kommen kann, wenn gewonnene Eindrücke in einer Synthese mit anderen (relational bedeutsamen) Eindrücken in Bedeutungsordnungen aufgehen, die einen Prozess des Bedenkens in Gang setzen, der in einem engeren Sinne somit erst eine Begegnung darstellt. Letztlich implizierten aber schon Eindrücke, die im Rahmen einer alltäglichen fischerwirtschaftlichen Situation gewonnen wurden, den Keim der Irritation und damit des idiosynkratischen Aufmerkens. Dieses verdankt sich wiederum der spezifischen Sensibilität des Denkens und Fühlens gegenüber Sachverhalten, die sich hinter profanen sinnlichen Situationen verbergen. So vermittelt das hinter dem Infra-Gewöhnlichen Vorscheinende die existenzielle Reflexion des Mensch-Natur-Metabolismus und damit die von Gerald Hartung und Thomas Kirchhoff aufgeworfene Frage, welche Natur die Menschen unter der Bedingung eines technologisch fortgeschrittenen Zivilisationsprozesses für sich beanspruchen wollen. 80 Im Prinzip legt sich damit aber nicht erst eine »anthropologische Grundproblematik des 21. Jahrhunderts« 81 frei, sondern eine der technologischen Moderne insgesamt, deren Spuren mindestens ins 19. Jahrhundert zurückverweisen. Schon die Präsenz relativ einfacher technischer Mittel machte in einem leeren Fischereihafen Natur fragwürdig. Der (partielle) Verlust ihrer Selbstverständlichkeit bedurfte also nicht erst der spektakulären Problematisierung arrivierter Methoden der Biotechnologie und Reproduktionsmedizin. Begegnungsvermittelnd waren 80 81

Vgl. Hartung / Kirchhoff, Welche Natur brauchen wir?, S. 11. Ebd.

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Fischereihafen-Logistik am Vorabend einer Auktion

im Übrigen weniger Dinge oder Situationen als die zu ihnen eigenommenen (Reflexions-)Beziehungen. 82

4.2 Fischereihafen-Logistik am Vorabend einer Auktion Die folgende Mikrologie steht in einem sachlichen, situativen und zeitlichen Zusammenhang mit der sich in Kapitel 4.3 anschließenden dichten Beschreibung einer Fischauktion. An dieser Stelle werden die am Vorabend einer Auktion auf dem Gelände des dänischen Fischereihafens von Hanstholm stattfindenden vielfältigen (hauptsächlich logistischen) Aktivitäten zum Gegenstand der Beschreibung und phänomenologischen Interpretation. Beinahe alle Aktivitäten haben mit dem Entladen der Trawler zu tun, die im Laufe des Nachmittags an den Kaianlagen festgemacht haben. Die Seeleute der Hochseefischereiboote sind über mehrere Stunden damit beschäftigt, scheinbar zahllose Fischkisten mit Hydraulikkränen aus den Rümpfen ihrer Schiffe heraufzuziehen und am Kai abzusetzen, wo die bis zum Rand mit frischem Seefisch gefüllten Norm-Container durch Mitarbeiter der Hafenverwaltung von Gabelstaplern in die gekühlten Sortierund Auktionshallen gefahren werden. Die Mikrologie thematisiert die Situation der Vorbereitung einer Fischauktion, die in der Abfolge der sich täglich wiederholenden hafenwirtschaftlichen Rhythmen zu den charakteristischen Aktions- und Bewegungsbildern eines Fischereihafens gehört. Jede Versteigerung findet auf einer Schnittstelle zwischen Meer und Land bzw. Schiff und Hafen statt. Die Zwischenlagerung der Fänge in den Kühlhallen dient nicht zuletzt der Präsentation des Fischs. Zumindest in dieser an der bewährten Tradition des Fischauktionshandels orientierten Praxis spielt die sinnliche Gegenwart der Fänge noch eine unverzichtbare Rolle. Und so bildet sich aus Fischanlandung, -entladung und -einlagerung zum einen sowie der Auktion und dem Abtransport der versteigerten Ware in die Kühlhallen der Händler zum anderen ein raumzeitlich unmittelbarer situativer und performativer Zusammenhang. Die zweite Mikrologie wird sich in Kapitel 4.3 dem Auktionsbetrieb zuwenden, der an jedem Werktag von Montag bis Freitag um 06:45 h beginnt. Es werden große Mengen von täglich rund 200 bis Vgl. in diesem Sinne Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter und Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte.

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Fischmärkte

300 Tonnen Fisch versteigert. Die größten Anteile entfallen auf Seelachs, Scholle, Schellfisch, Dorsch, Seehecht und Seeteufel. Daneben werden auch andere Arten auktioniert. 83 Der Ort Hanstholm liegt mit seinem Fischereihafen in der norddänischen Region Nordjylland und gehört zur Kommune Thisted im Nordwesten Jütlands. Die kleine, am Skagerrak gelegene Stadt hat nur knapp 3.000 Einwohner. Seine Bedeutung verdankt Hanstholm dem florierenden Fischereihafen und den dort ansässigen Betrieben der Fischwirtschaft. Im Zweiten Weltkrieg spielte der Ort eine wichtige Rolle in der Verteidigung des Atlantikwalls. Die deutschen Besatzer bauten um 1940 in der Region über 400 Bunker. Schon im Jahre 1917 sollte in Hanstholm ein Hafen angelegt werden; die Kriegsgeschichte durchkreuzte die Pläne jedoch. Zu einer Realisierung kam es erst 1967; dann entstand einer der modernsten dänischen Seehäfen, der sich zum größten Fischereihafen des Landes entwickelt hat. Die Kaianlagen haben in der Gegenwart eine Gesamtlänge von rund 4,5 km. 84 Es gibt mehrere große Auktionshallen, zahlreiche Kühl- und Lagerhäuser für Fisch, die von den meist ortsansässigen Großhändlern betrieben werden. Der Handel mit Seefisch aller Art (außer Garnelen) bestimmt die Ökonomie des Ortes. Die folgenden Beschreibungen erstrecken sich über die Zeit von rund zweieinhalb Stunden. Trotz ihrer relativen Ausführlichkeit ist auch diese Mikrologie nach dem Prinzip der Autopsie in der Form zahlreicher Zeit-Raum-Schnitte zustande gekommen. Grundlage des Eindruckserlebens waren oft impressive Situationen, die sich nicht mit einem Schlage zu verstehen geben, sondern – bevor etwas eindrücklich Gewordenes in den Rahmen eines bereits verfügbaren Deutungsmusters eingefügt werden konnte – zunächst in einem nachbuchstabierenden Sinne verständlich gemacht werden mussten. Keine dichte Beschreibung kann alles erfassen, was zu einer Situation gehört, schon gar nicht in der Kontinuität ununterbrochener Dauer. Erfasst werden kann nur, was in einem aktuellen Zeitfenster geschieht und als Sequenz eines Prozesses erlebt wird. Aus der Dauer des Mit-Seins in Situationen versteht es sich zudem von selbst, dass

Aktuelle Vorankündigungen des Umfangs der gemeldeten Fänge (differenziert nach Arten) erfolgt am Tag vor einer Auktion online unter: http://www.hanst holmfiskeauktion.dk (21. 08. 2016). 84 Hafenverwaltung Hanstholm (Hg.), Hanstholm Hafen; http://www.visitthy.de/de/ hanstholm-hafen-gdk601443 (21. 08. 2016). 83

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Fischereihafen-Logistik am Vorabend einer Auktion

Abb. 4.11: Der Fischereihafen von Hanstholm (Dänemark)

sich die Aufmerksamkeit mit der Gewöhnung an Eindrücke, die sich im Verlauf der Zeit immer mehr ähneln, auf das konzentriert, was aus dem Strom des ähnlich Gewordenen herausragt. Die sich in der Dauer einer dichten Beschreibung verändernde Aufmerksamkeit ist mit dem Kegel eines Suchscheinwerfers vergleichbar, der zu Beginn seiner ausleuchtenden Suche möglichst viel in relativ diffusem Licht sichtbar zu machen versucht, während der Lichtkegel mit dem Fortgang der Zeit dieses oder jenes fokussiert und immer weniger immer genauer isoliert. Dadurch intensiviert sich das Hinsehen, und die Trennschärfe, mit der ein Eindruck an Tiefe gewinnt, differenziert sich. 85 An den Kaianlagen des See- und Fischereihafens haben zahlreiche Trawler festgemacht (s. Abb. 4.11). Die Seeleute sind eilig und offensichtlich in großer Routine damit beschäftigt, die im Rumpf der Schiffe befindliche Ladung mithilfe der Hydraulikarme von Hebekränen an Land zu schaffen, damit die schweren Container schnell in die Auktionshallen gefahren und dort aufgestellt werden können.

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Tag und Zeit der Protokollierung: 18. 08. 2016 | 19:00–21:30 h.

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Auf dem Hafengelände vor der Auktionshalle 1 sind drei Gruppen von Eindrücken sinnlich unmittelbar präsent: (1) Geräusche, (2) Gerüche und (3) Bewegungsbilder. Zu 1 (Geräusche): (a) Auf dem Dach eines Sattelschleppers aus Cuxhavens rauschen die Kühlaggregate. Der Truck übernimmt die Ladung eines Trawlers, der seinerseits aus Cuxhaven kommt. (b) Das unterschiedliche, geradezu individuelle Schnurren und Surren der Gabelstapler, deren Motoren entweder mit Gas oder Strom angetrieben werden. (c) Das mal leise, mal halblaute monotone Brummen der Hydraulik-Hebevorrichtungen auf den Schiffen, mit denen die mit Fisch bis zum Rand gefüllten Container aus dem Rumpf nach oben gehievt, über die Kante des Schiffes gehoben und auf der Kaianlage abgesetzt werden. (d) Das Geschrei der Möwen. Zu 2 (Gerüche): (a) Das frische Seeklima. (b) Fischgerüche, die in Schwaden kommen und gehen, ohne dass man sie auf etwas Konkretes beziehen könnte. (c) Öl und Staub. Zu 3 (Bewegungsbilder): (a) Die Bewegungsfiguren der Gabelstapler, die auf dem Platz zwischen den Schiffen und den Auktionshallen herumfahren. (b) Arbeiter auf den Schiffen und vor den Hallen, ein Polizist und eine Polizistin, die auf einem Trawler etwas kontrollieren. (c) Die Flugbahnen der Möwen. Es ist sonnig und mit rund 22 º C angenehm warm. Die unterschiedlichen Eindrücke wirken auf eine simultane Art und Weise zusammen, die in sich etwas rätselhaft bleibt. Das Hören geht in gewisser Weise durch das Gerochene und Gesehene hindurch, das Gerochene durch das Gehörte und Gesehene und das Gesehene durch das Gehörte und Gerochene. Mit anderen Worten: Die aktuelle, weitgehend windstille Situation an den Kais ist insgesamt in den Momenten eine andere, in denen die Möwenschreie atmosphärisch bestimmend sind, als in jenen, die ganz von den Geräuschen und Bewegungen der Gabelstapler ausgefüllt sind … und so weiter … ein dauernder Wandel. Der Trawler aus Cuxhaven wird von zwei Männern entladen. Der eine steht auf der Brücke und lässt mit einer Fernsteuerung das Stahlseil eines Hydraulikkrans durch eine Luke auf dem Deck in den Rumpf des Schiffes herunter und hebt dann vier oder fünf übereinander gestapelte Container mit Fisch heraus, schwenkt den Arm des Krans über die Bordkante und setzt den Turm auf dem Kai ab. Der zweite Mann löst mit einem schnellen, routinierten und scheinbar einfachen Griff die vier Kupplungen der Ketten an der unteren Kiste, 366 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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sodass das Stahlseil mit den Ketten wieder hochgezogen und erneut in den Schiffsrumpf abgesenkt werden kann. In einem sich ständig und bemerkenswert schnell wiederholenden Rhythmus fährt der Gabelstapler heran, greift die Kunststoffcontainer mit dem Hubgerüst, dreht fast auf der Stelle, fährt sie zum Truck und stellt sie auf der Ladeplattform ab. Dieser gleichsam zweipolige Vorgang wiederholt sich über die gesamte Zeit meiner Anwesenheit auf dem großen Platz zwischen dem Trawler und dem Sattelschlepper in einer ungebrochenen Monotonie und Schnelligkeit (s. Abb. 4.12). Andere Gabelstapler fahren Kisten mit Eis in die große Auktionshalle 1. Viele weitere Fahrzeuge kommen unentwegt von anderen Schiffen und bringen Container mit Fisch stapelweise in die Hallen. Im Unterschied zur sommerlich lauwarmen Außentemperatur überschreitet man beim Betreten der Hallen eine Temperatur-Grenze. Innen herrschen kühle 7 º bis 8 º Celsius. Die großen, weiten und nassen Räume sind gut ausgeleuchtet (mit kalt wirkendem Licht aus Neonlampen). Im häufigen Wechsel der Bewegung zwischen Drinnen und Draußen wird der klimatische Unterschied eindrücklich: draußen das warme sonnige Klima des Hafens und drinnen der kalte, technische Lagerraum ohne natürliches Licht. In einer Ecke der Halle stehen gleich hinter einem Rolltor drei Männer an einem massiven Arbeitstisch aus Aluminium und nehmen Plattfische aus (unterschiedliche Schollen). Die Abläufe, die aus wenigen sich wiederholenden Bewegungsfolgen bestehen, werden rasend schnell ausgeführt. Die Männer tragen dicke Gummihandschuhe, machen mit einem kleinen Messer einen Schnitt unterhalb des Fischkopfes, ziehen die Eingeweide heraus und entsorgen sie in einen Eimer (s. Abb. 4.13). Die ausgenommenen Fische werden dann in bereitstehende Kisten geworfen. Schon nach wenigen Schnitten werden die Messer nachgeschliffen. Jeder der Drei hat ein eigenes Schleifmedium; sie bedienen sich unterschiedlicher Techniken beim Schärfen. Das Messer scheint bei dieser Arbeit für die Männer etwas geradezu Persönliches zu sein. Jedes Mal wenn ein Plattfisch in eine Kiste fliegt, klatscht es und der ausgenommene Fisch gleitet über die schleimig-rutschige Haut der anderen Tiere. In der Nähe des Arbeitstisches steht ein undefinierbarer Geruch im Raum. Vielleicht ist es weniger der Fisch selbst, der hier riecht, als die Eingeweide, die einen nassen, dichten, schleimigen Brei bilden und einen großen Eimer schon halb füllen. Irgendwo im Hintergrund läuft ein Radio. Es hallt in den kühlen 367 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 4.12: Aufstellung der entladenen Fischcontainer und Abtransport mit dem Gabelstapler

und noch weitgehend leeren Raum der Halle, die über große Durchfahrten mit einem benachbarten, ebenso großen Raum verbunden ist. Die große Auktionshalle besteht eigentlich aus vier Hallen, die ineinander übergehen. In der Gegend, aus der die Radioklänge kommen, arbeiten drei andere Männer ebenfalls mit dicken Gummihandschuhen an einer riesigen Sortiermaschine (s. Abb. 4.14); sie nehmen Heilbutte aus, wiegen und etikettieren sie. Die Tiere werden dann in kleinere, mit Eis halb gefüllte Container geworfen und ein Zettel mit einem Barcode darauf gelegt. Draußen am Kai werden die Trawler fortwährend entladen. Überall sausen (beinahe lautlos) Gabelstapler herum, um die zu Türmen aufgestapelten Container auf ihren Hubgerüsten in eine der Kühlhallen zu fahren. Wenn die Ketten, mit denen die Fischcontainer aus dem Schiffsrumpf gehoben werden, nach dem Lösen aneinander schlagen, entsteht ein dumpfes und schweres metallenes Geräusch. – Beim Entladen der Schiffe geht alles sehr schnell. Die GabelstaplerFahrer setzen die Behälter drei-, vier- oder fünffach (je nach Höhe der unterschiedlichen Container-Typen) übereinander, schieben und rütteln sie so lange, bis sie transportsicher ineinander gerutscht sind und fest aufeinander sitzen. Dann fahren sie blitzschnell über den Platz 368 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 4.13: Ausnehmen der Plattfische

Abb. 4.14: Gabelstapler in einer Kühlhalle mit Sortiermaschinen

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und verschwinden in einer Kühlhalle. Und immer wieder ist das dumpf-metallene und zugleich schwer klirrende Aneinanderschlagen der Ketten zu hören, sobald sie von den Kunststoff-Containern gelöst sind. Über diesem aktiven Treiben kreisen und kreischen im tiefen, abendlich-blauen Himmel die Möwen. Es riecht nach einem Gemisch aus Öl, Fisch und den Abgasen von einem in der Nähe laufenden Schiffsdiesel. Die Kleidung der Fischer auf einem Trawler, der sich in einem übel verrosteten Zustand befindet, sieht arg mitgenommen aus. Der Eindruck gibt zu verstehen, dass die Arbeit eines Hochseefischers tägliche Berührung mit Schmutz, Klebrigem, Nassem und Öligem bedeutet. Auch zu diesem Schiff fahren die Gabelstapler, greifen die am Kai abgesetzten und zu Türmen gestapelten Container mit den stählernen Armen ihrer Frontlader und fahren die Ladungen in eine der großen Kühlhallen. Bei all dem wird kaum gesprochen. Alle Arbeitsabläufe, die sich immerzu in gleicher Folge wiederholen, sind so eingespielt, dass sie automatisch abzulaufen scheinen – vor allem aber schnell. Es entstehen technische Geräusche, die von der Schiffs- und Ladetechnik herrühren. Die Schreie der Möwen kontrastieren die technische Geräuschkulisse. Auch wenn man nicht sähe, wo dies alles geschieht, so wüsste man doch durch die Allgegenwart der Vögel, dass man sich in einem Seehafen befindet. Im nahen Hintergrund blubbert ein Schiffsdiesel dumpf stampfend. Im Inneren der Halle werden scheinbar zahllose Container, die bis zum Rand mit Fisch gefüllt sind, in Reihen zusammengestellt und höchstens so weit übereinander gestapelt, dass man die Fische in der oberen Kiste im Vorbeigehen noch gut sehen kann. Es ist kalt. Eine digitale Temperaturanzeige leuchtet auf: 6 Grad Celsius. Die Kühlaggregate in der Decke rauschen unüberhörbar. Und immer ist irgendwo das laute Abstellen, Scharren und Herumrutschen von schweren Kisten zu hören, die die Gabelstapler der Reihe nach abstellen und zurechtrücken. Beim wiederholten Überqueren des großen offenen Platzes zwischen den Kaianlagen und den Auktionshallen fällt mein Blick immer wieder auf den Betonboden, über den ich laufe. Ich beginne die Artefakte des Hafens und der Fischerei zu fotografieren, die auf dem Boden liegen. Fetzenhaft lassen sie je eigene Geschichten vorscheinen – wie verlorene Zitate einer irgendwann zu Ende gegangenen Theatervorstellung (s. Abb. 4.15). Höchst eindrucksvoll und eindringlich verweisen sie auf eine gerade abgeklungene Vitalität des Hafens; sie ver370 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 4.15a – j: Bei den Kaianlagen herumliegendes Zeug

gegenwärtigen seine Atmosphäre auf eine merkwürdige, beinahe szenische Weise, indem das, was daliegt, gleichsam gestisch auf ein vergangenes Geschehen hinweist: eine abgebrochene Schraube, ein linker oder rechter Gummihandschuhe, hier und da ein öliger Lappen, ein Fischskelett mit nacktem knochigem Kopf ohne die mindesten Fleischreste, ein kurzes abgerissenes, dann ein abgeschnittenes Seilende, ein paar Waben aus einem Fischernetz und viele andere Dinge aus vergangenen Szenen, vielleicht aus dramatischen Sequenzen Herausgerissenes, das nun beziehungslos und stumm daliegt. Draußen, beim Entladen der Schiffe, geht alles in monotoner Wiederholung eines scheinbar Immer-Gleichen vonstatten: Herunterlassen der Ketten in die Luken, Heraufheben der Containerstapel, Entkoppeln der Ketten (manchmal sind es auch schwere Eisenschienen), schnurrender Abtransport mit den Gabelstaplern. Immer mehr von ihnen fahren nun gleichzeitig kreuz und quer über den Platz zwischen der Trawlern und den Auktionshallen hin und her. Dabei schreien die Möwen in den Abend hinein und geben dem Geschehen 371 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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eine melancholische Oberstimme – über all diesen toten Fischen. Jeder Gabelstapler hat seinen eigenen Klang; einige fahren mit Gas, andere mit Strom, einige sind neu, andere alt – und so klingen sie auf ihre je eigene Weise – geradezu individuell. Dazwischen quietschen die Winden der Schiffe, die die Kisten aus ihren dunklen Bauch-Räumen, aus einer auf mich beinahe unheimlich wirkenden Tiefe unterhalb der Wasserlinie hochziehen. Dann immer wieder ein lautes, halb hell, halb metallen klingendes Klappern der Gabelstapler, wenn sie leer und eilig von einer Auktionshalle zu den Schiffen zurückkehren. Wenn sie beladen sind, hören sie sich ganz anders an – schwer und dumpf; sie bewegen sich dann auch etwas langsamer, offensichtlich »angestrengter«. Um Zeit zu sparen, fahren einige, wenn sie eine Ladung von den Schiffen übernommen haben, rückwärts in die Lagerhallen; dann müssen sie nicht erst wenden. Auch drinnen geschieht immer dasselbe: Die Gabelstapler kommen schwer und hoch beladen durch die Einfahrten, stellen die Behälter in Reihen ab und wieseln wieder hinaus. Das Ganze wiederholt sich, bis die Trawler entladen sind und der Fang aller Schiffe in den Auktionshallen ist. 376 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Es gibt aber dieses Ende nur theoretisch. Man kann es in keinem ZuEnde-Kommen sehen, weil es den ganzen langen Abend hindurch immer irgendwo weitergeht. Meine länger währende Anwesenheit auf dem Gelände des Fischereihafens weckt die Aufmerksamkeit einiger Seeleute. Es wird die Kombination von Schreiben und Fotografieren sein, die stutzig macht. So werde ich unter anderem vom Kapitän eines hochmodernen norwegischen Trawlers gefragt, was ich tue. Er spricht mich von der Brücke aus an, ich antworte, er versteht mich nicht und bittet mich die Gangway hinauf. Es entsteht ein anregendes Gespräch von gegenseitig aufgeschlossenem Interesse. Schließlich bietet er mir an, den Kühlraum im Bauch seines Schiffes, wo er den Fisch lagert und frischhält, anzusehen. Es ist 21:30 h; vor Halle 3 wird ein französischer Trawler entladen, der gerade eingetroffen ist. In dieser Halle soll am frühen Morgen des kommenden Freitags um 06:45 h die Auktion beginnen. Auch die Fischcontainer dieses Schiffes werden in die Auktionshalle verfrachtet. Hier hebt kein schiffseigener Hydraulikkran die Kisten aus den Luken nach oben, sondern der eines LKW, der am Kai auf Stelzen steht. Die Männer tragen schweres Ölzeug, obwohl es an diesem Abend noch recht warm ist (s. Abb. 4.16). Einige haben außerdem auffällige rote Helme auf – im Unterschied zu den Arbeitern auf und vor den anderen Trawlern, die einfach und der Temperatur gemäß gekleidet sind. Drei Mann sind am Kai mit dem Verladen der Container beschäftigt, drei andere führen Reparaturen an der Rollenkette des Fanggeschirrs aus. Einer schweißt (ohne Schutzbrille) etwas am Ende einer mächtigen Kette (s. Abb. 4.17). Das abendlich-fahle Licht ist dämmrig geworden und der Mond steht deutlich erkennbar am Himmel. Die dichte Gleichzeitigkeit, mit der die Entlade- und Reparaturarbeiten ausgeführt werden, lässt große Eile erkennen. Sicher muss auch dieser Trawler möglichst bald den Hafen wieder verlassen, um erneut in See zu stechen. Das hörbar zischende Rauschen des Schweißgeräts mischt sich in die szenische Vielfalt der Situation ein. Auf klanglich ungewohnte Weise ergänzt es ein ohnehin schon lebendiges und mehrschichtiges Bild. Ein älteres Mitglied der Crew, das an einem improvisiert aufgestellten Stehpult offensichtlich über die entladenen Container Buch führt, spricht mich wegen meiner Aufzeichnungen und Fotografien an. Schnell entsteht ein kurzes Gespräch. 377 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 4.16: Entladung eines französischen Trawlers

Das Deck des französischen Trawlers wird – nachdem es nachhaltig dämmert – mit Scheinwerfern ausgeleuchtet. Auch die Lautlichkeit des Herums wirkt im Zwielicht der schon untergegangenen Sonne und dem grellen Leuchten der Bordspots nun wieder auf andere Weise: Kettengeräusche, ein Zischen des Schweißgeräts, ein leises Brummen der Hydraulik beim nicht endenden Entladen der Fischcontainer. Und auch nun liegt wieder ein undefinierbarer GeruchsCocktail in der Luft – Öl, Seeluft und Fisch; jetzt ist noch Staub dabei, der vom Schweif des Schweißstrahls aufgewirbelt wird. Der Mann hämmert und klopft am Ende der Rollen herum. Es dämmert scheinbar schneller, sodass die von der Deckbeleuchtung erhellten Gegen378 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 4.17: Ausführung von Schweißarbeiten an den Rollen eines Fanggeschirrs

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den deutlicher hervortreten. Es kündigt sich eine lange Nacht intensivier Arbeit an. – Und noch immer laufen Trawler in den Hafen ein.

4.2.1 Zur situativen Ganzheitlichkeit von Eindrücken Die Mikrologien dieses Bandes beziehen sich mehrheitlich insofern auf singuläre Schauplätze, als diese sich durch eine räumliche und situative Homogenität auszeichnen. Selbst der Groninger Wochenmarkt, der sich an den unterschiedlichen Verkaufsständen in vielfältigen Gesichtern zeigte, wurde durch die zeiträumlich und programmatisch relativ homogene Situation des Marktes gerahmt, der auf einem klar abgegrenzten historischen Markt-Platz zwischen öffentlichen Straßen stattfand. Zwar wurden seine charakteristischen Aktions- und Bewegungsmuster am späten Nachmittag durch eine marktuntypische Jazzimprovisation verwirrt bzw. in gewisser Weise unterbrochen; aber auch diese Performance war doch auf den Markt, sein aktuelles Geschehen bezogen, und sie hatte ihren konkreten Platz an der Ecke einer einmündenden Straße (vgl. auch Kapitel 2.3.6). Ebenso zeigten die Mikrologien zu den beiden Blumenmärkten singuläre Ortsbezüge. In seinem je eigenen quasi-heterotopologischen Charakter fand der Handel im Blumengroßmarkt wie in der Auktionshalle an normativ regulierten Orten statt. Die Zugänglichkeit zur Halle sowie die Teilnahme am Handel war beim Frankfurter Großmarkt bedingt, bei der niederländischen Auktion in Gänze formal reguliert. Beide Märkte waren raumzeitlich fixiert. Und noch in den Beschreibungen zu den weitgehend unbelebten Kaianlagen des leeren Seehafens von Lauwersoog zeigte sich insofern ein eindeutiger Ortsbezug, als sich nur das Hafengelände als Milieu des Raumerlebens angeboten hatte und nicht zugleich Übergänge (zum Beispiel) in Lager- oder Kühlhallen. Die Frage zur Beziehung von Einzelnem zu einem Ganzen drängt sich indes am Beispiel der Entladung von Fischtrawlern am Vorabend der Fischauktion im dänischen Fischereihafen Hanstholm vor allem deshalb auf, weil die Hafenaktivitäten zwei ganz unterschiedliche Räume berührt und zueinander in Beziehung gesetzt haben: den Außenraum der Kaianlagen und den Innenraum der Kühlhäuser.

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Gelenkräume als Zwischenräume Die Vorstellung des singulären Ganzen eines Milieus wird durch eine kategoriale Unterschiedlichkeit von Situationen und Räumen in Frage gestellt, wenn die einen wie die anderen auch einen Vernetzungszusammenhang bilden. Die Kaianlagen des Hafens sind Außenräume, die Kühlhallen dagegen Innenräume. Die Freiflächen zwischen den Kaianlagen und den Hallen erweisen sich eher als diffus denn klar begrenzt. Sie sind Gelenkräume, die zwischen den am Kai festgemachten Schiffen und den Kühl- und Auktionshallen Synthesefunktionen leisten. Wenn dieses Gefüge in der lebensweltlichen Perspektive auch selbstverständlich sein mag, so provoziert es doch die Frage nach der Vernetzung von Einzelnem zu einem situativ übergreifenden Ganzen. Schon die evidente Synchronisierung der Abläufe zwischen beiden Räumen thematisiert implizit die Denkwürdigkeit ihrer Beziehung. Die Kaianlagen liegen im Freiraum des Hafens an einer Schnittstelle zwischen Land und Meer. Sonst könnten hier nicht Schiffe festmachen, um ihre Fänge zu entladen. Vom Außenraum des Hafens unterscheidet sich der Innenraum der Hallen so kategorial, dass man ihn als das ganz Andere des Außenraumes beschreiben kann. Es sind zwei eigene Milieus, die sich dennoch in einem engen Vernetzungszusammenhang darstellen: Zum einen der Raum, in dem die Entladung der Trawler in der sommerlichen Wärme unter freiem Himmel erfolgt, und zum anderen der Raum der künstlich beleuchteten und gekühlten Hallen, in die die Fänge hineingefahren werden. Beide Räume heben sich sowohl in ihrer sachlichen und materiellen Ausstattung wie in ihren Atmosphären scharf voneinander ab. Trotz ihrer Andersartigkeit gehören Kaianlagen und Kühlhallen zusammen, denn sie sind durch verbindende Abläufe funktional synchronisiert. Ohne diese Schnittstelle zwischen Drinnen und Draußen, den Schiffen und den Hallen, gäbe es weder eine Auktion noch irgendeine andere Form des Fischhandels, die den angelandeten Fischmengen gerecht werden könnte. Aber nicht nur durch die Unterschiedlichkeit der Räume stellt sich die Frage nach der Beziehung von Einzelnem und Ganzem. Auch die Eigenartigkeit spezifischer Ereignisorte provoziert die Frage nach einem übergreifenden Ganzen. Mit dem abendlichen Eintreffen eines französischen Trawlers spitzt sie sich zu. Mit den Aktivitäten der Entladung und der Bewirtschaftung des Trawlers am Kai verbanden sich höchst eigenartige Ein381 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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drücke, die sich deutlich von dem unterschieden hatten, was bei den anderen Schiffen in relativ ähnlicher Weise vor sich ging. Zwar hatten all diese Aktivitäten mit der Fischerei zu tun, dennoch zeigten sie sich in eigenen performativen Mustern. Diese setzten sich aus Vielem zusammen, das für sich wie insgesamt in einer Differenz zum Treiben bei den anderen Kuttern stand. Zwar wurden auch hier nur die Fänge entladen, wie es bei den anderen Fischereibooten geschah, aber die scheinbar gleichen Abläufe machten doch – sachverhaltlich wie atmosphärisch – einen anderen Eindruck. Die Fischcontainer wurden nicht von einem Schiffskran, sondern von dem eines neben dem Trawler stehenden LKWs aus dem Bauch des Schiffes gehoben, ein älteres Mitglied der Schiffscrew stand in geradezu merkwürdig unangemessen erscheinender Arbeitskleidung vor einem mobilen Pult und registrierte offenbar akribisch die Anzahl der von Bord gehievten Mengen. Hier wie überall wurden dann die aufgetürmten Fischkisten mit den herbeigeeilten Gabelstaplern in die Kühlhallen gefahren. Aber es war nicht mehr sonnig und warm, sondern mittlerweile abendlich kühl, der Vollmond stand am Himmel und an Bord des Schiffes waren helle Scheinwerfer eingeschaltet, sodass sich der Trawler im natürlichen und zugleich künstlichen Licht als etwas Inselartiges zeigte. Am Kai begann schließlich einer der Seemänner mit Schweißarbeiten an einem der Fanggeschirre. Am Ende einer stählernen Baumkurre führte er (ohne jeden Schutz der Augen) Reparaturarbeiten aus. Zwar gehörte das Geschirr wie die unaufhörlich aus dem Rumpf gehobenen Container zu diesem Trawler, der wie jeder andere hier festgemacht hatte, um am nächsten Morgen seine Fänge verkaufen zu lassen. Aber das Zeug dieses Schiffes schien doch in einem anderen, vielleicht ferneren Bezug zur Situation der Vorbereitungen des am nächsten Morgen bevorstehenden Auktionshandels zu stehen als die logistischen Aktivitäten der Verladung der Fänge. Sie waren ja bei jedem Schiff die gleichen. In einer schwer zu präzisierenden Weise hoben sich alle von diesem Trawler ausgehenden Aktivitäten im Sinne inselhafter Ereignisketten von allem anderen ab, was gerade in der Gegend der Kaianlagen geschah. Das Schiff erschien mit allem, was von ihm ausging (Ereignisse, Bilder, Bewegungsmuster, das schwere Ölzeug und die roten Helme, die etliche Seemänner trugen) als etwas Eigenes, das sich an der Erlebnisinsel dieses individuellen Schiffes zu einem Ganzen zusammenfügte. Trotz der Andersartigkeit der Situation des französischen Trawlers stand auch sie in einer evidenten Beziehung zum Ganzen der Auktionsvorbereitungen. 382 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Nicht zuletzt stellt sich die Frage zur Beziehung von Einzelnem und Ganzem aus der Sicht zufälliger Eindrücke wie der am Himmel über dem Hafen fliegenden und auf den Kaianlagen herumlaufenden Silbermöwen. Zwar gehören auch sie zum Erwartungsbild eines Seehafens, allzumal eines Fischereihafens. Schließlich leben sie – zumindest unter anderem – von dem, was beim Verladen der schweren Container hier und da auf den Beton der Kaianlagen herunterfällt. Dennoch bringen sie sich in einer Atmosphäre zur Geltung, die mit den Aktivitäten der Hafenwirtschaft im engeren Sinne nichts zu tun hat. Auch außerhalb von Fischereihäfen trifft man auf ähnliche Bilder von Möwen – noch dort, wo weit und breit keine Menschen sind. Die Frage nach der Beziehung von Teil und Ganzem soll im Folgenden in Ergänzung zu Kapitel 2.3.3 erneut aufgegriffen und situationstheoretisch vertieft werden; dies schon deshalb, weil die fallbezogen besondere Verschachtelung von vielem Einzelnen und verschiedenen Orten zu einem übergreifenden Ganzen in dieser Mikrologie nach einer erklärenden Reflexion verlangt. Dabei werden auch bisher schon getroffene Ausführungen zum neophänomenologischen Konzept der Situation in einer gewissen thematischen Fokussierung auf die Aktivitäten am Abend vor der Fischauktion bezogen und noch einmal ausgefaltet, um besser erfassen zu können, was den speziellen Zusammenhang eines chaotisch Mannigfaltigen auszeichnet. Die Frage zur Beziehung zwischen Teilen und einem Ganzen hat schon in der griechischen Philosophie eine zentrale Bedeutung. Ihre Beantwortung berührt die Denkvoraussetzungen der Naturwissenschaften in anderer Weise als die der Sozial- und wiederum anders als die der Geisteswissenschaften. In Gestaltpsychologie und Phänomenologie stellen sich je spezifische wahrnehmungstheoretische Fragen. In deren Mitte sieht Felix Krueger (der Begründer der Zweiten Leipziger Psychologenschule) Erlebnisverläufe. Diese sind »nach Auffassung der genetischen Ganzheitspsychologie Kruegers und seiner Schule (sukzessive) Ganzheiten«. 86 Wenn das wissenschaftliche Erkenntnisstreben aus der Tradition der Naturwissenschaften auch zum Ziele hat, möglichst viele Einzelheiten aus einem Zusammenhang zu isolieren, um sie aus der Perspektive eines übergreifenden Ganzen ebenso zu verstehen wie das Ganze aus der Teilhabe und Funktion von Einzelnem, so stellt sich die Klärung dieser Beziehungen in den Geisteswissenschaften doch als eine ganz eigene 86

Herrmann, »Ganzqualitäten«, Sp. 23.

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Aufgabe. Im Fokus der Lebensphilosophie stellt sie sich zum Beispiel nicht in der Logik sogenannter »strenger« wissenschaftlicher Disziplinen. Lebensphilosophisch steht nicht die Frage der Steigerung von vordergründigem Nutzen an, vielmehr die einer möglichen Verbreiterung der Reflexionsfähigkeit des Menschen zum Bedenken seiner eigenen Lebenssituation. Deshalb stellte Johannes Volkelt, der zur Zweiten Leipziger Psychologenschule gehörte, in Bezug auf das sich ethisch fordernde philosophische »Nachdenken über die allgemeinen Daseinsfragen« fest: »[D]er Mensch soll mit hellem und freiem Bewußtsein durch das Leben schreiten.« 87 Wie die Philosophie hier in einem dem Menschen und seiner Lebensführung dienenden Verhältnis steht und sich nicht in einer Kultur abstrakten Denkens darüber erhebt und oder gar davon abhebt, so stellt sich in diesem Lichte auch die Frage zum Verhältnis von Ganzem und Einzelnem als eine Aufgabe, deren Klärung dem Menschen dadurch zugute kommen soll, dass er fähig wird, die ihn tragenden Situationen kritisch bedenken zu können. In solcher Philosophie sah Volkelt eine »Lebensmacht« 88, mithin eine Aufgabe, die das Individuum an sich selbst abzuarbeiten hat. Dass gerade die Phänomenologie diesem Verständnis der Nützlichkeit von Philosophie als Lebensmacht besonders nahe kommt, liegt an ihrem erkenntnistheoretischen Programm. So spielt auch in der Schmitz’schen Phänomenologie die Frage nach der Beziehung zwischen einem Ganzen und seinen Teilen eine zentrale Rolle. Hermann Schmitz diskutiert die Problematik im Zusammenhang mit seinem situationstheoretischen Ansatz. Eine Situation ist dabei als Ganzheit zu verstehen, in der Sachverhalte, Programme und oft auch Probleme verschwimmen. Wenn Schmitz von »chaotischer Mannigfaltigkeit« spricht, so ist keine Unordnung gemeint, sondern ein binnendiffuses Gefüge, in dem Bedeutungen nicht eindeutig aus einem evidenten größeren Zusammenhang herausragen, sondern an ihren Rändern verwischt bleiben. Chaotisch mannigfaltig ist, was sich der Wahrnehmung zwar »mit einem Schlage« als Dieses zu verstehen gibt, »gleichwohl ist es im Inneren diffus und, ohne im Mindesten verworren (ungeordnet) zu sein, verschwommen« 89, weil es nicht aus lauter Einzelnem besteht. Deshalb beschreibt Schmitz solche si87 88 89

Volkelt, Philosophie und Leben, S. 98. Ebd., S. 107. Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 68.

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tuativen Ganzheiten auch als »instabil mannigfaltig« 90. Situationen sind Ganzheiten, in denen es zwar Vieles gibt, dieses jedoch als Folge seiner Verfugung zu einem Übergreifenden nicht in einem lebensweltlichen Sinne auf einfache Weise getrennt ist und deshalb auch nicht auf einfache Weise als etwas Isoliertes bzw. Isolierbares verstanden werden darf. Situationen kommen (als Ganzheiten im eben genannten Sinne) in unterschiedlichen Fassungen vor: als gemeinsame, wenn sie mehrere Menschen zusammenfassen, als persönliche, wenn sie verbinden, was ein Individuum ausmacht, als aktuelle, wenn sie durch einen zeitlichen Zusammenhang von begrenzter Dauer gekennzeichnet sind, als zuständliche, wenn sie in der Zeit überdauern und relativ robust gegen den zeitlichen Lauf der Ereignisse beharren. Schließlich geben sich aus größeren situativen Verschachtelungen impressive Situationen (mit einem Schlage als etwas Eigenes) zu erkennen. 91 Dagegen nennt Schmitz solche Situationen »segmentiert«, die nie in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen. 92 Auf der anderen und doch zugleich komplementären Seite des Situations-Begriffs steht der der Konstellation. Das konstellationistische Denken geht vom Einzelnen aus, das gleichwohl seinerseits in einer übergreifenden Ordnung aufgeht. Die Systemtheorie kann innerhalb der Sozialwissenschaften beispielhaft als eine solche große konstellationistische Theorie verstanden werden. 93 Auch die Lebenswelt verlangt zum besseren Verstehen dessen, was zunächst segmentiert erscheint und nicht sofort verständlich ist, immer wieder den erkenntnistheoretischen Umschwung der Aufmerksamkeit zugunsten einer »sezierenden« Wahrnehmung, in der die Dinge als Teile von Konstellationen erfasst werden. Das Beispiel der zahllosen Abläufe im dänischen Fischereihafen am Vorabend der Auktion illustriert dies sehr anschaulich. Wem zum Beispiel in einer Kühlhalle eine große Maschine, die den Fisch nach Größen sortiert, aus der Laienperspektive nicht sofort als eine Sortiermaschine verständlich wird, ist gleichsam aus der Not des stolpernden Erkennens und Verstehens gezwungen, gedanklich in »Einzelteile« zu zerlegen, was sich da als ein noch unverständlicher großer technischer Apparat zeigt. 90 91 92 93

Ebd., S. 146. Vgl. Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, S. 89 ff. Schmitz, Situationen und Konstellationen, S. 134. Vgl. auch ebd., besonders Kapitel 1.1.

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Zug um Zug wird das dann verständlich Gemachte in vertraute kognitive Muster eingefügt. Nachdem das merkwürdige Ding seinen rätselhaften Charakter verloren hat, kann es wieder in den Rahmen der Situation eines Fischereihafens zurückgebettet werden, der sich auf einen großen Auktionshandel vorbereitet. Die Frage, was die Situation des Fischereihafens am Vorabend der Auktion ausmacht, kann schon deshalb nicht in einem einfachen Sinne beantwortet werden, weil sich im Hafen von Hanstholm in der Zeit der Mikrologie (am späten Nachmittag und frühen Abend) je für sich erkennbare Situationen zu einer äußerst vielfältigen Gemengelage verschachtelt hatten. Übergreifend war die aktuelle Situation eines Fischereihafens vor einer großen Auktion. Diese gab sich in der Dauer der Zeit als dahinfließende Folge von Sequenzen zu erkennen, die sich als ganz verschiedene chaotisch-mannigfaltige Gefüge von Sachverhalten, Programmen und Problemen dargestellt haben. Bemerkenswert ist die zwischen Zuständlichkeit und Aktualität in gewisser Weise in der Schwebe bleibende Situation des Fischereihafens. In der Zeit des Nachmittages und Abends, in der die Trawler eintreffen, ihre Fänge ausladen und in die Hallen fahren lassen, drückt sie sich im Gesicht einer relativ überdauernden (für die Zeit bis zum frühen Morgen) aktuellen Situation aus. In dem höchst lebendigen Treiben spielt der Handel im unmittelbaren Sinne noch keine Rolle, dafür aber die Logistik an den Kais und in den Hallen. In der am nächsten Morgen folgenden relativ kurzen Zeit des Auktionshandels wechselt die aktuelle Situation und zeigt das Gesicht eines Fischmarktes, der ganz vom Handel beherrscht wird. Beide Situationen zusammen gehen wiederum in einer zuständlichen Situation des Fischereihafens auf. Dieser konzentriert sich weniger an einem bestimmten Ort; vielmehr lässt sich der Raum des Fischereihafens wie der des Fischauktionsmarktes mit Martin Heidegger als eine wechselfreudige »Gegend« 94 beschreiben: »Mit diesem Ausdruck meinen wir zunächst das Wohin der möglichen Hingehörigkeit des umweltlich zuhandenen, platzierbaren Zeugs. In allem Vorfinden, Handhaben, Um- und Wegräumen von Zeug ist schon Gegend entdeckt.« 95 Eine Gegend ist kein räumliches Irgendwo, sondern ein durch Bedeutungen und deren Bezüge zu möglichem Tun wie Dasein eingerichteter Raum. Diese 94 95

Auf den Begriff der Gegend gehe ich bereits am Beginn von Kapitel 2.3.15 ein. Heidegger, Sein und Zeit, S. 368.

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Einrichtung stellt sich zur Zeit der Entladung der Kutter in anderen Bedeutungsordnungen dar als in der (kurzen) Zeit der frühmorgendlichen Auktion (s. auch Kapitel 4.3). Das Ganze des Hafens ist durch Situationen bestimmt, die als changierende Gegenden erscheinen, welche sich wiederum je für sich als Ganzes zu verstehen geben. Dabei handelt es sich nicht um Ganzheiten, die man von singulären Gegenständen kennt, sondern um situative Ganzheiten, in denen die Dinge in Ordnungen (Sachverhalten und Programmen) sinnhaft aufgehen. Die Verschachtelung von Situationen, die der schon technisch gebotenen Logik der Verrichtungen folgen, illustriert in besonders eindrücklicher Weise, inwieweit Ganzheiten Situationen sind, die zugleich zwischen Identität und Verschiedenheit verschwimmen und sich der Wahrnehmung deshalb als »instabil mannigfaltig« 96 zu verstehen geben. Es dürfte gerade an dieser Instabilität liegen, dass Situationen, in die Menschen mit einem gleichsam naiven Interesse hineingeraten, dadurch ihr produktives Potential der Irritation entfalten, dass sie immer wieder als etwas Unverständliches fesseln und eine nachspürende wie nachdenkende Arbeit des Verstehens reklamieren. In diesem Nachdenken kommt Philosophie – wie sie Volkelt verstand – als eine »Lebensmacht« 97 zur Geltung.

4.2.2 Impressive und segmentierte Situationen als atmosphärische Medien Die Beschreibung der Zeit der Anwesenheit auf dem Gelände des Fischereihafens sowie in den Kühlhallen zeigt, dass Situationen meistens einen impressiven Charakter haben, also mehr oder weniger treffend, insgesamt aber angemessen erkannt werden. Solche Eindrücke werden aus Zusammenhängen heraus erlebt und vermitteln atmosphärisch berührende Bilder eines gelebten Raumes. Solches Erleben wird vom Zusammenhang dessen getragen, was sich aktuell spürbar ereignet. Nicht alles, was gegenwärtig ist und vom Gefühl anhaltender Dauer zusammengehalten wird, muss sich aber schon deshalb als einsichtig erweisen, weil es nicht durch Vergangenheit

96 97

Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 146. Volkelt, Philosophie und Leben, S. 107.

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Fischmärkte

und Zukunft gespalten ist. Beim Eindruck eines Zusammenhängenden kommt es insbesondere darauf an, dass die wahrnehmbaren Dinge, Abläufe und Ereignisse nicht als etwas Verbundenes und nicht als etwas beliebig oder zufällig nebeneinander Stehendes empfunden werden. In dem, was als Ganzes wahrgenommen wird, deuten sich aber auch verschwommene Grenzen an. Diese sind undeutlich und nicht von der Art, wie man sie an materiellen Gegenständen sehen kann, die entweder hier oder dort sind. Sie haben oft den Charakter von atmosphärischen Übergangsbereichen. Solche Übergänge zeigten sich im Hanstholmer Hafen insbesondere im offenen Verzahnungsraum zwischen den Kaianlagen zum einen und dem Inneren der Kühlhallen zum anderen. Zwar waren beide Räume mit allen zu ihnen gehörenden Dingen funktional so eng verknüpft, dass der eine ohne den anderen sinnhaft nicht hätte erschlossen werden können; dennoch herrschte an den Kaianlagen eine eigene Ordnung der Dinge und Prozesse, die sich von jener in den Hallen kontrastreich unterschieden hat. Die Nachbarschaft von Situationen macht auf Trennendes wie auf Verbindendes aufmerksam. Atmosphären des Übergangs müssen nicht »glatt« sein, sie können auch porös, brüchig, fragil und prekär erscheinen. Dann hängen sie in übergreifenden Netzen von Bedeutungen, die selbst Spiegelbilder transversaler Situationen sind. Lange nicht alle Situationen, die in einem räumlichen Sinne benachbart sind, stehen sich deshalb auch in ihren Bedeutungen nahe. 98 Ich fasse im Folgenden einige impressive Situationen aus der obigen Beschreibung knapp zusammen, um herauszustellen, was sich an ihnen in charakteristischer Weise zeigt. Nicht alles, was an einem Ort lebendig war, hat sich in einem schlagartigen Sinne sofort zu erkennen gegeben. Deshalb sollen auch einige segmentierte Situationen zumindest knapp umrissen und durchleuchtet werden. Die Reflexion soll plausibel machen, unter welchen Bedingungen erst aus einem übergreifenden Rahmen verständlich wird, was sich zunächst hinreichend klar aus sich heraus zu verstehen scheint.

In diesem Sinne ist zum Beispiel an die Situation einer Bahnanlage zu denken, die samt der zu ihr gehörenden Sachverhalte (z. B. Schienen, Signale, Weichen, fahrende oder stehende Zügen), Programme (z. B. Fahrpläne) und Probleme (z. B. das wetterbedingte Festsitzen einer Schienenweiche) in keiner Beziehung zu einer Schrebergartensiedlung steht, obwohl sie direkt an das Bahngelände angrenzt.

98

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Fischereihafen-Logistik am Vorabend einer Auktion

Die Entladung der Trawler – eine Collage mikrologischer Schauplätze Die mit der Entladung der angelandeten Fänge verbundenen Aktivitäten bilden eine zentrale Situation in der Bewirtschaftung eines Fischereihafens. Der Begriff der Zentralität, wie er in der Landesplanung vorkommt, ist in seiner Bedeutung auch für das Verstehen der hier zur Diskussion stehenden situativen Verknüpfungen an Raumweichen brauchbar. Während es bei Zentralität im Sinne des Zentrale-Orte-Konzepts um funktionale Bedeutungsüberschüsse geht, die hierarchisch je mehr in städtischen Siedlungen differenziert sind, desto höherrangig ein Zentrum ist (in aller Regel maximal bei der Hauptstadt eines Landes), 99 so gibt es auch bei ineinander geschachtelten Situationen, die in einem funktionalen Zusammenhang stehen, ein hierarchisches Bedeutungsgefüge. In sachverhaltlicher wie programmatischer Hinsicht gibt es eine Mitte, um die herum sich andere Situationen bilden, sodass dann auch deren Sachverhalte und Programme der Logik eines Zentrums folgen. Ein solches bildet sich als ein Funktionsbündel aller mit der Entladung der Trawler verbundenen Abläufe. Es drückt sich in spezifischen Funktionen bzw. Programmen ebenso aus, wie in situationsspezifischen Prozessen. Mit der Entladung der Fänge von den Schiffen ist etwas in gewisser Weise Abstraktes angesprochen, wenn sich lebensweltlich auch von selbst zu verstehen scheint, was »entladen« im gegebenen Zusammenhang bedeutet. Konkret gehört dazu aber auch eine Vielfalt von Bewegungen, plötzlichen Ereignissen oder Unterbrechungen im Fluss von Prozessen ebenso Geräusche, Gerüche und Bilder, die situativ genau da eindrücklich werden, wo ein Fischtrawler »entladen« wird. In phänomenologischer Sicht ist ein Entladen von Fangschiffen dennoch mit einem Schlage erkennbar, bedarf also nicht erst der synthetischen Zusammensetzung ablaufspezifischer Verlaufssegmente. Impressive Situationen sind ja dadurch gekennzeichnet, dass sie sich als etwas Ganzes zu verstehen geben, in dem es Vieles gibt. Dennoch schwankt selbst im phänomenologischen Blick die ein Ganzes verstehende Aufmerksamkeit zwischen eindrücklich werdenden Einheiten unterschiedlicher Plausibilität. Nicht zuletzt deshalb hatte Schmitz zwischen impressiven und segmentierten Eindrücken unterschieden. So haben wir es auch in der hier zur Diskussion stehenden Mikrologie 99

Vgl. auch Lexikon der Geographie, Band 4, S. 68.

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mit einer Gemengelage von Eindrücken zu tun, innerhalb derer sich etwas mal mit einem Schlage ganz zu verstehen gibt und ein anderes Mal das schrittweise sich annähernde Begreifen herausfordert. In diesem erkenntnistheoretisch heterogenen Erleben und Verstehen treten innerhalb des situativen Rahmens der Entladung der Fangschiffe in besonderer Weise die folgenden Eindrücke hervor: a) Die sich unmittelbar zu verstehen gebenden verladetechnischen Abläufe, die durch eine scheinbare Monotonie ihrer Wiederholung ebenso beeindrucken wie die Schnelligkeit der Rhythmen des Emporziehens von Containern aus dem Schiffsrumpf und deren Absetzung am Kai. Diese Aktivitäten sind Ausdruck eines Programmablaufs, worin alle Fangschiffe mit ihren Mannschaften geradezu zwangsläufig einbezogen sind, wenn der Fisch schnell in das komplexe System des Handels eingefädelt werden soll. b) Auf einer sachverhaltlichen Ebene ist es der ganz unterschiedliche Zustand der Schiffe, der am Rande (neben dem, was geschieht) die Aufmerksamkeit bindet. Neben dem was geschieht, prägt sich etwas vom Erscheinen der Schiffe und der Seeleute ein. Manchmal sind es relativ neue, dann wieder heruntergekommene Fahrzeuge, die in einem übel verrosteten Zustand sind und nicht den Eindruck erwecken, im harten Alltag der Fischerei auf See noch eine gute Zeit vor sich zu haben. Das Bild vom »Zustand« eines Schiffes verdankt sich (im Sinne der Simultaneität der Wahrnehmung) der gleichzeitigen Erfassung vielfältiger Eindrücke, die wie die Falten im Gesicht eines Ganzen eindrücklich werden. c) Mit der atmosphärischen Präsenz der Schiffe sind zugleich die mit der Verladung der Fänge beschäftigten Seeleute habituell gegenwärtig (damit auch Bewegungen, die Professionalität im Gebrauch der Werkzeuge und ferngesteuerten Maschinen sowie die Handhabung allermöglichen Gerätschaften). Aus der Situation der Hochseefischerei erklärt sich schließlich in einem szenischen Sinne der Zustand der Kleidung mancher Seeleute. Oft sind ihre Overalls und Pullover so stark verschmutzt, dass ihr Aussehen viel über die Schwere der Arbeit an Bord eines Fischereischiffes sagt. d) Die Lebendigkeit des Treibens auf den Schiffen und an den Kaianlagen drückt sich unter anderem in einer variationsreichen Vielfalt 390 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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situationsspezifischer Geräusche aus: dem beinahe lautlosen Herumsausen der Gabelstapler, dem Surren der Hydraulik beim Heben der Container, einem schweren, dumpf-metallenen und zugleich klirrenden Geräusch, das beim Aneinanderschlagen der Ketten und Eisenhaken entsteht, wenn die schweren Stapel auf dem Betonboden abgesetzt werden, und schließlich dem scharrenden und herumrutschenden Hin- und Herschieben und -Rütteln der aufgetürmten Fischbehälter. Über all dem gibt ein amplitudenartiges Kreischen kreisender Möwen bildlich zu verstehen, dass all diese Geschehnisse Erlebnisbilder einer Meeresküste sind. e) Neben den Geräuschen nehmen sich die Gerüche relativ marginal aus. In Wellen weht ab und zu ein diffuses Geruchsgemisch aus Öl, Fisch und den Abgasen von laufenden Schiffsdieselmotoren heran. f) Die ameisenartig auf dem Platz zwischen den Schiffen und den Hallen ein- wie -ausfahrenden und herumwieselnden Gabelstapler fordern die Wahrnehmung insofern heraus, als sich mit der Dauer der Anwesenheit das Gehör für die Antriebe der Fahrzeuge verfeinert. Das ändert nichts an der Art und am Sinn der situativen Rahmung der herumsausenden Gefährte; aber es illustriert die Schärfung der Tiefe, in der etwas scheinbar immer Gleiches genauer erfasst wird und so zu spüren und zu denken gibt, dass etwas »Einfaches« und Infra-Gewöhnliches prinzipiell doch endlos vielfältig sein kann. Jeder Gabelstapler hat seinen eigenen Klang: einige fahren mit Gas, andere mit Strom, einige sind neu, andere alt – und so klingen sie alle auf ihre eigene, geradezu persönliche Weise. Selbst die Hallen-Durchfahrten, in denen die Spezialfahrzeuge verschwinden, wie sie aus ihnen auch wieder herauskommen (es gibt je eine Einfahrt und eine Ausfahrt), hoben sich in der Wahrnehmung als eigene Schnittstellen benachbarter Situationen heraus, wie Mikrosituationen eines an sich zusammengehörenden Ganzen. g) Auch die in einer der Kühlhallen an einer riesigen Sortiermaschine arbeitenden Männer, die in dicken Gummistiefeln an Laufbändern standen und Heilbutte ausnahmen, waren von Anfang an als szenische Variation eines Ganzen erkennbar. Sie gehörten in dem, was sie zu dieser Zeit an diesem Ort taten, zu jener Vielfalt der Abläufe, die auf die finale Situation einer bevorstehenden Auktion bezogen war. Dies heißt aber nicht, dass in der detaillierten Sache ihres Tuns 391 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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auch sofort verständlich geworden ist, in welcher Weise sie Moment eines Ganzen waren. Bemerkbar wurden zunächst gar nicht die Arbeiter, sondern hallende Radioklänge in deren Umgebung, mithin eine segmentierte Situation, die sich relativ schnell in eine impressive auflösen sollte. h) Auch die hinter einem Rolltor an einem massiven Arbeitstisch arbeitenden drei Männer, die mit dem Ausnehmen von Plattfischen beschäftigt waren und durch sich schnell wiederholende Bewegungsabläufe professionelle Übung erkennen ließen, gaben sich aus dem Rahmen einer impressiven Situation zu verstehen. Es mögen in besonderer Weise die in eine sehr übersichtliche Handlungskette eingebundenen Personen gewesen sein, die nichts im engeren Sinne Eigenständiges ausdrückten, sondern eher ein spezifisches Moment des Ganzen eines Fischereihafens – ein lokales, auf eine Ereignisinsel begrenztes Geschehen. Dennoch drückte sich die Mikrosituation auch in einer situationsspezifischen Eigenart und bedingten Selbständigkeit aus. Das kam unter anderem in einer Bindung der Männer an ihr eigenes Tun zum Ausdruck, insbesondere in einer habituellen Beziehung der Arbeiter zu ihren immer wieder geschliffenen Messern. In der Mikrologie ist hier von etwas »Persönlichem« die Rede. Neben einem Geruchshauch, der von einem halb mit Innereien gefüllten Eimer ausging, zog ein situationscharakteristisches Geräusch die (affektiv zugespitzte) Aufmerksamkeit auf sich: das Klatschen der Fische, wenn sie nach dem Herausschneiden der Innereien auf die anderen Tiere in einer der Aluminiumkisten aufschlugen und über die schleimige Haut der anderen Tiere rutschten. Der am Tun der Männer beobachtbare taktile Bezug zu den Fischen sollte sich auf dem Wege der Synästhesien in ein Gefühl vermittelter Teilhabe übertragen, das nicht frei war von einer Spur des Ekelempfindens. Damit zeigt sich, dass sich jedes Situationserleben auf dem Resonanzhintergrund einer persönlichen Situation vollzieht, zu der auch sinnliche Idiosynkrasien sowie vielfältige andere Empfindlichkeiten gehören, die etwas eindrücklich Werdendes gewichten und in einen Vordergrund der Aufmerksamkeit schieben. i) Besonders eindrücklich wird das Ineinander-Verschwimmen von impressiven und segmentierten Situationen im Erleben von zahllos auf dem Beton des Hafengeländes herumliegenden Dingen der Schifffahrt, die in der Mikrologie Erwähnung finden (s. dazu auch 392 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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die Abb. 4.15 a–j). Deren ehemaliger von einem größeren Kontext gerahmte Zusammenhang war durch Vereinzelung verlorengegangen, sodass sie nun eine fragende Aufmerksamkeit weckten. Die Eindrücke von daliegenden Kettenteilen, Handschuhen, Schrauben oder Fischköpfen verdeutlichen beispielhaft, was eine segmentierte Situation ausmacht. Die Dinge ließen im Dunkeln, wovon sie ent-setzt waren. Ihre Zusammenhänge waren so weit zerrissen, dass durch keine Anstrengung genauen Hinsehens oder gründlichen Nachdenkens auf ein fehlendes Ganzes hätte geschlossen werden können. Gleichwohl hatten auch diese verstreuten Spuren eines Ganzen noch eindrücklich genug auf die alles rahmende Situation eines Fischereihafens hingewiesen, waren es doch insgesamt Abfälle, die von hafenwie seefahrtspezifischen Handlungsketten, Prozessen und Ereignissen am Boden zurückgeblieben sind. So verwiesen noch verstreute und zusammenhanglos erscheinende Dinge auf ein übergreifendes Ganzes, wenn konkrete Sinnbezüge im Einzelnen auch nicht mehr unauffindbar blieben. Ein »anderes« Schiff – eine verinselte Situation Eine besonders eindrucksmächtige und in der Dauer der Zeit des MitSeins beharrende impressive Situation sollte sich mit einem am Abend eintreffenden französischen Trawler entfalten. Die Aktivitäten der Seeleute konstituierten ein ganz eigenes performatives Zentrum, das ein fallbezogenes Verstehen verlangte. Indem sich nicht alles zu jeder Zeit als »ganze« Situation schlagartig von selbst zu verstehen gab, traten immer wieder segmentierte Mikrosituationen in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. In der impressiven Situation der Entladung eines »anderen« Schiffes waren an diesem Abend viele Eindrücke eines Situationsganzen bestimmend. In der Simultaneität der nebeneinander ablaufenden Ereignisse war alles auf ein gemeinsames performatives Zentrum bezogen: (a) die Mitglieder der Mannschaft, die überwiegend anders gekleidet waren als die Seeleute der meisten Trawler, (b) die eigene Technik der Entladung der Fischkisten mit einem LKW-Kran und keiner schiffseigenen Hydraulikanlage, (c) das Zwielicht des schon verdunkelten Abendhimmels, also das Restlicht der untergegangenen Sonne, der fahle Schein des Vollmondes, die fortschreitende Dämmerung und der immer greller erscheinende Lichtkegel der Bordscheinwerfer. Zu dieser impressiven Situation gehörten wiederum Geräusche, 393 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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die sich in einer besonders fesselnden Eindrucksmacht zunächst als etwas scheinbar Eigenes präsentierten, zugleich aber offensichtlich in einem Ganzen wurzelten, von dem sie rhythmisiert wurden. Im Umfeld des französischen Trawlers hatten sich zudem besondere Geräusche in der Gestalt eines akkordartigen Klangteppichs herausgehoben – vielleicht weil sie sich nicht in ein durch Gewöhnung bereits entstandenes Spektrum erwarteter Geräusche eingefügt hatten: das Hämmern und Klopfen eines Schweißers, der am Ende der Rollen eines Fanggeschirrs etwas reparierte und das Zischen seines Schweißgeräts. Aber auch das leise Brummen des Hebekrans beim nicht endenden Entladen der Fischbehälter hatte sich als Klangfigur von ähnlichen Geräuschen der Kräne anderer Schiffe leicht unterschieden und sich in einer als eigenartig empfundenen Gemengelage von Eindrücken herausgeschält. Ein Geräusch, das auch bei allen anderen Trawlerentladungen charakteristisch hervortrat, sollte ebenso in dieser Szene dominieren: das Zusammenschlagen der Ketten nach der Entkopplung von den am Kai abgesetzten Containerstapeln. Schließlich wurde auch diese Situation von einem undefinierbaren, aber doch ortsspezifischen Geruchs-Cocktail durchweht: einem Hauch von Öl, Seeluft und Fisch, angereichert durch den fast schon zum Geschmack verwandelten Geruch von Staub, der vom Schweif des Schweißstrahls aufgewirbelt worden war. Sinnliches Synchronerleben Wenn Gernot Böhme sagt, dass man Situationen »sieht« 100, so ist dies kein optisches Sehen, sondern ein »Erfassen«, in dem das synästhetische Verstehen dessen, was sich auf dem Wege leiblicher Brückenqualitäten suggeriert, die entscheidende Rolle spielt. Im »Sehen« von Situationen werden unterschiedliche sinnliche Eindrücke synchronisiert. Deshalb sieht Böhme den Raum, in dem uns eine große Vielfalt von Eindrücken gegenwärtig ist, auch als »Fluidum« 101 an. »Man wird Dinge erkennen, man wird Farben benennen, Gerüche identifizieren. Wichtig ist, daß dann jedes einzelne gewissermaßen von der Atmosphäre getönt ist.« 102 Eine Atmosphäre ist zum einen durch sinnlich vernehmbare Ereignisse in einer Gegend gestimmt (Geräusche, Ge100 101 102

Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (Ausgabe 2013), S. 94. Ebd., S. 95 Ebd.

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rüche, Bewegungen etc.). Aber es gibt auch umgekehrte Wirkungen, wonach eine Atmosphäre von einem um- oder mitweltlichen Geschehen umgestimmt wird und in einer veränderten Vitalqualität spürbar wird. Auf das atmosphärische Situationserleben wirken schließlich Bewegungen ein. Schon in Johannes Volkelts philosophischer Ästhetik waren die Bewegungsempfindungen in ihrer hermeneutischen Brückenqualität dargestellt, weil sie unmittelbar an ein Mitfühlen appellieren: »Die gesehenen Bewegungen fordern uns unwillkürlich auf, sie in unserer Einbildung mit unserem eigenen Leib nachzumachen. Dabei entstehen in unserer Einbildung auch die entsprechenden Bewegungsempfindungen.« 103 Bei Schmitz sind es weniger Leistungen der Einbildung und Phantasie, die den Wahrnehmenden mit seinem mitweltlichen Herum verschmelzen lassen, als die leibliche Kommunikation, auf deren Weg eine wahrgenommene Dynamik und äußere Lebendigkeit als Bewegung am eigenen Leib mitgefühlt wird. Es soll hier aber allein auf den Hinweis von Volkelt ankommen, dass Bewegungen nicht als etwas angesehen werden dürfen, das allein in einem »Draußen« abläuft und vom wahrnehmenden Individuum nur mit den Augen nachvollzogen wird. Eine solche Trennung hätte analytischen Charakter, der ein atomistisches Denken zum Ausdruck brächte. Im phänomenologischen Fokus situativen Erlebens kommt es darauf an, gemeinsame Wirklichkeiten zu sehen, in denen ein sich bewegender Gegenstand auch den erfasst, der in einem allokativen Sinne zwar nicht mitbewegt wird, von einer wahrgenommenen Bewegung jedoch leiblich berührt wird. Deshalb spricht Volkelt auch davon, dass eine Bewegung von besonders lebhafter Dynamik »selbst etwas mit sich Fortreißendes hat« 104. Das sieht er bei den Geräuschen ähnlich. Auch sie sind keine »externen« Ereignisse, die man in einem akustischen Sinne nur »hören« kann. In Band 1 (vgl. besonders Kapitel 6.3) finden sich in den Beispielen zum Winderleben einige Hinweise auf synästhetische Wahrnehmungen, die zeigen, inwieweit ein Wehen keineswegs allein »Umwelten« tangiert, sondern zugleich unmittelbar in das eigenleibliche Befinden »eingreift«. Schließlich sind Geräuscheindrücke nichts Einzelnes, das sich auf etwas Akustisches beschränken würde. Sie sind nach Volkelt Teil eines Rhythmus’, der Ausdruck einer »Kraftbewe103 104

Volkelt, System der Ästhetik, erster Band, S. 225. Ebd., S. 226.

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gung« 105 ist: »Jedenfalls liegt in den Gehörseindrücken die lebhafte Aufforderung für das Entspringen begleitender Spannungs- und Bewegungsempfindungen.« 106 Das Gehörte geht wie das in Bewegung Erlebte und Gerochene in das vielfarbige bzw. vielgestaltige Bild eines lebendigen atmosphärischen Raumes ein.

4.2.3 Dominante Eindrücke Eine Reihe der Eindrücke, die in den Beispielen impressiver Situationen kommentiert worden sind, verdanken sich in der Art und Weise, in der sie die Aufmerksamkeit gebunden haben, ihrem plötzlichen Zudringlich-Werden. Dominant tritt im Prozess des Wahrnehmens hervor und ins Bewusstsein, was plötzlich gegenwärtig ist und sich in der punktualisierten Dichte des Augenblicks von der kontinuierlich empfundenen Dauer der Zeit abhebt. Es gibt Plötzliches von lebensweltlich eher marginaler, aber eben auch von existenzieller Bedeutung; zwar erschrickt das vom Tisch heruntergefallene Glas den, der ruhig dasaß und in Gedanken versunken war; aber dies ist ein anderes Erschrecken als das eines plötzlich angreifenden Schmerzes, der als bedrohlich empfunden wird. 107 Das Irritierende am Plötzlichen ist nach Friedrich Nietzsche von relativer Bedeutung, weil es sich innerhalb der Aufmerksamkeitsgrenzen der subjektiven Wahrnehmung konstituiert: »Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben, führt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns. Es giebt eine unendliche Menge von Vorgängen in dieser Secunde der Plötzlichkeit, die uns entgehen.« 108

Das Plötzliche ist ein Plötzliches nur für mich und für die mir Ähnlichen. Seine ergreifende Macht setzt für den Fall der Berührung mehrerer Menschen eine vergleichbare Sensibilität und Empfänglichkeit für bestimmte Einrücke voraus. Wenn es ergreift, verdankt sich das vom Plötzlichen ausgelöste Gefühl der Isolierung eines Eindruckes. Es hat eine in der Zeit wie im affektiven Erleben verinselnde Funktion. Deren Wirkung besteht auch darin, dass das in gleitender Dauer Aneinandergereihte zugunsten des Hervortretens einer Singu105 106 107 108

Ebd., S. 276. Ebd. Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung des Augenblicks vgl. auch Kap 3.2.3. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 3, S. 473.

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larität aufgelöst wird. So hat das Plötzliche auch die Funktion einer fixierenden Rahmung im zeitlichen Strom des Dahins. Das Plötzliche ist ein augenblicklich Vorscheinendes vom Charakter des Moments im Sinne seiner zeitlichen Bedeutung. In einem Moment tritt etwas in gewisser Weise aus der Zeit heraus. »Cusanus selbst bestätigt, daß Moment hier gleichbedeutend mit dem ist, was bei ihm sonst ›Jetzt‹ und ›Gegenwart‹ (nunc, paesentia) heißt« 109. Im Unterschied dazu hebt Leibniz das Trennende des Moments hervor und vergleicht es »mit dem Punkt als der Grenze der Linie und dem Streben […] als der Grenze der Bewegung: ›Das Streben in der Bewegung oder Tätigkeit ist, was der Punkt in der Linie und der Moment in der Zeit ist, nämlich Anfang oder Ende‹« 110.

Auf dem Hintergrund der Beispiele aus der Mikrologie lassen beide Bedeutungen die Funktion einer gewissen Exotisierung der Aufmerksamkeit im Prozess der Wahrnehmung erkennen. Das Plötzliche wird zudringlich, weil es erschrickt, irritiert, befremdet, verrätselt, exotisiert oder aus anderen Gründen aus einem Feld der Protentionen herausragt, auffällt oder sich auf andere Weise dem reibungslosen Verstehen widersetzt. Formen des Plötzlichen, die im Vorblitzen von Augenblicken Moment-Charakter hatten, kommen in der Mikrologie wiederholt zur Geltung. Ein solcher impressiver Situationseindruck wird mit der Tätigkeit des schnellen, professionellen Ausnehmens von Plattfischen in einer der Kühlhallen beschrieben. Dabei waren es zwei Eindrucksfacetten, die in ihrem Moment-Charakter etwas Begrenzendes und sich selbst Akzentuierendes hatten: Zum einen machte die Arbeit des scheinbar unaufhörlichen Aufschlitzens der Fische und des Herausziehens und Wegwerfens der Eingeweide auf dem Hintergrund alltäglicher Erfahrungen einen exotischen Eindruck, weil es in der Lebenswelt ein solches Hantieren mit massenhaftem Fisch nicht gibt. Begrenzende Wirkung ging in diesem Situations-Erleben zum anderen von den Gerüchen aus, die von einem Eimer mit gesammelten Innereien aufstiegen. Schon die sinnlich angreifenden Empfindungen bewirkten eine gewisse Trennung des eindrücklich Werdenden gegenüber der rahmenden Situation der in der Halle vor sich gehenden109 110

Borsche, »Moment«, Sp. 101. Ebd.

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den Auktionsvorbereitungen. Dieses Trennende wurde durch eine der Situation gleichsam anhängende Atmosphäre des Ekels noch einmal verstärkt. Jedem Ekelerleben eignet ein Moment des Plötzlichen und darin Trennenden, das in der Wahrnehmung ein Hervorspringen von Eindruckssegmenten zur Folge hat, weil das Eklige die Aufmerksamkeit intensiver beansprucht als Eindrücke, die im Spektrum eines Erwarteten und vor allem Nicht-Idiosynkratischen liegen. Ekel ist von einer Ambivalenz zwischen Abstoßung und Anziehung geprägt. Dieses Zugleich gegensätzlicher Empfindungen erklärt Schmitz so: »Es ist das Protopathische am eigenen Leibe, das abgestoßen wird und abstößt, wo es durch synästhetische Charaktere an Objekten begegnet, und doch nicht abgestoßen werden kann, sondern an sich festhält, weil es unerlässlich zum eigenen Leibe gehört.« 111 Die leiblich affizierende Gegenwart bereits ausgenommener Fische (wie sie in jedem Fischgeschäft zwischen den Eiswürfeln der Verkaufsauslagen liegen) vermittelt eine ganz andere (dem Kulinarischen viel nähere) Vitalqualität der Atmosphären als das aktuell vonstattengehende massenhafte Ausnehmen von Fisch. Die Präsentation von »küchenfertigem« Fisch unterscheidet sich kategorial von der Situation seiner massenhaften industriellen Ausweidung. Das serielle Aufschneiden der Fischbäuche zur Entnahme der Eingeweide gehört zur fischereiwirtschaftlichen (und technisch-gewaltsamen) Aneignung von Tieren aus dem Haushalt der Meeresnatur. Wenn es handwerklich auch sonst ähnliche Abläufe in der Zubereitung eines einzelnen Fisches für ein Menu geben mag, so hat das eine mit dem anderen doch äußerst wenig gemeinsam. Das sinnlich mitvollziehbare, sich überaus schnell wiederholende Hineinschneiden in tote Fischkörper erzwingt gleichsam ungefragt die leibliche Teilhabe, in der trotz aller Distanz zu den praktischen Abläufen die Grenze des Gewohnten empfindlich überschritten ist, obwohl es doch in einem physiologischen Sinne zu keiner Berührung kommt. Das Doppelgefühl von Anziehung und Abstoßung kennt man im Prinzip – wenn auch in anderer Weise – vom Erhabenen. Ähnlich wie beim Ekel wird hier das Abzustoßende von einem leiblichen Impuls zurückgehalten, sodass der Wahrnehmende vom Abstoßenden nicht loskommt. 112 In besonderer Weise illustrieren die in der Mikrologie beschriebenen

111 112

Schmitz, Der Leib, S. 68. Vgl. ebd.

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angreifenden Eindrücke, was Romano Guardini (im Unterschied zu Friedrich Otto Bollnow) zur Begegnung angemerkt hatte (s. auch Kapitel 4.1.7). Eine ganz andere Bindung der Aufmerksamkeit an die Dominanz eines augenblicklichen Moments ging vom performativen und lautlichen Ablaufgeschehen beim Entladen der Fänge aus. Es waren hier eher die sich scheinbar endlos wiederholenden Geräusche, die in der (besonderen sommerlichen und räumlichen) Situation des Fischereihafens die Aufmerksamkeit gefangennahmen. Die Art und Weise, in der sich hier die Wahrnehmung sammelte, stand jedoch weit weniger unter der Macht einer verinselnden Fokussierung als das Miterleben des von Ekelgefühlen umwölkten Ausnehmens von Plattfischen. Mit anderen Worten: Innerhalb der Dominanz von Eindrücken gibt es unterschiedliche Reichweiten und damit auch unterschiedliche Grade des Mit-Spürens und Ergriffen-Seins von einem Geschehen.

4.2.4 Tempi Lebendige Milieus erschließen sich dem Erleben unter anderem über die atmosphärische Spürbarkeit von Tempi. Diese werden nicht nur an aktuell ablaufenden, körperlich sichtbaren Bewegungen wahrgenommen, sondern auch in einem ganzheitlichen Sinne an den nie genau vorhersehbaren Ablauffiguren performativer Ströme. Schließlich sind die ein Herum stimmenden Rhythmen auf höchst luzide Weise selbst als »Bewegung« wahrnehmbar. Dies sind jedoch keine im engeren Sinne sichtbaren körperlich-dinglichen Bewegungen; vielmehr ist es eine sich ankündigende Lebendigkeit, die etwas Bewegtes zeigt, wie Bewegendes bewirkt. Dabei bewegt sich nicht tatsächlich etwas, wie man dies von fliegenden Scheiben oder fallenden Messern erwartet. Bewegung wird atmosphärisch im Erleben eines sich Nähernden spürbar. Die deutsche Sprache hat für diese Art der Näherung kein Wort. Im Japanischen bezeichnet der Begriff des kehai anwesende Spuren eines sich bewegend Nähernden. Damit ist eine atmosphärische Erlebnisqualität gemeint, die von einer nahenden und damit indirekt schon anwesenden Person spürbar wird. Es kommt hier nicht auf die allokative Bewegung eines physischen Körpers an, wenn die mit einer atmosphärischen Näherung in aller Regel auch verbunden sein mag. Beispielhaft weist Hisayama auf den Klang der Schritte hin, der einer sich nähernden Person lautlich voraus ist. 399 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Ein »kehai ist die ›Vorgestalt‹ eines Menschen« 113. Kehai deutet etwas Nahendes an. Ich möchte den Begriff hier auf das Bevorstehende einer lebendigen Situation übertragen. So bekommt man am atmosphärischen Zustand einer Situation wie der des Fischereihafens zur Zeit der Entladung der Schiffe zu spüren, dass die zahllosen Bewegungsabläufe auf ein noch nicht ganz deutliches, aber doch merklich nahes Ziel hin orientiert sind. Zwar ist es (als Ziel) noch nicht eingetreten, aber trotz seiner zeitlich relativen Ferne atmosphärisch bereits spürbar – als ein quasi-energetisches Zentrum, das alle Abläufe auf eine höchst vitale Weise antreibt. Es taktet zudem einen offensichtlich gebotenen Rhythmus der Eile, damit das bevorstehende Zeitfenster nicht verfehlt wird. Das Tempo der Verfrachtung der Fänge aus den Schiffsbäuchen in die Kühlhallen folgt einer Logik, die von der Verzahnung zweier benachbarter Situationen geführt wird. Man könnte auch von einer performativen Schwelle sprechen, auf der das eine mit dem anderen im spezifischen Tempo der Abläufe so zusammengebracht wird, dass das entstehende Ganze zu einem sinnhaften Ende gebracht werden kann. Die Tempi sind nicht nur Geschwindigkeiten in einem physikalischen Sinne, sie verbürgen in ihrem spezifischen Takt sowie als performative Nahtstelle darüber hinaus die systemgerechte Verfugung von zwei Schauplätzen zu einem »großen« Ereignis. Auf Tempi verweisen nicht nur Dinge, die schnell bewegt werden, sondern auch solche, die bei den eiligen Abläufen im unmittelbaren Sinn des Wortes »abgefallen« und in ihrer Nichtverwendbarkeit und Bedeutungslosigkeit zu Abfall geworden sind. Auch sie stehen für einen ortsspezifischen Bewegungsrhythmus, obwohl sie doch nur daliegen und sich nicht (mehr) bewegen. Gleichwohl gibt es Dinge, die in ihrem erstarrten Da-Liegen als Ausdruck ihrer spezifischen Geschichtlichkeit auf vergangene Rhythmen verweisen. Die Tempi nehmen die Dinge – aber auch die Halbdinge – auf je eigene Weise mit und machen auf zweierlei aufmerksam: Geschwindigkeit ist zum einen Ausdruck einer gelebten RaumZeit und zum anderen selbst etwas, an dem sich ein Rhythmus zum Ausdruck bringt. Etwas ruhig Daliegendes ist in anderer Weise atmosphärisch präsent als etwas in den Fluss schneller Bewegungen Hineingerissenes. Gelebte Rhythmen machen auf ihre je eigene Weise auf das Wesen der Dinge und Halbdinge aufmerksam – so die flink über den 113

Hisayama, Ästhetik des kehai, S. 23.

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Fischereihafen-Logistik am Vorabend einer Auktion

Platz huschenden Gabelstapler, die langsam dahinziehenden Wolken, die mal schrill-schnell und mal müde-langsam klingenden Schreie der Möwen, die über dem Hafenbecken ihre Kreise ziehen. Was man als ein Tempo wahrnimmt, ist auf Zweierlei bezogen – auf etwas, das sich (so oder so) bewegt, und auf einen relationalen Erfahrungshorizont, auf dem man diese Bewegung erlebt. Dies ist keine einfache, sondern eine multiple Relation. Zum einen ist sie durch Feld-Bedingungen disponiert (die spezifische Situation des Fischereihafens in der Vorbereitung auf eine Auktion und zum Beispiel das Wetter – bei Windstille und lauwarmer sommerlicher Sonne im synästhetischem Sinne »langsam« und bei schneidendem Sturm in winterlicher Kälte »schnell«), zum anderen aber auch durch die affektive Gestimmtheit des eigenen Befindens (das wiederum durch die aktuelle Situation auf der Objektseite gestimmt ist). Paul Virilio merkt an: »Bekanntlich bezeichnet Geschwindigkeit selbst kein Phänomen, sondern eine Relation zwischen Phänomenen«, weshalb er Galileis Fernrohr als »Transportmittel des Blicks« 114 pointiert. Der Warenumschlag, der im Seehafen von Hanstholm organisiert wird, ist nicht zuletzt Spiegel technischer und logistischer Strukturen, wozu spezifische Verkehrsmittel gehören: neben den Schiffen die Gabelstapler für den Transport vom Schiff in die Kühlhallen sowie die Sattelschlepper mit ihren gekühlten Containern für den Weitertransport auf den sich im Binnenland verzweigenden Distributionswegen. Aber auch die Kühlhäuser der Hafenverwaltung und der Fischgroßhändler sind – wenngleich sie sich nicht bewegen – in die Logik der Zeit und damit die Rhythmen der Geschwindigkeit eingebunden. Sie haben einen erheblichen, wenn nicht sogar den entscheidenden Einfluss auf die raumzeitlichen Kalküle, denen der Fischhandel insgesamt folgt. Eine güterspezifische Trajektologie, die darüber entscheidet, was wann und wie zu den Menschen gelangt, resultiert deshalb auch nicht nur aus Transporttechnologien im engeren Sinne. Zweckfrei daliegende Dinge sind aus vitalen Relationen entbunden; sie befinden sich außerhalb der Horizonte von sozialem Sinn und Interesse. Sie folgen der Logik einer eigenen Zeit. Das Herumliegende bestreitet die in der Welt des Fischgeschäfts scheinbar ausschließliche Relevanz der Geschwindigkeit, die in geradezu charakteristischer Weise alle Abläufe eines Fischereihafens antreibt. Dies hat die Folge, dass sich mit der maschinistisch wirkenden Beschleunigung 114

Virilio, Revolution der Geschwindigkeit, S. 25.

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Fischmärkte

eine beinahe überdehnte polare Spannung zum Übersehenen, Unnütz-Gewordenen und nur noch Störenden in einer Welt des Stillstandes aufbaut. Ein programmatisch essentielles Merkmal der Mikrologien besteht darin, die Wahrnehmung am Aufspüren und Durchdenken der »Abgründe« des Infra-Gewöhnlichen zu üben, um im Allgemeinen besser sehen, verstehen und denken zu können. Darin kommt eine Sorge um ein anthropologisch fundiertes und nicht erst technisch vermitteltes Können des eigenen Selbst zur Geltung. Diese wendet sich nicht zuletzt gegen den »Untergang des Blicks […] zugunsten einer beispiellosen Entwicklung der Industrialisierung des Sehens«. 115 Der Blick erfasst (im Unterschied zum schnellen seriellen Sehen, wie es auf jeder Auktion geboten ist) nicht nur Faktisches, sondern auch Bedeutungen, die den Dingen anhaften. Bedeutungen haben unter der gesellschaftlichen Bedingung eines beschleunigten Kapitalismus vor allem ökonomische Vorzeichen. Während der Fisch als Ware gehandelt wird, ist das abfallartige Zeug auf dem Boden der Kaianlagen aus allen Wertskalen herausgefallen und findet auch in keiner anderen systemischen Logik der Zeit irgendeinen Sinn. Was als finaler Abfall – noch nicht einmal als »Rest« – daliegt, ist völlig zum Stillstand gekommen, auch wenn es durch einen zufälligen Fußtritt von einer Stelle zur anderen bewegt werden mag. Solche Stillstände haben einen kulturellen Sonderstatus, der sich selbst in der Etymologie widerspiegelt. Die Brüder Grimm geben zur Illustration des Zeitmaßes einer Bewegung das rasche, langsame und gemäßigte Tempo an. 116 Der Stillstand fällt als Bewegungslosigkeit danach gar nicht unter die Tempi. Umso mehr provoziert das absolut Ruhige das Bedenken des Bewegten. Der Fisch ist ein von Anfang an, das heißt schon in dem Moment, in dem er zu einem Objekt fischereiwirtschaftlichen (Fang-) Interesses wird, in die technologischen und ökonomischen Parameter einer geschwindigkeitsbedingten Trajektologie eingeschrieben. Sobald er in einem Fangnetz endet (und bald darauf verendet), gerät er unter die Herrschaft einer Beschleunigung, die an Bord der Trawler alle Rhythmen seiner Verarbeitung und Einlagerung bestimmt. Im atmosphärischen Erleben der Vitalqualitäten des Hafens wird die eilig

115 116

Virilio, Rasender Stillstand, S. 102 Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 21, Sp. 252.

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Fischereihafen-Logistik am Vorabend einer Auktion

gelebte Zeit im affektiven Spiegel des gelebten Raumes spürbar – in der eiligen Entladung der Schiffe und der nicht weniger schnellen Umladung der Fänge in die Kühlhallen der Hafenverwaltung. Am folgenden Tage sollte sich die Beschleunigung in einem neuen Gesicht der Eile des Handels fortsetzen. Die Tempi aller Aktivitäten innerhalb des Hafens werden durch Rhythmen der Schnelligkeit disponiert. Es stellt sich gar nicht erst die Frage, einen frischen Fisch auf dem Weg zum Endverbraucher langsam (langsamer als logistisch möglich) zu transportieren. Je langsamer er »reist«, desto älter gelangt er an sein Ziel und verfehlt damit das Zentrum aller auf ihn gerichteten kulinarischen Erwartungen. Dabei sind die Gebote der Eile nicht erst mit der modernen Industriefischerei in die Welt gekommen. Der frische Fisch war immer schon zeitlich limitiert; nur hatte dieser Umstand vor der High-TechMaschinenzeit zur Folge, dass sich allein Fisch aus relativer Nähe für den Verzehr anbot. In den ferneren Handel konnte nur geräucherte oder durch Konservierung haltbar gemachte Ware gelangen. Das aus seiner Selbstverständlichkeit Herausgerissene provoziert die Verwirrung des Denkens. Aus der Perspektive des MitSeins im eiligen Treiben eines Fischereihafens bekommt die allgemein undeutliche, aber doch ganz selbstverständliche Vorstellung schneller logistischer Prozesse im Handel mit frischem Fisch erst ein konkretes Gesicht. Die sinnlichen Eindrücke einer insgesamt geradezu hektisch wirkenden Fisch-Logistik haben die Nachdenklichkeit auf nachhaltige Weise geweckt. Solange die Trawler auf See ihre Netze auswerfen und die Fänge unter Deck in Kühlräumen lagern, steht für den toten Fisch eine posthume Zeit still; in der Welt des Handels ist dies jedoch kein Still-, sondern ein Wartestand, während an Bord der Wettlauf gegen die Zeit weitergeht. Mit dem Eintreffen der Schiffe in den Häfen setzt ein Takt der Eile ein, der den Rhythmus aller Folgeabläufe diktiert. In dieser Welt wird die Aura des toten Fischs von der sachlichen Nüchternheit einer maschinistisch-instrumentellen Behandlung aufgesogen. Alleiniger Handlungsimperativ ist die Schnelligkeit als temporäres Gesicht ökonomischer Effizienz. Die Monotonie der Abläufe zeigt sich in Gestalt industrieller Serialität. Auch die mit Hilfe der Sortiermaschinen praktizierte Kategorisierung des Fischs nach Größen-, Gewichts- und Qualitätsklassen geschieht schnell und folgt der Logik systemischer Prozeduren. Geboten ist allein die maschinelle Identifizierung und Transformation von Tieren zu Medien datentechnischer Kommunikation. Ihr sinnlicher Ein403 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

druck, ihr Aussehen und Erscheinen, von der Aura des Toten ganz zu schweigen, wird durch abstrakte Barcode-Informationen ergänzt. Die Verfrachtung von verderblichem Fisch provoziert die Reflexion von Rhythmen der Geschwindigkeit gesellschaftlicher Prozesse. Der Fisch wird in seiner massenhaften Gegenwart zum Repräsentanten all dessen, was in luxurierten Konsumgesellschaften aussichtsreicher Geschäfte wegen bewegt wird; darunter fallen nicht zuletzt jene Güter, deren Transport allein subventionspolitisch motiviert ist. Wenn Virilio von einer »Enteignung des Blicks« 117 spricht, so wird diese nicht nur auf dem technologischen Niveau von Oberflächen vorangetrieben – durch High-Tech-Züge und einen immer schnelleren Gütertransport auf Land- und Luftwegen. Beschleunigung berührt indes noch mehr ein ästhetisches Tiefenniveau, auf dem sie sich hinter dem schönen Schein ubiquitärer Dinge des täglichen Bedarfs selbst zum Verschwinden bringt, weil die Dinge in ihrer Gegenständlichkeit allein auf sich selbst verweisen und erst nach der Beschreitung aufwendiger Denkwege den Preis ihrer (im Übrigen energiegefräßigen) Güterlogistik zu erkennen geben. Beim Transport von Datenströmen verschwinden Rhythmen der Geschwindigkeit ganz in einem anästhetischen Milieu, weil sich in einem tatsächlichen Sinne nichts mehr bewegt oder bewegt wird. Die ubiquitäre Verfügbarkeit von Südfrüchten hat die Frage nach dem Preis einer transportlogistischen Beschleunigung auf andere Weise obsolet gemacht als die globalisierten Entertainment-Emissionen satellitenbasierter TV-Konzerne. In der Mikrologie ist der Gegensatz zwischen der Schnelligkeit einer Fischlogistik und dem Stillstand am Boden liegender nutzloser Abfall-Dinge (in ihrer situativen Verankerung nicht ganz aktuell und nicht ganz zuständlich) bemerkbar geworden. Ausgerechnet das StillStehende (das Fixierte und nicht Bewegte) hat die Tempi und ihre Bedeutung im täglichen Leben ins Bewusstsein getrieben. Unter der Bedingung abstrakter logistischer Ketten und normierter Warengeschäfte reklamiert sich das sinnlich geschärfte und aufmerksame Selbst-Hinsehen 118 zunehmend als bildungsphilosophisch legitimierte Anstrengung, die sich am technologischen Imperativ schneller Kommunikation und (digitalisierter) Informationsvermittlung abzuarbeiten hätte. Die Herausforderung stellt sich mehr Virilio, Fluchtgeschwindigkeit, S. 128. Die Bedeutung des Selbst-Hinsehens diskutiert unter phänomenologischer Perspektive insbesondere Gleixner, Konstitution der Lebenswelt Großstadt.

117 118

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Fischereihafen-Logistik am Vorabend einer Auktion

im erkenntnistheoretischen als in einem nur visualistischen Sinne des Sehen-Machens. Unter der Bedingung maximierter Geschwindigkeiten kommt es zu einer »Überbelichtung des Sichtbaren« 119 und in dem entstehenden Schatten zur Abschleifung sensibler Vermögen der Differenzierung des Denkwürdigen. Dies entspricht – metaphorisch gesprochen – einer fotografischen Überbelichtung, die die Vielfalt von Farbtönen und -nuancen zugunsten von Kontrasten preisgibt. So wird das gegenüber Differenzen sensible Sehen in »schnellen Gesellschaften« zu einer selten gefragten Spezialkompetenz. Umgekehrt erstarkt auf einer anthropologischen Schwelle eine Welt technischer »Sensoren«, deren automatisiere Sache es ist, anstelle von potentiell Wahrnehmbarem Objekteigenschaften von Ding, Mensch und Tier, die sich zur Vergegenständlichung anbieten, nach vordefinierten Parametern zu rastern und Systemprozessen verfügbar zu machen. In der professionellen Situation des Fischauktionshandels erübrigt sich im Prinzip die Zusammenkunft von Fisch und Händler in einem Milieu sinnlicher Anschauung. Auf der Grundlage radikaler Normierung gebietet sich ein Daten- und Güterverkehr, der aus sinnlicher Distanz abgewickelt werden könnte wie der niederländische im Online-Auktionshandel mit Schnittblumen. Der Handel, wie er sich auch in der folgenden Mikrologie in den dänischen Auktionshallen von Hanstholm oder denen des englischen Fischereihafens Grimsby (s. Exkurs in Kapitel 4.4) darstellt, könnte theoretisch bald der Vergangenheit angehören. In diesem Sinne weist die Bremerhavener Fischauktions-GmbH, die den Fischhandel ausschließlich über Internet und Telefon abwickelt, auf Dienstleistungen des Unternehmens hin, die gewissermaßen »in Vertretung« leiblich anwesender und selbst hinsehender Händler von Experten erbracht werden: »Folgende sensorischen Prüfungen werden vorgenommen: – Augen der Fische (je klarer, desto frischer) – Haut der Fische (durch Ertasten kann die Frische bestimmt werden) – Kiemen der Fische (rosafarbene und nicht klebrige Kiemen sind deutliche Anzeichen für Frische)« 120.

Auf einer anthropologisch-technologischen Schwelle stellt sich angesichts von Händlern, die dennoch am »Ort des Fisches« gegenwärtig Virilio, Fluchtgeschwindigkeit, S. 126. Bremerhavener Fischauktions GmbH: Qualitätswesen; http://www.fischauktion. de/de/auktion/qualitaetswesen.html (05. 02. 2017). 119 120

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Fischmärkte

sind und sein wollen, die Frage, worin der Nutzen liegen mag, nicht alles, was mit dem Einkauf von frischem Fisch zu tun hat, an technische Automatismen zu delegieren. Wenn – im Sinne von Eduard Kaeser – »die Welt, trotz ihrer immateriellen, medialen, bildschirmflimmernden Abgerücktheit, stets auch ganz nah da ist: als Fleisch, Blut, Material, Dreck, Erde« 121 (hier in Gestalt von tatsächlich und atmosphärisch anwesendem Fisch), so beharrt das stofflich und sinnlich Gegenwärtige, das Riechbare, Tastbare und Spürbare in einer gelebten Konkurrenz zu den Bildversprechen virtueller Welten, weil es ein Mehr zur Anschauung bringt, das es in virtuellen Welten nicht gibt – zumindest bis auf Weiteres.

4.3 Fischauktion in Hanstholm (Dänemark) Der zweite Teil der Mikrologie zum atmosphärischen Erleben von Fischmärkten ist einer Auktion gewidmet, die den am Vortag frisch angelandeten Seefisch zur Versteigerung bringen wird. Die im Folgenden wiedergegebenen dichten Beschreibungen gehen auf die Teilnahme an einem frühmorgendlichen Verkauf zurück. Zur Auktion gelangt der Fisch, der am vorangegangenen Nachmittag und Abend in die Kühlhallen eingelagert und dort sortiert und ausgezeichnet worden ist (s. auch Kapitel 4.2). In den Beschreibungen werden Eindrücke, die für den Verlauf der Auktion charakteristisch waren, oft in einem scheinbar redundanten Sinne angesprochen; tatsächlich handelt es sich dabei aber um Variationen von Ähnlichem. Die scheinbaren Wiederholungen sind nicht Ausdruck ungenauer Trennung des einen vom anderen, sondern spiegeln vielmehr die authentisch erlebte Dichte und Abfolge von Abläufen wider, die sich auf höchst ähnliche Weise immerzu aufs Neue verkettet und damit in einem stets neuen atmosphärische Rahmen gezeigt haben. Auch diese Mikrologie expliziert das subjektive Eindruckserleben in der Form wörtlicher Rede. Gegenstand der Beschreibung sind zeitlich dichte Rhythmen, in denen sich auf den ersten Blick identisch aussehende Prozeduren schnell überlagern; sie haben den Charakter einer scheinbar endlosen Performanz, in der sich ein im Prinzip endlos variierendes Muster von Augenblicken und Geschehnissen bildet. Nur in der Herstellung einer gleichsam klinischen 121

Kaeser, Ästhetik der Irritation, S. 162

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Fischauktion in Hanstholm (Dänemark)

Abb. 4.18: Die ersten Händler treffen in der Auktionshalle ein

und aseptischen Ordnung hätten thematische Dopplungen bereinigt und durch eine pseudo-systematische Reihung ersetzt werden müssen, die dem üblichen Ablauf einer Auktion entsprochen hätte. Was thematisch als »Wiederholung« erscheinen mag, stellt sich in der Aktualität des Erlebens deshalb in Gesichtern sich immer wieder verändernder Situationen mit je besonderen atmosphärischen Vitalqualitäten dar. Schon um kurz nach 6 Uhr am frühen Morgen, also rund 20 Minuten vor Beginn der Auktion, stehen die ersten Händler mit ihren Bluetooth-Headsets vor den mit Fisch gefüllten Containern der Halle 3. 122 Wegen der gebotenen Frischhaltung des Fischs ist es kalt. Die Neonleuchten in den Decken sorgen für gutes, aber kaltes und technisch wirkendes Licht. Es spiegelt sich auf dem wässrigen Film, der den frisch abgespritzten Betonboden überzieht. Ein Mitarbeiter der Hafenverwaltung trifft computertechnische Vorbereitungen für die Auktion (s. Abb. 4.18).

122 Tag und Zeit der Protokollierung: 19. 08. 2016 | 06:45–10:05 h; ich danke dem Auktionsmeister Jes Holm Sørensen für die freundliche Unterstützung des Projekts.

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Fischmärkte

Abb. 4.19: Die Glocke, mit der der Beginn der Auktion eingeläutet wird

Die meisten der in und neben den Containerreihen stehenden Einkäufer sprechen nicht miteinander; sie telefonieren über Headsets wahrscheinlich mit ihren Büros oder Kunden, die ihnen Aufträge erteilen. Dann beginnt die Auktion. Der Auktionsmeister läutet mit wenigen Schlägen eine schwere bronzene Glocke, die an einer Wand hängt (s. Abb. 4.19). Zuerst werden »geringere« Mengen Fisch versteigert, die in einzelnen Kisten zu kleineren Gruppierungen aufgestellt sind. Das Prozedere ist scheinbar einfach, erschließt sich mir aber doch nur äußerlich; versteigert wird nach steigenden Preisen. Die sehr schnell ablaufende Aktionsdynamik spiegelt sich in einer gestischen und mimischen Psychodynamik der Fischhändler wider. Die tiefer liegenden Facetten der zahl- und gestaltreichen Abläufe bleiben mir als Nicht-Eingeweihtem verschlossen. Zuerst nennt der Auktionator in dänischer Sprache einen Preis; manchmal folgt ein kurzer, reduziert erscheinender Dialog mit einem oder zwei Einkäufern. Die Bieter sprechen untereinander nur ausnahmsweise. Den Zuschlag erhält, wer dem angesagten Preis zustimmt. Der Auktionator schlägt dann mit einem Stock laut hörbar auf die Kante der betreffenden Kiste bzw. des ersteigerten Containerstapels und eine Menge X ist verkauft (s. Abb. 4.20). Es folgen Angestellte der Hafenverwaltung, die mit Scannern die Barcodes einlesen, 408 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischauktion in Hanstholm (Dänemark)

Abb. 4.20: Erteilung des Zuschlages durch den Auktionsmeister

die auf Zetteln stehen und auf einem Fisch in der obersten Kiste kleben (s. Abb. 4.27, S. 416). Eine junge Frau, die auf einer speziellen bauchladenähnlichen Tragevorrichtung einen Laptop vor sich hat, gibt für den Zoll die transaktionsrelevanten Daten über die Tastatur ein (s. Abb. 4.21). Sie trägt Winterkleidung samt Handschuhen, aus denen die Fingerspitzen herausgucken. Alle Abläufe gehen sehr schnell, und in einer Minute sind rund 25 Behälter verkauft. Wer einen Stapel ersteigert hat, wirft einen Zettel mit dem Namen der Firma des Käufers auf den Fisch. So wissen die Fahrer der Gabelstapler, wo sie die Container hinbringen müssen. Die großen Abnehmer – die regelmäßig etliche hundert Kilo bis einige Tonnen ersteigern – haben eigene Kühlräume bzw. -häuser im Hafengelände, zu denen die Gabelstapler fahren können. Nachdem die »kleinen« Mengen (einige Tonnen dürften es dennoch gewesen sein) nach ungefähr 15 Minuten versteigert sind, geht es in derselben Halle mit großen Mengen weiter. Zur Auktion stehen nun meist zu Blöcken zusammengestellte Einheiten, oft mehrere Tonnen Fisch. Das Prozedere ist scheinbar immer dasselbe. Auch nun wird nur selten mehr gesprochen als unbedingt nötig. Gebote werden meistens nicht so abgegeben, wie das in den TV-Medien oft gezeigt wird. Vielmehr nennt der Auktionator einen marktüblichen Startpreis, worauf sich die ersten Bieter zustimmend zeigen – in aller Regel durch Gesten wie ein gerade einmal angedeutetes Kopfnicken, ein Augenzwinkern oder auch nur einen zustimmenden Blick. Der erhöht den Preis so lange, bis nur noch ein Bieter übrig bleibt, der 409 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Abb. 4.21: Zollrechtliche Erfassung der versteigerten Lose am Laptop

dann den Zuschlag erhält, indem der Auktionator mit einem kurzen und kräftigen, rund 30 cm langen Stock auf die Kante der Kiste schlägt – oder auch (und das ist meistens der Fall) auf die Kanten mehrerer oder sogar zahlreicher Stapel übereinandergestellter Container. Wenn es sehr viele Stapel sind, die etwa eine Achse von 20 Metern bilden, läuft er manchmal an der langen Reihe vorbei und schlägt dabei schnell auf die versteigerten Stapel. Langsam und bedächtig geschieht hier gar nichts. Nur manchmal sagt der Auktionator gut verständlich einen Betrag, meistens rattert er – für Außenstehende unverständlich schnell – Ketten von Preisen herunter, worauf die Bieter auf meist stumme Weise Zustimmung oder Ausstieg zu verstehen geben. Da eigentlich niemand spricht, dringt die Stimme des Auktionators in der steinernen und kalten Halle klar durch den Raum. Dabei ist der Auktionator den Käufern offen und freundlich zugewandt. Was akustisch durch einen leichten Hall hart klingt, ist es atmosphärisch in der sozialen Situation der Auktion doch gar nicht. In der Kommunikation zwischen Einkäufern und Auktionator müssen die Fischhändler dem Auktionsmeister etwas »zu verstehen« 410 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischauktion in Hanstholm (Dänemark)

Abb. 4.22: Gespannte Aufmerksamkeit in der kalten Auktionshalle

geben, ohne dabei großen Redeaufwand zu betreiben und unnötige Zeit zu verschwenden. Meistens sind es nur Blicke oder Gesten, auf deren Weg etwas mitgeteilt wird, obwohl es doch bei einem Zuschlag für eine Menge von rund tausend Kilo Fisch oder mehr um hohe Geldsummen geht. Dabei stehen die Bieter dem Auktionator noch nicht einmal frontal gegenüber, sondern oft genug auch seitlich und beinahe noch hinter ihm. Der Auktionsmeister muss selbst die Gebote von denen noch zur Kenntnis nehmen, die sich beinahe schon außerhalb seines Gesichtsfeldes befinden. Deshalb bewegt er mitunter – wenn er einen Bieter halb hinter sich weiß – die Augen immer wieder schnell und weit zur Seite, ohne den Kopf so zu bewegen, wie man das alltäglich tun würde. Er ist mit einer bemerkenswert sensiblen Aufmerksamkeit gegenüber Gesten um ihn herum präsent, sodass er gleichzeitig alles im Auge behalten kann, was für die Auktion von Belang ist. In der kalten Halle – nicht nur die Angestellten der Hafenverwaltung sind winterlich angezogen, sondern auch die Fischhändler – herrscht eine wachsam gespannte Atmosphäre und bemerkenswerte Ruhe (s. Abb. 4.22). Es ist dies keine aufgeregte oder gar hektische Spannung, vielmehr eine professionelle und zielgerichtete Aufmerksamkeit. Es scheint eine unausgesprochene Regel zu geben, die fast ausnahmslos eingehalten wird: Im Allgemeinen spricht nur der Auktionator. Manchmal fallen beim Steigern zwischen zwei Bietern wenige Worte: »ja, ja, ja – nei«. Der Preis steigt, bis einer abspringt. Letzteres geschieht meistens nicht in wörtlicher Rede, sondern indem

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Fischmärkte

Abb. 4.23: Gabelstapler transportieren die Fischkisten in die Kühlhäuser der Großhändler

der, der nicht weiter bieten will, einfach wegsieht, sich umdreht oder kaum sichtbar den Kopf schüttelt. Es wird nun etwas lauter in der Halle – das Abräumen größerer Mengen wird lebendiger. Männer der Hafenverwaltung sowie Helfer der Fischgroßhändler ziehen Container mit langen Eisenhaken über den nassen Betonboden und gruppieren sie für den Abtransport mit den Gabelstaplern. Die Behälter machen dabei ein scharrendes, manchmal – wenn sie auf den Betonboden geworfen werden – auch laut aufschlagendes Geräusch. Zahlreiche Gabelstapler werden für das Herausfahren des Fischs in die Firmenkühlhäuser, die sich meistens in unmittelbarer Umgebung der Auktionshallen befinden, in Position gebracht. Zu den Geräuschen, die beim Transport der schweren Kunststoff-Container unterschiedlicher Größen entstehen, kommt nun noch das Surren der mit Gas oder Strom betriebenen Gabelstapler-Motoren und das sonore Brummen ihrer Hydraulik beim Anheben der Stapel hinzu (s. Abb. 4.23). So verbindet sich mit jedem Auktionszyklus ein ganz eigener klangräumlicher Charakter. Während der Auktion ist es ruhig und alle Konzentration ist zunächst auf den Auktionator gerichtet, dann auf die an einem Handel beteiligten Bieter. Die Abwicklung einer 412 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischauktion in Hanstholm (Dänemark)

Transaktion beginnt aber nicht erst, wenn der Fisch der ganzen Halle verkauft ist, sondern sobald der Auktionator zur nächsten nur rund zwei Meter entfernten Reihe mit Containern weitergeht. Hinter der sich langsam fortbewegenden Auktionsgruppe (ein ganz eigener, sich bewegender Spannungs- und Ruhe-Ort) entsteht eine lautliche Atmosphäre aus technischen Transport- und Bewegungsgeräuschen sowie -bildern. Das Geschehen bleibt zwar hintergründig, lässt aber doch deutlich erkennen, dass im Handel mit seefrischem Fisch große Eile geboten ist. Nach rund 20 Minuten ist auch nun wieder alles versteigert, was sich in dieser Halle befand (s. Abb. 4.24 und 4.25). In kurzer Zeit sind wohl um die hundert Kisten bzw. Tausende Kilo Fisch versteigert worden und plötzlich sind ungefähr 10 Gabelstapler in der Halle. Sie kommen so schnell und leise, dass man sie kaum bemerkt. Sie fangen an, die von den Hafenarbeitern zusammengestellten Containergruppen abzutransportieren. Die Auktion wird in einer anderen Halle fortgesetzt. Auch hier stehen nur große Mengen zum Verkauf. Nachdem der Handel schwungvoll weitergeht, beginnt sogleich in einem synchronen Automatismus der Abtransport des Fischs. Scheinbar zahllose Gabelstapler rollen leise schnurrend in der Halle herum, laden Stapel um Stapel und verschwinden durch ein Rolltor, das sich wegen der Kühlung automatisch öffnet und wieder schließt, sobald die wieselnden Fahrzeuge inner- oder außerhalb der Halle sind. Sie verlassen sie durch ein spezielles Ausfahrtstor, fahren über den Platz und verschwinden schon wieder in einem der nahe gelegenen Kühlhäuser der Fischgroßhändler (s. Abb. 4.26). Die Einkäufer fassen den Fisch nur selten an – nicht pausenlos wie die Kundinnen in den Supermärkten Obst und Tomaten. Sie wissen aus Erfahrung, mit welcher Qualität sie es zu tun haben, wenn sie einen Blick auf den Inhalt der Kisten werfen. Außerdem liegt im obersten Container eines jeden Stapels ein Papierzettel mit etlichen Codes, die die Wareneigenschaften nach Qualitätsnormen spezifizieren. Das wirkt zwar auf den ersten Blick aseptisch, bürokratisch und distanziert, ist aber doch nur Ausdruck hoher Professionalität von Männern, die tagtäglich hunderte und tausende Kilo Fisch einkaufen. – In diesem Geschäft scheint es keine Frauen zu geben, obwohl die Arbeit nicht in einem physischen Sinne schwer ist. Die einzige Frau in der Halle ist die Angestellte der Hafenverwaltung, die mit ihrem Laptop jeden Handel für den Zoll protokolliert. 413 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Abb. 4.24 und 4.25: Aufmerksame Präsenz der Händler während der Versteigerung

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Fischauktion in Hanstholm (Dänemark)

Abb. 4.26: Einfahrt in das Kühlhaus eines Großhändlers

Während der gesamten Auktionszeit stehen die Einkäufer über ihre Headsets anscheinend ununterbrochen in Kontakt zu irgendeinem Büro. Offensichtlich stimmen sie ab, was noch ersteigert werden soll; so sprechen sie mit irgendeiner imaginären Zentrale – vielleicht auch, um das Preislimit für ein Los festzulegen. Auch der Umfang eines Loses wird in der Auktion (als Teil des Handels) vereinbart. Zwar sind die Posten zu Gruppen geordnet, sodass erkennbar ist, welche Mengen versteigert werden sollen; aber es kommt immer wieder im Prozess der Auktion nach einem kurzen, kargen und schnellen Wortwechsel zu einer Umstellung von Kisten und damit zur Änderung einer Auktionsmenge. Eine Grenze innerhalb einer langen Reihe oder auch nur innerhalb eines Stapels wird markiert, indem eine Kiste ein Stück herausgezogen wird. Nach zwei Stunden will die junge für den Zoll arbeitende Angestellte die Halle verlassen; zuvor übernimmt ein Kollege ihre Tragekonstruktion samt Laptop, sodass die ununterbrochene Protokollierung des Handels sichergestellt ist; es ist ein »fliegender Wechsel«. Auch sonst gibt es keinen hinreichend wichtigen Grund für irgendeine zeitliche Verzögerung. Eine Fischauktion ist nichts für langsame und bedächtige Zeitgenossen. Die Einkäufer telefonieren mitunter noch, während sie bieten. 415 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Abb. 4.27: »Händlerzettel« markieren ein ersteigertes Los

Gelegentlich kommt es bei größeren Mengeneinheiten (und folglich großen Geldsummen) zu einer kurzen Unterbrechung beim Bieten. Ein oder zwei Einkäufer stimmen sich per Mobiltelefon mit irgendjemandem ab. Aber dies dauert nur wenige Sekunden. Dann hört man ein »Ja« oder »Jo«, die Kisten werden abgeklopft, und es geht weiter. Eine solche Verzögerung kann aber nicht durch jeden x-beliebigen Bieter ausgelöst werden. Man erkennt schnell, dass es eine Hierarchie unter den Fischhändlern gibt, die im Übrigen dem Auktionator alle persönlich bekannt sind. Es scheint Großeinkäufer zu geben, die sich »mehr herausnehmen« können als solche, die nur ab und zu mal ein paar Kisten ersteigern. Die »Großen« verbuchen wohl täglich mehrere Tonnen Fisch auf eigene Rechnung; etliche Fischhändler ordern für mehrere Firmen. Das erkennt man daran, dass sie unterschiedliche Zettel jeweils mit dem Namen der Firma, in deren Auftrag sie gehandelt haben, auf die Container werfen, die sie ersteigert haben (s. Abb. 4.27). Nur manchmal gibt es kurze Dialoge zwischen Auktionator und Einkäufer oder man kann von irgendwoher einen Kommentar hören. Gegen Ende – wenn die meisten Käufe getätigt sind – wird auch mal ein Witz gemacht; als müsste sich die Spannung der vergangenen Stunden entladen. Zu einer kurzen Stockung des üblichen Flusses der Kommunikation kommt es zwischen Auktionator und Einkäufern bei der Verstei416 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischauktion in Hanstholm (Dänemark)

Abb. 4.28: Zwei Flügelrochen bringen die Auktion zum Stocken

gerung von zwei großen Flügelrochen, die jeweils eine »Spannweite« von rund einem Meter haben (s. Abb. 4.28). Zwei Händler lassen gemäßigtes Interesse erkennen; dieses artikuliert sich habituell weitaus gedämpfter, als ginge es um Kabeljau, Seelachs oder Plattfisch. Es werden einige Kommentare und Witze gemacht, kurze Telefonate geführt, dann zeigt sich ein Käufer zum Kauf entschlossen, der Auktionator schlägt die Kiste an und die Riesenfische sind verkauft. In den Hallen ist es durch die Kühlung (trotz sommerlicher Außentemperaturen von rund 21 Grad Celsius) mit rund 8 Grad winterlich kalt. Es riecht frisch und im Übrigen neutral. Am Ende eines Auktions-»Tages« habe ich unter anderem die Erfahrung gemacht, dass es keinen Fischgeruch gibt, außer von gebratenem, gekochtem oder vergammelndem Fisch. Solange er frisch ist, riecht er neutral. Nur wenn er ausgenommen wird, wie am Tisch in einer Halle, in der am Vorabend Plattfisch für die Auktion vorbereitet wurde, riecht es »irgendwie« nach Fisch. Der sprichwörtliche Fischgeruch »steht« jedenfalls nirgends in einer der Auktionshallen in der Luft; er ist manchmal draußen an den Kaianlagen, wo immer wieder, aber sehr vereinzelt zertretene Fischreste herumliegen, in der Nähe der Trawler und der Fangnetze – jedoch auch dort eher in Spurenelementen vernehmbar. 417 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Schnell verschwinden alle an der Auktion Beteiligten, und auch der zuletzt versteigerte Fisch wird aus der Halle herausgefahren. Es wird vielleicht noch eine Stunde dauern, bis alle Hallen leer sind und die Böden wieder gründlich mit Wasser abgespritzt und gereinigt werden können. Am Nachmittag legen dann schon wieder die nächsten Trawler an den Kais an und alles beginnt von vorne.

4.3.1 Ästhetische Präsenzen Im Moment des Eintretens in eine der Auktionshallen gibt sich eine eigene Welt zu spüren, die sich kontrastreich vom Außenraum bei den Kaianlagen unterscheidet. »Alles« erscheint (wie von einer imaginären Hand in perfekter Weise synchronisiert) im faltenreichen Gesicht eines Ganzen. Das Viele-in-Einem ist als etwas Zusammengehöriges gegenwärtig. Es ist nicht möglich, (theoretisch) »einzelne« Eindrücke im Sinne eines chronologischen Nacheinander zu ordnen; alles überwältigt zugleich. Von ästhetischen Präsenzen ist hier nicht im kunsttheoretischen Sinne, wie Adorno von ästhetischer Erfahrung sprach, die Rede. Um der Begrenzung des Verständnisses »ästhetischer Erfahrung« auf die Philosophie der Kunst zu entkommen, hat Liessmann den Begriff der »ästhetischen Empfindung« vorgeschlagen, den er sowohl auf Situationen alltäglicher Begegnung als auch auf die Konfrontation mit der Kunst bezogen hatte. 123 Ich verstehe das Ästhetische hier im Sinne der altgriechischen Bedeutung von Aisthesis, in dessen Zentrum das sinnlich und darin zugleich emotional Vernehmbare steht. Im Unterschied zu Liessmann sollen jedoch die Begriffe »Reiz« und »Empfindung« vermieden werden, weil sie der Gefahr aufsitzen, das physiologische Moment eines Erlebens zu fokussieren und nicht das, was in seinen Bedeutungen affiziert und die Aufmerksamkeit lenkt. Ästhetisch präsent sind in diesem Sinne auch weniger Dinge, die Reize aussenden, sondern spürbare Anwesenheiten. In ihnen liegt die Aufmerksamkeit weniger auf dem subjektiven Hier eines Erlebens oder dem Dort eines umweltlichen Gegenstandes, sondern auf dem, was sich mehr spürbar als an materiellen Dingen objektivierbar zu einem anwesenden Ganzen verbindet. Es sind mehr die alles Einzelne rah123

Vgl. Liessmann, Reiz und Berührung, S. 20.

418 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischauktion in Hanstholm (Dänemark)

menden Situationen, in denen etwas anwest, als die isolierbaren Dinge, die zwar in der Zudringlichkeit einer Atmosphäre ihre Rolle spielen, darin aber doch in einem ganz anderen Sinne »anwesend« sind als im relativen Raum an einer bestimmten Stelle. Im leiblichen MitSein kommt es auf die Art der sinnlichen und gefühlsmäßigen Berührung durch ein Ereignis, ein Geschehen, einen (plötzlichen) Augenblick an und viel weniger auf das faktische Dasein von Diesem und Jenem. Daher lassen sich auch erst in der Anstrengung analytischer Rekonstruktion einige Situations-Elemente aus dem Ganzen atmosphärischen Mit-Seins in der Auktion segmentieren: a) Raumtemperatur: Der Innenraum hebt sich in leiblich geradezu angreifender Weise vom sommerlich warmen Außenraum ab. Infolge der Kühlung ist es in den Hallen 15 bis 20 Grad kälter als in der Gegend der sonnenbeschienenen Kaianlagen. Eine solche Differenz kann man nicht »zur Kenntnis« nehmen wie einen in der Ecke einer Halle abgestellten Gabelstapler. Temperaturen sind in einem immersiven Sinne als kühl bis kalt spürbar, zudem verbindet sich mit ihnen ein atmosphärischer Frische-Eindruck. Weil jedes Temperaturempfinden leiblichen Charakter hat, mischen sich auf dem Wege der Synästhesien andere sinnliche Eindrücke ein, weshalb jede theoretisch isolierte Rede über Raumtemperaturen auch zum Scheitern verurteilt ist. Die Kühlung der Auktionshallen versteht sich aus der Verderblichkeit des Fischs von selbst. Der gekühlte Raum birgt aber eine allgemeine Denkwürdigkeit, die sich auf alle technisch temperierten (erwärmten wie gekühlten) Räume überträgt. Technisch klimatisierte Räume haben darin etwas Besonderes, dass ihre blasenartigen Temperatur-Sphären spezielle Ermöglichungswelten schaffen. Viele von ihnen sind nicht einfach von jedermann betretbar, sondern haben den Charakter »anderer Räume« im Sinne von Michel Foucault. Mădălina Diaconu spricht sie als »klimatische Heterotopien« an, in denen sich besondere Beziehungen zwischen Menschen wie zwischen Mensch und Raum konstituieren. 124 Während das Palmenhaus des 19. Jahrhunderts rein ästhetischen Zwecken diente, folgen die Kühlhäuser der Fischauktionen einem nüchtern-utilitären Zweck. Der Handel mit seefrischem Fisch verlangt nach der technisch bestmög124

Vgl. Diaconu, De caeli urbis, S. 402.

419 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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lichen Kühlung. Besondere Arrangements (für besondere gesellschaftlich regulierte Zwecke) machen sie zu »anderen Räumen«. Deshalb sind auch die Kühlhallen der Hafenverwaltung im Unterschied zu einer x-beliebigen Passage oder Markthalle keine öffentlichen Innenräume. Künstlich temperierte Räume zeichnen sich durch eine eigene atmosphärische Wirklichkeit aus, die meistens zugleich institutionell gefasst ist. b) Licht und Beleuchtung: Die Hallen sind künstlich beleuchtet. Aus Neonröhren, die an der Stahlbetondecke montiert sind, fällt technisches Licht. Es spiegelt sich auf dem Betonboden in einem wässrigen Film. Ein pragmatisches Arbeits-Licht bestimmt die Vitalqualität der Halle, mit dem eher weichen und schmeichelhaften, beinahe seidigen Licht ist es nicht vergleichbar, das zur Ästhetisierung der Waren über den Auslagen der Einzelhandelsgeschäfte liegt. Technisches Licht wirkt eher kalt, »ergänzt« jedoch synästhetisch in geradezu passender Weise die raumklimatische Kälte. Der Gesamteindruck des Raumerlebens ist von atmosphärischer Kälte dominiert. c) Architektur: Die Architektur des Innenraumes gibt sich in ihrer Größe und baulichen Eigenart schnell als eine Art Lagerraum zu verstehen. Der funktionale Charakter des Raumes ist in seinem Erleben aber von untergeordneter Bedeutung. Was sich in ihm befindet und sinnlich eindrücklich wird, beherrscht das Eindruckserleben in weitaus nachhaltigerer Weise als sein architektonisches Gesicht. Der tatsächliche Raum ist nur Ermöglichungsraum. Nicht die Gestalt des Bauwerkes findet eine herausgehobene Aufmerksamkeit, sondern das, was innerhalb seiner Wände ist und geschieht. d) Geräusche: Vor Beginn der Auktion ist es noch ruhig in der Halle. Sobald die Versteigerung begonnen hat, rückt eine sich schnell vermehrende Vielfalt von Geräuschen umso stärker ins Zentrum des atmosphärischen Raumerlebens. Zusammen mit Logistik-Geräuschen breitet sich schließlich eine gewisse lautliche Grunddynamik typischer Ablaufketten aus. Mit den Preisansagen des Auktionsmeisters vermischen sich die eher hintergründig bleibenden Stimmen der Fischhändler, die Motorengeräusche der Gabelstapler, das Scharren und Rutschen der Fischcontainer, ihr hartes Aufschlagen sowie das Hin- und Her-Geschiebe der Kisten auf dem nassen Betonboden. Es sind ganz ähnliche Geräusche wie am Vorabend beim Entladen der 420 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Schiffe und Einlagern der Container in die Hallen (vgl. Kapitel 4.2). Und doch sind die von ihnen ausgehenden Eindrücke situativ anders eingebettet. Deshalb stimmen sie in ihrem lautlichen Anwesen auf spezifische Weise die Lebendigkeit des Auktionshandels wie die aktuelle Atmosphäre in der Halle. Das kaum hörbare Surren der Gasmotoren von Staplern und das sonore Brummen ihrer Hydraulik ist im Innenraum ein anderes als draußen bei den Kais, obwohl es doch technisch dasselbe ist. Die spezifische Stofflichkeit der Architektur, die räumliche Ordnung des Gebauten und die kaum überschaubaren Tonnen Fisch erweisen sich als Resonanzmedien des Hörens. In der Umgebung von Betonwänden und -decken wirken Geräusche von Motoren und klappernden Hubgestängen im Hörerleben anders als unter freiem Himmel, wo sich alles Lautliche im Offenen des unbegrenzten Raumes verliert. In der Situation der gespannten Vitalität des Auktionshandels verbinden sich Bewegungsgeräusche mit Bewegungsbildern und selbst noch mit olfaktorischen »Bildern«. e) Gerüche: Der sprichwörtliche Fischgeruch, den man in Fischauktionshallen erwartet, bleibt aus. Nach Fisch riecht es nur da, wo er ausgenommen wird oder zertretene Reste an den Kais in der Sonne liegen – aber auch dort nicht annähernd so intensiv wie Patrick Süskind den Gestank von Fisch in seinem Roman Das Parfum auf einem Pariser Fischmarkt zur Zeit des 18. Jahrhunderts beschreibt. Dennoch liegt ein schwer beschreibbarer Geruch in den hallenartigen Räumen der Versteigerung. Wenn Kälte auch im unmittelbaren Sinne nicht riecht, so scheint es im Raumerleben der Hallen doch so, als würde sie wie ein dezenter Geruchshauch bzw. eine gewisse (reinigungsbedingte) Frische über dem Boden liegen. So sehr ich mich auch auf einen »möglichen« Fischgeruch konzentriere, bleibt er doch aus, »ist« mehr in meiner Erwartung als im atmosphärischen Raum der Auktionshalle. Wer wenig oder gar nichts über den berufsmäßigen Umgang mit frischem Fisch zu sagen weiß, erwartet Eindrücke, die ausbleiben, weil im tatsächlichen Raum atmosphärische Fiktion und Realität auseinanderfallen. f) Fisch: Dass es in einem linearen Sinne kein Nebeneinander eindrücklich werdender Situationssegmente gibt, sondern alles in- und durcheinander läuft, sodass simultane Eindrucks- und Erlebnisbilder entstehen, bekräftigt sich schließlich in der Gegenwart ungezählter 421 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Fische, deretwegen es das ganze Arrangement von Architektur, Institution der Auktion, logistischen Infrastrukturen sowie einer damit verzahnten Technik gibt. Zweifellos ist der Fisch das in seiner Bedeutung zentrale »Objekt« einer Fischauktion. Und doch würde es dem Situationserleben nicht gerecht, den Fisch als chronologisch »ersten« Gegenstand der Wahrnehmung zu bezeichnen, der schon wegen seiner Bedeutung am eindrucksmächtigsten wäre. Weil es im ganzheitlichen Erleben keine Hierarchie gibt, steht der Fisch auch nicht »ganz oben« auf einer imaginären Liste atmosphärischer Eindrucksgewichte. Alles, was zur räumlichen Situation der Auktion gehört, verbindet sich simultan zu einem Ganzen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Einzelnes aus dem Ganzen gelöst und für sich angesprochen, thematisiert und problematisiert werden kann. Über das Ganze lässt sich folglich ebenso sprechen wie über das Isolierte, das nicht deshalb aber schon seinen sinnstiftenden Zusammenhang mit einem Umgreifenden verliert. Das wird sich am Beispiel der ethischen Dimension des lebensmittelindustriellen Handels mit Fisch noch genauer zeigen lassen. g) Fischhändler: Eine besondere Präsenz geht von der Gegenwart der Händler aus, die in der habituellen Art ihrer situationsspezifischen Anwesenheit in einer ökonomisch professionellen Beziehung zum Fisch stehen. Diese (aisthetische) Beziehung ist durch eine Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz gekennzeichnet. Nah sind die Männer dem massenhaft präsenten Fisch, weil sie körperlich unmittelbar bei den Fischen stehen. Eine gewisse sinnliche Distanz zu den Tieren ist ihnen trotz eines evidenten Kaufinteresses deshalb möglich, weil sie aufgrund ihrer Berufserfahrung unter anderem auf den prüfenden Kontakt durch die Berührung verzichten können. Die meisten Händler fassen den Fisch nur selten an. Um beurteilen zu können, ob die angebotene »Ware« ein Gebot wert ist, erübrigt sich für den routinierten Fischhändler der direkte Kontakt auch deshalb, weil alle wichtigen Spezifizierungen zur Qualität des Fisches eines Loses auf Zetteln zu lesen sind, die auf der obersten Schicht eines Containers liegen. Eine weitere sinnlich-ästhetische Distanz zum Fisch ist kommunikationstechnisch begründet. Die zeitgemäße Art des Fischauktionshandels, das heißt auch des Einkaufs großer Mengen bestimmter Arten, erfordert den effektiven Informationsaustausch zwischen den Händlern und ihren Firmen noch während der Auktion. 422 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Im Prinzip müssen die Bedarfsmengen in Abhängigkeit vom Einkaufspreis permanent aktualisiert werden. Verderbliche Ware lässt sich nur dann gewinnbringend absetzen, wenn die Käufe auf einen nachfrageorientierten Markt hin kalkuliert worden sind. Ein zu hohes Gebot käme zwar dem Fischereiunternehmen als Betreiber eines Trawlers entgegen, bedeutete für den Händler aber das Risiko von Verlusten und unverkäuflichen Restbeständen. Daraus resultiert eine gleichsam doppelte Präsenz der Bieter. Zum einen sind sie mit ihren Sinnen wie in ihrer körperlichen Gegenwart bei der Auktion, der Kommunikation mit dem Auktionator und den Fischen; zum anderen sind sie über die Headsets ihrer Mobiltelefone und Smartphones für die Dauer der Auktion mit ihren Büros in einem imaginären Hintergrund verbunden. Zwar stimmt nicht jeder Händler jeden Einkauf mit seiner Firma ab – aber offensichtlich kommt es auf die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme an, deren Realisierung kaufentscheidend werden kann, wenn die Ersteigerung eines größeren Loses ein gutes Geschäft vermitteln könnte. Durch den Umstand, dass die Geschäftsleute auf zwei Bühnen gleichzeitig kommunizieren – auf einer mit dem Auktionator und manchmal mit den Händler-Kollegen und einer zweiten mit einem Mitarbeiter ihres Büros –, ist kaum erkennbar, in welcher Weise sie von ihren »Standleitungen« tatsächlich Gebrauch machen. Nur in ungewöhnlichen Situationen wie der Versteigerung zweier großer Flügelrochen (s. Abb. 4.28, S. 417) bedurfte die verbindliche Abgabe eines Gebots der kurzen Unterbrechung des Handels zum Zwecke der telefonischen Absicherung eines Bieters durch die Zustimmung seines Büros. Die Anwesenheit der Fischhändler in der Situation der Auktion ist in gewisser Weise portioniert; sie »verteilt« sich auf den Raum der körperlichen Anwesenheit zum einen und einen virtuellen Ort technisch vermittelter Anwesenheit zum anderen. Dies hat Rückwirkungen auf die habituell spürbare Gegenwärtigkeit dieser sich in ihrer Wahrnehmung in gewisser Weise gabelnden Personen. Dennoch gibt das Verhalten der Händler in der Auktion zu erkennen, dass sie in Gänze bei der Sache sind, wenn sie ein Gebot abgeben oder – ohne aktuell ein Kaufinteresse an der Versteigerung eines Loses zu haben – dem Fortgang der Geschehnisse weiterhin zugewandt bleiben. Die gleichsam doppelte Anwesenheit folgt zum einen aus der Ubiquität der Verfügbarkeit digitaler Kommunikationsmedien wie ihres tatsächlichen Gebrauchs in dieser Situation. Es ist aber nicht die Ubiquität der Neuen Medien im Allgemeinen, die die besondere Situation in 423 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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ihrer atmosphärischen Spannung ausmacht, sondern der Rahmen des warenspezifischen Auktionshandels, dessen Prozessabläufe von der Verkürzung kommunikativer Wege sowie ihrer Beschleunigung profitieren. Infolge der Rigorosität, mit der die High-Tech-Medien der Kommunikation anthropologisch in Gestalt einer strukturellen Überformung und Inanspruchnahme der menschlichen Wahrnehmungsvermögen zu Buche schlagen, werden sie immer wieder zum Anlass zivilisationskritischer Einlassungen. Auch in der aktuellen Situation der Versteigerung provoziert sich deren Problematisierung schon über den Eindruck der habituellen Präsenz der Händler, die von Telekommunikationsmedien nicht zu trennen ist. Die potentielle Umschreibung – zumindest aber Überschreibung – der Art und Weise individueller Aufmerksamkeit, sozialer Präsenz und Gegenwart gehört zu den einschneidenden Umbrüchen im medial vermittelten Verhältnis des Menschen zu sich selbst. So hat der technologische Prozess der Zivilisation selbst die Alltagskultur überprägt. Einschlägige Innovationen führen nicht zuletzt dazu, dass es den Menschen möglich wird, mehreres gleichzeitig zu tun. Sie können einen Kellerraum aufräumen und zugleich telefonieren, sich mit halber Aufmerksamkeit den Nachrichten auf dem TV-Bildschirm zuwenden und sich mit deren gleichsam zweiter Hälfte einer E-Mail widmen, die auf dem Display des Smartphones erscheint. Inwieweit sich auch zeitlich parallel ablaufende Abfolgen von Tätigkeiten koordinieren lassen, die komplexere kognitive Ansprüche stellen, wird immer wieder zum Gegenstand strittiger Diskussionen. Noch 1999 problematisierte Florian Rötzer das sogenannte »Multitasking« mit dunklen Untertönen: »Diese sich durchsetzende Form des ›Multitasking‹ in Arbeit und Freizeit erzwingt neue Formen der Aufmerksamkeit und der Selektion, die mit Zerstreuung nicht angemessen beschrieben werden können, aber dazu führen, dass man durch Gewöhnung erwartet, stets neue Reize zu erhalten, um die Aufmerksamkeit in dem Alarmzustand zu halten, die in der modernen Lebenswelt zur Norm wurde.« 125

Solche und ähnlich skeptische Einwände gegen die technisch vermittelte Pluralisierung der menschlichen Aufmerksamkeit werden von 125

Rötzer, Inszenierung von Aufmerksamkeitsfallen, S. 62 f.

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der Seite der Gehirnforschung immer wieder mit mehr oder weniger großem Nachdruck unterstützt; im Zentrum steht das Argument absinkender Gehirnleistung angesichts komplexer Anforderungen an das Verstehen und die Koordination von Handlungen, die an unterschiedlichen Schauplätzen in je eigene Prozesse verwickelt sind. 126 Es muss an dieser Stelle offen bleiben, unter welchen Voraussetzungen die Koordination verschiedener Stränge der Aufmerksamkeit eine Komplexitätsstufe überschreitet, die an Grenzen der Fähigkeit zur Synchronisierung stößt. Am gegebenen Beispiel liegt die These nahe, dass die Koordination telekommunikativer Informationen und sinnlicher Eindrücken durch eine gemeinsame Relevanz und Rationalität der Handlungen in einer Weise gebündelt wird, sodass im engeren Sinne gar keine Notwendigkeit besteht, Abläufe zweier oder mehrerer Welten erst zu synchronisieren, weil die einen wie die anderen Eindruckswege dynamisch ineinanderfließen. Im Fokus der Aufmerksamkeit liegen deshalb im Rahmen der gegebenen Situation auch von Anfang an Eindrücke einer zusammenhängenden Wirklichkeit, sodass sich das Problem einer Überforderung der Wahrnehmung gar nicht stellt. Dennoch laufen zwei je spezifische und koordinierungsbedürftige Stränge leiblicher (nicht körperlicher) Anwesenheit zusammen, die von der personalen Präsenz der Händler integriert werden müssen.

4.3.2 Anwesenheiten Damit fragt sich mit Nachdruck nach der Essenz dessen, was unter Anwesenheit zu verstehen ist. Nach Ernst Tugendhat bedeutet Anwesenheit »die Präsenz eines Dinges (oder Menschen) bei anderen bzw. an einem Ort« 127. Der Begriff geht etymologisch auf das veraltete Verb »anwesen« zurück, das als Substantiv nicht nur auf das noch übliche Verständnis eines Grundbesitzes verweist, sondern in einem unmittelbaren Sinne auf eine Gegenwärtigkeit bzw. einen Aufenthalt. 128 Die Bedeutung des Ortes ist darin evident. Auch als Verb »anwesen« steht für ein Gegenwärtig- bzw. Da-Sein an einem Ort. Im 126 So z. B. in einem von vielen Beiträgen, die immer wieder in der Presse erscheinen: Groll, Alles gleichzeitig funktioniert nicht. 127 Tugendhat, »Anwesenheit«. 128 Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 1, Sp. 520.

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aktuellen Sprachgebrauch ist dieser Ortsbezug schwächer geworden. Mit der sozialen Diffusion der neuen Technologien hat sich der Zusammenhang von Anwesenheit und räumlicher Gegenwart um weitere Komponenten aufgelöst. In einem Hier kann auch anwesend sein, wer sich körperlich an einem fernen Ort befindet. Anwesenheit ist dann technisch vermittelt, sodass jemand trotz medial vermittelten Hier-Seins an einem fernen Ort anwesend sein kann. Dieses Verständnis wird durch die Heidegger’schen Seins-Philosophie gedeckt. Danach liegt die Essenz der Bedeutung von Anwesenheit nämlich in einem Bezug zur Zeit. Anwesenheit bedeutet Gegenwärtigkeit, die sich mit Evidenz verbindet. 129 Anwesend ist in diesem Sinne, wer gegenwärtig ist. Die Frage des Ortes rückt in einen Hintergrund. Gegenwärtig und sinnlich evident kann auch sein, wer in keinem »Hier« des Raumes ist, sich vielmehr durch eine Form der Transzendenz (technisch vermittelt) gegenwärtig macht. In einem einfachen Sinne ist der massenhaft eingelagerte Fisch anwesend (s. Abb. 4.29). Seine Gegenwart bringt sich jedoch nicht nur faktisch, sondern auch atmosphärisch zur Geltung. So wird mir der Fisch (in einer lebensweltlichen und nicht berufsmäßigen Beziehung) in einer sinnlich immersiven Weise spürbar, indem ich mich in den Auktionshallen als ein von ihm Angesehener erfahre. Dies ist kein intransitives »Angesehen-Werden« von jemandem, sondern eines, das geschieht, indem ich mich von einer Präsenz atmosphärisch getroffen fühle. Kein toter Fisch kann einen Menschen in einem transitiven Sinne ansehen. Aber er kann in einer Weise zur Erscheinung kommen, dass man sich als angeblickt fühlt. Bei diesem Gefühl kommt es allein auf die emotionale Beziehung zum Anblickenden an und nicht darauf, ob es jemanden gibt, der mich tatsächlich im engeren Sinne anblickt. Zudem gründet die gestisch so nachhaltige Macht des »Anblicks« durch »den« Fisch auch nicht im Erscheinen eines Fisch-Individuums, sondern in der Anwesenheit immenser Fischmengen. Im Gefühl des Angesehen-Werdens keimt die ethische Beziehung zum Fisch (als Objekt einer globalen Nahrungsmittelökonomie) im Allgemeinen. In phänomenologischer Sicht ist dieses Gefühl an die Situation dessen gebunden, der in einer Beziehung zum Fisch steht, die überhaupt einen ästhetischen Spielraum für die Entfaltung ethischer Bezüge bietet. Dieser Spielraum eines ganz spezifischen 129

Vgl. Vetter, »Anwesenheit«.

426 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Abb. 4.29: Die »ästhetische« Präsenz zahlloser Fische bestimmt die Atmosphäre des Handels

Eindruckserlebens konstituiert sich jedoch allein in der Perspektive des distanzierten Betrachters, der nicht vom Handel mit dem Fisch leben muss und kein Unternehmen betreibt, um anderen Arbeit zu geben und einen Markt mit Nahrungsmitteln zu beliefern. Dies schließt nicht aus, dass eine ähnliche Beziehung auch von anderen Menschen empfunden werden kann, die nicht aus einer professionellen Rolle heraus an einem vornehmlich ökonomisch effizienten Auktionsablauf interessiert sind. In der schnellen Dynamik des Auktionshandels entsteht der Eindruck, dass der ethische Eigenwert der Tiere nicht in den Fokus der am Handel Beteiligten gelangt; zumindest deutet in den Situationen der Auktion nichts darauf hin. Das scheint sich angesichts des Warencharakters des massenhaft gegenwärtigen Fischs auch von selbst zu verstehen, könnte sich im Rahmen einer Auktion ein Preis doch gar nicht bilden, wenn eine üblicherweise schnell vor sich gehende Versteigerung durch ethische Reflexionen gebremst würde. 427 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Die Situation der Auktion gibt zu verstehen, dass man Fische ganz umstandslos als Eigentum besitzen kann, auch wenn diese als Folge einer juristischen Aufwertung der Tiere ethisch oberhalb der toten Sachen platziert sind. Bei toten Tieren, um die sich die ganze Ökonomie der Auktion dreht, scheint der ethische Leerlauf selbstverständlich zu sein, würden sich die ökonomischen Kreisläufe doch sonst von selbst zum Stillstand bringen. Dennoch gerät die scheinbare Selbstverständlichkeit dadurch in ein Dilemma, dass jedes tote Tier, das eine Ware werden soll, vor seinem Fang ein lebendes war. Damit wären ihm andere Rechte als leblosen Sachen zuzuerkennen. Die ethische Debatte zum Status toter Tiere erschließt sich also nur auf dem Hintergrund einer vorausgehenden Aneignung lebender Wesen aus Ökosystemen. Das Recht auf Unversehrtheit, Freiheit und Leben 130 kollidiert mit dem Anspruch der Menschen, die Sicherung der eigenen Ernährung zumindest teilweise durch die Aneignung von Pflanzen und Tieren zu gewährleisten. Damit stellen sich weniger Fragen zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Beschaffung von Lebendem aus den Kreisläufen der Natur, als solche zu Art und Umfang ihrer Besorgung sowie zur Legitimation einer Ökonomie, die Lebendiges zu Waren macht. Es versteht sich, dass ein Fischmarkt – allzumal ein schneller Auktionsmarkt – kein Ort der Erwägung ethischer Bedenken sein kann. Ebenso selbstverständlich hat dies aber zur Folge, dass der Fisch im Rahmen der Auktion als nichts anderes präsent sein kann denn als Ware.

4.3.3 Zeitliche Rhythmen Der Auktionshandel in den Kühlhallen des Hanstholmer Hafens wird vom zeitlichen Rhythmus der Schnelligkeit aller Auktionsabläufe bestimmt. Sie lassen nur wenig Luft für Unterbrechungen. Der zeitliche Takt der Versteigerung von fangfrischem Fisch kennt keine gelassene Weite der Dauer, sondern allein die Enge der Eile. Und so folgt der Handel einem schnellen kurzschrittigen Tempo. Mit dem Anschlagen der Glocke am frühen Morgen beginnt nicht nur die Versteigerung; das Signal setzt auch einen ganz eigenen zeitlichen Rhythmus in Gang. Dieser drückt sich im schnellen Bieten und scheinbar plötzlichen Zuschlag für ein Los aus. Sogar der Verkauf langer Reihen 130

Vgl. Petrus, »Eigentum«.

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von Containern bzw. mehrerer Tonnen Fisch geht schnell vor sich. Eile spiegelt sich auch im Habitus der Beteiligten wider. Manchmal geht der Auktionator, wenn er eine lange Reihe nebeneinander stehender Container mit Fisch versteigert hat, schnellen Schrittes an den Stapeln vorbei, um als Zeichen der Besiegelung des Handels mit dem Stock auf die Kanten der Kisten zu schlagen. Die Versteigerung des gesamten in einer Halle gelagerten Fischs dauert mitunter nur 20 Minuten, auch dann wenn die Halle halb mit aufgereihten Containern gefüllt ist. Die Einkäufer telefonieren oft beim Bieten; vielleicht sind sie auch nur über eine permanent bestehende Leitung mit ihren Büros verbunden und sprechen nur ab und zu, sodass sich für sie Telefonate vom Prozess der Auktion als segmentierte Situationen gar nicht abheben. Vis-a-vis-Gespräche zwischen den Händlern werden bestenfalls fragmentarisch geführt. Wenn ein Bieter in gewisser Weise »offiziell«, also nicht in einem kaum bemerkbaren Hintergrund telefoniert und der Auktionator dann einen Moment innehält, dauern solche Gespräche nur ein paar Sekunden. Der Grundrhythmus von allem, was im Rahmen einer Fischauktion geschieht, folgt einem schnellen Takt. Der Eindruck der Schnelligkeit erscheint auch im eher fahlen Licht der Halle nicht langsamer, denn ganz entgegen der im Allgemeinen zu beobachtenden synästhetischen Eindrucksübertragung, wonach sich das Helle mit dem Schnellen und das Dunkle mit dem Langsamen 131 verbindet, wirken in der künstlich beleuchteten und keineswegs taghellen Auktionshalle alle Abläufe überaus schnell. In seinem spezifischen Tempo ist der Auktionshandel weitgehend von den Rhythmen der Welt außerhalb der Auktionshallen entkoppelt. Die Geschwindigkeit unterscheidet sich von nahezu allen alltäglichen Abläufen durch eine situativ charakteristische Dichte der aufeinander folgenden Aktionssequenzen. Die Situation des Marktes bildet trotz der Gestaltvielfalt der Rhythmen eine raumzeitliche Insel. Diese hebt sich in der kurzen Taktung der Prozessabläufe von der ohnehin schon bestehenden »Poly-Rhythmik« raumzeitlich unterschiedlicher Sphären des Lebens ab. Die von Mădălina Diaconu angesprochene Unstetigkeit der zeitlichen Amplituden, die die Menschen durch die dichte Organisation des urbanen Lebens tragen, spitzt sich in dieser heterochronen Insel des sonderweltlichen Marktmilieus noch einmal zu. Wenn schon die Übergänge zwischen Ar131

Vgl. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 62.

429 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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beits- und einer Freizeitwelt, Tag- und Nachtleben, Wetter und Klima der Jahreszeiten oft als zeitliche Brüche erlebt werden, zumindest aber als heterochrone Übergänge, 132 so zeigt sich am Beispiel des Auktionshandels eine Form der Beschleunigung, die das Maß dessen überschreitet, was noch als Variation der Poly-Rhythmik des »normalen« Lebens aufgefasst werden könnte. Das Tempo des Handels kann auch nicht auf einem großmaßstäblichen Niveau nur als eine Be- oder Anreicherung ohnehin schon variationsreicher zeitlicher Taktungen des Sozialen verstanden werden. Im schnellen Versteigerungsgeschäft konstituiert sich eine temporär limitierte Sonderwelt. Die Mitglieder einer kleinen Gruppe berufsmäßiger Fischhändler tauchen für die Dauer einer Aktion in sie ein. Schon in Kapitel 4.2 hatte sich die Schnelligkeit als ein spezifischer Rhythmus hafen- bzw. fischereiwirtschaftlicher Abläufe erwiesen. Deren Tempo drückte sich auch dort atmosphärisch in spannungsreichen Ablaufsynthesen aus. Die bewegungssuggestiven Brückenqualitäten übertragen etwas, das sich tatsächlich (allokativ) bewegt, in ein leiblich »mitgehendes« Gefühl. Die langsame Bewegung ist »zur Weite offen, locker und entspannt«, während »die schnelle dagegen eng, dicht und hastig« ist. 133 Die Teile der Dauer einer Bewegung weisen deshalb auch einen Unterschied in ihrer Bindungsform auf: »Die langsamere Bewegung hat mehr Spielraum durch zerrissene Dauer; sie ist daher lockerer, entspannter.« 134 Die Teile der Dauer sind »bei der schnelleren Bewegung dichter gepackt (gleichsam gepresst), bei der langsameren dünner und lockerer verteilt.« 135 Mit der zeitlichen Rhythmisierung der Abläufe innerhalb des institutionellen Rahmens eines Auktionsmarktes verbinden sich weitere Modalitäten ästhetischer Präsenz, die sich atmosphärisch ausdrücken und das Raumerleben färben. In den folgenden beiden Kapiteln wird neben der performativen Dynamik des Handels (4.3.4), die Eindrücklichkeit des Plötzlichen (4.3.5) thematisiert und damit eine je spezielle Form zeitlicher Disposition von Abläufen und Handlungen, die zu einer Situierung von involvierten Personen, Dingen und oft auch Halbdingen führen. 132 133 134 135

Vgl. Diaconu, De caeli urbis, S. 398 ff. Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 63. Ebd., S. 66. Ebd., S. 286.

430 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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4.3.4 Performative Dynamik Die Abläufe der Versteigerung, die sprachliche und gestische Kommunikation zwischen dem Auktionsmeister und den Fischhändlern, die Vielfalt der logistischen Prozesse sowie der Verwaltung des Handels weisen auf eine hohe Bewegungsdynamik hin. Diese folgt zum einen dem systembedingten Rhythmus des Auktionsmarktes, der sich nie in maschinistisch erscheinenden Phasen äußert. Wenn die Auktion auch »nur« Ausdruck eines Programmes ist, so zieht sie doch alle beteiligten Personen in eine Wirklichkeit des gelebten Raumes wie der gelebten Zeit hinein, deren Ereignisse sich mit dem Da-Sein der Bieter verbinden. Darin bringt sich – »quer« zur systembedingten Taktung aller Abläufe – ein leiblich vitales Geschehen zum Ausdruck. Es wird durch das Tun von Menschen getragen und nicht von automatisierten Programmsequenzen. Ein und Dasselbe erscheint in zwei komplementären Gesichtern: zum einen in dem eines insgesamt schematischen und vorhersehbaren Prozesses, der nur im Besonderen (auf einem mikrologischen Niveau seiner Performanz) variiert, und zum anderen in lebendigen Ereignissen, die von der Spontaneität der Individuen und ihrer Kommunikation getragenen werden. In der konkreten Art und Weise der in der Mikrologie wiedergegebenen Auktionsgeschäfte beeindruckt weniger der abstrakte Charakter der Auktion als deren spezifische Lebendigkeit, die sich mit der schematischen Abfolge von »Funktionseinheiten« nicht erklären lässt. Zwar ist die Situation des Versteigerungsmarktes durch eine sowohl vitale als auch sachlich begründete Schnelligkeit aller Geschehnisse geprägt; aber der Modus der gelebten Zeit verlangt doch nach einer Präzisierung, denn die vitalen Rhythmen der Dauer unterscheiden sich ganz wesentlich von chronologisch messbaren Prozessphasen. So hat die Vitalqualität der gelebten Zeit im situativen Rahmen einer computerbasierten Auktion (vgl. auch das Beispiel einer niederländischen Blumenauktion in Kapitel 3.2) eine andere atmosphärische »Farbe« als die eines Fischmarktes, bei dem es auf die leibliche Anwesenheit von Auktionator und Händler in der sinnlichen Gegenwart des Fisches ankommt. Während im digital gesteuerten Auktionshandel die atmosphärische Spannung technisch vermittelt ist und die Bieter ihre Aufmerksamkeit und Konzentration auf den auf der »Uhr« kreisenden Punkt richten, sind auch die Fischhändler in der dänischen Auktion in ihrer Aufmerksamkeit angespannt und auf den Fortgang des Handels bezogen; aber ihre Spannung ist nicht 431 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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maschinistisch getaktet, sondern durch den vom Auktionator vorgegebenen Rhythmus, seine leibliche Präsenz und die habituelle Art seiner (oft nonverbalen) Kommunikation mit den Händlern. Die aus dieser besonderen Situation resultierende Vitalqualität ist in ihrer zeitlichen Struktur in besonderer Weise atmosphärisch aufgeladen. So konstituiert sich – gleichsam innerhalb des Laufes der Zeit – eine Form der Lebendigkeit, die schon durch die Art und Weise des mal schnellen, mal anhaltenden, dann plötzlichen usw. Voranschreitens gestaltet wird. Ich möchte hier von einer performativen Rhythmisierung der in Raum und Zeit spürbaren Lebendigkeit der Abläufe des Auktionsmarktes sprechen. Damit kommt kein extrachronologisches Moment zur Geltung, sondern eines, das der Zeit der Auktion erst ein situationsbezogenes Gesicht verleiht. Dessen Züge und Falten verdanken sich unter anderem der Art der Intervalle und Oszillogramme, nach deren Rhythmus die Geschehnisse vor sich gehen. Der Begriff der Performativität wird in diesem Rahmen nicht im engeren Sinne seiner sprachphilosophischen Bedeutung verwendet. Vielmehr soll er in Anlehnung an seinen theaterwissenschaftlichen Gebrauch auf den aufführungsbedingten Verlaufscharakter verweisen, in dem sich Geschehnisse als Handlungen (im handlungstheoretischen Sinne) aneinander reihen. Mit dem Begriff der Performativität wird aber auch die habituelle Präsenz anwesender Personen und der davon ausgehende Eindruck der Lebendigkeit von Ereignissen erfasst. Martin Heidegger spricht zwar nicht explizit von Performativität bzw. Performanz; aber er fokussiert in seiner Philosophie die existenzielle Seite des Seins, die sich in Situationen des Da-seins immer wieder im lebendigen Lauf der Dinge verändert und in Augenblicken aktualisiert. Es ist dies ein Sein-in-der-Welt mit anderen, das nicht in erster Linie aus der intelligiblen Hand von Akteuren planvoll gestaltet wird. Eher »geschieht das Menschsein als geschichtliches durch die das Da-sein so oder so fordernde Er-eignung.« 136 Wenn Heideggers Seins-Philosophie auch auf grundsätzliche Fragen der menschlichen Existenz gerichtet ist, so lassen sich doch Bezüge zur Situation des Auktionsmarktes herstellen. In ihrem Verlaufszusammenhang sind es immer wieder aufscheinende und plötzlich spürbar werdende Augenblicke eines Da- und So-Seins, in denen sich die vielen Phasen der Verkettung von Geschehnissen verklammern und ein Ganzes ent136

Heidegger, Gesamtausgabe, Band 65, S. 235 f.

432 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischauktion in Hanstholm (Dänemark)

stehen lassen. Dieses hat keinen homogenen Charakter wie eine gläserne Kugel, sondern den eines dynamischen, lebendigen und zugleich gebrochenen Ganzen, das sich als eine chaotisch mannigfaltige »Mischung« performativ mit Substanz gleichsam füllt – in Momenten affizierender Berührung, des Zufalls sowie nicht vorhersehbarer »Zwischenfälle«. Schon die Art und Weise, in der sich die informelle Gruppe der Fischhändler unter der Führung des Auktionsmeisters von einer Reihe Fisch-Container zur nächsten bewegt, ist nicht Ausdruck einer exakten prozeduralen Ordnung der Gedanken, Überlegungen und Kalküle. Die ganze Dynamik ist in ihrem Verlauf zum einen zwar strukturell vorhersehbar, zum anderen in ihrer konkreten Figuration aber doch von Augenblickssituationen abhängig. So folgt sie einem gebrochenen Muster, dessen Konstitution sich geplanter wie intuitiver Momente verdankt. Diese lockere Führung einer Grunddynamik genügt, um den Marktprozess im Ganzen »auf Kurs« zu halten. Trotz aller situativ mikrologischen Geschichten und unvorhersehbaren Momente arbeitet sich die Auktion schnell und effizient von einer Halle zur anderen. Während deren Ganzes in seinem Ablauf im Großen und Ganzen vorhersehbar ist, hängt die Gestalt, in der der Weg in seinen einzelnen Schritten gegangen wird, an der Macht der Augenblicke. Es ist vorhersehbar, dass viele Tonnen Fisch, die in den Hallen zur Versteigerung aufgestellt worden sind, schon nach wenigen Stunden verkauft und von den Händlern abtransportiert sein werden. Dagegen bleibt die mikrologische Art und Weise, in der sich die am Handel beteiligten Menschen kommunikativ, in ihren Bewegungen, gestimmten Aufmerksamkeiten und ganz unterschiedlichen Sensibilitäten auf das Ganze des Geschehens richten, weitgehend offen und unberechenbar. Der Hinweis auf den performativen Charakter der Auktion berührt keine Marginalie, sondern die vitale Essenz eines jeden lebendigen »Vorganges«, der nach einem Programm abläuft, seine konkrete Gestalt aber erst in der Synthese und Rhythmisierung vitaler (ihn erst konstituierenden) Augenblicke findet. Die performative Choreographie des Auktionshandels macht den Ort des Geschehens zu einem »Ort« des Da-seins, der keine Koordinate im relativen Raum ist, sondern als »Augenblicksstätte« 137 ein gelebter Ort in der gelebten Zeit. Der Heidegger’sche Begriff der »Erwesung des Seins als Er-

137

Ebd., S. 323.

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eignis« 138 verweist auf die Performativität lebendiger Abläufe. Heideggers »Zeit-Raum« legt weder im Raum noch in der Zeit etwas fest: 139 »Zeit und Raum (…) ›sind‹ nicht, sondern wesen« 140. Zeitigung und Räumung bilden die Einheit des Zeit-Raums, der in der Augenblicksstätte des Da kulminiert 141 und damit selbst Ereignis ist. In der performativen Dynamik der Fischauktion sind vor allem zwei Rhythmen bestimmend: zum einen (als Oszillogramm der Dauer) die Eile und zum anderen (als Muster dessen, was sich ereignet) die Wiederholung von Ähnlichem. Innerhalb des Auktionsgeschehens, das sich durch den Wechsel zwischen den Hallen in raumzeitliche Einheiten gliedert, kommt es im Fluss eines beinahe gehetzt wirkenden Immer-Weiter eher selten zu einem »Stocken der Zeit«. Unterbrechungen haben geschäftliche Gründe, die mit dem aktuellen Stand der Auktion zu tun haben. In diesem Sinne wurde bereits darauf verwiesen (s. auch die Anmerkungen in der dichten Beschreibung), dass einzelne Händler bei außerordentlichen Anlässen mit ihrem Firmenbüro telefonieren mussten, bevor sie ein verbindliches Gebot abgeben konnten. Diese eher raren als häufigen Unterbrechungen wirkten nie wie Pausen, sondern wie Einschnitte, die die Verdichtung einer ohnehin schon geradezu knisternden Spannung für einen Augenblick noch einmal zuspitzten. Das Warten-Müssen aller strafft das gespannte Band der Schnelle noch einmal und vergegenwärtigt ausgerechnet im Moment des Stillstandes die hohe Dynamik des Marktgeschehens. In der performativen Wiederholung des Ähnlichen reihen sich unter anderem zu einem dynamischen Ganzen aneinander: die sich schnell synchronisierende Verzahnung von Gebot und Zuschlag bzw. die nur Insidern verständlich werdende Kommunikation zwischen Fischhändlern und Auktionsmeister; die kargen und schnellen Wortwechsel, zu denen es in einer sich oft wiederholenden und aufblitzenden Schnelligkeit während des Versteigerns kommt;

a)

b)

138 139 140 141

Ebd., S. 372. Vgl. ebd., S. 382. Ebd., S. 385. Vgl. ebd., S. 384.

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c)

d)

e) f)

g)

der hörbare Ausdruck lautlich herausragender Momente im Fluss der Bewegungsroutinen, wenn zum Beispiel innerhalb eines Container-Stapels eine (ökonomische und logistische) Grenze durch Querstellen einer Kisten (bis zu der eine Menge versteigert wurde) markiert wird; die situationsgerechte Schnelligkeit, mit der sich die Helfer, Mitarbeiter der Hafenverwaltung und andere Dienstleister in den Rhythmus des Marktgeschehens einfädeln. Der Fisch scheint in seiner Verderblichkeit den Rhythmus aller Auktionsabläufe zu diktieren; die Ablage von Papierzetteln durch die Händler zur Kennzeichnung ersteigerter Mengen; die scheinbar dauerhaften (meist verdeckt geführten) Telefonate, die die Händler über ihre Headsets mit irgendeinem Büro führen; die Gabelstapler, die sich in Position bringen, um die versteigerten Kisten abzutransportieren und die Bewegungsmuster der Fahrzeuge, die aus der Halle herausrollen, wieder hereinkommen und nach einer chaotisch wirkenden Ordnung mal hier und mal dort Container übereinander stellen, um sie dann abzustransportieren.

Am Ende des Handels in einer Halle sind beinahe sämtliche Kisten abtransportiert. Alles läuft wie ein Uhrwerk, das in seinen sichtbaren wie unsichtbaren Bewegungen als Verknüpfung von Verschiedenem erscheint, obwohl doch alle Einzelschritte der Logik eines Ganzen folgen. Was sich oft wiederholt, beschleunigt den Eindruck eines seriell Voranschreitenden umso mehr. Die synchronisierten Ablaufketten erscheinen aber nicht als etwas in einem linearen Sinne aufeinander Aufbauendes; die Erwartung einer »inneren« Ordnung wird dadurch verwischt, dass alles durcheinander zu laufen scheint. Dieser Eindruck entsteht, weil sich die Phasen, in denen Einzelnes nach einem zusammenhängenden Muster geschieht, mit dem schnellen Fortschreiten des Markttreibens überlagern. Die schon versteigerten Container werden bereits abtransportiert, während in einer anderen Reihe die Auktion noch gar nicht begonnen hat und so weiter. So entsteht das Bild eines chaotischen Durcheinanders. Der Wahrnehmung und dem Verstehen ist entzogen, dass die Auktion einer Logik folgt, gleichzeitig und in sich geordnet geschieht, aber in seinem spontanen Nebeneinander doch vom Zufall getaktet wird. 435 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Der gesamte Auktionshandel folgt einem schnellen Rhythmus, und auch die performativen Muster, in denen das Geschehen seine eigene Ordnung findet, gliedern sich in die kurz getakteten Oszillogramme der programmatisch regulierten Zeit des Marktes ein. Aus dem Fluss des Schnellen ragt in einer spezifischen Schnelligkeit dennoch etwas heraus: das Plötzliche.

4.3.5 Das Plötzliche Viele Eindrücke spitzten die Aufmerksamkeit zu, weil sie plötzlich »da« waren und sich im zeitlichen Format des Augenblicks innerhalb aller anderen Facetten des Wirklichen verinselt hatten. Als etwas Plötzliches beeindruckte in diesem Sinne unter anderem die Kälte, unter deren Einfluss ich im Moment des Eintretens in eine der Kühlhallen geriet. Dies war kein kontinuierliches Gewahrwerden, wie man es kennt, wenn eine Wärmeempfindung unter der Frühlingssonne allmählich durch ein immer dichter werdendes Wolkenfeld von einer sich ausbreitenden Frische abgelöst wird. Infolge der technischen Kühlung der Auktionshallen bildeten die Rolltore, durch die die Gabelstapler ein- und ausfahren, eine schlagartig spürbar werdende Temperaturgrenze. Die Bewegung vom Außen- in den Innenraum vermittelte ein plötzliches Kontrasterleben, mit dem beim Eintreten in die Halle ein Gefühl der Engung einherging, während sich umgekehrt beim Hinaustreten in den sonnigen Außenraum ein Gefühl der Weitung bemerkbar machte. Es war aber nur indirekt eine körperliche Bewegung, die etwas Plötzliches vermittelte; vielmehr wurde die Veränderung einer Vitalqualität im Herum-Erleben einer aktuellen Umgebung infolge eines leiblich spürbaren Kontrastes schlagartig empfunden – plötzlich war es anders. Noch deutlicher wird der Eindruckscharakter des Plötzlichen, der nichts mit der Schnelligkeit einer Bewegung zu tun hat, bei der Annäherung an die in einer Halle für die Versteigerung präsentierten Flügelrochen, die im Vergleich zu den anderen auf einem Fischmarkt erwarteten Arten wie Kabeljau, Plattfisch oder Seeteufel exotisch erschienen. Auch nun war es wieder ein scharfer Kontrast, der in seinem visuellen Charakter eindrucksmächtig affizierte und die Aufmerksamkeit schlagartig gebunden hat. Während sich beim Erleben des Temperaturunterschiedes plötzlich etwas anders zu spüren gab, war nun plötzlich etwas anderes da. Die in Gewohnheiten ruhenden 436 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Erwartungen wurden verwirrt. Wir erwarten – diesseits der Geisterbahn, in der wir mit dem Plötzlichen rechnen – in unserem Alltag vorhersehbare Verhältnisse; zwar kann, was auf uns zukommt, von einem früheren in ähnlicher Weise Begegneten abweichen, aber es muss doch dynamisch noch verständlich werden und darf nicht plötzlich irritieren, verwirren oder stutzen machen. Andernfalls setzt vertraute Orientiertheit aus, und die Dinge müssen erst relativ aufwendig neu geordnet werden. Das gewohnte Erleben ist von Eindrücken geprägt, in denen sich ein »Werden« 142 schrittweise und absehbar vollzieht. Der plötzliche Augenblick hebt diese Kontinuität im schlagartigen Anders-Werden sinnlich spürbarer Wirklichkeit auf. Dabei kommt es mehr auf das kontrastierende Eindruckserleben an, denn auf Schnelligkeit im motorischen Sinne. Was als plötzlich erlebt wird, geht viel weniger auf die Durchschlagskraft einer motorisch schlagartig andrängenden (Körper-)Bewegung zurück als auf den Verlust einer Distanz, die etwas nahe kommen lässt, was man bisher gar nicht kannte oder gewohnt war, aus Distanz zu betrachten. Wenn sich dagegen das Auftauchen der Gabelstapler, die mit ihren leisen Motoren schnell herbei- und wieder wegfuhren, in ihrem plötzlichen Da-Sein zwar motorisch schneller Bewegungen verdankte, so ging das Plötzliche in seiner Eindrücklichkeit doch vielmehr auf die schlagartige Veränderung der Wahrnehmung zurück. Was wie aus dem Nichts auftaucht, ist nicht plötzlich da, weil es sich schnell bewegt hat, sondern weil es schnell ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten ist. Die Eindrucksmacht des Plötzlichen zeigt sich in dieser Mikrologie in Variationen dessen, was schon in Kapitel 3.2.3 (s. Unterkapitel zur erkenntnisvermittelnden Macht des Augenblicks) diskutiert worden ist. Deutlich wird auch hier, dass das Jetzt im Sinne von Martin Heidegger dem plötzlichen Augenblick entspringt: 143 »Der Augenblick ist der primäre und eigentliche Modus der Gegenwart« 144. Immer da, wo das erwartete Werden in der Dynamik seines Wandels den Vitalton der gelebten Zeit verwirrt, trägt es zugleich in die Begegnung mit dem Fremden, dem Anderen, dem Unerwarteten und stellt sich damit der Ordnung des Denkens als Herausforderung der Vgl. Minkowski, Die gelebte Zeit. Band 1, S. 26. Vetter, Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, S. 55. 144 Ebd., S. 55. »Die […] eigentliche Gegenwart nennen wir den Augenblick«; Heidegger, Sein und Zeit, S. 338. 142 143

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Revision. Darin entfaltet sich der einkapselnde bzw. segmentierende Charakter des Plötzlichen.

4.3.6 Spannungsverhältnisse Sobald ein Eindruck des Plötzlichen verspürt wird, geht er (zumindest kurzzeitig) mit einem Gefühl der Anspannung einher. Diese gibt dem Individuum in einer aktuellen Situation leiblich »zu verstehen«, dass etwas Neues und Unerwartetes herausgehobene Ansprüche an die Aufmerksamkeit und das nach-denkende Mit-Sein stellt. Die meisten Situationen, die den Menschen mit Schwierigkeiten und Herausforderungen konfrontieren, gehen mit Spannungsgefühlen einher. So muss auch der gesamte Auktionshandel als ein temporäres Spannungs-Milieu verstanden werden, das schon in seinem heterotopen Charakter von den Beteiligten die Anspannung aller mobilisierbaren Kräfte mentaler Präsenz verlangt. Nur wer das Geschehen lediglich als interessierter Außenseiter begleitet und damit dem Ernst der Handlungen gegenüber distanziert eingestellt ist, kann es sich erlauben, dem im Prinzip stressreichen Handel mit einer gewissen Gelassenheit beizuwohnen, sodass das Ganze als ein unterhaltsames »Treiben« erlebt werden kann. Wer aber als Auktionator oder Händler in den Ernstcharakter der schnellen Geschäfte eingebunden ist, befindet sich schon deshalb in einer gespannten Stimmung, weil sich eine hohe Aufmerksamkeit reklamiert, um dem eiligen Rhythmus angemessen folgen zu können, vor allem aber, um mit wacher Bereitschaft zur Fällung von Entscheidungen als potentieller Käufer in einer Weise dabei zu sein und zu bleiben, die es erlaubt, dass rechtsverbindliche Gebote abgegeben werden können. Die gespannte Atmosphäre des Auktionshandels drückt sich in Gestalt verschiedener Programme aus, unter anderem lautlicher Ruhe, gebündelter Aufmerksamkeit und Schnelligkeit des Handels. Von Beginn an ist die Auktion in ihrem institutionellen Charakter atmosphärisch höchst spannungsreich. Dass mit dem Eintritt in die Welt des Auktionshandels etwas Besonderes beginnt, wird jedem Anwesenden mit der Geste des Anschlagens einer Glocke unüberhörbar mitgeteilt. Der schrille Ton hat nicht nur die Funktion, die Aufmerksamkeit zu sammeln; er ist zugleich eine symbolische Geste der Disziplinierung. Das Ertönen der Glocke baut für die Dauer der gesamten Auktion eine spürbare Spannung auf. Diese verdichtet die Energie der 438 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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Teilnehmer, stärkt die Konzentration und bindet alle Beteiligten an das Geschehen. Diese atmosphärische Spannung wird gerade dann spürbar, wenn sie (in raren Momenten) nachlässt und einer der Einkäufer oder der Auktionator, der in gewisser Weise mit Macht über die Einhaltung der prozeduralen Regeln ausgestattet ist, zum Beispiel einen Witz macht. Dabei geht es dann nur am Rande um den Witz; vielmehr bietet dieser sich kommunikativ als Medium des immer wieder nötigen Spannungsabbaus an (s. dazu auch die Mikrologie zum niederländischen Blumenauktionsmarkt in Kapitel 3.2.3). Schon die Art der extrem verdichteten Kommunikation, in der im schnellen Prozedere der Versteigerung (sprachlich wie gestisch) nur das Allernötigste geäußert wird, lässt ein recht hohes Spannungsniveau erkennen. Wenn jedoch aus der Perspektive des Beobachters eines in Auktionen ungeübten Teilnehmers eine Spannung verspürt wird, muss das nicht heißen, dass diese von den im engeren Sinne Beteiligten emotional in ähnlicher Weise oder überhaupt erlebt wird. Eine Atmosphäre kann in ihrem wesentlichen Vitalton durch eine Spannung charakterisiert sein, während die Stimmung derer, die sich im Rahmen dieser Atmosphäre befinden, relativ gelassen sein mag. Erst wem sich eine Spannung in eine fordernde Stimmung zuspitzt, erlebt sich selbst unter dem stressbedingten Druck einer leiblich spürbar werdenden Engung. Wer dagegen (etwa aus langjähriger beruflicher Routine) Distanz zur auktionstypischen Atmosphäre der Spannung hat, wird sie diesseits unangenehmer Empfindungen als etwas allein Aufmerksamkeit Sammelndes, nicht aber als etwas Einzwängendes spüren. Ausdruck kommunikativ gespannter Dichte ist auch die Gleichzeitigkeit, in der die Händler an der Versteigerung teilnehmen und über ihre Mobiltelefone leise mit ihren Büros telefonieren, um auf schnellstmöglichem Wege Absprachen über anstehende Käufe zu treffen. Der Ablauf der Auktion geht so schnell voran, dass er im Allgemeinen keine Unterbrechung zulässt. Wer dabei bleiben will, muss Wege finden, das Nötige mit dem Schnellen zu synchronisieren. Die Spannung hat ihren eigenen, aber mobilen Ruhe-Ort. Der ist immer da, wo sich das Feld der um den Auktionsmeister versammelten Händler im weiten Raum der Halle gerade befindet. So geht der atmosphärische Raum in seiner schwimmenden Fortbewegung auf dynamische Weise von einem Ort zum anderen. Nur wenn die Gruppe von einer Halle zur nächsten geht, um dort die Versteigerung 439 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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fortzusetzen, wird der Handel kurz unterbrochen. Dann kann sich die Spannung entladen und die Konzentration für ein paar Momente verlieren, um am nächsten Ort umso mehr wieder mit aller Kraft da zu sein, denn nur dann kann der Verkauf des Fischs mit der nötigen Routine und Schnelligkeit fortgesetzt werden. Eine ästhetische Spannung ganz anderer Art besteht zwischen den Unmengen von totem Fisch, der in Plastik-Containern im Eis liegt zum einen und der Lebendigkeit der Gruppe zum anderen, die sich in ihrer ganzen Aufmerksamkeit nichts anderem zugewandt zeigt als dem Fisch. Auch zwischen dem tonnenweise daliegenden Seegetier und einer High-Tech-Technologie, die in Gestalt von Smartphones, Headsets und Mobiltelefonen während der gesamten Zeit des Handels gegenwärtig ist, besteht eine geradezu knisternde Spannung, wenn diese nun auch weniger sozial fundiert ist, sondern sich allein der gleichzeitigen Gegenwart extrem unterschiedlicher Dinge verdankt. Aber es ist eine Spannung, die die emotionale Distanz zum Fisch erhöht und damit die sich mit seiner sinnlichen Präsenz provozierenden ethischen Fragen auf Abstand bringt. In dem Maße, wie die technischen Apparate den Menschen als Schöpfer »übernatürlicher« Instrumente gleichsam ins Erhabene steigern, sinkt das archaische Tier auf ein dem Menschen fernes Niveau herab, das die Verfügung über sein Sein zu einer ganz selbstverständlichen Sache macht und allein seinen ökonomischen Wert übrig lässt. Wie alle Technik Medium der Isolation ist und das von ihm Behandelte auf Abstand bringt, so auch diese Technik. Noch deutlicher wird das an den auf den obersten Schichten der Fischcontainer liegenden Zetteln, die mit abstrakten Maschinen-Codes über Qualitätseigenschaften von Kabeljau, Seehecht und was auch immer informieren, sodass sich jede genauere sinnliche Prüfung der Fische erübrigt. Solche Technik der Kommunikation bahnt viel weniger die praktische Abstandnahme an, als dass sie als eine Form anthropologisch schon verwirklichter Distanzierung verstanden werden muss. Auch auf einem sinnlichen Niveau bauen sich mit dem performativen Verlauf der Versteigerung Spannungen auf, die zum einen etwas über die Atmosphäre einer Gruppe von Händlern zu spüren geben, zugleich aber auch auf unterschiedliche Atmosphären in einer Halle hinweisen. Während viele Klänge und Geräusche in einem kalten Raum hart und kantig wirken (das Aufschlagen der Container auf den Beton, das Anschlagen der versteigerten Kisten durch den Auktionator usw.), ist die Atmosphäre der sich bewegenden Gruppe doch 440 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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weder hart noch abweisend, schroff oder in einer Weise gespannt, die auf eine Verstimmung der Männer untereinander aufmerksam machen würde. Im Gegenteil – die Händler nehmen in besonderer Weise aufmerksam und konzentriert am Fortgang der Auktion teil; aber sie lassen sich dabei (soweit das von außen sichtbar wird) von einer zwischenmenschlichen Atmosphäre tragen, die im Unterschied zum Tempo der Veranstaltung noch Luft für kommunikativ informelle Momente lässt, in denen sich die Spannung entladen kann, die sich im Fortgang des schnellen Handels aufgebaut hat. Ein paar informelle Worte unter Kollegen dienen dann – wenn überhaupt – nur am Rande der Verständigung in der Sache; vielmehr sind sie atmosphärischer Ausdruck gemeinsamen Mit-Seins in der einer herausfordernden Situation. Spannungen sind nicht nur in der Physik vieldeutig. Auch in der sozialen Welt der Menschen sind sie ambivalent. Auf der einen Seite deuten sie in einem negativen Sinne auf ein gestörtes Einvernehmen zwischen mehreren Menschen, Gruppen oder ganzen Nationen hin. Auf der anderen Seite stehen sie für den indifferent erscheinenden »zustand eines energischen wesens in völliger bereitschaft sich zu manifestiren, zu differenziren, zu polarisiren« 145. In dieser und in keiner negativen Bedeutung haben sich die Atmosphären des Auktionshandels in einem produktiven Sinne als gespannt zu spüren gegeben. Jede Tätigkeit, die auf ein Ziel hin gerichtet ist, bedarf einer gewissen Spannung, aus der sich ein Vortrieb im Sinne einer Energie speist. Erst der Schreck löst diese Spannung zur Seite der Enge hin auf, während die kontemplative Selbstversenkung (oder das Dahinschwinden des wachen Bewusstseins im Dösen oder Einschlafen) dies zur Seite der Weite hin bewirkt. 146 Die Spannung mündet zwar in die Enge wie die Entspannung in die Weite 147. Doch in ihrer gefühlsmäßigen Ladung mit Bedeutungen kennt diese Enge viele Farben. Es wäre also ganz falsch, das spannungsbedingte Gefühl der Engung im Allgemeinen mit etwas Bedrängendem oder Aversivem zu vergleichen. Was Enge letztlich im leiblichen Erleben bedeutet, ist allein situativ (mehr aktuell als zuständlich) disponiert. Die Enge der Angst lähmt

145 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 16, Sp. 1915. In ähnlicher Bedeutung, wie Spannungen unter und zwischen Menschen vorkommen, gibt es sie auch in der sozialen Welt der Säugetiere. 146 Vgl. Schmitz, Band III, Teil 5, S. 80. 147 Vgl. ebd., S. 92.

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jede Bereitschaft zur Handlung wie zur Bewegung und das Vermögen lösungsorientierten Denkens. Die Enge der Spannung, wie sie atmosphärisch den Verlauf der Auktion getragen hat, konnte sich dagegen als kraftvoller Bogen bewähren, der den vitalen Antrieb zum Mitschwimmen in der Situation des Handels mit Energie gespeist hat. 148

4.3.7 Habituelle Präsenzen Einerseits versteht sich die habituelle Präsenz von Menschen in sozialen Kontexten von selbst; andererseits verdient sie aufgrund ihrer spezifischen Einflussnahme auf konkrete situative Gefüge von Sachverhalten, Programmen und Problemen auch an dieser Stelle eine kurze Vertiefung. Dies nicht allein im Hinblick auf die zwischen Menschen ablaufende Kommunikation, sondern auch auf das Zustandekommen von Atmosphären. Das Beispiel der Mikrologie zum Fischauktionshandel in Hanstholm illustriert eindrucksvoll, in welcher Weise ausgeprägte Spannungsverhältnisse an der habituellen Präsenz von Personen erkannt werden können. Schon der zeitliche Prozessrhythmus der Schnelligkeit und die sich damit geradezu zwangsläufig reklamierende Zuspitzung der Aufmerksamkeit aller am Handeln Beteiligten bewirkt deren leiblich-habituelle Einstellung und Stimmung nach den Erfordernissen einer spezifischen Marktsituation. Dass nicht jede Fischauktion dieselben Anforderungen an ihre Teilnehmer stellt, wird der vergleichende Exkurs zur Auktion in der englischen Seehafenstadt Grimsby beispielhaft zeigen (vgl. Kapitel 4.4). Die Händler der dänischen Versteigerung sind in ihrer Haltung für die Dauer des frühmorgendlichen Marktes in anderer Weise gegenwärtig als Menschen, die auf einem Wochenmarkt ihre Besorgungen machen. Obwohl es sich bei beiden Orten um Märkte handelt, fordert jeder auf seine besondere Weise eine situationsbezogene leiblich-mimetische Anpassung der Teilnehmer an den institutionellen, performativen und programmatischen Rahmen. Am Beispiel der Mikrologie mag man dabei in erster Linie an jene Gesten denken, die im Rahmen einer Auktion eigentlich nur von Insidern verstanden werden. So werden die Gebote der Händler meist sehr wortkarg abge148 Zur Spannung in bzw. zwischen Atmosphären vgl. auch Kapitel 3.2.4 (Unterkapitel Spannung und Affektdynamik).

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geben; die Männer sprechen nicht viel, oft gar nicht. Anstelle langer wörtlicher Reden nicken sie meist nur mit dem Kopf oder wenden den Blick ab, wenn sie dem Auktionator zu verstehen geben wollen, wie sie zu einem Geschäft stehen, ob sie ein Los kaufen wollen oder kein Interesse (mehr) haben. Gestische und mimische Äußerungen gehen dabei auf komplexe Weise ineinander. Nur wer diese Synchronisierung des Wenigen, das expressis verbis gesagt und gestisch zu verstehen gegeben wird, sinnhaft nachvollziehen kann, vermag dem Lauf des Handels zu folgen und kann die ökonomische Reichweite solcher Äußerungen angemessen bewerten. Gerade das Bieten auf einer Versteigerung lebt von den Ausdrucksmitteln leiblicher Kommunikation. Die meisten Dialoge zwischen Auktionator und Händlern basieren auf Gesten, die nicht nur einen Willen anzeigen, sondern auch rechtsverbindliche »Erklärungen« bedeuten. Blicke und Handzeichen werden als Gesten leiblicher Kommunikation eingesetzt, manchmal sogar der ganze Körper, wenn er zum Beispiel auf dem Fuß weggedreht wird, um zu »sagen«, dass man bei diesem Los nicht mehr »dabei« ist. Erst was sich nicht zeigen oder symbolisch zu verstehen geben lässt, wird in der Form wörtlicher Rede expliziert. Wie ich schon am Beispiel der Körperhaltungen des Gehens im schneidigen Wind in Kapitel 6.2.4 von Band 1 gezeigt habe, weisen habituelle Gesten keineswegs selbstverständlich im Sinne von Pierre Bourdieu auf soziale Rangordnungen hin. Sogar die meisten Gesten sind in einer habituellen Form des Mit-Seins in Situationen verwurzelt und markieren keine statusbezogenen Positionen. Die Art und Weise, in der das Befinden einer Person für andere wahrnehmbar wird, bringt sich in dieser oder jener Körperpräsenz zur Geltung. Im habituellen Bild eines Menschen überlagern sich Körper und Leib in einer Weise, die es vergeblich erscheinen lässt, vom Körper ohne Rücksicht auf den Leib und vom Leib ohne Rücksicht auf den Körper zu sprechen. Schon die situationsspezifische Verzahnung performativer und zeitlicher Rhythmen lässt über das Programm einer Versteigerung ein habituelles Grundmuster entstehen, in das sich alle an einer Auktion Beteiligten intuitiv einfügen. So kann man in einem kollektiven Sinne sogar von der habituellen Gestalt einer Gruppe sprechen, denn das im Raum einer Auktionshalle umherziehende soziale Feld ist an einer charakteristischen Haltung zu erkennen, die (leiblich kommunikativ) auf das rahmende Programm der Auktion bezogen ist. Deshalb setzt das Verstehen des habituellen Bildes, in dem sich eine 443 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Gruppe von Fischhändlern samt Auktionsmeister zeigt, ein Wissen um die Bedeutungen voraus, denen diese Menschen in ihrem So-Sein und Tun folgen. Weil wir über solch einverleibtes soziales Wissen verfügen, können wir eine Touristengruppe von grölenden Fußballfans schon an ihrer leiblich-habituellen Präsenz unterscheiden, bevor wir verstanden haben, was die Betroffenen vielleicht äußern wollten. Das befindliche So-da-Sein der Fischhändler wird in einer den Prozessanforderungen des Versteigerungshandels genügenden Weise durch eine situationsspezifische Rhythmisierung allokativer wie affektiver Bewegungen formatiert. Dabei wirken Figuren der körperlichen Bewegung (wie die Männer dastehen, sich bewegen und im Raum der Halle fortbewegen) und Erregungsformate (wie sie durch die Preisansagen des Auktionators affektiv berührt werden oder auch gänzlich aushaken) aufeinander ein. Zum Bild der habituellen Präsenz der Fischhändler gehört ganz wesentlich deren Verschmelzung mit dem Mobiltelefon. Die Männer benutzen ihre Geräte allein zu einem Zweck, der unmittelbar mit der aktuellen Marktsituation zu tun hat. Die technischen Medien sind also nicht »Resonanzachsen« 149 in einem allgemeinen Sinne, um mit anderen Menschen in Verbindung zu sein, sondern Medien des funktionalen Informationsaustauschs in einem beinahe kybernetischen Verständnis. In seiner strengen Funktionalität ist dieses spezielle habituelle Bild in erster Linie mit dieser lokalen und besonderen MarktSituation verwachsen und sollte erst in zweiter Linie als Hinweis auf die Ubiquität kommunikationstechnologischer High-Tech-Medien verstanden werden. Das Programm des Handels bestimmt ihren Gebrauch, weshalb dieser den Verlauf der Auktion nicht stört. Und so drückt sich das habituelle Bild auch darin aus, dass die Händler ihre Telefonate leise führen und ebenso unauffällig beenden, sodass man nicht den Eindruck gewinnt, sie wären selbst nur in einem Moment ihrer Ferngespräche nicht bei der Sache der Auktion gewesen. Das Vermögen, das eine zu tun, ohne etwas anderes zu unterbrechen, setzt weniger Wissen voraus als pathisches Können leiblich angemessenen Mitschwingens in der Melodie eines prozessimmanenten Rhythmus. Das gilt nicht nur für den situativ »passenden« Gebrauch von Telefonen. Das disziplinierende Zusammenspiel des Vielen lässt sich im Rückgriff auf Willy Hellpach auch als »Ak-

149

Rosa, Resonanz, S. 159.

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kord« 150 von Elementen auffassen, mit anderen Worten als deren autopoietische Synchronisierung. Die Männer »wissen« auf dem Hintergrund meist langjähriger Erfahrung in einem pathischen Sinne mit dem Gespür für das stimmige Mit-Sein in der Auktion, wie sie intuitiv der Ablauf-Hygiene des Marktprozederes gerecht werden können und müssen. Die Auktion läuft nur und erst dann schnell und reibungslos, wenn die aktiven Teilnehmer in der Lage sind, ein hinreichend robustes Gefühl »richtigen« Mitschwingens in diesen Akkord zu investieren. Auch die niederländische Blumenauktion (vgl. Kapitel 3.2) forderte ganz in diesem Sinne pathische Sensibilität von den teilnehmenden Händlern, gleichwohl nun auf den speziellen situativen Rahmen bezogen. Auch die sich von selbst zu verstehen gebende Grundregel, dass im Allgemeinen nur der Auktionator spricht – zumindest das »erste« Rederecht hat –, prägt sich in das habituelle Bild der mobilen Auktionsgruppe ein. Daraus folgt, dass die affektive Schwelle, die die Fischhändler überspringen müssen, wenn sie ihrerseits sprechen wollen oder müssen, um ihre Geschäfte abzuschließen, viel höher liegt als in lebensweltlich nicht formal regulierten Sprechsituationen. Ob jemand am Gemüsestand auf dem Wochenmarkt etwas sagt oder auf einer Auktion, mag in der Sache der Rede und der Lautstärke der Äußerung vergleichbar sein. Dagegen muss der vitale Antrieb, sich sprachlich gegenüber anderen in einem Auktionshandel wie im gegebenen Beispiel hörbar zu äußern, über eine ungleich höhere soziale Schwelle hinweg als in infra-gewöhnlichen öffentlichen Marktsituationen, in denen es so hoch formalisierte Prozessregeln wie bei einer Auktion nicht gibt. Das pathische Vermögen zur Äußerung in der wörtlichen Rede setzt eine einverleibte Selbstsicherheit voraus, die den vitalen Impuls mit der situativ nötigen Energie versorgen kann. Das scheinbar so Einfache, das Sprechen in einer Gruppe, in der alle Teilnehmer eine ähnliche Rolle innehaben, erweist sich am Beispiel der Mikrologie als Aufgabe. Diese findet ihre Herausforderungen im je situationsspezifischen Gefüge von Sachverhalten (was auf einer Auktion alles ist), einem Programm (wie eine Auktion prozedural abzulaufen hat und welchem Ziel sie folgt) sowie möglichen bzw. latenten Problemen (zum Beispiel der Suche nach Wegen eines Weiter, sofern der Fortlauf der Geschehnisse ins Stocken gerät). Dass im All150 Vgl. Hellpach, Sinne und Seele, S. 61. Hellpach hatte die Metapher auf das Wettererleben bezogen.

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gemeinen nur der Auktionator spricht, hat wenig mit dessen persönlicher habitueller Präsenz zu tun, als mit seiner systemischen Rolle im Prozessablauf der Versteigerung bzw. ihrem Programm. Dieses prägt deshalb auch – auf stumme Weise disziplinierend – den Habitus der ganzen Gruppe. Der Auktionator stimmt durch sein »zentrales« Tun die strenge Form einer äußerst reduzierten und dichten wörtlichen Rede und damit das Mit-Sein aller anderen in und für die Situation dieses besonderen Marktes. Mit anderen Worten: Rolle und habituelle Präsenz des Auktionators stimmen für die Dauer des Handels auch die Händler. Die Auktionsgruppe zeigt sich auf den zweiten Blick im habituellen Ausdruck einzelner Personen aber auch als ein von hierarchischen Ordnungen durchzogenes Feld. Die »großen« Bieter, die aufgrund der ökonomischen Bedeutung ihrer Käufe für eine oder mehrere Firmen Gebote abgeben, ragen mitunter in der Art und Weise, wie sie plötzlich habituell gegenwärtig sind, aus der kleinen Menge der Händler heraus. Wenn das performative Muster der sich von Halle zu Halle bewegenden Gruppe im Allgemeinen in der Vielfalt der Seins-Weisen, Bewegungen und Äußerungen auch homogen erscheint, so blitzt doch mitunter der eine oder andere durch einen erkennbar selbstbewussten Habitus hervor. Es sind dies Personen, die in ihrer Präsenz anderen symbolisch zu verstehen geben, dass nicht alle gleich sind, auch wenn alle innerhalb der Gruppe formal gleiche Rechte haben. Die Selbstsicherheit, mit der sie etwas Informelles sagen, den Handel für einen kurzen Moment unterbrechen dürfen, um eine Rücksprache per Mobiltelefon vorzunehmen, lässt den eigenen Standort im sozialen Gefüge der Kollegenschaft erkennen. Was sie dann tun, »darf« nicht jeder. Nur wenn die Verkäuflichkeit eines Loses in den Sternen steht, wie bei den zur Versteigerung stehenden Rochen, erweist sich mitunter die Rücksprache mit einem Firmenbüro so offensichtlich als unumgänglich, dass es der Sache geschuldet ist, dem Programm durch eine außerplanmäßige Unterbrechung über die Schwelle eines aktuellen Problems zu helfen, da der Fisch sonst liegen bliebe. Dann kommt es nicht auf die Stellung eines Händlers in seinem Soziotop an, sondern allein auf eine – von wem auch immer zu treffende – ökonomische Kaufentscheidung. Der Umstand, dass keine Frauen bei diesem Geschäft zu finden sind, hat Rückwirkungen auf die habituelle Selbstpräsenz der Männer, die das soziale Milieu der Gruppe ausschließlich bestimmen. Die einzige Frau, die bei dem eiligen Geschäft zugegen ist, kauft und verkauft 446 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischauktion in Hanstholm (Dänemark)

keinen Fisch, sondern protokolliert und registriert für den Zoll, was männliche Einkäufer ersteigert haben. Das formal Nötige tut sie auf einem minimalistischen Niveau der Registrierung ökonomischer Transaktionsdaten. In der spezifischen Präsenz einer Frau (als Dienstleisterin) auf einem Fischmarkt spiegeln sich gesellschaftliche Verhältnisse wider, die nicht einfach auf eine Frage der Macht reduziert werden können. Auch die Sinnlichkeit und Ästhetik von massenhaft totem Fisch dürfte zumindest für diesen speziellen Markt eine Teilantwort für die Abwesenheit von Frauen im Kreise der Händler anbieten. Im Ganzen des Auktionshandels drückt sich auf eigene Weise habituell aus, was sich dem Außenstehenden nicht von selbst zu verstehen gibt. Nicht erst in ihrem Tun, sondern schon in ihrem So-daSein repräsentieren die Männer Chiffren eines Verborgenen. Was und wie sie etwas tun, lässt erkennen, dass sie einem Kreis von Insidern angehören, dessen Habitus einem Außenstehenden in der Mikrostruktur der Geschehnisse bestenfalls lückenhaft verständlich werden kann. Im Einzelnen dürfte das Geschehen jedem Außenstehenden weitestgehend fremd bleiben. Gerade die gestischen und mimischen Äußerungen, die nicht nur informelle kommunikative Zeichen, sondern vertragsrelevante Äußerungen bedeuten, verlangen in ihrem Verstehen Insiderkenntnisse. Im Blick von »Draußen« werden sie eher als Chiffren erlebt, die ökonomische Entscheidungen auf »seltsam« erscheinende Weise symbolisieren und weit weg liegen von lebensweltlich gewohnten Eindrücken, wie man sie auf allen möglichen Märkten sammeln kann. Der gesamte Dialog zwischen Auktionator und Händlern läuft mehr habituell als über Äußerungen in der Form wörtlicher Rede ab – wie oben beschrieben in Gestalt eines Kopfnickens, Augenzwinkerns, einer Abwendung des Blickes oder gar des ganzen Körpers. So blickt der Auktionator nicht nur in die Runde, wie man in die Gesichter von Menschen schaut, mit denen man kommunizieren möchte; er sieht in einer Weise zur Seite, wie man das lebensweltlich normalerweise nie tut. Er muss, ohne das Feld im Ganzen aus dem Auge zu verlieren, auch die möglichen Gesten jener Händler noch sehen, die beinahe hinter ihm stehen. Und so bewegt er die Augen immer wieder schnell und so weit nach rechts und nach links, dass man eigentlich den Kopf dabei drehen müsste. So sieht er schnell, effektiv und ohne die Aufmerksamkeit von den vor ihm stehenden Händlern abwenden zu müssen, ob vielleicht auch von einem abseits stehenden Käufer ein Gebot abgegeben wird. 447 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Insgesamt spielt die habituelle Präsenz aller, die an der Auktion beteiligt sind, eine kommunikativ wichtige Rolle, in förmlicher wie informeller Hinsicht. Im engeren Sinne kaufrelevante Informationen werden seitens der Fischhändler sogar vornehmlich durch Gesten kommuniziert; erst in zweiter Linie kommt die wörtliche Rede zum Einsatz. Die Symbolisierung sozialer Zugehörigkeit, die im HabitusKonzept von Bourdieu an zentraler Stelle steht, ist hier von nachrangiger Bedeutung. Dass die Mikrologie zum dänischen Fischauktionsmarkt nicht repräsentativ für andere (Fisch-)Märkte sein kann, versteht sich auf dem methodologischen Hintergrund des Mikrologien-Projekts von selbst. Dennoch soll durch eine thematische Variation und Ergänzung ähnlicher (aber auch anderer) Verläufe in den folgenden Zusammenfassungen von Eindrücken einer Fischauktion im ehemals weltgrößten Fischereihafen und Standort der Fischverarbeitung illustriert werden, in welch vielfältiger Weise schon kleine Unterschiede zusammenhängende Situationen (in ihren Sachverhalten, Programmen und Problemen) verändern können. Zur Begrenzung des Umfanges dieses Bandes weicht diese Darstellung von dem sonst in der Beschreibung und Reflexion der Mikrologien auch in Band 1 angewandten methodischen Verfahren ab. Anstelle facettenreicher und thematisch gegliederter »Einbohrungen« in erlebte Markt-Situationen, werden nun allein knappe und sachlich gebündelte Aufrisse geboten. Sie sollen darauf aufmerksam machen, dass die Praxis des Fischauktionsmarktes in Dänemark der eines im Große und Ganzen vergleichbaren britischen Marktes zwar in vielen Punkten ähnlich ist, letztlich aber doch erst auf dem Hintergrund lokaler Besonderheiten wie nationaler Geschichten der Fischerei und Fischverarbeitungsindustrie verstanden werden kann.

4.4 Exkurs: Fischauktion in Grimsby (Großbritannien) In der am Humber-Ästuar gelegenen britischen Seehafenstadt Grimsby befand sich von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts der größte Fischereihafen der Welt (s. Abb. 4.30 und 4.31 151). Schon im Mittelalter entwickelte sich Grimsby zu einer bedeutenden Hafen151 Der Verfasser dankt der Familie Tappin (Grimsby, GB) für die Druckfreigabe des Bildes.

448 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Exkurs: Fischauktion in Grimsby (Großbritannien)

Abb. 4.30: Zur Auktion in einer offenen Halle ausgelegte Fische im Hafen von Grimsby (ca. 1906)

Abb. 4.31: Fischereiboote in Hafen von Grimsby (1901)

449 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

stadt. Im Zuge des Booms der Hochseefischerei wurden die Hafenbecken im 19. Jahrhundert nach den speziellen Anforderungen der Fischerei erweitert: 1857 durch die Fish docks No. 1 und 1878 durch die Fish docks No. 2. Im Jahre 1934 kamen die Fish docks No. 3 hinzu. In der Hochzeit der Fischerei waren rund 500 Motor- wie Segelschiffe 152 als Fischereiboote registriert. 153 Der sogenannte »Kabeljaukrieg«, in dem Island die Ausweitung seiner Fischereizonen anstrebte, sollte den kontinuierlichen Niedergang des Fischereihafens einleiten. Im Januar 1977 endete ein seit 1952 andauernder und in mehreren Etappen ausgetragener Cod War mit dem Abschluss eines Seerechtsübereinkommens zugunsten Islands, wonach dem Land die alleinigen Fischereirechte in einer 200 Seemeilen-Zone zugesichert wurden. Diese Entwicklung hatte vor allem Großbritannien in eine tiefgreifende fischereiwirtschaftliche Krise gestürzt, 154 die schließlich das endgültige Ende des Fischereihafens von Grimsby zur Folge hatte. 155 Dieses war aber nicht identisch mit dem der fischverarbeitenden Industrie. Schon in den 1970er Jahren wurden große Anstrengungen unternommen, um die Folgen des Cod War zu kompensieren. Im Jahre 1996 konnte nach der Investition von 15 Millionen Pfund 156 auf dem Gelände der Fish docks No. 1 der privatwirtschaftlich betriebene Grimsby Fish Market eröffnet werden. 157 Der in seinen Auktionshallen versteigerte Fisch kommt zwar auch heute noch zu einem großen Teil über den Seehafen Immingham zum Beispiel aus Island oder Norwegen zunächst über den Seeweg und von dort aus mit dem Kühl-LKW. Der neue Fischmarkt verfügt mit Kühlhäusern, Sortieranlagen und speziellen Einrichtungen der fischverarbeitenden Industrie über alle technischen Merkmale eines modernen Fischauktions-

152 Im Jahre 1970 waren in Grimsby noch 400 Trawler registriert, im Jahre 2013 nur noch 5; https://en.wikipedia.org/wiki/Grimsby#Food_industry (23. 01. 2017). 153 http://www.britishports.org.uk/our-members/grimsby-fish-dock-enterprises-ltd (23. 01. 2017). 154 Vgl. auch Rupprecht, Der deutsch-isländische Fischereizonenstreit 1972–1976; zum Überblick vgl. auch https://en.wikipedia.org/wiki/Cod_Wars#Results (23. 01. 2017). 155 Zum Konflikt zwischen Großbritannien und Island um Fischereirechte in der Nordsee vgl. auch Townsend, How climate change spells disaster for UK fish industry. 156 Vgl. http://www.grimsbyfishmarket.co.uk/index.html (23. 01. 2017). 157 Vg. https://en.wikipedia.org/wiki/Port_of_Grimsby (23. 02. 2017).

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Exkurs: Fischauktion in Grimsby (Großbritannien)

marktes. Die logistisch wichtigen Gebäude des Grimsby Fish Market sind 24 Stunden täglich geöffnet. Trotz des Wegfalls aller historisch entwickelten, großräumigen Strukturen des Fischereihafens konnte sich bis in die Gegenwart eine differenzierte fischverarbeitende Industrie behaupten. In Grimsby hat sich sogar der wichtigste Standort Großbritanniens etablieren können: »Since Iceland’s banking collapse of 2008 and its subsequent attempts to fish its way out of a crisis, Grimsby has boomed on the back of the surge of fresh white fish. Were the supply line to be cut, 70 % of the UK’s fish processing industry, along with Europe’s biggest concentration of cold storage facilities, would be at risk.« 158

Auf dem Hintergrund der nicht-teilnehmenden Beobachtung einer frühmorgendlichen Fischauktion sollen an dieser Stelle aus Platzgründen allein jene charakteristischen Eindrücke in skizzenhafter Form zusammenfassend dargestellt und knapp kommentiert werden, die sich von den Abläufen und atmosphärischen Präsenzen des Auktionshandels im dänischen Seehafen Hanstholm unterschieden haben bzw. eigene charakteristische Facetten einer Fischauktion in besonderer Klarheit zu erkennen geben 159: a) In der Auktionshalle herrscht ein relativ hoher Lärmpegel, der im Wesentlichen auf die Anwesenheit zahlreicher Käufer zurückzuführen ist, die untereinander Gespräche führen und für einen Geräuschteppich sorgen, wie man ihn aus großen hallenden Räumen mit beträchtlichen Menschenansammlungen kennt. Im Unterschied zur dänischen Auktion sind hier nicht nur 10 bis 15 Groß- und Einzelhändler bei einer Auktion zugegen, sondern ca. 60 bis 70 (s. Abb. 4.32). Es ist gerade diese aus der Vielzahl der Männer resultierende Lebendigkeit, die eher an einen üblichen Markt erinnert als an einen Closed shop vom Charakter einer Auktion für einen begrenzten Käuferkreis, der zudem formal in seiner Teilnahme durch Zugangsbedingungen, eine Kleiderordnung und andere Normen reguliert ist.

Townsend, How climate change spells disaster for UK fish industry. Tag und Zeit der Beobachtung: Grimsby Fish Market 16. 01. 2017, 06:45 – 08:00 h. Ich danke Martyn Boyers, dem Leiter des in den Fish Docks (Wharncliffe Road) ansässigen Grimsby Fish Market für die Ermöglichung der Teilnahme an einer Fischauktion. 158 159

451 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Abb. 4.32: Auktionshalle des Grimsby Fishmarket

Abb. 4.33: »Uniformierte« Fischhändler

452 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Exkurs: Fischauktion in Grimsby (Großbritannien)

Abb. 4.34: Markierung der ersteigerter Kisten mit Händler-Adressen

b) In der Vielzahl und Gestaltvielfalt der Männer 160 beeindruckt ein habituell eigenartiges Bewegungsbild. Überall stehen einzelne Personen, vor allem aber Gruppen von Händlern zusammen und bewegen sich von einer Reihe mit Fischkisten zur nächsten. Das Bild ist in seiner Eigenart ganz wesentlich durch eine weitgehend einheitliche bzw. ähnliche Bekleidung der Käufer geprägt (s. Abb. 4.33). Nach einer Hygienevorschrift sind neben einem weißen Kittel, ein weißer Hut und ein paar weiße Gummistiefel zu tragen. Einige Händler sind mit eigenen, ihrerseits den Hygienevorschriften entsprechenden Kleidungsstücken gekommen, die mitunter farblich etwas abweichen. c) Ersteigerte Kisten werden durch Zettel mit Firmennamen und -logos der Einkäufer kenntlich gemacht, die in die oberste Fischkiste geworfen werden (s. Abb. 4.34). Sind nur Teile eines Stapels verkauft worden, markiert ein Mitarbeiter die erworbene Menge auch hier durch Querstellen einer Kiste. Meist werden die ersteigerten Kisten schon kurz nach dem Weiterziehen des Auktionators zu einer der nächsten Reihen an langen Haken von Arbeitern zu den Ausfahrten 160 Es ist keine Frau unter den zahlreichen Fischhändlern, die sich in der Halle aufhalten.

453 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

Abb. 4.35: Abtransport des Fischs mit Hubwagen und Gabelstaplern

der Halle gezogen, wo sie von Gabelstaplern übernommen und abtransportiert werden (s. Abb. 4.35). Beim Ziehen und Schieben der Stapel über den nassen Betonboden der Halle entstehen scharrende und schleifende Geräusche, die sich mit der eher lauten Klangkulisse des weitergehenden Handels vermischen. Außerdem werden Kisten mit Hubwagen, wie man sie aus den Supermärten kennt, abtransportiert. Hier und da rollen auch Gabelstapler in die Halle, um Container stapelweise heraus zu fahren. d) Die Zusammensetzung der Gruppen, die sich um einen Auktionator scharen, wechselt – je nachdem, welche Fischarten zur Versteigerung stehen. Die Auktion wird in ihrer lautlichen Atmosphäre von den Ansagen des Auktionators bestimmt. Die Händler sprechen kaum, sie geben ihre Gebote auch hier meist gestisch oder mimisch 454 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Exkurs: Fischauktion in Grimsby (Großbritannien)

Abb. 4.36: Protokollierung des Handels durch den Auktionator

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Fischmärkte

ab. Wer den Zuschlag für eine bestimmte Menge erhält, wird in einem großen Protokollbuch mit wenigen Kürzeln vermerkt (s. Abb. 4.36). Der gesamte Handel wird in dieser Auktion ohne HighTech-Medien wie Laptops, digitale Beameranzeigen auf der Wand o. ä. abgewickelt. Zwar telefonieren viele Händler in der Zeit ihres Aufenthalts in der Halle, aber während der Auktion kommt es nur selten zur Rücksprache über das Mobiltelefon, geschweige denn zu einer kurzzeitigen Unterbrechung des Handels durch Kontaktaufnahme eines Händlers mit seinem Büro. e) Die Temperatur im Innenraum ist – wie auch in den dänischen Auktionshallen – niedrig, sodass sich schnell ein Kältegefühl breitmacht. Dieses wird in einem synästhetischen Sinne durch den Eindruck des von der Hallendecke kommenden technischen RöhrenLichts noch verstärkt. Auch hier riecht es nicht nach Fisch, wie man das in einer Halle erwarten würde, in der der Fisch abertausendfach in übereinander gestapelten Kisten lagert. Dagegen macht sich ein anderer, alles überlagernder Raumgeruch bemerkbar – ein Hauch von Chlor. Olfaktorische und visuelle Eindrücke vermischen sich zu einem ganzheitlichen Erlebnisbild der Auktionshalle, aus dem ein artifizielles Moment spürbar herausragt. Es ist ein widersprüchlicher Charakter, der von einer eigenartigen, aber situationscharakteristischen Überlagerung heterogener sinnlicher Eindrücke zusammengehalten wird. Die sich dieser Gemengelage unterschiedlicher Impressionen verdankende Atmosphäre wird in erster Linie von der Gegenwart des Fischs bestimmt. Darin gehen irritierend chemische Gerüche und ein aseptisch-kaltes Licht zusammen und bilden eine artifizielle Spannung. f) Die frühmorgendliche Auktion wird nicht mit einer Glocke im wörtlichen Sinne »eingeläutet«, sondern durch ein lautes Rufen des Auktionators, worauf die Händler sich schnell um diesen herum versammeln. Dann beginnt der Auktionshandel. In schnellen Bewegungsströmen finden sich die überwiegend weiß gekleideten Männer zu haufenartigen Gruppen zusammen, die sich in einer eigenartigen habituellen Haltung zu erkennen geben. Alle an einer gerade laufenden Versteigerung interessierten Käufer stehen mehr oder weniger nach vorn gebeugt zusammen. Die Art der von Ort zu Ort wechselnden Gruppen erinnert an die Bewegungsbilder von Ameisen, die sich 456 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Historische Kontinuitäten

schnell um etwas Fressbares herum versammeln und das Erbeutete dann in Trupps auf imaginären Pfaden abtransportieren. Der programmatische Rahmen der Situation integriert alle Teilnehmer einer gerade irgendwo in der Halle stattfindenden Auktion eines Loses in ein habituelles Muster. Durch die große Zahl der Käufer entstehen immer wieder neue physiognomisch erkennbare »performative Hotspots«, die mit dem Fortschritt der Auktion im Raum der Halle von einem Ort zum anderen ziehen. Die Auktion läuft überaus lebendig ab. An diesem Morgen werden allein in dieser Versteigerung rund 57,5 Tonnen Fisch umgesetzt. Die Anlieferung erfolgt per Schiff bzw. LKW – wie auch in Dänemark – in genormten 1.000 Liter-Kunststoff-Containern. In der Kühlhalle wird der Fisch nach Größe und Qualität klassifiziert und in kleinere ebenfalls stapelbare Plastikcontainer umsortiert, in denen der Fisch dann auch aus der Auktionshalle heraustransportiert wird. Im Unterschied zur dänischen Auktion stehen in dieser Auktionshalle ausschließlich 60-Liter-Normbehälter (80 � 45 � 27 cm) und nicht wie in Dänemark zusätzlich zahlreiche Reihen und Stapel großer 1.000 Liter-Container (s. Abb. 4.7 und 4.8 auf Seite 313 und 315). Das deutet auf die größeren Umsätze im dänischen Hanstholm hin. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die brachliegenden Bauten in den Straßen der Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts angelegten Fish docks. Von den aufgegebenen, sich selbst überlassenen und zu einem großen Teil im Verfall befindlichen Bauten geht eine mächtige Atmosphäre des Wandels aus, die im Unterschied zu den Eindrücken des Hafengeländes von Lauwersoog (NL) auf ein historisches Ende einer Zeit der lebendigen Nutzung verweist und nicht Ausdruck der Unterbrechung einer Nutzung ist. Das Quartier ist nicht zur Ruhe gekommen, sondern weitgehend abgestorben. Soweit der aktuelle Eindruck dies zu verstehen gibt, scheint ihm keine neue Zeit durch Revitalisierung oder Umnutzung innerhalb der Fischereiwirtschaft bevorzustehen (s. auch Abb. 4.37 und 4.38).

4.5 Historische Kontinuitäten Während sich moderne Blumenauktionsmärkte einem Imperativ technologischer Modernisierung von Handel und Güterlogistik ange457 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

passt haben (s. Kapitel 3.2), ist das bei der Versteigerung von fangfrischem Hochseefisch nicht in der gleichen Weise der Fall. Die in Kapitel 1.4 (Unterkapitel Zur Atmosphäre auf Fischmärkten – ein Blick in die Geschichte) kommentierten Illustrationen aus der Literatur der 1920er Jahre lassen sogar erkennen, dass die charakteristischen Abläufe und atmosphärischen Eigenarten von Fischauktionsmärkten trotz eines immensen technischen Fortschritts (in Hochseefischerei, Klimatechnik, Logistik und Kommunikations- wie Informationstechnologien) im Verlauf von rund 100 Jahren im Großen und Ganzen ähnlich geblieben sind: – – – – – –

Vorsortierung des Fischs (durch den Einsatz von Maschinen gegenwärtig effizienter gestaltet); Vorbereitung der Auktion am frühen Morgen durch Mitarbeiter der Hafenverwaltung, Sichtung der Lose durch die Fischhändler; frühmorgendlicher Zeitpunkt der Fischauktionen; Eile der Abwicklung aller auktionsimmanenten wie logistischen Prozesse; große Fischmengen, die im Rahmen einer einzigen Auktion versteigert werden; effizient organisierte logistische Ketten von der Auktionshalle über die Lagerhäuser der Großhändler bis in die Wege der Distribution;

458 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Historische Kontinuitäten

Abb. 4.37 und 4.38: Verlassene Geschäfte in der Fishdock Road







zeitgleiche Versteigerung durch mehrere Auktionatoren wie in Grimsby, jedoch im Unterschied zum Versteigerungsbetrieb im dänischen Hanstholm, wo die Auktion trotz sehr großer Umsätze nur durch einen Auktionator abgewickelt wurde; das schnelle Bieten und die Art der gestischen Kommunikation zwischen Auktionator und Fischhändler. Noch in der Gegenwart spielt die nonverbale Kommunikation die bestimmende Rolle, sodass die wörtliche Rede als Medium der Kommunikation dem symbolischen Handeln untergeordnet ist. Nach wie vor sind die Abläufe der Versteigerung im Einzelnen vom Laien schwer nachvollziehbar. 459 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte



Die Dynamik des Auktionshandels ist früher wie heute durch schnelle und gleichzeitige Abläufe sowie eine große Dichte der Ereignisketten gekennzeichnet. Wo früher eine Kanzel mit dem Auktionator innerhalb einer Auktionshalle von Ort zu Ort geschoben wurde, geht der Auktionator umstandslos und weniger aufwendig von Ort zu Ort.

In der Literatur der 1920er Jahre ist von der Durchführung der Auktionen in einfachen Hallen ohne Kühlung die Rede; es standen schon aus technikgeschichtlichen Gründen keine den heutigen Möglichkeiten annähernd vergleichbaren Alternativen zur Verfügung. In der Gegenwart sind die Auktionsräume ebenso durch High-Tech-Klimaanlagen gekühlt wie die Lagerhäuser der Händler, die nach wie vor in unmittelbarer Nähe der Auktionshallen stehen. Ebenso muss die Vorbereitung des Fischs für den Auktionsbetrieb immer noch in der Nacht und am frühen Morgen geleistet werden. Nur stehen vor allem für die Sortierung und Trennung unterschiedlicher Arten, die aufgrund fehlender technischer Möglichkeiten und mangelnder Zeit auf den alten Fangschiffen in den Kisten durcheinanderlagen, heute effizient arbeitende Maschinen zur Verfügung. Dagegen muss das Ausnehmen des Fischs, wenn es auf den Schiffen nicht erfolgen konnte, noch immer in Handarbeit ausgeführt werden. Dagegen ist das Stehen und Gehen auf den Kanten der Fischkisten, in denen die Ware zum Verkauf angeboten wurde, überwunden. Es hat sich aus hygienischen wie logistischen Gründen erledigt. In der modernen Logistik der Seehäfen wird der Fisch in großen Kunststoffcontainern (meist mit einem Volumen von 1.000 Litern) angelandet. Und oft gelangt er auch in diesen Behältern in die Auktionshallen. Während sich die enge funktionale wie räumliche Verzahnung der Kaianlagen, wo der Fisch von den Trawlern entladen wird, mit den Auktionshallen im dänischen Fischereihafen Hanstholm in ähnlicher Weise dargestellt hat wie in den Beschreibungen über den Auktionshandel im Fischerei- und Seehafen Cuxhaven der 1920er Jahre (s. Kapitel 1.4), hat sich die Organisation im englischen Fischereihafen Grimsby seit den 1960er Jahren von Grund auf anders entwickelt (s. oben Hinweis auf den sogenannten Kabeljaukrieg). Dort wird der größte Teil des zu versteigernden Fischs mit dem LKW an den Ort seiner Versteigerung gebracht. Insgesamt wird der Auktionshandel mit Fisch in der Gegenwart nach sehr ähnlichen Regeln und Prozessabläufen durchgeführt wie 460 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Resümee

vor rund 100 Jahren. Das mag zu einem Teil an der Art des Gegenstandes liegen, daneben aber auch in der Fortführung von Traditionen begründet sein. Das Beispiel des Blumenhandels zeigt, in welch einschneidender Weise moderne High-Tech-Strukturen den Auktionshandel von Grund auf verändern können. Dass auch die Märkte des Fischgroßhandels vor allem im Bereich der Kommunikation und Logistik unter den Einfluss von High-Tech-Verfahren gelangen können, bestätigt die Praxis in der Seehafenstadt Bremerhaven, dem bedeutendsten deutschen Fischauktionsplatz. Dort werden die Geschäfte ausschließlich auf Wegen der High-Tech-Kommunikation via Internet und Telefon / Telefax abgewickelt. Der sinnliche Kontakt zum Fisch ist durch professionelle Qualitätsprüfungen und normierte Auszeichnungssysteme ersetzt worden. Der Markt hat damit, was den direkten Kontakt der Händler mit dem Fisch betrifft, eine virtuellen Charakter erhalten. Marktatmosphären wie die im dänischen Seehafen Hanstholm am Skagerrak oder in Grimsby an der englischen Ostküste gibt es dann nicht mehr. Viel eher wird man an diesen Orten mit Atmosphären rechnen müssen, die ganz durchschnittlichen Computerarbeitsplätzen ähnlich sind – im Großhandel, in den Banken oder Verwaltungen. Lediglich die Kühlhallen, in denen auch hier der angelandete Fisch geprüft und ausgezeichnet werden muss, bevor er in den Handel gelangen kann, bleiben atmosphärisch besondere bzw. eigenartige Orte, ähnlich denen, wie sie sich am Vorabend der Auktion in Hanstholm gezeigt hatten (s. auch Kapitel 4.2).

4.6 Resümee Die in den Kapiteln 4.1 bis 4.3 thematisierten Orte sind keine Fischmärkte im lebensweltlichen Verständnis, am allerwenigsten der gleichsam schlafend daliegende Fischereihafen Lauwersoog an der niederländischen Nordseeküste, der sich atmosphärisch als eine Schattengestalt spürbar gemacht hat – als ein Ort, an dem alle Aktivtäten des Umschlags und Handels mit Garnelen allein in Spuren eines atmosphärisch anwesend Abwesenden erkennbar waren. Doch hat sich gerade hier gezeigt, in welcher Weise der temporäre Stillstand aller hafen- und fischereiwirtschaftlichen Aktivitäten essentielle Wesensmerkmale der Ernährung der Menschen denkwürdig zu machen vermag. Problematisch wurden zwei Seiten des tagtäglichen Essens und Trinkens, zum einen die unbedachten Gewohnheiten der Ernäh461 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Fischmärkte

rung und zum anderen die ökonomisch charakteristischen und ubiquitären Organisationsformen des weitweiten Handels mit Nahrungsmitteln. Im Schatten der Eile im hantierenden wie technischen Umgang mit dem Seegetier thematisierten sich im Medium leer, öde und tot wirkender Atmosphären Reflexionsdefizite im kulinarischen Umgang mit Tieren. Darin scheint eine Seite jenes von Heidegger vermerkten kulturellen Versagens vor, wonach wir noch nicht denken – und dies zudem in einer allzumal essentiellen Frage unbestreitbarer alltagsweltlicher Bedeutung, werden die Produkte der Nahrungsmittelindustrie doch tagtäglich in einer Vielfalt und -zahl unüberschaubarer Massen konsumiert. Der schwungvolle Handel mit Essbarem verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass die Frage kulturimmanent und systematisch übersprungen wird, auf wessen Kosten bzw. zu welchem ethischen wie ökologischen Preis die Menschen es sich schmecken lassen. Wohin das mikrologische Hineinbohren der zugespitzten Aufmerksamkeit in die leere Öde eines brach daliegenden Fischereihafens nicht vordringen konnte, wird in den mikrologischen Erkundungen dreier Orte des Fischhandels umso deutlicher. An ihnen folgten alle Aktivtäten einem einzigen Ziel – der schnellstmöglichen Belieferung des Einzelhandels mit Fisch. Deshalb hatten sich die spezifischen Räume der Umladung, Verarbeitung, technisch gekühlten Zwischenlagerung, des Handels und des Abtransports als nicht-ästhetisierte Orte bewährt – als zweckrationale, funktionierende Stätten, an denen jeder betriebene Aufwand allein dem best- und schnellstmöglichen Umschlag von fangfrischem Seefisch diente. Die Beispiele zum dänischen Fischereihafen – ergänzend die zu einem englischen Fischauktionsmarkt – haben in den performativ wie prozedural schnellen Abläufen auf die Macht der technischen Organisation spezieller Märkte in der Gegenwart aufmerksam gemacht. Die prozessimmanenten Ablaufketten beeindrucken atmosphärisch in der Schnelligkeit der Fischentladung, seiner Versteigerung und seines Abtransports. Die begrenzte Haltbarkeit von fangfrischem Fisch hat aber nicht nur die Organisation kurzwellig rhythmisierter Prozessverläufe zur Folge; sie impliziert an den Orten der sinnlich geradezu massiven Präsenz von Fisch gewissermaßen zwangsläufig den Verzicht auf das Nachdenken fischereiwirtschaftlicher wie lebensmitteltechnischer Bedingungen. In den Seehäfen ist der Fisch, sobald er aus der Tiefe 462 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Resümee

der Kühlräume im Bauch der Trawler gehievt wird, kein Kandidat nachdenkenden Innehaltens. Seine begrenzte Haltbarkeit macht ihn auf bedingungslose Weise zu einer Ware. So fügen sich alle Abläufe an den Kais, in den Kühlhallen wie in der Auktion in die Logik eines Kreislaufs, in dem es keine anderen als ökonomische (Tausch-)Werte gibt. Schon aufgrund ihrer situativen Rahmung können sich diese Märkte nicht als Orte kritischen Bedenkens ethischer Implikationen des Mensch-Natur-Metabolismus bewähren. Im laufenden Prozess der Fischlogistik kann es keine Dauer tierethischer Kontemplation geben. Umso mehr erscheint die Leere des Lauwersooger Hafens als geradezu ideales Milieu der Besinnung. Sie fordert die Reflexion des strukturell Übersehenen und Bedenklichen im schnellen Umgang mit dem frischen Fisch heraus. Die Leere des Raumes korrespondiert dabei im Prinzip mit der Leere des Tellers, dessen atmosphärisch insistierende Anwesenheit des Abwesenden vom kulinarischen Genuss allein zurück bleibt. Deshalb bietet sich das Milieu des AnwesendAbwesenden als kontemplatives Vakuum zur Übung einer Sorge um das eigene Selbst 161 sowie für ausstehende ethische Legitimationsbemühungen an. Die nicht nur machtvolle, sondern gewaltsame Aneignung von Tieren als Ressource der menschlichen Ernährung drängt sich insofern als Thema der Sorge um das eigene Selbst auf, als die Praktiken der Unterwerfung von Tieren unter die Logik der Bedürfnisse und Begierden des Menschen dessen Verhältnis zu sich selbst fragwürdig machen. Wie er – als Wesen der Natur – in der Natur leben will, stellt sich als anthropologische Aufgabe einer Übung der Rechtfertigung allgemeiner gesellschaftlich tradierter und sanktionierter Lebenspraktiken. Wo der Mensch sich nicht auch im befindlichen Spiegel seiner Beziehung zu anderen Arten reflektiert, verliert er sich selbst als leibliches Wesen aus dem Blick und macht sich zu einem Faktor von ihm konstruierter maschinistischer Systemumwelten. In der Art der weitgehend gedankenlosen Konsumption von tierischem Fleisch steht jedoch nicht allein der Fisch als Nahrungsmittel und Objekt kulinarischer Begehrlichkeit im Fokus. Er ist nur Stell161 Ich beziehe diese Metapher auf die auf Alkibiades zurückgeführte Praxis der Reflexion des eigenen Selbst, die sich von der rationalistischen Selbst-Erkenntnis in ihrem pathischen Kern unterscheidet; vgl. dazu auch Foucault, Hermeneutik des Subjekts.

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Fischmärkte

vertreter für andere lebende Arten, die der Mensch sich als Nahrung unterwirft. Der Mangel einer ethischen (und nicht nur ökologischen) Kritik sogenannter Alimentationskulturen hat mit Nachdruck in den letzten beiden Dekaden zur Etablierung einer Kulturphilosophie des Essens und Trinkens geführt – zu einer Gastrosophie als philosophische Anstrengung, die alltäglichen Praktiken der Ernährung denkwürdig zu machen. 162 Im Zentrum stehen an zentraler Stelle auch die dunklen Seiten des Essens und Trinkens bzw. des kulinarischen Geschmacks insgesamt. Der phänomenologische Blick auf die Verkettung warenspezifischer Marktprozesse macht darauf aufmerksam, dass in der notwendigen Schnelligkeit der gebotenen Abläufe ein Nachdenken dessen sprichwörtlich auf der Strecke bleibt, was den Menschen am Leben hält. Damit klammert er eine existenzielle Seinsweise als Gegenstand der Reflexion aus, obwohl gerade sie den Stand seiner Zivilisation wie Zivilisiertheit in besonderer Weise transparent machen könnte. Dieses spezifische massenkulturell ubiquitäre Nicht-Bedenken weist auf das zivilisationshistorisch entwickelte Verhältnis des Menschen zum Lebendigen als Ressource seiner Ernährung hin. Es ist gerade der Großhandel, der in der notwendigen Nüchternheit des Umgangs mit dem fangfrischen Fisch diese Leerstelle der Reflexion in gewisser Weise problematisiert, weil das Essbare hier ohne jede Oberflächenästhetisierung erscheint. Es wäre aber weltfremd, das überfällige Nachdenken an jenen Orten zu erwarten, an denen der Fisch von See kommt, in Kühlhäusern gelagert, versteigert und logistisch in die zum Teil internationalen Distributionswege überführt wird. Dagegen reklamiert sich die Ausfüllung dieser Lücke des Nachdenkens über das Bedenkliche als ethisches Moment der Märkte, also in einer strengen Beziehung zu den Systemen, die (ehemals lebende) Tiere in geldwerte Waren transformieren. Nur der Außenstehende, der nicht wie der professionelle Händler in der Gewöhnung gegenüber ethischen Fragen anästhesiert ist, vermag die als beinahe unvorstellbar erscheinende Menge der Tiere noch als Menetekel zu empfinden. Es ist (potentiell) gerade der lebensweltliche Blick, in dem in der Situation der großen Fischmärkte ein existenzielles Problem konkret wird. Dem, der den Fisch berufsbedingt Tag um Tag auf Märkten massenhaft vertreibt, kann er nicht 162 Vgl. zum Beispiel Kleinspehn, Warum sind wir so unersättlich?, Lemke, Ethik des Essens sowie Därmann / Lemke, Die Tischgesellschaft.

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Resümee

zum »Denkmal« werden. Und so darf die taktile Distanz der Händler zum Fisch, sei sie auch organisatorisch und in der Sache des effizienten Handels begründet, symbolisch als notwendige Isolierung und Abwehr einer Nähe verstanden werden, die das Tier in einer Weise dem Leib nahe bringen würde, die der ganzen Nahrungsmittelökonomie abträglich sein müsste. Die sich mit der globalen Dimension verbindenden Widersprüche sind latent in den Spannungen verborgen, die atmosphärisch in den drei Fischmarkt-Mikrologien vorscheinen. Die so verschiedenen Orte des Umschlags, Handels und der Logistik haben sich als Sphären multipler ästhetischer Spannungen offenbart. In zunehmendem Maße sind diese – trotz und zugleich wegen der Langlebigkeit bestimmter Traditionen – Brenngläser der technischen Zivilisation des Menschen. Während sich Kultur und Technik der Fischerei in der historischen Tiefe der Menschheitsgeschichte bis ins Einfachste verlieren, tritt in der Gegenwart eine geradezu entgrenzte Macht der Anwendung von High-Tech-Konstruktionen in der Unterwerfung der Natur in immer schärferen Kontrasten hervor. Dabei sind die Fischereihäfen nur beispielhafte Schnittstellen einer allgemeinen hypertechnischen Organisation der Produktion, des Handels und der Distribution von Lebensmitteln. Der perfektionierte Stand der Technik in der Hochseefischerei, der industriellen Verarbeitung und Kühlung der Fänge bis hin zum grenzüberschreitenden Transport wirft ein Licht auf eine weitgehend entsinnlichte Kultur der Aneignung von Lebendem, in der sich der Abstand zum Tier (wie es in den Analysen von Norbert Elias schon für das Spätmittelalter beschrieben wird) 163 stetig vergrößert. Im gesellschaftlich organisierten Massenkonsum verschwindet der Fisch in seiner physiognomischen Gestalt tendenziell ganz, um im schönen Schein der Halbfertigprodukte (paniert samt Sauce) auf den Teller gelangen zu können, ohne dass der gute Geschmack durch einen Anblick des toten Tieres verdorben werden müsste. Auf solchen und vielen anderen Wegen der Anästhesie verliert sich nicht nur die Aufmerksamkeit gegenüber dem gewaltsamen Prozess der Aneignung von Fischen aus den Meeren, sondern schon das Bewusstsein, dass sogenannte »Fischstäbchen« nur lebensmitteltechnisch transformierte Teile vom Fisch sind. Auf dieselbe Weise, wie hier die Fischmärkte zum Gegenstand autopsierender Mikrologien geworden sind, ließen sich die Fleisch163

Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Band 2.

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Fischmärkte

märkte, ihre Vernetzung mit den Schlachthöfen und das Verschwindenmachen von Rind, Schwein und Schaf im küchenfertig verpackten und hübsch dekorierten Menu – oder noch abstrakter in der Frikadelle – dem Nachdenken zugänglich machen. Auf methodologischem Niveau zeigen die Beispiele der vier Mikrologien die Nützlichkeit der Phänomenologie in der Analyse problemhaltiger gesellschaftlicher Situationen.

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5. Weihnachtsmärkte

Das letzte Kapitel besteht aus drei Mikrologien. Wie in Kapitel 1.5 einführend dargestellt, unterscheidet sich der Typ des Weihnachtsmarktes von den anderen in den Kapiteln 2 bis 4 vorgestellten und phänomenologisch durchquerten Märkten dadurch, dass er im engeren Sinne kein Ort des Handels mit Waren ist wie der Wochen-, der Blumen- oder der Fischmarkt. Insoweit darf auch bestritten werden, dass Weihnachtsmärkte überhaupt einen typischen Markt-Charakter haben. Ihr kulturelles Programm liegt darin, weihnachtliche Atmosphären zu inszenieren und einem breiten Publikum auf suggestive Weise zu vermitteln. Dabei setzt die Teilhabe am Milieu des Marktes aber nicht die Teilnahme an irgendeinem Kommerz voraus, wie der Eintritt in den Bann einer Atmosphäre wiederum nicht zur aktiven Teilnahme am vorweihnachtlichen Markttreiben zwingt. Gleichwohl hat die Eindrucksmacht der im Raum anstehenden Atmosphären zur Folge, dass viele Menschen in ihr affektives Milieu eintauchen. Der marktspezifische Konsum hat einen wesentlichen Anteil an der Stimmung dieser sonderweltlichen Zonen. Eine ähnliche Situation trifft man auf jedem Jahrmarkt an, dessen Atmosphäre für das florierende Fahrgeschäft ebenso unverzichtbar ist wie für den Verkauf von Losen, Zuckerwatte, Ballons und den Betrieb von Schießbuden. Das bloße Dasein von Ermöglichungs-Strukturen verbürgt noch keine marktspezifische Lebendigkeit, keine Dynamik, in deren Dahinströmen sich die Atmosphäre eines Marktes zusammenbrauen könnte. Im Allgemeinen sind Weihnachtsmärkte lebendige Orte. Diese Lebendigkeit verdankt sich aber, wie sich in den folgenden drei Beispielen zeigen lassen wird, an eigenen Orten je besonderer Verhältnisse. Es gibt nicht »die« Lebendigkeit eines Weihnachtsmarktes; mit der Vielfalt der Märkte verbinden sich nicht nur vielfältige, sondern auch eigenartige Erlebnisprofile. Die Beispiele werden zeigen, worin die Atmosphäre eines Weihnachtsmarktes situationsspezifisch ist. Im Unterschied zu den Kapiteln 2 bis 4 werden die drei Märkte nicht in je eigenen Kapiteln der phänomenologisch-kulturphilosophischen Re467 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Weihnachtsmärkte

flexion zugänglich gemacht, sondern – aus Gründen der Umfangsbegrenzung – im Rahmen eines integrierten Vergleichs. Dies hat zur Folge, dass die Kategorien, nach denen die vergleichende Betrachtung durchgeführt wird, auf alle drei Fallbeispiele bezogen werden. Vorgestellt werden ihrem Typ nach je charakteristische Veranstaltungsorte; erstens ein großer innerstädtischer Markt, wie er im Prinzip in einer gewissen Variation in den meisten deutschen, aber auch anderen christlich geprägten Städten des europäischen Auslandes Jahr für Jahr zahllos arrangiert wird. Das zweite Beispiel ist einem Ort soziokultureller Exklusion gewidmet, einem Event, der sich in seiner gehobenen Atmosphäre an distinktionsbedürftige Großstädter wendet. Die ersten beiden Beispiele beziehen sich auf Orte in der Frankfurter Innenstadt; das dritte Beispiel illustriert einen Historienmarkt, der (als Weihnachtsmarkt) abseits der großen Metropolen in der nordhessischen Vogelsberg-Region vor der Kulisse einer mittelalterlichen Burganlage stattfand, trotz seiner großstadtfernen Lage jedoch zahlreiche Besucher aus den Ballungszentren des RheinMain-Raumes angezogen hat.

5.1. Der Frankfurter Weihnachtsmarkt Der in Frankfurt am Main alljährlich von Ende November bis zum 22. Dezember stattfindende Weihnachtsmarkt ist einer der größten in Deutschland. Wie bei den meisten Weihnachtsmärkten wurden auch hier seit dem 14. Jahrhundert vor allem Waren verkauft, die in einem Bezug zur kalten Jahreszeit des Winters standen, daneben aber auch Spielzeug für Kinder, Süßigkeiten und Weihnachtsbäume. Dieses eher am alltäglich Nützlichen orientierte Angebot hat sich in späteren Jahrhunderten zugunsten kulinarischer Genusswaren und alkoholischer Getränke erweitert bzw. ganz verschoben. Während die auf diesen Märkten gebräuchlichen weihnachtlichen Symbole ihre Wurzeln ursprünglich in der christlichen Mythologie hatten, setzten sich im späten 20. Jahrhundert eher säkulare Atmosphären durch. In der Gegenwart haben Symbole aus der christlichen Ikonographie eine eher dekorativ rahmende Aufgabe. Der jährlich veranstaltete Event nimmt eine von Jahr zu Jahr größer werdende Fläche im öffentlichen Raum der Stadt in Anspruch. Er erstreckt sich auf einer Länge von knapp 700 Metern von der Hauptwache über den Friedrich-Stoltze-Platz, Paulsplatz und Römer468 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der Frankfurter Weihnachtsmarkt

berg bis zum Mainkai. 1 Auf den »bespielten« Plätzen und Straßen sind mehr als 200 Stände aufgebaut. Die jährliche Besucherzahl liegt bei rund drei Millionen Menschen. Die städtische Marketing-Gesellschaft sorgt für eine städtetouristisch nachhaltige Resonanz der Veranstaltung. Eine »Kopie« wird alljährlich in der britischen Partnerstadt Birmingham inszeniert. Im Fokus der Tourismus+Congress GmbH Frankfurt am Main spielt dieser große Markt in der vorweihnachtlichen Kommerzialisierung der Stadt schon tourismus-ökonomisch eine zentrale Rolle. Es gibt daneben zahlreiche lokale Quartiersmärkte, die zum Teil nur an einem oder mehreren Wochenenden in der Adventszeit eingerichtet werden und nicht zuletzt der Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls der Bewohner zu ihrem Viertel dienen. In ihrer Größe und Bedeutung im urbanen Leben sind sie jedoch alle mit dem »großen« innerstädtischen Weihnachtsmarkt nicht vergleichbar. Die folgende mikrologische Beschreibung 2 bezieht sich auf diesen Markt. Die Beobachtungen deckten die beginnende Phase der Dämmerung noch mit ab. Sobald ich in den »Innenraum« des an der Hautwache beginnenden Weihnachtsmarktes eintrete, habe ich das Gefühl, von sinnlichen Eindrücken gefangen genommen zu werden. Dabei ist es mir nahezu unmöglich zu sagen, welche Eindrücke mich zuerst und am mächtigsten ergreifen – die visuellen oder die olfaktorischen. Im Übrigen findet schon in den ersten Momenten meines Aufenthalts »in« diesem turbulenten Geschehen ein denkwürdiges Raumgefühl meine Aufmerksamkeit: Ich habe nämlich den Eindruck, »in« einem Raum zu sein (s. Abb. 5.1), obwohl sich der doch in keiner Weise als ein »Innen« behaupten kann, denn das ganze Gewirr der Stände und Buden liegt in keiner förmlich abgegrenzten Zone, sondern auf einem öffentlichen Platz, setzt sich dann in einer Straße fort, ergießt sich in einen anderen Platzraum, geht weiter über eine andere Straße, füllt erneut einen Platz und so weiter, bis das merkwürdige Siedlungsgebilde den Main erreicht hat.

http://www.frankfurt-tourismus.de/Entdecken-und-Erleben/Veranstaltungen/ Volksfeste-Festivals-und-Maerkte/Frankfurter-Weihnachtsmarkt; 30. 11. 2016. 2 Ort und Zeit der Mikrologie zum Frankfurter Weihnachtsmarkt (Teilbereich vor der Hauptwache), 25. 11. 2016, 14:00 bis 16:30 h. 1

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Weihnachtsmärkte

Abb. 5.1: Verkaufsbuden auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt

Meine Aufmerksamkeit wird sodann durch Düfte eingenommen, die wie Schwaden oder Wolken im Raum wabern: von Bratwürsten und Röstereien, einem Hauch von Mayonnaise, der (ganz kurz) vorbeizieht. Dann fliegt ein Geruchs-»Feld« von gebackenem Pfannkuchen vorüber. All diese aromatischen Nebel scheinen auf zwei Arten von Quellen zurückzugehen – zum einen kommen sie von dem, was umherstehende Menschen gerade verzehren, zum anderen von den Buden, in denen in meiner Nähe gerade etwas gebacken, frittiert oder auf andere Weise zubereitet wird (s. Abb. 5.2). Die Geruchseindrücke werden schlagartig gegenwärtig. Genauso verschwinden sie auch wieder in einem Nichts, und der gleichsam freigewordene Platz wird sogleich von einem anderen (schwächeren oder stärkeren) Geruch eingenommen – als würden in dieser Sub-Welt die Geruchsräume miteinander konkurrieren. Überall stehen Menschen, die Tüten leeressen, Fleischspieße abnagen und Becher austrinken. Eine Frau arbeitet sich mit einem Plastikspieß in die Tiefe einer dreieckigen Majo-Pommes-Tüte hinab, ein Mann isst in einer leicht nach vorne vorgebeugten Haltung eine Brat470 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der Frankfurter Weihnachtsmarkt

Abb. 5.2: Eine von vielen Wurstbratereien

wurst – als wollte er zum Objekt seiner Essbegierde zugleich Abstand nehmen. Ab und zu kommen Leute mit Fleischspießen vorbei, die einen halben Meter lang sind, dann andere, die ihre Einkäufe über den Platz tragen, anscheinend nur, um auf dem kürzesten Wege nach Hause oder wohin auch immer zu gelangen. Dann riecht es wieder nach einem Holzkohlefeuer und kurz darauf nach Pfannkuchen. Die lokalen Szenen des Essens und Trinkens variieren beinahe endlos. Hier scheint jeder irgendetwas aus dem unendlich breit erscheinenden Spektrum dessen, was angeboten wird, zu konsumieren. Der ganze Platz ist mit Ständen gefüllt und zugestellt – in einer gewissen Weise »besiedelt«. In jener Richtung, in der er sich in einer unsagbaren Dichte fortzusetzen und sogleich auch zu verlieren scheint, kündigt sich trotzdem nichts von einem Ende seiner Ausdehnung an. Was man hier üblicherweise als »Stände« bezeichnet, sind improvisierte Hütten, oft nur aus Brettern zusammengeschraubt. Der provisorische Charakter wird mit Tannengrün, blinkenden Figuren, Lichterketten, bunten Tüchern und allen möglichen Dekorationselementen vertuscht. Eine heterogene Lichterflut durchströmt 471 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Weihnachtsmärkte

das Bild dieser temporären Architektur eines reinen Durcheinanders. Nebeneinander stehen Wurst-, Pommes-, Strickjacken-, Wollmützen-, Gebrannte-Mandel-Hütten und so weiter. Mitunter stehen die »Häuser« in zwei Reihen unmittelbar hintereinander, je nachdem, wie viel Raum der Platz gerade bietet. Im Hintergrund ragt der postmoderne Nextower am Thurn und Taxis Platz empor – in einen Himmel, in dem in der symbolischen Welt eines Weihnachtsmarktes für solche Bauten gar kein Platz ist. Gerade diese sich perspektivisch ineinander schiebenden Bilder geben unübersehbar zu verstehen, dass höchst fremde Welten mehr ineinander als nebeneinander liegen. Indem die Menschen ganz selbstverständlich durch beide laufen, synchronisieren sie in ihrem Bewegungsfluss das Heterogene zu einem gebrochenen Ganzen. Hier laufen sie alle herum – die Wurstesser und Glühweintrinker, die formell gekleideten Büro- und eiligen Stadtmenschen, die Städtetouristen und die Betriebsausflügler. Alle geben sich ebenso schlagartig zu erkennen wie die sich vermischenden Bilder- und Geruchswelten. Die meisten von ihnen haben ihren je eigenen Bewegungshabitus. Die einen gehen und stehen, die anderen gehen nur, und dies tun sie langsam und meistens nicht allein. In wenigen Gesichtern sieht man wiederum ein konzentriertes Bemühen um Abschirmung gegenüber dem Spektakel des Marktes. – Zwischen Katharinenkirche und einer großen Sparkassenfiliale parkt eine dunkelblauer Kleinlaster von PROSEGUR. Während die weihnachtliche Hütten-Architektur in ihrer Sinnlichkeit und Ästhetik auf atmosphärische Eindrücklichkeit getrimmt ist, herrscht auf den Rückseiten der Hütten die blanke Öde. Hier schlagen zwei Marktwelten schroff aufeinander – im Allgemeinen jedoch auf unbemerkte Weise, weil sich die meisten Menschen von den rückseitigen Orten fernhalten. Hinter den Buden öffnen sich atmosphärisch eindringliche Leerräume, die zugleich eine funktionale Schattenwelt der aufgebauten Markt-Szenerie offenbaren. Abflussrohre, Stromkabel, Reste verbauter Bretter und andere Dinge liegen unverdeckt auf dem Boden. Dennoch wird alles, was nicht ins Bild des Weihnachtsmarktes passt, selbst auf diesen schäbigen Rückseiten provisorisch (obwohl meistens vergeblich) ins weihnachtliche Bild einzukitten versucht. Um in der Mitte des sentimentalen Affekt-Milieus das ästhetisch Sperrige der Wahrnehmung gegenüber zu anästhesieren, wird ein halbherzig betriebener, kläglich scheiternder Aufwand getrieben: ein goldener Stern oder eine rote Plastik-Schleife 472 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der Frankfurter Weihnachtsmarkt

Abb. 5.3: Leerräume auf den Rückseiten der Buden

– das sind die geradezu zwanghaften Illusionsmedien, die vor einer kahlen Bretterwand an einem Nagel baumeln (s. Abb. 5.3). Die Retusche wirkt eher schlecht als gut, aber es muss nicht besser gehen, weil diese Kehrseiten und »Ränder« ohnehin beinahe von niemandem beachtet werden. Dennoch scheinen gerade diese ästhetischen Brachen für einige Menschen als Rückzugsräume attraktiv zu sein: Auf einer daliegenden Palette sitzt ein junger Mann und isst etwas und an einem Schaltkasten lehnt ein Pärchen. Ein Rettungswagen fährt langsam rückwärts auf einen freien Platz neben der Katharinenkirche; ein Sanitätsanhänger steht schon da. Auch in dieser äußerst nüchternen, beinahe klinischen Szene setzt sich der Inszenierungs-Charakter des Weihnachtsmarktes ins Bild, hält er doch – vielleicht eher zu fortgeschrittener Stunde des späten Abends – auch eine dystopische Seite bereit, eine Wirklichkeit, in der medizinische Soforthilfe zur Stelle sein muss. Das Spektakel des Weihnachtsmarktes impliziert prekäre Situationen, die einer externen und schnellen Intervention bedürfen. Darauf weist nicht zuletzt eine hohe Polizeipräsenz hin. Auf der dem Kaufhof zugewandten Seite der Hütten steht ein in seinem Erscheinen eher außergewöhnliches architektonisches Gebilde – es ist eigentlich eher ein Haus als eine Bude oder ein Stand. 473 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Weihnachtsmärkte

Abb. 5.4: Honighaus vor dem Kaufhaus Galeria Kaufhof

An der Fassade steht »Wagners Honighaus« (s. Abb. 5.4). Es sieht aus wie ein ganz »normales« Fachwerkhaus, dessen massive Außenwände von dicken Maschinenschrauben zusammengehalten werden. Das Dach besteht nicht wie bei vielen Hütten aus einfachen Brettern oder einer Plane gegen den Regen; es ist ein Giebeldach, das für das temporäre Spektakel sogar mit »echten« Dachpfannen eingedeckt ist. Dieses Haus spitzt auf eindrückliche Weise den Inszenierungs-Charakter des Weihnachtsmarktes zu. Der Honig, den man (neben Wein und höherprozentigem Alkohol) kaufen kann, passt in seiner Symbolik weniger in den weihnachtlichen Bedeutungskosmos, als wegen der ans leibliche Spüren appellierenden sinnlichen Eindrücke des Honigs. Was ihm synästhetisch anhaftet – das Weiche, das Süße, das Warme und das (aus in seiner Naturherkunft verklärte) »Gute« – macht den Honig zu einem Medium des Weihnachtlichen par excellence. Das Haus wirkt auf mich wie eine Insel innerhalb einer riesigen im Raum ausgedehnten Quasi-Heterotopie, wie eine Insel vom Charakter einer russischen Puppe. 474 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der Frankfurter Weihnachtsmarkt

Abb. 5.5: Abbruchstelle Zeilgalerie – unter dem Scheinwerfer

Schräg hinter dem Honighaus fällt in der geschlossenen Reihe von Architekturfassaden eine Lücke auf, die im glamourösen Gesicht der hyperästhetisierten Stadt den Charakter einer offenen Wunde hat (s. Abb. 5.5). Es ist die »Baustelle« des fast vollendeten Abbruchs der Zeilgalerie, eines erst 1992 eröffneten Einkaufszentrums von herausragender Extravaganz, die seinerzeit in internationalen Architekturmagazinen facettenreich kommentiert wurde. Als Beispiel des »Hyperraums« wurde es in architekturtheoretischen Essays zahl- und variantenreich besprochen. Schon nach knapp 25 Jahren ist seine Zeit nun vorbei. Wegwerf-Architektur hinter einem Meer temporärer Improvisations-Bauten – ein bizarres Zerrbild turbokapitalistischen Immobilien-Recyclings in der Kulisse eines romantizistischen Gefühlsmarktes. Die Collage der sich im realen Bild der Stadt ausdrückenden ökonomischen Kräfteverhältnisse erinnert an eine russische Puppe. Nur liegen die pluralen Welten nicht ineinander wie säuberlich getrennte Hohlkörper; sie sind in einem konfliktiven und widersprüchlichen Verhältnis zueinander gelagert. Unter dem Druck aktueller ästhetischer Konkurrenzen süßlicher Milieus der Verführung beharrt der Eindruck des Widersprüchlichen nicht lange – und ein Duft von Würsten und Holzkohle macht die urbane Subduktionszone ebenso 475 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Weihnachtsmärkte

Abb. 5.6: »Alternative« Angebote auf dem Weihnachtsmarkt

vergessen wie der bunte Schein des Vielen – vom Schafsfell über Wachskerzen, die zu aberwitzigen Gestalten gegossen sind, bis hin zu Schaumköpfen, die früher »Negerküsse« hießen. Gleich vor der (Ab-)Baustelle der architekturhistorischen Ikone befindet sich eine Hütte, in der eine junge Frau, die ihren Säugling dabei hat, Gestricktes verkauft (s. Abb. 5.6). Jedes Detail macht einen programmatisch »alternativen« Eindruck: Strickjacken, Strickmützen, Strickschals, das alles in verwaschen fahlen Farben. Die auf Kleiderbügeln an einer Leine hängenden Jacken und Pullover sehen aus, als wären sie schon zigmal aus einer Waschmaschine gezogen worden – ausgeleiert und verzupft. (Dabei schießt mir urplötzlich die Frage in den Kopf, was man eigentlich [noch] über etwas sagen darf.) Links neben der Hütte, an deren Seitenpfosten ein einfacher, langgestreckter, vertikaler Spiegel hängt, steht eine Hütte mit der 476 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der Weihnachtsmarkt im Palais Thurn und Taxis

Aufschrift »Schokofrüchte«, die rechts daneben heißt »Knusperhaus«. – Ein Markt zum Totessen. Ab vier Uhr am Nachmittag kommen immer mehr Gruppen, die sich an Tischen vor den Ständen und Hütten zusammenstellen, aus bunten Pfand-Bechern heißen Glühwein trinken und sich mit offensichtlich großer emotionaler Investition an Fröhlichkeit eines gerade spürbar werdenden Gefühls von Gemeinschaft vergewissern.

5.2 Der Weihnachtsmarkt im Palais Thurn und Taxis Parallel zum großen Frankfurter Weihnachtsmarkt gibt es, nur rund 100 Meter vom Platz an der Hauptwache entfernt, im Palais Thurn und Taxis eine »besondere« Veranstaltung im Spektrum vorweihnachtlicher Events. Der sich eher exklusiv als gewöhnlich präsentierende Markt wird über die Internet-Seite des Shopping-Center MyZeil als »zauberhafter Weihnachtsmarkt« vorgestellt und beworben. Dort heißt es unter anderem: »Der Innenhof des Thurn & Taxis Palais ist eine eingeführte Location in Herzen Frankfurts. Der Weihnachtsmarkt findet dieses Jahr zum vierten Mal in Folge statt und ist Teil des weihnachtlichen Ambientes des Palais Quartiers, bestehend aus MyZeil, Jumeirah, Palais Thurn & Taxis sowie dem Nextower. Eine Besonderheit: Der Weihnachtsmarkt im Innenhof des Palais ist nicht an die Öffnungszeiten des Frankfurter Weihnachtsmarktes gebunden.« 3

Der Ort liegt zwar unmittelbar neben dem zentralen innerstädtischen Platz an der Hauptwache; jedoch gibt es außer dem saisonalen Anlass und einem daraus resultierenden allgemeinen Programm keine Gemeinsamkeiten. Eigenständig wie eigenartig ist dieser Weihnachtsmarkt aber nicht nur in organisatorischer Hinsicht; auch in seinem Inszenierungs-Charakter hebt sich die spezielle »Location« vom Spektrum üblicher innerstädtischer Märkte deutlich ab.4

http://myzeil.de/?s=Weihnachtsmarkt; 30. 11. 2016. Das Gebäude wurde ursprünglich im 18. Jahrhundert errichtet und diente lange der kaiserlichen Reichspost. Zwischen 1816 und 1866 tagte darin der Bundestag des Deutschen Bundes. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Bau stark beschädigt und 1951 komplett abgerissen. Der rekonstruierende Wiederaufbau erfolgte von 2004 bis 2009 in

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Weihnachtsmärkte

Die folgende Mikrologie zum Erleben des Weihnachtsmarktes im Palais Thurn und Taxis soll – neben der Mikrologie zum mittelalterlichen Weihnachtsmarkt auf der Ronneburg (s. Kapitel 5.3) – einen Zugang zu einer Reihe spezifischer Veranstaltungsformen eröffnen, die diesen speziellen Markttyp als winterliches »Eventformat« in einem nicht-alltäglichen Licht erscheinen lässt. Die Frage nach dem Charakter sentimentalisierender Medien wird sich auf diesem Hintergrund konkretisieren und differenzieren. Die Beschreibung hat in der vorabendlichen Dunkelheit stattgefunden. 5 Den Charakter eines Weihnachtsmarktes hat dieser Veranstaltungsort an der Großen Eschenheimer Straße eigentlich nur darin, dass an den beiden seitlichen Außenwänden des Palais-Innenhofs dekorierte Stände errichtet sind und im Innenraum Tannenbäume mit Weihnachtskugeln stehen. An dem großen, sich zum Raum der Stadt hin öffnenden Portal des Gebäudes steht eine rund drei Meter hohe Lichtskulptur in der Gestalt eines Hirsches (s. Abb. 5.7). Das stilisierte, überdimensionierte Lichtwesen beeindruckt in der Dunkelheit des Abends durch die illuminativen Effekte professionell montierter Lichterketten. Symbolisch gibt die Inszenierung zu verstehen, dass die in einem »Drinnen« stattfindende Veranstaltung kein üblicher Weihnachtsmarkt ist. Dieser Eindruck verstärkt sich mit dem Eintritt in den Innenhof noch einmal. Die relativ kleine Fläche bildet mit ca. 20 � 20 Meter einen überschaubaren Raum, in dem man sich in einer beinahe persönlichen Atmosphäre findet. Der Innenhof unterscheidet sich schon dadurch von den zu allen Seiten offenen Plätzen innerstädtischer Weihnachtsmärkte im öffentlichen Stadtraum, dass der formale Eingang durch den Rundbogen eines Portals an der Großen Eschenheimer Straße führt. An der rückwärtigen Seite befindet sich über einer vierstufigen Treppe ein niedrigeres und schmaleres, für die Architektur eines Innenraumes konzipiertes Portal, das über einen kleineren hallenartigen Raum zum Thurn-und-Taxis-Platz führt. Es ist insbesondere die architektonische Rahmung, die dem Raum einen in mehrfacher Hinsicht geschlossenen Charakter verleiht. Zunächst bildet der Innenhof ein architektonisch eigenständiges Milieu, einen einem verändertem Grundriss im Rahmen des Investitionsprojektes Palais Quartier; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Palais_Thurn_und_Taxis; 12. 05. 217. 5 Tag und Ort der Mikrologie: Palais Thurn und Taxis, Frankfurt am Main, 27. 11. 2016, 17–18 h.

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Der Weihnachtsmarkt im Palais Thurn und Taxis

Abb. 5.7: Eingangsportal ins Thurn und Taxis Palais

tatsächlich halb, atmosphärisch aber weitgehend abgeschlossenen Raum, der als eine eigene Zone vom allgemeinen großstädtischen Treiben abgetrennt ist. Der Innenraum hat den Charakter einer separierten Zone, die sich im distinktiven Stil eines »besseren« Milieus von den vorweihnachtlichen Markt-Szenerien der Stadt abhebt. Darin stehen – gleichsam rahmend – neben den beiden Portalen je zwei mit elektrischen Lichterketten und großen silbernen Kugeln geschmückte Weihnachtsbäume; ein weiterer befindet sich etwa in der Mitte der platzartigen Fläche relativ frei im Raum. Die an den Seitenwänden und den beiden Ecken zum großen Eingangsportal aufgebauten Stände bilden kein buntes Durcheinander, wie man es von den öffentlichen Weihnachtsmärkten mit ihren vielfarbigen und physiognomisch so unterschiedlichen Buden kennt. Hier sehen alle Stände ähnlich aus. Sie haben beinahe gleiche Lichterketten-Dekorationen auf den flachwinkligen Satteldächern und nicht wie üblich an den Giebeln oder Seitenwänden. Es entsteht der Eindruck, als wären die Häuschen mit einem Licht-Teppich bedeckt, der an die bildliche Gestalt einer Schneedecke erinnert (s. Abb. 5.8). Im offenen Raum befinden sich zahlreiche Stehtische, an denen sich die Besucher mit einem Imbiss oder Getränk aufhalten. Der schon durch die Architektur des Gebäudes bedingte Innenraum-Effekt wird dadurch noch einmal unterstrichen, dass eine bewegte Illumination mit stilisierten (Weihnachts-)Sternen an der Fassade des Palais in 479 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Weihnachtsmärkte

Abb. 5.8: Verkaufsbuden und Lichtspiele auf der Fassade des Palais

einer langsam und regelmäßig wiederkehrenden Folge vorüberzieht; die Inszenierung bezieht das rahmende Gebäude auf lebendige Weise in das atmosphärische Programm des Weihnachtsmarktes ein. So wird der Eindruck eines sich im Hintergrund kalt in der Dunkelheit verlierenden Bauwerks vermieden, auch wenn dessen Höhe mit zweieinhalb schlossartigen Geschossen eher niedrig ist. Die Bewegungsrhythmik des Lichts verbindet sich mit einer komplementären Dynamik musikalischer Klänge. In einem klanglich gerade eben vernehmbaren Hintergrund sind US-amerikanische Weihnachtslieder zu hören; neben Vokalstimmen heben sich vor allem Streicher hervor – eigentlich vermischen sich die Klänge mehr mit den Stimmen und Geräuschen im Innenhof, als dass sie im engeren Sinne heraustreten würden; die eingestellte Lautstärke soll ganz offensichtlich nicht mehr als einen stilvollen, aber zurückgesetzten Hintergrund schaffen. Neben dem auf allen Märkten dieser Art üblichen Punsch fallen exotisch anmutende Angebote auf: afrikanische Spezialitäten, belgische Waffeln, Eintopf u. a. Die Gerüche spiegeln die Imbiss-Angebote der Stände wider und unterscheiden sich von den Duftwolken üblicher Weihnachtsmärkte. Mal riecht es nach Curry, dann nach Zimt,

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Der Weihnachtsmarkt im Palais Thurn und Taxis

Abb. 5.9: Innenraum über Zugang von der Straße (s. hinten) erschlossen

Nelken und Glühwein – je nachdem, welcher Stand mit seinen speziellen Angeboten gerade in der Nähe ist. Die sich hier aufhaltenden Menschen kommen paarweise oder in kleinen Gruppen und sind überwiegend leise; die meisten sind in Gespräche verwickelt (s. Abb. 5.9); die Lautstärke scheint auf die Würde des historisch wirkenden Ensembles Rücksicht zu nehmen, jedenfalls dominieren keine übermäßig lauten (Einzel-)Stimmen, Rufe oder andere lautliche Äußerungen. Die meisten Menschen sind jüngeren bis mittleren Alters. Viele machen den Eindruck, als kämen sie aus der Bürowelt der Main-Metropole; es sind unterschiedliche Fremdsprachen zu hören. Die Besucher des Marktes sind mehrheitlich gut gekleidet; Turnschuhe sind hier seltener zu sehen als im öffentlichen Stadtraum sonst üblich. Die Architektur des Palais sticht in einer beinahe aristokratischen Atmosphäre hervor; der Raum-Eindruck bleibt zwischen einem reinen Drinnen und Draußen auf dem Grat. Die Zone des Palais hebt sich in der Mitte der Stadt als räumliche, insbesondere aber als atmosphärische Insel hervor. Wenn am Eingang auch keine Personenkontrollen durchgeführt werden, so gibt sich dieser »andere« Weih-

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Weihnachtsmärkte

nachtsmarkt doch nicht als Milieu der Inklusion zu verstehen, sondern als eine sozial entmischte Welt.

5.3 Der Weihnachtsmarkt auf der Ronneburg Der Weihnachtsmarkt auf der Ronneburg (im hessischen Main-Kinzig-Kreis) ist in gewisser Weise Teil eines museumspädagogischen Arrangements und ergänzt (als Event) das Programm des Burgmuseums. Er findet an drei Adventswochenenden ab Ende November statt. Der Markt geht in seinem Angebot über das gewohnte Spektrum üblicher Weihnachtsmärkte hinaus. Zum Programm gehören unter anderem besondere Aufführungen wie Auftritte von Harfenspielern, Minnesängern, Feuerspuckern und Gauklern. An jedem der Veranstaltungstage wird außerdem ein Krippenspiel präsentiert. Die Initiatoren des Historien-Marktes heben in der Bewerbung des im Sinne des Wortes eigenartigen Weihnachtsmarktes unter anderem hervor: »Neben vielen weihnachtlichen Dingen wie Krippenfiguren, Holzspielzeug, Weihnachtsschmuck aus Thüringen, dem Erzgebirge oder aus böhmischen Landen, die angeboten werden, trifft man viele Handwerker auf der Burg: Glasbläser, Keramiker, Korbflechter, Spinnerin, Gold- und Silberschmiede, Drechsler, Holzschnitzer, Ledermacher, Wollefärber und Kräuterfrauen führen ihre Tätigkeiten vor und bieten ihre Waren feil. Messer- und Helmschmiede formen mit kräftigen Schlägen im Rauch der Esse glühendes Eisen auf dem Amboss.« 6

Die Ronneburger Veranstaltung hat im Rahmen dieser Studie insofern einen exemplarischen Charakter, als sie für den allgemeinen Typ mittelalterlicher (Weihnachts-)Märkte steht, der in vielen Ländern 7 auch außerhalb Deutschlands arrangiert wird. Die hessische Ronneburg bietet sich vor der Kulisse einer im 13. Jahrhundert errichteten und gut erhaltenen Burganlage idealerweise für die Ausrichtung eines mittelalterlichen Historienfestes an. Die Burg steht auf einem Basaltfelsen des südlichen Vogelsberges und diente ursprünglich dem Schutz von Handelsstraßen sowie der Sicherung und Verteidigung des Territoriums. Mittelalterliche Bauformen vermischen sich mit Freunde der Ronneburg e. V.: Historischer Weihnachtsmarkt; http://www.burgronneburg.de/historischer-weihnachtsmarkt/; 30. 11. 2016. 7 Vgl. http://www.deutsche-weihnachtsmaerkte.de/Impressum.html; 30. 11. 2016. 6

482 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Der Weihnachtsmarkt auf der Ronneburg

Abb. 5.10: Mittelalter-Zelte in einem der Innenhöfe der Burganlage

solchen der Renaissance. Bauherren waren die Grafen von YsenburgRonneburg; heute gehört die Anlage dem Fürsten zu YsenburgBüdingen. 8 Die Bewirtschaftung der Kernburg obliegt seit dem Jahre 2000 den Freunden der Ronneburg e. V. Der Verein unterhält auch das Burgmuseum, organisiert kulturelle Events und ist für die Sicherstellung notwendiger Restaurierungs- und Sanierungsarbeiten zuständig. 9 Die folgenden mikrologischen Beobachtungen wurden an einem Nachmittag notiert. 10 Besondere Aufführungen haben zu dieser Zeit nicht stattgefunden. In verschiedenen Innenhöfen der im Relief des Ronneburger Hügellandes aufsteigenden Anlage der Höhenburg sowie auf den inneren Wegen und Plätzen stehen zahlreiche Verkaufsstände (s. Abb. 5.10). Sie sind aus rohen, aus dem Stamm geschnittenen Brettern zusammengezimmert. Die meisten haben ein blass-farbenes Zeltdach, das vorne mit dekorativen Borten abgeschlossen ist und einladend wirkt. Vgl. http://schloesser.gnm.de/wiki/Ronneburg,_Burg; 30. 11. 2016. Vg l. http://www.burg-ronneburg.de/die-burg/; 30. 11. 2016. 10 Ort und Zeit der Mikrologie: Ronneburg bei Altwiedermus (Main-Kinzig-Kreis, Hessen), 27. 11. 2916 | 14:00 bis 15:30 h. 8 9

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Weihnachtsmärkte

Die Architektur der Hütten ist einfach, umso mehr aber (und mehr noch bei sogenannten »Mittelalterzelten«) in ihrem historischen Charakter betont. Der Boden aller Wege und Plätze ist mit Stroh bedeckt. Dadurch entsteht ein ganz eigener Raum-Charakter. Die »gemütlich« wirkende Art der Bodenbedeckung trägt zur atmosphärischen Rahmung des Raumes bei und macht ihn noch mehr zu etwas Besonderem. Die locker aufgetragene Strohschicht ist in ihrem visuellen wie taktilen Eindruck ungewöhnlich. Man geht auf dem Stroh leise und weich; helle Farbe und lockere Struktur erzeugen eine warme Atmosphäre. An den Zelten wird verkauft, was atmosphärisch zur mittelalterlichen Szenerie »passt«: Fladenbrot, Reibekuchen, Fleischkäse, Kürbissuppe, Wild-Bratwurst, Knoblauch-Baguette, Maronen, Glühwein, Kinder-Punsch, Stockbrot, Apfelkringel, Wein, Likör, Würste, schottische Teigwaren und Schinken sowie diverse Dinge (auch des täglichen Gebrauchs), die ihrerseits in einem Bezug zum Mittelalter stehen: Dolche (metallene und hölzerne für Kinder), Messer, Pfeil und Bogen, Schafsfelle, Tongefäße, Strickjacken und -mützen mit

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Der Weihnachtsmarkt auf der Ronneburg

Abb. 5.11 und 5.12: Verkaufsstände auf dem Historienmarkt in der Burganlage

Traditionsmustern, Schmuck, Schnitzereien, Mittelalter-Kleidung und vieles andere (s. Abb. 5.11 und 5.12). Die Welt dieses Marktes wird atmosphärisch von historistischen Inszenierungen bestimmt. Die Kulisse der Burganlage spielt eine geradezu tragende Rolle. Die Geräuschkulisse wird von Stimmengewirr bestimmt, vor allem von Kinderrufen und -schreien. Das ganze Arrangement macht allerdings mehr den Eindruck eines Historien-Events zum Leben im Mittelalter als den eines Weihnachtsmarktes. In dem oberen Burghof neben dem Zugang zum Bergfried sind die Fenster eines Traktes der Hauptburg von innen mit Weihnachtssternen aus buntem Papier beklebt (s. Abb. 5.13). Ich empfinde die Dekoration als atmosphärischen Bruch bzw. Verwischung der Situation eines historischen Ortes mit weihnachtlichen Atmosphären. Schon in der Symbolik der Sterne insistiert das Programm des Weihnachtsmarktes. Auf einem der inneren Burghöfe werden in zwei Zelten, die gleich unter einem Wehrgang stehen, mittelalterliche Umhänge, Jacken, Hosengürtel, Hüte und andere Kleidungsstücke verkauft. In einer Ecke zwischen Wehrgang und Wirtschaftsgebäude liegen zwei Schafe hinter einem Holzgatter im Stroh; der schwach vernehmbare Geruch der Tiere unterstützt die historische Atmosphäre. 485 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Weihnachtsmärkte

Abb. 5.13: Weihnachtliche Fensterdekoration

Der größte Veranstaltungsplatz des Marktes liegt außerhalb der Burganlage direkt unter der Hauptburg. Deren nahe Kulisse stimmt das Erlebnisbild eindrucksmächtig (s. Abb. 5.14). In der Mitte des Platzes steht ein Kinderkarussell. Es ist aus Holz, Eisenstangen sowie Seilen gebaut und fügt sich (als etwas technisch Einfaches) in das Milieu des »Alten« und »Authentischen« ein. Die gesamte Hüttenund Zeltarchitektur präsentiert sich in einem historisierten Gesicht. Wenn die Veranstaltung nicht zuletzt einen kommerziellen Charakter 11 hat, drängt sich der Markt doch nicht in einem spektakelhaften Gesicht auf, wenngleich er in seiner Eigenart doch spektakulär ist (s. Abb. 5.15). Je nachdem, wo man sich auf dem verzweigten Gelände oder auch auf der großen offenen Fläche des Hauptplatzes unter der Burganlage befindet, wechseln die Gerüche zwischen Curry, allem möglichen und vor allem – in der Nähe etlicher Holzkohlefeuer und Backöfen – rauchiger Luft. Hier und da riecht es angebrannt, ohne dass man in der Nähe einen Ofen sähe; manchmal wehen merkwürdig teigige Duftschwaden vorüber.

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Parkgebühren 4 Euro zzgl. 6 Euro Eintritt für einen Erwachsenen.

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Der Weihnachtsmarkt auf der Ronneburg

Abb. 5.14: Akteure des Burgmuseums vor der Burgkulisse

Abb. 5.15: Karussell (hinten links) und Verkaufsstände auf dem Platz unter der Burganlage

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Weihnachtsmärkte

Auf dem Markt sind keine Gruppen von Betriebsausflügen unterwegs, die man oft an einem gewissen Horden-Habitus erkennt; meistens bewegen sich auf dem Gelände Familien mit Kindern, daneben gibt es viele Paare und kleinere Gruppen unterschiedlichen Alters.

5.4 Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten Auf keinem Wochen-, Blumen oder Fischmarkt gibt es nur eine Atmosphäre. Auch die der Weihnachtsmärkte variiert je nach lokalen Gegebenheiten in ihrer Eigenart. Zudem umfasst eine Atmosphäre oft weitere, die meistens auf schwer erkennbare Weise ineinander verschachtelt sind. Es wird unter anderem Aufgabe dieses Kapitels sein, die Beziehungen und Wirkungsweisen atmosphärischer Vitalqualitäten und die sich autopoietisch einstellende Synchronisierung im Raum anstehender Situationen verständlich zu machen. In aller Regel stehen Atmosphären in einem pluralen Sinne in herumwirklichen Milieus an. Sie sind dann auf diffuse Weise aufeinander bezogen und gehen (in aller Regel) in harmonistischen Vitalqualitäten auf. Sie können jedoch auch spannungsreich zueinander stehen. Das schließt die Möglichkeit der Wahrnehmung einer dominierenden Atmosphäre mit einem Schlage nicht aus. So drängt sich auch am Beispiel der drei vorangestellten Mikrologien je ein bestimmender Charakter schon unmittelbar mit dem Eintreten in den Raum der jeweiligen Märkte auf. In der Mikrologie zum großen Frankfurter Weihnachtsmarkt (s. Kapitel 5.1) ist dies der Eindruck einer gewissen Volkstümlichkeit, der alle anderen in diesem Raum spürbaren Vitalqualitäten in gewisser Weise aufsaugt. Auch der kleinere und viel persönlicher wirkende Markt im Palais Thurn und Taxis (s. Kapitel 5.2) wird nicht in erster Linie in seiner überschaubaren architektonischen Ordnung erlebt, sondern als Milieu der Exklusivität. Der mittelalterliche Markt auf der Ronneburg (s. Kapitel 5.3) beeindruckt dagegen durch eine geradezu immersiv spürbare historistische Atmosphäre. Alle drei Märkte hatten einen Ortsgeist (einen genius loci), der die affektive Ladung eines Marktes zu spüren gab. Was Nietzsche über sich im Zeitgeist ankündigende Stimmungen sagte, lässt sich auch für die temporäre Wirklichkeit der Weihnachtsmärkte sagen: Sie haben ihren je eigenen, eben situationsspezi488 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten

fischen »Geruch« 12. Während ich in Kapitel 5.4.5 noch auf die besondere Bedeutung der Gerüche im olfaktorischen Sinne zu sprechen kommen werde, fällt an dieser Stelle auf, dass das Wort »Geruch« in einem synästhetischen Sinne für ein diffuses Gegenwärtig-Sein gebraucht wird. Was man nur riechen kann, stellt sich weitaus undeutlicher und schwerer bestimmbar dar als etwas Sichtbares. Gesehenes kann vergegenständlicht werden, Gerochenes bleibt im Sinne des Wortes unfassbar, wolkig und flüchtig. Dieser Gebrauch des Wortes »Geruch« entspricht in seiner Bedeutung ganz dem, was später »Atmosphäre« heißen wird. In einem Geruch, wie Nietzsche ihn meint, gehen – wenn wir den Begriff auf die Situation eines Weihnachtsmarktes übertragen – viele ihrerseits kaum genau benennbare Situationen in einer Einheit auf: unter anderem kulturelle Traditionen, die in einem festlichen Rahmen gelebt werden und der symbolischen Ordnung von Zeitabschnitten des Jahres dienen. Mythisch und symbolisch sind nicht nur die Jahreszeiten des Klimas und des Wetters ordnungsbedürftig, sondern auch das in religiöse Phasen eingeteilte Jahr, das durch Unterbrechungen der Dauer der dahinrinnenden Zeit eine rituell erlebbare Zeitstrukturierung erfährt. 13 Von besonderer Bedeutung sind die aus der christlichen Mythologie stammenden Feste, die auch in säkularen Gesellschaften noch signifikante Zeiteinschnitte bedeuten. Neben Ostern, Pfingsten und Karneval hat das Weihnachtsfest die Funktion, den selbstverständlichen Lauf der Zeit zu unterbrechen und das Zeiterleben mit Affekten aufzuladen, die es im Alltag nicht gibt. Die Art und Weise, wie sich solch rituelle Erfahrungen als Ganzes darstellen, drückt sich in einem atmosphärischen »Gesicht« aus, das man in der Zelebrierung der Feste erfährt und mit einem Schlage wahrnehmen kann, ohne dass man erst zahllose Teilsituationen segmentieren, verstehen und in ihrer inneren Verfugung untereinander analysieren müsste. Aufgrund der traditionellen Regulierung seiner Praktiken und zyklisch geordneten Rituale schafft das Fest die nötige Kontingenz. Feste werden nicht aus der Situation persönlicher Isolation erlebt, sondern im sozialen Resonanzraum von Gemeinschaften. »Wahrlich, eine Stätte der Genesung soll noch die Erde werden! Und schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein Heil bringender, – und eine neue Hoffnung!« Nietzsche, Sämtliche Werke, Band 4, S. 101. 13 Vgl. Kasper, Lexikon für Theologie und Kirche, dritter Band, S. 1250. 12

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Weihnachtsmärkte

Und so waren auf allen drei Weihnachtsmärkten soziale Formationen erkennbar, die auf je eigene Weise Prozesse der Vergemeinschaftung begleitet und vermittelt haben. Auf dem großen Frankfurter Weihnachtsmarkt waren es die inselartig vor den Buden an Tischen stehenden Gruppen, die je für sich in der Masse ähnlich Gestimmter das Erleben von Gefühlen gemeinschaftlicher Verbundenheit gesucht haben. Nicht zufällig sind gerade die Weihnachtsmärkte bevorzugte Ausflugsziele von Firmenbelegschaften. Es darf nicht übersehen werden, dass unter der neoliberalen Bedingung der Beschleunigung, Funktionalisierung, Konkurrenzorientierung und Effektivitätssteigerung aller Formen betrieblicher Kommunikation Gefühle der Gemeinschaft allzu leicht zersplissen werden, sodass es sich anbietet, einschlägige Verluste, allzumal anlässlich sentimentalistisch überhöhter Weihnachtsmythen in einem rituellen Sinne kompensationspsychologisch aufzufüllen. Die räumliche, dingliche, soziale und performative Vielfalt des großen Weihnachtsmarktes hat die im sozialen Feld anstehenden Figurationen des Gemeinschaftlichen nicht zuletzt aber auch in ästhetischen Spannungen vor Augen geführt, wonach die Schauseiten turbulenten Treibens auch ihre anästhetischen Kehrseiten hatten – Abfallflächen, leere Räume, mikrologische Brachen. Hier gab es keine Bemühungen um die Verklammerung von Gemeinschaften, schon gar keine ästhetisierenden Exzesse. An den rückseitigen Orten lief das ästhetische »Gestell« des Weihnachtsmarktes leer. Indes boten sich noch diese Abfall-Orte als Rückzugsnischen für die kontemplative oder wie auch immer motivierte Vereinzelung an. Auf dem Weihnachtsmarkt im Palais Thurn und Taxis hatte die Bildung von Gemeinschaften einen eher privativen Charakter; der innere Platz des Palais bot sich als Rückzugsraum für das unauffällige und eher leise Zusammen-Sein an Orten des Gesprächs oder gemeinsamen Imbiss’ an. So zeigten sich in diesem ganz eigenen architektonischen Milieu auch ganz andere Formen der Gemeinschaft als auf dem großen sich bis zum Main erstreckenden Megaevent der Stadt Frankfurt. Die Konstitution einer »separierten« Atmosphäre verdankte sich innerhalb der architektonischen Innenhof-Insel der Aneignung einer Enklave der Ruhe im lauten Stadtraum, einem Raum temporär gelebter Segregation und Exklusion. Abermals anderen Charakter hatte die Gemeinschaftsbildung im historistischen Rahmen der Mittelalter-Veranstaltung auf der Ronneburg. Dieser Ort hat die Aufmerksamkeit auf einer gegenständlichen 490 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten

Abb. 5.16: Kommunale Weihnachtsbeleuchtung vor der Alten Oper in Frankfurt am Main

Ebene veranschaulichter Geschichte in einer Weise beansprucht, dass er sich kaum als Kulisse für das soziale Programm der Konstruktion wie Stabilisierung betrieblicher oder anderer eher förmlich zusammengehaltener Gemeinschaften angeboten hatte. Unter der Burg haben sich vornehmlich familiäre Gemeinschaften (mit Kindern) eingefunden, um eine gemeinsame Zeit in der exotischen wie exzentrischen Kulisse einer mittelalterlichen Markt-Simulation zu verbringen. Bestehende Gemeinschaften werden in aller Regel nicht nur von der Atmosphäre einer gemeinsamen Situation getragen, sondern mehr noch von der affektiven Macht der Stimmungen. Deren Konstruktion stellt sich gerade in fragilen Prozessen der Gruppenbindung als besondere Aufgabe. Der sentimentale Rahmen der Weihnachtsmärkte kommt der Vermittlung von Stimmungen aufgrund seiner Ladung mit mythisch idealisierten Gefühlen und Bedeutungen in besonderer Weise entgegen. »Weihnachtsmärkte mit Musik und Turmblasen, Krippen, Riesenbäumen und Kunstgewerbe vermitteln heute das Bild historischer Weihnachten, wirken als Stimmungsmacher und Stadtmarketing.« 14 Ihr atmosphärisches Programm setzt sich 14

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Weihnachtsmärkte

Abb. 5.17: Betriebliche Weihnachtsbeleuchtung des Londoner Luxuskaufhauses Barons & Bastards (Filiale Frankfurt am Main)

aber nur dann über die persönliche Affizierung auch in eine gemeinschaftliche Stimmung um, wenn die affektiv bindenden Medien stark genug sind, um über Trennendes hinwegzutäuschen. Der Begriff der Gemeinschaft streicht seit Tönnies 15 im Unterschied zu »Gesellschaft« das affektiv Verbindende heraus. Dagegen hält der Volkskundler Hermann Bausinger den Begriff der Gemeinschaft für unbrauchbar, »weil er aus einer mehr oder weniger wehmütigen Rückblicksperspektive ›gesellschaftlichen‹ Lebens vergangene Sozialformen entproblematisiert, überhöht, zumindest mit einer eindeutig positiven Aura versieht.« 16 Für Bausinger ist der Begriff der Gemeinschaft eine anachronistisch verfärbte volkskundliche Kategorie. Er dürfte dabei (unter dem ideologischen Druck der 1970er Jahre) übersehen haben, dass sich Gemeinschaft als anthropologisches Moment in sozialen Beziehungen immer wieder aufs Neue herausbildet, Menschen zumindest danach streben, vergemeinschaftende Milieus der Vertrautheit herzustellen. In High-Tech-Zeiten postmoderner Gesellschaften sind es nicht zuletzt datentechnisch abstrakt erscheinende Internetportale, in denen sich (über »Face-

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Im Sinne von Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Bausinger, Volkskunde, S. 96/98.

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Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten

book« oder andere sogenannte »soziale Netzwerke«) posttraditionelle Gemeinschaften bilden. In den folgenden Unterkapiteln wird sich zeigen lassen, in welcher Weise diese Atmosphären konstruiert und dargeboten werden und welche Medien dabei entscheidende Rollen spielen. Zunächst wird der besonderen Raumqualität der Weihnachtsmärkte eine herausgehobene Aufmerksamkeit zu widmen sein, handelt es sich bei diesen »Märkten« doch um temporär begrenzte Veranstaltungen, die einen tatsächlichen Raum in Anspruch nehmen, der außerhalb ihrer Zeit anderen Nutzungen zur Verfügung steht.

5.4.1 Der Raum der Weihnachtsmärkte Alles, was in Beziehung zu einem Weihnachtsmarkt steht, ist durch dessen Programmstruktur situiert. Davon sind nicht nur Dinge berührt, sondern auch Personen, die sich aus beliebigen Gründen im Raum bzw. auf dem Platz eines Weihnachtsmarktes befinden oder ihn nur überqueren. Alle Sachverhalte (was an diesem Ort ist) und Probleme (Störungen des reibungslosen Ablaufs seines Programms) stehen für die Dauer der Veranstaltung unter der Logik einer impliziten Dramaturgie. Am Beispiel des großen Frankfurter Weihnachtsmarktes sind mehrere Straßen über eine Länge von insgesamt fast 700 Metern in eine beinahe disperse Veranstaltungswelt verwandelt worden. Deren temporäre Logik bestimmt die Abläufe in einem architektonischen und institutionellen Sonderraum, der in seinem physischen Bestand aus improvisierten »Bauten« und mobilen Infrastrukturen besteht. Daraus erwächst zwangsläufig eine gewisse Ambivalenz räumlicher Situationen und Nutzungen, die meistens nicht in einem reinen Sinne, also allein von weihnachtlichen Atmosphären bestimmt werden. Da die Plätze der Märkte in den meisten Fällen dem öffentlichen Raum nur bedingt entzogen werden können, werden sie auch zu ihren »bespielten« Zeiten noch von Spuren urbanen Lebens durchströmt. Auch der Raum des Marktes im Palais Thurn und Taxis hat einen ambivalenten Charakter; zum einen gibt es ihn immer – wie die Straßen in der City, die nur im Dezember bis zum Weihnachtsfest nicht mehr allein Straßenraum im verkehrstechnischen Sinne sind, sondern zugleich Markträume. Zum anderen ist der architektonische Innenhof des Palais für einen zeitlich limitierten Zweck umgestaltet 493 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Weihnachtsmärkte

worden. Als Medien der Transformation fungieren hier wie auf anderen Weihnachtsmärkten neben zweckdienlich-neutralen Dingen im engeren Sinne (wie Buden, Zelte und technische Infrastrukturen) insbesondere dekorative Medien der Sentimentalisierung. Das sind an diesem Ort distinguierte Symbole der Exklusivität, in Gestalt von edel erscheinenden Tannenbaumkugeln und Weihnachtsbäumen sowie einer illuminierten und fragil wirkenden Hirsch-Skulptur vor dem Portal. Die Gestaltung des Raumes ist aber auch dadurch gekennzeichnet, dass sie sich in ihrem Programm in einer atmosphärischen Spannung zum unmittelbar benachbarten großen Weihnachtsmarkt im Zentrum der Stadt ausdrückt, der eher einer »Kultur der Straße« entgegenkommt. Auf ähnliche Weise verdankt sich das vor der Ronneburg inszenierte Milieu einer temporären Installation, die einen besonderen Raumcharakter erst entstehen lässt. Auch nun sind es vor allem mobile Dinge, die – symbolisch auf die Burgkulisse bezogen – eine Welt der Imagination stark machen, die es auf Weihnachtsmärkten in dieser Form und Intensität nicht gibt. Das auf allen Flächen ausgelegte Stroh trägt wesentlich zur atmosphärischen Konstruktion eines sichtbar, spürbar und mit einem eigenen Geruch imprägnierten Raumes bei. Während sich die Märkte im Palais Thurn und Taxis wie der unter der Ronneburg in ihrer ästhetischen Präsenz ganz wesentlich historischer bzw. denkmalgerecht rekonstruierter Bauten verdanken, die der Konstitution sentimentaler Atmosphären entgegenkommen, steht der große Frankfurter Markt in seinem zentralen Bereich an der Hauptwache in einem krassen Kontrast zu unübersehbaren Symbolen der beschleunigten Kreisläufe des Geldes und der Hochpotenz transnationaler ökonomischer Macht. Durch keine noch so immersive Dekoration kann die hierauf verweisende Kulisse vergessen gemacht werden, wenn sie vom stimmungsmäßig weihnachtlich berührten Marktbesucher auch übersehen werden mag. Latent ist sie das Andere dessen, was der Markt in seinen Illusionsappellen suggeriert. Und so provoziert er – wenn auch nur optional – das kritische Nachdenken über die Verfasstheit neoliberaler und zugleich postmodern ästhetisierter urbaner Glamourwelten. Wenn Weihnachtsmärkte auch keine Feste sind, sondern festvorbereitende Institutionen der stimmungsmäßigen Verdichtung von Erwartungsgefühlen, so haben sie in dieser Relation doch einen protofestlichen Charakter. Folglich gehen in den Programmen von 494 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten

Weihnachtsmärkten duale Erwartungen auf: Zum einen soll weitgehend ähnlich sein, was die Menschen aus Traditionen kennen; zum anderen soll Einiges (in dosierten Nuancen) auch anders und neu sein – damit nicht alles gleich bleibt und der Langeweile preisgegeben wird. Von gleichsam ausrichtender Funktion ist das atmosphärische Versprechen der Steigerung festlicher Vorfreude. So muss sich der Raum der Märkte als emotionales Nähr- und Näherungsmedium in einer programmatisch gewissen Offenheit bewähren und die Dauer bis zum Fest emotional intensivieren. Die sich mit dem proto-festlichen Charakter der Märkte verbindenden Erwartungen stellen insofern Ansprüche an die Gestaltung ihrer Räume, als diese nicht nur auf eine Welt christlich-mythologischer Symbole bezogen sein dürfen, sondern in modernen Gesellschaften auch auf säkulare Werte und Gefühle, welche mehr auf das Ereignis des bevorstehenden Jahreswechsels, denn auf religiöse Narrative gerichtet sind. Während in der agrarischen Gesellschaft die (vor-)weihnachtliche Zeit noch in einer Kontrastkultur zu Dunkelheit und Kälte erlebt und die Hochzeit des Winters rituell durch Verlangsamung und Verhäuslichung der Arbeit begangen wurde, verlangt die abstrakte Computer-, Maschinen- und Bürowelt der globalisierten Metropolen diese Zeremonien des Wandels nicht mehr. Gleich bzw. strukturell ähnlich geblieben sind die Topoi des so oder so erlebten Überganges am bevorstehenden Ende des Jahres und dem »Beginn« einer vielleicht anderen Zeit: das Licht, das Feiern, die Wünsche, (in der Spätmoderne oft exzessiv kommerzialisiert) das Schenken 17 und die Wärme (zu allen Zeiten nicht nur die der wohligen Temperaturen, sondern in einem synästhetischen Sinne die der Behaglichkeit und zwischenmenschlichen Nähe). Auch insofern haben die Weihnachtsmärkte einen proto-festlichen Charakter, als sich in ihrem Milieu ein Zeitfenster öffnet, in dem alles Gewesene verklärt und die Kraft eines Gemeinsamen für die Bewältigung all dessen, was noch aussteht, beschworen wird. Der Raum der Märkte muss sich in seiner Ausstattung und atmosphärischen Inszenierung als mediale Brücke der Illusionierung anbieten. 18

Vgl. Betz u. a., Religion in Geschichte und Gegenwart, Sp. 1337. Das Fest verstand sich in der Welt christlicher Normen noch als etwas dem Alltag rituell Entgegengesetztes: »Feste werden diejenigen Tage genannt, an denen die Beschäftigung mit der irdischen Berufsarbeit entweder gänzlich ruht, um derjenigen mit gottesdienstlichen Angelegenheiten Platz zu machen, oder die irdische Arbeit doch

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Weihnachtsmärkte

Das gilt noch für das Feiern, zu dessen Gelingen die Ausstattung der Orte beiträgt. Fest und Feier sind auch etymologisch verwandt. Das Fest bedeutete einen Einschnitt im Rhythmus des Naturjahres, der Wirtschaft und des Kultjahres. Dieser Bruch der Entlastung wird »durch Arbeitsruhe, Gottesdienst und Gemeinschaftsmahl hervorgehoben. Spiel, Wettkampf, Musik und Tanz gesellen sich hinzu. Trinken und Raufen beschließen nicht selten die gesteigert erlebte Befreiung aus dem Alltag und Ich.« 19 Es ist offensichtlich, dass sowohl die historische, christlich geprägte Form des Festes Ansprüche an den Raum und seine Ausstattung stellen wie auch das säkulare Event. Der Raum der Weihnachtsmärkte setzt als temporäre Wirklichkeit aber nicht nur programmgemäße Interventionen in Gestalt der Mobilisierung von Dingen voraus; die inszenierten Erlebniswelten können ihr programmatisches Ziel nur dann erreichen, wenn sie die Menschen zu affizieren vermögen und als eigene Welt der Kommunikation von Hoffnungen fungieren. Solche »Sonderwelten« konstituieren sich atmosphärisch in einer Eigenart, die Michel Foucault mit dem Begriff der Heterotopien (oder auch »anderen Räume«) 20 erfasst hat. Erst ihre ganz eigene Extraterritorialität macht die Weihnachtsmärkte zu »anderen Räumen«. Und so können sie pragmatischzweckgebunden wie symbolisch-mythisch leisten, was innerhalb aller tradierten Ordnungen der Gesellschaft nicht gelingen könnte. Die Exterritorialität anderer Räume macht Foucault an sechs Merkmalen fest. Sie sollen aus Platzgründen nur äußerst knapp erläutert werden. Erstens sind Heterotopien ubiquitär; es gibt sie in allen Gesellschaften, wie es in allen Gesellschaften Orte für die Inszenierung von Festen (je nach Kulturkreis auch Weihnachtsmärkten) gibt. Zweitens ändern sich diese Orte und die Art ihrer Inszenierung und Institutionalisierung im historischen Lauf der Zeit; so ist der Weihnachtsmarkt in der Gegenwart ein anderer als vor 200 Jahren und doch erfüllt er über die Zeiten hinweg die ihm (heterotopologisch) eigenen und damit strukturell ähnlichen Aufgaben. Drittens legt das heterotopologische Programm zwei Orte (im Sinne von Bedeutungswelten) zusammen, »die an sich unvereinbar sind.« 21

um des (gemeinsamen) Gottesdienstes willen eingeschränkt wird.« Hauck, Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, sechster Band, S. 53. 19 Erich / Beitl, Wörterbuch der Deutschen Volkskunde, S. 211. 20 Vgl. Foucault, Die Heterotopien. 21 Ebd., S. 14.

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Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten

So suggeriert sich eine Welt der Harmonie und des Friedens, die es im tatsächlichen Leben nicht gibt. Viertens sind Heterotopien heterochron, denn sie brechen mit dem Lauf der gewöhnlichen Zeitrhythmen einer Gesellschaft. Die Weihnachtsmärkte bilden zeitliche Inseln der Entspannung und der Vorfreude, während die hektischen metropolitanen Zeitrhythmen außerhalb des Geltungsraumes der Heterotopie ihrem eigenen Takt folgend weiterlaufen. Fünftens kann ein anderer Raum nicht ohne weiteres von jedermann betreten werden. Dieses Merkmal kennzeichnet indes nur die typischen Heterotopien wie Altersheim, Ferienpark oder Gefängnis, nicht aber Weihnachtsmarkt und Pfingstwiese. Gleichwohl gibt es fließende Übergänge, über die man in den Geltungsraum einer anderen Welt gelangen kann, ohne formalen Zugangsregeln folgen zu müssen. Unter strenger Anwendung der Foucault’schen Regeln stellt sich allein der weihnachtliche Historienmarkt unter der Ronneburg als »echte« Heterotopie dar, weil die Besucher dort eine Eintrittskarte kaufen und eine Eingangskontrolle passieren müssen. Sechstens erfüllen Heterotopien eine Aufgabe der Illusion bzw. Kompensation. Darin erfüllt sich ihr mythisches Programm im Allgemeinen, wie auf den Weihnachtsmärkten die Sentimentalisierung. Erst in dieser mythischen Aufgabe kommt die sozialpsychologische Funktion der Heterotopien im engeren Sinne an ihr Ziel. Diese müssen aber nicht auf Dauer bestehen. »Umgekehrt [im Unterschied zu Museen und Bibliotheken, JH] gibt es Heterotopien, die nicht im Modus der Ewigkeit, sondern in dem des Festes mit der Zeit verbunden sind: nicht ewigkeitsorientierte, sondern zeitweilige Heterotopien. Dazu gehört ganz sicher das Theater, aber auch der Jahrmarkt, dieser wunderbare leere Platz am Rande der Stadt und zuweilen auch in deren Zentrum, der sich ein oder zwei Mal im Jahr mit Buden, Ständen, den unterschiedlichsten Gegenständen, mit Faustkämpfern, Schlangenfrauen und Wahrsagerinnen füllt.« 22

Ganz in diesem Sinne sind auch die Weihnachtsmärkte temporäre Heterotopien, die ihr Narrativ allein auf befriedeten Inseln im Raum einer turbulenten Zeit, Gesellschaft und globalisierten Welt entfalten. Dabei intensiviert die Beschränkung in der Dauer die Wirkungsmacht des Mythos noch.

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Ebd., S. 16.

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Weihnachtsmärkte

Die drei Beispiele der hier vorgestellten Mikrologien bekräftigen den heterotopologischen Charakter der Weihnachtsmärkte. Wenn auf der Frankfurter Großveranstaltung vor der Hauptwache die improvisierten Buden und Hütten vor dem Hintergrund des postmodernen Nextowers und der Abbruchbaustelle der Zeilgalerie einem Bühnenbild der Illusionen gleichkommen, so streicht sich damit das heterotopologische Wesen der Weihnachtsmärkte umso mehr heraus. Die Hütten stehen zwar im tatsächlichen Raum der Stadt, aber sie repräsentieren doch einen eigenen Welt-Raum sowie eine eigene Zeit- und Weltordnung. Kaum krasser könnte die Berührung so inkommensurabler Welten anschaulich werden als im Gesicht nicht zueinander passender, in ihrer Programmatik geradezu unversöhnlicher Fassaden. Honighaus und Nextower zeigen sich in einem Bild als die charakteristischen Symbole zweier »beinahe« kollidierender Welten. Dass sie nicht tatsächlich in einem politischen Sinne kollidieren, gewährleistet das subtile und vielschichtige Programm der Heterotopien. Deshalb wäre es naiv, einen Weihnachtsmarkt allein von seiner Oberflächenästhetik her verstehen zu wollen. Er ist nicht, was er zu sein erscheint, sondern vielmehr ein situativ hochkomplex verschachteltes System dissuasiver Zumutungen. Zwar ist dieser Weihnachtsmarkt in seiner grenzenlosen Offenheit »nur« ein semi-heterotoper Raum, kann ihn doch jedermann ohne weiteres betreten und wieder verlassen. Aber auch in der Offenheit seiner Grenzen erfüllt er den ihm eigenen mythischen Zweck, vielleicht sogar noch wirksamer, als hätte er förmliche Grenzen, die allzu leicht als Barrieren empfunden werden könnten und damit das Trennende betonen würden, anstatt es zu verwischen. Ähnliches gilt im Prinzip für den Weihnachtsmarkt im Palais Thurn und Taxis. Nur drückt sich der heterotopologische Charakter dieses anderen Raumes über die relative räumliche Isolierung des Innenraumes an diesem Beispiel unmissverständlich aus, wenn der Zutritt formal auch nicht reguliert ist. Gleichwohl verlangt die eigenleibliche Bewegung durch das Portal und unter der drückenden Last des Bogens hindurch, neben einem vitalen Impuls den bewussten Entschluss, den Raum zu wechseln. Die architekturpsychologische Suggestion des relativ engen Portals (s. Abb. 5.7, S. 479) läuft im leiblichen Raumerleben auf eine Quasiregulierung hinaus, bedeutet also – je nach persönlicher Situation – Einladung oder Abweisung. Portal und Innenhof betonen in ganz anderer Weise Exklusivität und Segregation als der sich in den innerstädtischen Raum ergießende Kosmos 498 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten

aus Ständen, Hütten und Zelten »für alle«. Die steuernde Wirkung entfaltet sich dabei autopoietisch; es bedarf keiner Formalisierung von Betretungsregeln, wie sie nötig sind, um die Aufrechterhaltung der Funktionen von Altersheim oder Bibliothek zu gewährleisten. Die Regulierung erfolgt auf stummen Wegen leiblicher Kommunikation. Der Veranstaltungsort unter der Ronneburg ist im formalen Sinne ein geradezu beispielhafter anderer Raum im Sinne der Foucault’schen Heterotopologie. Der Zugang ist durch Eintrittsgelder und Zugangskontrollen reguliert und der Übertritt in die regulierte Scheinwelt des Mittelalters bedeutet einen Schnitt in die gesellschaftliche Zeit der Gegenwart. Das Einverständnis in den temporären Weltenwechsel ist vorausgesetzt. Die (heterochronen) Sehnsüchte nach einem anderen Leben erzählen sich in dieser Szenerie gleichsam von selbst; die Funktion des Ganzen bedarf des Gauklers dabei bestenfalls noch im Sinne eines beglaubigenden Akzents. Wenn der Markt unter der Burg auch der heterotopologische Ort par excellence sein mag, so ist sein Mythos doch auch allzu transparent. Im Schein der Kontrastwelten hebt sich die zurechtgemachte Sonderwelt überaus deutlich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Alltags ab. Deshalb birgt die Simulation des Mittelalters im Schein historisch eingekleideter Statisten auch etwas Brüchiges, das die mythische Essenz des anderen Raumes tendenziell in die Auflösung treibt. Was Walter Kasper über die auf eigenartige Weise sondernde Funktion der Feste sagt, spiegelt sich in jenem heterotopologischen Charakter wider, den die Weihnachtsmärkte atmosphärisch ausstrahlen: »Ebenso wird durch sie [die Feste, JH] der ungeordnete, ohne Ordnung chaotische und ohne Orientierung ungegliederte Raum durch die Mittelpunktsfunktion der Orte, an denen gefeiert wird und Feste begangen werden, zum gestalteten Kosmos.« 23 Es ist ihre Aufgabe, kosmologische Welten entstehen zu lassen, in denen die Illusionen das Realitätsprinzip – bis auf weiteres – außer Kraft setzen.

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Kasper, Lexikon für Theologie und Kirche, dritter Band, Sp. 1250.

499 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Weihnachtsmärkte

5.4.2 Dinge als atmosphärische Medien Weihnachtsmärkte verdanken sich als temporäre Veranstaltungen gänzlich der vorübergehenden Errichtung »fliegender Bauten« 24. Neben mobilen Architekturen werden alle an den zeitlich limitierten Veranstaltungsorten zum Verkauf angebotenen Waren speziell für den saisonalen Marktanlass herangeschafft. Dies ergibt sich zwar selbstverständlich aus dem Wesen von Weihnachtsmärkten, die in einem engen Zeitfenster stattfinden. Der Sachverhalt hat so zur Folge, dass Dinge neben der Infrastruktur der Märkte auch die an diesen Orten spürbaren Atmosphären »möblieren«. Dank historisierter Objekte konstituiert sich im Milieu mittelalterlicher Inszenierungen vor der Kulisse der Ronneburg eine heterochrone Atmosphäre, die sich deutlich von der der beiden anderen Märkte abhebt. Das Spektrum der historischen Dinge wird durch die Kleidung der Statisten des Burgmuseums ganz wesentlich bereichert, die auf den Wegen und Plätzen gegenwärtig sind und die Eindrucksmacht des Raumes potenzieren. Atmosphärische Medien sind daneben bauliche Artefakte und die in ihnen angebotenen Waren sowie alles, was die Erlebnisqualität des Raumes in ihrer Immersivität bekräftigt. Am Beispiel des innerstädtischen Frankfurter Weihnachtsmarktes hatten zudem extra-programmatische Dinge der Architektur (wie in die Szene »hineinragende« signifikante Bauten der Mainmetropole) einen Einfluss auf die Konstitution einer ästhetisch widersprüchlichen Markt-und Stadtatmosphäre. Alle rückseitig platzierten Dinge, die der symbolischen »Reinhaltung« der Atmosphäre des Marktes halber abgeschieden werden mussten, entfalteten im Schattenraum des Marktes eine eigene atmosphärische Macht. So erzeugten Stellwände, Zäune, Schaltkästen und eine beinahe zwanghaft ästhetisierende rote Plastikschleife eine Backstage-Atmosphäre (s. Abb. 5.3, S. 473), die den meisten Marktbesuchern gar nicht zugänglich geworden ist, sofern sie sich nicht absichtlich hinter die Bühnen des vorweihnachtlichen Spektakels in ein Milieu der Brache begeben hatten. Diese in die ästhetische Logik des Weihnachtsmarktes hineingezwungenen Gegenstände haben sich in einem doppelten Sinne als atmosphärische Medien erwiesen. Zum einen sollten sie Atmosphären, die mit denen des Marktes in einen Konflikt geraten wären, abDie Landesbauordnungen der Länder definieren die Anforderungen, die an Errichtung und Nutzung dieser mobilen bzw. temporären Bauten gestellt werden.

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500 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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schirmen. Zum anderen wurden sie aber, indem sie für diesen Zweck planmäßig eingesetzt worden sind, selbst zu atmosphärischen Medien der Überdeckung, Verkleidung und Anästhesie. Aber auch solche Dinge, die nach einer atmosphärischen Rationalität konzipiert worden sind, können sich (in der einen oder anderen subjektiven Perspektive und Erlebnisweise) als kontraproduktiv herausstellen. Was zum Gegenstand ästhetischer Planung gemacht worden ist, muss nicht schon deshalb mit dem Programm eines Ortes aufgehen. Etwas auf eine positiv affizierende Wirkung hin Entworfenes kann durchaus in der subjektiven Wahrnehmung als irritierend und verfremdend empfunden werden, wie sich das in der Mikrologie zum Mittelaltermarkt am Beispiel der von innen an die Fensterscheiben eines mehrgeschossigen Erkers der Ronneburg geklebten Weihnachtssterne (s. Abb. 5.13, S. 486) dokumentiert. Wenn sie auch die Atmosphäre des Weihnachtsmarktes »signieren« sollten, so hat der empfundene Bruch den Widerspruch doch erst herausgestrichen, der dem Ort in seiner doppelten Situation eigen war. Das gesamte Arrangement schwankte in einer eindrucksmächtigen Doppeldeutigkeit zwischen einem Weihnachts- und einem Historienmarkt. Zu einem Weihnachtsmarkt ist das inszenierte Spektakel im Prinzip erst durch eine Zuschreibung von Identität geworden. Atmosphärisch bestimmend war jedoch der Mittelaltermarkt, in dessen ästhetisches Programm sich die Sterne im Turmerker – zumindest in der dichten Beschreibung der Mikrologie – nicht fügen wollten. Solche Brüche drängten sich auf den beiden Frankfurter Märkten nicht auf. Wenn sich die Verkaufsstände im Palais Thurn und Taxis auch – für sich betrachtet – nur wenig von denen unterschieden haben, die kaum 100 Meter weiter vor der Filiale des Kaufhofs standen, so beeindruckte doch die Ähnlichkeit aller hier errichteten Hütten in der Atmosphäre einer Ordnung, die weniger für Langeweile als den distinguierten Stil temporärer »Architektur« stand; eine Reihe weiterer Dinge unterstützte die Szene, sodass ein stimmiges Ganzes entstand. Einen herausragenden Einfluss hatte neben der Architektur des Palais im engeren Sinne sein Sandsteinportal und die daneben aufgestellte illuminierte Hirschgestalt, die die Besucher in einem gestischen Sinne an einem »besonderen« Ort willkommen hieß. Zueinander »passende« Gegenstände verbinden sich im Sinne einer Synthesewirkung zu einem atmosphärischen Akkord. Was zusammen passt, wirkt auch viel weniger (einzeln) für sich als aus dem Kontext eines Ganzen, das Einzelnes zu mehr macht, als es für sich je sein 501 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Weihnachtsmärkte

könnte. Die Situation, aus der heraus sich eine Atmosphäre konstituiert oder auf die hin sie konstruiert wird, bettet Einzelnes in einen Rahmen ein, der in einem medialen Sinne eine erwünschte und letztlich affektiv ergreifende Eindrucksmacht kommuniziert. In dieser Funktionsweise sind sich die Märkte an der Ronneburg und im Palais Thurn und Taxis ähnlich. Ute Guzzoni weist in diesem Sinne darauf hin, dass Dinge stets »vor einem Hintergrund, in einem Raum des Gewohnten oder des Unvertrauten, in Kontexten von etwas, das sie hält oder in Frage stellen will« 25, erscheinen. Im Falle der Weihnachtsmärkte werden diese Hintergründe für spezifische Situationen programmiert (für eine große und diffuse »Kultur der Straße«, ein Historienspektakel oder einen Ort der Exklusion). Dies können die drei Beispiele anschaulich illustrieren. Solche Hintergründe sind auf indirekte Weise schon da, bevor der Markt im Raum errichtet wird – in Gestalt marktunabhängiger architektonischer Bühnen und Narrative mythischer Begründung für die Versammlung von Menschen im Rahmen im weiteren Sinne festlicher Anlässe. Daneben gibt es symbolische und ästhetische Ordnungen, die in der Form sozialer Erwartungen auf ein bevorstehendes Event projiziert werden. So kommen mentale Programme (als Protentionen) und tatsächlich realisierte Programme (als Muster im gebauten Raum) auf einem Platz zusammen. Eine plurale Gesellschaft bedarf zur Realisierung ihrer Feste und Feiern pluraler Orte. Menschen lernen qua Sozialisation aus Erfahrung, mit welchen Hintergründen sie in bestimmten Situationen zu rechnen haben, und so suchen sie die zu ihnen »passenden« Orte, Feste, Menschen, Dinge und Waren. Weil sich damit die Variation des Ähnlichen (allzumal in urbanen Gesellschaften) herausfordert, haben Weihnachtsmärkte trotz aller Unterschiedlichkeit doch so strukturell ähnliche Gesichter. Die hier vorgestellten Beispiele weisen allein auf drei Formen hin, die sich angesichts einer offenen Vielfalt kultureller, regionaler, nationaler, religiöser und weltanschaulicher Orientierungen beinahe ins Beliebige variieren. Programmatische Flexibilität gelingt aber nur so lange, wie die entstehenden Gestalten (unter anderem dank der verwendeten Dinge) vertraute Muster zu generieren vermögen, die in gewisser Weise einem Klischee entsprechen, das von Traditionen gedeckt wird.

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Guzzoni, Unter anderem: die Dinge, S. 24.

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Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten

Es sind nicht nur die Dinge, die als Medien der Konstruktion wie Konstitution von Atmosphären angesehen werden müssen, sondern mit mindestens ebenso großer, wenn nicht größerer Bedeutung die mit ihrer Hilfe erstellten symbolischen und ästhetischen Ordnungen. Der Markt im Palais Thurn und Taxis zeigt besonders deutlich, dass solche ortsspezifischen Gesamtkonzepte eine lenkende Macht über die soziale Zusammensetzung der sich an diesen Orten einfindenden Menschen ausüben können. Das liegt daran, dass Dinge wie die sich mit ihnen verschmelzenden Ordnungen als soziokulturell codierte Cluster wahrgenommen werden. In gewisser Weise ist das auch beim mittelalterlichen Historienmarkt nicht anders, nur fühlen sich von diesem Ort unter der Burg insbesondere familiäre Gemeinschaften (Familien mit Kindern) angesprochen und nicht exklusionswillige Individuen, die sich ihres (tatsächlichen oder vermeintlichen) sozialhierarchischen Platzes in der Gesellschaft vergewissern wollen. Mit Hermann Schmitz muss auf eine Synthese hingewiesen werden, die sich zwischen den Dingen entfaltet, wenn diese atmosphärisch in besonders immersiver Weise wirksam werden. Die in der Gegenwart simulierter Mittelalter-Zelte auf der Ronneburg von Kohleöfen aufsteigenden Rauchschwaden wirken in der Synchronisierung des Vielen zu einer historischen Szene so, wie die Dinge für sich ohne diese atmosphärische »Zugabe« nicht erscheinen könnten. Deshalb erhalten auch die temporären Marktorte samt ihrer Dinge durch den umschwebenden »Hauch« von Halbdingen (Licht, Rauch, Geruch, Klanglichkeit etc.) die sie letztlich profilierende atmosphärische Ladung, die sie im Allgemeinen oder für bestimmte Gruppen so attraktiv macht. Oft sind es Halbdinge, die auf die Konstruktion wie den Prozess der Konstitution von Atmosphären einen geradezu entscheidenden Einfluss haben. Ute Guzzoni sagt vielleicht auch deshalb, dass wir an Dingen »sinnliche Erfahrungen von Sinnlichem« 26 machen, erfassen wir doch nicht nur die Dinge sinnlich, sondern auch die Art und Weise, wie uns etwas sinnlich und atmosphärisch gegenwärtig wird. Wir erfassen es, indem es spürbar, bestenfalls sogar bewusst wird, sodass es unserem Denken dann als »Stoff« zur Verfügung steht. Es können auch disperse Dinge sein, wie das Stroh, das auf den Wegen und Plätzen der Burganlage des Historienmarktes ausgestreut war, die der in einer Gegend anstehenden Atmosphäre sogar ihre Fas26

Ebd., S. 144.

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sung geben. Wenn das Stroh seinen praktischen Zweck auch darin gehabt haben mag, den Boden bei Regen gegen die schnelle Verschlammung und Unbenutzbarkeit zu sichern, so leistet der Belag in seiner eigenartigen Gleichförmigkeit und Ähnlichkeit doch einen entscheidenden ästhetischen Beitrag im atmosphärischen Raumerleben. Es ist aber nicht nur die sichtbare Textur des Materials, die das Raumerleben stimmt; es ist auch die helle Farbe des Strohs, die im Verbund mit seiner lockeren Struktur auf dem Wege der synästhetischen Wahrnehmung einen Eindruck der Behaglichkeit weckt. Dieser wird schließlich – abermals in einem synästhetischen Sinne – noch dadurch unterstützt, dass die Schritte von dem überall ausgebreiteten Strohbett nicht nur klanglich gedämpft werden; sie fühlen sich auch weich an. Das Weiche verbindet sich bewegungssuggestiv mit dem Behagenden des Harmonischen, das dem idealisierten Bild des »guten alten« Mittelalters entgegenkommt und sich schließlich mit der Protention »warmer« weihnachtlicher Atmosphären vermischt. Die simultane Wahrnehmungs- und Erlebnisweise von Dingen und Halbdingen macht auf Grenzen gewohnter Rationalisierungen im erkennenden Umgang mit Situationen aufmerksam. Es ist uns vertraut, über das Wesen von Dingen in Aussagesätzen zu sprechen (»es ist« … dies oder jenes). Damit suggeriert sich eine Scheinverfügbarkeit, die dem atmosphärischen Sein der Dinge ganz und gar nicht entspricht. 27 Das Stroh »ist« ja in seiner konkreten Verwendung und Platzierung im Raum nicht (einfach) auf »dieses« oder »jenes« zu beschränken, es geht vielmehr in einer hochkomplexen atmosphärischen Eindruckswirklichkeit auf, die alles in diesem Raum Seiende in seinen Bann zieht. Schließlich zeigen die Mikrologien, dass uns nicht nur Menschen, sondern auch Dinge unter bestimmten Bedingungen nahe werden – nicht nur in einem räumlichen, sondern auch in einem emotionalen Sinne. Das Nahe-Kommende kann dann »in einem gemeinsamen, je so oder so gestimmten Raum« 28 eine Begegnung auslösen (s. oben), wenn es zum Medium des Nachdenkens wird, sich im Prozess der selbstverständlichen Weltnahme querstellt und zu uns »spricht«. Dabei ist vorausgesetzt, dass es weniger die Dinge für sich sind, die »ansprechen«, als die sie »einbettenden« Situationen, aus denen heraus sie im Verbund mit Halbdingen erscheinen und wahr27 28

Vgl. ebd., S. 156. Ebd., S. 129.

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genommen werden. Erst was in einem Hof von Bedeutungen nicht allein in seiner Materialität »da« ist, entfaltet die Eindrucksmacht einer Begegnung und das Potential einer davon ausgehenden Berührung.

5.4.3 Habituelle Verortungen Die Besucher der Weihnachtsmärkte waren in den drei Mikrologien stets in bestimmten persönlichen Haltungen präsent. Auf dem Platz vor dem Kaufhof waren sie anders gegenwärtig als im Innenhof des Palais und wiederum anders als auf dem Gelände der Burg. Im Anschluss an die Ausführungen in den Kapiteln 3.1.3 und 4.3.7 will ich diese Arten des So-da-Seins mit dem Begriff des Habitus beschreiben und das marktspezifische Erscheinen von Personen, die meistens in die gemeinsame Situation einer Gruppe eingebunden waren, vor diesem Hintergrund verständlich machen. In der habituellen Präsenz der Menschen scheint etwas von deren Beziehung zum jeweiligen Markt bzw. dessen besonderer Situation vor. Habitus soll im Folgenden als vielsagender leiblicher Ausdruck spezifischen Mit-Seins in Situationen verstanden werden. Zunächst ist unter den Begriff des Habitus zu subsumieren, was sich in Bewegungen zeigt. Diese stellten sich auf dem großen und sich im Stadtraum scheinbar verlierenden Markt im Bereich der Frankfurter Innenstadt anders und in vielfältigeren Gestalten dar als im Innenraum des Palais oder in dem auf einen speziellen Themenrahmen bezogenen historistischen Markt. Bewegungsmuster sind durch räumliche Ordnungen und verdeckte Bewegungsprogramme disponiert, die sich mit dem kollektiven Habitus einer Menge suggerieren. »Man« bewegt und verhält sich im eher exklusiven Milieu des Palais anders als im weitläufigen Raum des großstädtischen Marktes, der von Passanten ganz selbstverständlich als Verkehrsraum überquert wird. Solche in gewisser Weise extra-heterotopen Bewegungsmuster gab es auf den beiden anderen Märkten nicht, weil sie in ihrer dinglichen und räumlichen Ordnung programmatisch geschlossen waren. Es gab diese Räume nur in einem singulären Sinne als quasifestliche und institutionalisierte Milieus; öffentliche Wegeräume waren sie nicht. »Habitus« bedeutet im soziologischen Sinne (mit Pierre Bourdieu) aber insbesondere eine »Haltung«, die die persönliche Situation 505 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

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im hierarchischen Gefüge des vertikalen Gesellschaftsaufbaus widerspiegelt. Was hier mit Haltung in einem habitustheoretischen Verständnis gemeint ist, drückt sich im Verhalten eines Menschen auf dem Hintergrund »inkorporierter sozialer Strukturen« 29 aus. Dabei kommt es nicht allein in erster Linie auf »objektive« Stellungen an, sondern auch auf die Selbstzuschreibung von Identität und die Art und Weise, wie sich Individuen Dritten gegenüber zu erkennen geben, um in erwünschter Weise wahrgenommen zu werden. Insbesondere auf dem Markt im Innenraum des Palais kommen habituelle Praktiken milieuspezifischer Selbstverortung – jedoch in gewisser Weise fermentiert und aufgelöst – in komplexen Verhaltensmustern zur Geltung. Dabei spielt die Kleidung eine wichtige repräsentationsorientierte Rolle (weniger Turnschuhe als im öffentlichen Stadtraum üblich), daneben die Arten und Weisen, sich sprachlich-habituell (das heißt in den Formen der wörtlichen Rede gestisch, mimisch, lautlich) zu äußern. So entstand im Raum ein atmosphärisches Milieu, das eher von privativen und weniger von extrovertiert-raumgreifenden und lauten Gesten bestimmt war. Der exklusive Charakter der Veranstaltung dürfte an diesem Ort betont distinktive Formen leiblicher Kommunikation gefördert haben – im Unterschied zum großen Markt in der Innenstadt. In habituellen »Äußerungen« zeigen sich die Wurzeln der Sozialisation (nicht nur im Kindesalter) und ermöglichen anderen das »begriffslose Erkennen« 30 sozialer Orte: »Nichts vermittelt ein besseres Bild der Logik des Sozialisationsprozesses, worin der Leib als eine Art Gedächtnisstütze fungiert, als jene Komplexe aus Gesten, körperlichen Posituren und Wörtern […], in die man nur einmal wie eine Bühnenfigur eindringen muß, um sogleich kraft des evokativen Vermögens der körperlichen Mimesis eine Welt vorgefertigter Gefühle und Erfahrungen auftauchen zu sehen.« 31

Wenn Bourdieu fordert, »die Soziologie muß eine Soziologie der Perzeption der sozialen Welt umfassen« 32, so liefert die Phänomenologie in besonderer Weise die Mittel, die mikrologischen Elemente leiblicher Kommunikation zu entschlüsseln, auch wenn dieses Fazit vom wissenschaftstheoretischen Denken Bourdieus abweicht. Es versteht sich aus dem ganz eigenen Programm des Mittel29 30 31 32

Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 729. Ebd., S. 734. Ebd., S. 739 f. Bourdieu, Sozialer Raum und symbolische Macht, S. 143.

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altermarktes, dass sich in dessen Gegend keine habituellen Muster gezeigt haben, die man als Spiegel sozialhierarchischer Selbstverortung hätte deuten können. Die habituellen Muster der sich hier bewegenden Menschen folgten in einer aufmerksamen Haltung der spektakulären Szenerie der Historienveranstaltung. Wie auch immer sich die Menschen an den verschiedenen Orten und in je eigenen Situationen und Atmosphären zeigten, so äußerten sie sich – wenn sie auch in der wörtlichen Rede sprachen – zugleich im Medium leiblicher Kommunikation. 33 Die verschiedensten Formen personaler Selbstäußerung lassen sich in Gestalt habitueller Selbstfiguration auf allen Märkten beobachten, in denen sich die Menschen in und für Gruppen präsentieren. Bunte Muster von Bewegungsgestalten, die sich in allen Räumen zeigen, in denen sich Menschen aufhalten und bewegen, haben im Bourdieu’schen Sinne nur bedingt habituellen Charakter. Zumindest bilden sie sich daneben in lokomotorischen Bewegungsströmen, die in unterschiedlichsten Beziehungen der Menschen zum Raum begründet sein können – als »stillstehende« Bewegung zum Beispiel in innehaltender Aufmerksamkeit, im eiligem Gehen in dem darin zum Ausdruck kommenden Bedürfnis, schnell an irgendein Ziel zu gelangen oder in einer körperlich verlangsamten Bewegung, die sich in einer kontemplativen Grundhaltung gegenüber jeder Form der Eile distanziert. Es geht in der Reflexion habitueller Gegenwart von Menschen auf Märkten oft nur am Rande (oder gar nicht) um die soziologische Selbst- wie Fremdverortung, wie das Beispiel des Mittelaltermarktes gezeigt hat. In diesem Sinne ist eine Haltung aufgeschlossener Zuwendung zu einem Geschehen von einer solchen zu unterscheiden, die auf soziale Distinktion abzielt und nur marginal einem gegenstandsbezogenen Interesse gilt. Wenn Schmitz von der sprichwörtlichen »Fassung« einer Person spricht, 34 so ist damit im gegebenen Rahmen nicht an Haltung im Sinne von Selbstbeherrschung zu denken, sondern an Haltung als Gestimmtheit für ein Programm, möge dies in einer persönlichen oder gemeinsamen Situation begründet sein. Mit Blick auf den Ausdruck eines individuellen Charakters sprach Jürg Zutt von Haltung und nicht vom Habitus. Haltung bedeutete ihm vor allem Ausdruck aktuellen wie zuständlichen per33 34

Vgl. auch Schmitz, Der Leib, S. 29 ff. Vgl. ebd., S. 45.

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sonalen Befindens. So charakterisiert er »einen übertrieben eingebildeten Menschen« 35 zum Beispiel damit, wie er die Augenbrauen hochzieht, die Lider senkt, die Mundwinkel herunterzieht, den Kopf zurücklegt, die Arme mit übertrieben gespreizten Fingern verschränkt usw. 36 Dies sind haltungsspezifische Ausdrucksgestalten der Person, die etwas Essentielles vom eigene Selbst bzw. einer aktuellen Verfasstheit und Fassung zeigen. Solche Äußerungen bedürfen nicht der wörtlichen Rede, sondern allein der Ausdrucksmittel leiblicher Kommunikation. Was Zutt mit Blick auf psychiatrische Befunde diskutiert, ist darin allgemein, dass Menschen ihr So-Sein in einer Situation anderen leiblich zu verstehen geben – auch wenn sie das gar nicht wollen und nichts damit bezwecken.

5.4.4 Licht Die atmosphärische Wirklichkeit der Weihnachtsmärkte lebt vom Spiel mit dem künstlichen Licht. Erst in der Dunkelheit des frühen Abends kommt sie im engeren Sinne zu sich. In der sonnendurchfluteten Helligkeit des Tages sind die Weihnachtsmärkte andere Räume als in der Dämmerung und mehr noch in der Dunkelheit. Deshalb muss der Mittelaltermarkt aus den folgenden Reflexionen zur spezifisch festlichen Bedeutung des Lichts ausgeklammert werden, hatten sich die Beschreibungen der Mikrologie zu diesem ganz anderen Markt doch auf die helle Zeit des Tages bezogen. Umso deutlicher tritt die hohe Bedeutung der Illumination in der Beschreibung der beiden anderen Märkte hervor. Die Mikrologie zum großen Frankfurter Stadtevent expliziert Eindrücke, die von einer vielgestaltigen das Markttreiben durchströmenden Lichterflut herrühren. Der luzide Schein höchst mannigfaltigen wie heterogenen Leuchtens geht auf eine große Vielfalt von Lichtern, Lampen, Leuchten und Illuminationstechniken zurück, die die fliegenden Bauten in der Zeit der Dunkelheit in eine zweite Wirklichkeit versetzen. Eine auf ganz andere Weise affizierende Macht geht von den Eindrücken aus, die im Palais Thurn und Taxis auf Methoden planvoller Illuminationskalküle zurückgehen. Erwartungen des Besonderen weckt die ästhetisch herausragende, überdimensional 35 36

Zutt, Die innere Haltung, S. 3. Vgl. ebd., S. 3.

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große, mit Lichterketten stilisierte Hirschgestalt am Portal. Sie macht das atmosphärische Licht indirekt zu einem Thema der Inszenierung des Platzes. Im Innenhof des Palais setzt sich diese Wirkung in zweifacher Weise um. Zum einen erscheinen die in ihrer baulichen Gestalt sehr ähnlichen Verkaufsstände mit den an den Giebeln montierten Lichterketten in einer beeindruckenden Regelmäßigkeit. Eine einheitlich leuchtende Architektur gibt sich als illuminative Signatur einer improvisierten Szene zu verstehen, deren temporärer Charakter unter der Eindrucksmacht des Aktuellen allzu leicht vergessen werden kann. Zum anderen erzeugt die Projektion graphischer Sternmuster, die sich über die Fassade des Gebäudes bewegen, eine leuchtend sich bewegende Lebendigkeit. Hintergründig hörbare Weihnachtsweisen fädeln sich als klanglich ihrerseits bewegte »Bilder« in das Arrangement des Ganzen ein. Der Weihnachtsmarkt im Palais Thurn und Taxis ist als kleinräumliches »Festival« des technischen, nicht weniger jedoch des festlichen Lichts ausgestaltet. Ohne die Eindrucksmacht mehrdimensionaler »Lichtspiele« wäre der Markt ein weitaus profanerer gewesen. Dieser Ort demonstriert eine unbestreitbare Exzentrik des Lichts, die ihn erst zu dem macht, was er im Zentrum seines situativen Programms sein soll: ein exklusiver Ort, der sich von der »Kultur der Straße« kontrastreich, aber leise abhebt. Nach Hermann Schmitz sind Atmosphären gestimmte Räume. Im Medium des Lichts offenbaren sie ihre suggestive Gefühlsmacht in besonderer Weise. Gernot Böhme bewertet die atmosphärische Potenz des Lichts (in der Architektur) auf dem Hintergrund seiner synästhetischen Wirkungsweisen: »Wir reden von der festlichen Atmosphäre einer in weiches Licht gesetzten Fassade eines historischen Bauwerkes.« 37 Natürlich gibt es insoweit auch ein »ernstes Licht«, als es in reiner Sachlichkeit dessen, was es erhellt, auf jede Affizierung zu verzichten scheint, gleichwohl auch in der »sachlichsten« Ausleuchtung als nüchterne Atmosphäre beharrt. Es gibt zu jeder Stimmung das ihr mehr oder weniger angemessene Licht, weshalb die Lichtdesigner auf ein so großes Spektrum stimmungsgenerierender Inszenierungstechniken zurückgreifen können. Das Beispiel der Mikrologie zum Innenhof des Palais illustriert eine beispielhaft gelungene Komposition wohldosierten Leuchtens, Scheinens und 37

Böhme, Dämmerung als Symbol, S. 48.

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Strahlens zur Erzeugung einer immersiven Atmosphäre der Dissuasion. Mit Recht sagt Ingeborg Flagge, das Licht schaffe den Genius eines Ortes. 38 Die große Bedeutung illuminativer Atmosphären erklärt sich auf Weihnachtsmärkten zum einen aus dem ästhetischen Erlebniskontrast zwischen leuchtender Helle und winterlicher Dunkelheit bzw. Kürze der Tage. Zu diesem säkularen Grund kommt zum anderen eine in der christlichen Mythologie begründete Symbolik des Lichts, die sich anlässlich des christlichen Weihnachtsfestes selbst säkular orientierten Menschen als jahreszeitlich typischer Stimmungsrahmen allzu leicht aufdrängen lässt. Auf dem Hintergrund religiöser Stimmung steht das Licht für das im Numinosen vorscheinende Göttliche; metaphorisch steht die Gestalt Jesu für das »Licht der Welt« 39 und das Andere der Sünde 40. In der Zeit des bevorstehenden Weihnachtsfestes findet es sein prädestiniertes Ausstrahlungsmilieu. Diesseits aller sich mit dem Weihnachtsfest verbindenden Lichtsymbole bringt sich eine architekturtheoretische Tradition im Einsatz von Licht als immateriellem Baustoff zur Geltung. Seit Vitruv ist die Gestaltung der Wirkungswege des natürlichen – und später des künstlichen – Lichts eine herausfordernde Aufgabe der Baugestaltung. Die Baumeister der Gotik steigerten das Vermögen der Architektur im Bauen mit Licht auf ein bis dahin unbekanntes Niveau. Bis in die Gegenwart stellt sich die effektvolle Führung des Lichts als eine profunde Gestaltungsaufgabe, deren planerische wie praktische Bewältigung interdisziplinäre Licht-Diskurse immer wieder zur Erfindung neuer Ideen und technischer Modelle motiviert. 41 Neue Beleuchtungstechnologien eröffnen theoretisch und praktisch innovative Horizonte des Möglichen. Die auf die Fassade des Palais projizierten Lichtfigurationen wie die luzid und fragil wirkende Hirschgestalt am Portal des Bauwerkes können als Beispiel für die Implementierung technologischer Illuminations-Neuerungen in ein atmosphärisches Raumprogramm verstanden werden. Sentimentalisierende Lichterwelten imprägnieren am Ende eines jeden Kalenderjahres beinahe alle Siedlungen (selbst im ländlichen Raum) mit Atmosphären süßlicher Sedierung (s. Abb. 5.16 38 39 40 41

Flagge, Das Licht und der Genius des Ortes. Joh. 8,12, vgl. auch Ohler, Sterben und Tod im Mittelalter, S. 65. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 12, Sp. 870. Neumann, Architektur der Nacht sowie Köhler / Luckhardt, Lichtarchitektur.

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und 5.17, S. 491 und 492). Wenn in einer Reihe größerer Städte die sogenannte Weihnachtsbeleuchtung schon im November betriebsbereit ist, so weist das auf eine eher säkulare Motivation hin und erklärt sich weniger aus der Symbolik des Lichts in der christlichen Mythologie. In der vorweihnachtlichen Stadtbeleuchtung müssen die Kommunen in ihrer Lichtplanung einen Kompromiss zwischen Tradition und ästhetischer Erneuerung finden. Unter der Voraussetzung schneller technischer Fortschritte in der Entwicklung energiesparender und flexibel steuerbarer Elemente der High-Tech-Beleuchtung hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren das Spektrum dessen erheblich erweitert, was sich lange Jahre durch Kontinuität ausgezeichnet hat. Daraus ergeben sich in Zeiten angespannter kommunaler Haushalte fiskalpolitisch gern gesehene Effekte der Kostensenkung. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit sparsameren Beleuchtungstechniken das ästhetische Ganze vorweihnachtlicher Inszenierungen einem vielleicht unerwünschten Wandel ausgesetzt werden kann, verändern sich doch in der Folge der Anwendung neuer Techniken schnell sehr komplexe atmosphärische Raumerlebnisqualitäten. Besondere Herausforderungen stellen sich in der Anpassung neuer Leuchtfarben und -töne an deren synästhetische Wahrnehmung. Wenn das ehemals »warme« Licht traditioneller Glühbirnen an Tannenbäumen oder »weich« wirkenden Eiben durch »kaltes« LED-Licht ersetzt wird, verändern sich die Atmosphären mitunter so einschneidend, dass die gesamte Symbolik des Weihnachtlichen auf den Grat gerät. Schon wenn an die Stelle ruhiger Lichtgestalten unruhige und sich schnell bewegende Muster treten, zeigt sich die große Reichweite der bewegungssuggestiven Übertragung von Gestalten in Gefühle. Die Grenze zwischen traditionell gewohntem atmosphärischem Stadterleben in der vorweihnachtlichen Zeit zum einen und eher spektakulären Lichtekstasen zum anderen ist schnell überschritten. Schon im Allgemeinen ist das Licht (in seiner natürlichen wie technischen Form) ein facettenreich diffundierendes Medium der Beeindruckung. Seine erlebnisspezifischen Wirkungseffekte können nur auf dem Hintergrund mehrdimensionaler »Sprünge« vom Sinnlichen auf die Ebene der Symbole wie der Gefühle verstanden werden. 42 Deshalb strahlt sogenanntes »ArbeitsVgl. dazu auch Hasse, Weihnachtsbeleuchtung und Kapitel 3 in Hasse, Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen.

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licht« auch nicht nur quantitativ andere Lumen-Werte aus als festliches Licht; es bedeutet auch nichts, das über seine zweckdienliche Beleuchtungs-Wirkung hinausginge. Im Unterschied dazu kommt es beim festlichen Licht ganz wesentlich auf dieses selbst an und erst in zweiter Linie auf seinen erhellenden Effekt.

5.4.5 Gerüche In der Mikrologie zum volksfestartigen innerstädtischen Weihnachtsmarkt heißt es, die Aufmerksamkeit werde von Gerüchen eingenommen, die »wie Schwaden oder Wolken im Raum wabern«. Die Bemerkung weist auf die Besonderheit des Geruchserlebens hin. Was wir riechen, nehmen wir auf eine strukturell ganz andere Weise wahr, als wir sehen oder betasten. Zu Gerüchen kann man keine Distanz einnehmen wie zu Dingen, weshalb sich der Schluss der Ohren zur »Abwehr« von unerwünschten oder unerträglichen Geräuschen auch nur als halbwegs probates Mittel anbietet. Gerüche entfalten eine durchströmende Mächtigkeit, indem sie die Körpergrenzen immersiv überschreiten. Im Moment ihrer Gewahrwerdung sind sie in keinem Draußen mehr, sondern bereits »im« empfindenden Selbst. Als etwas Ungegenständliches bzw. Halbdinghaftes »sind« sie streng genommen jedoch nirgends; sie sind ortlos, »umwölken« den Menschen – wie Hubert Tellenbach das beschrieben hatte – und stimmen sein Befinden. Das Innen, in das sich die Gerüche durchsetzen, ist kein körperliches Innen, sondern ein leibliches Ausgefüllt-Sein – spürbare Überwältigung in einem nicht-physikalischen Sinne. 43 In seiner Philosophie des Portraits, in deren Mitte Kulturen des Sehens wie der Sichtbarmachung stehen, stellt Jean-Luc Nancy am Rande über die Gerüche fest: »Mehr als jeder andere Sinn entzieht sich das Sehen dem Äußeren, hält Abstand vom Ort seiner Betätigung, während das Gehör, das Berühren, der Geschmack und der Geruch ihr ›Außen‹ mit ihrem ›Innen‹ mischen, indem sie gänzlich in einer Verschränkung und Resonanz zwischen dem einen und dem anderen betätigt werden.« 44

43 44

Zur Erlebnisweise von Gerüchen vgl. auch Kapitel 4 in Band 1 der Mikrologien. Nancy, Das andere Porträt, S. 22.

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Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten

Der Geruch »berührt« in einem synästhetischen Verständnis auf geradezu archaische Weise affektiv. Deshalb ist bei Mendelssohn neben dem Geschmack der Geruch der »kardinale Ekelsinn«. 45 Was für die Erinnerbarkeit der Gerüche im Allgemeinen gilt, aktualisiert sich im olfaktorischen Milieu der Weihnachtsmärkte, speichern wir doch Geruchsspuren ehemals anwesender Menschen und riechen eine Situation, wenn sie in einer ähnlichen Weise nach langer Zeit wieder eintritt. Man wird in einem weiteren Sinne von einem geruchspezifischen Situationsgedächtnis sprechen dürfen, kennt doch jeder den sich schlagartig mit einer meist diffusen Erinnerung verbindenden Raumgeruch, der plötzlich »da« ist, ohne dass sich sagen ließe, wie man so unvermittelt in sein Gewölk hineingeraten ist, noch an was man sich eigentlich erinnert, wenn man das Gefühl hat, von einem vertrauten Geruch eingenommen zu werden. Aber auch umgekehrt gibt es Geruchserwartungen, die man an situativ gerahmte Orte richtet. Das Geruchserleben gehört zum leiblichen Mit-Sein in Situationen und macht einmal mehr darauf aufmerksam, dass wir in weitaus vielfältigerer und mannigfaltigerer Weise leiblich kommunizieren als nur in der Form der wörtlichen Rede. So können auch die Gerüche, die die Besucher von Weihnachtsmärkten ungefragt um- und durchströmen, als leibliche »Ansprachen« verstanden werden. Das heißt zugleich, dass nicht nur »etwas« von sich aus riecht, sondern ein Riechen auch kalkülhaft vorbereitet und in einem Feld aufgebaut werden kann, um Menschen in Stimmungen zu versetzen. So gehören die Gerüche von gebrannten Mandeln, Holzkohle oder Pfannkuchen nicht nur deshalb zu einem Weihnachtsmarkt, weil die Menschen all diese Dinge essen wollen, sondern weil unter anderem diese Düfte zur charakteristischen Atmosphäre solcher Milieus gehören und die Besucher entsprechende olfaktorische Atmosphären erwarten. Aber die Bedeutungen verzweigen sich noch weiter. Gemäß langer Traditionen und mythischer Narrative werden die Gerüche auch mit Tugenden verbunden. Im Christentum verweisen Wohlgerüche insgesamt auf positive Werte während der Gestank das Sündhafte bedeutet. 46 Es liegt nahe, dass auch die Wohlgerüche der Weihnachtsmärkte in ein Bedeutungsfeld des Guten, Reinen und Glückseligen einfließen und damit in einem semantisch mannigfaltigen Konglo45 46

Menninghaus, »Ekel«, S. 146. Vgl. Betz u. a., Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 3, Sp. 761.

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merat von Bedeutungen randlos verlaufen, das insgesamt ins Programm der christlichen Mythologie (zu immer größeren Teilen auch in säkulare Erwartungswelten) mündet. Es darf nicht überraschen, dass die Gerüche insbesondere in archaischen Gesellschaften religiöse bis lebensweltliche Bedeutungen hatten oder noch haben. Bei den Jägern und Sammlern auf den Andaman-Inseln (Indischer Ozean) steht der Geruch zum Beispiel für eine existenzielle Dimension des menschlichen Lebens. »Der Geruch ist hier das Medium, durch das die Kategorien des Raums, der Zeit und der Person erfahren und ausgedrückt werden. Die Prozesse von Leben und Tod werden als ein kontinuierlicher Fluß von Gerüchen zwischen der Menschen- und der Geisterwelt verstanden.« 47

In den modernen, zunehmend säkularisierten Gesellschaften »wurde der Geruch auf seine naturhaften Entstehungsbedingungen reduziert, was zu einer Minderung seiner religiösen Bedeutung führte.« 48 Daraus folgte aber nicht, dass er von allen Bedeutungen entkoppelt worden wäre. Seine Entbindung von religiösen Mythologien hat ihn für die Aufnahme neuer Bedeutungen vielmehr erst freigemacht – unter anderem für seine kulturindustrielle Inszenierung und Situierung. Die Mikrologie zum Markt im Palais Thurn und Taxis illustriert eine Simultaneität der Wahrnehmung, wonach bestimmte Gerüche sowie Geruchskombinationen als Indikatoren sozialer Felder erlebt werden. Bemerkenswert ist dabei, dass sich das olfaktorisch Eindrückliche eigentlich nur geringfügig von jenen Eindrücken von Geruchsmischungen, -feldern und -familien unterschieden hat, die zur Atmosphäre des großen volksfestartigen Marktes gehörten. Dennoch wurden sie in überhöhten Kontrasten erlebt. Viel weniger waren es jedoch die Gerüche selbst, die so anders erschienen, als der sie aufnehmende soziale Rahmen. Vielleicht waren tatsächlich »einige« exotisch anmutende Düfte darunter, welche der Atmosphäre des Ortes einen eigenen Akzent verliehen hatten. Es mag aber ebenso sein, dass vor allem der distinguierte soziale Raum in seiner atmosphärischen Herausgehobenheit die exotisierende Wahrnehmung bestimmter Gerüche erst disponiert hat. In einer anderen Gegend wären sie in einem ubiquitären Gemisch aus allem, was sich zu riechen gegeben hätte – 47 48

Ebd. Ebd.

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Zur atmosphärischen Vielfalt von Weihnachtsmärkten

in einem Meer des Ähnlichen – untergegangen. Für die These einer mehr symbolisch und synästhetisch als olfaktorisch gestimmten Wahrnehmung spricht, dass auch auf dem Markt in den Burghöfen ähnlich exotische Gerüche im Raum waren, dort aber nicht als Ausdruck eines sozialen Milieus empfunden worden sind. Hier waren sie von Anfang an in die eindrucksmächtig inszenierte mittelalterliche Atmosphäre eingebettet. Wenn Gerüche auch immersiv und unmittelbar, geradezu grenzenlos und ohne die Möglichkeit der Abwehr zu Bewusstsein gelangen, so wirken sie doch stets aus einem situierten Hintergrund heraus. Es sind vor allem dessen Sachverhalte und Programme, die sie stimmen und als dieses oder jenes spürbar machen. Gerüche sind nicht zuletzt infolge ihrer schweren Definierbarkeit, luftigen Wolkigkeit und archaisch leiblichen Ansprache prädestinierte Medien des Transversalen. Auf dem Wege der Synästhesien übertragen sie (zum Beispiel sozial oder religiös codierte) Gefühle. Beispielhaft war und ist der »betäubende[r] Duft und blaue Dunst« 49 des Weihrauchs, der mit einer ganzen Fülle einst heidnischer, dann religiöser Symbole belegt war bzw. ist, die sich über das riechende Mit-Sein im numinosen Raum in eine Stimmung übertragen. Gerüche sind nicht nur gestimmt, sie stimmen auch. Das Prinzip des rituellen Gebrauchs von Weihrauch darf als Schablone verstanden werden, nach deren Prinzip auch »weltliche« Gerüche zur atmosphärischen Erzeugung oder Unterstützung des emotionalen Erlebens bestimmter Milieus eingesetzt werden. Solange es Parfums gibt, fungieren die Düfte als Medien der Distinktion wie sozialen Selektion. Deodorierende Gerüche markieren die feinen Unterschiede zwischen den Angehörigen divergierender, aber auch sich ähnlicher sozialer Gruppen. In der systemischen Welt moderner Gesellschaften fällt ihnen darin eine quasi-liturgische Rolle zu. Als Medien blinder Immersionen schaffen sie keine Bindungen für Glaubensordnungen mehr, sondern unterwerfen die Menschen meistens ökonomischen Interessen. Am Beispiel der olfaktorischen Behandlung der Raumluft in Verkaufsbereichen großer Kaufhäuser ließe sich das facettenreich ausführen. Solche Programme der Hyperästhetisierung zum Zwecke der Anästhesie führen jeden, der in eine große Parfümerieabteilung gerät, in der die Verkäuferinnen aussehen, als wären sie wie die von ihnen angebotenen Waren aus Retorten erstanden, in einen wahren Taumel der wildesten Vermischungen 49

Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 28, Sp. 740.

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süßlicher bis scharfer, weicher bis harter, spitzer bis stumpfer, aber auch atemstockender Schwaden. Das Parfüm hat sich als Modell erwiesen, das sich auf die Deodorierung aller nur erdenklichen Räume übertragen lässt, vor allem solcher, in denen wohlstimmende Gefühle des Mit-Seins für den Abschluss gewinnversprechender Geschäfte entscheidend sein können. Auf fast unspürbare Weise deodorieren sogar manche Automobilhändler ihre Verkaufsräume, um die angebotenen Gefährte diesseits guter Argumente in der Sache dissuasiv zu bewerben. Dabei gibt es ausgeklügelte Kalküle, um die sozioökonomische »Erhabenheit« einer Automarke über einen zu ihr passenden »besseren« Geruch glaubwürdig zu machen. Ein schäbiger Gebrauchtwagen muss anders riechen als das Modell einer S-Klasse auf oberstem Preisniveau. Angesichts solcher in der Gegenwart beinahe üblichen Praktiken mutet eine Fußnote zum zivilisationshistorischen Niedergang des Geruchssinnes aus dem Denkraum der Kritischen Theorie anachronistisch an: »Im Sehen bleibt man, wer man ist, im Riechen geht man auf. […] Man darf dem verpönten Trieb folgen, wenn außer Zweifel steht, daß es seiner Ausrottung gilt.« 50

Im Schatten der Entkoppelung des Vermögens zur Explikation der an Gerüchen ergreifenden und stimmenden Affekte erweist sich die stumme Resonanz (als ausbleibende Antwort auf die Affizierung durch Gerüche) in zahllosen gesellschaftlichen Systemen als willkommen. Diese kulturindustrielle Herabsetzung sinnlicher Resonanzvermögen auf gesellschaftlich nützliche Schnittstellen-Sensibilitäten sollte im Erwartungsprogramm der Kritischen Theorie gelegen haben. Von einer »Ausrottung« kann also keine Rede sein, eher dagegen von einer weitgehenden Entalphabetisierung des SprechenKönnens über die Gerüche und ihre Wirkungen. Georg Simmel merkte in seiner »Soziologie der Sinne« 1907 kritisch an: »Herz und Lunge, Magen und Niere, Gehirn und Bewegungsorgane – würden den Zusammengang des Lebens niemals begreiflich gemacht haben« 51. Im Schatten noch heute bestehender Körper- und Organ-Fixierungen in der Vorstellung des Menschen lenkt

50 51

Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 208 f. Simmel, Soziologie der Sinne, S. 135.

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er den Blick auf jene »Aromen der Gesellschaft« 52, welche die immateriellen Stoffe bilden, über die die Individuen komplementär zur wörtlichen Rede in Wechselwirkung zueinander stehen: »Jeder Sinn liefert nach seiner Eigenart charakteristische Beiträge für den Aufbau der vergesellschafteten Existenz, den Nuancierungen seiner Eindrücke entsprechen Besonderheiten der sozialen Beziehungen, das Überwiegen des einen oder des anderen Sinnes in der Berührung der Individuen verleiht oft dieser Berührung eine sonst nicht herstellbare soziologische Färbung.« 53

In der gelebten Praxis der Sinne kommt es aber viel weniger auf das Vermögen der einzelnen Sinne an, denn auf das, was in der Synchronisation puralen Eindruckserlebens als beeindruckendes Ganzes dabei herauskommt. Willy Hellpach verstand dieses Ganze, das er als ein diffuses und in seinen Ingredienzien kaum genau zu benennendes Zusammenspiel sah, als einen »Akkord«. Das Übersehen der »niederen« Sinne, in besonderer Weise des Geruchssinns, ist zum einen Ausdruck einer intellektualistischen Kultur, die mit dem archaischen, ja dem tierischsten aller menschlichen Sinne, nicht viel anzufangen weiß. Diese Geringschätzung spiegelt sich im Gros der sozialwissenschaftlichen Diskurse über die Sinne noch heute in zwei Linien wider: zum einen in einem fortan beharrend flauen Interesse gegenüber dem Riechen, dem Geruch und dem Gestank und zum anderen in der konstruktivistischen Fixierung auf den menschlichen Körper. In der Geringschätzung der Gerüche wie der Leiblichkeit des Riechens zeigt sich in einem komplementären Sinne zugleich ein Versagen in der rationalen Reflexion von Gefühlen. Diesseits der Extremspannung von Pesthauch und Blütenduft entfaltet sich in einem weithin unausgesprochenen Bereich des täglichen Lebens ein breites, differenzierungsbedürftiges Feld abgestufter Geruchseindrücke, die schon wegen der von ihnen ausgehenden stimmenden Mächte genauere Aufmerksamkeit verdienen. Wir riechen zwar mit der Nase; aber wir erleben die Gerüche in einem ganzheitlichen Sinne leiblich, weshalb sie uns auch in unserem So-da-Sein affizieren können. Für die Geräusche ließe sich Ähnliches zeigen. Auch sie bedeuten unterhalb dessen, was sich mit Worten sagen lässt, in westlich-

52 53

Ebd., S. 136. Ebd., S. 137.

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spätmodernen High-Tech-Zivilisationen nichts Besonderes, weshalb sie im Falle ihrer »quantitativen« Zuspitzung auch auf das quasitechnische Niveau von (Lärm-)Emissionen herabgesetzt werden. Die psychologische Einfärbung der Wahrnehmung, in der die Gerüche wie andere Eindrücke mit Bedeutungen verknüpft werden, fällt dann unter den Tisch. Wie absurd und lebensfern das ist, zeigt sich, wenn man die Geräusche eines Weihnachtsmarktes nach ihren DezibelWerten beurteilen wollte und nicht nach ihrer atmosphärischen Vitalqualität. Die bei Festen und Feiern entstehenden Klangteppiche rauschender und raunender Geräusche des Zusammenseins der Menschen haben orts- und situationsspezifischen Charakter. Deshalb kann Lautes als angenehm, geradezu als sozial bergend empfunden werden, wenn es nach der TA Lärm 54 auch als unzumutbar und bußgeldwürdig einzustufen wäre. Jede hörbare Kulisse ist situiert, weshalb das Zusammensein von Menschen in einem Kirchenraum auch anders »klingt« als das auf einem Jahrmarkt oder in einem Stadion.

5.5 Resümee Das Beispiel der Weihnachtsmärkte macht einen relativ scharf konturierten Unterschied zu allen anderen Märkten deutlich. Der Kontrast berührt jedoch nicht nur die hier in vielen Mikrologien behandelten Märkte, sondern alle, die dem Umsatz von Waren jeder Art dienen. Um diese geht es in einem engeren Sinne aber auf keinem Weihnachtsmarkt. Weihnachtsmärkte repräsentieren die Abweichung unter den Märkten par excellence. Auch wenn sie »Märkte« heißen, hat der übliche Handel auf ihnen doch nachrangige Bedeutung. Im Prinzip sind sie mediale Orte der Teilhabe an atmosphärischen Milieus, die dem Bedürfnis der Menschen nach christlich-mythologischen oder säkularen Gefühlsorientierungen am Ende eines Jahres dienen. Trotzdem müssen die jeweiligen Markt-Programme flexibel genug sein, um den Bedürfnissen vieler (unterschiedlicher) Menschen gerecht zu werden. Die größte programmatische Offenheit haben schon aufgrund ihrer Größe und zentralen Bedeutung für das

Sechste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm – TA Lärm), Geändert durch Verwaltungsvorschrift vom 01. 06. 2017 (BAnz AT 08. 06. 2017 B5).

54

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Resümee

urbane Leben jene innerstädtischen Veranstaltungen, die weder profiliert religiös noch betont säkular in Erscheinung treten. Die Beispiele haben schließlich gezeigt, dass in einer pluralen Gesellschaft die Orte gleichsam institutionalisierter Gefühlskulturen in ihrem je eigenen Gesicht erscheinen, weshalb die Rede von einem »typischen« Weihnachtsmarkt obsolet ist. Das Moment der Pluralisierung mag auch für Märkte anderer Warengattungen gelten, zeigt doch schon die Mikrologie zum Erleben eines gemischten Marktes in den Niederlanden, dass dieser in seiner Gestaltvielfalt und schillernden Mischung selbst des Unterschiedlichsten noch auf das Milieu seiner Stadt bezogen war. Solche Anpassungen haben viele Dimensionen, wie sie vielen Gründen folgen. Allein die aus der Stadt wie der Region auf den Markt kommenden Händler bringen ihr ganz eigenes Angebot mit, wie die Bewohner einer Stadt ihre je eigene Kultur urbanen Lebens pflegen, worin der Marktbesuch seine ganz eigene Rolle spielt. In diesem Buch standen die Märkte und ihre Atmosphären im Fokus. Im Vergleich ganz unterschiedlicher Markttypen zeigte sich deren mehr oder weniger eigenständige Bedeutung. Auch die Modalitäten ihrer Konstitution – mitunter auch Konstruktion – wichen je nach situativer Fassung eines Marktes voneinander ab. Bei denen, die ganz dem Handel mit Waren dienen, konstituieren sich Atmosphären beiläufig. Sie können als Effekt der Art und Weise verstanden werden, wie sich die Menschen an einem Ort des Handels in gemeinsamen Situationen finden und darin agieren. Sie tun dies in aller Regel nicht, weil sie sich in gemeinsamen Situationen erleben wollen, sondern weil die Teilnahme an ihnen Voraussetzung eines florierenden Handels ist, an dem sie ein Interesse haben. Dass die Menschen aber einen gemischten Markt zugleich besuchen, weil er ihnen eine lebendige Seite der Stadt zu spüren gibt, ändert nichts an dem Umstand, dass sich Marktatmosphären in der Dynamik des Handels autopoietisch konstituieren. Das Beispiel der Weihnachtsmärkte hat gezeigt, dass sich nicht nur Märkte konstruieren lassen, sondern mit ihnen zugleich die sie tragenden Atmosphären. Sie bilden sogar die Essenz dessen, um derentwillen sie aufgesucht werden. Weihnachtsmärkte sind reine Gefühlsräume, in denen die Waren der Logik der Gefühle ein- und untergeordnet sind. Das ist bei allen anderen Märkten umgekehrt. Bei ihnen folgt die Atmosphäre der Performativität und Logik des Handels. 519 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

6. Ausblick

In urbanen Gesellschaften sind Märkte Orte besonderer Lebendigkeit. Sie stellen sich als soziale, kulturelle und ökonomische Weichen dar, als Milieus der Kreuzung unterschiedlichster Ströme. Die Mikrologien verfolgen auf dem Wege der Autopsie mitweltlichen Erlebens das Ziel, Wissen über das Zur-Erscheinung-Kommen von Situationen sowie das Getragen-Werden von ihnen zu verfeinern. Solche Wissenszuwächse erweitern und stärken die Verfügungsmacht der Individuen über sich selbst. Mit dem Ziel dieser erkenntnistheoretischen Vermehrung von Kategorien der Unterscheidung wurden die Mikrologien methodisch als dichte Beschreibungen ausgeführt. Gegenstand der Explikation waren sinnlich wahrgenommene Eindrücke und – in ihrer Verknüpfung mit Bedeutungen zugleich – gesellschaftliche Situationen. Die entstandenen Niederschriften sind der ausdeutenden und nachspürenden Interpretation nach phänomenologischen und kulturphilosophischen Kategorien zugänglich gemacht worden. Dabei hat sich gezeigt, dass in der Vergrößerung des Maßstabes der Aufmerksamkeit eine große Breite an Denkwürdigem über Sachverhalte, Geschehnisse, mitweltliche Herumwirklichkeiten sowie Atmosphären zu Tage gefördert werden kann. Am Ende aller Bemühungen um die Optimierung dichter Beschreibungen sowie deren Interpretation muss die Frage stehen, ob die Methode tatsächlich den größtmöglichen Ertrag in der Offenlegung von Seinsweisen für deren verstehende Ausdeutung vermittelt hat. Auf dem Hintergrund dieses Bandes stellt sich die Frage allein für die Explikationen in der Form der wörtlichen Rede. Trotz großer Dichte, Vielschichtigkeit, Mannigfaltigkeit und Differenziertheit der Befunde – vielleicht auch als Folge hoher Detailauflösung – haben sich die Beschreibungen als äußerst fließend, in sich heterogen, mitunter verrätselt gezeigt, vor allem aber in einer nie ganz ausschöpfbaren Tiefe. Mit anderen Worten: Die Methode der Mikrologien ist erst deshalb auf produktive Weise an eigene (relative) Grenzen ge520 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Ausblick

stoßen, weil sich (erwartungsgemäß) alle autopsierbaren Dinge, Halbdinge und Situationen so weit aufgelöst haben, dass sie sich tendenziell ins Endlose verlieren mussten. Die erkenntnistheoretische Implosion konnte sich als Folge geschärfter Aufmerksamkeit konkret so deutlich zeigen, weil der Versuch der Mikrologien unternommen worden ist. Ihr Ertrag kann deshalb nicht bestritten werden. In besonderer Weise hat er sich in der nachdrücklichen Vermittlung der Denkwürdigkeit von Infra-Gewöhnlichem gezeigt. Die Mikrologien haben denkwürdig gemacht, was ohne sie gar nicht erst denkwürdig geworden wäre. Der Blick in die Tiefe von Verstrickungen des Erlebens mit dem Erscheinenden und Geschehenden hat das sinnlich wie affektiv Berührende, Begegnende und Ergreifende benennbar gemacht. Dennoch muss am Ende dieses Versuchs die Frage nach den erkenntnistheoretischen Reichweiten der Autopsierbarkeit subjektiven Mitwelt-Erlebens noch einmal verschärft werden. Gerade die Vielfalt und der hohe Grad der Differenzierung, dem die Interpretation der in Niederschriften festgehaltenen Eindrücke und Assoziationen folgen konnte, hat die ultimative Deutungsoffenheit eines jeden im Milieu des Erlebens Konkret-Werdenden vor Augen geführt. Die Kategorien der Unterscheidung, die zum Beispiel die subjektiven Erlebnisbilder eines niederländischen Wochenmarktes dem Verstehen gegenüber aufgeschlossen haben (s. Kapitel 2), hätte der Möglichkeit nach vielfach differenzierter ausgearbeitet werden können. Das gleiche gilt für alle anderen Märkte und deren performative Dynamik in Raum und Zeit. Jede auf noch so großmaßstäblichem Niveau segmentierte Situation birgt das Potential einer tendenziell endlos erweiterbaren Ausdeutung (regressus ad infinitum). Und noch diese böte sich als analytische Situation dem selbstreflexiven Verstehen an. Es gibt keine bestmögliche Beschreibung; es gibt nur Annäherungen an ein Spektrum vieler je treffender bzw. situativ angepasster Erzählungen. Mit jeder Veränderung einer Situation auf der Subjektiv- wie der Objektseite entstehen neue Rahmenbedingungen der Explikation. Eine jede endet deshalb – wie jede Interpretation – an einem entscheidungsbedürftigen Punkt der Sättigung. Sie muss stets von Besonderem und darin vorscheinendem Allgemeinem absehen, da eine einmal eingenommene großmaßstäbliche Blickbahn nicht immerfort vergrößert werden kann, auch wenn die Facetten des Wirklichen sich dafür anbieten. Indes genügen schon die hier dokumentierten Wege autopsierender Annäherung an Atmosphären und die Eindrucksvielfalt 521 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Ausblick

lebendiger Orte als hinreichendes Plädoyer für die Forcierung eines anthropologischen Übungsprojektes der Schärfung der Sinne und mit ihnen pathischer Unterscheidungsvermögen – gleichwohl gegen den Strom einer technologiebedingten Beschleunigung beinahe aller menschlichen Lebensrhythmen. Diese Aufgabe stellt sich in einem von Institutionen freien Rahmen, wie das Plädoyer für die Sorge um das eigene Selbst bei Michel Foucault oder der Imperativ Sloterdijks, das eigene Leben zu ändern, nicht auf irgendein plötzlich auftauchendes und ganz unerwartetes Vermögen von Institutionen baut. Damit reklamiert sich nicht zuletzt – zwischen Utopie und Illusion – die Anstrengung allgemeinbildender Institutionen zu einer Rückgewinnung von Basisvermögen ausdauernden wie genauen Hinsehens und innehaltenden Nachdenkens. Gegenstand der Übung wären dabei nicht marktorientierte Fertigkeiten, wie sie von Schulen hinter den Vorzeichen eines neoliberalen Arbeitsmarktes eingetrichtert werden. Vielmehr steht die Entdeckung produktiver Wege einer Menschenbildung aus, in deren programmatischem Zentrum die Pluralisierung der Aufmerksamkeit stünde und damit zugleich die Entfaltung eines freien Denkvermögens, das die Kraft zur andauernden Aufmerksamkeit, zum Selbstgespräch und zur Bereitschaft voraussetzt, selbst im Infra-Gewöhnlichen ein Terrain der Selbstbildung zu erkennen. Je mehr die Menschen zu unterscheiden in der Lage sind, desto mehr differenziert sich ihr Wissen und desto profunder gestalten sich die Grundlagen ihrer Urteile. Damit stellt sich auch die Frage, in welcher Form die Explikation von Eindrücken subjektiven Erlebens dem Ziel der Schaffung (relativ) bestmöglicher Ausgangsbedingungen differenzierten Verstehens näher gebracht werden kann. Welche Erträge können von einer produktiven Überschreitung der Explikation von Eindrücken im Medium wörtlicher Rede erwartet werden? Sowohl in Band 1 wie in den Mikrologien dieses Bandes spielt das fotografische Bild eine lediglich textbegleitende Rolle. Es wird explizit daher auch weder mediennoch bild- oder fotografietheoretisch auf seine spezifischen Erkenntnispotentiale hin diskutiert. 1 Für die methodische Erweiterung spricht eine zwischen diskursiver und ästhetischer Rationalität (in ein und derselben Sache) herrschende Beziehung der Komplementarität. Konkret stellt sich damit die Frage nach dem möglichen erAllgemeine methodologische Einordnungen sind indes in Kapitel 3 von Band 1 erörtert worden.

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Ausblick

kenntnistheoretischen Ertrag, der sich mit der Explikation von Eindrücken im Medium des fotografischen Bildes anbietet. Es darf dabei nicht übersehen werden, dass zwischen sprachlicher und bildlicher Explikation schon in formaler Hinsicht ein Verhältnis der Inkommensurabilität besteht. Was mit Worten gesagt werden kann, verschließt sich der Darstellung im Bild, weil es in der Beschränkung auf die Visualität von jeder sprachlichen Abstraktion entbunden ist. Explikationen in der Form diskursiver Rationalität bleiben – trotz aller Nähe zwischen dem sprachlich und bildlich Bezeichneten – einer Explikation in der Form ästhetischer Rationalität strukturell fremd. Das gilt auch umgekehrt. Was das Bild zeigt, ist a priori nicht mit dem identisch, was das Wort sagt. Dennoch verspricht das fotografische Bild einen Gewinn in der Aufarbeitung der Beziehungen, in denen Menschen zu dem stehen, was in ihrem Erleben am affizierenden Gewicht einer wie auch immer begründeten aktuellen oder zuständlichen Bedeutung hängt. Kann das fotografische Bild den Prozess der Verständigung über Eindrücke unterstützen oder führt es nur in eine Verwirrung, weil es das ganz anderen Explikationsregeln folgt als die wörtliche Rede? Wahrnehmungstheoretische sowie -ethische Fragen bringen sich auf dem Hintergrund der Nutzung von Bildern zur Erweiterung einer weitgehend auf textlicher bzw. sprachlicher Basis ausgeführten Interpretation subjektiven Erlebens in Stellung: Jeder Ort hat ein »Geheimnis«, das unentdeckt bleibt und sich der Introspektion im Wege dichter Beschreibung entzieht. Wie ist ethisch mit diesem Rest eines Nicht-Wahrnehmbaren umzugehen? Nähert sich das Bild als Medium der Sichtbarmachung der alles zunichtemachenden Überbelichtung oder thematisiert es, was sich der Sichtbarmachung entzieht? Könnte es als Geste des Zeigens auf das Unsichtbare für diese Grenze sensibilisieren, indem es darauf verwiese, dass es Bereiche des Wirklichen gibt, die sich der trefflichen Darstellung in Wort und Bild mehr oder weniger in Gänze entziehen? Welchen Nutzen verspricht das sich auf diesem Grat zwischen Thematisierung und ihrem Entzug abarbeitende virtuelle Selbstgespräch über die Grenzen der expressis verbis »sprechenden« sowie bildlich »zeigenden« Darstellung von Wirklichem? Um zu Erträgen einer wechselseitigen Befruchtung zwischen wissenschaftlichen und ästhetischen Reflexions- und Darstellungsweisen gelangen zu können, müssen fragile Brücken beschritten werden. Die sich stellenden Herausforderungen laufen auf die Generie523 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Ausblick

rung von Erkenntniswegen produktiver Transversalität hinaus. Wenn das Bild eine bewusstere Macht über den Prozess sprachlicher Welterschließung gewinnen soll, wird es in diesem transversalen Bemühen eine Rolle der Provokation und Irritation ausfüllen müssen. Potentiale bieten sich darin an, dass das Bild anderen Regeln der Affizierung folgt als das gesprochene oder niedergeschriebene Wort. Der Band 3 der Mikrologien räumlichen Erlebens wird sich dieser Frage im Detail widmen.

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Abbildungsverzeichnis

Für alle hier nicht aufgeführten Abbildungen gilt: © Jürgen Hasse Abb. 1.1: Gemischter Markt in Groningen (Niederlande) um 1900; historische Postkarte. Abb. 1.2: Grote Markt mit dem »Abschlussbau« der Martinikerk (Groningen, Niederlande, vor dem Zweiten Weltkrieg); historische Postkarte. Abb. 1.3: Marktplatz (Holzminden) und Marktstraße (Kemnath); Wasmuth, Günther (Hg.): Wasmuths Lexikon der Baukunst (fünf Bände). Berlin 1929, Band 3, S. 579. Abb. 1.4: Marché aux Fleurs um 1920; historische Postkarte. Abb. 1.6: Eugéne Atget: Marchande de fleurs (Rue Mouffetard devant / 5e arr.) (1899); Adam, Hans Christian (Hg.) Paris. Eugène Atget 1857–1927. Mit einem Essay von Andreas Krase. Köln 2008, S. 49. Abb. 1.7: Fischmarkt auf dem Platz des Hamburger Holzhafens um 1890; Fischmarkt Hamburg-Altona GmbH (Hg.): Butt aus Altona. Vom ersten Elbfischer zum modernen Dienstleister. Die Geschichte des Fischmarktes Hamburg-Altona. Hamburg 2009, S. 15. Abb. 1.8: Eugéne Atget: Marchandede poisson, place Saint-Médard, 5e arr. (1899); Gautrand, Jean Claude (Ed.): Eugéne Atget. Paris. Köln 2016, S. 201. Abb. 1.9: »Emder Heringe«, Anzeige aus dem Jahre 1928; Emden als Fischmarkt. Eine Erinnerung an den Besuch des Reichsverbandes der deutschen Fischkleinhändler E. B. in Emden. Emden 1928, o. S. Abb. 1.10: »Esst Fisch!« Anzeige aus dem Jahre 1928; Jahresbericht über die Deutsche Fischerei 1927. Hgg. vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Juni 1928, S. 27. Abb. 1.11: »Fischversorgung« – Fischauslieferungs-Kleinlaster; Jahresbericht über die Deutsche Fischerei 1926. Hgg. vom Reichs538 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Abbildungsverzeichnis

ministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Juni 1927, S. 27. Abb. 1.12: Fischauktion in Hamburg Altona Ende des 19. Jahrhunderts; Fischmarkt Hamburg-Altona GmbH (Hg.): Butt aus Altona. Vom ersten Elbfischer zum modernen Dienstleister. Die Geschichte des Fischmarktes Hamburg-Altona. Hamburg 2009, S. 19. Abb. 1.13: Fischmarkt in Dieppe (Frankreich) um 1920; historische Postkarte. Abb. 1.14: Weihnachtsmarkt in Berlin auf dem Schlossplatz in der Breitenstraße (1776); historische Postkarte. Abb. 2.1: Die Groninger Marktplätze; historische Karte von 1652. Abb. 2.20: Café de Beurs um 1950; historische Postkarte. Abb. 4.30: Zur Auktion in einer offenen Halle ausgelegte Fische im Hafen von Grimsby (ca. 1906); historische Postkarte. Abb. 4.31: Fischereiboote in Hafen von Grimsby (1901); historische Postkarte Familie Tappin, Grimsby; http://www.tappin-family. org.uk/images/Grimsby%20Docks%201904%20-1%20Large. jpg). Abb. 4.34: Markierung der ersteigerter Kisten mit Händler-Adressen; © Tyll Voigt. Abb. 4.36: Protokollierung des Handels durch den Auktionator; © Tyll Voigt.

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Stichwortverzeichnis

Abfälle 260, 316, 338, 344–345, 347, 353, 393, 400, 402, 404 Abfuhrphänomene 299 Abläufe –, performative 74 –, verbindende 381 Abschlußbild 37 Abstandnahme 351, 354 Abstoßendes 398 Abstoßung 398 Abstraktion 350 Abwesenheit 461 –, anwesende 345 Affekt-Töne 195 Affektdynamik 299 Affektentbindung 300 Ähnlichkeit 136, 140, 163, 215, 434, 501 Aisthesis 173, 418 Aisthetik 257 Akkord 159, 445, 517 –, affizierender 142 –, atmosphärischer 501 Akteurstheorie 127, 186 Alltag 347 Alltagskultur 424 Anästhesie 305, 464–465 Anästhetik 263, 490 Anblick 426 Andere –, signifikante 217 Anpassung –, leiblich-mimetische 442 Anschauung –, sinnliche 405 Anspannung 274, 438 –, elektrisierte 274

–, spürbare 73 Ansprache –, leibliche 513, 515 Anstrengung –, bildungsphilosophische 404 Antiquitäten 73 Antrieb –, vitaler 125, 170 Anwesenheit 423, 425 –, doppelte 423 –, leibliche 431 –, spürbare 418 Anziehung 354, 398 Anziehungskraft –, atmosphärische 171 Aquakulturen 58, 346 Arbeitskleidung 382 Arbeitslicht 267 Architektur 36, 44, 420–421 –, mobile 500 –, signifikante 259 –, temporäre 501 Arkaden 27 Arrangement –, atmosphärisches 233 Ästhetik 50, 256 –, philosophische 258, 260 Ästhetisierung 47, 226, 256, 258 –, Hyper- 256 Atget 52, 61 Atmosphäre 70, 167, 439 –, -verortung 203 –, -Wandel 29 –, anstehende 168 –, aristokratische 481 –, auktionstypische 439

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Stichwortverzeichnis –, des Ortes 110 –, des Wandels 457 –, dissuasive 510 –, dominierende 488 –, eigenartige 458 –, ergreifende 169 –, Fischauktions- 68 –, gesellschaftliche 183 –, gespannte 199, 411 –, gestimmte 149, 340 –, Hafen- 383 –, Hallen- 240 –, heterochrone 500 –, heterogene 118 –, High-Tech- 272 –, historische 485 –, historistische 488 –, hypertechnische 269, 278 –, kommunizierende 118 –, konkurrierende 111, 198 –, kontrastierende 169 –, langweilige 136 –, lautliche 255, 454 –, Licht- 234 –, lokale 30 –, maritime 314 –, Markt- 29, 33, 196 –, mittelalterliche 515 –, morbide 118, 179 –, nervöse 298 –, neue 189 –, öde 462 –, olfaktorische 513 –, Platz- 118 –, Raum- 193 –, sedierende 83 –, sentimentale 494 –, separierte 490 –, situationscharakteristische 95 –, situationsspezifische 467 –, sonderweltliche 305 –, warme 484 –, weihnachtliche 485, 493, 504 –, zwischenmenschliche 441 Atmung 285 Attraktivität 171 Aufgeregtheit 300

Auflösung 140, 144, 158, 198 Auflösungsprozess 111 Aufmerken –, idiosynkratisches 362 Aufmerksamkeit 148, 170, 196, 322, 365, 389, 424 –, beiläufige 321 –, Bindung der 399 –, exotisierende 397 –, gebündelte 438 –, gespannte 285 –, hohe 438 –, innehaltende 507 –, Koordination der 425 –, schwingungsfähige 218 –, sensible 411 –, Steigerung der 353 –, zugespitzte 392, 442, 462 Augenblick 106, 171, 173, 177, 197, 293, 295, 396–397, 432, 437 –, permanenter 295 –, plötzlicher 437 Augenblicks-Ekstase 171 Augenblicksstätte 133, 173, 434 Auktion 55, 78, 386, 402, 410, 420, 427 –, Online- 247, 265 Auktionator 71, 73–74, 408, 410, 416, 429 Auktions-Uhr 231 Auktionsablauf 71 Auktionshalle 56, 62, 69, 367–368, 421 Auktionshandel 288, 427–428 Auktionsmeister 408, 411, 420 Auktionssaal 266–267 Aura –, atmende 342 –, des Toten 404 –, Fisch- 403 Ausdehnung 471 Ausdrucksverstehen 359 Außenraum 380 Äußerung –, mimische 443 Ausgeliefertheit 39 Ausruferei 62

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Stichwortverzeichnis Authentizitäts-Begriff 208 Autopsie 214 Barock 36 Basar 23, 26 Bauform –, spitze 200 Baustoffe –, immaterielle 510 Bauten –, fliegende 14 –, verfallende 457 Bebauung –, umfriedende 38 Bedenklichkeit 294 Bedeutungsgefüge –, hierarchische 389 Bedeutungsnetze 388 Bedeutungsüberschuss 389 Bedeutungswelten 337 Beengung 39 Befinden –, affektives 401 Begegnung 295, 315, 318, 329, 340, 350–351, 353, 357, 359, 399, 437, 504 –, alltägliche 418 –, ergreifende 359 Begehren –, kulinarische 331, 343, 345 Begreifen –, schrittweises 390 Behaglichkeit 504 behavior setting 181 Beifang 346 Bekleidungskulturen 257 Beklemmung 38 Beleuchtung –, künstliche 237 Beobachtung 350 Bergendes 237 Berührung 370, 422, 505 –, affizierende 433 Beschleunigung 402 Beschreibung –, dichte 520 Besinnung 463

Bestaunen 355 Betrachter –, distanzierter 427 Betroffensein –, affektives 168 –, elementar-leibliches 355 Bewegung 44, 72, 124, 191, 194, 240, 242, 244, 287, 294, 321, 389, 395, 401, 446 –, affektive 444 –, allokative 126, 128, 244, 430 –, langsame 430 –, leibliche 129 –, präsentische 125 –, schnelle 430 –, stillstehende 507 –, unsichtbare 435 –, visuelle 171 Bewegungs-Rhythmen 124 Bewegungsabläufe –, technische 286 Bewegungsbilder 366 Bewegungsdynamik 431 Bewegungsempfindungen 161, 396 Bewegungsgeräusche 421 Bewegungsmuster 207, 242–243, 249, 321, 435 Bewegungsprogramme 505 Bewegungsraum 44 Bewegungsrichtung 44 Bewegungsspuren 297 Bewegungssuggestion 126, 160, 199, 219, 504 Bewundern 354 Bieter 410, 416 Bild –, collagenhaftes 184 –, fotografisches 523 –, habituelles 444 –, heterogenes 196 Bildung 356 –, Menschen- 522 Biomacht 77 Biopolitik 77–78 Biotechnologie 293, 362 Blick 71, 409, 411, 443, 447 –, -Enteignung 404

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Stichwortverzeichnis –, lebensweltlicher 464 Blitz 174 Blumen 282 –, -auktionen 74, 231 –, -gerüche 296 –, -großmarkt 53, 246, 249 –, -handel 49, 281 –, -händler 51 –, -verkäuferin 52 –, -verkehr 47 –, -zwiebeln 50 Blumenmarkt 46, 220 –, High-Tech- 265 –, nächtlicher 240 Bogengänge 26 Brache 500 –, ästhetische 473 Bremerhaven 68 Charakter 153 –, gesellschaftlicher 187 –, individueller 507 Choreographie 97, 125, 149, 185, 219, 240, 248 –, performative 433 Christkindl-Markt 79, 81 Chronologie 185 Cod War (s. auch Kabeljaukrieg) 450 Computer 231, 263, 265, 279 Cuxhaven 64, 66, 69 Dämmerung 508 Dampfschifffahrt 64 Datenübertragung –, High-Tech- 59 Dauer 355, 387, 396, 428, 430 –, abgerissene 174 Dazwischen –, atmosphärisches 188 Dekoration 47 Denkbarrieren 330 Denken –, atomistisches 395 Deutungsoffenheit 521 Deutungswissen 265 Dichte 99, 241, 429 –, gespannte 439

–, lockere 245 –, performative 131 –, rhythmische 241 –, situative 240 Dinge 334, 338, 343, 400 –, disperse 503 –, hafentypische 321, 340 –, isolierbare 419 –, körperliche 253 –, tote 345 –, zeichenhafte 336 Dingekstasen 191 Dingzusammenhänge 338 Disparitäten –, sozioökonomische 184 Dispositiv 290, 331–332 Distanz 211, 351, 422, 437, 439, 512 –, emotionale 169, 203, 440 –, gelebte 216 –, sinnliche 405, 422 –, theoretische 137 Distanz-Nähe-Verhältnisse 31, 77 Distanzierung –, zivilisationshistorische 440 Distinktion 209 Distributionsnetze –, globale 54 Disziplinierung 438 Doppelgefühl 398 Duft 145, 253, 470 –, -wolke 480 –, leichter 255 –, schwerer 255 –, warmer 143 Durcheinander 104 –, chaotisches 435 Dynamik –, autopoietische 178 –, hyperaktive 342 –, lebhafte 395 –, performative 131–132, 177, 431 E-Commerce 45, 55 Ecke 103, 106, 115, 158, 162, 180, 200, 208, 380 –, atmosphärische 163

544 https://doi.org/10.5771/9783495817643 .

Stichwortverzeichnis Eckräume 162, 164 Eigenart 135, 179, 183 eigenartig 166 Eile 129, 168, 172, 365, 377, 400, 403, 413, 428, 458, 462 Eilfertigkeit 288 Eindruck –, dominanter 396 –, eigenartiger 382 –, erster 191 –, exotischer 397 –, herausragender 100 –, kontrastierender 362 Eindruckserleben –, kontrastierendes 437 Eindrucksvielfalt –, olfaktorische 184 Einfühlung 157 Einklammerung 206 Einschnitt 434 Einvernehmen –, gestörtes 441 Einzelgeräusche 152 Einzelhandelsgeschäfte 59 Einzelnes 134, 148, 182, 241, 380, 383, 395, 502 Ekel 285, 345, 347, 392, 398, 513 Elan –, personaler 33, 170 –, vitaler 132 Emden 62 Emission 254 Emotionalisierung 80, 259 Empfindung –, ästhetische 418 –, gegensätzliche 398 –, leibliche 141 Enge 99, 129, 150, 166–167, 199, 284, 428, 436, 441 Entfremdung 215, 332 Entsinnlichung 287 Entsorgung 145, 182 Entspannung 129, 284 Enttäuschungen 323 Episoden –, performative 241 Ereignis 133, 389, 400, 432, 434

–, -insel 392 Ereignisräume –, städtische 93 Erfahrung 319, 360 –, ästhetische 418 –, sinnliche 503 Ergehen 142, 323 Ergriffenwerden –, affektives 358 Erhabenes 398, 440, 516 Erkennen –, begriffsloses 506 erklingen 160 Erlebnis 84, 361 –, -bilder 391 –, -verläufe 383 Ernährung 320, 463–464 Ernährungsalternativen 76 Ernährungsgewohnheiten 77 Ernährungskultur 346 Ernährungspraxen 345 Ernst 187, 279 Erregungsniveau 72 Erscheinen 170, 426 Erschrecken 174 Erstaunen 352–353 Erwartung 244, 283, 318, 322, 421, 437 –, emotionale 354 –, enttäuschte 320, 327 –, Gefühls- 340 –, gespannte 199 –, kulinarische 403 –, soziale 502 Erwartungsbild 322, 383 Erwartungsgefühle 494 Erwesung 433 Ethik 197, 426, 440, 463 Ethnopsychoanalyse 84 Event –, örtlicher 83 Exklusion 490, 502 –, soziokulturelle 468 Exklusivität 488, 494, 498 Exotik 177, 184, 336, 354, 436 Explikation 123, 159 –, sprachliche 139

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Stichwortverzeichnis Fabrikschiffe 76 Färöer 65 Fassaden –, architektonische 259 Faszination 171 Fernkäufe 56 Fest 496 Fiktion –, atmosphärische 421 Fisch 74, 282, 327, 330, 332, 347 –, -abfallverwertung 63 –, -auktion 64, 66–68, 74, 265 –, -auktionshalle 60, 67 –, -dampfer 63 –, -geruch 331, 339, 344, 366, 417, 421, 456 –, -händler 70, 408, 411, 422, 430 –, -kisten 70, 74 –, -leber 68 –, -Logistik 66 –, -markt 23, 57, 386 –, -sonderzüge 68 –, -tage 64 –, -teiche 57 –, -versorgung 66 –, -versteigerung 46 –, -züge 68 –, ästhetisierter 330 –, toter 447 Fischerei –, -häfen 59 –, -technik 57 –, -wirtschaft 336 –, nachhaltige 353 Fischergeruch 139 Fischmärkte –, Ein-Mann- 61 Fischumschlag –, massenhafter 59 Fish docks 341, 450, 457 Fleischindustrie 290 Fleischmarkt 23 Floristik –, sakrale 47 Forschungsmethoden –, qualitative 264

Fortbewegung 439 Fortschritt –, technischer 458 Fotografiegeschichte 154 Freiraumgestaltung 44 Fremdes 318, 322, 336, 354 Freudenfeuer 82 Frische 419, 421 Fülle 326 Gabelstapler 409 –, lautlose 368 Gabelung –, atmosphärische 163 Ganzes 100, 104, 134, 140, 148, 175, 183, 214, 241, 247, 334, 380, 383, 388–389, 391, 418, 432, 517 –, szenisches 391 Ganzheiten –, sukzessive 383 Ganzheitlichkeit 380 Garnele 332, 344 Garnelenfischerei 337, 346 Gärten –, landschaftliche 48 Gärtnereien 48–49 Gaslicht 239 Gastrosophie 77, 329, 344, 464 Ge-stell 280, 282, 292, 490 Gebannt-Sein 352 Gebärdenfigur 157 Gedränge 99 Gefühle –, Gemeinschafts- 477, 490 Gefühlsappelle 80 Gefühlsmarkt –, romantizistischer 475 Gefühlsorientierung –, säkulare 518 Gefühlsräume 519 Gefühlswelten –, inszenierte 85 Gegend 140, 162, 167, 203–204, 236, 386 –, changierende 387 Gegenstände –, ästhetische 304

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Stichwortverzeichnis Gegenwart 295 –, entfaltete 131, 201, 216, 295, 318 –, primitive 174, 216, 295 Gegenwärtigkeit 426 Gehen 124, 128, 243, 248, 443, 472 –, eiliges 507 Geisterwelt 514 Gelassenheit 438 Gelenkräume 42, 381 Gemeinschaft 42 –, -Begriff 492 –, familiäre 491, 503 –, posttraditionelle 493 Gemeinschaftsgefühle 80 Gemengelage –, atmosphärische 185 Gemüsemarkt 23 Gemütlichkeit –, romantische 83 Gender-Differenz 250 genius loci 488 Geräusche 92, 96, 108, 147, 149, 182, 250, 254, 286, 297, 366, 389, 391, 395, 420, 440 –, akkordartige 394 –, erwartete 394 –, rauschende 518 –, scharrende 454 –, schleifende 314, 454 –, situationsspezifische 391 –, störende 150 –, technische 370 Geräuschkulisse 110, 150, 153, 223 Geräuschteppich 451 Gerichtsverhandlungen 42 Geruch 25, 147, 182, 250, 321, 366, 389, 391, 421, 489, 512 –, beißender 145 –, exotischer 515 –, flüchtiger 252 –, situationstypischer 144 –, undefinierbarer 367 Geruchsaroma 255 Geruchs-Cocktail 378, 394 Geruchserwartung 513 Geruchsfelder 251 Geruchshauch 421

Geruchsherd 142 Geruchsherkunft 252 Geruchsinsel 250 Geruchskombination 514 Geruchskomponente 142 Geruchsmischung 102 Geruchsräume 141, 251 Geruchssinn 516 Geruchswolke 141 Gesang –, liturgischer 160 Geschehen 205, 419 –, vergangenes 371 –, vitales 431 Geschlossenheit 38 Geschmacksempfinden –, subjektives 260 Geschmacksurteil –, subjektives 261, 330 Geschwindigkeit 401, 404, 429 Gesellschaft –, mobile 184 –, schnelle 405 Gesicht 390 –, atmosphärisches 489 Gestaltpsychologie 138 Gestaltung –, architektonische 31, 35 –, ästhetische 35 Gestank 114, 144, 251, 513 Gesten 44, 71, 108, 297, 411, 438, 442, 448, 454, 506 Gestimmtheit 507 Getöse 151 Getreidemarkt 23 Gewächshäuser 48 Gewissen –, schlechtes 78 Gewohnheiten 329, 436 –, unbedachte 461 Gewöhnliches –, Infra- 123, 140, 402 Gewöhnung 190 Glamourisierung –, postmoderne 258 Glamourwelt –, postmoderne 494

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Stichwortverzeichnis Gleichzeitigkeit 328, 439 –, dichte 377 Gotik 510 Grabbler 70 Grenzen 205 –, sinnliche 180 Grenzsituation 176, 359 Grenzziehung 179 Großfischmarkt 66 Großhandel 59 Großmarktgeschäft 232 Großmarkthallen 27 Grote Markt 86, 91 Grundgeräusche –, diffuse 297 Grundstimmung 354, 361 Habitus 17, 97, 102, 109, 127, 131, 155, 168–169, 184, 226, 247, 249, 321–322, 390, 392, 429, 453, 505, 507 –, Gruppen- 446 –, Horden- 488 –, selbstbewusster 446 Hafenlogistik 62 Halbdinge 192, 326, 338–339, 358, 400, 503 Hallenmeister 70 Haltung 505, 507 –, Körper- 130 –, persönliche 505 Handeln –, symbolisches 459 Händler –, fliegende 43 Handzeichen 443 Hanstholm 59 Harmonie 497 –, -gefühle 83 Harren 244 Hässlichkeit 261, 285 Hauptplatz 40 Haut 205 Hektik 71 Helligkeit 237–238 –, panoptische 239 Heringsfischereiflotte 63

Herum –, pathisches 131 Herumgehen 128 Herumwirklichkeit –, atmosphärische 143 Heterochronie 83, 209, 497, 499 Heterosphäre 195, 199 Heterotopie 244, 343, 474 –, klimatische 419 –, temporäre 497 Heterotopien 305 Hexenverbrennungen 42 Himmel –, freier 421 Hinrichtungen 42 Historienmarkt 468, 503 Historienspektakel 502 Hochseefischerei 58, 64, 78 –, industrielle 76 Hoffnung 496 Hoflieferant –, königlicher 50 Homogenität –, situative 380 Homosphäre 195, 199 Hopfenmarkt 51, 54, 60 Hörbild 96, 151 Hören 146, 149 –, situiertes 152 Hotspot –, performativer 457 Hund 343 Hygiene 24, 61, 66 Hyperästhetisierung 515 Hyperraum 475 Hypersensibilität 287 Identität –, changierende 171 –, Fremdzuschreibung 248 –, Selbstzuschreibung von 506 Idiosynkrasie –, sinnliche 392 Illumination 81, 236, 256 –, bewegte 479 –, emotionalisierende 235

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Stichwortverzeichnis Illusion 85, 497, 499 –, stimmungssymbolische 161 Illusionierung 495 Illusionsmedien 473 Imagination 327, 342, 494 Immission 254 Impuls –, vitaler 498 Individualismus –, methodologischer 137 Industrie –, fischverarbeitende 450 Innenraum 380, 469 Inseln –, atmosphärische 52 –, raumzeitliche 429 –, zeitliche 497 Insider 447 Inszenierung 180, 474 –, aseptische 328 –, ästhetische 48, 281 –, atmosphärische 258 –, mittelalterlicher 500 –, symbolische 478 Interessen –, monetäre 343 Interpretation 349 –, mitlaufende 209 Involviertheit –, affektive 349 Irritabilität 356 Irritation 137, 157, 282, 322, 352, 356–357, 387, 396, 524 Isolierung –, räumliche 498 Jahrmarkt 467 Kabeljau-Krieg (s. auch Cod War) 450 Kalküle –, dissuasive 257 Kälte 436 –, atmosphärische 420 Katalysatoren –, atmosphärische 335 Kattegatt 65 kehai 204, 399

Kirchfeste 81 Klang 149, 440 –, -arten 159 –, -farben 159 –, -gewirr 92 –, -kulisse 97, 255 –, -räume 146 –, Gabelstapler- 376 –, hallender 392 –, musikalischer 117 Klanggebilde –, melodische 156 Klappern –, Gabelstapler- 376 Kleidung 247, 249, 370, 377, 390, 451, 500 Kommerz 467 Kommerzialisierung –, vorweihnachtliche 469 Kommunikation 440 –, gestische 431, 459 –, High-Tech- 45, 74 –, leibliche 126, 131, 146, 157, 170, 395, 443, 506, 508 –, nonverbale 432 –, verdichtete 439 Kompensation 497 Können –, pathisches 444 Konstellation 385 Konstruktion –, atmosphärische 494 Konstruktivismus 147 Konsum 329 Konsumkultur –, postmoderne 309 Kontinuität –, gebrochene 245 Kontrast –, -welten 499 –, ästhetischer 109, 329 –, spürbarer 436 Konventionen –, sittliche 298 Konzentration 440 –, gebündelte 284 Kornbörse 26

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Stichwortverzeichnis Kornmarkt 23 Körper 127, 147, 443 Kraftbewegung 396 Kritische Theorie 137 Kühlhäuser 66 Kühlräume 73 Kühlwagen 66 kûki 203 Kultur 77, 276, 290 –, -industrie 347 –, intellektualistische 517 –, urbane 519 Kunst 418 –, -gegenstände 343 Lagerung 75 Landwirtschaft 58 Langeweile 325, 327, 501 Lärm 151 –, -emissionen 518 Laubengänge 27 Lautliches 96 Lautlichkeit 126, 147 Lautlosigkeit 96, 294 Lauwersoog 59 Leben –, hyperaktives 341 Lebendigkeit 33, 71, 118–119, 121, 241, 317, 321, 399, 421, 431–432, 451, 509 –, abgebrochene 341 –, atmosphärische 64 –, markttypische 124 –, marktypische 467 –, vitale 131 Lebensmacht 384, 387 Lebensmittel 465 –, -industrie 330, 338 –, -Märkte 59 Lebensphilosophie 384 Lebensrhythmen 228, 234 Lebenssituation 384 Lebensstil 13, 32 Leblosigkeit 341 Leere 140, 202, 216, 311, 316, 323, 341, 344 –, lebendige 326

–, letale 326 –, mächtige 318 –, öde 325 Legitimationsprobleme 76–77 Leib 147, 443 Leibesinsel 141, 283 Leichtigkeit –, atmosphärische 117 Leit-Atmosphäre 73 Leuchten –, grelles 378 Licht 82, 222, 508 –, -erleben 234 –, -installation 236 –, -symbolik 510 –, -verhältnisse 190 –, abendlich-fahles 377 –, ästhetisches 235 –, atmosphärisches 509 –, fahles 429 –, festliches 509 –, grelles 393 –, künstliches 382 –, natürliches 382 –, Neon- 367, 420 –, rationales 235 –, stimmendes 239 –, technisches 236, 420, 456 –, vitalistisches 235 –, weiches 83 Lücken –, epistemische 134 Macht 329 –, ökonomische 494 –, Spiel der 290 Mannigfaltigkeit –, binnendiffuse 384 –, chaotische 383–384, 433 –, instabile 387 Marinieranstalten 63 Markt –, -Begriff 45 –, -geräusche 111 –, -geschehen 44, 72, 100, 106, 132, 137, 149, 181 –, -halle 18, 21, 26, 45, 143, 420

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Stichwortverzeichnis –, -knechte 25 –, -Plätze 35, 41 –, -Programm 179 –, -regeln 46 –, -Rhythmus 33 –, -situation 246 –, -stände 43 –, -straße 40 –, -strukturen 46 –, -teilhabe 467 –, -treiben 110 –, fliegender 41, 43 –, gemischter 22, 27, 135 –, großer 23 –, großstädtischer 171 –, mittelalterlicher 46 –, offener 51 –, platzloser 45 –, städtischer 142 –, virtueller 18, 45, 461 –, vitaler 153 Marschmusik 242 Maschinismus 282 Massenkonsum 465 Medien –, atmosphärische 387, 500 –, Transformations- 494 –, transversale 515 Meeresnatur 348 Mensch-Natur-Metabolismus 188, 293, 331, 336, 345, 362, 463 Methodologie 350 Mikroklima 74 Milieu –, anästhetisches 404 –, atmosphärisches 518 –, sentimentalisiertes 85 –, vergemeinschaftendes 492 Mimesis 287, 304, 506 Mimik 274 Mitfühlen –, leibliches 255 Mitleid 343 Mitmenschlichkeit 343 Mode 257 Moder 117 Möglichkeitsraum 216

Moment –, trennender 397 –, zeitlicher 397 Monotonie 326, 367, 390 –, langweilige 202 Motorik 127 Möwe 114, 133, 198, 344, 347, 366, 383 Möwenschreie 324, 339, 366, 370 Müll 145, 158 –, -berge 120 Multitasking 424 Musik –, -atmosphäre 155, 160, 169 –, -halle 40 Muster –, habituelle 457 –, performative 297 Mythologie 348 –, christliche 82 –, säkulare 82 Mythos 497, 499 Nachdenken –, kritisches 494 Nachklang 153 Nachspüren –, atmosphärisches 155 Nacht –, dunkle 254 Nähe 422, 465 Näherung 399 Nahrungsmittel –, -beschaffung 346 –, -industrie 331, 462 –, -ökonomie, globale 426 Natur 77–78, 261, 276, 289, 291, 428 –, -ästhetik 50 –, -beherrschung 292 –, -Ekstase 188 –, -schönes 261, 280, 285, 305, 330 –, -unterwerfung 465 –, -vorstellungen, romantizistische 338 –, erste 96 –, innere/äußere 287 –, Technisierung der 292

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Stichwortverzeichnis natura naturans 291 natura naturata 291 Neonlicht 224, 234 Nervosität 300 Neues 114, 118, 173–174, 192, 201, 319, 358 Nichts –, scheinbares 327 Niedergeschlagenheit 82 Nordsee –, -fischerei 59 –, -garnelen 59 Normen –, fischereirechtliche 76 Numinoses 510 Oberflächenästhetisierung 258, 290, 304, 464 Öde 341, 344, 472 Offenheit 169 –, programmatische 44, 495 –, räumliche 41 Ökonomie –, multinationale 184 Online-Handel 55, 177 Orangerien 48 Ordnung 334, 356 –, architektonische 488 –, ästhetische 262, 502 –, atmosphärische 501 –, des Denkens 437 –, hierarchische 446 –, innere 435 Orientierung 354 –, weltanschauliche 502 Ort 425 –, exklusiver 509 –, topographischer 134 Ortsbezug –, singulärer 380 Ortsgeist 203 Ostermarkt 23 Parfüm 516 Passagen 420 Pause 434 Pawlow’scher Hund 289

Performance 380 Performativität 99, 131, 133, 149, 185, 432 Personwerdung 333 Perspektive –, analytische 146 Pfeifen 298, 300 –, metaphorisches 299 Pfingstmarkt 23 Phänomen-Begriff 206 Phantasien 85 Phantasiewelten 84 Platz 86, 91, 97, 108, 122, 126, 157, 163, 180, 198, 216, 320, 370, 472 –, -erleben, leibliches 39 –, -geschehen 95 Plötzlichkeit 102, 131, 137, 170, 173– 174, 294, 352, 355, 396, 436–437 Pluralität –, atmosphärische 183 Possibilismus –, technologischer 293 Prädimensionalität 141, 203, 254 Präsenz 426 –, ästhetische 418, 430 –, atmosphärische 286 –, doppelte 423 –, habituelle 242, 442 –, leibliche 296 Problem 176, 335, 448, 493 –, -Begriff 357 –, situationsspezifisches 247 Programm 176, 249, 335, 387, 389, 448 –, abweichendes 182 –, atmosphärisches 480 –, harmonisches 117 –, Markt- 28, 241, 247 –, marktspezifisches 139 –, systemisches 185 –, Übergangs- 181 Protentionen 149, 151, 196, 201, 397, 504 protopathisch 398 Provokation 524 Prozesse –, situationsspezifische 389

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Stichwortverzeichnis Psychodynamik –, individuelle 351 Psychologie –, Ökologische 181 Qualität –, thermische 238 Quartiersmarkt 13, 34 –, lokaler 469 Rabenvögel 348 Rahmensituation 146 Rahmung –, architektonische 478 –, fixierende 397 Rangordnung –, soziale 443 Rationalität –, ästhetische 328 –, diskursive 328 Räuchereien 63 Raum –, -beleuchtung 234 –, -erleben 421 –, -gefühl 240, 469 –, -geruch 252, 456 –, -insel, atmosphärische 92 –, -inszenierung 48 –, -luft 515 –, -weiche 389 –, -Zeit 205, 215 –, anderer 420 –, architektonischer 164 –, atmosphärischer 134, 166, 396 –, eingerichteter 386 –, ereignisverdünnter 288 –, gelebter 132 –, gestimmter 196, 509 –, kalter 238 –, öffentlicher 42, 93, 155, 420 –, Programm- 43 –, relationaler 93, 130 –, tatsächlicher 93–94, 166, 420, 493, 498 –, technischer 330 Raumerleben –, atmosphärisches 504

Raumerlebnisqualität –, atmosphärische 73 Rauschen 245, 255 Rede –, wörtliche 219, 325, 443, 447, 508, 517, 520 Reflexion –, ethische 331, 346, 353, 427 Regeln –, soziale 218 regressus ad infinitum 521 Renaissance 36 –, -Gärten 48 Repräsentation 47, 187 Reproduktionsmedizin 362 Resonanz 118, 217 –, -beziehung 94 –, -raum, sozialer 489 –, leibliche 217 –, sinnliche 516 –, stumme 516 Restlicht 393 Rhythmus 112, 125, 158, 182, 193 –, eiliger 72 –, gehetzter 288 –, Geschwindigkeits- 401 –, performativer 240, 432 –, pulsierender 341 –, schneller 287 –, stimmender 399 –, zeitlicher 428 Richtung 239, 284 Riechen 146 Rindermarkt 23 Roßmarkt 23 Rücksicht 343 Rufe 300, 456 Ruhe 296, 316, 344, 411, 438 –, -Eindruck 38 –, beredte 297 –, geräuschlose 324 –, gespannte 286, 296 –, herrschende 286 –, menschenleere 323 Sachverhalt 166, 176, 194, 249, 335, 387, 389, 448, 493

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Stichwortverzeichnis Sammelplatz 39 Sauberkeit 24 Säulenhallen 26 Schall 150 Schallmasse 157 Schaulust –, touristische 344 Schauplatz 139, 178, 219 Schein –, schöner 260, 465 Schlossanlagen –, barocke 48 Schmetterling 275, 293, 295, 305 Schnelligkeit 172, 300, 367, 390, 400, 403, 428–431, 434, 437, 462 –, habituelle 74 –, situationsgerechte 435 Schnittblumen 46, 49, 55, 74, 220, 222, 256, 267, 280, 405 Schnittstelle –, maschinistische 289 Schönes 258, 285 Schönheit 285 –, freie 261 Schragenstände 24 Schreck 174, 284, 352–353, 355, 441 Schwaden 251 Schweinehaltung 24 Schwelle –, anthropologische 405 –, performative 400 Schwellung 199, 285, 296 Sedierung 315, 510 Seehäfen 59 Segregation 490, 498 Sehen 146 Sehnsüchte 85 Seinsweise –, existenzielle 464 Selbstbeobachtung 351 Selbsterfahrung 78 Selbstgespräch –, ethisches 349 –, kritisches 320 Selbstgewahrwerdung 175, 328, 352 –, affektive 161

Selbstpräsentation 169, 195 Selbstreflexion 349 Selbstsicherheit –, einverleibte 445 Selbstverständlichkeit 362, 403 Sensibilität –, ästhetische 180 –, theoretische 186 Sentimentalisierung 494, 497, 510 Sepulkralkultur 49 Serialität –, industrielle 403 Shetlandinseln 65 Sich-Wundern 354 Simulation 499 –, Markt- 491 Simultaneität 97 Sinnlichkeit –, residuelle 272 Sirene 72 Situation 175, 383 –, aktuelle 132, 177, 385–386 –, aufnehmende 248 –, benachbarte 388, 391 –, bizarre 117 –, chaotisch-mannigfaltige 98 –, einbettende 504 –, gemeinsame 176, 246, 385, 507, 519 –, geschachtelte 389 –, gesellschaftliche 520 –, herausfordernde 441 –, impressive 177, 179, 364, 385, 389, 392 –, kommunizierende 180 –, objektive 123, 168, 183 –, persönliche 176, 249, 385, 505 –, rahmende 419 –, segmentierte 145, 155, 177, 385, 388, 393 –, städtische 96 –, subjektive 123, 168, 183 –, transversale 172, 388 –, ungewöhnliche 423 –, Unruhe- 202 –, verinselte 393

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Stichwortverzeichnis –, verschachtelte 175, 177, 182, 387 –, zentrale 389 –, zuständliche 94, 177, 385 Situations-Begriff 176, 181, 384 Skagerrak 65, 461 Skandalisierung 345 Sorge 352, 402, 463 –, Selbst- 76, 522 Spannung 118, 160, 198–199, 219, 296, 299–300, 416, 431 –, ästhetische 118, 155, 202, 260, 305, 327, 440, 465, 490 –, atmosphärische 189, 198, 218, 274, 283, 296, 424, 431, 494 –, aufgestaute 299 –, aufmerksamkeitsbedingte 284 –, befindliche 284 –, elektrisierte 297 –, fesselnde 203 –, idiosynkratische 263 –, knisternde 73, 440 –, leibliche 199, 283 –, muskuläre 301 –, Nerven- 283 –, performative 71 –, polare 402 –, potentielle 201 –, situative 72 Spannungsabbau 439 Spannungsentladung 440 Spannungsbegriff 283 Spannungsverhältnisse 438 Spektakel 163, 205 –, vorweihnachtliches 500 Spiel 187, 279 Sprechsituation –, lebensweltliche 445 Spüren –, ästhetisches 157 –, synästhetisches 31 Stadt –, -beleuchtung, vorweihnachtliche 511 –, -platz 40 –, -quartier 32 –, Gesichter der 98 Stehen 244

Stille 256, 286, 294, 324, 340 –, drückende 241 –, morbide 338 Stillstand 344, 402, 434, 461 Stimme 108, 148, 192, 248, 254, 275, 297 Stimmengewirr 95 Stimmung 123, 142, 158, 164, 167, 238, 240, 242, 361, 439, 467, 491, 509, 513 –, gemeinschaftliche 492 –, gespannte 438 –, religiöse 510 Stimmungsmacht 143 Stimmungsuntergrund 167 Striezelmarkt 81 Ströme –, performative 399 Stutzen 352–353, 377 Suggestion –, architekturpsychologische 498 Supermarkt 12, 14 Süßes 474 Symbole –, christliche 495 –, weihnachtliche 468 Symbolik –, Weihnachtsmarkt- 485 Synästhesie 161, 170, 193, 255, 392, 395, 398, 419, 456, 504, 509, 515 Synchronisierung –, Situations- 179 Systemtheorie 385 Szene –, exotische 106 –, wechselhafte 130 Tag-Nacht-Rhythmus 234 Tageslicht 267 Tanz 125, 243 –, -musik 156 Tasten 146 Tausch 262 –, -wert 281 Technik 289, 440 Teilhabe 249, 284 –, leibliche 398

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Stichwortverzeichnis Temperatur 188, 221, 226, 266, 311, 367, 370, 377, 407, 417, 419, 436, 456, 495 Tempo 275, 286, 399 –, hohes 288 Tepito 79 Textilmarkt 29 Theatralität 149 Tiefe 254 Tiefenästhetisierung 259, 304 Tier 96, 102, 124, 172, 188, 293, 331, 342–343, 358 –, -beziehung 208 –, -ethik 34, 75, 78 –, -reste 345, 353 –, ästhetisches 344 –, schönes 347 Tod 337, 341, 345, 347 Töne 108, 149 Totes –, Quasi- 341 Touristen 314, 321, 323, 336–337, 357 Traditionen 185 –, christliche 84 Trajektologie 401–402 Tran 63, 68 Transhumanismus 293 Transport 75 Transversalität 524 Treiben –, eiliges 403 –, turbulentes 315 –, urbanes 95 Trennendes 198, 397 Tribüneneinkaufsarbeitsplätze 55 Trödelmarkt 29 Tugenden 513 Tulpen 49 –, -manie 49 Überbelichtung 405 Übereilung 288 Übergang 104, 144, 158, 162, 185, 495 –, atmosphärischer 157, 194, 388 –, diffuser 194

Überlagerung –, atmosphärische 194, 198 Übersehenes 402 Übung –, anthropologische 522 Uhrenverkaufssystem 265, 268 Uhrenvorverkauf 55 Umfriedung 36 Unerwartetes 438 Ungleichzeitigkeit 118 Unruhe 275, 324 –, gestische 301 Unsicherheit 318 Unterbrechung 352, 434 Unversehrtheit 428 Urbanität 12, 29, 41, 217 Vereinzelung 490 Verfall 117 Verfallsmilieu 115 Verfremdung –, exotisierende 155 Vergangenheit 245 Vergemeinschaftung 490 Vergesellschaftung 333 Verhalten –, nervöses 276 Verhaltensabweichung 264 Verhaltensunsicherheit 248 Verinselung 362 Verkaufshalle 59 Vernetzungszusammenhang 381 Vernunft –, kulinarische 77 Verschlossenheit 169 Verschwinden 164, 184 Versprachlichung 350 Verstehen 211, 264, 425 –, gestimmtes 212 –, interpretierendes 328 –, kontextuelles 207 –, Situations- 206 –, synästhetisches 394 Versteigerung 247, 265–266, 270, 276, 423 Versteigerungsbeamte 69–70 Versteigerungshalle 70

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Stichwortverzeichnis Verteilungsautomobile 66 Vertrautheit 201, 318 Verwissenschaftlichung 207 Viehmarkt 23 Vielfalt 135 Viktualienmarkt 58 Virtualität 406 Virulenz –, transitorische 114 Vismarkt 86, 98, 122, 154, 177 Vitalismus –, neuer 186, 217 Vitalität –, Hafen- 370 Vitalqualität –, atmosphärische 32, 69, 164, 398 –, harmonistische 488 –, veränderte 395 Volkstümlichkeit 488 Vorgestalt 400 Vorklang 153–154 vorschnell 289 Wahrnehmung 175, 514 –, Beschränkung der 211 –, exotisierende 514 –, glättende 196 –, Haltung der 214 –, simultane 204, 390 –, sinnliche 258 –, symbolische 515 Wahrnehmungsmuster 334 Wahrnehmungsveränderung 437 Wandel 99, 190, 216 –, atmosphärischer 188 Waren 281, 304 –, floristische 293 Warmes 474 Warten 244, 434 –, leeres 245 –, vergebliches 245 Weiche –, atmosphärische 146 Weiches 474, 504 Weihnachtsbaum 81 Weihnachtsbeleuchtung 81 Weihnachtsmarkt 23, 79

Weihrauch 515 Weite 129, 150, 166–167, 199, 216, 284, 441 –, gelassene 428 Welten –, -wechsel, temporärer 499 –, entmischte 482 –, hypertechnische 215 –, kollidierende 498 –, kosmologische 499 –, urbane 142 Wenzelsplatz 38 Werden 132, 437 Werthaltungen –, politische 338 Wertorientierung –, gesellschaftliche 350 Wesen –, atmosphärische 348 Wind 190, 340 –, -kraftanlagen 314, 324, 339 –, atmosphärischer 118 Winterkleidung 409 Wirklichkeit –, dystopische 473 –, zusammenhängende 425 Wissen 319 –, begrenztes 138 –, deutungsrelevantes 212 –, einverleibtes 444 –, lebensweltliches 213 –, vorläufiges 138 Witz 439 Wochenmarkt 98, 177 Wohlgeruch 158, 251, 513 Zeichen –, idiosynkratische 336 Zeigen 523 Zeit –, -erleben 245 –, -geist 78, 203, 488 –, -strukturierung, rituelle 489 –, gelebte 192, 240, 246, 431 Zentralörtlichkeit 389 Zentrum –, performatives 393

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Stichwortverzeichnis Zersetzung 144 Zerstreuung 424 Zierpflanzen 46 Zivilisation 464 –, technische 282, 424, 465 Zivilisationsgeschichte 291, 346 Zivilisationskritik 320, 424 Zivilisationsprozess 362 Züchtung 292 Zufall 137, 173, 433, 435

Zugehörigkeit –, soziale 448 Zumutungen –, dissuasive 498 Zusammenhang –, situationsspezifischer 181 –, zerrissener 393 Zwielicht 378, 393 Zwischenrufe 272 Zyklen –, Markt- 241

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Philosophie im alltäglichen Erleben

Jürgen Hasse Die Aura des Einfachen Mikrologien räumlichen Erlebens ISBN 978-3-495-48852-2 344 Seiten | Gebunden Auch als eBook (PDF) erhältlich In Band 1 der auf drei Bände angelegten »Mikrologien« nimmt Jürgen Hasse vier alltägliche Situationen räumlichen Erlebens zum Anlass phänomenologischer Reflexion: ein zufällig angreifender aversiver Geruch, das Gebannt-Werden von Atmosphären der Stille, das Wehen des Windes und das Warten in Airport-Lounges. Die phänomenologische Durchquerung des Einfachen und scheinbar Banalen eröffnet nicht nur Einblicke ins Übersehene auf Seiten der Objekte. Auf der Subjektseite schärft sie das Selbst-Bewusstsein und macht alltäglich gelebte Beziehungen zum eigenen Selbst wie zum ›Herumwirklichen‹ dem Nachdenken zugänglich.

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