Die Ambivalenz des Fortschritts: Friedrich Nietzsches Kulturkritik [Reprint 2015 ed.] 9783050080079, 9783050036694


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German Pages 230 [232] Year 2001

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Vorwort
Einleitung
I. Fortschritt – Gehalt und Geschichte eines Begriffs
I. 1 Vorbemerkung
I. 2 Der Sinngehalt des Fortschrittsbegriffs
I. 3 Die Geschichte des Fortschrittsgedankens
I. 4 Zusammenfassung
II. Der Fortschrittsbegriff des modernen „Sokratismus“ und die künstlerisch-tragische Fundamentalalternative
II. 1 Vorbemerkung
II. 2 Der szientistisch-eudämonistische Fortschrittsglaube der Moderne
II. 2. 1 Der Fortschrittsoptimismus des „Sokratismus“
II. 2. 2 Nähere Bestimmung des „sokratistischen“ Fortschrittsglaubens
II. 2. 3 Anmerkungen zu Nietzsches Auslegung des „sokratistischen“ Fortschrittsglaubens
II. 3 Nietzsches Kritik am szientistisch-eudämonistischen Fortschrittsglauben des „Sokratismus“
II. 3. 1 Kritik am Szientismus
II. 3. 2 Kritik am Egalitarismus und Liberalismus
II. 3. 3 Die wechselseitige Beeinflussung der wissenschaftlichen und der ethisch-politischen Fortschrittsvorstellungen des „Sokratismus“
II. 3. 4 Anmerkungen zu Nietzsches Kritik am szientistisch-eudämonistischen Fortschrittsglauben des „Sokratismus“
II. 4 Nietzsches positive Fortschrittsvorstellung
II. 4. 1 Der künstlerisch-tragische Pessimismus
II. 4. 2 Die apollinisch-dionysische Kunst
II. 4. 3 Der „Fortschritt“ zu einer künstlerisch-philosophischen Kultur der Moderne
II. 4. 4 Anmerkungen zu Nietzsches positiver „Fortschritts“-Vorstellung
II. 5 Zusammenfassung
III. (Un)zeitgemäße Gedanken über den Fortschritt
III. 1 Vorbemerkung
III. 2 Über „Wahrheit“ und „Weltgeschichte“
III. 2. 1 Die Perspektive der „Wahrheit“
III. 2. 2 Nietzsches Kritik an der Philosophie der „Weltgeschichte“
III. 2. 3 Anmerkungen zu Nietzsches Wahrheitskritik und seinem Hegelbild
III. 3 „Götzenbilder“ der Bildungsphilister
III. 3. 1 Kritik des Darwinismus
III. 3. 2 Kritik der „historischen Krankheit“
III. 3. 3 Kritik des Nationalismus
III. 3. 4 Anmerkungen zu Nietzsches Kritik an den „Götzenbildern“ des Philistertums
III. 4 (Un)zeitgemäße Fortschrittsvorstellungen
III. 4. 1 Fortschritt als Handlungsmotiv
III. 4. 2 Selbstüberwindung als Fortschritt zum höheren Selbst
III. 4. 3 Fortschritt zu einem höheren „Grad der Kultur“
III. 4. 4 Anmerkungen zu Nietzsches (un)zeitgemäßen Fortschrittsvorstellungen
III. 5 Zusammenfassung
IV. Die Fortschrittskritik des freien Geistes
IV. 1 Vorbemerkung
IV. 2 Die Kritik am metaphysisch-chiliastischen Fortschrittsglauben
IV. 2. 1 Die Destruktion der metaphysischen Ideale
IV. 2. 2 Die Defizite des modernen chiliastischen Fortschrittsglaubens
IV. 2. 3 Gerechtigkeit der Metaphysik
IV. 2. 4 Anmerkungen zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik
IV. 3 Die (im)moralistische Kritik am moralischen Fortschrittsglauben
IV. 3. 1 Die Destruktion der „absoluten Moral“
IV. 3. 2 Die Defizite des moralisch-egalitaristischen Fortschrittsglaubens
IV. 3. 3 Der Fortschritt zur Individualethik
IV. 3. 4 Anmerkungen zu Nietzsches Moralkritik
IV. 4 Der Fortschritt aus dem Nihilismus
IV. 4. 1 Die Ambivalenz des Nihilismus
IV. 4. 2 Der „Fortschritt in der Macht“
IV. 4. 3 Das experimentell-geistige Fortschreiten
IV. 4. 4 Die Morgenröthe eines kulturellen Fortschritts
IV. 4. 5 Anmerkungen zum positiven Fortschrittsverständnis des freien Geistes
IV. 5 Zusammenfassung
Schlußbemerkung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
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Die Ambivalenz des Fortschritts: Friedrich Nietzsches Kulturkritik [Reprint 2015 ed.]
 9783050080079, 9783050036694

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Wolf Gorch Zachriat Die Ambivalenz des Fortschritts

Wolf Gorch Zachriat

Die Ambivalenz des Fortschritts Friedrich Nietzsches Kulturkritik

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titelsatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3 - 0 5 - 0 0 3 6 6 9 - 9 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Meinen Eltern in Liebe und Dankbarkeit

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

11

Einleitung

13

I.

Fortschritt - Gehalt und Geschichte eines Begriffs

1. 1

Vorbemerkung

23

I. 2

Der Sinngehalt des Fortschrittsbegriffs

24

I. 3

Die Geschichte des Fortschrittsgedankens

28

I.4

Zusammenfassung

37

II.

Der Fortschrittsbegriff des modernen „Sokratismus" und die künstlerisch-tragische Fundamentalalternative

II. 1

Vorbemerkung

39

II. 2

Der szientistisch-eudämonistische Fortschrittsglaube der Moderne . . .

40

II. 2. 1

Der Fortschrittsoptimismus des „Sokratismus"

40

II. 2. 2

Nähere Bestimmung des „sokratistischen" Fortschrittsglaubens . . . .

43

II. 2. 3

Anmerkungen zu Nietzsches Auslegung des „sokratistischen" Fortschrittsglaubens

47

II. 3

Nietzsches Kritik am szientistisch-eudämonistischen Fortschrittsglauben des „Sokratismus"

51

II. 3. 1

Kritik am Szientismus

51

II. 3. 2

Kritik am Egalitarismus und Liberalismus

55

8

II. 3. 3 II. 3. 4

INHALTSVERZEICHNIS

Die wechselseitige Beeinflussung der wissenschaftlichen und der ethisch-politischen Fortschrittsvorstellungen des „Sokratismus" . . . .

59

Anmerkungen zu Nietzsches Kritik am szientistischeudämonistischen Fortschrittsglauben des „Sokratismus"

62

II. 4

Nietzsches positive Fortschrittsvorstellung

70

II. 4. 1

Der künstlerisch-tragische Pessimismus

70

II. 4. 2

Die apollinisch-dionysische Kunst

73

II. 4. 3

Der „Fortschritt" zu einer künstlerisch-philosophischen Kultur der Moderne

76

II. 4. 4

Anmerkungen zu Nietzsches positiver „Fortschritts"-Vorstellung

. . .

81

II. 5

Zusammenfassung

III.

(Un)zeitgemäße Gedanken über den Fortschritt

III. 1

Vorbemerkung

89

III. 2

Über „Wahrheit" und „Weltgeschichte"

91

III. 2 . 1

Die Perspektive der „Wahrheit"

91

III. 2. 2

Nietzsches Kritik an der Philosophie der „Weltgeschichte"

94

III. 2. 3

Anmerkungen zu Nietzsches Wahrheitskritik und seinem Hegelbild

III. 3

„Götzenbilder" der Bildungsphilister

102

III. 3. 1

Kritik des Darwinismus

102

III. 3. 2

Kritik der „historischen Krankheit"

106

III. 3. 3

Kritik des Nationalismus

109

III. 3. 4

Anmerkungen zu Nietzsches Kritik

86

. .

99

an den „Götzenbildern" des Philistertums

112

III. 4

(Un)zeitgemäße Fortschrittsvorstellungen

116

III. 4. 1

Fortschritt als Handlungsmotiv

116

III. 4. 2

Selbstüberwindung als Fortschritt zum höheren Selbst

119

III. 4. 3

Fortschritt zu einem höheren „Grad der Kultur"

122

III. 4. 4

Anmerkungen zu Nietzsches (un)zeitgemäßen Fortschrittsvorstellungen

126

III. 5

Zusammenfassung

130

INHALTSVERZEICHNIS

IV.

Die Fortschrittskritik des freien Geistes

IV. 1

Vorbemerkung

IV. 2

Die Kritik am metaphysisch-chiliastischen Fortschrittsglauben

IV. 2. 1

Die Destruktion der metaphysischen Ideale

IV. 2. 2

Die Defizite des modernen chiliastischen Fortschrittsglaubens

IV. 2. 3

Gerechtigkeit der Metaphysik

IV. 2. 4

Anmerkungen zu Nietzsches Auseinandersetzung

9

133 . . . .

135 . . . .

Die (im)moralistische Kritik am moralischen Fortschrittsglauben

139 144

mit der Metaphysik IV. 3

135

148 . . .

IV. 3. 1 Die Destruktion der „absoluten Moral"

153 153

IV. 3. 2

Die Defizite des moralisch-egalitaristischen Fortschrittsglaubens

. . .

158

IV. 3. 3

Der Fortschritt zur Individualethik

162

IV. 3. 4

Anmerkungen zu Nietzsches Moralkritik

167

IV. 4

Der Fortschritt aus dem Nihilismus

171

IV. 4. 1 Die Ambivalenz des Nihilismus

171

IV. 4. 2

Der „Fortschritt in der Macht"

176

IV. 4. 3

Das experimentell-geistige Fortschreiten

181

IV. 4. 4

Die Morgenröthe eines kulturellen Fortschritts

186

IV. 4. 5

Anmerkungen zum positiven Fortschrittsverständnis des freien Geistes

192

IV. 5

Zusammenfassung

199

Schlußbemerkung und Ausblick

203

Literaturverzeichnis Personenverzeichnis

217 227

Vorwort

„Auf die Vergötzung des Fortschritts antwortete man mit der Vergötzung der Verdammung des Fortschritts: das war alles und ergab zwei Gemeinplätze." Paul Valery, Ober Kunst

Die Idee des Fortschritts ist in den letzten Jahrzehnten von einflußreichen Philosophen heftig attackiert worden. Die diagnostizierte Krise des modernen Fortschrittsdenkens kontrastiert eigentümlich mit dem wirkungsmächtigen wissenschaftlich-politischen Fortschrittsprogramm der Neuzeit. Während Demokratisierung und Wohlstandssteigerung durch Naturwissenschaft, Technik und Industrie als positiv angesehen und angestrebt werden, finden sich gleichzeitig Zweifel und Ablehnung gegenüber dem Fortschrittsgedanken. Diese Spannung hat mich angeregt, den Begriff des Fortschritts detailliert zu untersuchen. Da sich zahlreiche Kritiker auf Friedrich Nietzsche als Gewährsmann bezogen haben, schien mir die Auseinandersetzung mit seinen Schriften sinnvoll zu sein. Nietzsches Denken, das der von Gegensätzen durchzogenen Komplexität der Wirklichkeit gerecht zu werden versucht, zeigte sich unter diesem Aspekt als außerordentlich fruchtbar. In den Seminaren von Prof. Dr. Reinhart Maurer an der Freien Universität Berlin habe ich erstmals Bekanntschaft mit einem nüchtern-akribischen Interpretieren von Nietzsches Schriften gemacht. Hier lernte ich, den gegen moderne Einseitigkeiten gerichteten, ausgleichenden Sinn von Nietzsches kritischer Radikalität zu schätzen. Bei den Veranstaltungen von Dr. Christoph Menke habe ich des weiteren die vielschichtigen direkten und indirekten Verbindungen von Nietzsche zu aktuellen philosophischen Positionen und Diskussion kennengelernt. Während der Ausarbeitung meiner Dissertation erhielt ich kritische und hilfreiche Kommentare von zahlreichen Freunden. Stellvertretend möchte ich namentlich Klaus Wiemers, Martin Böhnke und Jürgen Mertens nennen, die mich in vielen Diskussionen gefordert und damit gefordert haben. Weiterhin verdanke ich den Kolloquien von Prof. Dr. Reinhart Maurer und Prof. Dr. Albrecht Wellmer an der Freien Universität Berlin sowie von Prof. Volker Gerhardt an der Humboldt Universität fruchtbare Anregungen. Insbesondere in dem Kolloquium bei Prof. Reinhart Maurer konnte ich alle Teile mei-

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VORWORT

ner Arbeit vorstellen und bei intensiven Diskussionen prüfen. Ralf Oliv und Yvonne Schievelbusch bin ich schließlich fur die letzten Korrekturen bzw. für die Geduld mit mir dankbar. Im Wintersemester 1999/2000 lag diese Studie der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin vor. Für deren freundliche Beurteilung danke ich den Gutachtern Prof. Dr. Reinhart Maurer sowie Prof. Dr. Volker Gerhardt. Für die geduldige Betreuung des Manuskripts beim Akademie Verlag bin ich Herrn Dr. Mischka Dammaschke verbunden. Der größte Dank gilt aber meiner Familie und insbesondere meinen Eltern, die mich in allen Lebenslagen unterstützt haben und denen ich dieses Buch hiermit widme.

Einleitung

Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der „Fortschritt" ist bloss eine moderne Idee, das heisst eine falsche Idee. Nietzsche, Der Antichrist

Nietzsches effektvolle Stigmatisierung der Idee des Fortschritts, deren Falschheit gemäß der oben angeführten Textpassage schon in der Modernität dieser Vorstellung begründet liegen soll, ist gegenwärtig sehr attraktiv, weil sie in einprägsamen Worten die Fragwürdigkeit des Fortschritts und der Moderne thematisiert. Diese Brandmarkung des „Fortschritts" kann allerdings zu Irritationen fuhren, wenn Nietzsches Auseinandersetzung mit dieser Idee auf ein Plädoyer für deren Verabschiedung reduziert wird. Schon die Verwendung der Anführungszeichen in dem zitierten Text signalisiert eine komplexere und differenziertere Auslegung, die von dem Liebhaber der Maske wie so oft hinter den glänzenden Kulissen der Rhetorik verborgen wird. Erst die Konzentration auf Nietzsches Texte ohne sie „wörtlich" zu nehmen - daran hat Thomas Mann eindringlich erinnert - bietet die Möglichkeit einer Annäherung an die verschiedenen tragenden Ebenen seines Denkens. 1 Die Aufgabe dieser Dissertation ist eingedenk der nuancenreichen Philosophie Nietzsches die Untersuchung seiner vielschichtigen Kritik des Fortschritts, die meines Erachtens nicht nur ein Desiderat der Forschung darstellt, sondern sich zugleich in einem aktuellen Problemhorizont bewegt. Die Aktualität von Friedrich Nietzsche ist angesichts der gegenwärtigen Flut von Aufsätzen, Monographien und Sammelbänden über diesen (un)zeitgemäßen Klassiker offensichtlich. Kaum ein anderer Philosoph wird im feuilletonistischen und wissenschaftlichen Blätterwald derart vielfaltig und ausführlich rezipiert. Dieses außerordentliche Interesse hat sowohl Anhänger als auch Kritiker erstaunt, da Nietzsches Stern ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod auch aufgrund der nationalsozialistischen Inan-

Siehe Thomas Mann: Nietzsches S. 47.

Philosophie

im Lichte unserer Erfahrung.

Frankfurt a. M. 1948,

14

EINLEITUNG

spruchnahme und der sozialistischen Verurteilung unweigerlich zu sinken schien.2 Doch es sollte anders kommen. Gegenwärtig belegen die zahlreichen ernsthaften und anregenden Deutungen zu Nietzsches oft provokant-schillernden Texten sowie die sich auf ihn berufenden modischen Debatten und postmodernen Spielereien die große internationale Popularität des umstrittenen Denkers der Einsamkeit. Angesichts der mannigfaltigen Interpretationsansätze, die auch durch die Vielschichtigkeit seiner Philosophie angeregt werden, kann die gegenwärtige Bedeutsamkeit Nietzsches nicht mit einem singulären Gegenwartsbezug erklärt werden. Gleichwohl lassen sich wesentliche und marginale Perspektiven unterscheiden. Einen zentralen Aspekt der gegenwärtigen Rezeption Nietzsches bilden seine vielfaltigen Stellungnahmen zur Moderne, wobei der Begriff der „Moderne" sowohl bei dem Rezipierten als auch bei den Rezipienten äußerst heterogen verwandt wird. Oft wird in gegenwärtigen Debatten über das Wesen der Moderne ein Bezug zur Idee des Fortschritts hergestellt, gemäß dem diese Idee den Standpunkt der Moderne kennzeichne. Ähnliches scheint auch Nietzsche in dem einleitenden Zitat aus dem Spätwerk Der Antichrist anzudeuten, wenn er im Kontext seiner Kritik an der depotenzierten Moderne die Fortschrittsidee attackiert, die „bloss eine moderne Idee, das heisst eine falsche Idee" (A 171) sei.3 Die vorliegende Dissertation über Nietzsches Kritik des Fortschritts wird auch die Kontroversen um seine Stellung zur Moderne thematisieren, allerdings liegt mein zentrales Erkenntnisinteresse in der Untersuchung der spannungsvollen Einheit von Negation und Affirmation in dieser Kritik. So wird einerseits seine vehemente Absage an ein in der Moderne weit verbreitetes Fortschrittsdenken analysiert, das von ihm als Arzt der Kultur mit dem .götzenexaminierenden Hammer' auskultiert wird. Andererseits wird gefragt, inwieweit sich seine Kritik des Fortschritts aus der Quelle eines kritischen Fortschrittsdenkens speist, das letztendlich eine bejahende Umwertung intendiert. Meine 2

3

Diese Einschätzung spiegelt sich ζ. B. in Aussagen von zwei einflußreichen deutschen Denkern wider, deren Auslegung von Nietzsches Schriften unterschiedlich ausfällt. In dem Nachwort zu einer Zusammenstellung von Nietzsches erkenntnistheoretischen Schriften konstatiert Jürgen Habermas 1968: „Nietzsche hat nichts Ansteckendes mehr" (siehe Jürgen Habermas: Nachwort. In: Friedrich Nietzsche: Erkenntnistheoretische Schriften. Hrsg. v. J. Habermas. Frankfurt a. M. 1968, S. 237). Dieses Urteil mit Blick auf den Einfluß von Nietzsches Denkgestus auf die „scheinradikalen" Intellektuellen hat Habermas spätestens mit seiner Vorlesungsreihe über den philosophischen Diskurs der Moderne widerrufen, denn dort erscheint Nietzsche als der entscheidende Wegbereiter der von einer totalen Vernunftkritik infizierten Postmoderne (siehe Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. 4 1 9 8 8 , S. 104 ff.). Verwundert über die anhaltend positive Resonanz auf die Nietzsche-Studien zeigte sich deren langjähriger Mitherausgeber Wolfgang Müller-Lauter. In einem Berliner Colloquium vom 10. Juli 1997 erinnerte er an seine große Skepsis bei der Gründung dieser Zeitschrift im Jahr 1972. Vgl. auch die Anmerkung zur Rezeptionsgeschichte aus einer amerikanischen Perspektive von Tracy Β. Strong (Ders.: Nietzsche 's political misappropriation. In: The Cambridge Companion to Nietzsche. Hrsg. v. B. Magnus u. K. Higgins. Cambridge 1996, S. 119 ff.). Die Nietzsche-Zitate werden in den nachstehenden Klammern, die zumeist direkt im Text angeführt werden, nachgewiesen. Die Angaben verweisen auf den Band und die Seitenzahl der Kritischen Studienausgabe der Werke (= K S A ) und der Briefe (= KSB), herausgegeben von G. Colli und M. Montinari. Zu den Abkürzungen siehe das Siglenverzeichnis im Literaturverzeichnis.

EINLEITUNG

15

Untersuchung fokussiert somit die Ambivalenz von seiner Kritik des Fortschritts, die im Sinne des doppelgesichtigen Genitivs als genitivus objectivus und genitivus subjectivus einerseits bestimmte Fortschrittsvorstellungen kritisiert, andererseits aber mit dieser Kritik die Initiierung bestimmter positiv gedeuteter Fortschritte anstrebt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der gegenwärtigen Gewichtung der beiden Pole seiner doppelgesichtigen Fortschrittskritik. Ein wesentlicher Grund für die breite und teils intensive Rezeption seiner Schriften im 20. Jahrhundert liegt in der von ihm prognostizierten Erschütterung von wirkungsmächtigen Vorstellungen in der Moderne, zu denen auch die Überzeugung einer ständig fortschreitenden Bedürfnisbefriedigung der Menschen zählt. Die einsetzende Phase der Enttäuschung und Verunsicherung des Einzelnen durch die Problematisierung von bisher fest verankerten, richtungsweisenden Perspektiven wird von Nietzsche bereits in seinen frühen Schriften thematisiert, ehe er in den Achtziger Jahren die Auflösung von sicher geglaubten Überzeugungen unter dem vieldeutigen Begriff ,Nihilismus' behandelt. Die möglichen negativen Folgen der „großen Loslösung" (ΜΑ I 15) von zuvor essentiellen Werten hat er dann wiederholt mit der Metapher vom heimat- und orientierungslosen Schiff auf hoher See eindringlich beschrieben. Für die Fortschrittsthematik in Nietzsches Werk ist von zentraler Bedeutung, daß er eine schrittweise Enttäuschung des hohen Erwartungshorizonts seiner Zeitgenossen vorhersagt. Sehr anschaulich hat Gustave Flaubert diesen optimistischen Erwartungshorizont in seinem Roman Madame Bovary anhand der Figur des Apothekers Homais geschildert: Dieser unbeirrbare „Anhänger des Fortschritts" glaubt an eine kontinuierliche Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf Erden, die, angetrieben durch die Erfolge der Wissenschaften, das „Wohl aller Menschen" fordern soll.4 Ähnlich wie Flaubert, der den Optimismus von Homais mit dem tragischen Geschehen in seiner Nachbarschaft konterkariert, prognostiziert Nietzsche eine nachhaltige Erschütterung der optimistischen Überzeugung von der fortschreitenden Abschaffbarkeit der negativen, leidvollen Momente im Leben. Aus seiner Perspektive liegt in der kritischgenealogischen Untersuchung der Fortschrittsidee eine Chance, die das übertriebene Vertrauen in die kontinuierliche Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen der Menschen nüchtern zu prüfen und eventuell bessere Alternativen aufzuzeigen vermag. Im 20. Jahrhundert hat sich die von Nietzsche prognostizierte Enttäuschung übersteigerter Fortschrittserwartungen zumindest partiell erfüllt. Allein die Destruktivität der beiden Weltkriege und der darauf folgende Aufbau eines ungeahnten Vernichtungspotentials haben die optimistische Interpretation des Geschichtsprozesses als irreversible Annäherung an einen erstrebenswerten Zustand des allgemeinen Glücks widerlegt. Auch die Implosion der verstiegenen nationalsozialistischen und marxistischen Versprechen, das Scheitern der vermessenen Erwartungen des Szientismus und die Krisenanfalligkeit der neo-Iiberalistischen Weltordnung haben das Vertrauen in die Annahme eines universellen Wandels zum Besseren erschüttert. Während Jacob Burkhardts tiefer Argwohn vor der Fortschrittsidee kaum die öffentliche Meinung seiner Zeit repräsentierte, so erregen in unserem Jahrhundert Buch- und Aufsatztitel wie Das Verhängnis des Fortschritts, Der tödliche Fortschritt oder Die Illusion Fortschritt verhältnismäßig 4

Gustave Flaubert: Madame Bovary. München 1993, S. 226 bzw. 232.

16

EINLEITUNG

große Aufmerksamkeit. Trotz der relativen Sicherheit und Prosperität in den westlichen Industrienationen, deren Produktivität von einem ethisch-politischen Fortschrittsprogramm angetrieben wird, läßt sich ein in diesen Gesellschaften verbreitetes diffuses Unsicherheitsgefuhl diagnostizieren. Diese Verunsicherung des Einzelnen, dessen Handeln durch die Problematisierung seiner Sinnentwürfe gelähmt wird, thematisiert Nietzsche mit aller Intensität. Aus diesem Grund kann sich der Soziologe Ulrich Beck zu Recht auf Visionen von Nietzsche beziehen, wenn er die gegenwärtige Moderne als Risikogesellschaft bezeichnet, in der sich mit der Auflösung des bisher orientierungsstiftenden Koordinatensystems der modernen Industriegesellschaft ein wachsendes Bewußtsein für die Modernisierungsrisiken herausbildet. 5 Trotz weitreichender methodischer und inhaltlicher Differenzen zwischen den Analysen von Nietzsche und Beck teilen beide die grundlegende Einsicht, daß mit den neuen Möglichkeiten in den modernen Wachstumsgesellschaften zugleich die Risiken zunehmen. Weitaus seltener als Nietzsches Kritik an der Idee des Fortschritts haben seine positiven Bezüge zum Fortschrittsgedanken in der Sekundärliteratur Beachtung gefunden. Die „große Loslösung" von bisherigen Strukturen und Überzeugungen deutet Nietzsche entgegen rein konservativ-antiquarischen Denkströmungen als einen zutiefst ambivalenten Prozeß, der sowohl negative als auch positive Möglichkeiten impliziert. Die von ihm diagnostizierte Entwertung der höchsten Werte im Nihilismus vermag seines Erachtens zwar eine gefährliche Unsicherheit und Lähmung des menschlichen Handelns hervorzurufen, allerdings soll die Freisetzung auch Chancen für neue, gesteigerte Sinnentwürfe bieten, die trotz der unüberschaubar anmutenden Diversifikation der Lebensentwürfe dem Einzelnen neue, zumindest temporär verbindliche Ausrichtung ermöglichen könnten. Die Suche nach einer Überwindung der nihilistischen Orientierungslosigkeit ist in allen Schriften Nietzsches präsent, und auch gegenwärtig scheint mir die Frage nach der Möglichkeit eines Fortschritts aus dem Nihilismus nichts an Aktualität eingebüßt zu haben. 6 Wie tief die Fortschrittskategorie im menschlichen Leben verankert ist, zeigt meines Erachtens das Selbstverständnis des handelnden Menschen, der, um überhaupt handeln zu können, immer schon die Möglichkeit von Fortschritten zugrunde legen muß. In Nietzsches Texten finden sich teils deutliche und teils diffuse Spuren einer differenzierten Auslegung des Fortschrittsgedankens, die indirekt auch auf

5

Siehe Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Frankfurt a. M. 1986, S. 16 ff. Der Ausgangspunkt von Becks einflußreicher Analyse ist die „Verunsicherung des Zeitgeistes" (S. 13). Ausführlicher auf Nietzsche eingehend hat Reinhart Maurer diesen Aspekt in dem ersten Abschnitt seines Aufsatzes Nietzsche und das Experimentelle herausgearbeitet (Veröffentlicht in: Zur Aktualität Nietzsches. Bd. I. Hrsg. v. M. Djuric u. J. Simon. Würzburg 1984, S. 7 f f ) .

6

Zu diesem Themenkomplex gibt es zahlreiche Monographien und Aufsätze, in denen jedoch selten Nietzsches partiell positives Verhältnis zur Fortschrittsvorstellung angedeutet wird. Trotz der an dauernden Aktualität der Nihilismus-Diagnose wird der Begriff „Nihilismus" gegenwärtig eher selten verwandt. Es gibt aber immer wieder Versuche, die Auseinandersetzung mit dem Begriff zu reaktualisieren. Ein aktuelles Beispiel ist die von Karl Heinz Bohrer initiierte Nihilismus-Debatte im Merkur. Siehe Karl Heinz Bohrer: Die Möglichkeit einer nihilistischen Ethik. In: Merkur Heft 1/1997, S. 1 ff. und ders.: Poetischer Nihilismus und Philosophie. In: Merkur. Heft 5/1997.

17

EINLEITUNG

deren Bezug zum menschlichen Handeln verweisen. 7 In Anbetracht dieser Spuren liegt meiner Untersuchung der Leitgedanke zugrunde, daß sich Nietzsches Kritik des Fortschritts gegen ein wirkungsmächtiges, von ihm aber als defizient demaskiertes Fortschrittsprogramm richtet und diese Kritik selbst wiederum einem andersartigen Fortschrittsdenken verpflichtet ist. In der Sekundärliteratur zu Nietzsche ist seine Fortschrittskritik zwar oft diskutiert worden, aber es fehlt bislang eine ausfuhrliche Untersuchung seiner differenzierten Deutung der Idee des Fortschritts. Mit meiner Dissertation, die sich auf die Interpretation der frühen und mittleren Schriften Nietzsches konzentriert, möchte ich diese Forschungslücke zumindest ansatzweise schließen. Zur Orientierung werden zunächst in einem Überblick bedeutende Rezeptionsansätze von Nietzsches Fortschrittskritik vorgestellt, wobei in der gebotenen Kürze lediglich die wesentlichen Gedanken der Rezipienten dargestellt werden können. Anfangs möchte ich auf die drei einflußreichen Nietzsche-Interpretationen von Karl Jaspers, Karl Löwith und Martin Heidegger eingehen, die allesamt die Idee des Fortschritts thematisieren. Karl Jaspers untersucht im zweiten Buch seiner 1935 veröffentlichten Monographie Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens Nietzsches Auslegung der Geschichte und des gegenwärtigen Zeitalters. Nietzsches Diagnose der Heraufkunft des Nihilismus unterscheidet sich nach Jaspers von den geschichtsphilosophischen Aussagen über den Weltprozeß in der Tradition Hegels und Augustins, da Nietzsche die Möglichkeit des menschlichen Wissens von der Totalität dieses Prozesses ablehne. Folglich sei fur ihn auch das Wissen von einem kontinuierlichen Fortschritt oder Rückschritt des gesamten Welt-prozesses nicht überzeugend. Gemäß Jaspers Auslegung konstatiert Nietzsche im Bewußtsein der Begrenztheit des menschlichen Erkennens: „In der Geschichte ist keine eindeutige Linie, ebensowenig Fortschritt wie Rückschritt, sondern beides". 8 Nietzsche wird somit weder als Apologet noch als Feind des Fortschrittsgedankens interpretiert, sondern als Denker des spannungsreichen Nebeneinanders von Fort- und Rückschritt in der Geschichte, der durch sein Schreiben vor allem das „Hinauswachsen" aus dem Nihilismus und das „Hinauftreiben" von höheren Individuen fördern will.9 In seinen zahlreichen Studien zur Philosophie Nietzsches hat sich Karl Löwith insbesondere mit dessen Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen auseinandergesetzt. In dem Wiederkunftsgedanken entdeckt Nietzsche gemäß dieser Deutung einen Ausweg aus dem zweitausendjährigen, der jüdisch-christlichen Heilsvorstellung entsprungenen Glauben an eine fortschreitende Geschichte, der in der säkularisierten Idee des Fortschritts seinen verhängnisvollen Triumph feiern soll. 10 Während die moderne Illusion des Fortschritts in den nihilistischen Fortschritt ins Nichts münde, soll die Wiederan7

Der Bedeutung Nietzsches für die praktische Philosophie widmet sich auch das von Christoph Menke herausgegebene Schwerpunktthema Nietzsche und die praktische Philosophie in der Heft 5 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie Heft 5/1993, S. 8 2 8 ff.

8

Karl Jaspers: Nietzsche.

Berlin/New York 4 1 9 8 1 S. 251.

9

Ebenda S. 162 bzw. 252.

10

Siehe Karl Löwith: Weltgeschichte 1987, S. 2 3 2 f.

und Heilsgeschehen.

In: Sämtliche

Schriften.

Bd. 2. Stuttgart

18

EINLEITUNG

knüpfung an die antike Idee vom ewigen Kreislauf des Kosmos ein tragfahiges Fundament für die Zukunft bilden, da sie die Vereinigung des Menschlichen Schicksals mit dem kosmischen Fatum erlaube. Nietzsches Versuch einer Wiederholung dieser Idee scheitert nach Löwiths Interpretation allerdings an seiner tiefen Verwurzelung in der jüdisch-christlichen Tradition, auf Grund der er sich permanent mit der entfernteren Zukunft beschäftigt, anstatt der Vernünftigkeit des Kosmos zu vertrauen.11 Mit dieser Betonung von Nietzsches wesentlicher Ausrichtung auf die Zukunft signalisiert Löwith, daß sich Nietzsches Auseinandersetzung mit der Fortschrittsidee nicht in der Absage an den Fortschritt als säkularisierte Heilserwartung erschöpft. In seinem Aufsatz Nietzsches Wort ,Gott ist tot' stellt Martin Heidegger die Fortschrittsvorstellung in die Tradition des metaphysischen Grundgefiiges der übersinnlichen Welt der Ideale, die als wirkungsmächtige Zielsetzungen das menschliche Leben bestimmen sollen. Der historische Fortschritt ersetzt gemäß dieser Auslegung zwar die Weltflucht ins Übersinnliche, aber dieser Austausch bedeutet keine Ablösung der ontologisch-theologischen Grundordnung.12 Erst im Zeitalter der beginnenden Vollendung des Nihilismus, so diagnostiziert Heidegger, kommt es zum Verfall der Herrschaft dieser Ordnung und damit auch der Fortschrittsvorstellung als einem Teil dieses Grundgefiiges. Nietzsche habe zwar einige Aspekte des Nihilismus erkannt, ohne jedoch dessen eigentliches Wesen zu begreifen, demgemäß es mit dem Sein im Erscheinen des Seienden im ganzen ,Nichts' ist. Ohne die Erkenntnis vom Wesen des Nihilismus muß nach Heidegger aber die positive Fortschrittsvorstellung Nietzsches scheitern, die von der Erkenntnis des Willens zur Macht als dem Prinzip einer neuen Wertsetzung eine Überwindung des Nihilismus und damit den Übergang des Menschen in eine höhere Geschichte erwartet.13 Ähnlich wie sein Kollege Jaspers und sein Schüler Löwith deutet Heidegger damit die Ambivalenz von Nietzsches Fortschrittsbegriff an, im Unterschied zu beiden Denkern betont er jedoch das Verhaftetsein von Nietzsches Fortschrittskritik im Nihilismus. Dem Verhältnis Nietzsches zum Fortschrittsgedanken hat Walter Kaufmann in seinen Interpretationen zu Nietzsche, die für dessen Rezeption in Nordamerika von außerordentlicher Bedeutung waren, besondere Beachtung geschenkt. In seiner 1950 erschienen Monographie Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist konstatiert er wiederholt, daß die „entschiedene Verachtung für die Idee des Fortschritts" einen wesentlichen Aspekt von Nietzsches Geschichtsphilosophie darstelle.14 Grundlegend für dessen geschichtsphilosophisches Denken ist gemäß Kaufmanns Interpretation die Unterscheidung zwischen der Idee des Fortschritts und der Idee der Höherentwicklung, wobei aus Nietzsches Perspektive nur die Höherentwicklung von Einzelnen um ihrer selbst willen wertvoll sei, während die Ideologie des unendlichen Fortschritts das Streben des sich 11

Siehe Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Hamburg

4

1986

S. 126. 12

Martin Heidegger: Nietzsches Wort,Gott ist tot'. In: Holzwege. ders.: Nietzsche. Bd. 2. Pfullingen 5 1 9 8 9 , S. 273.

13

Heidegger ( 6 1 9 8 0 ) S . 246. Walter Kaufmann: Nietzsche. ebenda S. 366, 373 u. 375.

14

Philosoph,

Psychologe,

Frankfurt a. M. 6 1 9 8 0 , S. 216. Vgl.

Antichrist.

Darmstadt 1982, S. 374. Vgl.

19

EINLEITUNG

selbst schaffenden Einzelnen behindere und stattdessen das Mittelmäßige fördere. In der bisherigen Weltgeschichte entdeckt Nietzsche gemäß dieser Auslegung keinen Fortschritt, sondern lediglich „eine endlose, vergebliche Anhäufung von Nullen". 15 Im Unterschied zu Jaspers berücksichtigt Kaufmann aber nicht, daß Nietzsche den Fortschrittsgedanken nicht nur verwirft, sondern gerade auch im Zusammenhang mit dem individuellen Streben nach Höherem positiv deutet. In Nietzsches Geschichtsphilosophie erkennt Wolfgang Müller-Lauter eine dezidierte Absage an die Vorstellung des geschichtlichen Fortschritts, die maßgeblich auf der menschlichen Erfahrung des linearen Fortschreitens der Zeit beruhe. 16 Die Möglichkeit einer kontinuierlichen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse in der Geschichte leugne Nietzsche, da dem geschichtlichen Prozeß weder von den immanenten Anlagen noch von einer übergeschichtlichen Instanz eine bestimmte Ausrichtung vorgegeben werde. Laut der Interpretation von Müller-Lauter erkennt Nietzsche in der von Unsinn und Zufall dominierten Geschichte seit einigen Jahrhunderten vordringlich Rückschritte. Zugleich hoffe er jedoch, daß der Mensch beginnen könne, dem geschichtlichen Prozeß künftig einen Sinn zu geben. Die Voraussetzung für die Überwindung der bisherigen, vom Zufall bestimmten Geschichte sei eine umfassende Steigerung von Macht und Weisheit der „höheren Menschen", die überhaupt erst einen Sinn in der Geschichte stiften könnten. Da Nietzsches Lehre vom Übermenschen lediglich in den höchsten Exemplaren das Ziel erkennt, steht er aus der Sicht Müller-Lauters „im Gegensatz zu den sozial orientierten Fortschrittslehren", womit jedoch nicht seine Nähe zu andersgearteten Fortschrittslehren negiert wird. 17 Gilles Deleuze hebt in seinen Studien über Nietzsche den vermeintlich antidialektischen Charakter von dessen Philosophie hervor, die im Gegensatz zu Hegels System eine auf den Fortschrittsgedanken rekurrierende Geschichtsphilosophie entschieden ablehne. 18 Zentrales Argument für diese Ablehnung sei die Verwurzelung der Idee des Fortschritts in den reaktiven Kräften der Anpassung, deren Streben nach einem vermeintlich besseren, tatsächlich aber verstümmelt-reduzierten Leben, die Unterwerfung der aktiven, schöpferischen Kräfte fordere. Angesichts der allgemeinen Dominanz der reaktiven Kräfte in der Moderne konzentriere sich Nietzsches Engagement auf die Überwindung des modernen Nihilismus, die insbesondere eine Ablösung des nivellierenden, egalitaristischen Fortschrittsglaubens impliziere. Aus der Perspektive von Deleuze ist der Sinn von Nietzsches Philosophie die Befreiung vom konformistischen Nihilismus durch die ultrapluralistische, dionysische Bejahung der Differenz als dem Entstehungs- und Erzeugungsprinzip des Lebens, das jenseits der Mediokrität des Reaktiven ungeahnte Intensitäten offenbaren soll. Im Unterschied zu Müller-Lauters Auslegung konstatiert Deleuze, daß auch der Zufall das Objekt der dionysischen Affirmation

15 16

17 18

Ebenda S. 177. Wolfgang Müller-Lauter: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie. Berlin/New York 1971, S. 51. EbendaS. 129. Vgl. Gilles Deleuze: Nietzsche

und die Philosophie.

Frankfurt a. M. 1985, S. 13 f. u. 151 f.

20

EINLEITUNG

sei und von Nietzsche somit kein Fortschritt durch die Überwindung der vom Zufall bestimmten Geschichte erwartet werde.19 Die Auflösung der Geschichte ist das zentrale Thema von Gianni Vattimo, der mit seinem emphatischen Bekenntnis zur Postmoderne weit über die Grenzen Italiens hinaus bekannt geworden ist. Zentral für die postmetaphysische Epoche der Postmoderne ist gemäß seiner Deutung die Verabschiedung der Moderne und der ihr wesentlichen Ideen der kritischen Überwindung und des kontinuierlichen Fortschritts in der Geschichte.20 In Heidegger und in Nietzsche, dem vermeintlich ersten postmodernen Denker überhaupt, sieht Vattimo die wichtigsten Vorläufer einer neuen nachmodernen Epoche, die ähnlich wie bei Deleuze durch die Affirmation des Zufalls bestimmt sein soll. Gemäß Vattimo soll Nietzsche seit seinen mittleren Schriften einen weitreichenden Auflösungsprozeß diagnostiziert haben, der zur Selbstauflösung des Wahrheitsbegriffs im Nihilismus führe. Im Unterschied zu den bisher vorgestellten Interpreten glaubt Vattimo, daß Nietzsche die Möglichkeit eines Fortschritts aus dem Nihilismus konsequent ablehne, weil eine kritische Überwindung des Auflösungsprozesses am Mangel eines tragfähigen Wahrheitsbegriffs scheitere.2 Angesichts der Irreversibilität dieses Prozesses fordert Vattimo eine endgültige Verabschiedung von den konstruktiven Fortschrittsvorstellungen der Moderne zugunsten eines postmodernen Einrichtens im Nihilismus, worin auch die Pointe von Nietzsches Begriff des vollendeten Nihilismus liegen soll.22 Ähnlich wie Vattimo erkennt auch Jürgen Habermas in Nietzsche die Eintrittspforte bzw. „Drehscheibe der Postmoderne", da dessen totalisierte Vernunftkritik die Dialektik der Aufklärung und die Selbsteinschätzung der Moderne als Welt des Fortschritts ad acta lege.23 Dieser Sachverhalt wird von ihm allerdings völlig anders gewertet als von Vattimo, denn er deutet Nietzsche als einen „radikalisierten Gegenaufklärer", der mit der entschiedenen Absage an die im Nihilismus verfangene Moderne auch deren emanzipatorischen Gehalte preisgibt.24 Mit Nietzsches Philosophie werde das modernaufklärerische Fortschrittsdenken von einem äußerst gefahrlichen dionysischen Messianismus bedroht, der die erlösende Befreiung von den Fesseln der Identität sehnsuchtsvoll erwarte. Aus Habermas Perspektive ist diese neue Mythologie Nietzsches zutiefst fortschrittsfeindlich, weil sie im Unterschied zu ihren Vorläufern aus der Romantik den Emanzipationsprozeß in der Moderne radikal verleugne. Differenzierter beschreibt Henning Ottmann Nietzsches Verhältnis zur Fortschrittsidee in seiner Monographie Philosophie und Politik bei Nietzsche, in der die verschiedenen Phasen seines Schaffens besondere Beachtung finden. Während in den frühen Schriften eine von Schopenhauer und Wagner beeinflußte Kritik an allen Schattierungen des modernen Fortschrittsdenkens und an dem damit verbundenen Optimismus "

Vgl. ebenda S. 212.

20

Siehe Gianni Vattimo: Das Ende der Moderne. Nietzsche.

Stuttgart 1992, S. 14.

21

Vattimo ( 1 9 9 0 ) S. 110.

22

Vattimo ( 1 9 9 2 ) S. 83 f.

23

Jürgen Habermas ( 4 1 9 8 8 ) S. 104 f.

24

E b e n d a S . 145.

Stuttgart 1990, S. 8 u. 110 sowie ders.:

Friedrich

21

EINLEITUNG

geübt werde, soll in den mittleren Schriften eine historische Fortschrittsvorstellung in der Tradition der Aufklärung dominieren.25 Aufgrund der Deutung der Geschichte als Aufwärtsbewegung der Befreiung der freien Geister, die durch partielle Rückschritte nicht grundsätzlich aufgehalten werde, wird Nietzsches aufklärerisches Denken der mittleren Schriften von Ottmann ansatzweise sogar mit dem dezidierten Fortschrittsdenken von Auguste Comte verglichen. Mit der Erkenntnis des Scheiterns des Projekts der Aufklärung und der Ausgestaltung seiner Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen wandele sich Nietzsches Einstellung aber erneut, was in den späten Schriften zu einer ambivalenten Haltung gegenüber der Fortschrittsidee führe: Seine späte Lehre sei „Hoffnung eines Leidenden und Leiden eines Hoffenden". 26 Auch Karin Joisten deutet in ihrem Werk Die Überwindung der Anthropozentrität durch Friedrich Nietzsche eine differenzierte Haltung Nietzsches zum Fortschrittsgedanken an, die sich in der terminologischen Unterscheidung zwischen den Begriffen Fort- und Vorschritt niederschlage.27 Im Zentrum von Nietzsches Kritik stehen gemäß ihrer Auslegung die Fortschrittsvorstellungen der Anthropozentrik und der Theozentrik, weil der wirkungsmächtige Glaube an einen notwendigen Fortschritt zu Gott bzw. zum guten Menschen einen Rückschritt der höchsten Lebenskräfte auslöse. Dieser Niedergang beruhe auf dem Vertrauen der Menschen in die notwendige Erhöhung der gesamten Menschheit, die keinerlei gesteigerte Anstrengungen der Individuen mehr zu verlangen scheint. Gegenüber diesem Verständnis von Fortschritt zeichne sich der Fortschritt im Sinne Nietzsches, den er Vorschritt nenne, durch die ständige Anspannung des Einzelnen zur Selbstüberwindung aus. Nicht die gesamte Menschheit, sondern nur wenige Individuen können sich gemäß der Nietzsche-Deutung von Joisten durch diesen „Vorschritt" erhöhen und das „überzeitliche" Ziel der Menschheit bilden.28 Die angedeutete Heterogenität der Interpretationen von Nietzsches Fortschrittskritik ermuntert zu einem genauen Studium von Nietzsches Texten, weshalb sich diese Untersuchung jeweils auf einzelne Schaffensperioden des umfangreichen Werkes von Nietzsche konzentrieren wird. Die Anwendung des Verfahrens einer genetischen Interpretation soll jedoch keine lineare Entwicklung seines Denkens unterstellen, sondern lediglich die Chronologie der Schriften beachten. Meinen Ariadnefaden im Labyrinth der vielschichtigen Texte Nietzsches bilden explizite und implizite Aussagen zur Fortschrittsidee, die nicht allein auf Aussagen über den historischen Prozeß zu reduzieren sind. Die relevanten Textpassagen werden konzentriert aus einer Binnenperspektive interpretiert. Außerdem werden gegebenenfalls kontextuelle und interkontextuelle Bezüge sowie Stil- und Formfragen berücksichtigt. Dieses Verfahren, das auch als „philologische Methode" bezeichnet wird, versucht der Vielfalt und dem experimentellen Charakter von Nietzsche Philosophie gerecht zu werden und die Spannungen und Diskrepanzen in seinen Texten nicht vorschnell als zu verurteilende logische Widersprüche oder als 25

Henning Ottmann: Philosophie u. 175.

26

Ebenda S. 268. Karen Joisten: Die Überwindung der Anthropozentrität durch Friedrich Nietzsche. Würzburg 1994, S. 2 2 6 f.

27

28

Ebenda S. 232.

und Politik bei Nietzsche.

Berlin/New York 1987, S. 31 bzw. S. 64

22

EINLEITUNG

hinzunehmende inkommensurable Einsichten seines Polyperspektivismus zu lesen. Meine Interpretation stützt sich maßgeblich auf die von Nietzsche selbst veröffentlichten Schriften, weil in diesen zumeist subtil komponierten Texten seine wesentlichen Einsichten eingearbeitet sind. Gleichwohl ist auch der Nachlaß fur meine Auseinandersetzung mit Nietzsche eine wichtige Quelle, die mit der gebotenen Rücksicht auf ihren experimentell-laborhaften Charakter und ihre heterogene Qualität tiefe Einsichten in die Entfaltung von Nietzsches komplexen und spannungsreichen Gedanken zum Fortschrittsgedanken gewährt. Nietzsche hat die Kritik des Fortschritts in allen Phasen seines Schaffens diskutiert. Meine Dissertation wird konkretisieren, wie relevant diese Thematik in seinen frühen und mittleren Schriften ist, und sie wird nach der Plausibilität seiner Ausführungen fragen. Auf die späten Schriften wird aufgrund des begrenzten zeitlichen Rahmens lediglich in einem Ausblick zum Ende dieser Arbeit eingegangen. Zunächst werden in einer Einfuhrung der Gehalt des Fortschrittsbegriffs und dessen wesentliche Ausformungen in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit untersucht (Teil I). Die Auseinandersetzung mit Nietzsches Werken beginnt mit der Auslegung seiner ersten größeren Veröffentlichung, der Tragödienschrift, in der der emphatische Fortschrittsglaube als ein wesentlicher Stützpfeiler der „sokratistisch"-szientistischen Moderne begriffen wird, dessen einsetzender Zusammenbruch den Weg zu einer mythisch-tragischen Kultur der Moderne freimachen könnte (Teil II). Geprägt durch die Verabschiedung von der Hoffnung auf eine Wiedergeburt des tragischen Mythos steht in den Schriften nach dem Erstlingswerk die sezierende Analyse der zeitgemäßen, von zahlreichen Varianten des Fortschrittsbegriffs geprägten Weltanschauungen im Vordergrund. Neben der Deutung dieser Analysen wird auch eine Auslegung von Nietzsches (un)zeitgemäßen Fortschrittsvorstellungen vorgelegt, die die Ambivalenz seiner Ausführungen zu diesem Thema dokumentiert (Teil III). Die Interpretation der mittleren, freigeistigen Schriften wird sich auf seine Diagnose der Erschütterung der moralisch-metaphysischen Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts und der Heraufkunft des modernen Nihilismus sowie auf seine Andeutung der Möglichkeit eines Fortschritts aus dem Nihilismus konzentrieren (Teil IV). Die Schlußbemerkung faßt dann die wesentlichen Ergebnisse meiner Untersuchung zusammen und gibt abschließend einen Ausblick auf die Fortschrittskritik im Spätwerk Nietzsches.

29

Zur Methodenfrage siehe Matthias Politycki: Umwertung

aller

Werte?

Berlin/New York, S. 2 0 f.

Politycki unterscheidet in Anlehnung an Reinhart Löw von der philologischen sieben weitere Methoden, um mit Nietzsches Texten umzugehen. Vgl. R. Löw: Nietzsche. Weinheim 1984, S. 7 f.

Sophist

und

Erzieher.

I.

Fortschritt - Gehalt und Geschichte eines Begriffs

I. 1

Vorbemerkung

Grundlegend für die Untersuchung von Nietzsches Verhältnis zur Fortschrittsbegriff ist zunächst die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung dessen, was mit dem Terminus Fortschritt' gemeint ist. Diese Frage scheint zunächst einfach zu beantworten zu sein: schon ein Werbespot, der den Fortschritt eines Produkts anpreist, vermittelt dem Zuschauer, daß mit dem Begriff zumeist eine Veränderung zum Besseren beschrieben wird. Aber eine nähere Betrachtung des Begriffs fordert eine Reihe von weiterführenden Fragen zu Tage: Gibt es neben dem Fortschritt zum Besseren auch einen Fortschritt zum Schlechteren? Hat der Fortschritt ein Ziel oder fuhrt er in die schlechte Unendlichkeit? Ist der Fortschritt kontinuierlich oder diskontinuierlich? Worin besteht der Fortschritt? Auf welcher Skala wird der Fortschritt gemessen? Woran vollzieht sich der Fortschritt?... Entgegen der scheinbaren Simplizität liegen demnach in dieser Kategorie vielschichtige Aspekte verborgen, deren spannungsvolle Vielfalt durch eine fixierende, allgemeine Definition verfehlt wird. Angemessener erscheint mir das Sammeln und Ordnen von verschiedenen Bedeutungsperspektiven, was eine fortschreitende Annäherung an den Begriff des Fortschritts ermöglichen kann, ohne die Komplexität der Blickwinkel auszublenden. 30 Der Versuch, dem Begriff gerecht zu werden, erfordert demzufolge eine

30

Ähnliches unternimmt Reinhart Koselleck in einem Artikel zum Fortschrittsbegriff, in dem sieben zentrale, sich partiell überschneidende Begriffsbestimmungen differenziert werden (ders.: Fortschritt. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart 1973, S. 351 ff.). Joachim Ritter macht dagegen in seiner reichhaltigen Erörterung des Begriffs bewußt keine allgemeinen Aussagen zu dessen Gehalt, sondern konzentriert sich allein auf die Darstellung der verschiedenen Varianten der Begriffbestimmung in der Geschichte (ders.: Fortschritt. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Darmstadt 1972. Sp. 1032-1059). Für meine Dissertation ist es gleichwohl sinnvoll, nach den wesentlichen Aspekten des Gehalts der Fortschrittskategorie zu fragen, die sich im geschichtlichen Wandel nicht völlig verändern. In einem Essay zum Fortschrittsbegriff betont Theodor W. Adorno die Gefahr einer nur zerlegenden und damit verfehlenden Analyse der Kategorie,

FORTSCHRITT - G E H A L T UND GESCHICHTE EINES BEGRIFFS

24

Übersicht über die verschiedenen Perspektiven, auch wenn dadurch niemals eine absolute Perspektive erreicht werden kann. Die folgende Besinnung auf den Gehalt des Fortschrittsbegriffs und auf dessen Geschichte wird versuchen, einen differenzierten Blickwickel zu eröffnen, obgleich innerhalb des Rahmens dieser Arbeit die Vielschichtigkeit des Gehalts und der Geschichte nicht annähernd ausgeschöpft werden können.

I. 2

Der Sinngehalt des Fortschrittsbegriffs

Bei der Betrachtung des Begriffs „Fortschritt" wird deutlich, daß dieser eine Bewegung fort von etwas signalisiert. Bestimmend fur diese Bewegung ist die Position, von der sie sich entfernt, da mit dem Begriff selbst lediglich die Richtung fort von dieser Position angegeben wird, aber kein anvisiertes Ziel bestimmt wird. Es ist fraglich, ob die Bewegung überhaupt ein Ziel hat, denn im eigentlichen Wortsinn ist der Fortschritt prinzipiell unendlich. Den Menschen begleitet die Kategorie des unabgeschlossenen Fortschritts, insofern die von ihm wahrgenommene Zeit immer fortschreitet. 31 In jedem Moment ist eben dieser Moment für den Einzelnen auch schon wieder irreversibel vergangen. Diese Wahrnehmung der Zeit schlägt sich in Redewendungen wie „die Zeit ist schon zu fortgeschritten" oder „zu fortgeschrittener Stunde" nieder. In der als fortschreitend wahrgenommenen Zeit kann sich auch der Mensch als ein fortschreitendes Subjekt empfinden, weil sein Handeln in fortschreitende Handlungsketten eingebettet ist. Jedes Handeln knüpft an vorheriges Wirken an und ermöglicht aus dem menschlichen Blickwinkel prinzipiell weitere Anknüpfungen, die endlos fortschreiten können. Auch aus der Binnenperspektive werden ein Individuum oder ein Kollektiv in ihrem jeweiligen Handeln zunächst immer einen Fortschritt erkennen, denn andernfalls hätten sie keinerlei Motivation zum Handeln. Erst die Annahme eines erreichbaren Fortschritts, der aufgrund der Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel allerdings nicht endlos ist, initiiert demgemäß eine Handlung. 32 Zwischen der Annahme eines Fortschritts durch eine Handlung und der zuvor angesprochenen Wahrnehmung des Fortschritts der Zeit bleibt eine eminent wichtige Differenz zu beachten, die zwei prinzipiell zu unterscheidende Bedeutungsnuancen des Be-

und fordert stattdessen, deren Äquivokationen gerecht zu werden (ders.: Fortschritt. In: Gesammelte Schriften. Bd. 10/2. Hrsg. v. R. Tiedemann. Frankfurt a. M. 1976, S. 617 f)· Trotz dieser Gefahr verlangt der Versuch einer begrifflichen Klärung zunächst, die verschiedenen Bedeutungsfelder des Begriffs zu ergründen. 31

Trotz der Möglichkeit der subjektiven Empfindung, daß die Zeit stehenbleibt, ist das endlose Fortschreiten das wesentliche Charakteristikum der Zeit.

32

Die Bedeutung des Prozesses des menschlichen Handelns, in dem der Begriff des Fortschritts seine genuine Herkunft hat, wird von Volker Gerhardt trefflich hervorgehoben, wodurch eine nüchterne Erörterung des Begriffs ermöglicht wird (ders.: Politik und Fortschritt. In: Wie finden wir die Zukunft? Münster/New York 1989, S. 40). Im Unterschied zu Gerhardt differenziere ich in diesem Zusammenhang zusätzlich zwischen dem endlosen Fortschritt von Handlungsketten und dem endlichen Fortschritt von einzelnen Handlungen.

D E R SINNGEHALT DES FORTSCHRITTSBEGRIFFS

25

griffs anzeigt. Einerseits kann mit dem Ausdruck die bloße Abfolge von Prozessen inklusive der geschichtlichen Ereignisse in der Zeit bezeichnet werden. Dieser Fortschrittsbegriff beschreibt entwicklungsgeschichtlich neutral den Wechsel der Zeiten. Andererseits kann mit dem Terminus auch eine Bewertung von Prozessen ausgedrückt werden. 33 So wird beispielsweise die Zunahme des menschlichen Wissens oft als Fortschritt im Sinne einer Verbesserung interpretiert und die Zunahme einer Krankheit oft als negativer Fortschritt im Sinne einer Verschlechterung gedeutet. 34 Bei dieser wertenden Variante des Fortschrittsbegriffs, die weitaus häufiger als die neutrale Spielart verwandt wird und die im Zentrum meiner Dissertation steht, sind zahlreiche Besonderheiten zu beachten. Jede wertende Aussage rekurriert auf einen expliziten oder impliziten Wertmaßstab. Die Fortschrittsaussage läßt verschiedene Zustände oder Prozesse komparabel erscheinen, weil sie annimmt, es gebe ein Maß, welches das Verhältnis dieser Zustände oder Prozesse zueinander bestimme. Bei aller Einzigartigkeit und Einmaligkeit von Phänomenen muß zumindest ansatzweise der gleiche Wertmaßstab an die Momente einer Fortschrittsbewegung angelegt werden können. Ein radikaler Inkommensurabilismus würde die Möglichkeit eines Fortschritts von Zuständen und Prozessen dagegen mit dem Einwand negieren, daß diese sich ohne einen gemeinsamen Bezug überhaupt nicht miteinander vergleichen lassen. Heftig diskutiert wird aus diesem Grund beispielsweise der wertende Vergleich von zeitlich weit auseinanderliegenden Kulturen. Die Möglichkeit des Vergleichs ist demnach die grundlegende Voraussetzung für jedes Fortschrittsurteil. Mit der Infragestellung eines Fortschrittsurteils wird eine Begründung desselben notwendig, die sich auf den soeben angesprochenen, dem Urteil zugrundeliegenden Wertmaßstab bezieht. Häufig ist dabei umstritten, inwieweit ein bestimmter Maßstab bei einem Vergleich von zwei oder mehr Zuständen angemessen ist oder nicht. Bei einem Läufer ist sicherlich die verstrichene Zeit, in der er eine gewisse Strecke zurückgelegt hat, das Kriterium für einen Fort- oder Rückschritt seiner Leistungsfähigkeit. Weniger Konsens hinsichtlich des Wertmaßstabs herrscht dagegen ζ. B. bei Vergleichen wie der Bewertung von individuellen Entwicklungsprozessen oder politisch-sozialen Verände-

33

Diese Bezeichnung rekurriert auf Max Webers Reflexionen zum Fortschrittsbegriff, die die Differenz zwischen der wertfreien Verwendung des Fortschrittsbegriffs und seiner vielfältigen „Verquickung mit Wertfragen" hervorheben (Max Weber: Der Sinn der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 3 1968, S. 284). Abschließend empfiehlt Weber einen allgemeinen Verzicht auf den Fortschrittsbegriff, da dieser in keinem Bereich zweckmäßig sei. Ähnlich, aber ohne expliziten Bezug auf Webers Differenzierung zwischen der wertfreien und wertenden Verwendung, unterscheidet Friedrich Rapp in seiner Monographie zur philosophischen Idee des Fortschritts zwischen einem genetischen und einem normativen Fortschrittsbegriff (ders.: Fortschritt: Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee. Darmstadt 1992, S. 26).

34

Die Akkumulation des menschlichen Wissens gilt als Fortschrittsbewegung par excellence. Die negative Form des Fortschritts dokumentiert sich auch terminologisch in der 1889 bei Nietzsche diagnostizierten Krankheit: Paralysis progressiva. Siehe dazu Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche Biographie in drei Bänden. Bd. III. München/Wien 2 1993, S. 12.

26

FORTSCHRITT - G E H A L T UND GESCHICHTE EINES BEGRIFFS

rangen.35 Besonders relevant ist bei der Frage nach der Angemessenheit von Bewertungskriterien die Beachtung des jeweiligen Bezugs eines Fortschrittsurteils. Ein Mißverständnis ist beispielsweise die Kritik eines rasanten wissenschaftlich-technischen Fortschritts in diesem Jahrhundert, wenn diese mit den janusköpfigen Folgen dieser Fortschritte begründet wird. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, zwischen dem Bezug auf die Entwicklung in Wissenschaft und Technik einerseits und dem Bezug auf deren Konsequenzen andererseits zu differenzieren. Ein Sonderfall, der besonders heftig diskutiert wird, ist der Bezug der Fortschrittskategorie auf den gesamten Geschichtsprozeß. Der entwicklungsgeschichtliche und der positiv wertende Fortschrittsbegriff werden in diesem Fall gleichgesetzt. Die Idee des historischen Fortschritts, die oft als das zentrale Thema der Geschichtsphilosophie angesehen wird, besagt, daß sich alles Geschehen inklusive des menschlichen Lebens auf Erden zum Besseren wendet. 36 Negative, kontingente Ereignisse, die dem allgemeinen Fortschrittsprozeß widersprechen, werden von diesem Fortschrittsdenken so zu interpretieren versucht, daß ihre vermeintlich positive Funktion im geschichtlichen Verlauf erkennbar wird. Aufgrund der Allgemeinheit und Universalität der Idee darf strenggenommen keine Einschränkung des Fortschritts auf bestimmte Lebensbereiche angenommen werden: der Fortschritt suggeriert Totalität. Die Frage, wohin der Fortschritt die Menschheit konkret fuhrt, ist von den zahlreichen Interpreten höchst unterschiedlich beantwortet worden. Manche haben konsequenterweise kein Ziel genannt, aber oft sind mit der Fortschrittsidee konkrete Utopievorstellungen verbunden, in denen sich die Werthorizonte der Interpreten tendenziell widerspiegeln. 37 Fraglich ist allerdings, ob überhaupt ein sinnvolles Werturteil über das gesamte, vielgestaltige Menschengeschlecht im Kontinuum der Geschichte gefällt werden kann. 38 Besonders aktuell ist gegenwärtig die Frage nach dem Preis des Fortschritts. Diese Überlegung negiert die oben skizzierte einseitige Gleichsetzung des entwicklungsge35

Zu Beachten bleibt die Differenz zwischen den Begriffen „Entwicklung" und „Fortschritt". Der entscheidende Unterschied liegt in der Ausrichtung des ersten Begriffs auf ein Ziel bzw. einen Kern, der entwickelt wird. Der Ausdruck „Fortschritt" signalisiert dagegen eine unabschließbare Bewegung. Mit Bezug auf Individuen wird zumeist von Entwicklung gesprochen. Gleichwohl wird auch ersterer Begriff verwandt. So kann ein Vater auf die Frage nach dem Heranreifen des Sohnes antworten: „Er macht Fortschritte." Ähnlich schreibt Nietzsche in einem Brief mit Bezug auf Heinrich Köselitz, dieser mache „Fortschritte" (KSB 6/498).

36

Siehe dazu Herta Nagl-Docekal: Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich? In: Der Sinn des Historischen. Hrsg. v. Herta Nagl-Docekal. Frankfurt a. Μ. 1996, S. 7 f. Vgl. auch Rapp (1992) S. 12.

37

Zum Verhältnis von Fortschrittsidee und Utopie bemerkt Oscar Wilde: „Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien" (ders.: Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Zürich 1970, S. 47).

38

Siehe dazu Walter Benjamins eindringliche Kritik am dogmatischen Fortschrittsbegriff (ders: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften. Band 1.2, Frankfurt a. M. 1980, S. 691). Seine Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsbegriff aus der Perspektive des historischen Materialismus konzentriert sich auf die Kritik an der Interpretation der Geschichte als eines „homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs", weil diese Deutung die Grundlage von zahlreichen kontroversen Aspekten des dogmatischen Fortschrittsbegriffs bildet (ebenda S. 701 f.).

D E R SINNGEHALT DES FORTSCHRITTSBEGRIFFS

27

schichtlichen und positiv wertenden Fortschrittsbegriffs und untersucht die ambivalenten Folgen der Veränderungen im Verlauf der Geschichte. Zwar wird auch hier ein Fortschrittsurteil abgegeben, aber es wird eingeschränkt, weil bei diesem Ansatz zwischen verschiedenen Bezügen differenziert wird. Entscheidend für ein Urteil über Nutzen und Nachteil des Fortschritts ist die Gewichtung der einzelnen Bereiche, in denen Fort- bzw. Rückschritte festgestellt werden. Beispielsweise können die ökologischen Kosten fur eine Steigerung des materiellen Wohlstands erwogen werden und als vergleichsweise zu hoch interpretiert werden, so daß die Rede vom Fortschritt problematisch wird. Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang ist die Perspektive des Einzelnen. Obgleich die Menschheit nur durch die Individuen besteht, differieren aufgrund des Wertepluralismus oft die Einzel- und Gesamtinteressen. Letztere haben in der Geschichte oft zu bitteren Schicksalen gefuhrt. 39 Auch hier ist die Frage nach dem Preis des Fortschritts virulent. Für ein Individuum ist vor allem die Verortung seiner je bestimmten Zeit in einen vermeintlich umfassenden Fortschrittsprozeß interessant. In der Retrospektion könnte dieser Prozeß als positiv bewertet werden, da es dem Menschen in der Gegenwart vermeintlich besser geht als früher. Dagegen könnte die Vorstellung eines künftigen Fortschritts sowohl positiv wirken, weil die Zukunft ein besseres Leben verspricht, als auch negative Konsequenzen nach sich ziehen, weil die Gegenwart den vergleichsweise schlechteren Zustand darstellt und die bessere Zeit aufgrund der relativ kurzen Lebensspanne der Individuen nicht mehr erreicht werden kann. Letztere Wirkung kann bei Einzelnen zu einer negativen Interpretation der Fortschrittsidee fuhren. 40 Zentral ist für ein positives wie negatives Fortschrittsurteil die überzeugende Begründung des Werturteils, wobei der jeweilige Status einer Fortschrittsaussage einen entsprechenden Begründungsdiskurs verlangt. Am problematischsten ist das absolute Fortschrittsurteil, weil es behauptet, die Wirklichkeit „an sich" zu beschreiben. Da der Mensch aber keinen archimedischen Erkenntnisstandpunkt einzunehmen vermag, kann er nur aus einer bestimmten Perspektive heraus die Wirklichkeit betrachten und muß auf deren Erkenntnis „an sich" verzichten. Das eingeschränkte Fortschrittsurteil hingegen erhebt keinen absoluten Anspruch, sondern glaubt lediglich, eine treffende Deutung der Wirklichkeit abgeben zu können. Eine angemessene Begründung dieses Urteils erfordert den Nachweis der Überlegenheit dieser Interpretation gegenüber anderen Auslegungen. Das als regulativ verstandene Fortschrittsurteil schließlich bedarf keiner Begründung der Vorstellung, daß sich die menschlichen Verhältnisse im Verlauf der Geschichte verbessern. Hier genügt der Nachweis, daß die Annahme einer allgemeinen Verbesserung der Menschheit positive Konsequenzen nach sich zieht. Diese Ausführungen mögen genügen, um die komplexen und oft spannungsreichen Varianten des Fortschrittsbegriffs anzudeuten. Im folgenden werden knapp der viel39

40

Deutlich hat beispielsweise auch der Fortschrittsdenker Hegel auf die „ungeheuersten Opfern" der Geschichte hingewiesen (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Band I. Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 5 1980, S. 80). Unbefriedigend kann für den Einzelnen vor allem der blinde Fortschritt ins Unendliche sein, der überhaupt kein Ziel anvisiert. Siehe dazu Hegel ( 5 1980) S. 150.

28

FORTSCHRITT - G E H A L T UND GESCHICHTE EINES BEGRIFFS

schichtige Wandel des Begriffs und seine spezifischen Ausbildungen in der Geschichte dargestellt.

I. 3

Die Geschichte des Fortschrittsgedankens

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Fortschrittsbegriffs wird entsprechend der gängigen Epocheneinteilung in die Abschnitte Antike, Mittelalter und Neuzeit gegliedert, da trotz der zahlreichen Variationen des Begriffs in jedem dieser Zeitalter bestimmte Bedeutungen des Ausdrucks dominiert haben.41 Angesichts des begrenzten Umfangs dieses einleitenden Unterkapitels kann sich die historische Skizze lediglich auf die Rekonstruktion der wesentlichen Grundzüge der Ausprägung des Fortschrittsbegriffs in der Geschichte konzentrieren.42 Bereits in antiken Texten läßt sich der Ausdruck „Fortschritt" nachweisen. So werden beispielsweise Begriffe wie epidosis oder prokope bzw. die adäquaten lateinischen Ausdrücke progressus oder progressio verwandt. Zumeist wird mit den Termini ein Fortschreiten zum Besseren, vereinzelt aber auch ein Fortschreiten zum Schlechteren bezeichnet. Die positiven Verwendungen beziehen sich in der Antike weitgehend auf begrenzte Bereiche des menschlichen Daseins, in denen konkrete Fortschrittserfahrungen vorlagen. Fast immer bleiben diese Fortschrittsvorstellungen eingebunden in das dominierende Kosmosdenken, das von der „Lehre von der Umkehr, vom kreisförmigen Verlauf des Alls... daß alle politischen und geistigen Ordnungen, die sich fortschreitend bilden, eine Zeit bleiben und vergehen", bestimmt ist.43 Diese verbreitete Auffassung des zyklischen Zeitverlaufs dokumentieren beispielsweise die überlieferten Texte von Heraklit, Hesiod, Herodot oder Empedokles. Geprägt von den antiprogressiven Mythen der ewigen Wiederkehr des Gleichen und des verlorenen goldenen Zeitalters sowie von dem Bewußtsein der Gefahrdung des menschlichen Daseins ist vor allem der vorchristlichen Antike die Erwartung einer umfassenden und dauerhaften Verbesserung der menschlichen Verhältnisse grundsätzlich fremd.44 Parallel zum übergeordneten Kosmosdenken existierten die bereits erwähnten begrenzten Fortschrittsvorstellungen. Eines der frühsten Zeugnisse findet sich bei Xenophanes, dem Gründer der Schule der Eleaten. Es besagt, daß die Menschen im Ver-

41

Zur Problematik der Epocheneinteilung siehe Volker Gerhardt: Individualität Revision der Moderne? Hrsg. v. L. Koch. Weinheim 1993, S. 29 ff.

42

Für eine nähere Beschäftigung mit der Geschichte des Begriffes verweise ich auf die bereits erwähnten, detaillreichen Artikel von Ritter und Koselleck (in Zusammenarbeit mit Christian Meier) sowie auf den zweiten Teil der oben angeführten Monographie von Friedrich Rapp.

43

Ritter (1972) Sp. 1034. Siehe dazu Eric Dodds: Der Fortschrittsgedanke in der Antike und andere Aufsätze zu Literatur und Glauben der Griechen. Zürich/München 1971, S 7 ff.

44

und Moderne.

In:

D I E GESCHICHTE DES FORTSCHRITTSGEDANKENS

29

lauf der Zeit das verborgene Bessere entdecken. 45 Da der Kontext des Fragments nicht überliefert ist, können präzisierende Fragen nach der Dauer, dem Maßstab, dem Bereich oder nach der Ursache des Fortschritts nicht geklärt werden. Festzustellen ist jedoch, daß insbesondere im wissenschaftlich-kulturell hochstehenden 5. Jahrhundert v. Chr., wo sich mannigfaltige positive Entwicklungen in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Heilkunst durchsetzen, die Vorstellung, in einer fortgeschrittenen Zeit zu leben, stark ausgeprägt ist. Allerdings wird auch in dieser Zeit die Diagnose von partikularen Fortschritten nicht auf alle Lebensbereiche ausgeweitet. So wird beispielsweise keine dauerhafte sittliche Verbesserung aller Menschen erwartet. Im Zentrum der verschiedenen Fortschrittsvorstellungen stehen vor allem die Erfolge in den handwerklichen Künsten, deren mythischer Ursprung von verschiedenen antiken Aufklärern, die sich um vernunftgeleitete Einsichten bemühen, angezweifelt wird. Sowohl Piaton als auch Aristoteles erkennen die außerordentliche Bedeutung des Fortschritts im Wissen und in den Künsten und berücksichtigen dessen Folgen in ihren Schriften. Auf der ethisch-politischen Ebene lehrt Piatons ontologischer Optimismus die Möglichkeit, daß die behutsame dialektische Ausbildung der Vernunft einen Fortschritt zur Gerechtigkeit in Seele und Polis beinhalten kann. Allerdings bezeichnet er seinen Entwurf des gerechten Staates explizit als ein kontrafaktisches Muster angesichts des Verfalls von Athen. 46 Im Politikos und in den Nomoi setzt er sich konzentriert mit den überlieferten zyklischen Vorstellungen auseinander. 47 Aristoteles betont in der Politik die wissenschaftlichen und politischen Fortschritte der Gegenwart im Verhältnis zur Vergangenheit und wendet sich gegen die unkritische Übernahme von überliefertem Wissen, da dieses oft „primitiv und barbarisch" war. 48 Gleichwohl erwartet auch er angesichts dieser Fortschritte keine kontinuierliche Verbesserung der menschlichen Verhältnisse. Die Stoa, die bis in die Spätantike großen Einfluß ausübt, ist maßgeblich von der zyklischen Vorstellung beherrscht, nach der die Welt periodisch durch das Urelement des Feuers entsteht und vergeht. So lehrt Chrysippos, daß der Mensch aufgrund der kosmischen Ordnung nicht über die äußeren Dinge verfugen kann, sondern lediglich seine eigene innere Haltung verändern und dementsprechend individuelle, mit der Natur har45

46

Siehe Xenophanes Frag. 11 Β 18. In: Die Fragmente der Vorsokratiker Bd. I. Hrsg. v. H. Diels u. W. Kranz. Berlin 1956. Siehe Piaton: Politeia 472 e und 592 b. In: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 3. Hrsg. v. W. Otto u. a. Hamburg 1959. Angesichts der Probleme in Athen entwirft Piaton ein alternatives „Muster" eines gerechten Staates. Eine fortschreitende Annäherung an diesen idealen Staat bezeichnet Piaton als wünschenswert, ohne jedoch diese Annäherung als notwendig zu prognostizieren. Da diese allein durch eine lange Reihe von Veränderungen möglich sein soll, kann bei Piaton kaum generell von einem „Vorurteil gegen den Wandel", wie von J. B. Bury konstatiert, gesprochen werden (ders.: The idea of progress. London 1920, S. 10 ff.). Eine ausgewogenere Deutung von Piatons politischer Philosophie, die auch den historischen Hintergrund angemessen berücksichtigt, findet sich bei Reinhart Maurer (ders.: Piatons „Staat " und die Demokratie. Berlin 1970).

47

Siehe Piaton: Politikos 269 e. In: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 5, bzw. Nomoi III 677 c/d. In: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 6.

48

Vgl. Aristoteles: Politik Leipzig 1879.

1268 b 27 ff. In: Aristoteles'

Werke. Sechster Bd. Hrsg. v. F. Susemihl.

30

FORTSCHRITT - GEHALT U N D GESCHICHTE EINES BEGRIFFS

monierende Fortschritte zur Weisheit und Tugend erreichen kann. 49 Noch Marc Aurel erwartet von der vernünftigen Seele die zyklisch-kosmische Einsicht: „sie begreift und betrachtet allseitig die periodisch eintretende Wiedergeburt aller Dinge". 50 Die vielleicht größte Nähe zu modernen Fortschrittstheorien findet sich in der spätantiken Hymne von Lukrez, denn nach dieser „bringt Schritt für Schritt die Zeit jedwedes zum Vorschein und der Verstand hebt alles empor zum Reiche des Lichts". 51 Doch auch noch bei ihm werden die Leistungen des Menschen vom kosmischen Gesetz, das der Vernunft den drohenden Untergang der Welt lehrt, relativiert. Im einzigartigen Aufstieg Roms zur Weltherrschaft, durch den die Geschichte Roms zur Weltgeschichte wird, sowie in der Zunahme des theoretischen und praktischen Wissens dokumentiert sich nach Polybios und vielen seiner Zeitgenossen ein bedeutender Fortschritt gegenüber den vorrömischen Verhältnissen. 52 Die diagnostizierten Verbesserungen bleiben aber weitgehend auf das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart bezogen, während über die zukünftige Entwicklung kaum konkrete Aussagen getätigt werden. Im deutlichen Kontrast zum vorchristlichen Kosmosdenken bildet sich in der jüdischen Prophetie seit 760 v. Chr. und verstärkt nach der babylonischen Vertreibung ein Heilsgedanke heraus, der ein künftiges, göttlich-gerechtes Friedensreich verkündet. 53 Während der ersten großen Christen Verfolgung gegen Ende des 1. Jahrhunderts entsteht die Apokalypse des Johannes, in der das tausendjährige Reich Gottes, das jüngste Gericht und das neue Jerusalem offenbart wird. In der Auseinandersetzung mit anderen Religionen und mit dem Ausbleiben der Parusie kommt es in der christlichen Apologetik vereinzelt zu häretischen Versuchen, die Überlegenheit der christlichen Religion durch den Verweis auf irdische Fortschritte zu stützen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die begrenzten Fortschrittsvorstellungen der Antike weitgehend in die Vorstellungen der unverfugbaren, kosmischen Ordnung und der Schicksalhaftigkeit allen Geschehens eingebunden waren. Entgegen der Annahme, der Fortschrittsbegriff sei ein genuin moderner Terminus, zeigt sich aber, daß der Ausdruck in der Antike nicht unbekannt ist. Insbesondere in bezug auf die Ausweitung des Wissens und die Verbesserung der Künste wird der Fortschrittsbegriff oftmals verwandt. In der Spätantike wird das kosmoslogische Weltverständnis dann schrittweise vom wirkungsmächtigen, transhistorischen Heilsglauben abgelöst. Von der Patristik über die

49

Siehe Ritter ( 1 9 7 2 ) Sp. 1032.

50

Marc Aurel: Selbstbetrachtungen IX 1. Hrsg. v. W. Capelle. Stuttgart 8 1 9 7 3 . Lukrez: Von der Natur V 1 4 5 4 - 1 4 5 5 (zum Weltuntergang V 9 1 - 1 0 9 ) . Hrsg. v. M. Fuhrmann. München 1991.

51

52 53

Siehe Polybios: Historai III, 4, 2. Hrsg. v. X. Büttner-Wobst. Leipzig 1905. Siehe dazu die Bücher der Propheten (insbesondere von Jesaja) in der Bibel. Karl Löwith verdeutlicht die o. g. Spannung eindrucksvoll anhand der Gegenüberstellung von Herodot und Deutero Jesaja, die fast zur selben Zeit gelebt haben (ders.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. In: Sämtliche Schriften. Bd. 2. Hrsg. v. K. Stichweh. Stuttgart 1983, S. 16 f).

D I E G E S C H I C H T E DES FORTSCHRITTSGEDANKENS

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Schulkultur des Hochmittelalters bis in das Spätmittelalter, ist der Fortschrittsbegriff maßgeblich durch die verschiedenen Auslegungen des Christentums geprägt. 54 In der Schrift De civitate dei setzt Augustinus dem zyklischen Geschichtsverständnis der Antike die Vorstellung einer 6000 Jahre umfassenden Entwicklung von der Genesis bis zur Parusie entgegen. Während dieser gesamten Zeit sind der Gottes- und Erdenstaat, die civitas dei und die civitas terrena, spannungsvoll miteinander vermischt, und einzig die unverdiente göttliche Gnade kann die civitas dei aus diesem irdischen Jammertal befreien. 55 Diese endgültige Trennung der beiden Staaten vollzieht sich mit dem Ende der irdischen Geschichte, das gemäß der eschatologischen Verheißung zur Errichtung des wahren Gottesstaates fuhrt und den Gerechten das ewige Leben bringt. Da die Menschheitsgeschichte auf ein außergeschichtliches Ziel ausgerichtet ist, wird die Vorstellung eines irdischen Fortschritts, beispielsweise durch die Identifikation einer politischen Macht mit der civitas dei, von Augustinus ausdrücklich negiert. Einflußreich in bezug auf spätere Fortschrittslehren ist die augustinische Weltalterlehre, die die Entwicklung der Menschheit mit dem Alterungsprozeß des Menschen vergleicht. Der Lehre liegt nach Ansicht des Interpreten Kurt Flasch bereits ein „globales Konzept" zugrunde, das einen „einheitlichen, weltgeschichtlichen Gesamtablauf' konstatiert. 56 Auch in der auf die Patristik folgenden Zeit der Schulkultur, die wesentlich von der Autorität der Kirchenväter, wie Augustinus, Hironymus, Boethius und Dionysius Areopagita, geprägt ist, bleibt der Heilsgedanke weitgehend transhistorisch gefaßt. Neben dem Respekt vor dem überlieferten Gedankengut finden sich bei Cassiodor auch zuversichtliche Überlegungen hinsichtlich der Zunahme der wissenschaftlichen Erkenntnisse im Laufe der Zeit. 57 Ebenso hat Anselm von Canterbury, einer der bedeutensten Theologen der Frühscholastik, die Möglichkeit von künftigen Erkenntnisfortschritten gegenüber der Autorität der Kirchenväter verteidigt. Denn trotz des herausragenden Wissens der Kirchenväter sei auch ihre Fähigkeit, Wissen zu sammeln und zu erweitern, angesichts der endlichen Lebenszeit begrenzt. 58 Von Joachim de Fiore und seinen Schülern werden der fortschreitende Erkenntniszuwachs und die Ausbreitung des Glaubens als Momente eines innerweltlichen Fortschritts auf dem Weg zu einem zukünftigen Dritten Reich auf Erden interpretiert. 59 Diese Ansätze zu einer weltimmanenten Geschichtstheologie sind jedoch Randerscheinungen, die nicht traditionsmächtig werden. Der Universalgelehrte Albertus Magnus betont zwar die außerordentliche Bedeutung der überlieferten Schriften und insbesondere der Texte des Aristoteles, aber das Verhältnis der Generationen wird bei ihm generell zugunsten der jeweils Jüngeren ent54

Zum Begriff der Erlösung im Judentum und Christentum siehe Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M. 1970, S. 121 ff.

55

Augustinus: Der Gottesstaat, 17, 20. In: Bibliothek hewer u. a. Kempten/München 1916. Kurt Flasch: Augustinus. Stuttgart 1980, S. 400. Siehe Ritter (1972) Sp. 1035. Siehe dazu Koselleck (1975) S. 366. Siehe dazu Löwith (1983) S. 222.

56 57 58 59

der Kirchenväter.

Bd. 13. Hrsg. v. O. Barden-

32

FORTSCHRITT - G E H A L T UND GESCHICHTE EINES BEGRIFFS

schieden. 60 Begründet wird dieses mit der allein den Jüngeren zukommenden Möglichkeit, die überlieferten Einsichten zu überprüfen und zu erweitern. Sein Schüler Thomas von Aquin, der eine Verbindung von aristotelischer und augustinischer Philosophie anstrebt, erkennt einen relativen Fortschritt in der Zeit, insofern der Mensch sich auf den Empfang der göttlichen Gnade vorbereiten kann. 61 Letztlich wird aber auch seine Theologie von der eschatologischen Erwartung des von außen kommenden Endereignisses bestimmt. Neben dieser Hoffnung findet sich bei Thomas von Aquin aber auch die Überzeugung eines möglichen Fortschritts des profanen Wissens. 62 Gegen den radikalen Aristotelismus und die verstärkten Autonomiebestrebungen der Philosophie gegenüber der Theologie, die von der Möglichkeit innerweltlicher Fortschritte überzeugt sind, beharrt die überwiegende Anzahl der christlichen Denker aber auf den überlieferten Lehren von Augustinus, so daß der radikale Aristotelismus schließlich als Ketzerei verworfen wird. 3 Diese Verurteilung bildet eine Reaktion auf Strömungen, die, indem sie sich auf die philosophische Vernunft berufen, die Autorität des überlieferten Wissens zumindest partiell in Frage stellen. Einen Höhepunkt dieser antitraditionalistischen Tendenz stellt das Werk des Franziskanermönchs Roger Bacon dar, der von den Wissenschaften ausdrücklich die Prüfung und Verbesserung der überlieferten Erkenntnisse erwartet. 64 Nach Bacon ist durch die mathematisch-experimentellen Wissenschaften ein fehlerfreies, sicheres Wissen zu erlangen, das die Manipulation und Ausnutzung der Kräfte der Natur ermöglichen und damit zu ungeahnten praktischen Fortschritten fuhren kann. Im Gegensatz zur Tradition rückt das naturwissenschaftliche Erkennen statt der theologisch-philosophischen Kontemplation in das Zentrum seines Interesses. Gleichwohl bleiben seine wissenschaftlichen Fortschrittserwartungen in den christlichen Kontext eingebettet, da deren vielfältiger Nutzen der Errichtung eines künftigen christlichen Weltstaates dienen soll. In der Spätscholastik kritisiert Wilhelm von Ockham den übermäßigen Respekt vor überliefertem Wissen, weil dieses oft dem methodischen Prinzip, das logische Begründungen verlangt, nicht genügt. 65 Eine fortschreitende Erkenntnis der Welt erwartet er von den neuen Erfahrungen der Menschen, dem Studium des Faktischen und einer quantifizierenden Naturbetrachtung. Mit diesen Vorstellungen beeinflußt seine Philosophie die Entstehung des neuzeitlichen Denkens. Für das christlichen Mittelalter ist die transhistorische Heilserwartung, die, an altund neutestamentarische Überlieferungen anknüpfend, das kosmologische Weltver-

60

Siehe Albertus Magnus: Metaphysica München 1960.

61

Siehe Ritter (1972) Sp. 1035. Reinhart Koselleck fuhrt als Beispiele für die sektoralen Fortschritte in dieser Zeit die positiven Entwicklungen in der Musik und Baukunst sowie im Kirchenrecht und in den Wissenschaften an. Siehe Koselleck (1975) S. 368.

62

II. In: Opera Omnia. Bd. XVI, 1. Hrsg. v. Bernhardus Geyer.

63

Der radikale Aristotelismus wird beispielsweise vom Bischoff von Paris 1277 n. Chr. scharf verurteilt.

64

Siehe Roger Bacon: The opus majus. Hrsg. v. John H. Bridges. Frankfurt a. M. 1964, S. 13 ff. Siehe Konstanty Michalski: La philosophie au XlVe siecle. Hrsg. v. K. Flasch. Frankfurt a. M. 1964, S. 13 ff.

65

D I E G E S C H I C H T E DES FORTSCHRITTSGEDANKENS

33

ständnis ablöst, von grundlegender Bedeutung. Gleichzeitig auftretende Vorstellungen von Fortschritten auf der Erde kollidieren selten mit diesem Heilsglauben, weil sie sich zumeist auf eng umgrenzte Bereiche beschränken. Der Gedanke eines umfassenden und kontinuierlichen Fortschritts, der zu einer irreversiblen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse fuhrt, ist den mittelalterlichen Denkern weitgehend fremd. Mit der Renaissance kommt es zu umfassenden kulturgeschichtlichen Transformationen, bei denen die scholastische Tradition des Mittelalters schrittweise durch neuzeitliche Denkansätze abgelöst wird. Der Erfahrungshorizont des Menschen öffnet sich durch bahnbrechende Erfindungen sowie die Entdeckung von neuen Seewegen und Kontinenten. Gleichzeitig kommt es in den Naturwissenschaften durch eine quantifizierende Naturbetrachtung und ein neues Methodenbewußtsein zu weitreichenden Fortschritten. Bereits in den Schriften von Francis Bacon, der neben Morus und Campanella mit Neu-Atlantis einen der wichtigsten utopischen Staatsromane der Renaissance geschrieben hat, offenbart sich ein ausgeprägtes Fortschrittsdenken. 66 Unter Berufung auf die Erfolge der Wissenschaften, die sich im Lauf der Zeit der Wahrheit annähern sollen, wird von Bacon die Autorität der scholastisch-aristotelischen Tradition entschieden abgelehnt. Nicht die traditionellen Wesensfragen, sondern die Wissenschaften sind nach ihm von herausragender Bedeutung, da sie dem Menschen ermöglichen, über die äußere Natur zu herrschen und deren Kräfte zunehmend auszunutzen. Von dem wissenschaftlichen Fortschritt und der daraus resultierenden Potenzierung der Verfügbarkeit über die Natur erwartet er eine kontinuierliche Verbesserung der menschlichen Verhältnisse. 67 Allerdings ist der Fortschritt der Menschheit nach Bacon kein notwendig eintretendes Faktum, sondern von dem konkreten Engagement der Menschen abhängig. In teils expliziter Absetzung zur theoretischen Schulphilosophie vollzieht Descartes eine Methodenreflexion über den richtigen Vernunftgebrauch, aus der er eine an der Mathematik orientierte Methode entwickelt, die ihm erlaubt, seine „Erkenntnis schrittweise zu erweitern". 68 Noch zu seinen Lebzeiten erwartet er die Vollendung seines Methodenprogramms und eine sich daran anschließende Förderung der allgemeinen Wohlfahrt durch die praktische Anwendbarkeit der neu gewonnenen Erkenntnisse. In oft erstaunlicher Nähe zu Bacon, aber nicht losgelöst von seinen spätscholastischen Wurzeln, fördert er eine analytisch-rationalistische Philosophie, die durch die fortschreitende Kenntnis der Natur dem Menschen die Möglichkeit eröffnen soll, sich „zu Herren und Eigentümern der Natur" zu machen. 69 Mit der europäischen Epoche der Aufklärung werden die Skepsis gegenüber den tradierten religiös-politischen Autoritäten sowie die kämpferische Ablösung von Dogmen durch vernünftige Einsichten zum Programm erhoben. Vor dem Hintergrund großer 66

Siehe Der Utopische Staat. Morus - Utopia. Campanella - Sonnenstaat. Bacon - Neu-Atlantis. Hrsg. v. K. Heinisch. Hamburg 1960.

67

Siehe Francis Bacon: Neues Organort. Teilband 1. Hrsg. v. W. Krohn. Hamburg 1990, S. 263 ff. Rene Descartes: Discours de la methode. Hrsg. v. L. Gäbe. Hamburg 1960, S. 5. In diesem Kontext betont er den „Fortschritt... den ich in der wissenschaftlichen Forschung bereits erreicht zu haben meine" (ebenda).

68

69

Ebenda S. 101.

34

FORTSCHRITT - G E H A L T UND GESCHICHTE EINES BEGRIFFS

wissenschaftlicher Fortschritte hat sich seit dem 17. Jahrhundert die Erwartung einer fortschreitenden Ausbildung der Vernunft rasant verbreitet, und es ist ein zunehmender Einfluß der Idee des allgemeinen Fortschritts auf das neuzeitliche Denken nachzuweisen. In der literarisch-ästhetischen Querelle des Anciens et des Modernes, die zugunsten der „Modernen" (Perrault, Malebranche, Bayle, Fontenelle) entschieden wird, formiert sich der Fortschrittsgedanke aus der Ablehnung von absolut verbindlichen antiken Vorbildern.70 Einen wichtigen Beitrag zur Entstehung der klassischen Geschichtsphilosophie stellt die Scienza Nouva dar, in der Vico eine Universalhistorie nach allgemeinen Gesetzen entwirft, allerdings die Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts ablehnt.71 Dagegen entwickelt Bossuet einen geschichtstheologischen Ansatz, der die fortschreitende Verwirklichung des christlichen Heils in der weltlichen Geschichte untersucht. 72 In Absetzung zu Bossuets christlicher Universalgeschichte interpretiert Voltaire in der Einleitung seines Essai sur les mours et I 'esprit des nations, die den Titel La philosophie de l'histoire trägt, die Weltgeschichte als einen fortwährenden Kampf des Menschen um eine Verbesserung der menschlichen Situation auf Erden. 73 Allein dank der Vernunft und der Aufklärung werden nach ihm bedeutende Fortschritte im Kampf gegen das Elend erreicht, was ihn jedoch nicht animiert, einem euphorischen Optimismus zu huldigen.74 Die Schriften von Turgot und Condorcet sind die bekanntesten Zeugnisse einer optimistischen Geschichtsphilosophie der Aufklärung, in deren Zentrum die Idee eines umfassenden, unbegrenzten Fortschritts der Menschheit steht. Die „Universalgeschichte" von Turgot bemüht sich um eine Skizze „der aufeinanderfolgenden Fortschritte der menschlichen Gattung", die alle Bereiche des menschlichen Daseins umfassen. 75 Die aufklärerische Vernunft soll hier nicht allein einen Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften garantieren, sondern sie soll zugleich zu einer sittlichen Verbesserung und zum Glück aller durch die fortschreitende Befriedigung der Partikularinteressen fuhren. 76 Auch bei Condorcets Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes wird die Idee des Fortschritts auf alle Lebensbereiche 70

Siehe den Artikel „Moderne" von R. Piepmeier im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6, Sp. 54 ff. sowie Fritz Schalk: Bayle und die Querelle des Anciens et des Modernes. In: Studien zur französischen Aufklärung. Frankfurt a. M. 2 1977, S. 280 ff.

71

Siehe Giambastta Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft ker. Hrsg. v. V. Hössle u. C. Jermann. Hamburg 1990.

72

Siehe Jacques B. Bossuet: Discours sur l 'histoire universelle. Paris 1961. Siehe Francois Μ. Voltaire: Essai sur l'histoire generates sur les moeurs et l'esprit des nations. Bd. 1. Geneve ο. J.

73

über die gemeinsame

Natur der Völ-

74

Vgl. dazu seine Schrift Candide oder der Optimismus. Bd. 1. Hrsg. v. V. Klemperer. Leipzig 1949, S. 148 ff.

75

Turgot: Grundriß für zwei Abhandlungen über die Universalgeschichte. Hrsg. v. J. Rohbeck u. L. Steinbrügge. Frankfurt a. M. 1990, S. 169. Dabei wird von den wissenschaftlich-technischen Fortschritten oft auch der Fortschritt zu einer endgeschichtlichen Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse erwartet. Zu der Bedeutung des wissenschaftlich-technischen Chiliasmus in der Moderne siehe Reinhart Maurer: Warum in Europa? In: Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen. Innsbruck 1983, S. 470 f.

76

In: Sämtliche

Romane

und

Erzählungen.

D I E G E S C H I C H T E DES FORTSCHRITTSGEDANKENS

35

des Menschen bezogen, so daß auch das menschliche Leiden an der Kontingenz, Unfreiheit und Ungleichheit kontinuierlich abgeschafft werden soll. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang seine Überzeugung der Irreversibilität der künftigen Verbesserungen sowie der unendlichen Perfektibilität. Eine wichtige Etappe dieses unbegrenzten Fortschritts ist die Errichtung einer künftigen Weltgesellschaft, in der „die Sonne hiernieden nur noch auf freie Menschen scheint, Menschen, die nichts über sich anerkennen als ihre Vernunft". 77 Immanuel Kant bestimmt den Fortschritt als einen „beständigen Fortgange (des menschlichen Geschlechts, Anm. Verf.) zum Besseren" und unterscheidet von dieser eudämonistischen Vorstellung, den an den Verfall glaubenden „Terrorismus" und den „Abderitismus" vom ewigen Stillstand. 78 Relevante Kriterien des Fortschritts sind seines Erachtens die Vermeidung von Kriegen und die Etablierung von republikanischen Verfassungen. Obgleich die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse wünschenswert sei, könne diese Annahme ebensowenig bewiesen werden wie der Terrorismus und der Abderitismus. Gemäß seiner regulativen Fortschrittsvorstellung ist es allerdings förderlich anzunehmen, es vollziehe sich „die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele". 79 Dabei wird die Möglichkeit von Rückschritten in der Geschichte von Kants Geschichtsphilosophie keinesfalls ausgeschlossen. In der Einleitung zu seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte interpretiert Hegel den Gang des Geistes in der Geschichte als ein Fortschreiten. 80 Hier findet sich auch seine berühmte und äußerst kontrovers diskutierte Feststellung: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit - ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben". 81 Sein Fortschrittsbegriff wendet sich dabei in Absetzung zu Kant gegen die Vorstellung eines unbegrenzten Fortschritts, weil diese einen Fatalismus des ewigen Scheiterns impliziert, dem jedoch das erreichte Wissen, daß „alle Menschen an sich frei" sind, widerspricht. 82 Hegels Aussagen zur Geschichte zeigen aber auch, daß sein umstrittenes Fortschrittsdenken mit einer Deutung der „Geschichte als... Schlachtbank" und einer Erinnerung an die zahllosen Opfern von Repression und absoluter Freiheit einhergeht. 83 Aus der Kritik an Hegels idealistisch-spekulativer Geschichtsphilosophie heraus entwickelt Karl Marx seine materialistische Geschichtsauffassung, wonach der Fortschritt 77

78

79

80 81 82

83

Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Hrsg. v.W. Alfif. Frankfurt a. M. 1963, S. 399. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. In: Werkausgabe. Bd. XI. Hrsg. v. W. Weischedel. Berlin 1977, S. 353. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Werkausgabe. Bd. XI, S. 47. Siehe Hegel ( 5 1980). Ebenda S. 63. Ebenda. Vgl. auch Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts § 209. In: Werke. Bd. 7. Hrsg. v. E. Moldenhauer u. Κ. M. Michel. Frankfurt a. M. 1970. Zu den negativen Aspekten der Kategorie der unbestimmten Perfektibilität siehe Hegel ( 5 1 9 8 0 ) S. 149 f. Hegel ( 5 1 9 8 0 ) S. 80. Siehe auch das Kapitel „Die absolute Freiheit und der Schrecken" in der Phänomenologie des Geistes. In: Werke. Bd. 3, S. 431 f.

36

FORTSCHRITT - G E H A L T UND G E S C H I C H T E EINES BEGRIFFS

der Menschheit an die Entwicklung der Produktionsverhältnisse geknüpft ist.84 Entscheidend fur die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse sei maßgeblich die ökonomische Sphäre, während Recht, Politik, Ethik, etc. als angeblicher Überbau weitaus weniger relevant seien. Die endgültige Abschaffung der antagonistischen Produktionsverhältnisse durch die gemeinschaftliche Herrschaft über die Produktionsbedingungen bildet gemäß Marx Philosophie den entscheidenden Fortschritt zur postbürgerlichen, kommunistischen Gesellschaft. Einen Höhepunkt des modernen Fortschrittsdenkens bildet die positive Philosophie von Auguste Comte. Der positive Geist vermag seines Erachtens die jeweiligen Beiträge der geschichtlichen Epochen zum allgemeinen Progreß zu würdigen und die drei aufeinander aufbauenden Stadien (Theologie, Metaphysik, Positivismus) treffend zu differenzieren. 85 Das letzte, positivistische Stadium soll sich durch den Verzicht auf unlösbare, absolute Forschungsprojekte, die wissenschaftliche Lenkung aller Daseinsbereiche und das Aufgehen der Individuen in der religiös verehrten Menschheitsgesellschaft auszeichnen. Der Begriff des Fortschritts wird für Comte zum „fundamentalen Lehrsatz der praktischen wie der theoretischen Weisheit", die voller Optimismus eine endlos fortgesetzte Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf Erden lehrt. 86 Mit seiner zunehmenden Verbreitung wird der Fortschrittsbegriff schließlich oft zu einem Schlagwort ohne konkrete Bezüge, in dem sich die Erwartung von umfassenden Verbesserungen im menschlichen Leben bündeln. Begleitet werden die skizzierten neuzeitlichen Fortschrittsvorstellungen allerdings von unzeitgemäßen Denkern' wie Montaigne, Rousseau, Leopardi, Schopenhauer oder Burckhardt, die die Vorstellung eines weltumspannenden Fortgangs zum Besseren differenziert problematisieren. 87 Gleichwohl ist die Selbstverständlichkeit, mit der von weiten Teilen der Bevölkerung eine umfassende Verbesserung der menschlichen Verhältnisse erwartet wird, ein vorherrschender Grundzug der Neuzeit. 88

84

85

86 87

88

Siehe Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 13. Berlin 7 1 9 7 5 , S. 9 f. Siehe Auguste Comte: Über den Geist des Positivismus. Hamburg 1956, S. 5 f. Das Defizit von Theologie und Metaphysik ist gemäß Comte ihre antiprogressive Unbeweglichkeit aufgrund ihrer absoluten Natur (Ebenda S. 121). Ebenda S. 123. Zur Geschichte der Fortschrittskritik von der Romantik bis zur Gegenwart siehe Rolf Peter Sieferle: Fortschrittsfeinde? München 1984. Gemäß seines Säkularisierungstheorems sieht Karl Löwith eine Abhängigkeit des neuzeitlichen Fortschrittsdenkens von der christlichen Heilserwartung (Löwith (1987) S. 26). Dagegen verweist Hans Blumenberg auf die Differenz von transhistorischen und geschichtsphilosophischen Erwartungshaltungen, die die Vorstellung einer ungerechtfertigten Säkularisierung der vermeintlich genuin christlichen Fortschrittsvorstellung unterminiert. Siehe ders.: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt a. M. 2 1983, S. 39 f. Meines Erachtens ist eine strukturelle Ähnlichkeit von neuzeitlichem Fortschrittsdenken und christlichen Chiliasmus nicht zu übersehen. Allerdings entstammt der Fortschrittsbegriff nicht dem jüdisch-christlichen Heilsdenken, sondern seine Wurzeln liegen im menschlichen Handeln. Diese These wird in den folgenden Kapiteln ausgearbeitet.

ZUSAMMENFASSUNG

1.4

37

Zusammenfassung

Die einfuhrende Auseinandersetzung mit dem Gehalt und der Geschichte des Fortschrittsbegriffs hat dessen spannungsreiche Komplexität sowie dessen Bedeutungswandel zumindest ansatzweise vorgeführt. Konkret zeigt sich, daß die Kategorie des Fortschritts im menschlichen Leben tief verankert ist, weil der Mensch in der Zeit agiert und sich aufgrund seines Handelns im Kontext fortschreitender Handlungsketten als fortschreitendes Individuum interpretiert. Grundsätzlich zu unterscheiden sind der genetische und der wertende Fortschrittsbegriff, wobei letzterer im Zentrum dieser Untersuchung steht. Wichtige Aspekte bei dem wertenden Fortschrittsbegriff sind die Möglichkeit der Vergleichbarkeit von Zuständen einer Fortschrittsbewegung, die Angemessenheit des Wertmaßstabs eines Fortschrittsurteils, der Bezug der Fortschrittskategorie auf bestimmte Bereiche oder die gesamten menschlichen Verhältnisse, der Preis des Fortschritts sowie der Status des Fortschrittsurteils. Die unterschiedlichen Bedeutungsvarianten des Fortschrittsbegriffs sind in dessen Geschichte deutlich zu erkennen. Zwar ist der Begriff des Fortschritts im Zusammenhang mit der Erweiterung des Wissens zu allen Zeiten bekannt, aber es ist ein starker Wandel seiner Bedeutung und seines Stellenwerts festzustellen. Dem kosmologischen Weltverständnis der Antike ist die Überzeugung einer umfassenden und dauerhaften Verbesserung der menschlichen Verhältnisse weitgehend fremd. Auch im Mittelalter, das maßgeblich durch die transhistorische Heilserwartung geprägt ist, bleibt der Fortschrittsbegriff auf bestimmte Bezugssysteme begrenzt, weil irdische Verbesserungen nur in wenigen Bereichen erwartet werden. In der Neuzeit entwickelt sich aus den vielfaltigen Erfahrungen von konkreten Fortschritten in den unterschiedlichsten Bereichen die Vorstellung einer allgemeinen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse im Verlauf der Geschichte. Dieser Optimismus, der insbesondere auf den außerordentlichen Fortschritten in Wissenschaft und Technik gründet, ist zu Nietzsches Zeit weit verbreitet, und Gegenargumente werden nur vereinzelt von kritischen Denkern geäußert. Im Verlauf meiner Auseinandersetzung mit Nietzsches Verhältnis zur Idee des Fortschritts werden sowohl die analytische als auch die historische Skizze des Fortschrittsbegriffs als Hintergrund von Bedeutung sein, weil sich vor ihm Nietzsches Kritik des Fortschritts kontrastreich abzeichnet.

II.

Der Fortschrittsbegriff des modernen „Sokratismus" und die künstlerisch-tragische Fundamentalalternative

II. 1

Vorbemerkung

Nietzsches Auftritt auf der philosophischen Bühne beginnt mit seiner berühmten Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in der die Entstehung und der Niedergang der antiken Tragödie sowie die Bedingungen für deren Wiedergeburt in der Moderne untersucht werden. Die komplexen Ausführungen über Apollo und Dionysos, Sophokles und Äschylus, Sokrates und Euripides, Schopenhauer und Wagner, sowie über Wissenschaft und Mythos, Politik und Kunst sprengen dabei die Grenzen einer rein ästhetischen Abhandlung. Durchdrungen ist Nietzsches Frühschrift zudem von vielschichtigen philosophischen Reflexionen, deren Denkansätze ihn zu einem großen Teil auch in seinen weiteren Schriften beschäftigen. Aufgrund der verschiedenen komplexen Ebenen dieser Schrift, die deren philosophischen Gehalt zunächst kaschieren, bezeichnet Giorgio Colli das Tragödienbuch als Nietzsches „schwierigstes Werk", so daß eine genaue Lektüre und eine kritische Interpretation dieses literarischen Maskenspiels unabdingbar sind.54 Im Zentrum meiner Untersuchung von Nietzsches früher Kritik des Fortschritts steht dessen Auseinandersetzung mit seiner Zeit, die seiner Ansicht nach vom „Sokratismus" dominiert wird. Diese optimistische Weltbetrachtung soll von dem Glauben an die fortschreitende Verbesserung der menschlichen Verhältnisse im Lauf der Geschichte geprägt sein. Da Nietzsche den Begriff „Fortschritt" in dieser Zeit selten explizit verwendet, wird nachzuweisen sein, daß die Idee des Fortschritts für seine Untersuchung des „Sokratismus" und damit für seine gesamte frühe Philosophie von grundlegender Bedeutung ist.55 Neben der Ablehnung des „sokratistischen" Fortschrittsglaubens gibt es meines Erachtens bei Nietzsche aber auch Anhaltspunkte für einen positiv besetzten Fortschrittsbegriff. 54 55

Giorgio Colli: Nachwort zur Geburt der Tragödie. In: KSA 1/902. In der Geburt der Tragödie verwendet Nietzsche den Terminus lediglich einmal, um sich ironisch über einen vermeintlichen, künstlerischen Fortschritt von Sophokles zu Euripides zu äußern (siehe GT 79). Im frühen Nachlaß benutzt Nietzsche den Begriff sowohl positiv als auch negativ.

D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „ S O K R A T I S M U S "

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Beeinflußt wird Nietzsches Schaffen in dieser Zeit vor allem durch die Texte der älteren griechischen Dichtung und Philosophie, die Schriften von Schopenhauer und die freundschaftliche Beziehung zum als Genius und Meister verehrten Wagner, an den er sich in der Vorrede der Tragödienschrift direkt wendet. 56 Maßgeblich aufgrund dieser fruchtbaren Freundschaft kommt der Biograph Curt Paul Janz zu dem Urteil, daß die Jahre 1870 und 1871 trotz der Teilnahme als Sanitäter am deutsch-französischen Krieg und der dabei zugezogenen schweren Erkrankung die beste Zeit in Nietzsches Leben gewesen seien. 57 Meine Untersuchung von Nietzsches Kritik des Fortschritts in seinen frühen Schriften hat eine trimere Struktur, die sich am Aufbau der zweiten Hälfte des Tragödienbuches orientiert. Analog zu dem Argumentationsgang der Abschnitte 11 bis 25 der Geburt der Tragödie gliedert sich dieser Teil in die Exposition des sokratistischen Fortschrittsglaubens, in die Auslegung von Nietzsches Kritik am „Sokratismus" sowie in die Interpretation von Nietzsches Fundamentalalternative. Die Kapitel sind jeweils in drei bzw. vier Unterkapitel gegliedert, wobei in den ersten Unterkapiteln meine Interpretation von Nietzsches Texten, und in dem jeweils letzten Unterkapitel meine Anmerkungen dazu vorgestellt werden. Abschließend wird in einer Zusammenfassung die fundamentale Differenz zwischen der positiv und der negativ konnotierten Fortschrittsvorstellung bei Nietzsche betrachtet.

II. 2

Der szientistisch-eudämonistische Fortschrittsglaube der Moderne

II. 2. 1 Der Fortschrittsoptimismus des „Sokratismus" In der Geburt der Tragödie und dem Nachlaß aus dieser Zeit verwendet Nietzsche den Begriff Fortschritt selten explizit, so daß es scheint, als hätte er zu dieser Zeit kein Interesse an dem Themenkomplex „Fortschritt" gehabt. 58 Gleichwohl zeigt die nähere Auseinandersetzung mit dem von ihm diagnostizierten „Sokratismus" der Moderne, daß 56

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58

Siehe G T 2 3 f. Wichtigen Einfluß auf Nietzsche üben in dieser Zeit zudem die Schriften von Piaton, Aristoteles, Kant, Goethe und Schiller sowie die Bekanntschaft mit Jacob Burckhardt aus. Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie. Bd. 1. München/Wien 2 1993, S. 392 bzw. 429. Über das erlebte Grauen im Krieg berichtet Nietzsche anschaulich in seinen Briefen aus dieser Zeit (siehe KSB 3/138 f). Wiederholt verwendet Nietzsche den Begriff in der Zeit zwischen Oktober 1867 und April 1868, in der er sich mit der Frage nach der Möglichkeit eines historischen und wissenschaftlichen Fortschritts auseinandersetzt (siehe Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe. Beck'sche Ausgabe Werke (= BAW). Bd. III. Hrsg. v. H. J. Mette. München 1933 ff. (Nachdruck 1994), S. 322, 337, 338, 340, 341 und BAW V 268). Außerdem benutzt er den Ausdruck einmal in seinem Vortrag Homer und die klassische Philologie (siehe BAW V 287). In den nachgelassenen Schriften und Fragmenten wird der Begriff seit 1869 wiederholt explizit verwandt. Siehe ζ. B. KSA 7/272, 283, 284, 306,324, 435, 493, 497 u. 650.

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die Kritik des Fortschritts bereits in dieser Schaffensperiode von fundamentaler Bedeutung ist. Der Begriff des „Sokratismus" kennzeichnet im Tragödienbuch die dominierende Lebensform der Moderne, deren Wurzeln in der griechischen Antike und insbesondere beim Namensgeber Sokrates liegen sollen. 59 Die außerordentliche Bedeutung der somatischen Philosophie erkennt Nietzsche in deren folgenschwerer Reaktion auf das antike Absterben der Mythen, die seines Erachtens nach einer letzten, künstlerischen Wiederbelebung in der attischen Tragödie im Dogmatismus erstarren. Sokrates soll als Vater der antiken Aufklärung eine Überwindung der mythischen Weisheiten mit dem Ziel angestrebt haben, die auf mythischer Autorität beruhenden Anschauungen durch solche zu ersetzen, die sich aus der Betätigung des menschlichen Verstandes ergeben. Dieses hat aus Nietzsche Perspektive zu einer kulturellen Transformation gefuhrt: auf die tragische Kultur, in deren Zentrum die apollinisch-dionysische Tragödie steht, folgt die „sokratistische" Kultur, die vom ontologischen Optimismus der sokratischen Philosophie geprägt ist. Dessen Fundament bildet die Annahme einer Wechselwirkung von Wissen, Tugend und Glück, aus der sich die Überzeugung des Sokrates ableitet, daß aus einer möglichen, kontinuierlichen Zunahme des menschlichen Wissens notwendig eine Maximierung von Tugend und Glück resultiere. Optimistisch ist diese Weltbetrachtung, weil sie vom Verstand einerseits die Erkenntnis der grundlegenden Struktur der Welt an sich erhofft und andererseits eine dauerhafte und umfassende Verbesserung des als defizitär erfahrenen Daseins erwartet. „Nun steht freilich neben dieser vereinzelten Erkenntnis... eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Kausalität bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigieren im Stande sei." (GT 99)

Da die menschliche Vernunft als das einzig probate Instrument zur angestrebten Korrektur der conditio humana angesehen wird, kommt es, aus Nietzsches Sicht, mit der sokratischen Aufklärung zu einer Verabsolutierung des Rationalen, die das Unvernünftige als das Verwerfliche stigmatisiert. Alle Bereiche des griechischen Lebens seien dadurch einem Wandel unterworfen, denn viele überlieferte Volkstraditionen seien nun radikal hinterfragt und als unverständlich aufgegeben worden. Auch die ehemals blühenden Künste und die Reflexionen zum Schönen und Erhabenen werden, gemäß Nietzsches Interpretation, fortan von der ratio dominiert: Es bildet sich eine rationalistische Kunst und Ästhetik heraus, in der das Tragische von einer pathologischmoralischen Tendenz beherrscht wird. 60 Dieser neu einsetzende Glaube an die Kraft des menschlichen Denkens, von dem ein fortschreitendes Verfugbarmachen des Seienden 59

60

Der Begriff „Sokratismus" wird von mir in Anführungszeichen gesetzt, weil Nietzsche mit diesem Begriff meines Erachtens dem Denken des Sokrates nicht gerecht wird (siehe dazu II.2.3). Nietzsche nennt hier vor allem den von Sokrates beeinflußten Euripides, dem in der Kunst „der Verstand als die eigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens" gelten soll (GT 81). Dagegen erkennt der von Nietzsche geschätzte Jacob Burckhardt in den Bakchen eine gegenaufklärerische Begeisterung des Euripides flir den Gott Dionysos (ders.: Griechische Kulturgeschichte. Bd. 2. Hrsg. v. R. Marx, Leipzig o. J., S. 305 ff.).

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erwartet wird, ist für Nietzsche von derart herausragender Bedeutung, daß er in diesem nicht nur eine Transformation innerhalb der Antike erkennt, sondern in Sokrates, der diese Entwicklung zur optimistisch-rationalistischen Kultur personifiziert, „den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte" ( G T 100) verortet. Aktualität gewinnt diese Betrachtung der antiken Aufklärungsbewegung durch die von Nietzsche diagnostizierte parallele Entwicklung in der Neuzeit. Analog zum Absterben des Mythos in der Antike konstatiert er in der Neuzeit ein Schwinden der Bedeutung des Christentums, was in der Geburt der Tragödie in den Formulierungen über die „blassen und ermüdeten Religionen" ( G T 1 1 7 ) oder die „ungeheure Verweltlichung" ( G T 148) der Gegenwart anklingt. Noch deutlicher sind einige Textstellen im Nachlaß, die wiederholt das Absterben des Christentums in der Neuzeit feststellen, was bereits eine Antizipation seiner berühmten Formel „Gott ist todt" darstellt. 61 „Man muß zeigen, daß eine tiefere Weltoffenbarung in ihm (dem klassischen Altertum, Anmerkung Verf.) liegt, als in unsern zerrissenen Zuständen, mit einer künstlich eingeimpften Religion. Entweder sterben wir an dieser Religion oder die Religion an uns. Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben." (KSA 7 / 1 2 5 )

Der neuzeitliche Verfall der christlichen Religion hinterläßt nach Nietzsche eine metaphysische Leerstelle: Die obersten, orientierungsstiftenden Werte und damit die allgemein anerkannte, gemeinschaftsbindende Ordnung verlieren ihre Bedeutung. Damit droht der ungezügelte Kampf der Partikularinteressen, der alle Einheitsbestrebungen unterläuft und zu den von ihm diagnostizierten „zerrissenen Zuständen" führt. Im Tragödienbuch sieht Nietzsche dieses Sinnvakuum der Neuzeit ähnlich wie nach dem Absterben der tragischen Mythen in der Antike durch einen aufklärerischen Optimismus hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der Menschheit ausgefüllt. Zum einen bezieht sich dieser Optimismus auf die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen, da der „Sokratismus" an „die Ergründlichkeit der Natur der Dinge" ( G T 100) glaubt. Den anderen Wesenszug beschreibt Nietzsche in den Kapiteln 13 bis 18 der Geburt der Tragödie vor allem mit zwei unterschiedlichen Formulierungen, die für das Verständnis des modernen „Sokratismus" von fundamentaler Relevanz sind. Einerseits spricht er relativ unbestimmt vom Glauben „an eine Correktur der Welt" ( G T 115, vgl. G T 9 9 ) , womit die Überzeugung an eine Verbesserung der irdischen Verhältnisse gemeint ist. Andererseits offenbart er deutlicher das Spezifische dieses Optimismus, wenn er mit medizinischen Termini von dem Glauben an die „Heilung der ewigen Wunde des Daseins" ( G T 115, vgl. G T 100, 111) spricht. Mit dieser Formulierung kennzeichnet Nietzsche, worauf sich die anvisierte Verbesserung bezieht: A u f das menschliche Leiden in der Welt. Der diagnostizierte Optimismus glaubt an eine Überwindung des als defizitär empfundenen

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FW 481. Siehe dazu Martin Heidegger, der in seinem Aufsatz zu dieser Formel auch die oben von mir zitierte Textpassage aus dem Nachlaß anfuhrt, aber bei seiner weiteren Untersuchung lediglich dessen spätere Schriften berücksichtigt. Vgl. Heidegger ( 6 1 9 8 0 ) . Der Grund fur diese Konzentration auf das Spätwerk mag in Heideggers problematischer Annahme liegen, daß alle frühen und alle veröffentlichten Schriften - er erwähnt ausdrücklich auch die Geburt der Tragödie - nicht Nietzsches eigentliche Philosophie enthalten. Siehe Heidegger ( 5 1 9 8 9 Bd. I) S. 17.

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Daseins: Die zu erwartende Heilung verspricht eine erfolgreiche Bekämpfung und dauerhafte Abschaffung der vielfältigen leidverursachenden Momente im Dasein. Die Annahme der Akkumulation des Wissens über die Welt und der Glaube an ihre Verbesserung durch dieses Wissen werden von Nietzsche als die wichtigsten Wesenszüge des theoretischen Optimismus der Moderne dargestellt.62 Im Zentrum des modernen „Sokratismus" steht demzufolge die Idee der universellen Verbesserung bzw. des allgemeinen Fortschritts. Nietzsche verwendet diesen Begriff zwar selten explizit, aber mit seiner Rede von dem „Glauben an eine Correktur" des Daseins spielt er meines Erachtens deutlich auf die neuzeitliche Fortschrittsidee an, die eine umfassende Verbesserung bzw. Korrektur der menschlichen Verhältnisse im Verlauf der Geschichte erwar-

II. 2. 2 Nähere Bestimmung des „sokratistischen" Fortschrittsglaubens Bei der Auseinandersetzung mit der von Nietzsche skizzierten „sokratistischen" Fortschrittsvorstellung sind einerseits deren Bezug auf die Zukunft und andererseits deren Funktion in der Gegenwart zu beachten. Das prospektive Moment des sokratistisch-neuzeitlichen Fortschrittsdenkens ist offensichtlich, da die vom modernen „Sokratismus" verkündete Korrektur des Daseins sich vor allem auf die Zukunft bezieht. Das Kommende ist dabei prinzipiell positiv konnotiert, weil in der Zukunft eine umfassende Verbesserung der gegenwärtigen Lebensverhältnisse erwartet wird. Folglich ist das „sokratistische" Fortschrittsdenken nicht blind, sondern auf einen zumindest ansatzweise definierten Idealzustand ausgerichtet. Das anvisierte Ideal dieser Fortschrittsvorstellung ist nach Nietzsche das allgemeine Glück des Menschen, das durch die schrittweise Überwindung und Beseitigung der vielfältigen leidverursachenden Momente im Dasein erreicht werden soll. Charakteristisch fur diesen modernen Optimismus ist ein Universalismus, der in der von Nietzsche zitierten Formel von dem „Glaube(n) an das Erdenglück Aller" (GT 117) betont wird und der ausdrücklich jedem Individuum die irdische Verwirklichung seiner Vorstellungen vom Glück verspricht. Der zentrale Aspekt des vom „Sokratismus" angestrebten Idealzustands wird von Nietzsche wiederholt hervorgehoben: die Verwirklichung des Anspruchs aller Individuen auf das gleiche Glück. Da die Realisierung dieses Anspruchs bislang an den vielfältigen Formen der Ungleichheit scheitert, soll die Abschaffung von politischen, sozialen und ökonomischen Ungleichheiten oberste Priorität be-

62

Friedrich Kaulbach unterscheidet drei Bedeutungen des theoretischen Optimismus: Erstens, die Fähigkeit alles theoretisch zu erfassen, zweitens, die Welt positiv zu verändern und drittens das „Leiden am Leben... in objektivierender Distanzierung vom Leibe (zu) halten" (ders.: Nietzsches Kritik an der Wissensmoral und die Quelle der philosophischen Erkenntnis: Die Autarkie der perspektivischen Vernunft in der Geschichte. In: Nietzsche kontrovers IV. Hrsg. v. R. Berlinger u. W. Schräder. Würzburg 1984, S. 75). Im Kontext meiner Untersuchung sind insbesondere die ersten beiden Bedeutungen von Relevanz.

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Trotz dieses Bezugs bleiben die Differenzen der Begriffe „Fortschritt" und „Correktur" zu beachten, so ist genaugenommen ersterer im Unterschied zu letzterem auf die Unendlichkeit ausgerichtet.

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DER FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „SOKRAT1SMUS"

kommen, so daß tatsächlich alle Individuen, auch die gegenwärtig Benachteiligten, in gleicher Freiheit das gleiche Glück genießen können. 64 Von grundlegender Relevanz für den „sokratistischen" Glücksanspruch ist nach Nietzsches Deutung die umfassende Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse. Neben dem Schutz vor den Unwägbarkeiten der äußeren Natur bedeutet diese vor allem die höchstmögliche Versorgung der menschlichen Natur. Die Devise des „Sokratismus" lautet deshalb: „möglichst viel Produktion und Bedürfniß - daher möglichst viel Glück" (BA I 667). Die Garanten hierfür sollen die fortschreitende wissenschaftlich-technische Beherrschung der Naturgewalten und die daraus resultierende Verfügbarkeit der äußeren Natur sein. 65 Von der steigenden Befriedigung der materiellen Bedürfnisse werden demnach entscheidende Fortschritte zur Annäherung an ein allgemeines Erdenglück erwartet. Die eudämonistisch-universalistische Fortschrittsvorstellung des modernen „Sokratismus" strebt demgemäß nach dem allgemeinen Glück der Menschheit, das einerseits durch den kontinuierlichen Abbau von freiheitseinschränkenden Ungleichheiten, und andererseits durch die zunehmende Verfügbarkeit über die außermenschliche Natur, also durch die Duplizität des ethisch-politischen und wissenschaftlich-technischen Fortschritts, erreicht werden soll. In der Geburt der Tragödie spezifiziert Nietzsche nicht weiter, welche Weltanschauungen der Moderne sich diese Fortschrittsvorstellung auf ihre Fahnen schreiben. Deutlicher wird er im Nachlaß, wo er explizit auf den Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus verweist, die letztlich alle die gemeinsame Idealvorstellung eines allgemeinen Erdenglücks teilen sollen. 66 Bei allen Differenzen zwischen diesen großen Emanzipationsbewegungen der Moderne sieht Nietzsche eine gewichtige Gemeinsamkeit gerade in deren Fortschrittsglauben, der allerdings je nach Weltanschauung mit unterschiedlichen Mitteln verwirklicht werden soll. Die Hoffnung des modernen „Sokratismus" auf eine fortschreitende Abschaffung der leidverursachenden Momente im Dasein gründet sich nach Nietzsche auf dessen Glauben an die herausragende Leistung der menschlichen Rationalität. Den Protagonisten der „sokratistischen" Kultur bestimmt er als den „theoretischen Menschen" (GT 98), dessen Leben durch die wissenschaftliche Betrachtung der Dinge geprägt ist, und der von ihr die Erkenntnis der wahren Ordnung der Dinge erwartet. Mit diesem Glauben an die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Wahrheit soll in der Moderne eine neue Hoffnung auf verläßliche Orientierungen nach der Erosion der religiösen Bindungen und Normen aufkommen. Gemäß Nietzsches Interpretation erwartet der „Sokratismus" von den Wissenschaften nicht nur die Erkenntnis der wahren Natur der Dinge, sondern darüber hinaus auch die positive Veränderung der Natur und die Abschaffung ihrer Leid verursachenden Defizite. Diesen Umbau der Ordnung der Dinge soll ein Zusammenspiel von analysierender 64

65

66

Nach Nietzsche konzentriert sich das universal-emanzipatorische Versprechen des Sokratismus auf die „Emancipation der Massen von der Herrschaft der großen Einzelnen" (BA III 698). Nietzsche nennt explizit die „im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister..." (GT 115). KSA 1/767 f., vgl. auch KSA 7/355 (ursprünglich geplantes Vorwort der Geburt der Tragödie an Richard Wagner).

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und setzender Rationalität der Wissenschaften ermöglichen, von dem der theoretische Mensch annimmt, daß es mit der Offenbarung der wahren Einrichtung der Dinge auch deren Defizite entlarvt und sinnvolle Optimierungsstrategien anbietet. Aufgrund dieser Annahme erkennt der moderne „Sokratismus" in den Wissenschaften den Garant für eine kontinuierliche, nachhaltige Verbesserung der menschlichen Situation auf Erden, die den Fortschritt zu einem Zustand des allgemeinen Erdenglücks ermöglicht. „... die Heiterkeit des theoretischen Menschen: sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale... dass sie an eine Correktur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben glaubt..." (GT 115)

Mit dem Wahrheits- und Heilsanspruch des Szientismus soll schließlich die Behauptung einer absoluten Geltung der wissenschaftlichen Leitvorstellungen einhergehen, die Erwägungen über eine mögliche Begrenztheit der Wissenschaften ignoriert. Der szientistische „Sokratismus" der Moderne erhebt nach Nietzsche einen dogmatischen Anspruch auf die „universale Gültigkeit" (GT 111) und „Unfehlbarkeit" (GT 119) der Wissenschaften. Bei der Darstellung des Glaubens an die Universalheilkraft der Wissenschaft spezifiziert Nietzsche im Tragödienbuch nicht, an welche Wissenschaften er konkret denkt. Gleichwohl zeigen Formulierungen aus der Geburt der Tragödie und dem Nachlaß zumindest indirekt, daß der Geisteswissenschaftler Nietzsche sich nicht nur mit den ihm nahestehenden Fakultäten auseinandersetzt, sondern auch die außerordentliche Bedeutung der Naturwissenschaften und deren praktische Anwendungsmöglichkeiten für die „sokratistische" Weltbetrachtung hervorhebt. 67 So wird der szientistische Fortschrittsoptimismus der Moderne beispielsweise als Glaube an den „Gott der Maschinen und Schmelztiegel" (GT 115, vgl. BAW V 287) bezeichnet. Mit dieser Formulierung werden einerseits die Relevanz von Wissenschaft und Technik, und andererseits deren Verherrlichung in der Moderne hervorgehoben. Für das Verständnis des modernen Fortschrittsglaubens ist nach Nietzsche aber nicht nur die Kenntnis von dessen Bezug auf einen künftigen, durch die wissenschaftlichtechnischen Erfolge erreichbar scheinenden Zustand des allgemeinen Erdenglücks wesentlich, sondern es ist auch dessen Funktion in der modernen „sokratistischen" Kultur zu beachten. Es ist bereits angedeutet worden, daß die im Tragödienbuch diagnostizierte Erosion der tradierten, christlichen Werte, den neuzeitlichen Menschen aus Nietzsches Perspektive in eine umfassende Verunsicherung und gefährliche Orientierungslosigkeit zu stürzen droht. Angesichts dieser Erosion soll es nicht mehr möglich sein, das alltägliche Übel im Rahmen der Theodizee zu rechtfertigen, so daß der Einzelne sein Leiden ohne 67

Friedrich Kaulbach konstatiert, daß Nietzsche „nicht primär die Ausschweifungen des naturwissenschaftlichen Verstandes im Blick hat", sondern sich vor allem mit der Wissenschaft der Geschichte beschäftigt (Kaulbach (1984) S. 71). Dieser Aussage ist zuzustimmen, insofern Nietzsche bei der Analyse des Szientismus den Naturwissenschaften keinen Vorrang einräumt. Allerdings bleibt zu beachten, daß die „Ausschweifungen des naturwissenschaftlichen Verstandes" von ihm auch analysiert werden. Sein Interesse an den Naturwissenschaften dokumentieren beispielsweise zwei Briefe von 1868 bzw. 1869 (KSB 2/257 u. 360). Siehe zu diesem Thema auch Karl Schlechta u. Anni Anders: Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens. Stuttgart/Bad Canstatt 1962).

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göttlichen Trost ertragen muß. 68 Der Verlust der religiös verankerten Wahrheit birgt nach Nietzsches Meinung vor allem aber die Gefahr eines Fortfalls jeglicher gesellschaftlicher Ordnung: Die Negation der religiös-normativen Wahrheit fuhrt zu einer Negation der übergeordneten, gemeinschaftsstiftenden Ziele einer Kultur, wodurch die individuelle Bedürfnisbefriedigung freigesetzt wird und das Mehrhabenwollen des Einzelnen nicht mehr gezügelt werden kann. Die Folge dieses unbändigen Egoismus wäre ein hemmungsloser Krieg aller gegen alle, der zu einem Ungenügen am Vorhandenen fuhrt und in der lebensgefährdenden Apokalypse des „praktischen Pessimismus" gipfelt. „Denn dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft... auf die praktischen, d. h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker verwandt, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn er... als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid erzeugen könnte - , . . " 6 9

Mit dem hemmungslosen, destruktiven Ausleben der Partikularinteressen und der fehlenden Rechtfertigung der alltäglichen Übel könnte die Erosion des christlichen Glaubens demnach zu Konsequenzen fuhren, die jegliches menschliche Zusammenleben massiv bedrohen. Gemäß Nietzsches Interpretation bildet in dieser Situation allerdings der Glaube an einen szientistisch-eudämonistischen Fortschritt ein Gegengewicht zum Absterben der Religionen. Im Kontext des oben angeführten Zitats wird der moderne „Sokratismus" ausdrücklich gewürdigt, weil dieser die egoistisch-destruktiven Kräfte der Menschen durch eine neue Aufgabe bindet: die Erkenntnis der wahren Ordnung der Dinge, die eine „unbezifferbare(n) Summe von Kraft" erfordert (GT 100). Darüber hinaus vermag der „Sokratismus" aus Nietzsches Perspektive das leidvolle Dasein zu rechtfertigen, weil die Vorstellung eines umfassenden Fortschritts das gegenwärtige Leiden zu einem temporären Defizit marginalisiert. Der theoretische Mensch soll dadurch die Unzulänglichkeit des Vorhandenen ertragen können und zum Weiterleben verführt werden. Laut Tragödienbuch kann der antike „Sokratismus" mittels des Wahrheits- und Fortschrittsversprechens eine zumindest temporäre Akzeptanz des endlichen und beschwerlichen Daseins bewirken. Die unerschütterliche Gelassenheit des Sokrates angesichts des nahen Todes, die im Kriton von Piaton beschrieben wird, soll diese Wirkung des rationalistischen Fortschrittsversprechens belegen. 70

68

Vgl. GT 117 und 148. Den Begriff „Theodicee" verwendet Nietzsche im Tragödienbuch lediglich im Kontext der griechischen Daseinsrechtfertigung (GT 36), aber der Theodizeegedanke steht im Hintergrund des gesamten Textes. Zur Problematik von Nietzsches Verwendung des Theodizeemotivs siehe Volker Gerhardt: Artisten-Metaphysik. schen Rechtfertigung

69

Zu Nietzsches

der Welt. In: Pathos und Distanz.

frühem

Programm

einer

ästheti-

Stuttgart 1988, S. 54.

GT 100. Einen ähnlich grauenhaften Zustand des „praktischen Pessimismus" läßt Christoph Ransmayr seine Figur des Publius Ovidius N a s o in einer Rede beschreiben, die ebenfalls wie die Tragödienschrift die Wiedergeburt einer höheren Kultur anstrebt (ders.: Die letzte Welt. Nördlingen 1962, S. 62).

70

Vgl. Piaton Kriton 43 b.

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„... und deshalb ist das Bild des s t e r b e n d e n S o k r a t e s als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen das Wappenschild, das über dem Eingangsthor der Wissenschaft einen Jeden an deren Bestimmung erinnert, nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen:..." (GT 99)

Dank des Glaubens an die Kraft der Rationalität, die den Fortschritt zu einem besseren, leidfreien Leben verbürgen soll, rettet der „Sokratismus" demnach den theoretischen Menschen vor der desperaten Verzweiflung am Dasein. Aufgrund dieser lebensantreibenden Kraft wird der „sokratistische" Fortschrittsglauben im Tragödienbuch als „Daseinsrechtfertigung" und „Daseinsform" bezeichnet, der einst das nachtragische Zeitalter der Antike beherrschte und heute die Moderne dominiert. 71 Der eudämonistisch-szientistische Fortschrittsglauben bildet folglich nicht nur ein akzidentelles Moment der modernen Kultur, sondern er stellt gemäß Nietzsches Auslegung das lebensbejahende Fundament dar, auf welchem sich die moderne Kultur erheben kann, ohne von den Fluten des praktischen Pessimismus existentiell gefährdet zu werden.

II. 2. 3 Anmerkungen zu Nietzsches Auslegung des „sokratistischen" Fortschrittsglaubens Nietzsches Deutung des „Sokratismus" verweist auf interessante Ähnlichkeiten zwischen der antiken und der neuzeitlichen Aufklärung, die beide von dem Bestreben geprägt sind, einen als defizient demaskierten mythischen bzw. religiösen Werthorizont abzulösen. 72 Sicherlich kann mit dem Altphilologen Nietzsche die Person des Sokrates als eine wichtige Wegmarke der antiken Aufklärung im 5. Jahrhundert v. Chr. angesehen werden, weil sich Sokrates angesichts der gravierenden Zerfallstendenzen der griechischen Poliskultur um eine neue Grundlegung des politischen Gemeinwesens bemüht, in deren Zentrum die vernünftige Begründung der sittlichen Vortrefflichkeit steht. Obwohl in dieser Zeit auch verschiedene Ansätze eines Fortschrittsdenkens zu erkennen sind, die vor allem auf die konkrete Erfahrung von Fortschritten in den verschiedensten Lebensbereichen zurückzufuhren sind, ist es jedoch verfehlt, den ontologischen Optimismus von Sokrates als Glauben an eine Leid abschaffende Daseinskorrektur zu interpretieren. Die von Nietzsche angeführte sokratische Annahme einer Interdependenz von Wissen, Tugend und Glück schließt bei Sokrates keinen Glauben an eine kontinuierliche Abschaffung des Leidens aller Menschen ein, denn lediglich von besonders vernunftbegabten Auserwählten erwartet Sokrates eine heilsame Annäherung an das wahr-

71

72

Vgl. GT 99. Zum Ende der Geburt der Tragödie spricht Nietzsche auch von „dem zum Leben drängenden Sokratismus der Wissenschaften" (GT 148). Bei Hegels Auslegung der griechischen Aufklärung wird die Rolle von Sokrates, der als „ E r f i n d e r der Moral" den Verfall der Polis beschleunigt haben soll, ebenfalls kritisch analysiert (ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Werke. Bd. 12, S. 329). Zu Nietzsches Begriff der Aufklärung siehe Henning Ottmann: Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufldärung. In: Nietzsche und die philosophische Tradition. Hrsg. v. Josef Simon. Würzburg 1985, S. 9 ff.

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haft Seiende. 73 Statt Sokrates als Ahnherrn des neuzeitlichen Glaubens an einen allgemeinen Fortschritts zu bestimmen, ist eher auf die Bedeutung des chiliastischen Denkens für die Fortschrittseuphorie in der Moderne zu verweisen. 4 Nietzsches Ausführungen über die Karriere der Fortschrittsidee in der Neuzeit und deren Zusammenhang mit dem mittlerweile evidenten Bedeutungsschwund der christlichen Religion sowie mit den Erfolgen der Wissenschaften erscheinen mir weitgehend überzeugend. Der Verlust der dominierenden Stellung des christlichen Glaubens im Zeitalter der Aufklärung ist von zahlreichen Interpreten minutiös analysiert worden. 75 Für die Entstehung und Verbreitung der Aufklärungsbewegung sind die Naturwissenschaften und die aus ihnen resultierende praktische Verfügungsmacht von herausragender Bedeutung. Die Erfahrung des rasanten Fortschritts in den Wissenschaften hat die Verbreitung der Idee eines allgemeinen Fortschritts stark gefördert. Das dokumentieren beispielsweise die Schriften von Turgot, Saint-Simon und Condorcet, in denen der Einfluß des wissenschaftlichen Fortschritts auf das Fortschrittsdenken der Aufklärung deutlich nachzuweisen ist.76 Treffend betont Nietzsche auch die für die aufklärerische Idee eines allgemeinen Fortschritts zentrale Vorstellung einer kontinuierlichen Überwindung des menschlichen Leidens. Die Abschaffbarkeit der Leid verursachenden Momente im Leben durch die unbegrenzte Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft ist eine Grundannahme des rationalistisch-aufklärerischen Fortschrittsoptimismus, der von wirksamen Strategien zur Vermeidung und Eliminierung des Leidens überzeugt ist und eine fortschreitende Verbesserung der Lebensverhältnisse verspricht. 77 Auch wenn sich in der Neuzeit kein einheitliches Fortschrittsdenken herausbildet und kritische Stimmen den Optimismus der Aufklärung treu begleiten, so trifft Nietzsches Beschreibung des modernen „Sokratismus" einen wesentlichen Grundzug des neuzeitli73

Siehe Politeia

74

Vgl. Kapitel 1.3 dieser Dissertation. In seinen späteren Schriften wird Nietzsche wiederholt die Bedeutung des jüdisch-christlichen Heilsgedanken für die Entstehung der modernen Fortschrittseuphorie hervorheben (siehe beispielsweise A C 191) Siehe dazu beispielsweise Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufidärung. Frankfurt a. M. 1988. In verschiedenen Aufsätzen wird der Umschlag der religions-apologetischen Vernunft in eine kritische Vernunft, an der die Apologetik letztlich zerbricht, beschrieben. Nietzsche selbst verweist wiederholt auf die zersetzene historisch-kritische Methode, an der jede Metaphysik zerbricht (GT 146, 148). Siehe auch die Studien zur französischen Aufklärung von Fritz Schalk. Vgl. Schalk (1997).

75

76 77

490 a/b.

Vgl. Kapitel 1.3 dieser Dissertation. Den Aspekt des Leidens in Nietzsches Schriften hat Reinhard Knodt in einer umfassenden Studie untersucht (ders.: Friedrich Nietzsche - die ewige Wiederkehr des Leidens: Selbstverwirklichung und Freiheit als Problem seiner Ästhetik und Metaphysik. Bonn 1987). Bereits in der Einleitung dieser Studie wird auf Nietzsches frühe, kritische Analyse der modernen Versuche der Leidensflucht hingewiesen, zu denen Knodt insbesondere die Vorstellung eines historischen Fortschritts zählt (S. 15). Treffend bemerkt er dazu, daß Nietzsche den Fortschritt als Sinnersatz ablehnt und nach Formen der Leidensbewältigung statt der Leidensflucht sucht. Wenig überzeugend ist dagegen Knodts Anknüpfung an die Nietzschedeutung von Gianni Vattimo, wodurch er Nietzsches Hervorhebung der Gefahren des Nihilismus und dessen Bemühen um einen Fortschritt aus dem Nihilismus nicht angemessen interpretiert (S. 169 f.).

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chen Denkens: das weitgehende Vertrauen in einen umfassenden Fortschritt zum allgemeinen Erdenglück. So gründen die miteinander verfeindeten liberalistischen, sozialistischen und kommunistischen Bewegungen trotz der ideologischen Differenzen allesamt auf einem normativen Fortschrittsbegriff, der die Abschaffung von freiheitseinschränkender Ungleichheit anstrebt. Gleichgültig ob in Mills Schrift über Die Freiheit, im Arbeiterprogramm von Lassalle oder im Manifest der kommunistischen Partei von Marx/Engels 78 nachgeschlagen wird, überall finden sich ähnliche Formulierungen, die zukünftige „Solidarität... Gemeinsamkeit und... Gegenseitigkeit" 79 oder zusammenfassend „soziale Fortschritte"80 prognostizieren. Obwohl Nietzsche die Texte der genannten Autoren nur teilweise studiert hat, erfaßt er den gemeinsamen, eudämonistischen Ansatz der führenden politischen Richtungen seiner Zeit. Henning Ottman hat diese Einsicht in seiner Untersuchung des Verhältnisses von Politik und Philosophie bei Nietzsche entsprechend gewürdigt. „Es ist ein Problem von Kapitalismus und Sozialismus zugleich, daß sie Kinder des modernen Fortschrittsdenkens und seines Optimismus sind... Und mit dem Optimismus und Eudämonismus hatte Nietzsche getroffen, was noch heute Ost und West verbindet: die Konkurrenz um das Wohlleben, die alle Systeme durchdringt." 8 1

Sowohl die liberalistische als auch die sozialistische Bewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betonten die Bedeutung der Wissenschaften für eine umfassende Verbesserung der menschlichen Verhältnisse. Unterstützt wurden sie dabei von renommierten Wissenschaftlern, die von der „vollkommenen Begreifbarkeit der Welt" durch die Wissenschaften und deren Segnungen überzeugt waren. 2 Herbert Schnädelbach konstatiert in seiner Untersuchung des nachhegelschen Zeitalters, daß Nietzsches Zeitgenossen einen ungeheueren Erfahrungsschub erlebten, der oft zu einem „natürlichen Glauben an 78

79

80 81

82

Siehe Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei. In: K. Marx/F. Engeis. Werke. Bd. 4. Berlin 1971, S. 462 ff. Ferdinand Lassalle: Arbeiterprogramm. Stuttgart 1983, S. 42. Nietzsche erwähnt Lassalle explizit im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Forderung nach allgemeiner Bildung, die von Nietzsche kritisch analysiert wird (KSA 7/243). John Stuart Mill: Die Freiheit. Hrsg. v. E. Wentscher. Leipzig 1928, S. 78. Henning Ottmann: Philosophie und Politik bei Nietzsche. Berlin/New York 1987, S. 31. Völlig anderer Ansicht ist Georg Lukäcs, der Nietzsche als radikalen Antisozialisten in die Nähe des Kapitalismus rückt (ders.: Die Zerstörung der Vernunft. In: Werke. Bd. 9. Neuwied/Berlin 1962, S. 274 ff.). Karl Brase distanziert sich zwar von diesem Antisozialismusvorwurf, behauptet jedoch, Nietzsche ziele am „sozialen Problem seiner Zeit... vorbei" (ders.: Nietzsches Verhältnis zu John Stuart Mill. In: N-St. 3 (1974) S. 173). Dagegen ist einzuwenden, daß er gerade im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum modernen Fortschrittsglauben wichtige Aspekte der sozialen Probleme seiner Zeit behandelt. Hermann von Helmholtz: Über das Ziel und die Fortschritte in den Naturwissenschaften. In: Vorträge und Reden, Braunschweig 1896, S. 375. Von Helmholtz' Schriften standen auch auf Nietzsches Leselisten (vgl. BAW III 394). Die großen Hoffnungen sind auch knapp ein Jahrhundert später noch verbreitet, was sich beispielsweise in den Schriften des Naturwissenschaftlers Bernulf Kanitschneider nachweisen läßt, der von den Wissenschaften die „Erkenntnis der fundamentalen Strukturen der Welt" erwartet (ders.: Philosophie und moderne Physik. Systeme-StrukturenSynthesen. Darmstadt 1979, S. 13).

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D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „SOKRATISMUS"

die Allmacht und an die normative Kraft von Wissenschaft" führte. 83 Im Unterschied zu den relativ statischen Ökonomien vor dem 19. Jahrhundert wurde nun von dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt eine rasante Steigerung der Produktivkräfte erwartet, die eine Abschaffung des Leidens an einer eingeschränkten Bedürfnisbefriedigung garantieren soll.84 Nietzsches Ausführungen über die Funktion des Fortschrittsglaubens im modernen „Sokratismus" liegt die Annahme eines radikalen ,Entweder/Oder' zugrunde: Entweder ist eine lebenssichernde Rechtfertigung des menschlichen Leidens möglich, oder es herrscht ein lebensverneinender, praktischer Pessimismus. Daß bei Nietzsche die Frage nach dem „Sinn des Lebens" (KS A 8/32) für jedes Individuum, gleichgültig ob es in der antiken oder modernen, tragischen oder theoretischen Kultur lebt, von existentieller Bedeutung ist, hat Volker Gerhardt treffend hervorgehoben. „Das Bedürfnis nach Sinn... ist konstitutiv fur Nietzsches Begriff der individuellen Existenz. Der Mensch ist das Wesen, das nach Sinn verlangt, nach zweckvollen Zusammenhängen, denen es sich selbst zurechnen kann." 85

Ohne eine zumindest partielle Befriedigung dieses Sinnbedürfnisses wird der Mensch verzweifeln, beispielsweise durch den Fortfall von tradierten Normen, der ein Sinndefizit und eine Orientierungslosigkeit auslösen kann. Nietzsche untersucht vor allem die Folgen der Lockerung der religiösen Bindungen und der Erosion der Theodizee in der Neuzeit, mit denen eine Möglichkeit der Rechtfertigung der Übel in der Welt verloren geht. Odo Marquard hat dieses Fehlen im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Theodizee und der Legitimationsproblematik als das Fehlen einer „Entlastung" bezeichnet, welche in der Moderne abwechselnd die „autonomistisch-geschichtsphilosophische Revolution" oder die „Geschichtstheodizee" leisten soll.86 Für beide Entlastungen ist der Fortschrittsglaube von konstitutiver Bedeutung, denn der künftige Zustand des Heils, in dem die Ursachen des menschlichen Leidens eliminiert sein sollen, soll das gegenwärtige Übel legitimieren.87 Mit dem Begriff der „Daseinsrechtfertigung" beschreibt Nietzsche treffend diese elementare Funktion des Fortschrittsglaubens in der Moderne. Problematisch erscheint mir jedoch seine Radikalität des Entweder/Oder in diesem Zusammenhang. Seine Annahme, mit dem Verlust einer Daseinsrechtfertigung drohe ein Vernichtungskampf der Partikularinteressen und eine „Ethik des Völkermordes aus Mitleid(s)" (GT 100, vgl. KSA 1/105),

83

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt a. M. 1983, S. 90. Siehe auch Reinhart Koselleck: Fortschritt und Beschleunigung. In: Vom Elend der Aufklärung, Darmstadt 1985, S. 7 5 - 1 0 3 .

84

Siehe dazu Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 185 f. In den Sozialutopien des 19. Jahrhunderts bildet gemäß Saage die „Technik das eigentliche Fundament der neuen Gesellschaft" (S. 187).

85

Volker Gerhardt: Artistenmetaphysik (1988) S. 52/53.

86

Odo Marquard: Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie. In: Apologie Zufälligen. Stuttgart 1986, S. 19.

87

Koselleck bestimmt den Fortschrittsbegriff auch als „geschichtlichen Legitimationsbegriff' (Koselleck (1975) S. 353).

des

NIETZSCHES KRITIK AM „ S O K R A T I S M U S "

51

ist kaum nachvollziehbar. 88 Dagegen bleibt meines Erachtens an Nietzsches eigene Einsicht zu erinnern, daß die Kunst des Menschen, sein Bedürfnis nach Sinn zu befrie89 digen, nicht unterschätzt werden sollte.

II. 3

Nietzsches Kritik am szientistisch-eudämonistischen Fortschrittsglauben des „Sokratismus"

II. 3. 1 Kritik am Szientismus Die Annahme des szientistischen „Sokratismus", daß die Wissenschaften die wahre Ordnung der Natur erkennen und verbessern können, wird von Nietzsche kritisch analysiert. Obwohl diese Untersuchung letztlich zu einer entschiedenen Ablehnung der „theoretischen Weltbetrachtung" (GT 111) fuhrt, entdeckt er neben den negativen auch positive Aspekte am Szientismus. Gewürdigt wird wiederholt der Erfolg des szientistischen „Sokratismus" als einer außerordentlich wirkungsvollen „Form der Verklärung" des leidvollen Daseins. 90 Die szientistische Kunst der Verklärung gründet aus Nietzsches Perspektive auf der vermeintlichen Kraft der Wissenschaften, auch die schwierigsten und komplexesten Probleme lösen zu können. Dank der Effizienz der wissenschaftlich-technischen Rationalität glaubt der theoretische Mensch an die Möglichkeit einer kontinuierlichen Abschaffung von Leid verursachenden Aporien und Rätseln der Natur. Der menschliche Traum der uneingeschränkten Machbarkeit und Verfügbarkeit scheint durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt realisierbar zu werden. Der Erfolg der szientistischen Verklärung ist nach Nietzsche allerdings an eine entscheidende Bedingung geknüpft: die Wissenschaftler dürfen sich lediglich mit Problemen und Aufgaben beschäftigen, die auch garantiert mit wissenschaftlichen Mitteln zu lösen sind. Nur innerhalb einer bestimmten „Bannmeile" des Forschens soll der theoretische Optimismus möglich sein. „... die Heiterkeit des theoretischen Menschen... (die) an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: ,Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden'." (GT 115)

88

GT 100, vgl. KSA 1/105. Wenig überzeugend ist insbesondere das von Nietzsche angeführte Beispiel des praktischen Pessimismus auf den Fidschi-Inseln, der in der von ihm beschriebenen Form nicht nachzuweisen ist.

89

Siehe GT 115 f. Fundamental ist hier für Nietzsche die Leistung der Kunst im weiten Sinne, die in ihren unterschiedlichen Formen Sinn stiften kann, beispielsweise als Religion, Wissenschaft und Kunst im engeren Sinn (siehe dazu das Unterkapitel II.4.2).

90

GT 148. Ausdrücklich wird der Szientismus unter die höheren Formen der Verklärung für „edler ausgestattete(n) Naturen" (GT 116) subsumiert. Im Nachlaß vergleicht er die anfanglichen Wirkungen der Wissenschaften mit „kleinen Dosen Opium" (KSA 7/62).

D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „SOKRATISMUS"

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Die Heiterkeit des „Sokratismus" soll jedoch weichen, sobald der theoretische Mensch den Bannkreis der Aufgaben verläßt. Nietzsche versucht in diesem Zusammenhang, die szientistische Vorstellung von der Omnipotenz der Wissenschaften durch die Entlarvung ihrer unreflektierten Voraussetzungen, wie der reduktionistischen Konzentration auf einen begrenzten Problembereich, zu widerlegen. Vor allem im emphatischen Wahrheitsanspruch der Wissenschaften erkennt er eine unaufhebbare Spannung von absolutem Anspruch und faktischer Bedingtheit. Unter Berufung auf die Transzendentalphilosophie Kants und Schopenhauers negiert er die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis der wahren Natur der Dinge, die vom Szientismus behauptet wird. Die vom Wissenschaftler erkannten Gegenstände und Sachverhalte sind aus Nietzsches Sicht immer Objekte und Ereignisse fur ein Subjekt, dessen Erkenntnismöglichkeiten a priori durch bestimmte formale Prinzipien geprägt sind. In der Tradition Kants verweist er in diesem Zusammenhang auf die transzendentale Idealität von Raum, Zeit und Kausalität, welche den forschenden Wissenschaftler nicht die Dinge an sich, sondern lediglich die Erscheinungswelt erkennen läßt. „Wenn dieser (Optimismus, Anmerkung Verf.) an die Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträtsel... geglaubt und Raum, Zeit und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze... behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben..." 9 1

Die Erscheinungswelt ist nach der von ihm verwandten Terminologie Schopenhauers durch das ,principium individuationis' geprägt, das alle Phänomene in Raum und Zeit, d. h. neben- und nacheinander, erscheinen läßt. 92 Dadurch ist die Erkenntnis der tatsächlichen Konstitution des Seienden gemäß Nietzsches Interpretation unmöglich, denn das Neben- und Nacheinander der Dinge läßt dem Wissenschaftler das innere Wesen der Welt trügerischerweise als eine Vielheit erscheinen. „Alle Wissenschaft auf den S c h e i n gerichtet, insofern sie streng an der Individuation festhält und die Wesenseinheit nie anerkennt." (KSA 7 / 1 5 8 )

Die Wissenschaften haben dank der Kausalität, welche die Dinge vermittels des Ursache-Wirkungsverhältnisses aufeinander bezieht, auch eine synthetisierende Funktion. Allerdings vermag die Kausalität gemäß der Auslegung im Tragödienbuch nicht die Einheit alles Seienden zu offenbaren, da sie lediglich ein zeitliches Nacheinander feststellen kann und damit an den Bereich der Erfahrung gebunden bleibt. Nach Nietzsche stellt die Kausalität, wie auch Raum und Zeit, ein transzendentales Prinzip dar, welches durch die Wissenschaften nicht zu überwinden ist. Ausgerechnet die Kausalität, an deren „Leitfaden die tiefsten Abgründe des Seins" 9 3 erkannt werden sollen, offenbart sich gemäß diesem transzendental-philosophischen Argument als Fessel, die, statt zum Er91

GT 118, vgl. KSA 7/131. Siehe dazu Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 1 ( W W V I). In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hrsg. v. Wolfgang v. Löhneysen, § 7. Nietzsches frühe Kantrezeption ist deutlich von Schopenhauer beeinflußt.

92

Siehe dazu W W V I § 23.

93

GT 99. Nietzsche übernimmt diese Formulierung von Schopenhauer, der an dem Materialismus kritisiert, daß er „das Gesetz der Kausalität zum Leitfaden, an dem er fortschreiten will", macht, ohne deren Grenzen zu beachten ( W W V I § 7).

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N I E T Z S C H E S K R I T I K AM „ S O K R A T I S M U S "

kennen, notwendig zum Verkennen der Wahrheit fuhrt. Die von Kant und Schopenhauer enthüllten formalen Grenzen allen wissenschaftlichen Erkennens, entlarven, so Nietzsche Deutung, den Anspruch des Szientismus, daß die Wissenschaften die wahre Ordnung der Dinge entdecken können, als trügerische Illusion. Ein weiteres vom Szientismus übersehenes Defizit liegt nach Nietzsche in dem Verhältnis der Wissenschaftler zueinander, das weitgehend von gegenseitiger Ignoranz geprägt sein soll, weil sich der einzelne Wissenschaftler zumeist auf je spezifische Detailprobleme konzentriere. Im Gegensatz zum äußeren Anschein soll sich keine wissenschaftliche Forschungsgemeinschaft konstituieren, die auf vorhandenen Forschungsansätzen aufbaut und weiter ausarbeitet, sondern jeder Wissenschaftler betreibt laut Nietzsche seine Untersuchungen unabhängig vom Anderen: „Das laisser aller in den Wissenschaften: jeder Gelehrte fur sich" (KSA 7/501). Die Folge der isolierten Forschungsarbeiten ist eine fehlende Konvergenz des erforschten Wissens, weil die Ergebnisse nicht miteinander verglichen werden und demnach in keinem ergänzenden Verhältnis zueinander stehen können. Ohne die Konvergenz des Wissens ist allerdings auch keine fortschreitende Annäherung der Wissenschaften an wahre Problemlösungen möglich, was Nietzsche anhand des Bildes einer ,Maulwurfskultur' veranschaulicht. „Denn dann müsste es [den]... Jüngern (der Wissenschaft, Anmerkung W.G.Z.) zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch gerade durch die Erde bohren wollten: von denen ein jeder einsieht, dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstrengung nur ein ganz kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu durchgraben imstande sei, welches vor seinen Augen durch die Arbeit der Nächsten wieder überschüttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er... eine neue Stelle fur seine Bohrversuche wählt." 94

Aus der mangelnden Kooperation der Wissenschaftler resultiert demnach das Verschütten von bereits entdeckten Lösungsansätzen in den Wissenschaften, und mit der Akkumulation von Wissen korreliert die Dekomposition von Wissen. Wissenschaftliche Fortschritte können jedoch ohne den Vergleich von Forschungsergebnissen und angesichts des problematischen Verhältnisses von Gewinn und Verlust des Wissens nur schwerlich konstatiert werden. Außerdem diagnostiziert Nietzsche beim theoretischen Menschen eine Konzentration der Forschungsinteressen auf bestimmte akribisch-subtile Spezialprobleme und ein Erlahmen der darüber hinausgehenden produktiven Kräfte. Die Schaffenskraft soll sich folglich in der asketischen Forschungsarbeit an oft unwichtigen Details erschöpfen, wohingegen deren Funktion in übergeordneten Zusammenhängen keine Beachtung findet. Gerade auch in seinem Fachbereich entdeckt der junge Professor der Philologie diese Tendenz zur Aneignung von fruchtlosem Spezialwissen. „Die meisten Philologen sind Fabrikarbeiter im Dienste der Wissenschaft. Die Neigung erstirbt, irgend ein größeres Ganze zu umfassen oder weitere Gesichtspunkte in die Welt zu setzen. Dagegen arbeiten die Meisten mit emsiger Beharrlichkeit an einer kleinen Schraube." 95

94

GT 98. Diese Textstelle ähnelt sehr Nietzsches Ausführungen über den Spott an den „philologischen Maulwürfen" ( B A W V 2 8 6 ) in seinem Vortrag Homer und die klassische

95

Philologie.

B A W III 329. Wenige Jahre später vergleicht Nietzsche nicht mehr bloß die wissenschaftliche Detailarbeit, sondern den Wissenschaftler selbst mit einer Schraube - „Der Mensch wird Schraube"

54

D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „SOKRATISMUS"

Angesichts des überragenden Einflusses der Wissenschaften in der Moderne ist für Nietzsche außerordentlich beunruhigend, daß die mangelnde Fähigkeit der Wissenschaften, neue, stimulierende Perspektiven aufzuzeigen, zu einer Atmosphäre der Erstarrung fuhren kann. In den frühen philosophischen Notizen von 1867/68 wird bereits warnend konstatiert: „Die Wissenschaft hat etwas Todtes". 96 Die Erkenntnis der Probleme und Grenzen der Wissenschaften fuhrt nach Nietzsches Diagnose zu einer Erosion der szientistischen Fortschrittsversprechen, die von ihm ambivalent bewertet wird. Gefahrlich soll für die vom Szientismus dominierte Moderne vor allem die Widerlegung der Annahme eines wissenschaftlichen Fortschritts zur Wahrheit sein. Zentral ist für diese Entwicklung die Demaskierung des Wahrheitsanspruchs der szientistischen Rationalität durch die selbstreflexive Vernunft. Ohne die Möglichkeit, die wahre Ordnung des Seins zu vernehmen und deren Defizite zu korrigieren, scheitert der Szientismus gemäß Nietzsches Deutung unwiederbringlich mit seinem hohen Anspruch, alle sinnvollen Probleme lösen und allgemein verläßliche Normen setzen zu können. „... und erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit durch den N a c h w e i s jener Grenzen vernichtet ist..." (GT 111, vgl. 118)

Diese Spannung von absolutem Anspruch und faktischer Bedingtheit offenbart auch, so die Pointe im Tragödienbuch, daß die szientistische Daseinsrechtfertigung eine Illusion darstellt, insofern ihr eine bestimmte künstlerisch-weltauslegende Perspektive zugrunde liegt.97 Mit der Entlarvung der szientistischen Fiktionen droht der Moderne aus Nietzsches Perspektive schließlich die Konfrontation mit der bislang erfolgreich verdrängten tragisch-dionysischen Weisheit, nach der das menschliche Leben prinzipiell durch Leid verursachende Grenzen eingeschränkt ist und vor leidvollen Täuschungen nicht sicher ist. Die daraus resultierende Unsicherheit vermag, laut Nietzsches Deutung, den theoretischen Menschen in eine radikale Orientierungslosigkeit und Verzweiflung zu stürzen, die ohne Gegenmittel zu beängstigenden Folgen führen soll. Düster wird im Nachlaß gewarnt: „Der Zweck der Wissenschaften ist Weltvernichtung". 98 Positiv wertet Nietzsche dagegen das einsetzende Aufbrechen des dogmatischen Charakters des Szientismus. Da dessen Glaube an die Omnipotenz der Wissenschaften durch den Nachweis ihrer unaufhebbaren Grenzen nachhaltig erschüttert ist, soll der Monopolanspruch des Szientismus sein Fundament verlieren. Aus dieser Veränderung sollen vor allem die nichtwissenschaftlichen Bereiche einen Nutzen ziehen, die in der vom Szientismus dominierten Epoche der Moderne als nicht förderungswürdig galten. ( K S A 7/298). Mit diesem Gleichnis wird kritisiert, daß die moderne Arbeitsteilung in den Wissenschaften zu einer Standardisierung des Wissenschaftlers führt. 96

B A W III 321. Nietzsche beschäftigt sich in diesen Notizen insbesondere mit der Geschichtswissenschaft, er erwähnt aber auch die Naturwissenschaften.

97

Wie bereits erwähnt, kann Nietzsche deshalb auch den Szientismus als eine Form der Kunst bezeichnen.

98

K S A 7/62, vgl. auch S. 75. Allerdings müssen die Wissenschaften nach Nietzsche nicht notwendig diesem Zweck dienen. Nietzsche ist kein Feind der Wissenschaften, sondern der kunstfeindlichen Tendenzen des „Sokratismus" der Wissenschaften. Vgl. Kapitel II.3.4 dieser Dissertation.

NIETZSCHES KRITIK AM „ S O K R A T I S M U S "

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„Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften aus gerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen... Alle unsere Erziehungsmittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: Jede andere Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht als beabsichtigte Existenz." (GT 116)

Laut Nietzsche könnte die reduktionistische Dominanz der Wissenschaften, durch die insbesondere die philosophischen und künstlerischen Ansätze der Daseinsbewältigung weitgehend ignoriert wurden, in der Moderne durch ein neues, gewandeltes Verhältnis von Kunst, Philosophie und Wissenschaft abgelöst werden. In dem Symbol des „musiktreibenden Sokrates" sieht er die Antizipation einer solchen gelungenen Relation, die jenseits eines szientistischen Monopolanspruchs die jeweiligen Möglichkeiten von instrumenteller und vernehmender Vernunft sowie künstlerisch-schöpferischer Gestaltungskraft sinnvoll miteinander verknüpft."

II. 3. 2 Kritik am Egalitarismus und Liberalismus Neben der szientistischen Fortschrittsvorstellung wird vor allem das ethisch-politische Fortschrittsversprechen des modernen „Sokratismus" von Nietzsche kritisiert. Diese Kritik wird im Tragödienbuch und in den nachgelassenen Schriften sowie in den bildungspolitischen Vorträgen Über die Zukunft der Bildungsanstalten näher ausgeführt. Das ethisch-politische Fortschrittsversprechen des „Sokratismus" wird von Nietzsche trotz dessen temporär daseinsrechtfertigender Funktion als gefährlich eingestuft, weil es nach einer Zeit des passiven Hoffens schließlich zum Versuch der praktischen Realisierung der angekündigten Fortschritte kommen soll. Als Ergebnis würden dann grausame Revolten drohen. Der Auslöser für diese gefahrliche Entwicklung soll in der Sensibilisierung der im Elend lebenden Menschen für die vermeintliche Ungerechtigkeit der bestehenden, Leid verursachenden Rangordnungen und Hierarchien liegen. Die herrschenden politischen Systeme mit den je spezifischen Herrschaftsverhältnissen sollen nach der Überzeugung des „Sokratismus" den Fortschritt zu einem künftigen Glück Aller verhindern. Die in der Moderne sich herausbildende Arbeiterschaft - in dem Aufsatz Der griechische Staat und in der Geburt der Tragödie werden die provokanten Begriffe „Sklave" bzw. „Sclavenstand" verwendet - beginnt durch diese Sensibilisierung ihre früher als selbstverständlich hingenommene gesellschaftliche Position zu hinterfragen, was von Nietzsche als emanzipatorischer Sündenfall gedeutet wird.100 „Unselige Zeiten, in der der Sklave... zum Nachdenken über sich und über sich hinaus aufgereizt wird! Unselige Verführer, die den Unschuldsstand des Sklaven durch die Frucht vom Baum der Erkenntniß vernichtet haben!" (GS 765)

Durch die Indoktrination mit Parolen von der „Würde des Menschen", der „Würde der Arbeit" und der „Gleichberechtigung Aller" sollen diese bei der Arbeiterschaft derart verinnerlicht werden, daß schließlich jede Form von leidverursachender Ungleichheit 99 100

G T 1 1 1 . Vgl. Kapitel II.4. GT 117.

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D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „SOKRATISMUS"

und Herrschaft als prinzipiell ungerecht identifiziert wird und deren Abschaffung mit allen Mitteln angestrebt werden. ' Dabei sollen sich die emanzipatorischen Versprechen schrittweise zur selbstbewußten Forderung nach einem Fortschritt zu Freiheit und Gleichheit wandeln. Dieser Umschlag fuhrt nach Nietzsche zu Revolutionen, die allerdings nicht zur angestrebten, herrschaftsfreien Gesellschaft, sondern zur grausamen Herrschaft der ehemals unterdrückten Arbeiterschaft fuhren sollen. „Es gibt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich an schickt, nicht nur für sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen." (GT 117)

Mit der prognostizierten, furchtbaren Rachsucht werden die zwischenmenschlichen Herrschaftsformen nach einer Revolution unter dem Banner der allgemeinen Freiheit demnach nicht abgeschafft, sondern auf modifizierte Art sogar noch potenziert. Anschaulich läßt sich dieses Phänomen nach Nietzsche an der Geschichte der Französischen Revolution studieren, deren Streben nach einer Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit er im Terror der Revolutionsregierungen enden sieht. „Die französische Revolution ist aus dem Glauben an die Güte der Natur entstanden: sie ist die Consequenz der Renaissance. Wir müssen uns belehren lassen. Eine mißleitete und optimistische Weltbetrachtung entfesselt endlich alle Greuel." (K.SA 7 / 2 8 0 )

Mit der euphemistischen Betrachtung des Menschen, die die menschliche Natur nicht in ihrer Gesamtheit mit den edlen und den grausamen Energien anerkennt, droht folglich eine Dominanz der schrecklichen Seiten. 2 Ein weiteres Ereignis in der Geschichte, an das Nietzsche in diesem Zusammenhang erinnert, ist der zeitgenössische Aufstand der Pariser Commune vom Frühjahr 1871, dessen Grauen ihm sein langjähriger Freund Carl von Gersdorff in einem B r i e f drastisch schildert. 103 In seinem Antwortschreiben vom 21. Juni 1871 verurteilt Nietzsche die Führer des sozialistisch-kommunistischen Aufstands als „internationalen Hydrakopf', der einen „Kampf gegen die Cultur" bestreitet, was von ihm „als Anzeiger ganz anderer Zukunftskämpfe" gedeutet wird. 104 Die fatalen Folgen der drohenden Revolutionen offenbaren nach Nietzsche einen immanenten Widerspruch der emanzipatorischen Ideen des modernen „Sokratismus", den er näher analysiert. Seiner zentralen kunstmetaphysischen These zufolge wird der Mensch allein durch die künstlerische Verklärung des Daseins vor dem praktischen Pessimismus geschützt und zum Weiterleben verfuhrt. Diese Verklärung erfordert allerdings die Freiheit des künstlerischen Schaffens und die Befreiung von der alltäglichen l0' 102

GT 117, GS 765. In der Geburt der Tragödie distanziert sich Nietzsche aus eben diesem Grund von den idyllischen Tendenzen, die er mit Philosophie von Rousseau verbindet (GT 37 u. 122).

103

Carl v. Gersdorff schreibt am 21. Juni 1871: „Die Pariser flüchten zu Tausenden vor der Schrekkensherrschaft der Commune, die von Tag zu Tage grausamere Gestalt annimmt". Siehe Friedrich Nietzsche: Brießvechsel.

Kritische

Gesamtausgabe.

Band II, Teilband 2. Hrsg. v. G. Colli u. M.

Montinari. Berlin/New York 1975, S. 349. 104

Siehe KSB III 2 0 3 / 2 0 4 . Nietzsche beschreibt auch seine erschütterte Reaktion auf die Ereignisse: „Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln:..."

NIETZSCHES KRITIK AM „SOKRATISMUS"

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Arbeit, die im allgemeinen zur Sicherung der Existenzgrundlage notwendig ist. Folglich muß die Masse der nichtkünstlerischen Arbeiter durch zusätzliche Arbeit die Versorgung der verklärenden Künstler, der „geringen Zahl von olympischen Menschen" (GS 767), sichern. „Damit es einen breiten tiefen und ergiebigen Erdboden für eine Kunstentwicklung gebe, muß die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, über das Maaß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der Lebensnoth sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrückt werden..." 105

Die ungleiche Verteilung der leidvollen Arbeit ist nach Nietzsche eine Grundbedingung von Kultur überhaupt, da jede Kultur einer daseinsrechtfertigenden, künstlerischen Scheinwelt bedarf. 10 Auch die szientistisch-eudämonistischen Fortschrittskonzeptionen der modernen Kultur stellen seines Erachtens verklärende Scheinwelten dar, zu deren Erzeugung und Aufrechterhaltung die Befreiung der künstlerischen Produzenten von der leidvollen Mehrarbeit notwendig ist. Aus diesem Grunde konstatiert Nietzsche einen inneren Widerspruch zwischen dem „sokratistischen" Versprechen eines Fortschritts zum Erdenglück Aller und den inegalitären, freiheitseinschränkenden Strukturen der „sokratistischen" Kultur. Eine Verwirklichung von höchster Freiheit und direkter Gleichheit fur alle Menschen soll demzufolge grundsätzlich unmöglich sein. Nietzsches Kritik am ethisch-politischen Fortschrittsdenken der Moderne richtet sich jedoch nicht allein gegen die Möglichkeit, das Ziel eines allgemeinen Glückszustands zu erreichen, sondern wendet sich auch gegen das angestrebte Ziel selbst. So soll nicht nur die Verwirklichung der eudämonistischen Fortschrittshoffnungen illusionär sein, sondern es soll auch eine Illusion sein, anzunehmen, daß eine egalitäre Gesellschaft eine Verbesserung darstelle. Mit dieser vermeintlichen Illusion hat sich Nietzsche insbesondere im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der aufklärerischen Forderung nach einer Ausweitung der Bildung in den Vorträgen über die Zukunft der Bildungsanstalten beschäftigt. Von der Abschaffung der Bildungsprivilegien erwarten die fuhrenden Emanzipationsbewegungen der Moderne seines Erachtens eine Angleichung des Bildungs- und damit des Glücksniveaus. Die Bildung soll dadurch nicht länger ein „Mittel für das Erdenglück der Wenigsten" (BA I 668) sein. Abgesehen von der äußerst problematischen These, daß Bildung notwendigerweise ein „Erdenglück" ermöglicht, befurchtet Nietzsche als unabwendbare Konsequenz der Öffnung der Bildungsanstalten ein eklatantes Herabsinken des Bildungsniveaus.

105

106

GS 767. Knapper beschreibt Nietzsche die Voraussetzung des künstlerischen Schaffens in der Geburt der Tragödie. Siehe GT 117. Nietzsche unterscheidet drei „edle" Illusionsstufen, die ein Leben im leidvollen Dasein ermöglichen (Vgl. GT 115/116). Dies ist eine Begründung seiner umstrittenen These, daß „nur als ästhetisches Phänomen... die Welt ewig gerechtfertigt" ist (GT 47 u. 152).

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D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „SOKRATISMUS" „... die .möglichst allgemeine Bildung' schwächt die Bildung so ab, daß sie gar keine Privilegien und gar keinen Respekt mehr verleihen kann. Die allerallgemeinste Bildung ist eben Barbarei." 107

Nietzsche begründet diese nivellierende Entwicklung damit, daß die Schüler und Studenten nicht mehr gemäß ihren individuellen Fähigkeiten gefördert werden können, sondern jeder nach dem durchschnittlichen Leistungsvermögen der Klassen und Seminare unterrichtet wird. Als „Barbarei" wird die allgemeine Bildung bezeichnet, da sie zu einer Gleichschaltung von natürlicher Ungleichheit fuhren soll, zur „uniformierten Mittelmäßigkeit" (BA II 680). Eine Einebnung der natürlichen Ungleichheit boykottiert nach Nietzsche aber die „echte" Bildung, die die höchstmögliche Entfaltung der je spezifischen Talente des Menschen anstrebt. Aus Nietzsches Perspektive verhindern jedoch nicht nur die emanzipatorischen Bildungsreformen des „Sokratismus" eine befriedigende Entfaltung der natürlichen Anlagen der Menschen. Seine Kritik richtet sich gegen die vielfaltigen Unterdrückungsmechanismen des „Sokratismus", die danach trachten, die individuellen Freiräume im Namen des allgemeinen ethisch-politischen Fortschritts abzuschaffen. Wenn das Kollektiv grundsätzlich höher gestellt wird als das Individuum, wird sich das nach Nietzsche in allen Bereichen des menschlichen Lebens negativ bemerkbar machen. Wohin die Tendenz zur „uniformierten Mittelmäßigkeit" fuhren kann, hat Nietzsche später im Zarathustra mit der negativen Utopie des „letzten Menschen" ironisch skizziert. 08 Neben dieser Absage an die konkreten ethisch-politischen Fortschrittsvorstellungen des „Sokratismus" übt er zudem grundsätzlich Kritik an einer ethischen Denkhaltung, die den Fortschritt für unvermeidlich hält. Bereits in einer frühen nicht veröffentlichten Textpassage von 1867/68 wendet er sich gegen die Annahme, die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse im Verlauf der Geschichte sei notwendig, d.h. historisch determiniert. „Die historischen Gesetze bewegen sich nicht in der Sphaere der Ethik. Der .Fortschritt' ist überhaupt kein historisches Gesetz, weder der intellektuelle noch der moralische noch der ökonomische." 1 0 9

Begründet wird die Ansicht in diesem Kontext mit dem begrenzten Erkenntnisvermögen des Menschen, das seines Erachtens lediglich kleine Kausalketten, und nicht den großen Gang der Notwendigkeit zu erfassen vermag. Alle Versuche, einen notwendigen

107

BA I 668. In einer Textpassage der Nachgelassenen Schriften aus den Jahren 1871/72 behauptet Nietzsche provokant: „Die allgemeine Bildung ist nur ein Vorstadium des Communismus:..." ( K S A 7/243).

108

Siehe Za 18 f. Bereits Nietzsches Kritik am optimistischen „Sokratismus" richtet sich gegen dessen Streben nach einer egalitaristischen Utopie im Sinne des „letzten Menschen".

109

B A W III 322. Bereits in dieser frühen Schrift wird der Begriff „Fortschritt" in Anführungszeichen gesetzt, womit eine Distanz zum verbreiteten Verständnis des Begriffs ausgedrückt wird.

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Fortschrittsprozeß in der Geschichte aufzuzeigen, werden von ihm deshalb als „Täuschung" abgelehnt. 110 Neben dem szientistischen Fortschrittsversprechen sieht Nietzsche somit auch das eudämonistisch-universal istische Fortschrittsversprechen scheitern, weil es die tatsächlichen Möglichkeiten des Menschen überschätzt.

II. 3. 3 Die wechselseitige Beeinflussung der wissenschaftlichen und der ethisch-politischen Fortschrittsvorstellungen des „Sokratismus" Die letzten beiden Unterkapitel haben gezeigt, daß Nietzsche den Fortschrittsglauben des modernen „Sokratismus" kritisiert, indem er sowohl dem szientistischen als auch dem universal-eudämonistischen Fortschrittsversprechen gravierende Defizite nachzuweisen versucht. Ein weiterer Einwand Nietzsches konzentriert sich auf die Demaskierung einer problematischen, wechselseitigen Beeinflussung der wissenschaftlichtechnischen und der ethisch-politischen Fortschrittsvorstellungen des „Sokratismus". Die Ansätze zu einer Kritik der instrumentellen Vernunft der Wissenschaften und des wissenschaftlich-technischen Chiliasmus finden sich insbesondere in den bildungspolitischen Vorträgen und den Nachgelassenen Schriften aus jener Zeit. Im Kontext der Szientismuskritik sind die von Nietzsche betonten, transzendentalen Grenzen der Wissenschaften erläutert worden: Aufgrund der erkenntnisbedingenden formalen Prinzipien von Raum, Zeit und Kausalität ist es dem Menschen nicht möglich, die Dinge an sich, also die objektivwahre Ordnung der Dinge zu erkennen. 111 Die Erkenntnis von Objekten enthält folglich immer Spuren des erkennenden Subjekts, die sich nach Nietzsche aber nicht allein auf die bereits erwähnten formalen Prinzipien beschränken. Auch die spezifischen Interessen des Subjekts sollen die wissenschaftliche Einnahme eines völlig neutralen, archimedischen Erkenntnisstandpunkts verhindern. Eine Besinnung auf die Grenzen der wissenschaftlichen Perspektive offenbart seines Erachtens, daß diese den szientistischen Anspruch, wahrhaft sinnvolle, praktische Ziele angeben zu können, nicht erfüllen kann. 112 Die außerordentliche Bedeutung der Wissenschaften soll statt dessen in der Realisierung von vorgegebenen, vorwissenschaftlichen Zielen durch die instrumentelle oder funktionale Vernunft liegen, die von der philosophischen oder zwecksetzenden Vernunft unterschieden werden muß. Letztere stellt nach Nietzsche das zentrale Vermögen der Philosophie dar, sinnvolle von weniger sinnvollen Zielen unterscheiden zu können. Das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie bestimmt er analog zur Relation von zwecksetzender und instrumenteller Vernunft: die Philosophie leistet die Definition von sinnvollen Zielen, und die Wissenschaften versu-

1,0

111 1,2

B A W III 323. Im weiteren Textverlauf erinnert Nietzsche auch an die „Subjektivität" des Historikers, die kaum abzustreifen sei (BAW III 324). Es ist denkbar, daß sich Nietzsche mit seiner Kritik auf die positive Philosophie von Auguste Comte bezieht (siehe dazu vor allem B A W III 365). Siehe Kapitel II.3.1. Zur Normenproblematik der Wissenschaften schreibt Nietzsche, „Für die Wissenschaft gibt es kein Groß und Klein - aber für die Philosophie! An jenem Satze mißt sich der Werth der Wissenschaft." (KSA 7/426).

60

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chen diese durch angemessene Mittel zu realisieren. Der Szientismus hingegen, so Nietzsches Vorwurf, ignoriert diese Abhängigkeit der Wissenschaften von der Philosophie. „Sie (die Wissenschaft, Anmerkung Verf.) hängt nämlich in allen Zielen und Methoden durch und durch ab von philosophischen Ansichten, vergißt dies aber leicht." (KSA 7/424)

Der Autonomie- und Monopolanspruch der Wissenschaften, der vom Szientismus triumphal erhoben wird, gründet demnach auf einer mangelnden Einsicht in die Grenzen der Wissenschaften. Die Geschichte scheint dagegen zu lehren, daß sich die Wissenschaften seit Roger Bacon kontinuierlich von philosophischen Zielvorgaben emanzipiert haben. Als Beleg dafür wird oft die Entfesselung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts durch die Befreiung von der Autorität der philosophischen Tradition angeführt. Diese Emanzipation ist nach Nietzsches Interpretation jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Emanzipation der Wissenschaften von allen vorwissenschaftlichen Zielvorgaben. Deutlich wird der Einfluß seines Erachtens, wenn die Wissenschaften beispielsweise dem Ziel dienen sollen, das allgemeine Erdenglück entscheidend zu fördern. Auch die liberalistische Entscheidung, den Wissenschaften keine Schranken zu setzen, wird von ihm als vorwissenschaftliche Wertung gedeutet, weil von dieser Entscheidung ebenfalls eine bedeutende Verbesserung der menschlichen Situation auf Erden erwartet wird. „Das laisser aller unserer Wissenschaft, wie bei gewissen national ökonomischen Dogmen: man glaubt an einen unbedingt heilsamen Erfolg." (KSA 7/425)

Als antreibendes Moment des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im modernen „Sokratismus" erkennt Nietzsche das Streben nach einer umfassenden Befriedigung der steigenden Bedürfnisse der Menschen. Denn, darin sollen sich das egalitaristische als auch das liberalistische Denken der Moderne gleichen, von der steigenden materiellen Bedürfnisbefriedigung wird eine notwendige Erhöhung des allgemeinen Glücks erwartet. Gemäß Nietzsches Deutung bilden die ethisch-politischen Fortschrittskonzepte das motivierende und beschleunigende Moment des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Von besonderer Relevanz ist in diesem Kontext die anvisierte Steigerung der materiellen Bedürfnisse, denn da diese künstlich geweckt werden können und damit potentiell unendlich sind, ist auch die „sokratistische" Fortschrittsvorstellung vom Erdenglück prinzipiell unendlich angelegt. Gerade auch die künstliche Erzeugung von Massenbedürfnissen wird von Nietzsche kritisiert. So wirft er beispielsweise Lassalle und den Arbeiterbildungsvereinen vor, im Volk immer neue Bedürfnisse zu wecken." 3 Dagegen kann eine Prüfung der Bedürfnisse sowie eine Begrenzung der wissenschaftlichen Forschung und ihrer praktischen Anwendungen seines Erachtens vom „Sokratistismus" nicht in Betracht gezogen werden, da sie mit den internalisierten ethischpolitischen Versprechen konfligieren. Diese Blindheit des Szientismus gegenüber möglichen Alternativen zu den emanzipatorischen Zielvorgaben der Wissenschaften ist nach Nietzsche auch ein Resultat der szientistischen Ignoranz gegenüber den vorwissenschaftlichen Bedingungen der Wissenschaften.

113

Siehe KSA 7/243.

NIETZSCHES KRITIK AM „ S O K R A T I S M U S "

61

Neben der Beeinflussung der Wissenschaften durch gefährliche vorwissenschaftliche Zielvorgaben, diagnostiziert Nietzsche in der „sokratistischen" Kultur eine Beeinflussung der ethisch-politischen Fortschrittsvorstellung durch die Fortschritte in Wissenschaft und Technik. Letztere wird vom „theoretischen Menschen" nicht nur hinsichtlich der Abschaffung derjenigen Leid verursachenden Momenten geschätzt, die dem Menschen durch die außermenschliche Natur zugefügt werden. Denn vom wissenschaftlichtechnischen Fortschritt wird zudem die indirekte, schrittweise Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen erwartet. Diese Erwartung gründet nach Nietzsche in der Annahme, daß die politisch-sozialen Herrschaftsverhältnisse vor allem auf einen Mangel an materiellen Gütern zurückzuführen sind. Diese defizitäre Versorgung mit Grund- und Luxusgütern nötige zu dauerhaften Verteilungskämpfen, aus denen eine mangelhafte materielle Bedürfnisbefriedigung der Unterlegenen resultiere. Erst der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt soll diese Quelle von leidbringenden Herrschaftsstrukturen versiegen lassen, indem eine steigende wissenschaftlichtechnische Naturausbeutung eine Maximierung der Güterproduktion erzielt, welche die Bedürfnisse aller Menschen, auch diejenigen der bislang Ausgebeuteten, befriedigt. „Möglichst viel Erkenntniß und Bildung - daher möglichst viel Produktion und Bedürfniß daher möglichst viel Glück - so lautet etwa die Formel"" 4

Im Anschluß an die zitierte Textpassage kritisiert Nietzsche im ersten Vortrag Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten die Fürsprecher der allgemeinen Bildung, die vordringlich die Realisierung von wissenschaftlich-technischen Fortschritten zugunsten einer Steigerung der Produktion von materiellen Gütern fordern und davon die Lösung der „sociale(n) Frage" (BA I 668) erwarten. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt soll aus dieser Perspektive ein wichtiges Instrument zur Versöhnung der Klassenantagonismen sein, da von diesem die Auflösung der unterschiedlichen Klassen mit ihren je unterschiedlichen Graden der materiellen Bedürfnisbefriedigung zugunsten der einen Klasse der gleichen, glücklichen Konsumenten erwartet wird. 15 So werden gemäß dieser Interpretation die ethischpolitischen Fortschrittsvorstellungen des „Sokratismus" von den Erkenntnis- und Anwendungsfortschritten der Wissenschaften beeinflußt. Auch in diesem Zusammenhang zweifelt Nietzsche keinesfalls an der Möglichkeit von wissenschaftlich-technischen Fortschritten. Seine Kritik richtet sich vielmehr gegen eine Überschätzung der positiven Wirkungen dieser Fortschritte auf Ethik und Politik. Analog zum Scheitern der egalitaristischen und liberalistischen Glücks versprechen an der unaufhebaren Heterogenität und Gewaltsamkeit der Menschen, versagen seines Erachtens auch die Ansätze zu einer egalitären Verteilung der Güter an den unaufhebbar

114

BA I 667. In der Geburt der Tragödie wird indirekt auf diesen Zusammenhang hingewiesen, wenn Nietzsche konstatiert, daß der „Sokratismus" von dem „Gott der Maschinen und Schmelztiegel" und den „verwendeten Kräfte(n) der Naturgeister" (GT 115) die Abschaffung des Leidens erwartet.

115

Nietzsche bezeichnet diesen Konsumenten in Anspielung auf eine Währungsmünze als den „couranten Menschen", der vorrangig der Produktionsoptimierung und der Profitmaximierung dient. Oberstes Ziel des „Sokratismus" sei die Ausbildung von möglichst vielen „courants", denn , j e mehr es solche courante Menschen gäbe, um so glücklicher sei ein Volk" ( B A I 667).

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inegalitären Strukturen jeder Gesellschaft. 116 Sogar die größten technisch-industriellen Fortschritte und die daraus resultierenden Produktionssteigerungen werden die Besitzunterschiede als Quelle sozialer Ungleichheit nicht obsolet werden lassen, so Nietzsches Prognose. An der wechselseitigen Beeinflussung von Wissenschaft und universalemanzipatorischer Moral im „Sokratismus" kritisiert Nietzsche somit einerseits die nicht reflektierte Abhängigkeit des wissenschaftlich-technischen Fortschritts von gefahrlichen egalitaristisch-eudämonistischen Zielsetzungen. Andererseits bemängelt er die Abhängigkeit der egalitaristisch-eudämonistischen Fortschrittserwartung vom überbewerteten wissenschaftlich-technischen Fortschritt, der auch durch noch so gigantische Steigerungen der Güterproduktion die Herrschaft des Menschen über Menschen nicht abzuschaffen vermag. Schließlich läßt sich die wechselseitige Beeinflussung der Fortschrittsvorstellungen des „Sokratismus" konkretisieren: Während der wissenschaftlich-technische Fortschritt von den Zielvorgaben der eudämonistischen Fortschrittsvorstellung angetrieben wird, soll letztere durch ersteren verwirklicht werden.

II. 3. 4 Anmerkungen zu Nietzsches Kritik am szientistischeudämonistischen Fortschrittsglauben des „Sokratismus" Nietzsches Kritik am modernen Szientismus und Eudämonismus sowie an deren wechselseitiger Beeinflussung versucht, die übersteigerten Fortschrittsvorstellungen des „Sokratismus" zu demaskieren. Es bleibt, nach der Plausibilität dieser Kritik zu fragen. Nietzsches Kritik am Szientismus konzentriert sich vor allem auf den Nachweis von unverrückbaren Grenzen der Wissenschaften. 117 Gleichgültig, ob es die Grenzen hinsichtlich des wissenschaftlichen Erkennens, der Konvergenz der wissenschaftlichen Ansätze oder die Grenzen der Wissenschaften gegenüber anderen Bereichen wie der Kunst sind, allesamt werden nach Nietzsche vom Szientismus mißachtet. Wenn er den Szientismus derart kritisiert, so ist diese Kritik weder irrational, noch gegen die Wissenschaften selbst gerichtet, sondern sie versucht vielmehr, durch die Angabe von guten Gründen eine hybride Wertschätzung der Wissenschaften in Frage zu stellen. 118 Überzeugend ist das von Nietzsche angeführte transzendentalphilosophische Argument gegen den szientistischen Anspruch, daß der wissenschaftliche Fortschritt eine fortschreitende Erkenntnis der wahren Ordnung der Dinge ermögliche. Dieser Anspruch scheitert notwendig an der conditio humana, die die Einnahme eines archimedischen Erkenntnisstandpunktes prinzipiell nicht zuläßt. Kant hat in der Transzendentalen Dialektik ausfuhrlich die überzogenen Erwartungen an die menschliche Vernunft zurück-

1,6 117

1,8

Siehe Kapitel 11.3.2. Den Begriff der „Grenze" verwendet Nietzsche insbesondere in den Kapiteln 15-18 der Geburt der Tragödie sehr häufig und an exponierten Textstellen. Der von Georg Lukäcs gegen Nietzsche erhobene Vorwurf des Irrationalismus ist dagegen von Herbert Schnädelbach ansatzweise aktualisiert worden (ders.: Rationalität. Philosophische Beiträge. Frankfurt a. M. 1984, S. 11/12). Siehe dazu auch Habermas (41988) S. 106 f.

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NIETZSCHES KRITIK AM „ S O K R A T I S M U S "

gewiesen." 9 Im 20. Jahrhundert sind von zahlreichen Wissenschaftstheoretikern und Wissenschaftshistorikern insbesondere die mit der Sprache gesetzten Grenzen des Erkennens betont worden, die eine theorieneutrale Beschreibung der Wirklichkeit verhindern, so daß auch die Wissenschaften keine absoluten Wahrheiten, sondern allein fallible Forschungsergebnisse entdecken können. 120 Außerdem scheint die von Nietzsche diagnostizierte defizitäre Kooperation der Wissenschaftler die Vorstellung eines wissenschaftlichen Fortschritts zu widerlegen, da es nach ihm zu keiner Konvergenz der verschiedenen Forschungsanstrengungen kommt. Die Feststellung einer Vergeblichkeit des Forschens aufgrund des gegenseitigen Verschüttens von bereits geleisteter Forschungsarbeit bezieht sich bei Nietzsche allerdings auf die wissenschaftliche Suche nach der wahren Ordnung der Dinge an sich, die an der Spezialisierung der Wissenschaften und dem damit einhergehenden Verlust einer Totalität des Wissens scheitere. Ausdrücklich räumt er dagegen die Möglichkeit von Erkenntnis· und Anwendungsfortschritten innerhalb der Erscheinungswelt ein.121 Seine Kritik an der „Maulwurfkultur" erinnert an die wissenschaftshistorischen Thesen von Thomas S. Kuhn und Paul Feyerabend, deren holistischen Ansätzen zufolge die Kommensurabilität von wissenschaftlichen Begriffssystemen bzw. Paradigmen bei einem Wissenschaftswandel fraglich ist. Nach der Untersuchung von Paradigmenwechseln sind beide zu dem Ergebnis gekommen, daß der Wandel auf den Erfolg der Lösungsmöglichkeiten zurückgeht und nicht auf einem rationalen Vergleich der Paradigmen beruht. Ein neues Paradigma könne deshalb nicht als Weiterentwicklung des vorherigen Paradigmas verstanden werden, sondern stelle eher eine umfassende Revolution dar, die den Wissenschaftler die „Welt seines Forschungsbereiches anders... sehen" läßt. 122 „Die normal-wissenschaftliche Tradition, die aus einer wissenschaftlichen Revolution hervorgeht, ist mit dem Vorangegangenen nicht nur unvereinbar, sondern oft sogar inkommensurabei." 123

Mit dieser Aussage stellt Kuhn die Vorstellung eines wissenschaftlichen Fortschritts grundsätzlich in Frage, da angesichts der vermeintlichen Unübersetzbarkeit der Paradigmen kein gemeinsamer Maßstab gefunden werden kann, um einen eventuellen Fort-

1,9

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft Β 350. In: Werksausgabe. Bd. III. Daß Nietzsche aber auch in seinen frühen Schriften bereits eine Kritik an Kants Erkenntnistheorie und Optimismus formuliert, zeigt Heide Schlüpmann in ihrer Untersuchung von Nietzsches frühen ästhetischen Reflexionen (Dies.: Friedrich Nietzsches ästhetische Opposition. Der Zusammenhang von Sprache, Natur und Kultur in seinen Schriften 1869-1876. Stuttgart 1977, S. 30 f.).

120

Siehe beispielsweise Thomas Kuhn: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der schaftsgeschichte. Hrsg. v. L. Krüger. Frankfurt a. M. 1977, S. 346.

121

Die Möglichkeit, durch die wissenschaftlich-technische Forschung „edles Gestein zu finden oder Naturgesetze zu entdecken" (GT 98/99), wird keinesfalls geleugnet. Vgl. auch GT 115.

122

Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Ebenda S. 116.

123

Revolutionen.

Frankfurt a. M. 2 1976, S. 123.

Wissen-

64

D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „SOKRATISMUS"

oder Rückschritt zu messen. 124 Akribische wissenschaftshistorische Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß bei einer ausdauernden Übersetzungsarbeit auch unterschiedliche Paradigmen grundsätzlich kommensurabel sind, weshalb es gegebenenfalls möglich ist, einen wissenschaftlichen Fortschritt auch jenseits der Grenzen eines Paradigmas festzustellen. 125 Auch Nietzsches Kritik am szientistischen Wahrheitsanspruch wendet sich, wie bereits angedeutet, nicht gegen die Vorstellung eines wissenschaftlich-technischen Fortschritts innerhalb der Erscheinungswelt. Ausdrücklich konstatiert Nietzsche im Nachlaß vom Ende 1870, daß die „Naturwissenschaften ein völlig berechtigtes Ziel (haben). Denn Materie sein heißt Erscheinung sein". 126 Bereits ein Jahr zuvor wird im Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit der Moderne explizit vom „glänzende(n) Fortschritt der Technik und Industrie" (BAW V 287) gesprochen. Angesichts dieser Aussagen kann Nietzsche nicht als ein ignoranter Feind der Wissenschaften gedeutet werden. Vielmehr ist er ein entschiedener Kritiker des szientistischen Glauben an einen wissenschaftlichen Fortschritt zur absoluten Wahrheit und eines daraus abgeleiteten Dogmatismus, was von Rudolf Fietz hervorgehoben wird. „Nietzsche wendet sich nicht gegen die Wissenschaft an sich, sondern gegen ihren unmenschlichen, weil absoluten und damit ausgrenzen den Wahrheitsanspruch."' 27

Die Widerlegung des emphatischen Wahrheitsanspruchs des Szientismus, der alle nichtwissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten marginalisiert, offenbart, daß die szientistische Daseinsrechtfertigung selbst keine absolute Wahrheit darstellt. Vielmehr ist sie ebenfalls eine Illusion, der eine künstlerisch-weltauslegende Perspektive zugrunde liegt.

124

Zur Kritik von Kuhn an den logisch-empiristischen und kritisch-rationalistischen Fortschrittskonzepten siehe Elisabeth Ströker: Normenfragen der Wissenschaftstheorie. In: Ethik der Wissenschaft. Bd. I. Hrsg. v. H. Lenk u. a. München 1984, S. 53.

125

Auch Thomas Kuhn hat sich schließlich von dem Begriff der Inkommensurabilität distanziert (ders.: Bemerkungen zu meinen Kritikern. In: Kritik und Erkenntnisfortschritt. Hrsg. v. I. Lakatos u. A. Musgrave. Braunschweig 1974, S. 224.).

126

KSA 7/130. In seinen unveröffentlichen Aufzeichnungen von 1867/1868 wird der wissenschaftlichen Fortschritt explizit anerkannt, wenn er von der Philologie fordert: „Auch diese Wissenschaft muß dem Fortschritt dienen" ( B A W III 227).

127

Rudolf Fietz: Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei F. Nietzsche. Würzburg 1992, S. 201. Zurecht konstatiert Fietz damit, daß Nietzsches Kritik an der Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeitgenossen nicht gegen die Wissenschaften gerichtet ist. In einer interessanten Studie über Nietzsches ästhetische Szientismuskritik betont Rüdiger Sünner, daß sowohl Nietzsche als auch der von ihm beeinflußte Adorno vor allem gegen die „inquisitorischen Züge(n)" des Szientismus opponieren. Im Zentrum ihrer Kritik stehen nach Sünner die Postulate der objektiven Erkenntnis, der Werturteilsfreiheit, des Tatsachenkults und der absoluten Logik. Bei seiner Untersuchung wird Sünner allerdings der zentralen Bedeutung von Kant und Schopenhauer für Nietzsches Szientismuskritik und dessen Engagement für angemessene Rangordnungen in wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Bereichen nicht gerecht. (Ders.: Ästhetische Szientismuskritik. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche und Adorno. Frankfurt a. M./Bern/New York, 1986, S. 45 f.)

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NIETZSCHES KRITIK AM „ S O K R A T I S M U S "

Friedrich Kaulbach hat diesen von Nietzsche konstatierten Selbstwiderspruch des theoretischen Menschen treffend beschrieben. „Dieses Glaubensbekenntnis des theoretischen Menschen ist freilich nicht selbst wissenschaftlich begründbar. Wie Nietzsches entlarvende Kritik ergibt, hat es gegen sein eigenes Zugeständnis Wurzeln, die dem kunstschaffenden Vermögen zugehören." 128

Wenig plausibel erscheinen mir aber die von Nietzsche prognostizierten Konsequenzen aus der modernen Erkenntnis der Grenzen des Erkennens, die den theoretischen Menschen ohne die schützende Kunst unvermeidlich „zur Verzweiflung und Vernichtung treiben" sollen. 129 Walter Joos erinnert in diesem Kontext zurecht an Nietzsches Wissen um Heinrich von Kleists Kantkrise, die Kleist in eine lebensbedrohliche Verzweiflung gestürzt hat. 130 In den Wissenschaften, insbesondere in den Naturwissenschaften, schützen dagegen meines Erachtens der Erkenntnisfortschritt und das Wissen um die praktischen Anwendungsmöglichkeiten die Forscher zumeist vor einer ähnlichen Krise. Obwohl der szientistische Wahrheitsanspruch teilweise durch einen Fallibilismus abgelöst worden ist, dominiert angesichts der überwältigenden Forschungsergebnisse in den Wissenschaften auch gegenwärtig ein Optimismus, der nach Heidegger auf die „technische Herstellung der unbedingten Möglichkeit eines Herstellens von allem" ausgerichtet ist.131 Auch wenn das Bewußtsein für die Gefahren des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im 20. Jahrhundert gewachsen ist, so hat die Bedeutung der Wissenschaften keinesfalls abgenommen, vielmehr kann Ottfried Höffe darin zugestimmt werden, daß auch zur Jahrtausendwende die „Verwissenschaftlichung... ein Zeichen unserer Zeit" ist.132 Den ethisch-politischen Fortschrittsglauben des modernen „Sokratismus" kritisiert Nietzsche sowohl wegen dessen immanenten Widersprüchen, die zu einem drohenden praktischen Pessimismus fuhren sollen, als auch wegen dessen vermeintlicher Tendenz zu einer „barbarischen" Mediokrität. Diese Kritik erhebt ähnlich wie seine Szientismuskritik den Vorwurf, daß bestimmte Grenzen verletzt werden. Hier sind es die jeweils unterschiedlichen Grenzen der individuellen Fähigkeiten, die vom „Sokratismus" nicht angemessen berücksichtigt werden sollen. Den Hintergrund dieser Kritik bildet die trotz gewisser Überzeichnungen letztlich treffende Schilderung der mit der Industrialisierung Deutschlands aufkommenden Arbeiterschaft und ihres sich ausprägenden Selbstbewußtseins, das sich in ihren politisch-sozialen Forderungen manifestiert. In Nietzsches Schriften ist weder eine Apologie des freien Spiels der unkontrollierten 128

Friedrich Kaulbach: Das Drama in der Auseinandersetzung zwischen Kunst und Wissensmoral in Nietzsches Geburt der Tragödie. In: Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Hrsg. v. M. Djuric u. J. Simon. Würzburg 1986, S. 118.

129

PW 760. Siehe auch GT 100 f. Walter Joos: Die desperate Erkenntnis. Ein Zugang zur Nihilismusproblematik bei Friedrich Nietzsche. Bern/Frankfurt/New York 1983, S. 64. Vgl. KSA 7/37.

130

131

Martin Heidegger: Überwindung S. 91.

132

Ottfried Höffe: Sittliche-politische Diskurse. Frankfurt a. M. 1981, S. 263 f. Höffe diagnostiziert in der Moderne eine „Epistemokratie, eine(r) Herrschaft der Wissenschaften" (ebenda), ohne jedoch deren Legitimationsanspruch näher zu untersuchen.

der Metaphysik.

In: Vorträge

und Aufsätze.

Pfullingen

5

1985,

66

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Kräfte im Kapitalismus, noch eine Sympathie fur die sozialistisch-egalitaristischen Proteste seiner Zeit zu entdecken. Vielmehr wendet er sich sowohl gegen den Sozialismus, dessen „gefährliche" Ziele nicht zu verwirklichen sind, als auch gegen die reine Marktwirtschaft, deren Ziele das Leiden der Arbeiterschaft nicht rechtfertigen.133 Henning Ottmann hat gegen die einseitigen Nietzsche-Interpretationen in der Tradition von Georg Lukäcs zu Recht Nietzsches umfassendere Kritik an den verschiedenen Varianten des modernen Fortschrittsglaubens betont. „Und doch, man darf Nietzsche nicht mit seinen Zeitgenossen verwechseln. Er wollte über Kapitalismus und Sozialismus hinaus. Sie galten ihm als feindliche Brüder, oberflächlich betrachtet verschieden, in Wahrheit hinter ihrem Rücken geeint... geeint in Optimismus und Eudaimonismus, in Fortschrittsglauben und Glücksverheißung..." 1 3 4

Nietzsches Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und den „nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart" (BA I 667), die unter anderem durch die Überzeugungen seines Freundes Carl von Gersdorff und sein Studium von Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus beeinflußt ist, offenbart, daß er auch ökonomische Problemstellungen in seinen Texten berücksichtigt.135 Die Aktualität dieses kritischen Ansatzes erscheint mir angesichts der gefährlichen Turbulenzen des gegenwärtigen Neoliberalismus unübersehbar. Weitsichtig ist auch Nietzsches Absage an die optimistischen Versuche einer vollkommenen Abschaffung von Herrschaft, da diese letztlich zu extremen, totalitären Herrschaftsformen fuhren. Im 20. Jahrhundert belegt beispielsweise der Terror in den Staaten der Sowjetunion die kontraproduktiven Anstrengungen des Egalitarismus.136 Aktuelle egalitaristische Konzeptionen versuchen aufgrund dieser Erfahrung, den Individuen einen gewissen pluralistischen Freiraum zum Ausleben ihrer Kräfte zu geben, ohne jedoch ihr problematisches Fernziel einer Abschaffung der Leid verursachenden Momente im Dasein aufzugeben.137 Nietzsches provokante Gleichsetzung der modernen Arbeiterschaft mit dem „barbarischen Sklavenstand" ist dagegen völlig unpassend, da die Arbeiterschaft sich grundlegend von antiken oder neuzeitlichen Sklavenständen unterscheidet. Ebenso ist seine partielle Verteidigung des Sklaventums nicht überzeugend, da selbige eine Aufgabe von rechtsstaatlichen Prinzipien impliziert, die gerade auch die Entfaltung von geistig-kreativen Minderheiten schützt. Letztlich ist allerdings eine Restitution der antiken Sklavenhaltergesellschaft ebensowenig Nietzsches Telos 133 134 135

Vgl. BA 1 667 f. Ottmann (1987) S. 28. Die Anmerkung von Karl Brose, daß Nietzsche „ökonomische Fragen fast überhaupt nicht interessiert haben", ist dementsprechend nicht überzeugend (Brose (1974) S. 158). Nietzsches Verhältnis zur „socialen Frage" untersucht Rüdiger Schmidt, der dessen Distanz zum kapitalistischen Prinzip betont, aber Nietzsches Kampf für eine geistige Aristokratie nicht angemessen berücksichtigt (ders.: „Ein Text ohne Ende für den Denkenden". Zum Verhältnis von Philosophie und Kulturkritik im frühen Werk Friedrich Nietzsches. Königstein/Ts. 1982, S. 52 ff.).

136

Siehe dazu: Das Schwarzbuch München 1998.

137

Vgl. beispielsweise Michael Walzer: Spheres of Justice. Α defense of Pluralism York 1983.

des Kommunismus.

Hrsg. v. Stephane Courtois, Nicolas Werth u.a. and Equality.

New

NIETZSCHES KRITIK AM „ S O K R A T I S M U S "

67

wie die imperialistischen Ziele seiner Zeit. 138 Vielmehr will Nietzsche mit seinen provokanten Thesen den seines Erachtens bedrohlichen egalitären Forderungen seiner Zeit begegnen, die eine angemessene Förderung der unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen gefährden. Maßgeblich ist seine Kritik am ethisch-politischen Fortschrittsglauben von der berechtigten Sorge bestimmt, daß die eudämonistische Sozialethik des „Sokratismus" zu einer Einebnung der menschlichen Differenzen zugunsten der Gleichschaltung der Individuen tendiert und damit die Entwicklung der hochbegabten Individuen verhindert. Überzeugend ist Nietzsches deutliche Ablehnung der Vorstellung, die Menschheit sei in ihrer moralischen Bestimmung notwendig im beständigen Fortgang zum Besseren. Bereits Kant hat in der Fakultätsschrift nachgewiesen, daß die eudämonistische Fortschrittshypothese ebensowenig zu beweisen ist wie die terroristische und die abderitistische Variante. 139 Da der Standpunkt der Vorsehung jenseits des menschlichen Vermögens liegt, ist Kants und Nietzsches Kritik an der eudämonistischen Vorstellungsart der Geschichte meines Erachtens grundsätzlich zuzustimmen. Die wechselseitige Beeinflussung der wissenschaftlich-technischen und der ethischpolitischen Fortschrittsvorstellungen des modernen „Sokratismus" ist von Nietzsche als eine Quelle der Selbstzerstörung der „sokratistischen" Kultur interpretiert worden. Seine Demaskierung der verdeckten ethisch-politischen Implikationen der modernen wissenschaftlich-technischen Fortschrittsvorstellungen verweist zu Recht auf den instrumentellen Charakter der Wissenschaften, weil deren genuine Aufgabe die Zuordnung von optimalen Mitteln zu vorgegebenen Zwecken darstellt, während sie die Verifikation oder Falsifikation von praktischen Normen nicht leisten kann. 140 Das Unvermögen der Wissenschaft hinsichtlich der Festlegung von praktischen Orientierungskoordinaten hat Günther Abel in seinem Aufsatz zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche treffend kommentiert. 138

Gert Sautermeister aktualisiert den Imperialismusvorwurf von Lukäcs, indem er Nietzsches Bestimmung der Lust am Tragischen als „Ausdruck des ständig gebärenden und ständig vernichtenden Weltwillens" interpretiert und letzteren mit einem „kriegerischen Eroberungswillen" gleichsetzt (ders.: Zur Grundlegung des Ästhetizismus bei Nietzsche. Dialektik, Metaphysik und Politik in der „Geburt der Tragödie". In: Naturalismus/Ästhetizismus. Hrsg. v. Christa Bürger, Peter Bürger u. Jochen Schulte. Frankfurt a. M. 1979, S. 236.). Diese Gleichsetzung nivelliert den Unterschied zwischen Nietzsches Anerkennung der aggressiven Kräfte des Menschen und deren Affirmation. So nimmt Nietzsches anfängliches Wohlwollen gegenüber den imperialistischen Kräften in Preußen und dem Krieg von 1870/71 seit Ende 1870 merklich ab, da er die von ihm angestrebten kulturellen Ziele bedroht sieht. In einem Brief vom 7.11.1870 bewertet er „das jetzige Preußen fur eine der Cultur sehr gefährliche Macht" (KSB 3/155), und am 12.12.1870 schreibt er: „Für den jetzigen deutschen Eroberungskrieg nehmen meine Sympathien allmählich ab. Die Zukunft unsrer deutschen Cultur scheint mir mehr als je gefährdet" (KSB 3/164).

139

Siehe Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. In: Werkausgabe. Band XI, S. 352 f. Im Anschluß an Nietzsche haben sich insbesondere Max Weber und Max Horkheimer dem Problem der instrumentellen Vernunft gewidmet. Weber steht einer nicht instrumentellen, zwecksetzenden Vernunft des Menschen grundsätzlich skeptisch gegenüber. Siehe Weber ( 3 1968). Horkheimer sieht dagegen in der objektiv-substantiellen Vernunft ein wichtiges Korrektiv zur subjektiven Vernunft (ders.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt a. M. 1986).

140

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D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „ S O K R A T I S M U S " „Wissenschaft hat zur Destruktion traditionaler Weltbilder beigetragen, aber sie selbst ist ihrer Natur nach - eben weil sie nicht auf der ursprünglich-produktiven Ebene der Welt- und Sinnerzeugung anzusiedeln ist - nicht in der Lage, diese Funktionsstelle einzunehmen oder gar eine neue zu schaffen. Ein wissenschaftliches Weltbild kann es nicht geben". 141

Das wissenschaftliche Weltbild des szientistischen „Sokratismus" ignoriert demnach die Grenzen der instrumentellen Vernunft der Wissenschaften, wodurch zugleich die eudämonistischen, Leid abschaffenden Zielvorgaben, denen die Wissenschaften in der Moderne maßgeblich dienen, nicht erkannt werden. Die Kritik Nietzsches negiert auch in diesem Kontext nicht die bedeutenden Leistungen von Wissenschaft und Technik, sondern sie richtet sich vielmehr gegen deren verdeckten ethisch-politischen Antrieb in der Moderne. Friedrich Kaulbach hat diesen Kristallisationspunkt von Nietzsches Kritik mit dem Begriff der „Wissensmoral" prägnant beschrieben. „Dieser Vorwurf (der Vernichtung des Dionysischen, Anmerkung Verf.) gilt nicht der Wissenschaft, der vorwiegenden Leistung des theoretischen Menschen, sondern dessen metaphysischen Grundsatz, daß durch Wissen das... Leiden überwunden werden kann.... Nietzsche macht sich zur Aufgabe, nicht die Wissenschaft, sondern die wissensmoralische Metaphysik einer Kritik zu unterwerfen:..." 142

Erst wenn diese wissensmoralische Metaphysik offenbar geworden ist, dann kann nach deren Plausibilität und nach potentiellen Alternativen gefragt werden. 143 Wie problematisch die wissensmoralischen Versuche der Abschaffung des Leidens sind, ist bereits angesprochen worden. Angesichts des Antriebs des wissenschaftlich-technischen Fortschritts durch die universalistisch-eudämonistischen Fortschrittsvorstellungen des „Sokratismus" offenbart sich ein doppelter Bezug der bereits zitierten These: Der „Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung" (KSA 7/62). Denn die Vernichtung droht demnach nicht nur durch die Entlarvung des Selbstwiderspruchs der wissenschaftlichen Daseinsrechtfertigung, sondern auch durch den Dienst der Wissenschaften fur die eudämonistischegalitaristischen Revolutionen. Obwohl das wissenschaftlich-technische Vernichtungspotential der Gegenwart diese Gefahr scheinbar bestätigt, bleibt zu bedenken, daß auch andere Formen der Theorie und Praxis der Wissenschaft möglich sind. Eine pauschale Verurteilung der Wissenschaft als weltvernichtend wäre demnach falsch. 144 Nietzsches Anmerkungen zur Beeinflussung der ethisch-politischen Fortschrittsvorstellungen des „Sokratismus" durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt erfassen meines Erachtens ebenfalls ein wesentliches Moment des modernen Fortschrittsop141

Günther Abel: Wissenschaft und Kunst. In: Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche. Hrsg. v. M. Djuric u. J. Simon. Würzburg 1986, S. 12. Abel bestimmt die Wissenschaft aufgrund dieser Begrenztheit als sekundär gegenüber dem Logischen und Ästhetischen, die von ihm als sinn- und weltkonstituierende Kräfte verstanden werden.

142

Kaulbach (1986) S. 113/114. Nietzsche selbst hat solche Alternativen nicht konkret ausgearbeitet. Grundlegend ist jedoch seine Forderung, daß den Wissenschaften sinnvolle Ziele gesetzt werden und sie nicht unkontrolliert fortschreiten.

143

144

Es ist bereits betont worden, daß Nietzsche dieser Verurteilung nicht zustimmt, sondern eine differenzierte Wissenschaftskritik betreibt.

NIETZSCHES KRITIK AM „ S O K R A T I S M U S "

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timismus. Viele seiner Zeitgenossen haben von den wissenschaftlich-technischen Erfindungen fortschreitende Erleichterungen erwartet, die zur Annäherung an eine egalitäre Gesellschaft fuhren. So hofft beispielsweise Oscar Wilde auf umfassende soziale Verbesserungen, weil die erniedrigenden und gesellschaftlich wenig angesehenen Arbeiten künftig nicht mehr von Menschen, sondern von Maschinen verrichtet werden könnten. 145 Auch bei anderen Denkern wie Saint-Simon, Turgot, Comte, Fourier oder H.G. Wells bildet der wissenschaftlich-technische Fortschritt das eigentliche Fundament einer besseren, glücklicheren Gesellschaft. 146 Im ausgehenden 20. Jahrhundert ist dieses Denken ebenfalls präsent, wenn beispielsweise argumentiert wird, der Fortschritt der Gentechnik sei „notwendig und sittlich geboten", damit die steigenden Bedürfnisse und damit das Glück einer steigenden Anzahl von Menschen befriedigt werden können. 147 Vor solchen Überlegungen kann hier nur gewarnt werden, denn von der fortschreitenden Verfügbarkeit über die nicht-menschliche Natur ist das Erdenglück Aller definitiv nicht zu erwarten. 148 Nietzsches Kritik am szientistisch-eudämonistischen Fortschrittsdenken des „Sokratismus" offenbart wesentliche Defizite der modernen Fortschrittseuphorie und entlarvt das Versprechen eines allgemeinen Erdenglücks durch die kontinuierliche Abschaffung des menschlichen Leidens als trügerischen Schein. Auch wenn nicht alle seine Argumente überzeugen, so trifft seine Kritik an der vermessenen Überschätzung der menschlichen Grenzen ins Zentrum hybriden Fortschrittsglaubens. 149

145

Oscar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen, Zürich 1970, S. 34. Auch Lassalle sieht in dem „unmerklich revolutionierenden Fortschritt der Industrie" die Grundlage für einen Fortschritt der Freiheit (Lassalle (1983) S. 17).

146

Siehe Saage ( 1 9 9 1 ) S. 151 ff. Richard Saage beschreibt hier Die politische Utopie als „ Technischer Staat" in der industriellen Revolution. Deutlich manifestieren sich die große Erwartungen an einen emanzipatorischen Gehalt der Technik bei Fourastie, wenn er schreibt: „Der technische Fortschritt schafft Unabhängigkeit, Freiheit und Individualität" (Jean Fourastie: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts. Köln 2 1 9 6 9 , S. 269).

147

Hubert Markl: Pflicht zur Widernatürlichkeit. In: Der Spiegel. Nr. 48 vom 27.11.1995. Meine Kritik richtet sich hier nicht gegen die Gentechnik, sondern gegen den politisch-moralischen Entwurf, der dieser Argumentation zugrunde liegt.

148

In diesem Zusammenhang ist auch an die negativen Folgen des unkontrollierten wissenschaftlichtechnischen Fortschritts zu erinnern. Ähnlich warnt Adorno in der Negativen Dialektik das ethischpolitische Fortschrittsdenken vor den zutiefst ambivalenten Folgen der fortschreitenden Naturbeherrschung (ders.: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 6 1 9 9 0 , S. 301).

149

Nietzsche verwendet im Kontext seiner Deutung der Prometheussage auch einen positiven Begriff von Hybris, da der Frevel zur Annäherung an die höchsten Ziele notwendig ist. Allerdings ist dieser Frevel dionysischer und nicht sokratistischer Natur (GT 67 f.).

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D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „ S O K R A T I S M U S "

II. 4

Nietzsches positive Fortschrittsvorstellung

II. 4. 1 Der künstlerisch-tragische Pessimismus Nietzsche kritisiert in seinen frühen Schriften den fortschrittseuphorischen „Sokratismus" der Moderne, weil die notwendige Enttäuschung von dessen überzogenem Erwartungshorizont in den praktischen Pessimismus fuhren kann. Seine Auseinandersetzung mit der Moderne reduziert sich aber nicht allein auf eine destruktive Kritik, sondern sie verweist auch auf die Spuren einer möglichen Überwindung des „Sokratismus". Insbesondere die dionysisch-apollinischen Kräfte in der Kunst Richard Wagners und in der tragischen Philosophie Arthur Schopenhauers lassen ihn hoffen, es könne, ähnlich wie im tragischen Zeitalter der Griechen, auch in der Moderne eine künstlerisch-tragische Kultur entstehen. Im folgenden wird herausgearbeitet, inwiefern die von Nietzsche angestrebte Kultur eine Fundamentalalternative zum „Sokratismus" darstellt und seine spezifische Fortschrittshoffnung verkörpert. Die erhoffte Bildung einer künstlerisch-tragischen Kultur der Moderne wird von Nietzsche zwar nicht explizit als Fortschritt bezeichnet, aber es ist zumindest eine positive Verwendung des Begriffs „Kulturfortschritt" (KSA 7/272) nachzuweisen.150 Ansonsten bleibt der positive Gebrauch des Ausdrucks „Fortschritt" zu dieser Zeit vordringlich für die Kennzeichnung von künstlerisch-musikalischen Verbesserungen reserviert, die seines Erachtens eine Grundbedingung für die Geburt der künstlerischtragischen Kultur der Moderne darstellen.151 Verwandte Begriffe, die ähnlich dem Ausdruck „Fortschritt" eine bestimmte Verbesserung anzeigen, werden in seinen frühen Schriften in den unterschiedlichsten Kontexten positiv verwandt. So konstatiert Nietzsche beispielsweise einen künstlerischen Fortschritt durch das Gesamtkunstwerk Wagners, einen philosophischen Fortschritt durch die Philosophie Kants und Schopenhauers, oder einen Fortschritt der ästhetischen Wissenschaft durch seine eigenen Ausführungen über das Apollinisch/Dionysische.152 Auch das titanische Infernal des entfesselten Prometheus auf dem Titelblatt der Geburt der Tragödie signalisiert einen Aufbruch, der auf den folgenden Seiten näher betrachtet werden soll. Ein Ansatzpunkt für diese Untersuchung ist seine spannungsreiche Formel vom „Pessimismus... zum Bessersein"

150

In der erwähnten Textpassage macht Nietzsche darauf aufmerksam, daß das weiblichen Geschlecht vom Kulturfortschritt, den es demnach zu einer nicht näher bestimmten Zeit gegeben hat, erstaunlicherweise nicht erfaßt wird.

151

In den nachgelassenen Schriften von 1871 schreibt er beispielsweise: Die Grenzen der antiken Tragödie liegen in den Grenzen der antiken Musik: nur hierin hat die moderne Welt einen unendlichen Fortschritt auf dem Gebiet des Künstlerischen aufzuweisen:... (KSA 7/283). Wenige Seiten später konstatiert er einen „Fortschritt zur Symphonie bei Wagner" ( K S A 7/306). Siehe auch KSA 7/324. Auf Nietzsches Anerkennung eines Fortschritts der Wissenschaften ist bereits hingewiesen worden. Vgl. B A W V 268 u. 287.

152

Vgl. GT 118 u. 25. In den nachgelassenen Aufzeichnungen vom Oktober 1867 bis April 1868 konstatiert er explizit einen „Fortschritt der Philosophie von Wolff bis Kant" ( B A W III 340).

NIETZSCHES POSITIVE FORTSCHRITTSVORSTELLUNG

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(KSA 7/75), die nach einer Konkretion der Begriffe „Pessimismus" und „Bessersein" sowie deren Beziehung zueinander verlangt. Nietzsches Hoffnung auf die Entstehung einer künstlerisch-tragischen Kultur der Moderne widerspricht scheinbar seiner pessimistischen Grundhaltung, zu der er sich in seinen Schriften und Briefen nach seiner ersten begeisterten Schopenhauer-Lektüre 1865 wiederholt bekennt. Ebenso scheint sie mit seinen scharfen Angriffen gegen den zeitgenössischen Optimismus zu kollidieren. Diese Spannung löst sich aber weitgehend auf, wenn gezeigt werden kann, daß das Verhältnis von Pessimismus und Optimismus bei Nietzsche keine binäre Polarität beschreibt, sondern komplexer gefaßt wird. Sowohl in der Geburt der Tragödie als auch in den Nachlaßnotizen aus jener Zeit unterscheidet Nietzsche verschiedene Formen des Pessimismus, die von ihm unterschiedlich bewertet werden. 153 Gemeinsam ist diesen Formen die grundlegende Erkenntnis der Vergeblichkeit der menschlichen Bemühungen, eine dauerhafte und allgemeine Verbesserung der conditio humana zu erreichen. Diese pessimistische Einsicht wird im Tragödienbuch auch als „dionysische Wahrheit" (GT 73) bezeichnet, da der griechische Gott Dionysos die Individuation als die eigentliche Ursache des unüberwindbaren menschlichen Leidens offenbart, die sowohl für den grausamen Kampf der Partikularinteressen als auch für die leidvolle Begrenztheit des Menschen verantwortlich ist.154 In der Moderne wird diese Weisheit nach Nietzsche durch die tragische Philosophie von Kant und Schopenhauer aktualisiert. Trotz der gemeinsamen Einsicht in die tragische Wahrheit unterscheiden sich die Pessimismusformen in der Reaktion auf diese Wahrheit, wobei insgesamt drei Pessimismusformen in der Geburt der Tragödie differenziert und historisch exemplifiziert werden. Die erste Form ist der passiv-resignative Pessimismus, der zu einer buddhistischen Verneinung des Willens und damit zum Absterben des Handelns führen soll. Nietzsche veranschaulicht diese Wirkung der pessimistischen Grundeinsicht anhand des Schicksals von Hamlet, den die Erkenntnis der grauenhaften, dionysischen Wahrheit vom lebensnotwendigen Handeln abhält. 155 Dieses resignative Moment mag zwar gewisse Situationen im Leben bestimmen, letztlich kann die quietistische Einstellung jedoch nicht das Leben völlig dominieren, da dieses auf den Glauben an die Erfüllung von Handlungszielen angewiesen ist. Nietzsche diagnostiziert eine unaufhebbare Inkonsistenz dieser Lebenshaltung, da sie die theoretischen Einsichten nicht praktisch umsetzen kann. „Der Pessimismus ist unpraktisch und ohne die Möglichkeit der Konsequenz. Das Nichtsein kann nicht Ziel sein. Der Pessimismus ist nur im Reiche der Begriffe möglich." (KSA 7/86, vgl. 7/75)

153

Zur Geschichte des Begriffs ,Pessimismus' siehe den informativen Artikel von Volker Gerhardt im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Band 7. Sp. 386 ff.

154

Gemäß der mythischen Überlieferung erfährt Dionysos am eigenen Leibe, daß die „Individuation" der „Quell und Urgrund alles Leidens" (GT 72) ist. Trotz der Möglichkeit eines temporären Aufbrechens des „principium individuationis" sind die Fesseln der Individuation gemäß Nietzsches Interpretation niemals dauerhaft zu überwinden.

155

Zu Nietzsches Deutung der Figur des Hamlets siehe GT 56 f u n d KSA 7/281.

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D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „SOKRATISMUS"

Mit dieser Ablehnung des willensverneinenden Pessimismus wendet sich Nietzsche an entscheidender Stelle von der Willensmetaphysik Schopenhauers ab, was er in der Retrospektion treffend als frühe Distanz zum „Resignationismus" ausweist. 156 Die zweite Form ist der bereits tangierte aktiv-praktische Pessimismus, der aus dem Verlust einer verklärenden und einheitsstiftenden Daseinsrechtfertigung sowie der daraus resultierenden Potenzierung des Leidens die radikalen ethisch-praktischen Konsequenzen zieht. 157 Aufgrund der Befreiung der egoistischen Interessen vom direkten oder indirekten Engagement für eine Illusionsstufe und der Indienstnahme des trügerischen Scheins durch die Partikularinteressen soll sich die Grausamkeit in der Weltgeschichte soweit steigern, daß sie den Einzelnen sogar zum Mord an den Angehörigen verpflichtet, um letzteren das künftige Leid zu ersparen. 158 Dieser radikale, lebensverneinende Pessimismus ist nach Nietzsche phasenweise in allen Teilen der Welt anzutreffen. Von diesen beiden pejorativ konnotierten Pessimismusformen unterscheidet Nietzsche eine dritte Spielart: Den von ihm angestrebten affirmativ-schöpferischen Pessimismus. 159 Dieser vermag seines Erachtens auf die Erkenntnis der Absurdität und Grausamkeit des Daseins mit einer emphatischen Bejahung des Lebens zu reagieren. Die Einsicht in die Grenzen des menschlichen Handelns soll hier weder eine aktive noch eine passive Resignation auslösen, sondern es soll vielmehr das höchste schöpferische Handeln angeregt werden. Diese Akzeptanz des prinzipiell defizitären Daseins, die das Leben „trotz allem Wechsel der Erscheinungen (als) unzerstörbar mächtig und lustvoll" (GT 56) bejaht, ist nach Nietzsche allein durch die apollinisch-dionysische Kunst möglich. Deren Leistung soll in der Offenbarung der weltbildenden Urlust liegen, die in Anlehnung an die von Nietzsche außerordentlich geschätzte herakliteische Philosophie mit der aufbauenden und zerstörenden Kraft eines spielenden Kindes verglichen wird. 160 Der affirmative Charakter dieses Pessimismus soll demnach in der apollinischdionysischen Kunst gründen, weil diese die Verklärung und Kompensation der pessimistischen Einsicht in die prinzipiell leidvolle Natur ermöglichen kann. „Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht, würde am wenigsten die Entstehung einer Kunstform erklären; wenn anders die Kunst nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt." 161

156

Siehe GT 2 0 ( V e r s u c h einer Selbstkritik

157

Siehe GT 100 und Unterkapitel ΙΙ.2.3 dieser Arbeit. Nietzsche wendet sich im Tragödienbuch gegen eine undifferenzierte Affirmation von Schein, Täuschung und Lüge. Wenig plausibel ist daher die Auslegung von Norbert Bolz, der in Nietzsches Philosophie das Bemühen um eine Universalisierung der Lüge entdeckt (siehe ders.: Eine kurze Geschichte des Scheins. München 1991, S. 73).

158

aus dem Jahr 1886).

159

Vgl. GT 73. In der alten griechischen Tragödie erkennt Nietzsche die „ B e s t a n d t e i l e einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung" (GT 73). Obgleich er nicht explizit vom affirmativschöpferischen Pessimismus spricht, trifft dieser Terminus meines Erachtens seine Position.

160

Siehe GT 153. Heraklit ist einer der wenigen Philosophen, der in allen Schriften Nietzsches weitgehend positiv gedeutet wird (siehe GT 78 u. 128).

161

GT 151, vgl. GT 96.

NIETZSCHES POSITIVE FORTSCHRITTSVORSTELLUNG

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Nietzsche unterscheidet im Tragödienbuch analog zu seiner Differenzierung des Kunstbegriffs verschiedene Formen der künstlerisch-verklärenden Überwindung der leidvollen Naturwirklichkeit. 162 Seine Hoffnung richtet sich darauf, daß der von ihm prognostizierte Verfall des eudämonistisch-szientistischen Fortschrittsglaubens der Moderne die höchsten schöpferischen Energien stimulieren wird und dadurch die Entstehung einer neuen künstlerisch-tragischen Kultur ermöglicht. Bis zu einem gewissen Grad ist die künstlerisch-tragische Kultur der Griechen das Vorbild dieser kulturellen Erneuerung, da der „hellenische(n) Wille(ns)" (GT 25) eine bislang einzigartige Spannung aufgebaut und zur Genese der apollinisch-dionysischen Kunst gefuhrt haben soll. Nietzsche hofft, daß sich in der Moderne ein ähnlicher Wille herausbildet, der weitreichende künstlerische, politische, philosophische und pädagogischen Änderungen initiiert und dadurch das Fundament für eine künstlerisch-tragische Kultur der Moderne legt. Eine zentrale Voraussetzung für die kulturelle Erneuerung ist seines Erachtens die „Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken" (GT 119), denn allein die Auseinandersetzung mit der tragischen Erkenntnis jenseits der Verfuhrungen des „Sokratismus" soll die Wiedererweckung der höchsten künstlerischen Kräfte ermöglichen. Die Ausführungen zu den verschiedenen Formen des Pessimismus haben gezeigt, daß der Umgang mit der tragischen Erkenntnis der dionysischen Wahrheit sowohl für Nietzsches Kritik an der Moderne als auch für seine Hoffnung hinsichtlich einer Überwindung des modernen Fortschrittsoptimismus entscheidend ist. Mit seiner Formel vom „Pessimismus... zum Bessersein" versucht er, einen Weg zwischen den Klippen des resignativen Pessimismus und des euphorischen Optimismus zu skizzieren, der in der Moderne ein Leben mit der tragischen Weisheit erlaubt. Diesen Weg gilt es näher zu untersuchen.

II. 4. 2 Die apollinisch-dionysische Kunst Für Nietzsches frühe ästhetische Metaphysik und seine moderne Fundamentalalternative ist die Kunst von herausragender Bedeutung. So erwartet er in seinen frühen Schriften von der Wiederbelebung der apollinisch-dionysischen Kunst wichtige Impulse zu einer kulturellen Erneuerung der Moderne. Im folgenden wird nach der genuinen Leistung dieser Kunst gefragt. In der Geburt der Tragödie verwendet Nietzsche den Begriff Kunst in verschiedenen Bedeutungen. So spricht er beispielsweise von der Kunst der Weltschöpfung durch das Ur-Eine 16 , von der Kunst der Kulturerzeugung 164 , von der Kunst des individuellen Daseinsentwurfs 165 und von der Kunst der Kunstwerke. 166 Diese Kunstbegriffe sind 162

Es ist bereits erwähnt worden, daß zu den edleren Formen der Verklärung die Kunst, Religion und Wissenschaft gezählt werden. Siehe Kapitel II.3.2.

163

Siehe GT 38 f. und GT 47 f. Siehe GT 116 und GT 100. Siehe GT 115. Neben der attischen Tragödie erwähnt Nietzsche hier vor allem die Werke Richard Wagners, wie beispielsweise Lohengrin (siehe GT 144 f.). Rudolf Reuber erkennt bereits in der Geburt der Tra-

164 165 166

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D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „ S O K R A T I S M U S "

vielschichtig miteinander verzahnt. 167 Für Nietzsches Fundamentalalternative sind insbesondere die Kunst der Kulturerzeugung und die Kunst der Kunstwerke von Relevanz. Erstere vermag seines Erachtens dank spezifischer Formen der Verklärung des leidvollen Daseins, unterschiedliche Arten der Kultur zu stiften, die einen Schutz vor dem praktischen Pessimismus bilden. Bedeutende kulturprägende Illusionsstufen sind nach Nietzsche beispielsweise die Religion und die Wissenschaft. „... ein praktischer Pessimismus... - der übrigens überall in der Welt vorhanden ist und vorhanden war, wo nicht die Kunst in irgend welchen, Formen, besonders als Religion und Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pesthauchs erschienen ist." (GT 100, vgl. GT 116)

Gemäß seiner bereits dargestellten Diagnose bietet die in der Moderne bislang dominierende „sokratistische" Illusionsstufe keinen zuverlässigen Schutz mehr vor dem praktischen Pessimismus. In dieser Situation soll allein die Kunst im engeren Sinn, die Kunst als Kunst, einen Ausweg aufzeigen. 168 Auch hier differenziert Nietzsche zwischen verschiedene Kunstformen, wobei seine Hoffnung auf eine Renaissance der dionysischapollinischen Kunst gerichtet ist.169 Sein Vorbild ist die attische Tragödie, in der sich die dionysisch-musikalische Erregung in einer apollinischen, die schreckliche Vernichtung der Individualexistenz darstellenden Bilderwelt entlädt. Dieser Schrecken soll durch die Symbolisierung des ewig schöpferischen Lebens zugleich depotenziert werden, was eine ästhetische Lust am Tragischen und damit eine ästhetische Rechtfertigung des Daseins ermögliche. 170 Im Gesamtkunstwerk Richard Wagners erkennt Nietzsche hoffnungsvolle Anzeichen einer möglichen Wiedergewinnung der lebensbejahenden apollinisch-dionysischen Kunst, die allein dem modernen Individuum den von ihm ersehnten „metaphysischen Trost(s)" zu spenden vermag. 171 Von dem vielschichtigen

gödie „Elemente einer Inkarnation der Zerstörung der Kunst als Werk" (ders.: Ästhetische Lebensformen bei Nietzsche. München 1989, S. 81). Gleichwohl bestimmt Nietzsche die „Erzeugung großer Werke" als höchstes Ziel einer künstlerisch-tragischen Kultur der Moderne ( K S A 7/432). 167

Reinhart Maurer unterscheidet bei Nietzsche einen ontologischen, einen anthropologischpraktischen und einen ästhetischen Sinn von Kunst. Erweiternd betone ich im Frühwerk die Kunst der Kulturerzeugung als Schnittstelle von der Kunst des Ur-Einen und der dominierenden Lebenskunst, die eine Kultur zur Einheit abschließt. Vgl. Reinhart Maurer (1984) S. 11 ff.

168

Die kulturschaffende Kunst ist in diesem Fall die Kunst als Kunst. Dagegen wird insbesondere die „sokratistische" Kunst in der Tradition des Euripides von ihm heftig kritisiert (siehe GT 76 f.). Vgl. GT 47 u. 152. Nietzsche hat diese problematische Formel, die er später als „anzüglichen Satz" (GT 17) bezeichnet, nach dem Tragödienbuch kaum mehr benutzt. Volker Gerhardt weist auf den Selbstwiderspruch des Versuchs einer ästhetischen Rechfertigung des Daseins hin, sieht aber auch dessen Funktion als eine Ergänzung der theoretischen und der praktischen Beantwortung der Sinnfrage. Siehe Gerhardt (1988) S. 46 ff.

169

170

171

GT 56, 59 und 109. Siehe in diesem Zusammenhang auch Nietzsches Auslegung von Wagners Tristan und Isolde (GT 136).

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Zusammenspiel der apollinischen und dionysischen Kunstgewalten in Wagners Stücken erwartet Nietzsche eine außerordentliche Stimulans und Steigerung des Lebens.172 Gegenüber der „sokratistischen" Illusionsstufe wird den Scheinwelten der apollinisch-dionysischen Kunst im Tragödienbuch eine klare Überlegenheit zugesprochen. Denn im Unterschied zum „Sokratismus" soll die tragische Kunst auf eine Leugnung der dionysischen Wahrheit mittels des trügerischen Scheins, der seine Scheinhaftigkeit verleugnet, verzichten können. Allein die apollinisch-dionysische Kunst vermag nach Nietzsche die dionysische Wahrheit darzustellen und die apollinisch-depotenzierende Verbildlichung dieser Wahrheit im Schein auch als Schein zu offenbaren. „Die Kunst legt es doch auf eine Täuschung ab - aber wir werden nicht getäuscht?... Kunst behandelt also den Schein als Schein will also gerade nicht täuschen, ist wahr." (KSA 7/632)

Diese wichtige Textpassage aus dem Nachlaß erklärt die Einzigartigkeit der Kunst: Die Verklärung des Vorhandenen durch die apollinisch-dionysische Kunst impliziert eine Redlichkeit, die den illusionären Fortschrittsversprechen des modernen „Sokratismus" vollkommen fehlt.173 Eine wesentliche Grundlage für die mögliche Renaissance des tragischen Kunstwerks in der Moderne sieht Nietzsche in der Entwicklung der Musik. Insbesondere durch die Werke von Bach, Beethoven und Wagner sei das dionysische Element in der Kunst wiederbelebt worden, was eine „Erneuerung und Läuterung des deutschen Geistes" bewirken könne.174 Aus Nietzsches Perspektive kann die dionysische Musik die kulturelle Erneuerung entscheidend fördern, weil die Kraft der deutschen Musik auch dem deutschen Mythos neues Leben einzuhauchen vermag. In der Geburt der Tragödie wird die Bedeutung des Mythos für die tragische Kunst hervorgehoben, weil dieser die apollinische Symbolisierung des Dionysischen ermöglichen kann.175 Außerdem wird an die Bedeutung des Mythos für die Bildung einer künstlerisch-tragischen Kultur erinnert, weil der Mythos verläßliche Orientierungskoordinaten bietet und damit ein mögliches Scheitern der künstlerischen Entfaltung an der verwirrenden Vielfalt der Perspektiven verhindern kann. „Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt allgegen-

172

Eine radikale Lebenssteigerung ist nach Nietzsche die spezifische Wirkung der apollinischdionysischen Kunst und ein zentrales Kriterium für die Bewertung von Kunst überhaupt. Siehe dazu die interessanten Aufsätze von Walter Schulz (ders.: Funktion und Ort der Kunst bei Nietzsche. In: N-St. 12 (1983), S. 7 f.) und Volker Gerhardt (ders.: Nietzsches ästhetische Revolution. In: Pathos und Distanz. Stuttgart 1988, S. 19).

173

Deutlich verkündet Nietzsche in einer früherem Textstück: „ Wahrhaftigkeit der Kunst: sie ist allein jetzt ehrlich" (KSA 7/454). 174 GT 131. Beeinflußt von Wagner würdigt Nietzsche im Tragödienbuch hauptsächlich die deutsche Musik und ihren vitalisierenden Einfluß auf den deutschen Mythos. 175

Ausdrücklich wird im vorletzten Kapitel der Geburt der Tragödie eine wechselseitige Abhängigkeit von dionysischer Musik und tragischem Mythos konstatiert (siehe GT 153).

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D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „ S O K R A T I S M U S " wältigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele aufwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine Kämpfe deutet..." (GT 145, vgl. GT 146 f.)

Dem Mythos wird von Nietzsche eine einheitsstifitende Funktion zugesprochen, die die Gefahr einer Desintegration der künstlerischen Kräfte einer Kultur bannen soll. Zudem sieht er die Partikularinteressen durch die integrierende Funktion des Mythos gezügelt, so daß keine „allgemeinen Vernichtungskämpfe(n)" wie im praktischen Pessimismus drohen. 176 Von der Wiederbelebung des Mythos durch die dionysische Musik erwartet Nietzsche somit einerseits eine Konzentration der künstlerischen Energien, und andererseits eine Integration der egoistischen Bestrebungen der Individuen. Meine Untersuchung von Nietzsches Deutung der apollinisch-dionysischen Kunst hat gezeigt, daß er in die moderne Restitution dieser Kunst große Hoffnungen setzt, weil sie eine redliche Verklärung des Daseins und ein Erwachen der mythischen Kräfte zu bewirken vermag.

II. 4. 3 Der „Fortschritt" zu einer künstlerisch-philosophischen Kultur der Moderne Nietzsches Gegenentwurf zum Fortschrittsdenken des „Sokratismus" läßt sich nicht allein auf eine künstlerisch-tragische Remythologisierung der Kultur reduzieren, da sein Kampf für eine kulturelle Erneuerung vielschichtigere Aspekte beinhaltet. Von großer Bedeutung für seine Konzeption eines „Pessimismus... zum Bessersein" ist neben dem Fortschritt in der Musik und der Reaktualisierung der apollinisch-dionysischen Kunst vor allem die Ausbildung der tragischen Philosophie. Im folgenden wird Nietzsches Charakterisierung des künstlerischen und des philosophischen Genius dargestellt, die beide zusammen an der Spitze einer von Piatons politischer Philosophie beeinflußten Kulturaristokratie stehen sollen. Nietzsche diagnostiziert im Tragödienbuch eine Einheit der künstlerischen und philosophischen Entwicklung in Deutschland, weil sowohl in der Kunst als auch in der Philosophie der dionysische Geist sowie dessen apollinischer Gegenpart wiedererwacht sein sollen. Die Protagonisten der tragischen Philosophie und Kunst werden von Nietzsche aus der allgemeinen Mediokrität der Zeit herausgehoben und als geniale Einzelne gewürdigt. Die Wertschätzung des künstlerischen Genius liegt in seiner ästhetischen Metaphysik begründet, die dem Genius ein exklusives Verhältnis zum Wesen der Dinge zuspricht. Diese Exklusivität leitet Nietzsche aus der instinktiven Kraft des Genius ab. In expliziter Anknüpfung an Kants Kritik der Urteilskraft bestimmt er als das Wesen des Instinkts, „dass etwas zweckmässig sei ohne ein Bewußtsein". 177 Jenseits des Bewußtseins des schöpferischen Individuums, in dem vom Urwillen geleiteten Instinkt, siedelt Nietzsche auch die Schaffenskraft des apollinisch-dionysischen Künstlers an. 176

177

GT 100. In diesem Sinn verstehe ich Nietzsches Warnung vor den „ethischen Consequenzen" einer „Vernichtung des Mythus" (GT 148). So weist er in den nachgelassenen Schriften auf die spezifische Leistung des Mythos hin: „... er verhindert die Selbstsucht des Individuums" (KSA 7/248). Friedrich Nietzsche: Die Kunst der Sprache. In: Gesammelte Werke in 23 Bänden. (MusarionAusgabe). Bd. 5. Hrsg. v. F. Würzbach. München 1920 ff., S. 468.

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„Wir behaupten vielmehr, daß... das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann." 178

Dank seines Instinkts vermag der geniale Künstler auch die dionysische Wahrheit zu erfahren, während der rationalistische „Sokratismus" diese Weisheit notwendigerweise verkennt. Neben den instinktiv-unbewußten Kräften des Künstlers würdigt Nietzsche die philosophische Vernunft des tragischen Denkers. Von den vorsokratischen Philosophen schätzt er beispielsweise Heraklit und Pythagoras, während in der Moderne vor allem Kant und Schopenhauer als geniale Philosophen ausgezeichnet werden. Deren Genialität soll sich insbesondere in der Erkenntnis der „Bedingtheit des Erkennens" (GT 118) äußern. Aufgrund der Einsicht in die Vergeblichkeit des „sokratistisehen" Bemühens um einen archimedischen Erkenntnisstandpunkt soll sich beiden Denkern die Begrenztheit der menschlichen Vernunft erschlossen haben, was aus Nietzsches Perspektive eine tiefgreifende Umwertung der bislang herrschenden Werte in der Moderne initiieren könnte. „Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden Geist der deutschen Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedene Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernste Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde..." (GT 128)

Die philosophische Genialität gründet folglich nicht in der temporären Auflösung des prineipium individuationis wie beim künstlerischen Genius, sondern in der selbstreflexiven Einsicht in die Standortgebundenheit des erkennenden Subjekts. Dank der Fähigkeit des tragischen Philosophen, die je spezifischen Grenzen von Perspektiven zu bestimmen, erwartet Nietzsche von ihm auch die Schaffung von angemessenen Rangordnungen von Perspektiven. So ist es im Tragödienbuch letztlich auch die selbstreflektive, perspektivenordnende Vernunft des tragischen Philosophen, die ein sinnvolles Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst aufzuzeigen vermag. Deutlich formuliert Nietzsche in den Nachlaßnotizen, was er als die eigentliche Aufgabe der Philosophie ansieht. „Die beherrschende Philosophie hat aber auch das Problem zu bedenken, bis zu welchem Grade die Wissenschaft wachsen darf: sie hat den Wert zu bestimmen!" (KSA 7/424)

Ähnlich schreibt er nur wenig später im Nachlaß, mit der Philosophie sei eine „Ges e t z g e b u n g d e r G r ö ß e " (KSA 7/447) verbunden. Die Dignität der Philosophie soll demgemäß in der Festlegung von sinnvollen Wertmaßstäben und Zielvorgaben liegen.

178

G T 4 7 , vgl. G T 4 4 u. 90. Diese Ansicht ist maßgeblich durch Schopenhauer und Wagner geprägt. Vgl. betreffende Passagen von Arthur Schopenhauer (WWV I 256 ff.) und Richard Wagner (ders.: Über die Bestimmung der Oper. In: Sämtliche Schriften und Dichtungen in 12 Bänden. Bd. 9. Leipzig 1911, S. 142)

78

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Entsprechend ist der philosophische Genius auch der apollinischen Kunst des Maßes verpflichtet. 179 Da die tragische Philosophie und die apollinisch-dionysische Kunst aus Nietzsches Perspektive die höchsten Daseinsformen ermöglichen, erkennt er in der Förderung des künstlerischen und des philosophischen Genius die zentrale Aufgabe der Kultur. Alle anderen kulturellen Ziele müssen diesem Zweck untergeordnet werden, so daß der optimalen Entfaltung der außergewöhnlichen Anlagen des Genius oberste Priorität eingeräumt wird. Insofern das geniale Individuum einen Selbstzweck darstellt, kann es auch nicht als Mittel zur Förderung der menschlichen Gattung angesehen werden. „Aus alledem wird klar, daß der Genius nicht der Menschheit wegen da ist: während er allerdings derselben Spitze und letztes Ziel ist. Es giebt keine höhere Kulturtendenz als die Vorbereitung und Erzeugung des Genius." 180

Seine Wertschätzung des Genius impliziert die Absage an die Wünschbarkeit einer gleichmäßig fortschreitenden Entfaltung aller Individuen, denn Nietzsche distanziert sich entschieden von der anthropologischen Annahme des Romantikers Friedrich Schlegel, nach der „Genie zu haben der natürliche Zustand des Menschen sei". 181 Genial sind seines Erachtens lediglich wenige, außergewöhnlich begabte Individuen. Deren Entfaltung, und nicht der Fortschritt der menschlichen Gattung, sollte dementsprechend gefördert werden. In der Moderne verhindern gemäß Nietzsches Diagnose die egalitaristischen Versprechen des „Sokratismus" vom künftigen Erdenglück Aller eine angemessene Förderung der genialen Einzelnen, weshalb er sich für umfassende politisch-kulturelle Veränderungen einsetzt. Sein Engagement gilt einer kulturellen Erneuerung bzw. einem „Kulturfortschritt", denn nur in einer Kultur, die der Bedeutung des Genius gerecht wird, kann die Ausbildung von dessen Potential angemessen unterstützt werden. 82 Konkretes Ziel Nietzsches ist die Schaffung einer künstlerisch-tragischen Kultur der Moderne. Die Rücksichtnahme auf die individuell ungleich verteilten Anlagen und die individuell ebenfalls ungleich verteilte Kraft diese Anlagen auszubilden, soll die Grundlage für die Schaffung einer hierarchisch strukturierten, künstlerisch-tragischen Kultur sein. So wird beispielsweise von den weniger talentierten Individuen bzw. vom „Sclavenstand" 179

In der Geburt der Tragödie ermöglicht die apollinische Offenbarung der Grenzen des „Sokratismus" die tragische Erkenntnis der dionysischen Weisheit in der Moderne (siehe GT 128).

180

KSA 7/355 (Geplantes „Vorwort an Richard Wagner" vom Februar 1871). Nietzsches Wertschätzung bezieht sich auf den Genius in allen Bereichen, insbesondere aber auf die künstlerischen und philosophischen Ausnahmeindividuen.

181

Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1796-1806. In: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Bd. 18. Hrsg. v. Ernst Behler. München/Paderborn/Wien 1963, S. 315. Es ist dagegen eine wenig überzeugende Vereinfachung, wenn Nietzsche von C. Pletsch als Vertreter einer „naive or romantic ideology of the genius" präsentiert wird (ders.: Young Nietzsche: becoming a genius. N e w York 1991, S. 148). Differenzierter arbeitet Ernst Behler das ambivalente Verhältnis von Nietzsche zur Romantik heraus (ders.: Die Auffassung des Dionysischen durch die Brüder Schlegel und Friedrich Nietzsche. In: N-St. 12 (1983), S. 335 ff.).

182

Im folgenden wird näher präzisiert, inwiefern der Fortschrittsbegriff hinsichtlich seiner Hoffnung auf eine kulturelle Erneuerung von mir verwendet wird.

N I E T Z S C H E S POSITIVE FORTSCHRITTSVORSTELLUNG

79

(GT 117) erwartet, die zuverlässige Versorgung der außergewöhnlich Begabten zu garantieren. Der kulturaristokratische Ansatz Nietzsches kulminiert schließlich in einem provokanten Gegenentwurf zur Idee der natürlichen, unantastbaren Würde des Menschen. „Was aber hier an einem einzelnen Beispiel gezeigt ist, gilt im allgemeinsten Sinne: jeder Mensch, mit seiner gesammten Thätigkeit, hat nur soviel Würde, als er, bewußt oder unbewußt, Werkzeug des Genius ist;..." 183

Ausdrücklich stellt sich Nietzsche mit diesem kulturaristokratischen Ansatz in die Tradition der platonischen Politeia. Seine frühe Philosophie, die er selbst als „umgedrehten Piatonismus" (KSA 7/199) bezeichnet, ist gekennzeichnet durch ein ambivalentes Verhältnis zu Piaton. Während er sich beispielsweise von Piatons Ausführungen zur Kunst und zum Mythos teilweise deutlich distanziert, knüpft er an zentrale Thesen von dessen politisch-praktischer Philosophie an. So würdigt Nietzsche in einem von ihm nicht veröffentlichten Fragment einer erweiterten Form der „ Geburt der Tragödie " von Anfang 1871 den kulturaristokratischen Grundzug des Staatsentwurfs Piatons, den dieser gegen die politisch-sozialen Wirren seiner Zeit verteidigt habe. Gemäß seiner Auslegung ist die Achtung von zwischenmenschlichen Rangordnungen ein entscheidender Grundsatz der Politeia, die dem genialen Einzelnen den höchsten Rang zuerkenne und vom Staat vordringlich dessen Förderung erwarte. „Der vollkommene Staat Plato's ist nach diesen Betrachtungen gewiß noch etwas Größeres als selbst die Ernstgesinnten unter seinen Verehrern glauben... Das eigentliche Ziel des Staates, die olympische Existenz und immer erneute Zeugung des Genius dem gegenüber alle Anderen nur vorbereitende Mittel sind, ist hier durch eine dichterische Intuition gefunden:..." 184

Nietzsche rekurriert in diesem Kontext auf Piatons Bestimmung der Gerechtigkeit, die in mehrfacher Hinsicht fur seine Philosophie von außerordentlicher Bedeutung ist. Das Zentrum dieser Gerechtigkeitsvorstellung bildet die Anerkennung der je unterschiedlichen Anlagen und Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen. Gerecht verfaßt ist nach Nietzsche ein Gemeinwesen, wenn dafür Sorge getragen wird, daß jeder das Seinige, d.h. das seinen spezifischen Möglichkeiten Angemessene, verrichten kann. Diese Gerechtigkeitskonzeption gründet auf dem Begriff der proportionalen Gleichheit, der eine Förderung der Individuen in gleichem Verhältnis zu ihren je spezifischen Fähigkeiten verlangt. Das gerechte Zusammenleben erfordert aus Nietzsche Perspektive Rangordnungen, die versuchen, die Individuen entsprechend ihren je spezifischen Anlagen und Entwicklungskräften einzuordnen. Es ist bereits angedeutet worden, daß Nietzsche in diesem Zusammenhang nicht an eine ungeordnete Förderung von allen Talenten in allen Bereichen denkt, die sich an der Optimierung des allgemeinen Glücks orientiert. Vielmehr sollen auch zwischen den Tätigkeitsbereichen einer Kultur sinnvolle Rangordnungen herrschen, so daß die Ausschöpfung der angelegten Talente vordringlich in den 183

184

GS 776, vgl. KS A 7/348. Die „aristokratische Natur des Geistes" und die daraus abzuleitenden sozialen Konsequenzen beschreibt Nietzsche in seinem zweiten Vortrag Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (BA II 698). KSA 7/348 f. Vgl. GS 776. Kritisiert wird allerdings Piatons mangelnde Beachtung des künstlerischen Genius, was Nietzsche mit dem negativen Einfluß von Sokrates erklärt.

80

DER FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „SOKRATISMUS"

ranghöchsten Bereichen, Nietzsche denkt hier vor allem an die Kunst und die Philosophie, gefordert wird. „Das Problem einer Kultur selten richtig erfaßt. Ihr Ziel ist nicht das größtmögliche Glück eines Volkes, auch nicht die ungehinderte Entwicklung aller seiner Begabungen: sondern in der richtigen Proportion dieser Entwicklungen zeigt sie sich." 185

Gerade durch eine gerechte Förderung der Talente in der „richtigen Proportion" soll sich die von Nietzsche angestrebte künstlerisch-tragische Kultur der Moderne auszeichnen. Gerecht soll in dieser Kultur auch das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie, Politik und Kunst zueinander sein, so daß jeder Bereich auf seine spezifischen Grenzen achtet und die Bedeutung der anderen Bereiche anerkennt. 186 In diesem Zusammenhang wird von ihm die Relevanz der selbstreflexiven Philosophie hervorgehoben, von der die sinnvolle Rangordnung maßgeblich mitbestimmt werden soll. 187 Meine Auslegung der frühen Schriften Nietzsches hat gezeigt, daß seine kulturaristokratische Fundamentalalternative zum eudämonistisch-eglitarischen „Sokratismus" der Moderne wesentlich von der tragischen Erkenntnis der dionysischen Weisheit geprägt ist, nach der eine umfassende und dauerhafte Verbesserung der menschlichen Verhältnisse nicht zu erwarten ist. Deutlich distanziert er sich damit von der Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts der Menschheit. Die Pointe seines „Pessimismus... zum Bessersein" liegt nun darin, daß er sich gerade von der Auseinandersetzung mit dieser antiprogressiven Weisheit einen „Fortschritt" zur künstlerisch-tragischen Kultur der Moderne erhofft. Unter dem Vorbehalt der Anfuhrungszeichen, die Nietzsches Distanz zum universalistisch-eudämonistischen Fortschrittsbegriff anzeigen, meine ich, daß aufgrund seines Engagements für eine kulturelle Erneuerung von Nietzsches Hoffnung auf einen kulturellen „Fortschritt" gesprochen werden kann. 188 Diesem Fortschrittsdenken liegt nicht die Annahme eines unendlichen Progresses zugrunde, nach der das eigentlich angestrebte Ziel niemals verwirklicht werden kann, sondern aus Nietzsches Perspektive ist eine Verbesserung der kulturellen Grundlagen durch die Wiedergeburt der apollinisch-dionysischen Kunst, des tragischen Mythos und der pessimistischen Philosophie in der Moderne zu erreichen. Der von Nietzsche erhoffte „Kulturfortschritt" (KSA 7/272) zielt dabei nicht auf die Verwirklichung eines Erdenglücks Aller, sondern auf die Konstituierung einer Kulturaristokratie, an deren Spitze der Genius stehen soll. Im Unterschied zur Fortschritts Vorstellung des „Sokratismus" nimmt Nietzsche auch keine lineare Verbesserung der kulturellen Verhältnisse im Verlauf der Geschichte an. Vielmehr offenbaren sich in der Geschichte Aufstiegs- und Verfallsbewegungen, die

185

KSA 7/432. Auch das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem soll dem „Gesetz ewiger Gerechtigkeit" im Sinne der proportionalen Gleichheit unterliegen, denn beide Kunsttriebe sind genötigt „ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion... zu entfalten" (GT 78).

186

Die Figur des „musiktreibende(n) Sokrates" (GT 102) symbolisiert im Tragödienbuch dieses gewandelte Verhältnis der Kulturbereiche zueinander.

187

Siehe KSA 7/432. An eine Fortschrittsschwärmerei erinnert das Ende des 20. Kapitels des Tragödienbuchs, in dem Nietzsche voller Ergriffenheit die neue, bessere Zeit beschreibt (GT 132).

,88

81

NIETZSCHES POSITIVE FORTSCHRITTSVORSTELLUNG 189

auch künftig nicht durch einen dauerhaften Fortschritt abgelöst werden können. Sein Engagement für den „Fortschritt" zu einer künstlerisch-tragischen Kultur der Moderne ist angesichts seiner Warnung vor der anthropozentrischen Überschätzung der menschlichen Geschichte im „Sokratismus" auch nicht von der Erwartung eines weltgeschichtlichen Fortschritts gespeist. Der „Fortschritt" im Sinne Nietzsches ist bescheidener, aber gleichwohl sehr ehrgeizig: er zielt auf eine höhere Qualität des kulturellen Lebens. Wesentlich für eine derartige Erhöhung ist die angemessene Förderung des Genius, die gemäß seiner Bestimmung der Gerechtigkeit als proportionaler Gleichheit das „eigentliche Ziel des Staates" (KSA 7/348) darstellt.

II. 4. 4 Anmerkungen zu Nietzsches positiver „Fortschritts"-Vorstellung Die tragische Erkenntnis der dionysischen Wahrheit ist für Nietzsches Fundamentalalternative zum „Sokratismus" von herausragender Bedeutung, doch ist es fraglich, wie er den exklusiven Status dieser Wahrheit begründen kann. Das Verhältnis von Schein und Wahrheit in Nietzsches Schriften ist oft problematisiert worden und hat insbesondere durch die dekonstruktivistische Thematisierung erneut an Aktualität gewonnen.190 Paul de Man, einer der bekanntesten Vertreter des amerikanischen Dekonstruktivismus, behauptet in den Allegorien des Lesens, daß Nietzsche bereits im Tragödienbuch den Wahrheitsbegriff aufgrund seiner Erkenntnis der notwendigen Subversion der Wahrheit durch die Rhetorik verabschiede, wenngleich er dieses erst in der unveröffentlichten Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne explizit formuliere. Entsprechend demaskiert de Man die Rede von der dionysischen Wahrheit in der Geburt der Tragödie als lediglich rhetorisches Moment, dessen Funktion allein die Dekonstruktion des Apollinischen darstellt. „Eine rhetorisch bewußtere Lektüre der Geburt der Tragödie zeigt, daß alle Autoritätsansprüche, die in ihr erhoben zu werden scheinen, durch Äußerungen, die der Text selber enthält, untergraben werden.... Wir erfahren aus diesen Fragmenten (gemeint sind diejenigen aus dem Umfeld des Tragödienbuches, Anmerkung Verf.), daß die Bewertung des Dionysos als der ersten Quelle der Wahrheit viel eher eine taktische Notwendigkeit als eine substantielle Behauptung ist." 191

189

Nochmals sei an dieser Stelle daran erinnert, daß Nietzsche die Vorstellung, der „Fortschritt" sei ein historisches Gesetz, bereits in seinen frühen Nachlaßnotizen vehement ablehnt (siehe B A W III 322).

190

Siehe ζ. B. Ästhetischer Schein. Hrsg. v. W. Oelmüller. Paderborn 1982; Funktionen des Fiktiven. Poetik und Hermeneutik. Hrsg. v. Dieter Henrich u. Wolfgang Iser. München 1982; Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne. Hrsg. v. D. Kamper u. W. van Reijen. Frankfurt a. M. 1987; Bolz (1991) S. 52 f.; Ernst Behler: Derrida-Nietzsche, Nietzsche-Derrida. München/Paderborn/Wien/Zürich 1988.

191

Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt a. M. 1988. S. 161. Ähnlich argumentiert Karl Heinz Bohrer, der in der Geburt der Tragödie bereits eine „Theorie des reinen ästhetisch-rhetorischen Scheins" erblickt (ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetische Scheins. Frankfurt a. M. 1981, S. 120).

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D E R FORTSCHRITTSBEGRIFF DES MODERNEN „ S O K R A T I S M U S "

Leider verzichtet de Man darauf, die von ihm entdeckte Ironisierung des Wahrheitsanspruchs in der Geburt der Tragödie aufzuzeigen, und fuhrt lediglich aus dem Nachlaß ein Zitat an, um die willkürliche Umkehrbarkeit des Verhältnisses Apollinisch/Dionysisch zu belegen. Dieses Zitat über die Musiksymbolik berührt allerdings überhaupt nicht die fundamentale Bedeutung des Dionysischen als Einsicht in die tragische Verfaßtheit des Daseins. Angesichts dieses dürftigen Nachweises erscheint mir de Mans These, „daß das gesamte Wertesystem, das in der Geburt der Tragödie am Werke ist, willkürlich umgekehrt werden kann" und der Begriff der dionysischen Wahrheit seine Autorität verliert, stark überzogen.192 Nietzsches Ausführungen über das Dionysische als Quelle der leidvollen Weltgeschichte sind keine Ironisierungen, sondern geprägt von lebenspraktischen Erfahrungen, die Nietzsche auch nach Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne als „wahr" bezeichnet hat.193 Mit der Differenzierung der drei Formen des auf die dionysische Wahrheit reagierenden Pessimismus bricht Nietzsche eine vereinfachende Polarität von Optimismus und Pessimismus auf, die ihn sowohl vor einer resignativen als auch vor der beschönigenden Weltbetrachtung schützt. Walter Kaufmann hat diese Position, die „die Schrecken der Geschichte und der Natur mit ungebrochenem Mut" wahrnimmt, treffend von dem Fortschrittsoptimismus der Epigonen Hegels und dem „Resignationalismus" Schopenhauers abgehoben.194 Kaum überzeugend ist dagegen Kaufmanns Versuch, die lebensstimulierende, künstlerische Produktivität in der Antike allein auf das tiefe Leiden an der Grausamkeit des Daseins zurückzufuhren. Nietzsche betont zwar gegen das konventionelle Klassikbild seiner Zeit den grauenhaften Hintergrund der griechischen Kultur, aber es sind ebenso die einzigartigen, überschüssigen schöpferischen Energien und die mythische, pädagogische und politische Verfaßtheit dieser Kultur zu berücksichtigen.195 Seine Differenzierung der verschiedenen Pessimismusformen wird dagegen nivelliert, wenn mit Kaufmann angenommen wird, daß die Erkenntnis der Absurdität des Daseins notwendigerweise in eine künstlerische Produktivität umschlägt, die mit der Kreativität der frühgriechischen Kultur vergleichbar ist.196 192 193

de Man (1988) 161. Während in der Geburt der Tragödie die dionysische Erkenntnis partiell noch mit einem metaphysischen Wahrheitsbegriff ausgezeichnet wird, vertraut er Cosima Wagner zum Weihnachtsfest 1872 an: „Dem Menschen geziemt aber allein der Glaube an die erreichbare Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion" (PW 760). Im folgenden Kapitel wird diese Veränderung näher untersucht, die entgegen de Mans Annahme nicht zu einer Subversion des Wahrheitsbegriffs fuhrt.

194

Kaufmann (1982) 152.

195

Hubert Cancik, der Nietzsches Konstruktion des tragischen Zeitalters als „Antiklassik" bezeichnet, verweist auf dessen vielschichtige Begründung der frühgriechischen Produktivität, obgleich auch diese noch „unsicher und gewiß unvollständig" sei (ders.: Nietzsches Antike: Vorlesungen. Stuttgart 1995, S. 48). Wichtig für Nietzsches Bild der Antike sind auch die Studien und Vorlesungen seines Kollegen Jacob Burckhardt. Interessant ist die Nähe von Nietzsches und Oscar Wildes Position in diesem Zusammenhang, denn auch der Altphilologe Wilde opponiert gegen die rein apollinische Deutung der Antike (siehe Richard Ellmann: Oscar Wilde. München 1991, S. 87 f.).

196

Auch wenn Nietzsche diesen Umschlag als einen „Mechanismus" (GT 99) bezeichnet, so muß seine Differenzierung von verschiedenen Kunstbegriffen berücksichtigt werden, die beispielsweise auch den resignativen Pessimismus der buddhaistischen Kultur als Kunstform interpretiert.

NIETZSCHES POSITIVE FORTSCHRITTSVORSTELLUNG

83

Nietzsches Engagement für eine Wiedergeburt der mythenerweckenden, apollinischdionysischen Kunst zeigt sein Bemühen um eine Alternative zum „Sokratismus", die einerseits dem Ideal der Redlichkeit verpflichtet ist, und andererseits durch den Mythos den ungezügelten Kampf der Egoismen in der Moderne zu bändigen vermag. Seine ästhetischen Ausführungen bieten eine interessante Erklärung der lebensbejahenden Lust am Tragischen, die sich tatsächlich in bestimmten Tragödien einstellen kann, ohne daß dabei die Scheinhaftigkeit des künstlerischen Scheins verleugnet wird. 197 Gleichwohl kann dieser Genuß in der modernen Kultur nicht denselben Stellenwert haben wie in der Antike und ähnlich über die Absurdität des Daseins hinweg trösten, weil die Tragödie heutzutage in einem völlig anderen Kulturzusammenhang steht. Vermessen ist meines Erachtens die kunstmetaphysische Annahme, daß im apollinisch-dionysischen Schein das wahre Sein jenseits der Erscheinungswelt widerscheint, denn auch mittels der Kunst kann der Mensch nicht seine perspektivische Grundeinstellung verlassen. Nietzsches überschwengliche Hoffnungen hinsichtlich der dionysischen Musik Wagners und Bayreuth als kulturerneuernder Mysterienstätte sind durch die exaltierte Kulturprogrammatik Wagners beeinflußt und wirken heute weitgehend antiquiert. Seine Erwartung einer Renaissance des deutschen Mythos durch das apollinisch-dionysische Gesamtkunstwerk Wagners hat Nietzsche nach einer nüchtern-kritischen Prüfung seines Verhältnisses zum „Meister" und den enttäuschenden Bayreuther Erfahrungen selbst bald aufgegeben. 198 Diese Konversion ist auch notwendig, weil die vermeintlich mythenerweckende Kraft der Wagnerschen Kunst im Tragödienbuch völlig überschätzt wird. Das notwendige Scheitern einer künstlichen Wiederbelebung des Mythos als Gegengewicht zu einer alles zersetzenden Aufklärung haben Adorno und Horkheimer überzeugend damit begründet, daß diese Erneuerung selbst der Aufklärung verhaftet bleibt. „Auf welche Mythen der Widerstand sich immer berufen mag, schon dadurch, daß sie in solchem Gegensatz zu Argumenten werden, bekennen sie sich zum Prinzip der zersetzenden Rationalität, das sie der Aufklärung vorwerfen. Aufklärung ist totalitär." 199

Ohne eine Wiederbelebung der Mythen werden sich aber auch keine von den Mythen gestifteten handlungsanleitenden Normen finden, die in der künstlerisch-tragischen Kultur der Moderne das entscheidende Gegengewicht zum praktischen Pessimismus bilden sollten. Nietzsche, der sich auch in diesem Kontext an Wagners Ausführungen über die politisch-soziale Bedeutung des Mythos orientiert, verliert dadurch ein ein197

Auf Nietzsches Ästhetik und deren Rezeption kann in diesem Kontext nur hinsichtlich ihrer Bedeutung für seine Fortschrittsvorstellung eingegangen werden. Zur näheren Beschäftigung verweise ich auf die bereits genannte Monographie von Rudolf Reuber, der auch auf die Rezeptionsgeschichte seiner ästhetischen Ansätze eingeht. Siehe Reuber (1989).

198

Vgl. die wagnerkritischen Nachlaßnotizen von Anfang 1874 (KSA 7/253 ff.). Spätestens 1876 wird Nietzsches Enttäuschung über die Bayreuther Entwicklung offensichtlich, da er vorzeitig von den Festspielen abreist. Gegenüber seiner Schwester Elisabeth bekennt er: „Mit graut vor jedem dieser langen Kunst-Abende" (KSB 4/255).

199

Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. Μ. 1986, S. 16. Ähnlich problematisch ist Nietzsches Versuch einer Rechtfertigung der ästhetischen Metaphysik, die j a gerade den Verzicht auf die begriffliche Begründung fordert.

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heitsstiftendes Bollwerk gegen den hemmungslosen Kampf der Partikularinteressen, der aus einer Universalisierung des Scheins resultieren soll. 00 Trotz dieses Scheiterns ist die positive Konnotierung des Einheitsbegriffs bei Nietzsche festzuhalten, die insbesondere von zahlreichen französischen Interpreten marginalisiert oder ignoriert wird. Exemplarisch ist die außerordentlich starke Betonung von einheitslosen Pluralismen in Nietzsches Philosophie bei Gilles Deleuze, der auch die Bedeutung des geistigen Einigens des Vielen für Nietzsche nicht angemessen interpretiert.201 Die für Nietzsches Fundamentalalternative bedeutsame Entfaltung von apollinischdionysischer Kunst und Philosophie steht in einer Spannung zu seiner ästhetischen Metaphysik, die die Kunst in Abgrenzung zu Piaton und Hegel als die „eigentlich metaphysische^) Tätigkeit dieses Lebens" auszeichnet. 202 Trotz dieser Wertschätzung der Kunst betont Nietzsche wiederholt auch die Relevanz der Philosophie für einen „Kulturfortschritt". In seinen frühen Schriften sind Ansätze zu einer Philosophie des Perspektivismus und einer selbstreflexiven Vernunftkonzeption erkennbar, die er vom objektivistischen Rationalismus und von der Apotheose der instrumentellen Vernunft abhebt. 203 Entscheidend ist für Nietzsches Vorstellung eines „Fortschritts" zum gerechten Geniestaat seine anthropologische Grundeinstellung, die die fundamentalen, unaufhebbaren Differenzen zwischen den Menschen betont. Georg Simmel hat diese Emphase der Ungleichheit der Menschen, die den Unterschied zwischen Nietzsches spezifischem Individualismus und dem Liberalismus offenbart, treffend hervorgehoben. „Für Nietzsche aber kommt es auf den Einzelnen überhaupt, der als solcher das Element der Gesellschaft bildet, gar nicht an, sondern nur auf b e s t i m m t e Einzelne die den anderen nicht, wie es der Liberalismus will, mindestens a priori gleich, sondern a priori ungleich sind." 2 0 4

200

Siehe Richard Wagner: Eine Mittheilung an meine Freunde. In: Sämtliche Schriften und Dichtung. Bd. 4, S. 230 ff., hier S. 312 f. 201 Siehe beispielsweise die folgende Aussage von Deleuze: „Nietzsches Philosophie ist so lange nicht begriffen, als ihr wesentlicher Pluralismus nicht berücksichtigt wird. Um die Wahrheit zu sagen, der Pluralismus... ist eins mit der Philosophie selbst" (Deleuze (1985) S. 8). Siehe dazu auch die Aufsätze in dem Sammelband Nietzsche aus Frankreich. Hrsg. v. W. Hamacher, Berlin 1986. 202 Q-p 24 (Vorwort an R. Wagner). Zurecht betont Volker Gerhardt, daß Nietzsche im Kontext seiner ästhetischen Rechtfertigung des Daseins einen „hegemonialen Anspruch(s) der Kunst" behauptet (Gerhardt (1988) S. 50). Nach Gert Sautermeister dominiert die ästhetische Metaphysik bei Nietzsche leider die Ansätze einer dialektischen Realitätserfassung, die im Dionysischen die antreibende Kraft der politisch-emanzipatorischen Fortschrittsbewegung entdeckt (Sautermeister (1979) S. 231 u. 241). Auf die Defizite der Auslegung von Sauter, die Nietzsche als Imperialisten zu entlarven versucht, ist bereits hingewiesen worden. 203

Sehr vage deutet Gianni Vattimo jenseits einer „irrationalistischen Remythologisierung" eine Wiederkehr des Tragischen an, die durch den Umschlag des „radikalen Rationalismus in einen verzweifelten Skeptizismus" ausgelöst wird (ders.: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung. Stuttgart 1992, S. 17). Die von Nietzsche diagnostizierte positive Leistung der philosophischen Vernunft wird von Vattimo überhaupt nicht gewürdigt. Dieter Jähnig sieht dagegen zurecht in der „philosophischen Weisheit", die die Dialektik der Aufklärung offenbart, auch „Heil- und Gegenkräfte gegen die Gefahr des theoretischen Optimismus" (ders.: Nietzsches Kunstbegriff. In: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert. Bd. II. Frankfurt a. M. 1972, S. 65).

204

Georg Simmel: Schopenhauer

und Nietzsche.

München/Leipzig 1923, S. 153.

NIETZSCHES POSITIVE FORTSCHRITTSVORSTELLUNG

85

Die fundamentale Überzeugung Nietzsches wird damit von Simmel erfaßt, denn das Individuum als solches, der Grundbestandteil der Gesellschaft, ist für Nietzsche nicht maßgeblich, sondern allein die herausragenden Individuen, denen die Gesellschaft zu dienen hat, genießen bei ihm Wertschätzung. Mit der Annahme der natürlichen Ungleichheit verbindet Nietzsche somit die normative Forderung, daß die ungleichen Anlagen auch entsprechend ausgebildet und nicht zugunsten des Diktats des Durchschnitts eingeebnet werden. Dieser vehemente Einsatz für die genialen Einzelnen steht im Zusammenhang mit seiner von Piaton beeinflußten Bestimmung von Gerechtigkeit, die jeder Lebensform und prinzipiell jeder Perspektive eine je bestimmte, umgrenzte Bedeutsamkeit zuweist. Die weise vergleichende, grenzüberschreitende Deutung der verschiedenen, jeweils begrenzten Lebensformen und Perspektiven offenbart nach Nietzsche nicht deren gleichberechtigtes Nebeneinander, sondern gemäß seiner Annahme der Ungleichheit alles Seienden deren pyramidale Ordnung. Die Bedeutung der Vorstellung der Gerechtigkeit als proportionale Gleichheit in Nietzsches Schriften hat Friedrich Kaulbach im Kontext seiner Untersuchung von dessen Experimentalphilosophie betont. „Auch Nietzsche gehört mit seinen Überlegungen zur Gerechtigkeit in diese Tradition (von Kant und Lessing, Anmerkung Verf.). Es kommt darauf an, nicht in irgendeiner , Winkelperspektive' stehenzubleiben, sondern einen umfassenden, weiten Horizont zu gewinnen, in welchem alle möglichen Weltperspektiven, Lebensformen, Wertüberzeugungen vergegenwärtigt werden: aber so daß sie nicht pluralistisch nebenein andergestellt, sondern in der Form einer Rangordnung begriffen werden." 205

Kaulbach verweist im weiteren Text explizit auf das Tragödienbuch und das Verhältnis Apollinisch/Dionysisch, wobei dessen weitreichende Bedeutung den engen ästhetischkünstlerischen Bereich transzendieren soll. 206 Problematisch erscheint mir Nietzsches Vorstellung eines „Kulturfortschritts" in mehrfacher Hinsicht. Neben seinem übersteigerten Vertrauen in die mythenerweckende Kraft von Wagners Musik als Geburtshelfer der künstlerisch-tragischen Kultur der Moderne scheint mir auch die Fortschrittlichkeit dieser Kultur fragwürdig. Sein Versuch einer ästhetisch-metaphysischen Begründung der Abhängigkeit der Menschenwürde von der Förderung des Genies überschreitet die von ihm selbst angeführten Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Darüber hinaus fällt eine Kultur, die dem Menschen alle Rechte vorenthalten kann, weil er kein angemessenes Werkzeug des Genius

205

Friedrich Kaulbach: Die Tugend der Gerechtigkeit und das philosophische Erkennen. In: Nietzsche kontrovers /. Hrsg. v. R. Berlinger u. W. Schräder. Würzburg 1981, S. 61. Vgl. auch F. Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie. Köln/Wien 1980. Hier insbesondere das Kapitel IV (Gerechtigkeit und philosophische Erkenntnis). Dagegen sind auch zumindest temporär verbindliche Ordnung nicht möglich, wenn es immer eine „Pluralität des Sinns in einem jeden Ereignis" bzw. einen „multiplen Sinn" gibt (Deleuze (1985) S. 8).

206

Siehe Kaulbach (1981) S. 70. In einem Brief an Erwin Rhode vom 4. August 1871 schreibt Nietzsche, er glaube von dem Gegensatz des Dionysischen und Apollinischen „viel... ableiten zu können" (KSB 3/215). So erhofft sich Nietzsche mittels dieser beiden Prinzipien, das hellenische Leben in seinen wichtigsten Erscheinungen zu erfassen und dann der Moderne gegenüberzustellen (siehe KSA 7/333).

86

ZUSAMMENFASSUNG

darstellt, hinter den neuzeitlichen „Fortschritt" zur Rechtsstaatlichkeit zurück.207 Ein derartiger „Rückschritt" kann meines Erachtens nicht wünschenswert sein. Wenn jedem das Seinige zugestanden werden soll, dann sollte auch das nicht geniale Individuum als Individuum anerkannt werden, das als Mensch sowohl Würde als auch Rechte und Pflichten besitzt. Die von Nietzsche geforderte Ausrichtung der Menschenrechte auf den Genius ist demnach wenig überzeugend, jedoch sind damit weder der von ihm verwandte proportionale Gerechtigkeitsbegriff noch sein Einsatz für sinnvolle Rangordnungen desavouiert. Vielmehr ist sein Bemühen, den je spezifischen Entfaltungsmöglichkeiten eines Individuums angemessene Freiräume zu verschaffen und sie dementsprechend in unterschiedlichem Ausmaß zu fördern, ein probates Mittel gegen egalitaristische und nivellierende Tendenzen. Daß die damit verbundenen Rangordnungen auch Leid verursachen, ist letztlich niemals völlig zu vermeiden. Um so wichtiger ist die behutsame Interpretation der komplexen Wirklichkeit und das Engagement für eine Gerechtigkeit, welche der Vielfalt angemessene Freiräume gibt. In diesem Zusammenhang scheint mir eine überblickende, selbstreflexive Vernunft, wie sie Nietzsche mit Blick auf Kant und Schopenhauer ansatzweise beschreibt, unverzichtbar zu sein.208 Trotz der angeführten Probleme überzeugt mich an Nietzsches Streben nach einem „Kulturfortschritt", daß er sich vehement gegen die vermeintlich Leid abschaffenden, szientistisch-eudämonistischen Fortschrittsprogramme der Neuzeit wendet und für eine Kultur einsetzt, in der die komplexe Vielfalt der Wirklichkeit anerkannt wird und ihr Gerechtigkeit widerfahrt.

II. 5

Zusammenfassung

Meine Untersuchung der frühen Schriften Nietzsches hat gezeigt, daß er sich in dieser Zeit intensiv mit dem Fortschrittsgedanken auseinandersetzt, obgleich der Begriff „Fortschritt" von ihm in der Geburt der Tragödie kaum explizit verwandt wird. Zentral ist in diesem Zusammenhang seine Auseinandersetzung mit dem „Sokratismus", der mit der Grundannahme, es gebe einen allgemeinen Fortschritt der menschlichen Verhältnisse im Verlauf der Geschichte, die Moderne maßgeblich prägen soll. Treffend betont er die szientistisch-eudämonistischen Wurzeln dieses Fortschrittsglaubens, der von der steigenden Produktion durch die praktische Anwendung der Wissenschaften und von der steigenden Emanzipation durch den egalitaristischen Abbau von Herrschaft die kontinuierliche Abschaffung der Ursachen des menschlichen Leidens und damit die Verwirklichung des Erdenglücks Aller erwartet. Entgegen Nietzsches Deutung kann Sokrates jedoch nicht als entscheidender Wegbereiter dieses Fortschrittsglaubens und als Wendepunkt der „Weltgeschichte" bestimmt werden. Problematisch ist auch seine 207

Nietzsche zieht selbst die „ethische Consequenz" aus seinem aristokratischen Ansatz, wenn er schreibt, „daß der Mensch an sich, der absolute Mensch, weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt;" (KSA 7/348). Dagegen konstatiert Hegel, daß der Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft gilt, weil er Mensch ist. Siehe Hegel (1975) § 209.

208

Vgl. GT 118 u. 128.

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87

Annahme, mit dem Verfall der „sokratistischen" Daseinsrechtfertigung könne sich der „Pesthauch" des praktischen Pessimismus etablieren. Die Interpretation von Nietzsches Kritik am „sokratistischen" Fortschrittsglauben hat verdeutlicht, daß er zwar dessen temporär positive Wirkung als Stimulans des Lebens anerkennt, ihn aber letztlich aufgrund von immanenten Widersprüchen und folgenschweren Defiziten ablehnt. Zurecht konstatiert Nietzsche, daß der Szientismus die Grenzen der Wissenschaften hinsichtlich der Erkenntnis der wahren Ordnung der Natur nicht angemessen berücksichtigt und die ethisch-politischen Fortschrittsbewegungen bei ihren Versuchen scheitern, die Herrschaftsverhältnisse abzuschaffen. Die wechselseitige Beeinflussung von ethisch-politischen und wissenschaftlich-technischen Fortschrittsvorstellungen verschärft die Krise der Moderne noch: Die Wissenschaften werden durch die ethisch-politische Zielsetzung einer Steigerung der Produktion zugunsten einer optimierten Bedürfnisbefriedigung zu einem unkontrollierten Fortschritt angetrieben. Gleichzeitig werden die egalitaristisch-liberalistischen Fortschrittshoffnungen aufgrund des Glaubens an eine mögliche Aufhebung von sozialer Ungleichheit durch die vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt garantierte Produktion von Überschüssen und die Abschaffung der Lohnarbeit ins Extrem gesteigert. Wenig überzeugend sind dagegen die von Nietzsche prognostizierten Konsequenzen aus der modernen Erkenntnis der Grenzen des menschlichen Erkennens, die keinesfalls eine verbreitete „Verzweiflung und Vernichtung" ausgelöst haben. Auch seine provokante Bezeichnung der Arbeiterschaft als „Sklavenstand" verfehlt die spezifische Entwicklung der Moderne. Treffend bleibt jedoch das wesentliche Moment seiner Kritik: die hybride Ignoranz des „sokratistischen" Fortschrittsglaubens gegenüber den menschlichen Grenzen. Gemäß meiner Auslegung findet sich in Nietzsches frühen Schriften auch eine positive Fortschrittsvorstellung: die von ihm konzipierte Fundamentalalternative zur „sokratistischen" Kultur der Moderne. Das Fundament der von ihm angestrebten, neuen Kultur bildet die tragische Erkenntnis der dionysischen Weisheit, nach der eine umfassende und dauerhafte Verbesserung der menschlichen Verhältnisse nicht zu erwarten ist. Von der ernsthaften und kraftvollen Auseinandersetzung mit dieser antiprogressiven Weisheit erhofft sich Nietzsche eine Renaissance der tragischen Philosophie und der apollinisch-dionysischen Kunst, die das moderne Individuum sowohl vor der beschönigenden als auch vor der resignativen Weltbetrachtung schützen sollen. Seine Distanzierung vom hybriden Fortschrittsoptimismus und von einer resignativen Fortschrittsablehnung ist meines Erachtens überzeugend, weil dadurch eine nüchterne Auseinandersetzung mit der Frage nach realistischen Fortschritten möglich wird. Nietzsches Hoffnung auf eine kulturprägende Wiederbelebung der Mythen und des „metaphysischen Trost(s)" durch die Kunst Wagners erscheint mir hingegen abwegig, weil die Wirkung der Kunst hier überschätzt wird. Problematisch ist an dem von ihm angestrebten „Kulturfortschritt" zudem die starke Ausrichtung auf den Genius, die bedeutende neuzeitliche Rechtsfortschritte in Frage stellt. Gleichwohl ist sein Engagement fur eine stärkere Beachtung der proportionalen Gerechtigkeitsvorstellung und für die Anerkennung von Rangordnungen grundsätzlich zu unterstützen, weil es gegen die Nivellierung der verschiedenartigen Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen gerichtet ist. Eine Kultur, in der die egalitaristischen Tendenzen des „Sokratismus" abgebaut werden ohne damit zugleich einklag-

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ZUSAMMENFASSUNG

bare Grundrechte abzuschaffen, kann meines Erachtens tatsächlich als ein „Fortschritt" bezeichnet werden. Das Ergebnis der Untersuchung der frühen Schriften Nietzsches ist somit, daß der Begriff „Fortschritt" keinesfalls nur negativ besetzt ist, sondern ambivalent, je nachdem ob er sich auf hybride, szientistisch-eudämonistische Programme oder auf Versuche bezieht, der komplexen Vielfalt der Wirklichkeit bessere Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen.

III.

(Un)zeitgemäße Gedanken über den Fortschritt

III. 1

Vorbemerkung

Die Reaktionen auf die Veröffentlichung der Geburt der Tragödie waren trotz der Lobeshymnen von Richard Wagner weitgehend negativ, was sich beispielsweise in der Aussage des von Nietzsche geschätzten Philologen Hermann Usener widerspiegelt, der ihn fur „wissenschaftlich tot" erklärte.209 Nach dieser Enttäuschung hat sich Nietzsche von fachphilologischen Forschungsarbeiten zunehmend ferngehalten und auf die philosophische Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Kulturzuständen konzentriert. Von 1873 bis 1876 veröffentlicht er die vier Unzeitgemäßen Betrachtungen, von denen zeitweise sogar 13 Abhandlungen anvisiert waren. Gemeinsam ist diesen vier Schriften, daß Nietzsche als „Arzt der Cultur" (KSA 7/545) auftritt, der eine Erkrankung der gegenwärtigen Kultur diagnostiziert und nach Rezepten fur eine Überwindung dieser Malaise sucht.210 Dabei knüpfen die Unzeitgemäßen Betrachtungen an die Auseinandersetzung mit dem modernen „Sokratismus" an, obgleich der Terminus in diesen Texten, kaum noch explizit verwandt wird. Auch in den unveröffentlichten Texten, wie der

209

Siehe Janz ( 2 1 9 9 3 I) S. 474. Besonders heftig war die fachwissenschaftliche Kritik von Ulrich von Willamowitz, auf die Nietzsches Freund Erwin Rohde antwortete. Beide Texte sind zusammen in einem Band von Karlfried Gründer wieder herausgegeben worden. Siehe Die Schriften von Erwin Rohde, Richard Wagner und von Ulrich von Wilamowitz, in: „ Der Streit um die Geburt der Tragödie". Hrsg. v. K. Gründer. Hildesheim 1969. Besonders getroffen hat Nietzsche, daß sich auch sein Lehrer und Förderer Ritsehl von der Schrift befremdet gezeigt hat.

210

Nietzsche plant Anfang 1873, eine Schrift mit dem Titel Der Philosoph als Arzt der Kultur zu veröffentlichen, der auch als Selbstcharakterisierung dienen könnte. Siehe dazu auch Janz (1978 I), S. 557 f. In einem Brief an Erwin Rhode vom 19.3.1874 erläutert Nietzsche, daß er in seinen nächsten Schriften vor allem „den ganzen polemisch-negativen Stoff" in sich verarbeiten will (KSB 4/209).

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(UN)ZEITGEMÄßE GEDANKEN ÜBER DEN FORTSCHRITT

berühmten Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen

Sinne, bleibt die

211

Kritik an der Hybris des modernen „Sokratismus" ein zentrales Thema. Entschieden kritisiert Nietzsche weiterhin die mannigfaltigen Varianten des szientistisch-eudämonistischen Fortschrittsglaubens in der Moderne. Ein Novum ist Nietzsches erste explizite Distanzierung von dem Begriff Fortschritt in einer veröffentlichten Schrift, der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung,212 In den Nachlaßnotizen seit 1872 wird der Begriff oft und zumeist pejorativ konnotiert verwandt. Ausfuhrlicher als im Tragödienbuch setzt sich Nietzsche nach 1872 auch mit konkreten Impulsen des Fortschrittsglaubens wie dem Darwinismus auseinander. Als „Arzt der Cultur" richtet Nietzsche seine Hoffnungen wie bereits in der Geburt der Tragödie auf eine kulturelle Erneuerung. Allerdings distanziert er sich von seiner Artisten-Metaphysik und dem Programm einer ästhetischen Rechtfertigung des Daseins. Das bereits seit 1874 getrübte Verhältnis zu Wagner läßt ihn 1876 vor Beginn der von ihm einst so herbeigesehnten Festspiele in Bayreuth abreisen. 213 Gleichwohl preist er die Selbstüberwindung des Genius Wagner auch weiterhin in seinen Schriften, weil derartige Erhöhungen des Selbst die unabdingbaren Voraussetzungen einer künftigen Wiedergewinnung der höheren Kultur sind, die im Zentrum seiner Fortschrittshoffnungen steht. Neben dem problematischen Verhältnis zu Wagner litt Nietzsche zunehmend unter seinem schlechten Gesundheitszustand. Das beharrliche Leiden an Kopf-, Augenund Magenschmerzen beginnt sein Denken und Schreiben zu beeinflussen, und es fuhrt schließlich zu Unterbrechungen seiner Lehrtätigkeit in Basel. Auch weil er die Pflichten gegenüber der Universität und dem „Meister" Wagner immer weniger zu erfüllen vermag, begibt er sich wie der von ihm geschätzte Heraklit auf den Weg in die Einsamkeit und Unabhängigkeit. 214 Der Aufbau dieses Teils der Dissertation berücksichtigt weitgehend die Chronologie der Schriften Nietzsches, weil deren chronologische Interpretation eine sinnvolle Darstellung seiner Fortschrittskritik ermöglicht. Jedes der drei folgenden Kapitel schließt mit meinen Anmerkungen zu Nietzsches Einsichten. Eingangs werden Nietzsches sprachphilosophische Untersuchungen einer sinnvollen Rede von Wahrheit analysiert, die danach fragen, was der Mensch überhaupt erkennen kann. In diesem Zusammenhang wird auch auf Nietzsches scharfe Polemik gegen Hegels Wahrheitsbegriff und Geschichtsphilosophie eingegangen. Im folgenden wird seine 211

212 213

214

Weitere Texte, auf die in diesem Kapitel Bezug genommen wird, sind die Schriften über das Pathos der Wahrheit (PW) und die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (PHG). Außerdem werden die relevanten Nachlaßnotizen aus der Zeit von 1872 bis 1876 untersucht. Siehe SE 407. Erste Anzeichen der Entfremdung finden sich in den Nachlaßaufzeichnungen von Anfang 1874 in denen Wagners Eigenschaften bereits kritisch beurteilt werden (siehe KSA 7/787). Diese Notizen werden auch im Buch seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche erwähnt und partiell zitiert. Gemäß ihrer wenig überzeugenden Deutung resultiert die Kritik aber vor allem aus Nietzsches Enttäuschung über ein vermeintliches Scheitern der Bayreuther Festspiele (Elisabeth FörsterNietzsche: Wagner und Nietzsche zur Zeit ihrer Freundschaft. Berlin/München 1915, S. 178 ff.). Siehe PW 7/758. Werner Ross beschreibt den Abschied von Basel und Bayreuth als schmerzhaften Gang in die Einsamkeit, in der Nietzsche langsam der wird, der er ist. Siehe Werner Ross: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben. München 1984, S. 385 ff.

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Kritik am modernen Fortschrittsglauben unter besonderer Berücksichtigung seiner Auseinandersetzung mit dem Darwinismus, dem Historismus und dem Nationalismus geschildert. Nietzsches positive Auslegung der Fortschrittsvorstellung wird im letzten Kapitel herausgearbeitet, wobei zwischen drei wesentlichen Bedeutungen des Fortschritts als Handlungsmotivation, als Selbstüberwindung und als Wiedergewinnung der Kultur differenziert wird. Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchung seiner Schriften von 1872 bis 1876 knapp zusammengefaßt.

III. 2

Über „Wahrheit" und „Weltgeschichte"

III. 2 . 1 Die Perspektive der „Wahrheit" Im Juni 1873 diktiert Nietzsche seinem in Basel weilenden Freund Carl von Gersdorff den kurzen Essay Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Einzelne Passagen daraus finden sich bereits in einer der Cosima Wagner geschenkten fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, in dem Vorwort Über das Pathos der Wahrheit vom Winter 1872. In diesen Nachlaßtexten wird ein hochmütig rationalistisches Wahrheitspathos kritisiert, womit Nietzsche sich auch gegen diejenigen geschichtsphilosophischen Entwürfe seiner Zeit wendet, die einen Fortschritt in der Geschichte durch die sich selbst verwirklichende Vernunft postulieren. Einleitend wird der Problemaufriß der Pathosrede dargestellt, ehe auf Nietzsches umfassendere Kritik am intellektualistischen Anthropozentrismus im oben genannten Essay Über Wahrheit und Lüge eingegangen wird. In der Pathosrede skizziert Nietzsche gemäß seiner kulturaristokratischen Grundthese die Spannung zwischen den gewöhnlichen Menschen, die sich auf die Befriedigung ihrer flüchtigen, unmittelbaren Bedürfnisse konzentrieren, und den außergewöhnlichen Einzelnen, die danach streben, ihre Weisheiten der Nachwelt zu erhalten. Der Kampf des Genius gegen die Vergänglichkeit der Weisheit, die durch die Dominanz der partikularen Bedürfnisbefriedigung verdrängt zu werden droht, bildet nach Nietzsche das Ringen um die Kultur. Erst in der überzeitlichen Geltung der großen Einzelnen und ihrer Werke erfüllt sich seiner Ansicht nach das Wesen der Kultur. Veranschaulicht wird dieser Gedanke durch die Metaphern der Kette, des Höhenzugs und des Fackelwettlaufs, die das von den genialen Einzelnen angestrebte, kontinuierliche Moment der Kultur im Wechsel der Geschichte betonen, welches auf den werdenden Genius eine daseinsbejahende Motivation ausüben soll. Als höchsten Typus des genialen Einzelnen scheint Nietzsche hier nicht den Heiligen oder den Künstler, sondern allein den weisen Philosophen zu bestimmen, weil nur er sein Leben unabhängig von den gewöhnlichen, menschlich-allzumenschlichen Bedürfnissen der Erkenntnis der überzeitlichen Wahrheit zu widmen vermag. Neben Pythagoras und Empedokles wird in diesem Zusammenhang

92

(UN)ZEITGEMÄßE GEDANKEN ÜBER DEN FORTSCHRITT

Heraklit erwähnt, dessen einzigartige apollinische Suche nach wahrer Selbsterkenntnis als höchstes menschliches Streben ausgezeichnet wird. 215 Inmitten der Würdigung von Heraklits Liebe zur Wahrheit kommt es zu einer Konversion im Text. In vier aufeinanderfolgenden Ausrufen über die Wahrheit wird die Spekulation über selbige als ein Anathema für den Menschen dargestellt, und in zwei weiteren Ausrufen wird die herakliteische Wahrheit als ein „verflogener Traum" (PW 759) unter anderen gedeutet. An diese Diagnose des Verlusts der herakliteischen Wahrheit schließt sich die erschreckende, düstere Rede eines Dämons an, der aus einer extramundanen Perspektive das Ende der menschlichen Geschichte verkündet und kommentiert. „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben. Es war auch an der Zeit: denn ob sie schon viel erkannt zu haben, sich brüsteten, waren sie doch zuletzt, zu großer Verdrossenheit, dahinter gekommen, daß sie alles falsch erkannt hatten. Sie starben und fluchten im Sterben der Wahrheit." (PW 759/760)

Diese Rede unterstreicht den Bruch im Text, denn im Kontrast zu dem zuvor von Nietzsche beschriebenen Pathos der Wahrheit verkündet der Dämon lapidar, daß der Mensch alles falsch erkannt hat. Wenn jedoch alle Erkenntnis falsch sein soll, ist dann nicht auch die von Nietzsche verfaßte Rede des Dämons falsch? Eugen Fink hat diesen Vorwurf des performativen Widerspruchs vor Augen, wenn er nach Nietzsches eigener Perspektive fragt, von der aus der universale Verdacht gegen das menschliche Erkennen erhoben wird. „Aber von w o aus will Nietzsche Wahrheit oder Lüge des Intellekts ab schätzen? Hat er denn eine Stellung außerhalb, von w o er daraufhinunter sehen könnte? Es ist erstaunlich, daß Nietzsche sich diese kritische Frage überhaupt nicht stellt, daß er sich ganz sicher wähnt in seiner Intuition, in seiner aesthetischen Vision der Ur-Wirklichkeit des , Werdens'." 216

Dieser vermeintliche Selbstwiderspruch löst sich auf, wenn beachtet wird, daß Nietzsche in dem Text zwei Wahrheitsbegriffe unterscheidet. Während sich seine in der Rede des Dämons angedeutete Kritik gegen einen emphatisch-absoluten Wahrheitsbegriff richtet, wendet er sich keinesfalls gegen einen lebenspraktisch-menschlichen Wahrheitsbegriff. Das Urteil „alle Erkenntnis ist falsch", bezieht sich folglich auf die optimistische Vorstellung, der Mensch sei zur Erkenntnis der absoluten Wahrheit befähigt und könne dadurch ein absolutes Wissen erreichen. Gegen diesen Optimismus hebt Nietzsche den positiv konnotierten, bescheideneren Terminus der „erreichbare(n) Wahrheit" (PW 760) ab, die die notwendige Perspektivität des menschlichen Erkennens berück2,5

216

Siehe PW 757 f. Bereits im Tragödienbuch wird die Bedeutung Heraklits für die tragische Philosophie hervorgehoben. Einige Textpassagen aus Über das Pathos der Wahrheit übernimmt Nietzsche im achten Kapitel seiner Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in der ebenfalls Heraklits einzigartiger Ruhm hinsichtlich des Streben nach Wahrheit betont wird (PHG 833 f.). Eugen Fink: Nietzsches Philosophie. Stuttgart 5 1960, S. 32.

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sichtigt, was nicht mit einem Relativismus zu verwechseln ist. So wird auch Heraklits Glaube an die ewige Wahrheit, die von Nietzsche auch positiv bewertet wird insofern sie dessen Entwicklung fördert und ihn vor den Mitmenschen schützt, im Text als „Heraklitische , Wahrheit'" gekennzeichnet und an dessen „Sonnensystem", d. h. an dessen Perspektive, zurückgebunden. 217 Die provokante Rede des Dämons wird zudem dadurch relativiert, daß behauptet wird, der Dämon rekurriere auf ein reduktionistisches Menschenbild, welches die Bedeutung der Kunst fur den Menschen, die mächtiger als das Erkennen sei, nicht angemessen berücksichtige. Am Ende der Pathosrede bekräftigt Nietzsche damit seine aus dem Tragödienbuch bekannte These der Überlegenheit der Kunst gegenüber dem Erkennen. 218 In dem vielzitierten Nachlaßtext Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne setzt sich Nietzsche ausfuhrlicher mit dem Wahrheitspathos auseinander. In diesem „geheim gehaltene(n) Schriftstück" (KSA 12/233) verwendet er erneut die ersten drei Sätze der bereits angeführten Rede des Dämons. Sie stehen hier als Fabel von dem Ende der Weltgeschichte am Anfang der kurzen Schrift, also an prominenter Stelle. Im Gegensatz zur Pathosrede wird in diesem Text aber nicht allgemein auf die rettende Kunst verwiesen, sondern die herausfordernde These, daß die Weltgeschichte lediglich eine Minute umfasse, wird im weiteren Textverlauf ausdrücklich wiederholt. Dabei wird näher ausgeführt, was die Fabel veranschaulichen soll: der Mensch ist voll hochmütiger Ignoranz gegenüber den engen Grenzen seines Intellekts. Im Vergleich mit der „Natur" wird die Bedeutung des Intellekts durch die Anhäufung von fünf pejorativ konnotierten Adjektiven relativiert: der Intellekt wird als „kläglich", „schattenhaft und flüchtig", „zwecklos und beliebig" beschrieben. 219 Dieses Urteil, das im Gegensatz zur Verehrung des Intellekts in weiten Teilen der philosophischen Tradition steht, gründet auf einem sprachkritischen Argument und zwei auf die Zeit bezugnehmenden Argumenten. Letztere rekurrieren auf die kurze Geschichte des Menschen und die Vergänglichkeit des Intellekts. Im Verhältnis zur Entstehung der Erde existiert der menschliche Intellekt erst seit einem kurzen Zeitraum, der von Nietzsche in der Fabel ironisch auf eine Minute verkürzt wird. Die zeitliche Relativierung des Intellekts wird von ihm mit dessen Anthropogenität erklärt. Demnach ist der Intellekt menschlichen Ursprungs, und da der Mensch ein vergleichsweise „junges" Gebilde darstellt, gilt selbiges auch für den Intellekt. 220 Das ausführlichere und gewichtigere Argument bezieht sich allerdings nicht auf den zeitlichen Aspekt des Intellekts, sondern auf dessen vermeintliche Fähigkeit, die Wahrheit erkennen zu können. Nietzsche demaskiert diesen Anspruch als ein Vergessen der Herkunft der Wahrheit. Dieses Manko versucht er durch die Schilderung der Herkunft des Wahrheitsbegriffs im Kontext seiner Darstellung der Genese der Sprache zu behe2,7 218 219

220

PW 759 bzw. 758. Folglich wird der Künstler hier auch höher als der Philosoph geschätzt. WL 875. Mit dem Adjektiv „schattenhaft" distanziert sich Nietzsche auch von der platonischen Bestimmung der Vernunft im Höhlengleichnis. Sowohl der Gedanke eines göttlichen Ursprungs des menschlichen Intellekts als auch die Vorstellung eines Auftrags des Intellekts unabhängig vom menschlichen Dasein werden damit negiert (Vgl. WL 875).

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(UN)ZEITGEMÄßE GEDANKEN ÜBER DEN FORTSCHRITT

ben. Zentral für die Entwicklung des Erkennens sind nach dieser Darstellung einerseits der ästhetische Prozeß der Metaphernbildung und andererseits die Entstehung von festen Konventionen. Während die Konventionen einer einheitlichen, verläßlichen Bezeichnung der Dinge das menschliche Zusammenleben überhaupt erst ermöglichen sollen, verdankt sich diese Bezeichnung einem Trieb zur Metaphernbildung. Die Sprache gründet gemäß dieser Interpretation auf einem doppelt metaphorischen Fundament: Der Entstehung eines Begriffs soll die Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild, und die Übertragung des Bildes wiederum in einen Laut vorausgehen.221 Nietzsche lehnt mit dieser Deutung die metaphysische Korrespondenztheorie der Wahrheit ab, die davon ausgeht, daß die Bezeichnung mit dem Ding an sich übereinstimmt. Aufgrund der spezifisch menschlichen Nervenreize und deren Übertragung bei der Perzeption stellt der Begriff seines Erachtens keine angemessene und verbindliche Übersetzung der Dinge dar. Der Erkenntnisprozeß bleibt gemäß dieser Auslegung für den Menschen an die menschliche Sprache gebunden, denn unabhängig von einem bestimmten Vokabular kann der Mensch keine „wahren" Aussagen treffen. Diese Überlegung wird in Ueber Wahrheit und Lüge an einem Beispiel veranschaulicht. „Wenn ich die Definition des Säugethiers mache und erkläre, nach Besichtigung eines Kamels: Siehe, ein Säugethier, so wird damit eine Wahrheit zwar an das Licht gebracht, aber sie ist von begränztem Werthe, ich meine, sie ist durch und durch anthropomorphisch und enthält keinen einzigen Punct, der ,wahr an sich', wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen, wäre." 222

An diesem Zitat wird deutlich, daß Nietzsche den Begriff „Wahrheit" nicht völlig ablehnt, sondern ihn differenziert verwendet. Ausdrücklich positiv konnotiert ist der Ausdruck, wenn ein Begriff der menschlichen „Wirklichkeit", d. h. dem von den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten abhängigen Bild der Welt, entspricht. Ein menschliches Erkennen unabhängig von spezifischen Perspektiven und Vokabularien wird von ihm dagegen abgelehnt. An dieser Stelle können Nietzsches sprachphilosophische Ausführungen nicht weitergehend untersucht werden, denn wesentlich ist für diese Arbeit lediglich, welche Konsequenzen er aus seinen Darlegungen zieht.

III. 2. 2 Nietzsches Kritik an der Philosophie der „Weltgeschichte" Nietzsches sprachphilosophische Untersuchungen haben ihn zu dem Ergebnis geführt, daß der Prozeß der Begriffsbildung notwendig von den menschlichen Nervenreizen und 221

Nietzsches Ausführungen über die Entstehung der Sprache sind maßgeblich durch die Schrift Die Sprache als Kunst des Sprachphilosophen Gustav Gerber geprägt. Gerbers Buch, das wesentlich von Humboldts sprachtheoretischen Untersuchungen inspiriert ist, hat Nietzsche im Wintersemester 1872/73 aus der Universitätsbibliothek Basel entliehen. Wie stark seine Ausführungen zur Sprache und Rhetorik durch Gerber beeinflußt sind, demonstriert die Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesung und in , Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne' von Anthonie Meijers und Martin Stingelin. In: Ν-St. / 7 (1988), S. 350 ff.

222

WL 883.

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den daran anschließenden Metaphernbildungen abhängt. Aus diesem Grund lehnt er die Überzeugung, der Mensch könne zu einem transzendenten, absoluten Wissen fortschreiten, entschieden ab. Der Glaube an einen intellektuellen Fortschritt ist gemäß Nietzsche Diagnose allerdings in der Moderne weit verbreitet, was er insbesondere auf den Einfluß der spekulativen Schriften Hegels zurückfuhrt. 223 In seinen veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften kritisiert Nietzsche wiederholt den ruchlosen Optimismus Hegels, der auch aus dessen mangelnder Sensibilität gegenüber der Genese der Sprache resultieren soll. So wird Hegel nicht nur in den Unzeitgemäßen Betrachtungen wiederholt explizit kritisiert, sondern bereits die sprachkritischen Texte Nietzsches wenden sich implizit gegen die idealistische Philosophie Hegels. Sowohl in der Pathos-Vorrede als auch in Ueber Wahrheit und Lüge offenbart sich die Distanz zu Hegel und dessen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte durch den in Anfuhrungszeichen gesetzten Begriff der Weltgeschichte, der schon in der Geburt der Tragödie als sogenannte Weltgeschichte apostrophiert wird. 224 Deutlich wird dieser Zusammenhang in einem Nachlaßtext aus dem Sommer 1873, in dem Nietzsche im Anschluß an ein Zitat Hegels die Verwendung des Begriffs „Weltgeschichte" als hochmütig ablehnt. „Übrigens wäre alles ganz schön, wenn es nur nicht so absurd wäre, von .Weltgeschichte' zu reden: gesetzt es gäbe einen Weltzweck, so wäre es unmöglich ihn zu wissen, weil wir Erdenflöhe und nicht Welt regierer sind.... Die Abstracta sind seine Erzeugnisse, seine Mittel zu seiner Existenz - nichts mehr, nicht seine Herren." (KSA 7/662)

Die „Weltgeschichte", deren progressivem, positivem Verlauf der moderne Mensch nach Nietzsche weitgehend vertraut, wird damit als ein Produkt seiner eigenen Begriffsbildung demaskiert. Allein daß die mit dem Begriff verbundene künstlerische Metaphernzeugung vom Menschen als Sprachkünstler geleistet wird, signalisiert seines Erachtens bereits, daß dieser nichts über die Welt an sich, wie sie unabhängig vom Menschen existiert, aussagen kann. Gerade diese Einsicht in die Grenzen der menschlichen Erkenntnis fehlt Hegel, so ein zentraler Vorwurf Nietzsches, der sich dabei auch wiederholt auf die Vernunftkritik von Kant beruft. „..., so ist es heute, nach Kant, eine kecke Ignoranz, wenn es hier und da, besonders auch unter schlecht unterrichteten Theologen, die den Philosophen spielen wollen, als Aufgabe der Philosophie hingestellt wird, das ,Absolute mit dem Bewußtsein zu erfassen', etwa gar in der Form ,das Absolute ist schon vorhanden, wie könnte es sonst gesucht werden?', wie Hegel sich ausgedrückt hat..." (PHG 847)

Dieses Zitat, das aus dem Kontext seiner Auseinandersetzung mit Parmenides im Philosophenbuch stammt, veranschaulicht, wie scharf Nietzsche gegen den übertriebenen Glauben an die philosophische Vernunft bei Hegel polemisiert. Diese Polemik mündet bei ihm oft in eine Kritik an der Hegeischen Geschichtsphilosophie. Denn, so folgert Nietzsche, wenn der menschliche Intellekt keine transzendente Wahrheit offenbaren 223

Außerdem betont Nietzsche in diesem Kontext wiederholt den negativen Einfluß der dialektischen Philosophie Piatons.

224

Vgl. PW 759. An dieser Textstelle bezeichnet Nietzsche den Begriff „Weltgeschichte" als eine „stolze Metapher", womit er meines Erachtens auf den oft damit einhergehenden Hochmut des Menschen anspielt. Siehe auch WL 875 u. GT 56.

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(UN)ZEITGEMÄBE G E D A N K E N ÜBER DEN FORTSCHRITT

kann, so kann der Mensch auch keinen transzendenten Plan der Weltgeschichte erkennen, was jedoch Hegels optimistisch-idealistisches Fortschrittsdenken annehme. Wiederholt betont Nietzsche deshalb im Nachlaß, daß ein vorgegebener Zweck der Welt, zu dem diese fortschreite, vom Menschen nicht erkannt werden könne. „Aber der Gesichtspunkt des Endlichen ist rein sinnlich d.h. eine Täuschung. Wie kann man von einer Bestimmung der Erde zu reden wagen! In der unendlichen Zeit und dem unendlichen Räume giebt es keine Ziele: was da ist, ist ewig da in irgendwelchen Formen." 225

Ebenso lehnt Nietzsche es ab, von einem möglichen Fortschritt oder Ziel der Menschheit zu sprechen, da bei derartigen Reden die unüberwindbaren Grenzen der menschlichen Perspektive als Grundbedingung des menschlichen Erkennens, die die Einnahme eines archimedischen Erkenntnisstandpunktes verhindern, ignoriert werden. So wendet er sich entschieden gegen die „internationale(n) Fortschritts-Phraseologien" 226 , da diese weder gut begründet noch fur die Gegenwart förderlich sind. Offensichtlich ist diese Kritik an Hegel und dessen optimistischen Epigonen durch Diskussionen mit seinem befreundeten Kollegen an der Universität Basel, Jacob Burckhardt, beeinflußt, die er beispielsweise im Anschluß an dessen Vorlesungen über die Griechische Kulturgeschichte regelmäßig führte. 227 So distanziert sich auch Burckhardt nachdrücklich von dem „Kentaur" der optimistischen Geschichtsphilosophie und insbesondere von Hegels Philosophie der Geschichte, weil diese die Grenzen des Intellekts nicht angemessen berücksichtigen und ihr idealistisches System auf unbegründeten Voraussetzungen aufbauen. „Wir sind aber nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit und kennen sie nicht. Dieses kecke Antizipieren eines Weltplans führt zu Irrtümern, weil es von irrigen Prämissen ausgeht. Es ist aber überhaupt die Gefahr aller chronologisch angeordneten Geschichtsphilosophien, daß sie im günstigsten Fall in Weltkulturgeschichten ausarten..., sonst aber einen Weltplan zu verfolgen prätendieren und dabei, keiner Voraussetzungslosigkeit fähig, von Ideen gefärbt sind, welche die Philosophen seit dem dritten oder vierten Lebensjahr eingesogen haben." 228

Diese Skepsis gegenüber einem „Weltplan(s)", der zu einer prinzipiellen Verbesserung der menschlichen Situation auf Erden fuhrt, zeigt sich auch darin, daß sie die frühen

225

KSA 7/464, siehe auch KSA 7/469, 475 u. 476.

226

KSA 7/658. Siehe auch SE 407. An dieser Textstelle kritisiert Nietzsche „flausenhafte Begriffe wie Fortschritt'...". Siehe dazu Janz ( 2 1 9 9 3 Bd. I) S. 489. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Stuttgart 1938, S. 5. Auf die phasenweise bis in die Terminologie hineinreichende Nähe von Nietzsche zu Burckhardt verweist Volker Gerhardt in seinem Aufsatz Geschichtlichkeit bei Hegel und Nietzsche. In: Nietzsche und Hegel. Hrsg. v. Mihailo Djuric. Würzburg 1992, S. 30. Dem Verhältnis Nietzsche/Burckhardt widmen sich auch die Monographien von Alfred von Martin (Nietzsche und Burckhardt. München 1941) und Edgar Salin (Jakob Burckhardt und Nietzsche. Basel 1938).

227 228

Ü B E R „WAHRHEIT" UND „WELTGESCHICHTE"

97

Kulturen nicht als „Vorstufe zu uns als Entwickelten" betrachten, sondern sich auf „das 229

sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes" konzentrieren. Nietzsche kritisiert aber nicht nur die Ignoranz der optimistischen Geschichtsphilosophie gegenüber den Grenzen der Vernunft, sondern auch deren Folgen in der Moderne. Diese sind seiner Ansicht nach besorgniserregend. Zwar registriert er einen höheren Bekanntheitsgrad von Schopenhauer gegenüber Hegel, aber gleichzeitig diagnostiziert er, daß die Gedanken des letzteren durch Autoren wie David Strauß oder Eduard von Hartmann ungleich stärker wirken. 230 Besonders negative Konsequenzen der von Hegel beeinflußten Geschichtsphilosophie sind nach Nietzsche sowohl die allgemeine Überschätzung des Menschen und seiner Fähigkeiten und als auch die spezielle Überschätzung der deutschen Verhältnisse. Der allgemeine Hochmut gründet auf der Annahme, daß der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist und zum absoluten Wissen der wahren Ordnung der Dinge vorzudringen vermag. Angesichts dieser Begabung erhebt der moderne Mensch sich selbst zum Mittelpunkt des Universums, obwohl diese Behauptung lediglich die Perspektive eines endlichen Wesens im unendlichen Universum darstellt, das vom Zentrum in ein X zu rollen scheint. 231 „Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten." (WL 875)

Gegen diesen intellektualistischen Anthropozentrismus richtet sich auch Nietzsches demütigender Vergleich des hochmütigen, von den außerordentlichen Möglichkeiten seines Intellekts überzeugten Menschen mit einer Mücke, die sich ebenfalls als den Mittelpunkt der Welt empfindet. Die Überschätzung der spezifisch deutschen Verhältnisse resultiert nach Nietzsche auch aus Hegels Überzeugung, daß der Fortschritt in der Geschichte sich in der Einrichtung des preußischen Staates manifestiere. Wiederholt zitiert Nietzsche als Beleg für seine Interpretation von Hegels Verhältnis zu Preußen den berühmten Satz aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie, „was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig". 233 Diese Formel ist für Nietzsche der deutlichste Ausdruck für die

229

Burckhardt (1938) S. 6. Auch bei Nietzsche steht trotz aller geforderten Veränderung und Selbstüberwindung des Menschen das Individuum „wie es ist und immer war und sein wird" im Mittelpunkt seines Philosophierens (siehe dazu auch Kapitel II.4.1 dieser Dissertation).

230

Siehe SE 406. Diesen Prozeß der Dezentrierung beschreibt Nietzsche später in zwei wichtigen Nachlaßtexten, in denen er versucht, den Nihilismus näher zu bestimmen. Siehe auch KSA 12/125 u. 211. Siehe WL 875. Im weiteren Verlauf des Textes wird Nietzsche einen entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier festsetzen: allein der Mensch vermag dank Rangordnungen Begriffe zu bilden (siehe WL 881).

231

232

233

Hegel (1970) S. 24.

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(UN)ZEITGEMÄßE GEDANKEN ÜBER DEN FORTSCHRITT

moderne „Vergötterung der Alltäglichkeit", die allen höheren Zielen skeptisch gegenübersteht.234 Der Stolz auf den menschlichen Intellekt und das fortschrittliche Preußen wird von Nietzsche vor allem abgelehnt, weil dieser den Einzelnen davon abhält, sich Gedanken über sein individuelles Dasein zu machen. Wer die Frage nach dem Sinn des Lebens mit dem Verweis auf eine überindividuelle Instanz beantwortet, der entledigt sich damit der eigentlichen Aufgabe, das eigene Leben selbstverantwortlich zu gestalten. Die vermeintliche Erhöhung des Selbst durch das Aufgehen in der vermeintlich fortschreitenden Nation oder Menschheit fuhrt letztlich zu einer Erniedrigung des Selbst, die den einzelnen Menschen entmündigt. „Jede Vergötterung der abgezogenen Allgemeinbegriffe, Staat, Volk, Menschheit, Weltprozess hat den Nachtheil, die Bürde des Individuums kleiner zu machen und seine Verantwortung zu erleichtern... In's Moralische gewendet wer dem Menschen den Glauben nimmt, dass er etwas Fundamental Werthvolleres sei als alle Mittel zu seiner Existenz, der macht ihn schlechter." 235

Die Kritik an Hegels Konzeption der Weltgeschichte und an dem Fortschrittsoptimismus seiner Epigonen ist fur Nietzsche ein entscheidender Beitrag zur Selbstbesinnung des Menschen in der Moderne, die zu einer produktiven Auseinandersetzung mit der Frage nach dem individuellen Sinn des Lebens fuhren soll. Bei Nietzsches Polemik gegen Hegels Annahme einer möglichen reinen Erkenntnis des absoluten Wissens ist zu beachten, daß damit nicht auch bescheidenere Vernunftkonzeptionen negiert werden. Dies zeigt sich beispielsweise im letzten Abschnitt von Ueber Wahrheit und Lüge, wo die Spannung zwischen den Lebensentwürfen des intuitiv-künstlerischen und des vernünftigen Menschen skizziert wird und nach einer anfanglichen Hymne auf ersteren ausdrücklich auch die Vorzüge des letzteren hervorgehoben werden. Demnach kann der vernünftige Mensch einerseits aus seinen Fehlern lernen und dadurch einen Wissensfortschritt erzielen. Andererseits vermag er souverän auf ein Unglück zu reagieren, während die von Nietzsche beschriebene würdelose Reaktion des künstlerisch-intuitiven Menschen auf ein Mißgeschick eher abstoßend wirkt. Mit dieser Schilderung wird nicht nur seine Forderung nach einer „Herrschaft der Kunst über das Leben" hinterfragt, sondern auch die Bedeutung der Vernunft für die Gestaltung des Lebens von Nietzsche ausdrücklich gewürdigt.236

234

235

236

DS 169/170. Bereits im Tragödienbuch wird die „leichtsinnige Vergötterung der Gegenwart" (GT 149) durch den modernen „Sokratismus" kritisiert und in den Bildungsvorträgen wird Hegels „Apotheose des Staats" angegriffen ( B A 708). KSA 7/662. Allerdings kann eine derartige Selbstvergötterung zeitweise auch sinnvoll sein, wie Nietzsche am Beispiel von Heraklit zu zeigen versucht (siehe Kapitel III.2.1). WL 889. In Nietzsches Feststellung, der intuitiv-künstlerische Mensch habe „keinen Trost", wird die Distanz zu seinem kunstmetaphysischen Ansatz der Tragödienschrift offenbar, der sich gerade dadurch auszeichnet, daß er der Kunst im allgemeinen und der apollinisch-dionysischen Kunst im besonderen eine tröstende Funktion zuerkennt.

Ü B E R „ W A H R H E I T " UND „ W E L T G E S C H I C H T E "

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III. 2. 3 Anmerkungen zu Nietzsches Wahrheitskritik und seinem Hegelbild Im folgenden wird zunächst knapp die Plausibilität der dekonstruktivistischen Interpretation von Nietzsches Verhältnis zum Wahrheitsbegriff untersucht, ehe seine problematische Auseinandersetzung mit Hegels Fortschrittsdenken diskutiert wird. Nietzsches Text Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ist in der Sekundärliteratur außerordentlich viel Aufmerksamkeit gewidmet worden, insbesondere auch von Interpreten, die in Nietzsche einen einflußreichen Ahnvater der radikalen Negation von Wahrheit überhaupt erkennen. Das entscheidende Argument dieser Interpreten bezieht sich auf die von Nietzsche vermeintlich entdeckte Rhetorizität bzw. Figuralität aller Sprache. Aus dieser Negation einer möglichen reinen Sprache folgern sie, daß der Begriff „Wahrheit" unwiederbringlich korrumpiert sei. Neben Jacques Derrida vertritt auch der einflußreiche Wegbereiter des amerikanischen Dekonstruktivismus, 237 Paul de Man, diese These. „Genau diese Frage nach der Möglichkeit, den Fallgruben der Rhetorik dadurch zu entkommen, daß man sich der Rhetorizität der Sprache vergewissert, ist für das gesamte Philosophenbuch und sein einziges vollendetes Kapitel, den Versuch Über Wahrheit und Lüge im außer moralischen Sinn, zentral. Der Essay konstatiert rundheraus die notwendige Subversion der Wahrheit durch Rhetorik als Charakteristikum aller Sprache." 238

De Man behauptet weiterhin, daß Nietzsche den Begriff „Wahrheit" ablehnt, weil die Sprache lediglich aus Metaphern besteht, die keine eigentliche Bedeutung haben, sondern vielmehr kontingent sind und beliebig vertauscht werden können. 239 Aus ähnlichen Gründen haben Alexander Nehamas und Richard Rorty die Bedeutung der Literatur gegenüber der Philosophie hervorgehoben. So soll erstere die Kontingenz der Sprache angemessener einschätzen können. 240 Diese Ansicht bleibt jedoch nicht auf den Kreis der Dekonstruktivisten und deren Sympathisanten beschränkt. Auch ein Kritiker des Dekonstruktivismus wie Lothar Jordan vermeint bei Nietzsche einen „radikalen Relativismus" auch „hinsichtlich... philosophischer... Wahrheitsansprüche" zu erkennen. 241 Obwohl Nietzsche im Anschluß an von Humboldt und Gerber wiederholt die Sprachbedingtheit des Menschen und die daraus resultierenden Probleme betont, scheint mir die dekonstruktivistische oder relativistische Deutung seiner Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsbegriff wenig überzeugend. Von der Annahme einer Arbitrarität bzw. Beliebigkeit der sprachlichen Zeichen kann bei Nietzsche nicht gesprochen werden. Zwar betont er, daß der Mensch zum reinen Erkennen der Dinge an sich nicht be237

Für Derridas Philosophie ist die Dekonstruktion des Wahrheitsbegriff durch den Nachweis einer vermeintlichen Arbitrarität der Zeichen von zentraler Bedeutung. In Die Schrift und die Differenz, bezieht er sich in diesem Zusammenhang explizit auf Nietzsche, in dessen Texten eine „Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist", zu finden sei (Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 6 1994, S. 441).

238

De Man (1988) S. 153. Ebenda S. 154 ff. Siehe dazu Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a. M. 1989, S. 60 sowie Alexander Nehamas: Nietzsche: Life as Literature. Boston 1985.

239 240

241

Lothar Jordan: Nietzsche: Dekonstruktivist oder Konstruktivist? In: N. St. 13 (1984) S. 232.

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fahigt ist, aber er leugnet nicht, daß eine Begriffsbestimmung den Dingen der menschlichen Vorstellungswelt gerecht werden kann. Ausdrücklich konstatiert er, daß der Begriff „Wahrheit" in diesem Zusammenhang sinnvoll verwandt werden kann.242 Derartige Wahrheiten sind immer zeitgebundene Äußerungen eines Einzelnen, der allein aus der menschlichen Perspektive etwas über seine Umwelt sagen kann, ohne dabei auf eine gereinigte, wahre Sprache zurückgreifen zu können. Gleichwohl bedeutet die Perspektive des Perspektivismus keinen Triumph der Beliebigkeit. Mit seinen sprachphilosophischen Überlegungen wendet sich Nietzsche vielmehr gegen den Glauben an einen absoluten, emphatischen Wahrheitsbegriff, den er als Lüge zu demaskieren versucht.243 Daß diese Absage keine Negation des lebenspraktischen Wahrheitsbegriffs impliziert, offenbart auch die Aufforderung am Ende seiner Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung, die vom Einzelnen verlangt, „die Wahrheit zu sagen" (DS 242). Die Anschuldigung, an einen verfehlten, absoluten Wahrheitsbegriff zu glauben, ist einer der häufigsten Vorwürfe Nietzsches an Hegel und dessen Fortschrittsphilosophie. Eine ausgewogene Beurteilung von Nietzsches Verhältnis zu Hegel ist problematisch, da er zwar wiederholt vehement gegen ihn polemisiert, aber dessen Schriften nicht gründlich studiert hat. Mitte der Sechziger und Anfang der Siebziger Jahre hat er Hegel offensichtlich im Original gelesen.244 Zu dieser Zeit stand er allerdings unter dem manifesten Eindruck von Schopenhauer bzw. Burckhardt, die beide entschiedene Gegner Hegels und des Hegelianismus waren. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß Nietzsche in seinen fast ausschließlich kritischen Äußerungen zu Hegel wiederholt dessen Formel zitiert, daß alles, was wirklich ist, vernünftig, und alles, was vernünftig ist, wirklich sei. Manfred Riedel betont, daß wohl kaum ein Satz der Hegeischen Philosophie neben der geschichtsphilosophischen Äußerung zum „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" so oft zitiert und mißverstanden worden ist.245 Sicherlich zählt Riedel neben Schopenhauer und Burckhardt auch den frühen Nietzsche zu denjenigen Interpreten Hegels, die dessen Geschichtsphilosophie gründlich mißverstehen, da sie deren Konnex mit der Dialektik nicht angemessen berücksichtigen. Aufgrund der marginalen Kenntnis der Schriften Hegels hat Nietzsche meines Erachtens tatsächlich die Komplexität er242 243

Siehe WL 883. Allerdings erscheint es mir verfehlt, wenn Nietzsche in diesem Kontext von der unbewußten Lüge spricht (WL 881), denn eine Lüge zeichnet sich dadurch aus, daß der Lügner um die Unwahrheit seiner Rede weiß.

244

Höchstwahrscheinlich hat Nietzsche die Einleitung in die Philosophie der Geschichte gelesen. Von einer Hegellektüre berichtet Nietzsche seinem Freund Hermann Mushacke in einem Brief vom 4. Oktober 1867 (KSB 2/225). Eine erneute Beschäftigung mit Hegels Schriften im Sommer-Herbst 1873 belegen mehrere Zitate aus dem Nachlaß (KSA 7/660 ff). Eine wichtige Quelle für seine Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus und Hegel bildet Die Geschichte der neueren Philosophie von Kuno Fischer (Heidelberg 2 1865).

245

Siehe Manfred Riedel: Fortschritt und Dialektik in Hegels Geschichtsphilosophie, 476 f. Ähnlich konstatiert Joachim Ritter, daß kein Teil der Hegeischen Philosophie derart fehlgedeutet wurde, wie dessen Theorie der Weltgeschichte (ders.: Hegel und die französische Revolution. Frankfurt a. M. 2 1988. S. 200). Ein weiteres Beispiel für problematische Hegelrezeptionen bieten die affirmativen Interpretationen vom Ende der Geschichte. Siehe dazu die aufklärende Studien von Reinhart Maurer: Hegel und das Ende der Geschichte. Stuttgart 2 1980.

Ü B E R „ W A H R H E I T " UND „ W E L T G E S C H I C H T E "

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wähnter „Formeln" verkannt, die ohne deren Kontext nicht angemessen zu verstehen sind. So trifft Nietzsches Kritik an Hegels Fortschrittsdenken eher zahlreiche Epigonen Hegels, deren Schriften nicht mehr das Reflexionsniveau ihres Meisters erreichen, als diesen selbst. Gleichwohl kann trotz Nietzsches einseitig unscharfem Hegelbild von grundlegenden Differenzen dieser Philosophen gesprochen werden, die anhand von zwei Punkten knapp angedeutet werden sollen.24 Einerseits kann bei Hegel ein Fortschrittsdenken konstatiert werden, daß eng mit dem Ereignis der Französischen Revolution verbunden ist, da mit dieser Revolution die Idee der Freiheit zum obersten Prinzip des Staates aufsteigt, was nach Hegel einen irreversiblen Fortschritt darstellt.247 Entscheidend an dieser Entwicklung soll die Annahme der Gleichheit der Bedürfnisnatur der Einzelnen sein, die den Menschen aus den überlieferten Institutionen der Unfreiheit herauslöst. Auch bei Nietzsche wird die Bedeutung der Französischen Revolution für die Moderne hervorgehoben. Allerdings wird sie von ihm als Auslöser eines „Krankheitszustand(s)" (KSA 7/355) bestimmt, gerade weil sie mit den Forderungen nach allgemeiner Freiheit und Gleichheit seiner Ansicht nach einen liberalistischen Optimismus fordert, der die Versuche der höchstmöglichen Selbstüberwindung von Einzelnen bedroht. Im Gegensatz zu Hegel sieht Nietzsche deshalb in der Französischen Revolution und ihren Auswirkungen kein Zeichen des weltgeschichtlichen Fortschritts, sondern vielmehr die Gefahr einer fortschreitenden Abspannung des menschlichen Strebens nach den höchsten und fernsten Zielen. Andererseits ist bei Nietzsche das Vertrauen in die menschliche Vernunft sicherlich weniger ausgeprägt als bei Hegel, der in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes ausdrücklich betont, daß „wahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht... nur in der Arbeit des Begriffs zu gewinnen" sind.248 Auch Hegels Verarbeitung der ganzen Tradition abendländischer rationalistischer Theologie und seine Deutung der christlichen Religion als Moment des absoluten Wissens werden von Nietzsche mit Skepsis betrachtet. Das begriffliche Vermögen des Menschen wird in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne zwar ausdrücklich als Vorteil gegenüber dem Tier ausgezeichnet, aber gleichzeitig außerordentlich kritisch betrachtet, weil die spekulative Vernunft den Menschen oft dazu verführe, unbegründbare, absolute Ansprüche zu erheben.249 Gleichwohl sei nochmals betont, daß auch Nietzsches Kritik an einer Überbewertung der menschlichen Vernunft sich wiederum auf die Vernunft stützt, so daß er 246

Einen interessanten Themenkomplex wählt Hartmut Schröter in diesem Zusammenhang, der die unterschiedliche Auffassung der historischen Realität des Altertums bei Hegel und Nietzsche untersucht (ders.: Historische Theorie und geschichtliches Handelns. Mitten wald 1992).

247

Aus diesem Grund erkennt Hegel in der „Abhandlung der Weltgeschichte... das Bild und die Tat der Vernunft" (ders.: Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I, S. 36. Siehe zu diesem Thema den bereits erwähnten Aufsatz von Joachim Ritter (Ritter ( 2 1 9 8 8 ) S. 2 0 0 ff.). Gleichzeitig mit der Betonung der Bedeutung der französischen Revolution warnt Hegel in der Phänomenologie des Geistes aber auch vor den negativen Exzessen dieser Revolution. Siehe Hegel (1986) S. 431 f.

248

Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 65. Siehe W L 8 8 1 .

249

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nicht als vernunftfeindlicher Gegenaufklärer, sondern vielmehr als radikaler Aufklärer bezeichnet werden kann. „Die gute Vernunft bewahre uns vor dem Glauben, dass die Menschheit irgend wann einmal endgültige ideale Ordnungen finden werde und dass dann das Glück mit immer gleichem Strahle, gleich der Sonne der Tropenländer, auf die solchermaassen Geordneten niederbrennen müsse:..." 2 5 0

Die „gute Vernunft", die den Menschen vor einem illusorischen Fortschrittsglauben der schlechten Vernunft schützen soll, ist die selbstreflexive Vernunft, die auch um die unüberwindbaren Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen „Erdflohs" (HL 312) weiß. Die Auseinandersetzung mit Nietzsches Kritik am absoluten Wahrheitsbegriff und am von Hegel beeinflußten Glauben an einen weltgeschichtlichen Fortschritt offenbart die gemeinsame Wurzel dieser Kritik: die folgenschwere Erkenntnis der Endlichkeit des menschlichen Erkennens und Handelns.

III. 3

„Götzenbilder" der Bildungsphilister

III. 3. 1 Kritik des Darwinismus Nietzsche veröffentlicht zwischen Sommer 1873 und Sommer 1876 insgesamt vier Unzeitgemäße Betrachtungen, in denen er verschiedene „Götzenbilder(n)" 51 der Moderne zu demaskieren versucht. Aus verschiedenen kritischen Perspektiven, die sich insbesondere auch seiner Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie verdanken, diagnostiziert er eine fatale Zerrissenheit des vermeintlichen Kulturstaats Deutschland. Ohne die Kraft zu einem einheitlichen, künstlerischen Stil, dessen Fehlen zu der unproduktiven Distinktion zwischen Form und Inhalt fuhrt, wird das deutsche Reich als schwache Kultur präsentiert, was sich vor allem in den Gelehrten, den umfassend belesenen, aber unproduktiven Bildungsphilistern, manifestieren soll. Diese Philister schwärmen nach Nietzsche in völliger Unkenntnis der eigenen Schwäche von ihrer fortschrittlichen Kultur, die hochmütig als höchste Entwicklungsstufe der Menschheit gefeiert wird. Neben den naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Innovationen werden in den Unzeitgemäßen Betrachtungen auch die Lehre Darwins und der 250

RW 506. Siehe auch D S 191. Die zitierte Textpassage kann auch als Kritik an dem utopischen Sonnenstaat von Campanella gedeutet werden. Festzuhalten ist auch die von Nietzsche hier betonte Offenheit der Zukunft, die gegen die Vorstellung eines endlichen Fortschritts opponiert. Indem das menschliche Handeln auf die Zukunft ausgerichtet ist, ist es aber immer auch auf Fortschritte hin angelegt.

251

D S 241. In der späten Schrift Götzen-Dämmerung, wird das Aushorchen von Götzen als wichtiges Mittel zur „Umwerthung aller Werthe" (GD 57) bestimmt. Die späte Wiederanknüpfung an die Götzendemaskierung widmet sich allerdings anders als in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung nicht den „Zeitgötzen", sondern den „ewigen Götzen" (GD 58).

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Nutzen der Historie als Argumente des Philisters fur diesen Fortschrittsglauben angeführt. Speziell auf den deutschen Bildungsphilister zielt Nietzsches Kritik an der nationalistischen Machtpolitik des Deutschen Reiches, die einen Fortschritt zur deutschen Nation anstrebt. Im folgenden wird zunächst Nietzsches Kritik am Darwinismus, dann seine Auseinandersetzung mit der Historie und schließlich seine Absage an einen chauvinistischen Nationalismus untersucht. Im Zentrum der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller steht das liberale Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts, was Nietzsche exemplarisch in dem 1872 veröffentlichten, äußerst erfolgreichen Buch Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis des kritischen Theologen David Strauß verkörpert sieht. 252 Die polemische Auseinandersetzung mit David Strauß richtet sich dabei nicht gegen die Person David Strauß und seine Karriere als strenger Gelehrter, der Nietzsche ausdrücklich auch Positives abgewinnt, sondern gegen dessen Erfolg mit einer oberflächlichen Bekenntnisschrift. Daß ein derartiges Buch zum Bestseller avancieren kann, ist nach Nietzsche ein Symptom für die mediokre Kultur in Deutschland, die er von dem Typus des Bildungsphilisters beherrscht sieht. Ein wesentliches Kennzeichen dieses Philistertums soll der vormals als „Sokratismus" beschriebenen Glaube sein, daß der Mensch aus eigener Kraft „einen Himmel auf Erden" (DS 178) erzeugen könne. Das entscheidende Merkmal dieser Hoffnung auf eine fortschreitende Bedürfnisbefriedigung Aller ist wie schon im Tragödienbuch das Vertrauen auf die Segnungen der Wissenschaften, das gemäß Nietzsches Deutung bei Strauß mit den Thesen seiner kritischen Theologie vermengt wird. „..., so überrascht er (Strauß, Anmerkung Verf.) uns wieder dadurch, dass er nicht zwischen Glauben und Wissen zu unterscheiden vermag und fortwährend seinen sogenannten .neuen Glauben' und die neuere Wissenschaft in Einem Athem nennt... Im Grunde ist also die neue Religion nicht eine neuer Glaube, sondern fällt mit der modernen Wissenschaft zusammen..." 2 5 3

Nietzsche exemplifiziert diese unheilvolle Wissenschaftsgläubigkeit von Strauß insbesondere hinsichtlich dessen Rezeption von Charles Darwins Evolutionstheorie. Darwins Schriften Die Entstehung der Arten durch Naturauslese (1859) und vor allem Die Abstammung des Menschen (1871) lösten wie in anderen Ländern auch in Deutschland eine heftige Diskussion seiner Thesen von der Evolution allen Lebens aus. Als kritischer Theologe bekundet Strauß in seiner Schrift entgegen dem christlichen Essentialismus, der von invarianten, substantiellen Wesenheiten ausgeht, die Zustimmung zu Darwins Ansicht über die Varianz der Arten, die sich in dem „struggle of life" durch die Selektion der jeweils an ihre Umwelt am besten Angepaßten weiterentwickeln sollen, 252

253

Obwohl Nietzsche den Begriff „Fortschritt" in dieser Schrift kaum verwendet, sind sich Biographen und Interpreten einig, daß sich aus Nietzsches Perspektive im „neuen Glauben" von Strauß der zeitgemäßen Fortschrittsglauben niederschlägt. Siehe beispielsweise Ross (1984) S. 358 und Volker Gerhardt: Friedrich Nietzsche. München 1992, S. 39. D S 211. Das achte und neunte Kapitel dieser Schrift stellen eine Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgläubigkeit der Philister-Kultur dar. Ähnlich wie in der Geburt der Tragödie wird in diesen Kapiteln die Frage nach dem „Wozu" aller Wissenschaft aufgeworfen. Mit Pascal erinnert Nietzsche an die Fragen nach dem Warum, Woher und Wohin der Wissenschaft (siehe D S 203).

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wobei auch die Entwicklung des Menschen in die natürliche Evolution allen Lebens eingliedert wird. Nietzsche bezeichnet dieses Bekenntnis zwar als mutig, insofern Strauß damit der christlichen Religion widerspricht, kritisiert aber zugleich, daß dieser Widerspruch ohne Auswirkungen auf die Ethik von Strauß bleibt. So werde Darwin zwar als der „grösste(n) Wohlthäter der Menschheit" 254 gepriesen, aber lediglich, weil dessen Evolutionstheorie den optimistischen Fortschrittsglauben des Philisters, der von dem zielgerichteten Fortschritt der menschlichen Entwicklung überzeugt ist, zu unterstützen scheint. Mit dieser teleologischen Vorstellung ignoriere Strauß, so der Vorwurf Nietzsches, die Grenze zwischen seinem „neuen Glauben" und den Wissenschaften. „An eben dem Punkte aber, an welchem der ehrliche Naturforscher resigniert, ,reagirt' Strauss... religiös und verfährt naturwissenschaftlich und wissentlich unehrlich; er nimmt ohne Weiteres an, dass alles Geschehene den höchsten intellectuellen Werth habe, also vernünftig und zweckvoll geordnet sei, und sodann, dass es eine Offenbarung der ewigen Güte selbst enthalte." (DS 197)

Nietzsche begründet das Scheitern dieser „Kosmodicee" (DS 197), die in der verhängnisvollen Tradition Hegels stehen soll, mit der optimistisch-ruchlosen Überschreitung der Grenzen der Vernunft. 255 Insbesondere Strauß' Überzeugung eines künftigen sittlichen Fortschritts kritisiert Nietzsche, weil damit offenbar wird, daß sich die Ethik von Strauß, trotz aller Bekenntnisse zu Darwin, völlig unabhängig von dessen Theorie entwickelt. So werde die Spannung zwischen Evolutionstheorie und Moral, beispielsweise zwischen der These vom Kampf ums Dasein und der tatsächlichen Verwirklichung von Sozialwerten, von ihm überhaupt nicht problematisiert. „Strauss hat noch nicht einmal gelernt, dass nie ein Begriff die Menschen sittlicher und besser machen kann, und dass Moral predigen eben so leicht als Moral begründen schwer ist; seine Aufgabe wäre vielmehr gewesen, die Phänomene menschlicher Güte... aus seinen Darwinistischen Voraussetzungen ernsthaft zu erklären und abzuleiten." ( D S 195)

Darüber hinaus widerspricht die praktische Philosophie von Strauß nach Nietzsche auch inhaltlich den Gedanken Darwins, weil der zentrale Imperativ der Straussischen Ethik jedes Individuum auffordert, die gleichberechtigten Ansprüche aller Individuen anzuerkennen, was mit deren exponierter Stellung als Menschen begründet wird. Dieser Imperativ, der von der Gleichwertigkeit aller Bedürfnisse der Individuen ausgeht, soll gegen Darwins Thesen von der Abstammung des Menschen, dem Kampf als antreibendes Moment der Evolution und der individuellen Differenz verstoßen, weshalb Nietzsche

254 255

DS 194, siehe auch D S 2 1 2 . Den Vorwurf, der Optimismus sei eine ruchlose Denkungsart, übernimmt Nietzsche von Schopenhauer (siehe D S 192). Daß Strauß sich vehement gegen die von Kants Vernunftkritik beeinflußte Philosophie Schopenhauers wendet, bildet aus Nietzsches Sicht ein entscheidendes Defizit der Schrift von Strauß. Entscheidend soll fur das Scheitern von Strauß sein, daß er seine Schwärmerei nicht unter die „Controlle der Vernunft" (DS 177) stellt, obwohl er gerade dieses zu seiner eigenen Maxime erhoben hatte.

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diese Ethik der „Consequenzlosigkeit" bezichtigt, die die „entsetzliche Consequenz des Darwinismus" verwässere. 256 Diese Inkonsequenz ist für Nietzsche nicht allein ein Zeichen der Schwäche von Strauß, der zu einem strengen Denken nicht fähig ist und dessen Wissen ohne Folgen für die Praxis bleibt, sondern sie ist vor allem ein Symptom für die Pseudo-Kultur des Philistertums. So soll sich in der oberflächlichen Adaption des Darwinismus paradigmatisch der oberste Maßstab des Philisters offenbaren: Alles Wissen hat letztlich allein der oberflächlichen Bedürfnisbefriedigung des Philisters zu dienen. Ein entscheidendes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, ist nach Nietzsche der populär-darwinistische Fortschrittsglaube der Moderne, weil dieser die „Entwickelung des Menschen von der Thierstufe bis hinauf zur Höhe des Kulturphilisters" (DS 196) verklärt. Wiederholt beschwört Nietzsche die Gefahr, die aus diesem Fortschrittsglauben erwächst. So sollen, indem der Bildungsphilister sein eigenes, bequemes Dasein als das fortschrittlichste verabsolutiert, alle ehrgeizigeren Versuche einer höheren Selbstüberwindung entwertet und behindert werden. Die begabten Einzelnen drohen mit ihren unzeitgemäßen Anstrengungen an der zeitgemäßen „Schwachheit" (DS 172) zu scheitern. Wurde eine derartige Bedrohung des Genius im Tragödienbuch und der Pathosrede noch mit dem Verweis auf Heraklit, Schopenhauer, Kant und Wagner exemplifiziert, so wird in den Unzeitgemäßen Betrachtungen unter anderem an das Schicksal von Lessing, Hölderlin, Kleist, Goethe, Schiller und wiederum Schopenhauer erinnert, deren Entwicklung von dem Philister-Umfeld wesentlich behindert worden sei. Mit diesen Beispielen soll gezeigt werden, daß in Deutschland die Mediokrität und Schwäche als wesentliche Eigenschaften des Philisters triumphieren. Damit verkehrt Nietzsche die populärdarwinistische Vorstellung eines Fortschritts zur „Höhe des Kulturphilisters", denn der Philister wird nun nicht als starkes, hochwertiges Exemplar der menschlichen Species, sondern als der Schwache präsentiert. Gleichwohl soll der „uniforme Glaube Unzähliger" (DS 206) bewirken, daß das angenehm-bequeme Idyll des schwachen Menschen den „Kulturstaat" Deutschland dominiert. Die Philister bilden aus Nietzsches Perspektive nicht die Speerspitze einer kulturellen Fortschrittsbewegung, sondern der Philisterstand zeichnet sich seines Erachtens dadurch aus, daß er in Richtung Barbarei „vorgeschritten" (DS 203) ist. Angesichts dieser Diagnose tätigt er den verzweifelten, paradox anmutenden Ausruf: „Wenn diese Schwachen nur nicht die Macht hätten!". 257 Die Macht des gefahrlichen Philistertums zu brechen und seine Götzenbilder umzuwerfen, ist die zentrale Intention von Nietzsches kulturkritischen Unzeitgemäßen Betrachtungen.

256

D S 194 bzw. KSA 7/461. In diesem Kontext erhebt Nietzsche den Vorwurf gegen Strauß, daß dessen Ethik unabhängig von der Erklärung der Welt entwickelt sei. Gleichzeitig verweist er auf die konsequentere Theorie von Thomas Hobbes (siehe DS 194).

257

D S 173. Bereits das Tragödienbuch diagnostiziert in der Moderne eine Dominanz der Schwachen, deren „Schwächlichkeitsdoctrinen" (GT 119) er den Kampf ansagt.

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III. 3. 2 Kritik der „historischen Krankheit" Außer in dem Populärdarwinismus erkennt Nietzsche auch im zeitgenössischen Historismus und in dessen Verehrung der Historie eine wichtige Wurzel des modernen Fortschrittsoptimismus. Mit dem Historismus, verstanden als Positivismus der Geschichtswissenschaften, beschäftigt sich Nietzsche insbesondere in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben,258 In diesem Text werden drei Arten von vorwissenschaftlicher Historie unterschieden, die monumentalische, die antiquarische und die kritische Historie. Deren Wirkungen sollen abhängig von der Situation ihrer Verwendung sein und sowohl positiv als auch negativ ausfallen können. Neben einem angemessenen Verhältnis dieser Arten von Historie zueinander soll für das menschliche Leben zudem ein ausgewogenes Verhältnis des Historischen, Unhistorischen und Überhistorischen von konstitutiver Bedeutung sein. Gerade diese Ausgewogenheit vermißt Nietzsche in Deutschland, wo er ein unkontrolliertes Bedürfnis nach historischem Wissen und ein verbreitetes Übermaß an Historie diagnostiziert. Diese Entwicklung steht seiner Ansicht nach im Zusammenhang mit der Art und Weise, wie die Historie als Wissenschaft betrieben wird, da dort das historische Wissen ohne Differenzierung zwischen Bedeutungsvollem und Nichtigem und ohne Auswirkung auf die Praxis als Selbstzweck gesammelt wird. Zu Beginn des fünften Kapitels der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung werden fünf negative Folgen dieser „historischen Krankheit" (HL 329) genannt, die allesamt gegen die oberste Maxime der Historie verstoßen: Die zeitgemäße Historie dient nicht dem Leben. Als eine bedrohliche Konsequenz dieser Krankheit wird auch ein verfehltes Fortschrittspathos in der Moderne bestimmt, das sich einerseits auf das vermeintliche Vermögen der historischen Wissenschaft zur Offenbarung der höchsten Gerechtigkeit, und andererseits auf die angebliche Macht der Geschichte als oberstes Weltgericht stützt. Den Anspruch, ein außergewöhnlich hohes Maß der Tugend der Gerechtigkeit zu besitzen und damit ein fortschrittliches Lebewesen in der Geschichte zu sein, begründet der moderne Mensch nach Nietzsche auch mit seinem vermeintlichen Vermögen zu historischer Objektivität. Denn allein das historische Erkennen, das frei von jedem subjektiven Interesse und ohne Wirkung auf das erkennende Subjekt bleibt, soll dem wahren Verlauf der vergangenen Ereignisse gerecht werden. Die daraus abgeleitete Annahme, daß lediglich die reine, interessenlose Historie zu höchster Gerechtigkeit führt, und allein der moderne Geschichtswissenschaftler sich deshalb zum objektiven Richter über die bisherige Geschichte der Menschheit aufzuschwingen vermag, wird von Nietzsche kritisch hinterfragt. „Wenden wir uns vielmehr zu einer vielgerühmten Stärke des modernen Menschen mit der allerdings peinlichen Frage, ob er ein Recht dazu hat, sich seiner bekannten historischen ,Objec-

258

Die Quellen und die Entstehungsgeschichte der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung: Über den Nutzen und Nachteil der Geschichte für das Leben beschreibt Jörg Salaquarda akribisch in seinen Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (In: N-St. 13 (1984) S. 1 ff.).

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tivität' wegen stark, nämlich gerecht und in höherem Grade gerecht zu nennen als der Mensch anderer Zeiten." (HL 285)

Nietzsche lehnt diesen Anspruch auf höchste Gerechtigkeit vehement ab, da dabei einerseits die fundamentale Differenz zwischen Objektivität und Gerechtigkeit übersehen werde und andererseits verkannt werde, daß der moderne Mensch weder im positiven Sinne objektiv sei noch der historischen Gerechtigkeit diene. Im Unterschied zur Theorie der szientistischen Geschichtswissenschaften wird die Objektivität von ihm als Resultat einer künstlerischen Kraft beschrieben, die die partikularen Ereignisse miteinander verbindet. 259 Der moderne Historiker, Nietzsche zitiert in diesem Kontext Leopold von Ranke, ignoriere dagegen diesen künstlerischen Aspekt der Geschichtsschreibung und bleibe zudem ohne Wirkung auf die Gegenwart und Zukunft, da es ihm an eben dieser gestaltenden Kraft mangele. 260 Auch die Gerechtigkeit, die die Vergangenheit nicht künstlerisch verändert, sondern die wirkungsmächtige Wahrheit sucht, ist nach Nietzsche keine Tugend des modernen Historikers, da dieser weder den Willen zur Gerechtigkeit, noch die angemessene Urteilskraft, um diesen Willen zu verwirklichen, besitzen soll. Sowohl der Anspruch auf eine produktiv-objektive Erkenntnis als auch der Anspruch auf höchste Gerechtigkeit werden somit als eitle Maskerade entlarvt, zu deren Verzicht er die überforderten Historiker seiner Zeit aufruft. 261 „Sucht nicht den Schein der künstlerischen Kraft, die wirklich Objectivität zu nennen ist, sucht nicht den Schein der Gerechtigkeit, wenn ihr nicht zu dem furchtbaren Berufe des Gerechten geweiht seid." (HL 293)

Angesichts dieser Demaskierung soll die zeitgenössische Überzeugung, daß die Moderne aufgrund der historischen Wissenschaften und deren Vermögen zu höchster Gerechtigkeit das fortgeschrittenste Stadium der menschlichen Entwicklung darstelle, problematisch werden. Neben dem Stolz auf die Historie diagnostiziert Nietzsche in seiner Zeit tatsächlich eine latente Ahnung von der Gefahr der „historischen Krankheit" fur die Moderne, die von einigen Zeitgenossen aufgrund der Zerrissenheit durch das Übermaß an Historie auch als verwelkendes Greisenalter der Menschheit empfunden wird. 262 Diese düstere Selbsteinschätzung zeige sich vor allem in der Ironie und dem Zynismus der Moderne, welche die Setzung von ehrgeizigen Lebenszielen verhinderten und jegliches Engagement des modernen Menschen lähmten. Allerdings resultieren aus dieser Ahnung von

259

Nietzsche verweist in diesem Kontext auf Friedrich Schiller (HL 291), der die Zusammenschau der Ereignisse auf die Vorstellung des Historikers zurückfuhrt (ders.: Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Jena 1982, S. 15). Außerdem zitiert er in diesem Kontext Grillparzers Bestimmung der Geschichte (HL 290).

260

Siehe HL 291. Daß sich seine Kritik an den zeitgenössischen Historikern nicht gegen alle Historiker seiner Zeit richtet, belegt beispielsweise seine Hochachtung vor den historischen Schriften und Vorlesungen Jacob Burckhardts.

261

262

Diese Selbsteinschätzung der Moderne als Alter der Menschheit ist nach Nietzsche durch den christlichen Glauben an das Jüngste Gericht geprägt (HL 302 f). Wie in der Geburt der Tragödie bezeichnet er die hoffnungslos Handelnden als „praktische Pessimisten" (HL 302, vgl. GT 100).

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dem „Alter" der Menschheit nach Nietzsche kaum Versuche, das Übermaß an Historie einzudämmen, weil diese Ahnung von Hegel und dessen Epigonen radikal umgedeutet wird. 263 Durch deren dialektische Begriffsverwirrungen werde die Geschichte nun als Gerichtshof des Weltprozesses bestimmt, so daß der Terminus „Alter" in dem oben angeführten Kontext positiv interpretiert werde und der passiv-dekadente, historisch überladene Mensch der Moderne plötzlich als das Ziel des fortschreitenden Weltprozesses erscheine. „Ich glaube, dass es keine gefahrliche Schwankung oder Wendung der deutsche Bildung gegeben hat, die nicht durch die... Einwirkung dieser Philosophie, der Hegelschen, gefährlicher geworden ist. Wahrhaftig, lähmend und verstimmend ist der Glaube, ein Spätling der Zeiten zu sein: furchtbar und zerstörend muss es aber erscheinen, wenn ein solcher Glaube eines Tages mit kecker Umstülpung diesen Spätling als den wahren Sinn und Zweck alles früher Geschehenen vergöttert, wenn sein wissen des Elend einer Vollendung der Weltgeschichte gleichgesetzt wird." (HL 308)

Aufgrund der vermeintlich herausragenden Bedeutung der Historie wird nach Nietzsche die Geschichtswissenschaft, die das Wissen um die außerordentliche Macht der Geschichte verbreitet, als wesentliche Grundlage der modernen Bildung ausgezeichnet. Entgegen dieser Auszeichnung der modernen Geschichtswissenschaften als kulturfördernde Macht versucht Nietzsche, ihre relativistischen und kulturzersetzenden Konsequenzen aufzuzeigen. Er begründet diese unzeitgemäße Ansicht mit dem Ergebnis von historischen Analysen, die den geschichtlichen Verlauf als Resultat von kontingenten Geschehnissen und egoistischen Interessenkämpfen beschreiben. Dadurch werde jedoch das sittliche Fundament von Kulturen und die gemeinschaftsstiftende Kraft von Bewegungen aufgelöst. Wie schon im Tragödienbuch wird diese These auch in der Historienschrift anhand des Absterbens des Christentums, das auch auf die historischanalytischen Untersuchungen der Heiligen Schrift zurückzuführen sei, exemplifiziert. Ohne die fatale Wirkung dieser Entwicklung, die im praktischen Pessimismus enden kann, zu kennen, droht der Egoismus nach Nietzsche als künftig leitendes Prinzip akzeptiert zu werden. „Es ist gewiss die Stunde einer grossen Gefahr: die Menschen scheinen nahe daran zu entdekken, dass der Egoismus der Einzelnen, der Gruppen oder der Massen zu allen Zeiten der Hebel der geschichtlichen Bewegungen war; zugleich aber ist man durch diese Entdeckung keineswegs beunruhigt, sondern man decretirt: der Egoismus soll unser Gott sein." (HL 321, vgl. HL 319)

Nach der Verbreitung dieser Erkenntnis befürchtet Nietzsche, daß das selbstsüchtige Streben nach einer ständig steigenden Bedürfnisbefriedigung nicht mehr zu zügeln ist, wodurch alle alternativen, höheren Lebenszwecke, zu deren Antrieben er unter anderem die Selbstvergessenheit und die Liebe zählt, gefährdet sind. Die historischen Wissenschaften fördern die Selbstsucht nach Nietzsche nicht allein durch ihren analytischzersetzenden Charakter, sondern sie belohnen aufgrund der vermeintlich von Hegels Geschichtsphilosophie geprägten Annahme, das Wirkliche sei das Vernünftige und 263

Siehe 303. In dieser Textpassage zeigt sich die deutliche Absage an Hegels Fortschrittsdenken und die problematische These vom Ende der Geschichte.

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Fortgeschrittene, auch den je aktuellen Erfolg von Egoismen. Auch dieser „Götzendienst des Thatsächlichen" (HL 309) fördert seiner Ansicht nach die moderne PseudoKultur, die zunehmend von der „Selbstsucht der Erwerbenden" dominiert wird. 264 Der Dienst der Historie sowohl für den geistlos-selbstzerstörerischen als auch für den intelligent-dauerhaften Egoismus, der die kapitalistisch-liberalistischen Strömung kennzeichnen soll, verhindern folglich die Förderung der Kultur, wie sie von Nietzsche bestimmt wird, denn sie marginalisieren die seines Erachtens kulturkonstituierenden, höheren Formen der Selbstüberwindung. 265 In der Historienschrift demaskiert Nietzsche somit das Fortschrittspathos der modernen, unkontrollierten Geschichtswissenschaften, die seines Erachtens zu Unrecht den modernen, geschichtsbegeisterten Menschen als Gipfel der Gerechtigkeit oder als Sinn der Geschichte interpretieren, als Symptom der „historischen Krankheit".

III. 3. 3 Kritik des Nationalismus Nietzsches Suche nach den wirkungsmächtigen Götzenbildern seiner Zeitgenossen läßt ihn außer im Populärdarwinismus und Historismus auch im weit verbreiteten Nationalismus einen bedeutenden Schrittmacher des modernen Fortschrittsoptimismus erkennen. Die nationalistische Euphorie in Deutschland bildet seines Erachtens ein hervorragendes Beispiel für den von ihm kritisierten „Götzendienst des Thatsächlichen". Kritisch schildert Nietzsche wiederholt die opportunistisch-uniforme Begeisterung für den deutschen Sieg im deutsch-französischen Krieg 1870/71, der von seinen Landsleuten als Triumph der deutschen Kultur bewertet wird und von dem Fortschritte auf den verschiedensten Gebieten erwartet werden. „... um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilierend nachzugehen." (DS 159)

Mit der Gründung des Deutschen Reiches, so seine Interpretation in der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, glaubt das oberflächlich-optimistische Philistertum, die pessimistisch-tragische Philosophie widerlegt zu haben. Schließlich huldigt der Philister seines Erachtens der „Thatsache", „dass seit ein paar Jahren die Welt corrigiert sei" (SE 364). Mit diesen Worten knüpft Nietzsche an die Charakterisierung des Fortschrittsglaubens des „Sokratismus" an, der im Tragödienbuch als Glaube an die „Correktur der Welt" (GT 115) bezeichnet wird. 266

264

SE 387. Nietzsche wiederholt in diesem Kontext seine vehemente Kritik an der kapitalistischliberalistischen Kulturpolitik, die er zuvor bereits in den Basler Bildungsvorträgen prononciert referiert hat.

265

Siehe dazu Kapitel III.4.3. Der Sokratismus erkennt allerdings in einem Wissensfortschritt das Mittel für eine derartige „Correktur", während der deutsche Nationalismus in der Reichsgründung das entscheidende Mittel sieht.

266

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Nietzsches alternative Beschreibung des deutsch-französischen Verhältnisses und seine kritischen Anmerkungen zum deutschen Kriegsgewinn, die zu Beginn der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung und somit an prominenter Stelle stehen, können gegenüber der öffentlichen Meinung im Deutschen Reich als Affront bewertet werden. Entgegen dem nationalistischen Pathos seiner Zeit und seinen eigenen, anfanglichen Hoffnungen auf einen deutschen Sieg im Krieg von 1870/71, die auch im Tragödienbuch noch anklingen, warnt Nietzsche nun vor den möglichen negativen Folgen des Kriegsgewinns für die Kultur.267 Während er in seinem Nachlaß und in seinen Briefen bereits seit Ende 1870 konstatiert, daß der „deutsche Eroberungskrieg... die Zukunft unserer deutschen Cultur... gefährdet" (KSB 3/164), oder auch von der „abscheuliche(n) deutsche(n) Kultur" (KSA 7/480) spricht, so verkündet er in der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung erstmals öffentlich seine Distanz zu der imperialistisch-nationalistischen Politik Deutschlands. Nietzsche steigert dieses unzeitgemäße Urteil noch, wenn er nicht nur die Dominanz der französischen Kultur konstatiert, sondern in Anlehnung an Goethe auch von der deutschen Barbarei spricht.268 Angesichts der verbreiteten Erwartungen, die an die deutsche Einheit und Staatsgründung geknüpft werden, verweist Nietzsche auf die bisherige Geschichte, in der derartige Ereignisse noch niemals dauerhaft die menschlichen Verhältnisse verbessert hätten. 69 Seine Kritik an dem nationalistischen Fortschrittspathos richtet sich vor allem gegen die Gleichsetzung von militärisch-politischem und kulturellem Erfolg, die eine bedrohliche Vermengung von zwei unterschiedlichen Sphären darstelle. Gefährlich ist diese Vermengung nach Nietzsche, weil die Begeisterung für die siegreiche Nation negative Folgen für die Kultur haben, und der mit dieser Begeisterung einhergehende Glaube an eine kulturelle Dominanz des deutschen Geistes deren gegenwärtige Mängel verdecken kann. „Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich drein zieht ist vielleicht die schlimmste... der Irrthum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe... Dieser Wahn ist höchst verderblich... weil er im Stande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reiches'" 270 267

In dem 1873 verfaßten Mahnruf an die Deutschen präsentiert sich Nietzsche noch als „Warner", der „die Wohlfahrt und die Ehre des deutschen Geistes und des deutschen Namens" anstrebt (KSA 1/893). Seine hier geäußerten machtpolitischen Forderungen unterscheiden sich von den Ansichten seiner Zeitgenossen aber durch die außerordentlich starke Betonung des kulturellen Blickwinkels. Die Sorge um die Kultur läßt ihn schließlich zunehmend auf Distanz zu nationalistischen Forderungen gehen.

268

Siehe DS 164. Nietzsche zitiert in diesem Kontext Goethes Äußerung an Eckermann vom 3. Mai 1827. SE 365. In diesem Kontext verweist Nietzsche auch allgemein auf die Grenzen der Politik, wenn er die rhetorische Frage stellt: „Wie sollte eine politische Neuerung ausreichen, um die Menschen ein für alle Mal zu vergnügten Erdenbewohnern zu machen?". Allerdings wird das Ziel einer dauerhaften Steigerung des Vergnügens Aller von Nietzsche entschieden abgelehnt.

269

270

DS 159/160. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch seine Kritik an der öffentlichen Meinung, die den „Wahn" des mediokren Philistertums widerspiegeln soll. Die negative Bedeutung der

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Die kriegerisch-imperialistischen Bestrebungen werden von ihm ebenso abgelehnt wie die Regierung von militärischen Gewaltherrschern, die zusammen mit den kapitalistischen Strömungen als die „gröbsten und bösesten Kräfte" (SE 368) gebrandmarkt werden. Diese Distanzierung vom Nationalismus ist vor allem eine Reaktion auf die Entwicklung im Deutschen Reich. Die Politik des Reiches sowie der hohe Stellenwert der ökonomischen und militärischen Fragen in Deutschland entsprechen keinesfalls Nietzsches anfanglichen Hoffnungen. Denn die Priorität der nationalistischen Ziele lähmt seiner Ansicht nach die wünschenswerte Entfaltung der kulturellen Kräfte, wobei er insbesondere die Behinderung der tragischen Kunst und Philosophie hervorhebt. Entscheidend für Nietzsches Ablehnung des Nationalismus ist die Überlegung, daß mit der Wertschätzung der Nation als höchstem Wert die Ausbildung der genialen Einzelnen diesem Wert untergeordnet wird. Die Bedürfnisse der großen Individuen gelten gegenüber dem Wohl der Nation als sekundär, das Kollektiv steht höher als der Einzelne. So kann das Individuum im Notfall auch für den Fortschritt der Nation geopfert werden, was für Nietzsche keinesfalls akzeptal ist, weil seines Erachtens mit dem Primat der Nation die bereits zitierte „Exstirpation des deutschen Geistes" droht. Zwar bilde der Staat die Grundlage des Zusammenlebens, aber er dürfe nicht zum obersten Zweck werden. Was Nietzsche mit der Rede von der „Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,deutschen Reiches'" konkret meint, zeigt seine Beschreibung des aktuellen Zustande der Philosophie in Deutschland. Aufgrund drohender Repressionen sollen die philosophischen Gelehrten nicht über eine oberflächliche Auseinandersetzung mit philosophischen Fragestellungen hinauskommen, die dem Ernst der Themen nicht angemessen sei. Da diese Philosophie ohne Wirkung auf das Leben und Handeln des modernen Menschen bleibt, führt sie gemäß Nietzsches Interpretation schließlich zur Resignation der begabten und talentierten Einzelnen. „Alles moderne Philosophiren ist politisch und polizeilich, durch Regierungen, Kirchen, Akademien, Sitten und Feigheiten der Menschen auf den gelehrten Anschein beschränkt: es bleibt beim Seufzen ,wenn doch' oder bei der Erkenntnis ,es war einmal'." 271

In dieser Textpassage wird ein wichtiger Grund für die von ihm diagnostizierten kulturellen Defizite des Deutschen Reiches angegeben: Es fehlt der pluralistische Freiraum. In der Tradition von Kant kritisiert Nietzsche hier die fehlende Freiheit, sich seines Verstandes bedienen zu können. 272 Denn ohne ein bestimmtes Maß an Freiheit ist seines öffentlichen Meinung wird von Nietzsche in zahlreichen Textpassagen betont. So wird sie beispielsweise in der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung als „private Faulheit" (SE 338) gebrandmarkt. 271

HL 283. Siehe auch SE 411, w o Nietzsche die Freiheit als zentrale Bedingung der Entwicklung des philosophischen Genius bestimmt.

272

Nietzsche wirft Kant allerdings vor, daß er gegenüber dem Staat „rücksichtsvoll, unterwürfig" ( S E 4 1 4 ) gewesen sei. Kant hätte dagegen wahrscheinlich die kulturaristokratischen Überzeugungen Nietzsches abgelehnt. Trotz aller Differenzen der beiden Denker bleibt jedoch die gemeinsame Kritik an der Gegenaufklärung zu beachten. Ihr aufklärerisches Engagement richtet sich dabei nicht allein gegen staatliche Repressionen und Restriktionen, sondern auch gegen menschlichallzumenschliche Faulheit und Feigheit.

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Erachtens eine Entfaltung und Ausbildung der geistigen Begabungen und Talente nicht möglich. Gegenüber der zeitgenössischen Überschätzung und quasireligiösen Verehrung der Nation, die eine fortschreitende Abschaffung der Übel eines Volkes initiieren soll, versucht Nietzsche demnach die Übel des Nationalismus aufzuzeigen. Angesichts seiner oft „kriegerischen" Texte und deren vielfältigen Fehldeutungen bleibt zu betonen, daß Nietzsche sich deutlich vom imperialistischen Nationalismus seiner Zeit distanziert.

III. 3. 4 Anmerkungen zu Nietzsches Kritik an den „Götzenbildern" des Philistertums In den Unzeitgemäßen Betrachtungen wird der moderne Fortschrittsglaube als zeitgemäßes, von bestimmten Bewegungen beeinflußtes Götzenbild dargestellt. Es bleibt zu fragen, ob Nietzsches Kritik am Darwinismus, Historismus und Nationalismus tatsächlich bedeutende, auf das damalige Fortschrittsdenken einwirkende Strömungen trifft und ob diese überzeugend widerlegt werden. Zahlreiche Texte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dokumentieren den Einfluß der Theorien von Lamarck und Spencer sowie vor allem der Evolutionstheorie von Darwin auf die Fortschrittsvorstellungen seiner Zeit. Zurecht erkennt Friedrich Rapp in Darwins Schrift Über den Ursprung der Arten „einen entscheidenden Impuls" für das moderne Fortschrittsdenken.27 Bei Nietzsches zahlreichen Bemerkungen zur Evolutionstheorie ist zwischen seiner Auseinandersetzung mit den Thesen Darwins und seinen Angriffen auf eine verbreitete Rezeption Darwins, die er exemplarisch bei Strauß untersucht, zu unterscheiden. Im frühen Nachlaß hat sich Nietzsche vereinzelt auch ausdrücklich positiv zu Darwin geäußert, allerdings sind diese zumeist knappen Äußerungen selten konkret. Keinesfalls rechtfertigen sie die problematische Deutung von Werner Stegmaier, der Nietzsche als „entschiedenen Darwinist in allen Phasen seines Schaffens" kennzeichnet.274 Zwar verteidigt Nietzsche ähnlich wie Darwin die Idee der Prozessualität gegenüber dem teleologischen Denken und sympathisiert mit Darwins „Gesetz der individuellen Verschiedenheit" (DS 196), aber die Überzeugungen, daß die kämpferische Daseinssicherung der zentrale Lebenstrieb sei und die Selektion durch den Grad der Anpassungsfähigkeit bestimmt werde, werden von ihm nicht geteilt. „Nicht Kampf um's Dasein ist das wichtige Princip! Mehrung der stabilen Kraft durch Gemeingefuhl im Einzelnen, Möglichkeit zu höheren Zielen zu gelangen, durch entartetende Na-

273 274

Rapp (1992) S. 78. Werner Stegmaier: Darwin, Darwinismus, Nietzsche. In: N-St 16, S. 269. In der zweiten Jahreshälfte 1872 schreibt Nietzsche die in der Diskussion um Nietzsches Verhältnis zu Darwin häufig zitierte Bemerkung nieder: „Die entsetzliche Consequenz des Darwinismus, den ich übrigens für wahr halte" (KSA 7/461). Leider fuhrt Nietzsche in diesem Zusammenhang nicht näher aus, wie er den Darwinismus bestimmt. Seine auf diesen Satz folgende Kritik an dem Glauben an ewige Qualitäten scheint den Darwinismus hier vor allem als Anti-Essentialismus zu deuten. In einem weit umfangreicheren Nachlaßtext wird der Darwinismus drei Jahre später dagegen als „Philosophie für Fleischerburschen" (KSA 8/259) desavouiert.

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turen und partielle Schwächungen der stabilen Kraft. Die schwächere Natur, als die edlere wenigstens freiere, macht alles Fortschreiten möglich." 275

Im Unterschied zu Darwin sind für Nietzsche nicht die robusten, anpassungsfähigen Naturen, sondern die anfalligen von höchster Bedeutung. Betont sei in diesem Kontext, daß Nietzsche explizit die positive Möglichkeit des überindividuellen „Fortschreiten(s)" erwähnt. Während die Theorie Darwins von Nietzsche bereits in seiner Basler Zeit mit Interesse aufgenommen und ambivalent bewertet wird, so lehnt er die pseudowissenschaftliche Ideologie des Darwinismus vehement ab, da diese die Thesen Darwins lediglich zu ihren mediokren Zwecken mißbraucht. Auch mit der Kritik des Historismus trifft Nietzsche ein wichtiges Phänomen seiner Zeit, die nach Herbert Schnädelbach durch die „kulturelle Führungsrolle der Geschichte" geprägt ist und sich durch einen „Kult des historischen Bewußtseins" auszeichnet. 276 Allerdings ist diese Kritik nicht mit einer allgemeinen Absage an die Historie zu verwechseln, was beispielsweise verschiedene Aussagen von Karl Schlechta oder Herbert Schnädelbach vermuten lassen. 277 Mehrfach betont Nietzsche ausdrücklich die Relevanz der Historie für das Leben. So wird von ihm die Geschichtlichkeit als ein konstitutives Moment des handelnden Menschen gedeutet, dessen Zielsetzungen für sein künftiges Handeln immer durch spezifische Überlieferungen und Erinnerungen beeinflußt werden. 278 Entscheidend ist für Nietzsches Beurteilung der Geschichte vor allem, ob der historische Sinn die praktische Kraft eines Individuums fördert oder lähmt, also positive oder negative Wirkungen auf das Leben des Einzelnen ausübt. Als ein zentrales Problem der unkontrollierten Historie seiner Zeit erkennt Nietzsche zu Recht ein überzogenes Objektivitätsideal. Dieses von der Geschichtswissenschaft als entscheidender Erkenntnisfortschritt angestrebte Ideal erfordert eine fortschreitende Ausweitung der Forschung, wobei die Gefahren einer Schwächung des modernen Men275

KS A 8/258. In der zweiten Jahreshälfte 1972 hat Nietzsche dagegen die Bedeutung der darwinistischen Vorstellung einer Auslese zugunsten des Kräftigeren noch verteidigt. So schreibt er: „Auch bei dem Bilderdenken hat der Darwinismus Recht: das kräftigere Bild verzehrt die geringeren" (KSA 7/448).

276

Schnädelbach (1984) S. 79. In dem Aufsatz zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Historie behauptet Karl Schlechta, Nietzsche habe „im großen und ganzen - bis zum Jahre 1875 etwa - die .Historie', vorzüglich die extreme Historie, den ,Historismus', verneint, weil sie Ausdruck eines nihilistischen Triebes ist" (ders.: Nietzsches Verhältnis zur Historie. In: Der Fall Nietzsche. München 1958, S. 58). Schnädelbach bezeichnet die zweite Unzeitgemäße Betrachtung als ein „polemisches Plädoyer fur die Barbarei der Geschichtslosigkeit" (ders.: Geschichtsphilosophie nach Heget. Freiburg/München 1974, S. 81).

277

278

Gleich im ersten Kapitel der Historienschrift wird die Historie von ihm ausgezeichnet, denn „erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen" (HL 253). Martin Heidegger würdigt bereits in Sein und Zeit, also vor der extensiven Beschäftigung mit Nietzsches Schriften, daß dieser die Bedeutung der Historie für das Leben aufgrund seiner Einsicht in die Geschichtlichkeit des Daseins erkannt hat (ders.: Sein und Zeit. Tübingen 1986, S. 396 f). Ausführlich behandelt Hartmut Schröter das Verhältnis von Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit und Tätigkeit in seiner Dissertation zur Wissenschaftskritik Nietzsches. Siehe Schröter (1982) S. 208 ff.).

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sehen durch die Hypertrophie des historischen Sinns übersehen werden. Außerdem ist eine vollständige Erfüllung dieses Ideals nicht möglich, weil der Mensch, der immer innerhalb eines bestimmten geschichtlichen Zusammenhangs steht, keine völlig neutrale, überhistorische Perspektive einnehmen kann. Der vergebliche Versuch, dieses Objektivitätsideal zu erfüllen, kann aber eine Entfremdung gegenüber den geschichtlichen Ereignissen bewirken. 279 Zudem können aufgrund der bereits angedeuteten gegenseitigen Beeinflussung von Geschichtsbewußtsein und praktischem Verhalten bei einem Übermaß an Historie die individuellen Handlungsantriebe gelähmt werden. 280 Allein eine Geschichtsschreibung, die den künstlerisch-perspektivischen Aspekt allen Lebens berücksichtigt und damit auch auf ihre eigenen Grenzen achtet, wird sich nicht selbst überschätzen und einen Nutzen für das Leben darstellen. Den Einzelnen wird die Geschichte angemessen fördern, wenn durch einen entsprechenden Umgang mit den vergangenen Ereignissen die höchste Anspannung und Selbstüberwindung stimuliert werden. Auch die Tugend der Gerechtigkeit wird sich erst durch die Kenntnis der Pluralität von Perspektiven und ihren jeweils spezifischen Rangordnungen entwickeln können. Entgegen Nietzsche erscheint mir deshalb die Offenbarung der Bedeutung der Partikularinteressen von Einzelnen, Gruppen und Kulturen in der Geschichte weniger gefahrlich für die Tugend der Gerechtigkeit als die Instrumentalisierung der Historie durch verkappte Partikularinteressen. 281 So kann beispielsweise ein Übermaß an Historie, das über die begrenzt-sinnvolle Auseinandersetzung mit der Geschichte hinausgeht und damit die Selbsterkenntnis und -entfaltung der Individuen verhindert, gezielt instrumentalisiert werden, um spezifische Partikularinteressen zu fordern, beispielsweise um der „Vorbereitung auf die Erfolgspraxis der Industriegesellschaft" zu dienen. 282 Denn die Konfrontation des Menschen mit einer überwältigenden Masse an historischen Daten, die dieser nicht angemessen zu verarbeiten vermag, fuhrt zu einem Orientierungsverlust, der von vermeintlichen Autoritäten systematisch ausgenutzt werden kann. Auch Nietzsche selbst scheint mir ein wichtiger Aufklärer über die Bedeutung der Partikular-

279

Diese negative Entfremdung ist zu unterscheiden von einer natürlichen Entfremdung des Menschen vom Augenblick durch seine Erinnerung. Volker Gerhardt hat die konstitutive Bedeutung der natürlichen Entfremdung für den Menschen herausgearbeitet (ders.: Geschichtlichkeit bei Hegel und Nietzsche. In: Nietzsche und Hegel. Würzburg 1992, S. 40).

280

Dieter Jähnigs Interpretation von Nietzsches Objektivitätskritik konzentriert sich vor allem auf Nietzsches Vorwurf, die modernen Geschichtswissenschaften begegnen den geschichtlichen Ereignissen unangemessen (ders.: Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Köln 1975, S. 79). Dabei erwähnt Jähnig nicht, daß Nietzsche auch ausdrücklich vor der Gefahr einer ausufernden Suche nach Möglichkeiten einer gerechten Begegnung mit der Vergangenheit warnt, weil diese das menschliche Handeln blockieren kann.

281

Nietzsche warnt davor, dem „Volk" die Bedeutung der Partikularinteressen in der Geschichte zu enthüllen, weil dieses gemäß seiner geistesaristokratischen Haltung zu barbarischen Katastrophen fuhren würde (HL 320). Ähnlich wird auch schon in der Geburt der Tragödie vor der Aufklärung des Volkes über die Interessen der Geistesaristokraten gewarnt (siehe GT 117). Dagegen erscheint es mir weder möglich noch sinnvoll, die Bedeutung der Partiklarinteressen zu verheimlichen.

282

Hartmut Schröter (1982) S. 263 ff..

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interessen in der Geschichte zu sein, wenn er seine Kritik am vermeintlich selbstlosen Fortschrittsdenken und am „Götzendienst des Thatsächlichen" veröffentlicht. Treffend karikiert Nietzsche den Fortschrittsoptimismus der Gründerzeit und die verbreitete Euphorie über die vermeintliche Dominanz des deutschen Geistes, die beispielsweise die Geschichtswerke Heinrich von Treitschkes oder Heinrich von Sybels dokumentieren. Statt einer von ihm einst erhofften kulturellen Erneuerung Deutschlands erlebt er in den Siebziger Jahren die Geburt des deutschen Nationalstaats, in dem nicht kulturelle, sondern ökonomische und machtpolitische Ziele oberste Priorität haben. So verwundert es nicht, daß Nietzsche, auch beeinflußt durch die schweizerische Außenperspektive und die kritischen Äußerungen Jacob Burckhardts zur Reichsgründung, sich zunehmend von der deutschnational geprägten Kultur distanziert. Mit Theodor Schieder kann Nietzsche als ein bedeutender, aber kaum gelesener Kritiker des nationalistischen Fortschrittstaumels gedeutet werden. „So wird Nietzsche einer der Wortführer der geistigen Opposition gegen das junge Reich, die ein Symptom dafür gewesen ist, daß die Hegeische Philosophie ihre Ausstrahlungskraft verloren hatte... Kunst und Philosophie kehrten sich vom jungen Nationalstaat ab und bauten ihr eigenes Reich, nur die Wissenschaft fand im nationalen Staat eine Heimstatt. Nietzsche steht an der Wegscheide dieser Entwicklung, aber er ist nicht der Wortführer einer breiten Bewegung, sondern tut Schritte in immer größerer Vereinsamung." 283

Die von den zeitgenössischen Nationalisten prognostizierte Korrektur der Welt hat es durch die Reichsgründung nicht gegeben und es hat sich später gezeigt, inwieweit Nietzsches Sorge vor einer Gefahrdung der deutschen Kultur durch den geistlosen Nationalismus berechtigt gewesen ist. Ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung erlebte die Welt keinen nationalen Fortschritt, sondern den von Nietzsche befürchteten Rückschritt, die Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,deutschen Reiches'. Allerdings mündet Nietzsches Distanzierung von der nationalistisch-politischen Euphorie in Deutschland, die sich letztlich in einer bloßen Affirmation der faktischen Verhältnisse erschöpft, nicht in eine apolitische Gleichgültigkeit. Vielmehr fuhrt seine Sorge um die künstlerisch-tragische Kultur zu einem Engagement, das sich in seinem Kampf gegen die kapitalistischen, sozialistischen und nationalistischen Forderungen seiner Zeit manifestiert. 284 Insofern Nietzsche sich kritisch mit den herrschenden Zeitströmungen auseinandersetzt, um Wege in eine bessere Zukunft zu skizzieren, ist einer späteren biographischen Anmerkung Nietzsches zuzustimmen, in der er die Zeitgemäßheit seines (un)zeitgemässen Denkens konstatiert und sich als „den Modernsten der Modernen" (KSA 12/165) charakterisiert.

283 284

Theodor Schieder: Nietzsche und Bismarck. Krefeld 1963, S. 7/8. Ottmann betont die Spannung von politischer Utopie, Überpolitik und Apolitie bei Nietzsche, ohne jedoch herauszuarbeiten, daß auch dessen vermeintlich apolitische Distanzierung von der Politik eine politische Haltung gegenüber einer seiner Ansicht nach handlungsschwächenden Partei-Politik darstellt. Siehe Ottman (1987) S. 48.

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(UN)ZEITGEMÄßE GEDANKEN ÜBER DEN FORTSCHRITT

Insofern Nietzsche sich kritisch mit den herrschenden Zeitströmungen auseinandersetzt, um Wege in eine bessere Zukunft zu skizzieren, ist einer späteren biographischen Anmerkung Nietzsches zuzustimmen, in der er die Zeitgemäßheit seines (un)zeitgemässen Denkens konstatiert und sich als „den Modernsten der Modernen" (KSA 12/165) charakterisiert.

III. 4

(Un)zeitgemäße Fortschritts Vorstellungen

III. 4. 1 Fortschritt als Handlungsmotiv Ähnlich wie im Tragödienbuch bedeutet die in den Unzeitgemäßen Betrachtungen geäußerte Kritik am zeitgenössischen Fortschrittsoptimismus keine einseitige Absage an die Vorstellung des Fortschritts überhaupt. Vielmehr bezieht Nietzsche sich in seinen veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften aus dieser Zeit auch positiv auf den Fortschrittsgedanken. So wird beispielsweise der wissenschaftlich-technische Fortschritt in der Moderne von ihm nicht ignoriert, sondern ausdrücklich anerkannt, wenngleich er vor dessen ambivalenten Folgen warnt. Im folgenden werden drei wichtige Aspekte seiner positiven Einstellung zum Fortschrittsbegriff herausgearbeitet. Zunächst wird auf die von ihm konstatierte Bedeutung des Fortschritts für das menschliche Handeln eingegangen, ehe in den folgenden Unterkapiteln auf die Bedeutung des Fortschritts im Zusammenhang mit seiner Vorstellung der Selbstüberwindung und seiner Hoffnung auf eine Steigerung des kulturellen Grads abgehoben wird. Zu Beginn der Historienschrift wird im Zusammenhang mit der Kritik an der Hypertrophie der historischen Bildung in der Moderne die Differenz zwischen Mensch und Tier thematisiert.285 Als einen wichtigen Unterschied erkennt Nietzsche das menschliche Vermögen sich zu erinnern, das den Menschen im Gegensatz zum Tier daran hindert, seine gesamten Erlebnisse umgehend wieder zu vergessen. Aufgrund dieser Fähigkeit bleibt der Mensch nicht vollkommen dem Augenblick verhaftet. Erst durch die Möglichkeit der Relativierung des gegenwärtigen Geschehens, der Befreiung vom „Pflock des Augenblicks" (HL 248), eröffnet sich dem Individuum auch die Zukunft als Gestaltungsbereich seines bewußten Handelns. Bei dem Abwägen über den Nutzen und Nachteil der Historie finden sich bei Nietzsche interessante Reflexionen über die eigentümliche Struktur praktischer Vollzüge. Gemäß seiner These sind sowohl das Vergessen als auch das Nicht-Vergessen für den Menschen lebensnotwendig, da sich ihm ohne das Vergessen alles Seiende im Werden auflösen würde, während er ohne Erinnerung auf seine verkümmerten Instinkten angewiesen wäre.286

285

286

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Nietzsche sich von seinen frühen Schriften bis zu seinem geistigen Zusammenbruch immer wieder mit dem Verhältnis Mensch/Tier auseinandergesetzt hat. Siehe dazu HL 253.

(UN)ZEITGEMÄßE FORTSCHRITTSVORSTELLUNGEN

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Von herausragender Bedeutung für den Umgang mit dem Vergangenen ist aus Nietzsches Perspektive die „plastische Kraft" (HL 251) des Menschen, denn sie erlaubt seines Erachtens, die erlebten Ereignisse produktiv anzueignen. Ohne dieses Vermögen muß der Mensch dagegen an seinen negativen Erlebnissen notwendig scheitern, da er das damit einhergehende Leiden nicht zu bewältigen vermag. Das unüberwindbare Leiden dieser Menschen erinnert an die von Nietzsche im Tragödienbuch zitierte griechische Volksweisheit, gemäß der das Allerbeste sei, nicht geboren zu sein, und das Zweitbeste, einen frühen Tod zu erleiden. 287 Allein die Fähigkeit, das Erlebte neu auszulegen und damit zu verwandeln, kann den Menschen nach Nietzsche vor den destruktiven Kräften des leidvollen, ungehemmten Erinnerns retten und die These von der Wünschbarkeit eines frühen Todes widerlegen. Neben der plastischen Kraft ist es das Vermögen des Vergessens, das den gesunden Menschen vor dem Zerbrechen am Vergangenen retten soll. Beide bilden gemäß Nietzsches Auslegung eine flexible Grenzlinie, die für den Menschen lebensnotwendig ist. Während das Vergessen dabei als der primäre Aspekt interpretiert wird, da er eine Grundbedingung des Lebens darstellt, wird die plastische Kraft als der höhere Aspekt gedeutet, weil sie eine Interpretation der faktischen Perspektivenvielfalt ermöglicht, die den höheren Menschen auszeichnet. 288 „Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt..., also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Uebermaasse von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen." (HL 253)

In dieser Textpassage wird die Ambivalenz des Unhistorischen offensichtlich, insofern es dem Menschen einerseits das Leben ermöglicht, es andererseits aber auch verhindern kann, daß der Mensch zum Mensch wird. Im Zusammenhang mit der Analyse der positiven Funktion des Vergessens und der plastischen Kraft, die insbesondere in der Bildung der bereits angesprochenen flexiblen Grenzlinie liegen soll, wird meines Erachtens die Bedeutung der Fortschrittskategorie für das menschliche Handeln deutlich. Die entscheidende Motivation des auf die Zukunft ausgerichteten Handelns ist gemäß der Historienschrift die Aussicht auf das Gelingen einer Handlung. Insofern sich jedes Handeln als ein praktischer Sinnentwurf interpretieren läßt, das ein je spezifisches Gut anstrebt, muß beim Handelnden ein Vertrauen auf das mögliche Erreichen dieses Guts vorhanden sein. Es ist aus Nietzsches Perspektive die flexible Grenzlinie bzw. der „Horizont", wodurch alle handlungshemmenden Aspekte ausgeschlossen werden können und der Handelnde das Vertrauen in sein Handeln gewinnt.

287

Siehe GT 35.

288

In dieser Schrift ist bereits die von Wolfgang Müller-Lauter herausgearbeitete Spannung zwischen dem willenstarken und dem weisen Übermenschen präfiguriert. Siehe Müller-Lauter (1971) S. 130 f.

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„Und dies ist ein allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizonts gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzuschliessen, so siecht es matt oder überhastet zu zeitigem Untergange dahin. Die Heiterkeit, das gute Gewissen, die frohe That, das Vertrauen auf das Kommende - alles das hängt, bei dem Einzelnen wie bei dem Volke, davon ab, dass es eine Linie giebt, die das Uebersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet..." (HL 252)

Das von Nietzsche diagnostizierte „Vertrauen auf das Kommende" beim Handelnden reflektiert meines Erachtens den Sachverhalt, das der Mensch im Handeln immer auf Fortschritte hin angelegt ist. Die Erwartung eines Fortschritts bzw. einer Verbesserung ist die Bedingung, daß der überhaupt gehandelt wird. Unabhängig davon, ob eine Handlung nun tatsächlich einen Fortschritt darstellt, muß der Glaube an einen derartigen Fortschritt eine Handlung begleiten. Nietzsche verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff „Fortschritt" zwar nicht explizit, aber in seiner ausfuhrlichen Analyse des Handelns wird die implizite Fortschrittserwartung des Handelnden beim Handeln offenbar.289 Die plastische Kraft und das Vergessen sind nach Nietzsche die Gralshüter des Handelns, denn sie verhindern, daß die Fortschrittserwartung durch ein Übermaß an Historie hinterfragt und damit das Handeln gehemmt wird. Dagegen soll die ungezügelte historische Wissenschaft den Gegensatz-Charakter des Daseins und damit auch die grausamen Seiten des Werdens offenbaren, die das zum Handeln notwendige „Vertrauen auf das Kommende" unterminieren. Daß „so viel Falsches, Rohes, Unmenschliches, Absurdes, Gewaltsames" das Dasein mitbestimmt, zerstöre die „Illusions-Stimmung" des Handelnden (HL 296). Wie schon im Tragödienbuch verweist Nietzsche auch in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung auf die lebensgründende Bedeutung der Kunst in diesem Zusammenhang. In der Historienschrift wird jedoch deutlicher die von der Kunst erzeugte, implizite Fortschrittserwartung des Handelnden herausgearbeitet und positiv gewürdigt. „... nur in Liebe aber, nur umschattet von der Illusion der Liebe schafft der Mensch, nämlich nur im unbedingten Glauben an das Vollkommene und Rechte. Jedem, den man zwingt, nicht mehr unbedingt zu lieben, hat man die Wurzeln seiner Kraft abgeschnitten:..." 2 9 0

Die bei jedem Handeln anwesende „Illusion" einer Annäherung an ein Gut bzw. an ein sinnvolles Ziel belegt, daß die Kategorie des Fortschritts im menschlichen Leben tief verwurzelt ist. Demzufolge trifft Nietzsches Verwerfung des euphorischen Fortschrittsoptimismus lediglich ein bestimmtes Fortschrittsverständnis, nicht jedoch die Kategorie selbst.

289

Neben der bereits zitierten Wendung von dem „Vertrauen auf das Kommende" ist vor allem die Rede von der „geliebten That" und dem „Recht dessen, was jetzt werden soll" (HL 254) in denen die Fortschrittserwartung des Handelnden sich ausdrückt.

290

HL 296. Im weiterführenden Text erläutert Nietzsche die Bedeutung der Kunst für eine das Leben stimulierende Historie, die von einem „inneren Bautrieb" (ebenda) geführt wird. Von herausragender Relevanz sollen dabei die von der Kunst gestifteten Illusionen sein, die von dem Historismus als Fälschungen denunziert werden.

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Meines Erachtens zeigen Nietzsches handlungstheoretische Überlegungen, daß er die grundlegende Bedeutung der Fortschrittskategorie für den Menschen erkennt, wenngleich er den Begriff in diesem Kontext kaum explizit verwendet.

III. 4. 2 Selbstüberwindung als Fortschritt zum höheren Selbst Eine weitere wichtige Verwendung der Fortschrittsvorstellung in den Unzeitgemäßen Betrachtungen bezieht sich auf die Gesamtheit des Handelns eines Individuums, auf den Sinn seines Daseins. Dieser hängt mit den oben herausgearbeiteten handlungstheoretischen Überlegungen zusammen, insofern die einzelnen, situativen Sinnentwürfe in höhere, umfassendere Sinnentwürfe eingeordnet werden können und letztere erstere beeinflussen. Von grundlegender Bedeutung für die übergeordnete Sinnfrage ist die von Nietzsche diagnostizierte Problematisierung der tradierten Lebenspraxis in der Moderne, aus der eine allgemeine Orientierungskrise resultieren soll. Wie bereits im II. Kapitel ausgeführt wurde, erklärt er diese Krise mit dem Verlust der verbreiteten Anerkennung der Sinnvorgaben der Religion und der Tradition, die eine alternative Bestimmung der Lebensziele der Individuen erfordert.291 Ohne einen a priori fest fixierten Sinn des Daseins als gegeben vorauszusetzen, konstatiert Nietzsche, daß jedem Einzelnen selbst die Aufgabe zuwächst, seinem Leben einen je spezifischen, eigenen Zweck zu geben, für den dieser dann auch selbst verantwortlich ist. So wird der Einzelne von Nietzsche mit der direkten Anrede und dem eindringlichen „Du" aufgefordert, seinen je persönlichen Daseinssinn selbst zu bestimmen. „Wozu die ,Welt' da ist, wozu die ,Menschheit' das ist, soll uns einst weilen gar nicht kümmern... aber wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch, dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein ,Dazu' vorsetzest, ein hohes und edles ,Dazu'." (HL 319)

Es ist somit der Einzelne, an den sich Nietzsche wendet und von dem er zumindest in wenigen Fällen hofft, daß dieser sich selbstkritisch auf sein spezifisches Lebensziel besinnt, anstatt sich wie die Mehrzahl der Menschen von den unterschiedlichsten Tätigkeiten ablenken zu lassen und vor der Auseinandersetzung mit dieser Frage zu fliehen. Auch die Mehrzahl der Menschen hat nach Nietzsche die Möglichkeit, sich auf die Gestaltung des eigenen Sinnentwurfes zu konzentrieren, aber sie vermeidet eine ernsthafte Beschäftigung damit aus Faulheit und überläßt ihre Existenz statt dessen dem blinden Zufall.2 2 Letztlich sollte der Mensch jedoch der Besinnung auf die Verfaßtheit eines erfüllten Lebens und dem Streben nach selbigem nicht ausweichen, da er für sein endliches Dasein nach Nietzsche die alleinige Verantwortung trägt. 291 292

Siehe auch HL 297, SE 367 oder RW 446. Siehe SE 337 ff. Offensichtlich sind die Parallelen zu Kants berühmtem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung9, wenn Nietzsche die Faulheit und Feigheit geißelt, die die Bedienung des eigenen Verstandes verhindern (Werkausgabe. Bd. IX, S. 51 ff.). Wenn mit Kant das „sapere aude!" als Wahlspruch der Aufklärer bestimmt wird, kann meines Erachtens auch Nietzsche als Aufklärer verstanden werden.

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Neben dem eigenen Verschulden hindern den Einzelnen seines Erachtens jedoch oft auch äußere Umstände daran, unabhängig über den Sinn seines Daseins nachzudenken. Es ist bereits auf die vor allem in der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung beschriebene, fatale Konsequenz von einseitigen ökonomischen und staatlichen Zielsetzungen für die Entwicklung des Einzelnen hingewiesen worden, weshalb Nietzsche als Grundbedingung für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem ,Wozu' des individuellen Daseins die Freiheit des Einzelnen fordert.293 Einerseits die Ungebundenheit, die insbesondere durch das Studium des Lebens von freien Geistern gefördert wird, und andererseits die Bindung an hohe Ziele sollen den ernsthaften Sinnentwurf eines Individuums und eine entsprechende Lebensführung ermöglichen. So werden beispielsweise die Persönlichkeiten Schopenhauer und Wagner von Nietzsche als seine entscheidenden Erzieher gewürdigt, die ihn von fremden Meinungen befreien und ihm dadurch ermöglichen, den Weg zu seinem eigenen Wesen zu suchen. Ohne unmittelbar konkret zu werden, präzisiert Nietzsche, was für eine Art von Sinnentwürfen er von den Einzelnen erwartet. Nicht irgendwelche bequemen Ziele, nach denen das mediokre Philisterglück verlangt, sondern ein „hohes" bzw. „edles" Ziel soll sich der Einzelne setzen. Wie erkennt der Einzelne aber, was ein höherer Daseinssinn sein könnte, der gerade seinem spezifischen Wesen entspricht? Nachdem Nietzsche hinsichtlich dieser Frage zum Ende der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung lediglich auf die apollinische Weisheit „Erkenne dich selbst" verwiesen hat, widmet er sich in der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung ausfuhrlicher dem Problem der Sinnfrage. Bereits im ersten Kapitel beschreibt er die Möglichkeit, daß der Einzelne durch die Konzentration auf die förderlichsten und erfülltesten Momente seines bisherigen Lebens den Sinn seines Daseins entdecken kann. „Aber wie finden wir uns selbst wieder?... Die junge Seele sehe auf das Leben zurück mit der Frage: was hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt? Stelle dir die Reihe dieser verehrten Gegenstände vor dir auf, und vielleicht, ergeben sie dir... das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst." (SE 340)

Dieses Grundgesetz des Selbst, das den je individuellen Sinn des Daseins offenbaren soll, gewinnt der Einzelne somit aus der retrospektiven Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die eine mögliche Entwicklung in seinem Leben anzeigen und deren Erkenntnis sein künftiges Handeln wesentlich bestimmen soll. Entscheidend an diesem Grundgesetz ist für Nietzsche, daß es den Einzelnen zur tatkräftigen, lebensstimulierenden Verwirklichung eines höheren Selbst durch die Ausbildung der höchsten Selbsterkenntnis und Schaffenskraft auffordert.294 Es ist der für Nietzsche charakteristische Grundgedanke, daß dieser anzustrebende Fortschritt des Einzelnen, allein durch

293

Allerdings hat diese Freiheit, die von der „Knechtschaft unter öffentliche(n) Meinungen" bedroht ist, bei Nietzsche auch ihre Grenzen in der je spezifischen Begabung und Willenskraft des Einzelnen (RW 425 bzw. 403).

294

So ist meines Erachtens auch Nietzsches Lob fur den historischen Menschen zu verstehen, wenn dieser sich als „Fortschreitende(r)" der „Historie zum Zwecke des Lebens" bedient (HL 256/257). Erst die über die Historie vermittelte Selbsterkenntnis ermöglicht dem Einzelnen sein spezifisches, lebenssteigerndes Daseinsziel zu erkennen.

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die mühevolle Selbstüberwindung erzielt werden kann, die seinem Dasein den höchsten Sinn verleiht. „Vergleiche diese Gegenstände (die bisher verehrten Gegenstände, Anmerkung W.G.Z.), sieh, wie einer den andern ergänzt, erweitert, überbietet, verklärt, wie sie eine Stufenleiter bilden, auf welcher du bis jetzt zu dir selbst hingeklettert bist; denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst." 295

Im Gegensatz zu der allgemeinen Erschlaffung des Philistertums, das immer nur das geringste Maß an Selbstüberwindung anstrebt, soll die ehrgeizige Zielsetzung und das entsprechend leid- und lustvolle Streben nach diesem Ziel zur höchsten, produktiven Anspannung eines Individuums fuhren, die es in seltenen Fällen genial über sich hinaus wachsen läßt. Als heroisch zeichnet Nietzsche die höchste Form der Selbstüberwindung aus, die den Einzelnen sogar die Befriedigung seiner eigenen basalen Bedürfnisse dem hohen Daseinsziel unterordnen läßt. Entsprechend lautet seine emphatische Aufforderung an den Einzelnen und dessen Überlegungen zum Daseinssinn: „Gehe nur an ihm zu Grunde - ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen... zu Grunde zu gehen." (HL 319). Exemplifiziert wird dieser Heroismus in den letzten beiden Unzeitgemäßen Betrachtungen anhand der Entwicklung von Schopenhauer und Wagner, die nach Nietzsche höhere Formen der Selbstüberwindung in der Moderne vorleben und sich ihrem eigentlichen Selbst annähern.296 Obgleich Nietzsche aufgrund der Pluralität der Lebensentwürfe, die sich aus der je unterschiedlichen Geschichte und Veranlagung der Individuen erklärt, nicht einen konkreten Sinnentwurf für alle Individuen bestimmt, so verweisen die Beispiele Wagner und Schopenhauer deutlich auf diejenigen Bereiche, die Nietzsche als besonders sinnwürdig anerkennt - die Kunst und die Philosophie.297 Fraglich ist jedoch, ob die Annäherung an ein höheres Selbst als Fortschritt bezeichnet werden kann, da der Fortschrittsbegriff genaugenommen nur eine prinzipiell endlose Entwicklung beschreibt. In Nietzsches Schriften finden sich ebenso Aufforderungen zur Suche nach dem je bestimmten, angelegten Selbst als auch Ermutigungen zum experimentellen Schaffen eines nicht vorgegebenen, unbestimmten Selbst. 8 Obgleich die Entwicklung zum höheren Selbst ein zielgerichteter, endlicher Prozeß zu sein scheint, kann der Fortschrittsbegriff aus meiner Perspektive jedoch sehr wohl zur Beschreibung dieses Weges verwandt werden. Der Grund dafür liegt in der Offenheit des Handelns und Wissens, die der höhere Mensch in seinem Bestreben, der vielschichtigen Wirklichkeit gerecht zu werden, zu beachten hat. Wolfgang Müller-Lauter hat die fortschrei295 296 297

298

SE 341. Siehe auch HL 328 f u n d RW 496. Siehe SE 373 und RW 474. In der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung bezeichnet Nietzsche „die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und außer uns zu fordern" (SE 382) als die zentrale Aufgabe des Einzelnen. Einige Textpassagen lassen vermuten, daß Nietzsche von einem fest angelegten, bestimmten Selbst ausgeht (ζ. B. HL 333, SE 340, KSA 8/340), während er an anderen Stellen den Einzelnen zu einer infiniten Erzeugung des Selbst im Sinne einer künstlerischen Selbstschaffung aufzufordern scheint (ζ. B. SE 385, KSA 7/730, KSA 8/295).

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tende Ausrichtung des höheren Menschen auf neue, höhere Ziele bei seiner Interpretation von Nietzsches Charakterisierungen des Übermenschen treffend hervorgehoben. „Vielmehr kann es das Ziel nicht für ihn (den Übermenschen, Verf.) geben, weil ihm im Flusse der Zeit die verschiedenartigsten Inhalte als dominierende Ziele gelten können und gelten müssen. Nicht das Hinausgehen in die Inhaltslosigkeit, sondern der wechselnde Gebrauch von einer Überfülle an Inhalten macht das Wesen des Übermenschen aus." 2 9 9

Gerade die fortschreitende Anspannung der individuellen Kräfte des Geistes und der Sinne, und das fortwährende Streben nach höheren Zielen scheinen mir wesentliche Aspekte des von Nietzsche angedeuteten höheren Menschen zu sein.

III. 4. 3 Fortschritt zu einem höheren „Grad der Kultur" In den Unzeitgemäßen Betrachtungen ist die Aufforderung zur Selbsterhöhung maßgeblich verbunden mit einer Hoffnung auf einen „neuen Grad der Kultur" (SE 426), so daß Nietzsches Betonung der Bedeutung der Entwicklung des Einzelnen keine Marginalisierung der Bedeutung des kulturellen Zusammenlebens impliziert.300 Er ist sich vielmehr des Zusammenhangs von individueller und kultureller Entwicklung bewußt, denn erst mit dem Denken und Schaffen der Einzelnen konstituiert sich eine Kultur, und erst durch das Leben in einer Kultur gewinnt der Einzelne seine genuine Bedeutung. Im folgenden wird zunächst dargestellt, welche Leistungen eine Erhöhung der Kultur von dem Einzelnen aus Nietzsches Perspektive fordert, ehe auf seine zentrale Bestimmung der Kultur eingegangen wird. Eine Grundbedingung für die von Nietzsche angestrebte höhere Kultur ist das soeben untersuchte individuelle Streben nach einem höheren Selbst, das einerseits eine Kritik des gegenwärtigen Selbst, und andererseits eine Liebe zum künftigen Selbst verlangen soll. In den, möglichst an genialen Vorbildern orientierten, selbstkritischen und selbstüberwindenden Anstrengungen erkennt Nietzsche die Grundlage einer Entwicklung, die von ihm feierlich als „erste Weihe der Kultur" (SE 385) bezeichnet wird. „Es ist schwer, Jemanden in diesen Zustand einer unverzagten Selbsterkenntniss zu versetzen, weil es unmöglich ist, Liebe zu lehren: denn in der Liebe allein gewinnt die Seele... auch jene Begierde, über sich hinaus zu schauen und nach einem irgendwo noch verborgnen höheren Selbst mit allen Kräften zu suchen. Also nur der, welcher sein Herz an irgend einen grossen Menschen gehängt hat, empfängt damit die erste Weihe der Kultur;" (SE 385)

Von der ersten Kulturweihe wird eine zweite Weihe der Kultur unterschieden, die, aufbauend auf der Erfahrung der individuellen Entfaltung, ein Gespür für die kulturell

299 300

Müller-Lauter (1971) S. 128. Die zitierte Redewendung entstammt einem Zitat von Emerson, das Nietzsche am Ende des letzte Kapitels der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung anfuhrt, um auf die weitreichende Bedeutung eines neuen großen Denkers fur eine Kultur hinzuweisen.

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wertvollen Ansätze einer Zeit verlangt. 301 Neben dem Vermögen zur Selektion soll zudem ein tatkräftiges Engagement für die erkannten hohen Kulturziele die zweite Stufe dieser Entwicklung auszeichnen. Ein höherer Grad der Kultur, der die von Nietzsche kritisierte mediokre Moderne überwindet, verlangt demnach eine ausgebildete Urteilskraft, die die eigenen und die fremden Begabungen richtig einordnet, sowie eine engagierte Förderung der talentierten Individuen. 2 Gemäß der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung fällt die Ausbildung dieser Urteilskraft in den Aufgabenbereich der Philosophie, weil diese zu entscheiden vermag, welche menschlichen Verhältnisse variabel und damit verbesserbar sind. So vermag eine subtilsensible Untersuchung der komplexen, von Gegensätzen durchzogenen Wirklichkeit zu klären, inwieweit bestimmte Prozesse sinnvoll und optimierbar sind. Jenseits eines einseitigen Optimismus oder Pessimismus erhofft sich Nietzsche demnach von der Philosophie Ausblicke auf einen begrenzten Fortschritt, der die variablen Aspekte des Daseins steigert, ohne sich Illusionen über eine Verbesserung der invariablen Aspekte hinzugeben. „Mir scheint dagegen die wichtigste Frage aller Philosophie zu sein, wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestalt haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt loszugehen." (RW 445, vgl. KSA 8/230)

Entscheidend an diesem Bekenntnis zu der Möglichkeit von partiellen Fortschritten ist die Bestimmung des Maßstabs, der eine von Nietzsche erwünschte Verbesserung indiziert. Offensichtlich liegt dieser Maßstab nicht in der naturwissenschaftlich-technischen Beherrschung der Natur, in der Steigerung der ökonomischen Produktivität oder in der nationalistischen Expansion. 303 Im Zentrum von Nietzsches Philosophie steht vielmehr der besonders begabte Mensch und seine individuelle Ausbildung. Entsprechend bezieht sich auch sein Bekenntnis zu einer partiell möglichen Verbesserung der Welt primär auf eine potentielle Steigerung der Kulturleistungen des Einzelnen, die die Anstrengungen zur Überwindung des Selbst und zur fortschreitenden Ausbildung der schöpferischen Kräfte in einem die Produktivität stimulierenden gesellschaftlichen Umfeld erfordert. Zu beachten ist, daß Nietzsches Engagement für einen Erkenntnisfortschritt hinsichtlich der veränderlichen Seiten der Welt nicht eine bloße Akkumulation von Wissen über sich und seine Gesellschaft, sondern einen Zuwachs an folgenreichen, fruchtbaren Wissen anstrebt, denn eine Erkenntnis wird von ihm immer auch nach deren Folgen für das Handeln und Leben bewertet. Allerdings plädiert Nietzsche auch nicht für einen blinden Aktivismus, sondern er fordert das Streben nach dem „wahrhaft Grosse(n)" (RW 497) 301

Siehe SE 386. Gemäß Nietzsches Vorstellung entwickelt sich auf dem Weg zum höheren Selbst ein diagnostisches Instrumentarium heraus, das im „Kampf für die Kultur" (SE 386) genutzt werden soll.

302

Nietzsche benutzt verschiedene Begriffe, um die Erhöhung des Grades der Kultur zu beschreiben. Der Begriff des Fortschritts wird wohl aufgrund seiner Distanz zu den Fortschrittstheorien seiner Zeit kaum benutzt. Wiederholt verwendet er hingegen den Terminus der „Wiedergewinnung der Kultur", womit jedoch keine Rückkehr zu einem vormodernen Idyll anvisiert wird, sondern eine Restitution der verlorenen Bedingungen für die höchste kulturelle Produktivität.

303

Siehe dazu Kapitel III.3.

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unabhängig von dessen kurzfristigen Erfolgsaussichten. Allein die herausragende Produktivität von Einzelnen ist seiner Ansicht nach in der Lage, der tieferen, metaphysischen Bedeutung des Daseins gerecht zu werden. 304 Diese Vorstellung stellt jedoch keine Wiederbelebung seines Programms einer ästhetischen Rechtfertigung des Daseins dar, das er nach dem Tragödienbuch weitgehend aufgibt, sondern sie bezieht sich vielmehr auf eine Überwindung des vorherrschenden Drangs zur kurzfristigen Befriedigung der Partikularinteressen zugunsten der Schöpfung von einzigartigen, wirkungsmächtigen Werken. So ist die Aufgabe des Individuums, eine geniale Produktivität wie diejenige von Sophokles, Piaton, Goethe, Leopardi, Schopenhauer oder Wagner anzustreben bzw. zu unterstützen, weil allein diese nach Nietzsche dem Spiel des Werdens trotzen kann und belebend auf die folgenden Generationen wirkt. „Im Werden ist alles hohl, betrügerisch, flach und unserer Verachtung würdig; das Räthsel, welches der Mensch lösen soll, kann er nur aus dem Sein lösen, im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen." 305

Der Maßstab für die von Nietzsche angestrebten Fortschritte in der Welt liegt folglich in der Fähigkeit zur Erkenntnis der tieferen Bedeutung des Daseins und dem Vermögen dieser Bedeutung gerecht zu werden, so daß die von ihm erhoffte „Verbesserung der veränderlichen Seiten der Welt" sich vor allem auf die Förderung der schöpferischen Kräfte von genialen, über Ihre Zeit hinauswirkenden Persönlichkeiten bezieht. 06 Aus diesem Gedanken eines möglichen kulturellen Fortschritts leitet Nietzsche unterschiedliche Pflichten fur die Individuen ab, da er von der unaufhebbaren Differenz der 307

menschlichen Begabungen überzeugt ist. So fordert er von den außergewöhnlich Begabten, ihre höchsten Kräfte zu mobilisieren, um ihre potentielle Genialität voll auszuschöpfen, während die Minderbegabten ihr Handeln engagiert in den Dienst des Genius stellen sollen. Die bereits angesprochene Freiheit des Einzelnen als Bedingung der Selbstüberwindung ist folglich an das schöpferische Vermögen des Einzelnen gebunden und findet ihre Grenze, wo sie auf die höhere Begabung eines Anderen trifft. Nietzsche verweist sogar ansatzweise auf die Biologie, um seine Forderungen nach einer Stärkung der Bedeutung des Genius in der Gesellschaft zu unterstreichen. Ähnlich wie bei anderen organischen Lebewesen soll auch beim Menschen nicht das Glück Aller, sondern die Ausbildung der besten Einzelwesen das Ziel aller Anstrengungen bilden. 304

305

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Im fünften Kapitel der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung spricht Nietzsche im positiven Sinne von der metaphysischen Bedeutung des Daseins. Die Verwendung des Begriffs Metaphysik ist bei Nietzsche jedoch nicht stringent, so wird beispielsweise in der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung die Metaphysik als Hexe stigmatisiert (SE 199). SE 375. Im Nachlaß verweist Nietzsche auf Pindar, der zum „Steigern des Gegenwärtigen ins Ungeheure und Ewige" fähig gewesen sei (KSA 8/63). In der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung kennzeichnet Nietzsche die monumentalistische Historie durch ihre Forderung, „dass das Grosse ewig sein solle „ (HL 259). Er zitiert dabei seine eigene, bereits in der unveröffentlichten Schrift Über das Pathos der Wahrheit niedergeschriebene Vorstellung, daß die höchsten schöpferischen Leistungen der Menschheit ewig vorhanden sind und eine „Kette" bilden (PW 756). Diese Vorstellung bezeichnet er als den Grundgedanken der Kultur, was er in der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung ähnlich beschreibt (SE 382). Siehe dazu auch Kapitel II.4.

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„Wie gerne möchte man eine Belehrung auf die Gesellschaft und ihre Zwecke anwenden, welche man aus der Betrachtung einer jeden Art des Thier- und Pflanzenreiches gewinnen kann, dass es bei ihr allein auf das einzelne höhere Exemplar ankommt... Eigentlich ist es leicht zu begreifen, dass dort, w o eine Art an ihre Grenze und an ihren Übergang in eine höhere Art gelangt, das Ziel ihrer Entwicklung liegt, nicht aber in der Masse der Exemplare und deren Wohlbefinden... Denn die Frage lautet doch so: wie erhält dein, des Einzelnen Leben den höchsten Werth, die tiefste Bedeutung?... Gewiss nur dadurch, dass du zum Vortheile der seltensten und werthvollsten Exemplare lebst, nicht aber zum Vortheile der Meisten..." (SE 384)

Für Nietzsche ist insbesondere die Freiheit ein Privileg und eine Verpflichtung der höchsten Begabungen, denen sich die Minderbegabten unterzuordnen haben. Während die höhere Kultur maßgeblich auf der Selbstüberwindung des freien Genius aufbauen soll, bilden die Anforderungen der Kultur die Grenze der Freiheit des Einzelnen. Die Kultur verlangt demnach von den Mitgliedern eines Gemeinwesens den Willen zur Selbsterkenntnis und zur angemessenen Einordnung in die Aristokratie des produktiven Geistes. Erst wenn genügend außergewöhnlich begabte schöpferische Individuen sich entfalten, und diese von den Minderbegabten entsprechend wahrgenommen oder zumindest nicht unterdrückt werden, kann eine von Nietzsche erhoffte höhere Kultur entstehen. 308 Es ist die fortschreitende Annäherung an ein „Sich-Entsprechen" von Wissen und Tat eines Individuums sowie von Tat und Empfänglichkeit in einem Gemeinwesen, die Nietzsche als Fortschritt zur Kultur anstrebt (Vgl. RW431). Vor diesem Hintergrund ist auch seine zentrale Bestimmung von Kultur als „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes" (DS 163, HL 274) zu verstehen. Im vierten Kapitel der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung erläutert er diese Bestimmung anhand seiner Diagnose eines kulturgefährdenden Widerspruchs zwischen Inhalt und Form im Deutschen Reich, der sich in den zusammenhangslosen, ungeordneten Bildungsansätzen und der praktischen Unsicherheit der „schwachen Persönlichkeiten" (HL 274) manifestiere. Ein neuer Grad der Kultur erfordert nach Nietzsche die Aufhebung dieses Widerspruchs in der konzentrierten Ausbildung der außergewöhnlich begabten Einzelnen, die als wirkungsmächtige Persönlichkeiten ihre Zeit durch sinnvolle Zielvorgaben und ein entsprechendes Engagement maßgeblich prägen sollen. Erst wenn diese höheren Zielvorgaben sich in dem Verhalten eines Volkes durchzusetzen vermögen und damit der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln, Inhalt und Form, Innen und Außen eines Volkes überwunden wird, kann nach Nietzsche von einem kulturellen Fortschritt gesprochen werden. 309

308

Zur Entstehung des Genius äußert sich Nietzsche im Sommer 1875 dahingehend, daß eine „ungeheure Energie des Willens, auf geistige Bestrebungen übertragen" wird (KSA 8/92). Die Voraussetzung fiir diese Ablenkung (aberration) bilden die gewaltsam-wilden Kräfte des Lebens, die deshalb nicht völlig unterdrückt werden dürfen. Fraglich ist jedoch, inwieweit die von Nietzsche angestrebte, pyramidale Ordnung zugleich die „kräftigste Spannung im Chaos" (KSA 8/93) als Voraussetzung des Genius zulassen kann.

309

Wiederholt fordert Nietzsche dabei eine Beherrschung der Wissenschaften durch sinnvolle Zielvorgaben, da die ungezügelten Wissenschaften zu lebensfeindlichen Konsequenzen fuhren (Vgl. Kapitel II.3 dieser Arbeit).

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Besondere Hoffnungen gründet Nietzsche in diesem Zusammenhang auf eine gezielte Förderung der außerordentlich begabten Menschen in der Moderne, die in früheren Zeiten zumeist Produkte des Zufalls gewesen sein sollen. Mit der wachsenden Einsicht in die Bedeutung der höheren Individuen sollten seines Erachtens konsequenterweise auch angemessene Maßnahmen für deren Entfaltung einhergehen. „... und ebenso leicht sollte doch wohl die Forderung zu begreifen sein, dass die Menschheit, weil sie zum Bewusstsein über ihren Zweck kommen kann, jene günstigen Bedingungen aufzusuchen und herzustellen hat, unter denen jene grossen erlösenden Menschen entstehen können." (SE 384, vgl. SE 387, KSA 8/43)

Bei allen kulturellen Hoffnungen Nietzsches darf jedoch nicht übersehen werden, daß der von ihm erhoffte Fortschritt der Kultur weder linear noch notwendig oder allgemein ist. Sein Ziel ist eine Verbesserung der bedeutenden, veränderbaren Seiten des Daseins, durch die jedoch die unzähligen Widerstände und Rückschritte seines Erachtens ebensowenig abgeschafft werden können wie die grausam-barbarischen Seiten des Menschen.

III. 4. 4 Anmerkungen zu Nietzsches (un)zeitgemäßen Fortschrittsvorstellungen In den vier Unzeitgemäßen Betrachtungen läßt sich trotz der vehementen Kritik am zeitgemäßen Fortschrittsoptimismus auch eine positive Einstellung zur Fortschrittsvorstellung nachweisen. Es bleibt, nach der Plausibilität der oben dargestellten Aspekte dieser positiven Einstellung zu fragen. Von grundlegender Bedeutung scheint mir Nietzsches handlungstheoretische These zu sein, daß die Kategorie des Fortschritts fest im menschlichen Leben verankert ist. Tatsächlich setzt jedes menschliche Handeln voraus, daß mit dem Handeln ein Gut angestrebt wird und die Verwirklichung dieses Gutes einen Fortschritt darstellt. Ohne diese Erwartung einer Verbesserung durch den Akt der Handlung hätte der Mensch überhaupt kein handlungsantreibendes Motiv und würde der Resignation anheim fallen.310 Dabei ist für den Aufbau dieser Erwartungshaltung die Rolle des Vergessens und des Verklärens des Erlebten sicherlich nicht zu unterschätzen, weil ohne die Verarbeitung und Einordnung der unzähligen Erlebnisse eines Individuums das für sein Handeln fundamentale Vertrauen auf das Kommende zerstört werden kann. Der Einwand, bei dieser Annahme einer Verankerung der Fortschrittskategorie im menschlichen Leben sei die im Begriff des Fortschritts enthaltene Idee unablässiger Perfektibilität nicht angemessen berücksichtigt, scheint mir dagegen nicht überzeu310

Nietzsche steht mit dieser These in einer langen philosophischen Tradition, denn bereits Piaton und Aristoteles konstatieren, daß alle Handlungen des Menschen als praktische Sinnentwürfe verstanden werden können, die jeweils ein spezifisches Gut anstreben (siehe Politeia 506 d/e bzw. Nikomachische Ethik 1094 a). Auch bei Piaton und Aristoteles gilt dabei, daß das angestrebte Gut aus der Perspektive des Handelnden als Gut bestimmt wird, während es aus einer anderen Perspektive anders bestimmt werden kann.

(UN)ZEITGEMÄßE FORTSCHRITTSVORSTELLUNGEN

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gend. 311 Zwar ist die einzelne Handlung jeweils auf eine konkrete Verbesserung ausgerichtet, aber mit dem Handeln kommt aufgrund der prinzipiellen Anschließbarkeit und Ergänzbarkeit eines jeden Handlungsvollzugs eine Unendlichkeit in die Welt. So scheint mir Nietzsches zwar nicht explizit, aber immerhin implizit dargelegte Überzeugung, daß der Mensch im Handeln immer auf Fortschritte hin angelegt sei, richtig zu sein. Zentral für den zweiten herausgestellten Aspekt von Nietzsches positiver Einstellung zur Fortschrittsvorstellung ist der Bezug auf die Gesamtheit des Handelns eines Individuums, weil er vom Einzelnen die größtmögliche Selbstüberwindung fordert. Mit dem Gespür für die wesentlichen Entwicklungen in der Moderne erinnert er in diesem Zusammenhang an die Erosion der christlichen Werte und der damit verbundenen Sinnvorgaben, denn in der Moderne ist der Einzelne genötigt, seinen eigenen Sinn des Lebens zu suchen, was sich im 20. Jahrhundert schließlich im allgemeinen, massenhaften Streben nach einer spezifischen Selbstverwirklichung manifestiert. Von besonderer Aktualität sind deshalb die von Nietzsche angeschnittenen Fragen, wie der Einzelne seinen Lebenssinn erkennen und erfüllen kann, sowie die Frage, inwieweit er dabei gefördert werden sollte. Entscheidend an der apollinischen Aufforderung des „Erkenne Dich Selbst", in der auch Sokrates die Vorbedingung aller Tugend erblickt, ist die kritische Konzentration auf die eigene Geschichte, die dem Einzelnen nach Nietzsche seine Stärken und Schwächen bewußt machen kann. Diese Besinnung auf ein mögliches „Grundgesetz des eigentlichen Selbst" ist meines Erachtens ein sinnvoller Weg, auf dem der Einzelne seine Talente und das Ausmaß seiner Kraft, diese Talente auszubilden, kennenlernen kann. Sowohl die Selbstunterschätzung als auch die Selbstüberschätzung vermeidend, kann die Selbsterkenntnis dem Einzelnen seine Möglichkeiten der Steigerung und Reife des Selbst zumindest tendenziell offenbaren. Zurecht betont Nietzsche aber auch die Gefahren des Scheiterns einer derartigen Suche nach dem eigentlichen Selbst, die eine radikale Infragestellung des gegenwärtigen Selbst impliziert und an der Überschreitung der eignen Grenzen zugrunde gehen kann. Gleichwohl scheint mir diese Reflexion eine der besten Möglichkeiten dafür zu sein, daß der Einzelne sein höheres Selbst erkennt. 312 Höchste Anspannung verlangt sicherlich der stets gefährdete Versuch, sein Leben gemäß der anvisierten Selbstüberwindung auszurichten und seinem Charakter Stil zu geben, denn dieser erfordert vom Einzelnen, daß er seinen Daseinssinn mit innerer Konsequenz und Redlichkeit verfolgt, d.h. sich an ein individuelles Gesetz des Selbst bindet, und allen vorhergehenden Gewohnheiten, äußeren Zwängen und inneren Schwächen

311

Mary Anscombe hat meines Erachtens zu Recht daraufhingewiesen, daß Aristoteles Annahme, es gebe genau ein Ende und Ziel aller Handlungsketten, nicht überzeugend ist. Siehe Mary Anscombe: Absicht. München 1986, S. 54 f.)

312

Auch die Kritik, die der späte Nietzsche an der Aufforderung zur Selbsterkenntnis durch den reinen Geist übt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er im Zusammenhang mit der von ihm angestrebten modernen Umwertung der Werte eine „Selbstbesinnung" des Menschen fordert (JGB 51 bzw. 230).

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Widerstand leistet.313 Wieviel Kraft das Streben nach derart hohen Zielen verlangt, veranschaulicht beispielsweise Goethes Vollendung des Faust-Projekts, an dem er fast 40 Jahre arbeitete, was eine eindrucksvolle Überwindung seiner leicht ermüdbaren, vielbegierigen Natur darstellt.314 Gegen moderne egalitaristische Tendenzen, alle Arten der Selbstüberwindung als gleichberechtigt anzusehen, bemerkt Nietzsche treffend, daß es qualitativ unterschiedliche Formen der Selbstüberwindung gibt und deshalb nicht alle gleichermaßen forderungswürdig sind. Gerade diese Überzeugung fuhrt jedoch nach Roland Bouda, der sich ausfuhrlich mit Nietzsches Begriff der Selbstüberwindung auseinandersetzt, dazu, daß Nietzsches utopisches Argument der ersten drei Unzeitgemäßen Betrachtungen verfällt.315 Während Nietzsche sich anfänglich noch an jede junge Seele und deren Fähigkeit, aus sich heraus das Genie zu erzeugen, wende, verweise er zum Ende der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung nur noch auf die genieerzeugende Natur, womit Nietzsche sich einem „Biologismus" annähere.316 Belegt wird diese Interpretation mit einem Zitat, das eine Textpassage jedoch unvollständig wiedergibt. Die ungekürzte Wiedergabe dieser Passage offenbart dagegen die Brüchigkeit der These vom Verfall des utopischen Arguments.3 7 Entgegen der Deutung von Bouda entscheiden in allen vier Unzeitgemäßen Betrachtungen sowohl die unterschiedlichen Anlagen der Einzelnen als auch die vom Menschen veränderbaren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen über die Möglichkeiten einer höheren Selbstüberwindung. Die für Nietzsches Gesamtwerk zentrale Aufforderung, „Werde der, der Du bist", kann meines Erachtens durch ein entsprechendes Umfeld gefördert oder behindert werden, aber die individuellen Anlagen sind letztlich unverfugbar.318 Wenngleich Interpreten den Zusammenbruch einer vermeintlichen Utopie beklagen mögen, überzeugt mich Nietzsches These, daß auch ein optimales Umfeld nicht jeden Menschen zu einem Genie auszubilden vermag. Insofern der Grad einer Kultur von den kulturellen Leistungen der Individuen und deren Rezeption abhängig ist, betont Nietzsche zurecht den Zusammenhang zwischen der gelungenen Selbstüberwindung von Einzelnen und der Überwindung von kulturellem Mittelmaß. Obgleich die Rede von der ersten und zweiten „Weihe der Kultur" et313

Den experimentellen Charakter der von Nietzsche geforderten Selbstüberwindung belegt seine bereits zitierte Aufforderung in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, w o er schreibt: „... versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen..." (HL 319). Nietzsche warnt in einem anderen Zusammenhang aber auch zugleich vor einem „sinnlosen Uebermaass des Experimentirens" in den Wissenschaften (HL 292). Zur Gefahr des individuellen Scheiterns durch die Aporien des radikalen Experimentierens siehe Reinhart Maurer (1984) S. 19 f.

314

Siehe Richard Friedenthal: Goethe. München 1 7 1991, S. 587 f. Friedenthal schreibt über den von Nietzsche verehrten Goethe: „Steigerung, über das Leben hinaus, ist sein Lebensprinzip" (S. 581).

3,5

Roland Bouda: Kulturkritik und Utopie beim frühen Nietzsche. Frankfurt a. M. 1980, S. 86. Ebenda S. 125. Ebenda S. 126. Im weiteren Verlauf des Textes betont Nietzsche ausdrücklich, daß „die Menschheit, weil sie zum Bewußtsein über ihren Zweck kommen kann, jene günstigen Bedingungen aufzusuchen und herzustellen hat, unter denen jene grossen erlösenden Menschen entstehen können" (SE 384).

316 317

318

KSA 8/340. Nietzsche hat diese Aufforderung wiederholt in wichtigen Texten niedergeschrieben (Vgl. ζ. Β. Ζ 263).

(UN)ZEITGEMÄßE FORTSCHRITTSVORSTELLUNGEN

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was pathetisch anmutet, ist die inhaltliche Bestimmung dieser Aspekte überzeugend. Selbstüberwindung einerseits, und kulturelle Urteilskraft und Engagement des Einzelnen andererseits, sind für jede Kultur von grundlegender Bedeutung. Ob in der Steigerung dieser Aspekte die zentrale Verbesserung der als veränderlich erkannten Seiten der Welt erkannt wird, ist dagegen fraglich. Sicherlich kann mit guten Gründen auch anderen Tätigkeiten als dem „Kampf für die Kultur" die höchste Priorität eingeräumt werden. Problematisch ist auch Nietzsches Bestimmung des Fortschritts zur Kultur als Annäherung an die Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes. Zu Recht wendet er sich damit gegen die auch von Goethe angesprochenen Gefahren der Innerlichkeit, die sich der Praxis verweigert, und der Zerrissenheit, die ins Chaos führt. Gleichwohl scheint mir jedoch das Einheitsmoment in dieser Formulierung zu stark betont zu sein, denn alle Lebensäußerungen eines Volkes können nicht von einem einheitlichen Stil geprägt sein, wenn dessen pluralistische Verfaßtheit nicht gewaltsam beseitigt werden soll.31 Es erscheint mir weder möglich noch wünschenswert, daß der Erzeugung des genialen Philosophen, Künstler und Heiligen, was gemäß Nietzsches Interpretation der Grundgedanken der Kultur ist, alles untergeordnet wird. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, daß Nietzsche auch in den Unzeitgemäßen Betrachtungen die Vorstellung von möglichen Fortschritten der Kultur nicht ablehnt, sondern ausdrücklich anstrebt. 20 Seine Annahme, es sei eine Verbesserung von bestimmten Seiten des Daseins möglich, bezieht sich ausdrücklich auch auf den „Grad der Kultur", für dessen Erhöhung er sich mit seinen Vorträgen und Schriften engagiert. Überzeugend ist an seinem Engagement für einen derartigen Fortschritt, daß es gegenüber den linearen Fortschrittsprogrammen der Neuzeit skeptisch bleibt und die Möglichkeit des Scheiterns von Individuen und Kulturen nicht ausblendet. Da die entwicklungshemmenden und kulturfeindlichen Einflüsse nicht fortschreitend abzuschaffen sind, kann es auch in der Zukunft sowohl zu Fort- als auch Rückschritten des Kulturgrades kommen.

319

Eher ist ein einheitlicher Stil in einer kleineren „Genossenschaft" umzusetzen, die in Nietzsches Texten wiederholt angestrebt wird (siehe z. B. KSA 8/48). Hermann Lübbe unterstellt in seiner Auseinandersetzung mit Definition der Kultur treffend, daß „wir mit dieser Definition heute spontan wenig anfangen" können (ders.: Geschichtsinteresse. In: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Hrsg. v. D. Borchmeyer. Frankfurt a. M. 1996, S. 15). Auch wenn Nietzsche Definition in der Abwehr eines „chaotischen Durcheinander aller Stile" (DS 163) im Historismus ihr Recht hat, ist seine Hoffnung auf eine neue Einheit des künstlerischen Stils angesichts des modernen Pluralismus vergeblich.

320

Karl Brose ist einer der wenigen Interpreten, die sich mit Nietzsches Kritik am Fortschritt auseinandergesetzt und sein Fortschrittsdenken angedeutet haben. Allerdings bleiben seine Ausführungen sehr allgemein und behandeln überhaupt nicht Nietzsches zentrale Forderung nach einer Annäherung an einen einheitlichen künstlerischen Stil eines Volkes. Die Komplexität von Nietzsches positiv konnotierten Fortschrittsverständnis wird in Brases Schrift nicht deutlich (ders.: Geschichtsphilosophische Strukturen im Werk Nietzsches. Bern/Frankfurt a. M. 1973, S. 30 f f ) .

130

III. 5

(UN)ZEITGEMÄßE GEDANKEN ÜBER DEN FORTSCHRITT

Zusammenfassung

Die Interpretation von Nietzsches veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften zwischen 1872 und 1876 hat offenbart, daß er sich öfter als in seinen früheren Texten auf die Vorstellung des Fortschritts bezieht, wenngleich die explizite Verwendung des Fortschrittsbegriffs weiterhin eher selten ist. Ebenso wie in der Tragödienschrift ist seine Auseinandersetzung mit dem Fortschritt teils positiv und teils negativ konnotiert, wobei der Begriff bei den expliziten Erwähnungen zumeist negativ gebraucht wird. So diagnostiziert Nietzsche als „Arzt der Cultur" in der Moderne eine philisterhafte Fortschrittseuphorie, die eine permanente allgemeine Optimierung der menschlichen Bedürfnisbefriedigung anstrebt und dadurch die Möglichkeit eines kulturellen Fortschritts verhindert, weil dieser eine Konzentration auf genial-kreative Kräfte verlangt. Um eine Erhöhung des Grades der Kultur in der Zukunft zu ermöglichen, attackiert Nietzsche deshalb einerseits den seines Erachtens kulturgefahrdenden Fortschrittsoptimismus der Philister, und engagiert sich andererseits für angemessene Entfaltungsmöglichkeiten der genialen Individuen. Im ersten Kapitel dieses Teils wurden die von sprachphilosophischen Fragestellungen beeinflußten Frühschriften aus dem Nachlaß Nietzsches untersucht, in deren Zentrum eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Wahrheit steht. Meine Interpretation hat ergeben, daß in diesen Texten verschiedene Wahrheitsbegriffe verwandt werden. So wird von Nietzsche die Rede von einer metaphysisch-absoluten Wahrheit als hochmütig abgelehnt, während die Verwendung eines lebenspraktischen Wahrheitsbegriffs von ihm sinnvollerweise nicht kritisiert wird. Die radikale Ablehnung des Wahrheitsbegriffs durch den Dekonstruktivismus hat sich dagegen nicht nur in bezug auf Nietzsches Texte als unhaltbar erwiesen. Nietzsches Kritik an Hegels Verwendung des Wahrheitsbegriffs und dessen Philosophie der Weltgeschichte ist allerdings wenig überzeugend. Aufgrund der marginalen Kenntnis von Hegels Schriften ist Nietzsches vehemente Ablehnung von dessen Fortschrittsdenken problematisch, denn seine Kritik trifft eher Hegels Epigonen als diesen selbst. Im zweiten Kapitel wurde Nietzsches Auseinandersetzung mit drei wirkungsmächtigen „Götzenbildern" der deutschen Bildungsphilister dargestellt. Die (un)zeitgemäßen Überlegungen zum Darwinismus, zur Hypertrophie der historischen Bildung und zum Nationalismus treffen drei Strömungen, die der Fortschrittseuphorie in Deutschland wichtige Impulse gegeben haben. Vor allem die oberflächliche Adaption von Darwins Schriften, die Nietzsche anhand des Buches von David Strauß exemplarisch untersucht, hat den Glauben an eine fortschreitende Verbesserung der menschlichen Situation auf Erden gefordert. Nietzsche wendet sich überzeugend gegen den Populärdarwinismus, und distanziert sich in relevanten Punkten von Grundannahmen Darwins. Auch die Annahme, der Durchbruch zu einer objektiven, interessenlosen Historie führe in der Moderne schrittweise zu einer höheren Gerechtigkeit, wird von Nietzsche zu Recht kritisch hinterfragt. Ohne die Historie grundsätzlich abzulehnen, warnt er angesichts der zeitgenössischen Euphorie über die historischen Wissenschaften treffend vor einem Übermaß an Historie, das nicht dem Leben dient, sondern die lebensantreibenden Kräfte lähmt. Weitsichtig ist auch seine Warnung vor einem Nationalismus, der einem Volk

ZUSAMMENFASSUNG

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durch die Konzentration auf die Nation als höchsten Wert eine dauerhafte Verbesserung der Lebensverhältnisse verspricht. Es hat sich vielfach gezeigt, wie die Fokussierung auf nationalistische Ziele insbesondere auch im kulturellen Bereich zu Rückschritten gefuhrt hat. Im dritten Kapitel wurden schließlich drei Aspekte von Nietzsches positiver Einstellung zur Fortschrittsvorstellung herausgearbeitet. Anhand der Interpretation von zentralen Passagen der Historienschrift zeigte sich die von ihm angedeutete Relevanz des Fortschritts für das menschliche Handeln. So lassen Nietzsches handlungstheoretische Überlegungen die grundlegende Bedeutung der Fortschrittskategorie für den Menschen erahnen, wenngleich er den Begriff in diesem Kontext kaum explizit benutzt. Eine weitere positive Verwendung der Fortschrittsvorstellung in den Unzeitgemäßen Betrachtungen bezieht sich auf die Gesamtheit des Handelns eines Individuums, auf den Sinn seines Daseins. Obgleich die Entwicklung zum höheren Selbst ein zielgerichteter, endlicher Prozeß zu sein scheint, hat sich gezeigt, daß der Fortschrittsbegriff zur Beschreibung dieses Weges verwandt werden kann, da die prinzipielle Unabschließbarkeit des Handelns und Wissens eine fortschreitende Anspannung der individuellen Kräfte erfordert. Schließlich ist für Nietzsches Auseinandersetzung mit der Fortschrittsvorstellung zu beachten, daß seine an den Einzelnen gerichtete Aufforderung zur Selbsterhöhung maßgeblich mit einer Hoffnung auf einen „neuen Grad der Kultur" verbunden ist, der die Entstehung des Genius fördert. Problematisch ist an dieser Fortschrittshoffnung das Streben nach einer „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes", weil eine derartige Homogenität des Stils kreativitätshemmend sein kann. Dagegen überzeugt, daß er die Vorstellung einer Notwendigkeit und Linearität des kulturellen Fortschritts ablehnt, und statt dessen die Bedeutung des Engagements für die sich wechselseitig stimulierenden individuellen und kulturellen Fortschritte hervorhebt.

IV.

Die Fortschrittskritik des freien Geistes

IV. 1 Vorbemerkung Der Leser, der lediglich Nietzsches frühe Schriften kennt, mag sich bei der Lektüre des 1878 erschienenen Buches Menschliches, Allzumenschliches wundern, denn vieles hat sich gegenüber dem Tragödienbuch und den vier Unzeitgemäßen Betrachtungen geändert. Bereits die Widmung der Schrift an Voltaire, die zu dessen hundertstem Todestag erscheint, und das vorangestellte Motto von Descartes können Erstaunen verursachen, weil sich Nietzsche damit in die Tradition der Aufklärung stellt, die er zuvor oft vehement kritisiert hat. Die Lektüre zeigt auch, daß sich die Form seiner Texte entscheidend gewandelt hat, denn statt eines zusammenhängenden, linearen Textes werden nun in der Tradition der französischen Moralisten kurze Textstücke aneinandergereiht, die vom Leser eine verfeinerte Wahrnehmung und ein synthetisierendes Interpretationsgeschick verlangen. Auch die inhaltlichen Positionen Nietzsches haben sich vielfaltig verändert: Statt der Schwärmerei für Wagner - Schweigen, statt der Verehrung für SchopenhauerKritik, statt der Kunstbegeisterung - nüchterne Analyse, und statt der Warnung vor ungehemmter Wissenschaftseuphorie - Akzentuierung der positiven Aspekte der Wissenschaft. Sehr gut läßt sich dieser Wandel anhand seiner Auseinandersetzung mit der Fortschrittsidee begreifen, die nun häufiger und an exponierten Stellen erwähnt und diskutiert wird. Wenn er den Begriff nun auch explizit positiv konnotiert verwendet, so zeigt sich darin die Befreiung von einer Tabuisierung des Begriffs durch den Pessimismus. Gleichzeitig verdeutlicht sein ambivalenter Bezug zur Fortschrittsidee aber, daß der Wandel keinen Bruch im Werk darstellt, denn Nietzsche knüpft vielfältig an bereits bekannte Inhalte an. Als ein gravierender Einschnitt kann dagegen die Veränderung von Nietzsches Lebenssituation in der Zeit von 1876 bis 1881 bezeichnet werden. Zunächst erlebt Nietzsche, dem im Wintersemester 1876/77 und dem folgenden Sommersemester ein großzügiger einjähriger Urlaub von dem Universitäts- und Schulamt in Basel bewilligt wurde, einen äußerst fruchtbaren Aufenthalt in Sorrent mit seinen Freunden Paul Ree und Malwida von Meysenburg sowie seinem Schüler Albert Brenner. Gemeinsam studieren

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DIE FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN G E I S T E S

und diskutieren sie dort unter anderem Schriften Burckhardts, Thukydides, Piatons, der französischen Moralisten, Stendhals, Afrikan Spirs und Rankes. Trotz dieses Erholungsurlaubs kommt es nach der Rückkehr nach Basel zu einer dramatischen Verschlechterung von Nietzsches Gesundheitszustand, die ihn schließlich zur Aufgabe der Baseler Professur im Mai 1879 nötigt. Oft voller Todesangst ob der grausamen Anfalle, über die er in seinen Briefen ausfuhrlich berichtet, sucht er in den folgenden Jahren ständig nach einem heilsamen Klima und fuhrt eine unstetige, einsame „SpaziergeheExistenz" ( K S B 5/470). Trotz des Leidens an der Einsamkeit glaubt er in ihr eine Bedingung für den Fortschritt seines Philosophierens zu finden, und so schreibt er: „allein sein bringt mich mehr vorwärts" ( K S B 5/426). Als heimatloser Wanderer durch Europa strebt er damit nach der idealen Existenzform des freien Geistes, dessen „Freiheit der Vernunft" (MA 362) die Loslösung von allen geist- und leibfeindlichen Bindungen fordert Aus seiner freigeistigen Perspektive diagnostiziert er die Notwendigkeit einer neuen Wertsetzung in der Moderne, allerdings räumt er „zunächst eine(r) Kritik und Beseitigung des Alten" ( K S A 9/186) Priorität ein. Die Destruktionsarbeit richtet sich in den Schriften und Aufzeichnungen nach 1876 vor allem gegen die moderne Metaphysik und Moral, die dem Menschen seines Erachtens in der Tradition des jüdisch-christlichen Glaubens einen allgemeinen Fortschritt auf Erden verheißen. Mit dieser Kritik werden aber auch die Grundzüge der von ihm erhofften neuen Wertschätzung offenbar. Meine Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsches Fortschrittskritik endet schließlich mit der Interpretation seiner Schriften bis 1881, weil er im Sommer diesen Jahres in der Einsamkeit von Sils Maria von neuen Gedanken überwältigt wird, die eine neue Phase seines Schaffens ankündigen und mit denen er seine eigene ,Lehre' auszuformulieren beginnt, deren Untersuchung den Rahmen dieser Dissertation sprengen. Der vierte Teil dieser Dissertation ist in drei Kapitel untergliedert, von denen die ersten beiden Nietzsches Destruktionsarbeit in vier Unterkapiteln und das letzte seine positiven Bezüge zur Fortschrittsidee in fünf Unterkapiteln thematisieren. Zunächst wird Nietzsches historisch-kritische Absage an die neuzeitliche Metaphysik und das moderne Fortschrittsdenken untersucht, ehe seine differenzierteren Aussagen zur Metaphysik betrachtet werden. Im zweiten Kapitel wird eine Deutung von Nietzsches immoralistisch-psychologischer Moralkritik vorgelegt, die sich mit seiner Ablehnung der absoluten Moral und des Glaubens an einen allgemeinen moralischen Fortschritt auseinandersetzt. Außerdem wird seine Periodisierung der Geschichte der Moral dargestellt und nach einer möglichen Moral seiner Moralkritik gefragt. Schließlich werden im dritten Kapitel Nietzsches Bemühungen um einen Fortschritt aus dem Nihilismus thematisiert. Einleitend wird seine Diagnose der Ambivalenz des modernen Nihilismus untersucht, ehe seine Hoffnung auf eine Überwindung des Nihilismus näher betrachtet wird. Der Fokus der Interpretation ist dabei insbesondere auf Nietzsches Gedanken eines Fortschritts in der Macht, eines Fortschreitens der freien Geister und eines Fortschritts zu einer geistig-leiblichen Aristokratie in der Moderne gerichtet. Eine Zusammenfassung der Fortschrittskritik des freien Geistes beendet diesen vierten Teil.

METAPHYS1SCH-CH1LIASTISCHER FORTSCHRITTSGLAUBEN

IV. 2

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Die Kritik am metaphysisch-chiliastischen Fortschrittsglauben

IV. 2. 1 Die Destruktion der metaphysischen Ideale Mit der Schrift Menschliches, Allzumenschliches I wird Nietzsches bereits länger andauernde kritische Auseinandersetzung mit der überlieferten Metaphysik publiziert. In seiner autobiographischen Rückblende heißt es zu diesem Werk, hier sei „mit einer schneidenden Helle... in die(se) Unterwelt des Ideals hineingeleuchtet" (EH 323) worden. In der Retrospektion wird damit die Bedeutung seines Programms einer radikalen Aufklärung über die dunklen Wurzeln der metaphysischen Ideale hervorgehoben. Bemerkenswert bleibt, daß das sezierende Licht dieser Aufklärung ihm Einsichten in die Metaphysik öffnet, die ihn sowohl zu wiederholten Attacken als auch zu differenzierten Urteilen motivieren. Es gilt, zunächst herauszuarbeiten, was Nietzsche in den mittleren' Schriften unter „Metaphysik" versteht und wieso er sie kritisiert, ehe seine Destruktion der metaphysisch-chiliastischen Fortschrittsvorstellungen untersucht wird. Der ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches setzt unmittelbar mit der kritischen Untersuchung von metaphysischen Überzeugungen und Philosophien ein, die ihn fortan bis zu seinem Zusammenbruch in Turin beschäftigen werden. Gleich im ersten Aphorismus des genannten Buches stellt er der Metaphysik ein modernes historisches Philosophieren gegenüber und konstatiert, daß sie unterschiedliche Antworten auf die Frage nach einer möglichen Genese von „Etwas aus seinem Gegensatz" (ΜΑ I 23, vgl. JGB 16) geben. In sechs daran anschließenden Beispielen, die die Problematik veranschaulichen sollen, werden konkrete „Gegensätze" der theoretischen als auch der praktischen Philosophie angeführt. 321 Wenn Nietzsche im weiteren Textverlauf in der Frage nach dem Verhältnis der Gegensätze eine Anknüpfung an die diesbezüglich unterschätzte Philosophie vor zweitausend Jahren erkennt, dann zeigt sich darin zunächst, daß er selbst in historischen Dimensionen denkt und die antike Philosophie besonders schätzt. Außerdem wird der Metaphysik indirekt eine zweitausend]ährige Herrschaft zugesprochen, denn ihre Antwort auf die genannte Frage soll gerade die strikte Absage an die Möglichkeit einer Entstehung von „Etwas aus seinem Gegensatz" gewesen sein, womit die Frage selbst für lange Zeit ,erledigt' zu sein schien. Zugleich mit seiner knappen Darstellung der Begründung dieser Absage gelingt Nietzsche eine einleitende Annäherung an die Metaphysik, in der zentrale Begriffe seines Metaphysikverständnisses angeführt werden. „Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit (wie Etwas aus seinem Gegensatz entstehen kann, Anm. Verf.) hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus dem Anderen leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des ,Dinges an sich' heraus." (ΜΑ I 23)

321

Offensichtlich knüpft er hier an seinen unveröffentlichten Text Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne an, in dem er den vermeintlichen Gegensatz von Wahrheit und Lüge, Logik und Unlogik, Vernunft und Unvernunft sowie Moral und Unmoral kritisch untersucht.

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DIE FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

Nach Nietzsche stützt die Metaphysik ihre Ablehnung einer Möglichkeit von Übergängen zwischen den Gegensätzen also mit dem Verweis auf eine absolute Differenz von deren Ursprüngen. Dem „Wunder-Ursprung" der höheren Dinge soll ein anderer, nicht näher gekennzeichneter Ursprung der niederen Dinge entgegen stehen, was die absolute Polarität der Gegensätze zementiere. 322 In dem obigen Zitat wird näher ausgeführt, was den „Wunder-Ursprung" aus der Perspektive der metaphysischen Philosophie auszeichnen soll: er entspringt dem Zentrum des „Dinges an sich". Beeinflußt durch die Lektüre von Schopenhauer und Lange entlehnt Nietzsche den letztgenannten Terminus der Transzendentalphilosophie Kants, um damit die metaphysische Vorstellung einer höheren, absolut wahren Welt im Unterschied zur irdischen Welt zu kennzeichnen. 323 Ersteren soll eine feste, unveränderliche Ordnung zugrunde liegen, während letztere sich durch eine plastische, veränderliche Konstitution auszeichnen soll. Dieser Dualismus zwischen einer unbedingt wahren und einer lediglich bedingt wahren Welt soll aber nicht nur für die Philosophie Kants und Schopenhauers, sondern ausdrücklich für die gesamte traditionelle Metaphysik wesentlich sein (Siehe ΜΑ I 36). 324 Mit der Überschrift des ersten Hauptstücks der zitierten Schrift wird von Nietzsche der hohe Anspruch der metaphysischen Philosophie angedeutet: sie glaubt, eine verläßliche Auskunft über die „ersten und letzten Dinge(n)" geben zu können. Bei ihrer Unterscheidung zwischen den höher gewerteten und den weniger hoch geschätzten Dingen orientiert sie sich gemäß seiner Interpretation an dem jeweiligen Ursprung der Dinge, denn in ihm glaube sie, einen absoluten Maßstab für eine Rangordnung zu finden. Die kompetente Erkenntnis und Anwendung dieses Maßstabs beanspruche die Metaphysik nun allein für sich, weil sie über die substantialistische Vernunft verfüge, die die wahre Substanz der Dinge jenseits des Wechsels erkenne. Nur die außerordentliche Erkenntniskraft dieser Vernunft, so der Anspruch, vermag die höhere, wahre Welt zu offenbaren und aus ihr sinnvolle, handlungsanleitende Normen abzuleiten. „Denn metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei;..." ( Μ Α I 43)

Dabei werde angenommen, daß die höhere, ideale Welt gegenüber der irdischen, vergänglichen Welt auch die bessere, anzustrebende Welt sei. Die Intention der metaphysischen Philosophie ist deshalb nach Nietzsche, „die Einsicht in den Ursprung der Dinge" zu gewinnen, weil von dieser Erkenntnis „des Menschen Heil abhänge" (M 51). Mit Menschliches, Allzumenschliches beginnt Nietzsche aber nicht nur, seine Auseinandersetzung mit der traditionellen Metaphysik in den veröffentlichten Schriften 322

In Jenseits von Gut und Böse vermerkt Nietzsche zu diesem Thema: „Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werthe." (JGB 16).

323

Im Tragödienbuch verwendet Nietzsche den Begriff noch affirmativ, um den „ewigen Kern der Dinge" zu bezeichnen, auf den die Tragödie mit ihrem „metaphysischen Tröste" (GT 59) hinweise.

324

V o n herausragender Bedeutung für die dualistische Metaphysik ist nach Nietzsche die Philosophie Piatons. In zahlreichen expliziten und impliziten Bezügen betont er in diesem Zusammenhang dessen Glauben an die absolute Wahrheit und eine „bessere Welt" ( Μ Α II 616, siehe auch Μ Α I 2 1 5 f. und Μ 51, 271, 2 8 3 u. 311). Neben dieser Kritik wird Piatons Philosophie aber auch positiv interpretiert (siehe ζ. Β. Μ 291 f.).

METAPHYSISCH-CHILIASTISCHER FORTSCHRITTSGLAUBEN

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ausfuhrlich darzulegen, sondern er bezieht zu diesem Thema auch deutlich Stellung. Während er sich in der Tragödienschrift und den Unzeitgemäßen Betrachtungen noch mehrfach positiv auf den Begriff, Metaphysik' bezieht, so scheint sich nun seine Position ins Gegenteil gewendet zu haben. 3 5 Denn in allen Schriften seit 1878 finden sich mehr oder minder heftige Attacken auf die metaphysische Philosophie und ihre folgenschweren Unzulänglichkeiten, wovon auch sein , Lehrmeister' Schopenhauer nicht verschont bleibt. Reich ist der Fundus an Vorwürfen, der in den mittleren Schriften von der Feststellung der geistigen Insuffizienz des sich tyrannisch gebärdenden Metaphysikers bis zu seiner Stigmatisierung als überflüssigem Störenfried reicht. In einem Textstück über die „Grundfragen der Metaphysik" wird schließlich lakonisch zusammengefaßt, die Metaphysik sei die „Wissenschaft... welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten" (ΜΑ I 40). Im Zentrum seiner Kritik an der Metaphysik steht deren dualistische Grundannahme einer Polarität der irdisch-vergänglichen und der höheren Welt, die ihn dazu reizt, den Metaphysiker in Anlehnung an Jacob Burckhardt als „Hinterweltler" (ΜΑ II 386) zu apostrophieren. 326 Anknüpfend an seine früheren erkenntniskritischen Einsichten ist Nietzsche die Annahme einer höheren Welt und eines „Wunder-Ursprungs" der absoluten Werte äußerst suspekt, denn die wahre Welt des Dings an sich muß dem Menschen unbekannt sein, da er keinen ,kopflosen', archimedischen Erkenntnisstandpunkt einnehmen kann. „Metaphysische Welt. - Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte... man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein;" ( Μ Α I 29, vgl. FW 626)

Auch wenn nun die mögliche Existenz einer höheren, metaphysischen Welt aufgrund der perspektivischen Verfaßtheit des Menschen nicht absolut zu widerlegen ist, so fordert Nietzsche den Menschen auf, zumindest die metaphysikkritischen Konsequenzen aus seiner spezifischen Verfaßtheit zu ziehen: Aufgrund der begrenzten menschlichen Erkenntnismöglichkeiten sollte auf Aussagen über das Absolute verzichtet werden. Problematisch sei insbesondere der metaphysische Rekurs auf einen „WunderUrsprung", der nicht der irdisch-vergänglichen Welt entstamme. Statt nach derartigen „unzugängliche(n)" Ursprüngen der Dinge zu suchen, sei es folglich ratsam, sich ,nur' auf den Prozeß ihrer Entstehung in der Geschichte zu konzentrieren. 327 Es ist das eingangs angesprochene historisch-kritische Philosophieren, das diese Aufgabe seines 325

Es ist bereits im letzten Kapitel darauf hingewiesen worden, daß der Begriff „Metaphysik" in den Unzeitgemäßen Betrachtungen sowohl positiv als auch negativ konnotiert verwandt wird.

326

Insbesondere Piaton wirft Nietzsche eine Flucht vor der Wirklichkeit zu einer höheren, entsinnlichten Welt vor (siehe Μ 51 u. 271). Bereits in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne untersucht er die Entstehung von Wahrheit und konstatiert die Gewordenheit des Gegensatzes von Wahrheit und der Lüge. So schreibt er: „... denn es entsteht hier zum ersten Male der Contrast von Wahrheit und Lüge" (WL 877 - Hervorhebung vom Verf.).

327

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D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

Erachtens zu bewältigen vermag und das er explizit fordert, ohne dadurch jedoch seine unzeitgemäßen' Bedenken gegen ein Übermaß an Historie aufzugeben. 328 „Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: s o w i e es keine absoluten Wahrheiten giebt. - Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung." ( Μ Α I 2 5 )

Diese historisch-kritische Philosophie, deren Distanz zur metaphysischen Philosophie auch durch die Kennzeichnung als „Chemie" (ΜΑ I 23) hervorgehoben wird, soll in scharfen, akribisch-nüchternen Analysen die Herkunft der metaphysischen Auffassungen offenlegen. Nietzsche selbst gelingt es in zahlreichen Einzeluntersuchungen, die Entstehung von einigen vermeintlich „ewigen Thatsachen" und „absoluten Wahrheiten" kritisch zu beleuchten. 329 Das Ergebnis seiner historischen Sezierarbeit zeigt, daß die Entstehung der von der Metaphysik ausgezeichneten, höheren Werte oft mit den weniger geschätzten Werten zusammenhängt. Wo die metaphysische Philosophie absolute polare Gegensätze konstatiert, werden von der historischen Philosophie vielfaltige Übergänge zwischen den Polen diagnostiziert. Diese von ihm als „Sublimierungen" bezeichneten Übergänge seien oft kaum zu erkennen, und es soll des geübten genealogischen Blicks bedürfen um die wenig geschätzten Ahnen der hochgeschätzten Dinge freizulegen. 330 Auch bei dem reinsten Denken und den feinsten Deduktionen sind gemäß seiner Interpretation noch die ,unreinen' sinnlichen und leiblichen Aspekte aufzuspüren. So sollen sich die hinterweltlerischen Annahmen von absoluten binären Polaritäten und eines „Wunder-Ursprung(s)" der höheren Dinge als „gewohnte(n) Übertreibungen" (ΜΑ I 23) der Metaphysik erweisen, die sich nicht mit einer nüchternen Deutung des Menschlichen, Allzumenschlichen bescheiden kann. Mit diesem ernüchternden Ergebnis verlieren die höheren Werte nach Nietzsche ihren Absolutheitscharakter, und so können sie nicht mehr als das „letzte endgültige Fundament des menschlichen Handelns" dienen. Zwar bedeutet das nicht, daß die höheren Werte nun völlig wertlos sind, aber sie verlieren ihren bisherigen exklusiven Status, der sie unangreifbar erscheinen ließ. Der Fortfall der metaphysisch garantierten Normen, so Nietzsches Diagnose, erschüttert den scheinbar absolut sicheren Grund auf dem der Mensch wandelt und löst bei diesem eine tiefgreifende Verunsicherung aus (Siehe Kapitel IV.4). Die von ihm prognostizierten Konsequenzen der Ergebnisse der historischkritischen Philosophie sollen für die Metaphysik gravierend sein, denn mit der Destruktion des Dualismus der zwei Welten sieht Nietzsche die zweitausendjährige Herrschaft der Metaphysik wanken. Als Folge ihrer Entzauberung verkündet Nietzsche bereits in 328

Sein Engagement für ein historischen Philosophieren (vgl. Μ Α I 2 5 ) bedeutet somit keine Zurücknahme seiner Kritik an einer Hypertrophie des historischen Sinns.

329

Paradigmatisch ist meines Erachtens seine differenzierte Analyse des Substanzbegriffs von Afrikan Spir ( Μ Α I 38).

330

Den Ausdruck „Sublimirungen" verwendet Nietzsche auf der ersten Seite von Menschliches, Allzumenschliches auch, um sich mit diesem Begriff von der metaphysischen Philosophie zu distanzieren (siehe Μ Α I 23). Im Textstück Nr. 6 7 von Der Wanderer und sein Schatten beklagt er, daß die Metaphysik die Übergänge mit Gegensätzen verwechselt ( Μ Α II 582). A u f die Bedeutung des Ausdrucks „Sublimierung" bei Nietzsche hat vor allem Walter Kaufmann wiederholt aufmerksam gemacht. Siehe Kaufmann ( 1 9 8 2 ) S. 2 4 5 ff.

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einem der ersten Kurztexte von Menschliches, der Metaphysik.

Allzumenschliches

die künftige Agonie

„Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zukunft. - Sobald die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollständig sich erklären kann, ohne zur Annahme metaphysischer Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen, hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom ,Ding an sich' und der .Erscheinung' auf... Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unserer Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwicklungslehre der Organismen und Begriffe überlassen." (ΜΑ I 30)

In dieser Textpassage wird von den Entstehungsanalysen der historisch-kritischen Philosophie die schleichende Demontage der dualistischen Metaphysik und ihres Glaubens an absolute Gegensätze erwartet. Schließlich soll sie von effizienteren Wissenschaften abgelöst und damit einfach überflüssig werden. 331 Sind die „Hinterweltler" demnach eine aussterbende Species, und ist die Verwerfung der Metaphysik ein erstrebenswerter Fortschritt? Ehe diese Fragen genauer erörtert werden, sollen Nietzsches Destruktionsversuche der metaphysisch-chiliastischen Fortschrittsvorstellung untersucht werden, denn sie bildet einen wichtigen Angriffspunkt seiner Metaphysikkritik.

IV. 2. 2 Die Defizite des modernen chiliastischen Fortschrittsglaubens Die substantialistisch-dualistische Metaphysik wird in den ,mittleren' Schriften scharf kritisiert, weil sie irrtümlicherweise eine absolute Differenz zwischen höheren, beständigen und irdisch-vergänglichen Werten konstatiert. Von zentraler Bedeutung für das metaphysische Denken der Neuzeit ist nach Nietzsche eine Fortschrittsvorstellung, die eine kontinuierliche Annäherung an einen von höheren Werten geprägten Zustand in der Geschichte annimmt. Seine kritische Interpretation dieser neuzeitlichen Spielform der Metaphysik wird in diesem Unterkapitel thematisiert, während das folgende Kapitel nach alternativen Aspekten von Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik fragt. Gemäß dem Programm der von ihm geforderten historisch-kritischen Philosophie kritisiert er nicht nur die Annahme der neuzeitlichen Metaphysik, ihre vermeintlich absoluten Werte entstammten unmittelbar dem Wesen des „Dings an sich", sondern er fragt auch nach der Herkunft der neuzeitlichen Metaphysik. Eine besondere Bedeutung soll dabei der jüdisch-christlichen Religion zukommen, die von ihm teilweise heftig angegriffen wird. 332 Als einen wesentlichen Grundgedanken des Stifters des Christentums erkennt Nietzsche einen „anrüchigen und laienhaften Glauben an eine Universalmedicin" (ΜΑ II 589), die den Menschen von dem als sündhaft bestimmten Dasein

331

Darauf weisen auch seine Überlegungen zu einer künftigen Abschaffung der religiösen und metaphysischen Bedürfnisse hin (siehe ΜΑ I 48 u. 61). 332 Nietzsches Verhältnis zur jüdisch-christlichen Tradition hat Jörg Salaquarda in einem detailreichen Aufsatz untersucht (ders.: Nietzsche and the Judaeo-Christian-tradition. In: The Cambridge Companion to Nietzsche. Cambridge ( U S A ) 1996, S. 90 ff.). Siehe auch Scholem (1996) S. 121 ff.

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D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

erlösen soll. 333 Die Hoffnung auf ein derartiges Allheilmittel intendiert die Abschaffung des irdischen Leidens, was in dem auf das Zitat folgenden Text durch den Vergleich mit der Extraktion eines schmerzenden Zahns veranschaulicht wird. Wie der Schmerz das Verlangen nach seiner Abschaffung auslöst, so soll auch das Leiden im und am Dasein die Hoffnung auf ein leidfreies Dasein in der Zukunft initiieren. 334 Die christliche Hoffnung auf eine bessere, wahre Welt soll sich demnach aus den vom dem Hoffenden selbst empfundenen „Mängeln" speisen, die durch den Aufstieg zu einem jenseitigen Heilszustand abgeschafft werden sollen. In der Neuzeit diagnostiziert Nietzsche eine entscheidende Veränderung dieses Glaubens an eine umfassende Verbesserung, denn nun wird nicht mehr eine transzendente, sondern eine immanente Überwindung der irdischen Übel erwartet. Nicht Gott schenkt dem sündigen Menschen die Gnade, sondern die Welt ist so angelegt, oder sie wird durch die menschliche Vernunft so eingerichtet, daß ein umfassender kontinuierlicher Fortschritt der menschlichen Situation auf Erden eintritt. Dieser Prozeß wird somit entweder deterministisch oder nicht-deterministisch interpretiert. Beide Interpretationsvarianten deuten die Geschichte als einen universalen Fortschrittsprozeß der gesamten Menschheit zum Besseren, wobei die Menschheit sich auf Erden dem leidfreien Heilszustand entweder endlos annähern oder ihn zu einem künftigen Zeitpunkt erreichen soll. In beiden Fällen muß das Ziel aber bekannt sein, wenn das Fortschrittsdenken nicht blind und orientierungslos bleiben soll. Aus der christlichen Perspektive kann dieses metaphysische Denken als säkular-chiliastisch bezeichnet werden. 35 Die Fortschrittsvorstellungen der neuzeitlich-metaphysischen Geschichtsphilosophien, denen trotz vieler Varianten im Detail die soeben skizzierte Grundstruktur gemeinsam sein soll, werden von Nietzsche äußerst kritisch analysiert. Im folgenden werden drei der von ihm in diesem Kontext wiederholt angeführten Problemfelder näher untersucht. Die säkular-chiliastischen Fortschrittsvorstellungen erwarten eine kontinuierliche Verbesserung der Situation der gesamten Menschheit, womit sie auf die Ideen der Tota333

Mit diesem Begriff knüpft er explizit an das Tragödienbuch an, in dem er den Glauben an eine „Universalmedizin" als ein Charakteristikum des „Sokratismus" herausstellte. In seiner Schrift Vermischte Sprüche und Meinungen betont Nietzsche die Bedeutung des Glaubens an die „Anwartschaft auf das ,bessere Leben'" (ΜΑ II 479) für das Handeln der Christen. Ähnlich schreibt er in der Morgenröthe von der Hoffnung der Christen „auf .unaussprechbare Herrlichkeiten'" (M 317). In einem Textstück aus dem Nachlaß vom Sommer 1880 wird die Herkunft des neuzeitlichmetaphysischen Fortschrittsglaubens in der jüdischen Religion verortet (KSA 9/141).

334

Einen weiteren menschlich, allzumenschlichen Ursprung der Metaphysik erkennt Nietzsche im Traum, der eine „zweite reale Welt" (ΜΑ I 27) suggeriert. Zu den Traum-Aphorismen siehe Hubert Treibers Aufsatz Zur Logik des Traums. In: N-St. 23 (1994).

335

Nietzsche selbst verwendet den Begriff „Chiliasmus" zur Kennzeichnung des Fortschrittsglaubens im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Kants Fakultätsschrift, in der dieser drei Vorstellungsarten der Menschengeschichte untersucht (siehe KSA 12/267 f). Zu Kants Analyse der eudämonistisch-chiliastischen Vorstellungsart siehe diese Dissertation S. 25. Der chiliastische Glaube an ein tausendjähriges Reich der Glückseligkeit beruft sich auf die Offenbarung Johannis und wurde von bedeutenden Interpreten des Christentums wie Origines und Augustinus, scharf verurteilt. Siehe zu dieser Thematik den aufschlußreichen Aufsatz von Reinhart Maurer: Warum in Europa? In: Der Mensch und die Wissenschaft vom Menschen, Innsbruck 1983, Bd. I, 463 ff.

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lität und Linearität rekurrieren. Beide sind bereits im Begriff der „Universalmedicin" implizit enthalten, der eine umfassende und stetige Gesundung aller Menschen propagiert. Die chiliastisch-metaphysische Geschichtsschreibung wird damit zur abschließenden Universalgeschichtsschreibung. Problematisch an diesem Fortschrittsdenken ist nach Nietzsche der implizite Gedanke, die Komplexität und Vielfalt des Geschehens könne vom Menschen erschöpfend erkannt werden. Sowohl der absolute Überblick über den ganzen Geschichtsprozeß, als auch dessen Bewertung nach einem absoluten Maßstab werden von ihm aufgrund des Perspektivismus als unmöglich bewertet. Wenn dennoch dieser Anspruch erhoben wird, so erkennt er darin eine Simplifizierung, die die widerstrebende Vielfalt des Lebens und die Komplexität des historischen Wandels auf eine homogene Entwicklung reduziert. 336 Die vollständige Kenntnis der gegenwärtigen Situation von mehreren Millionen oder gar Milliarden Menschen und der umfassende Vergleich dieser Situation mit den vergangenen und zukünftigen Situationen der Menschheit überschreiten das menschliche Urteilsvermögen. Ein absolut objektives Urteil über den notwendigen Verlauf der Menschheit wäre allein aus einer extramundanen Perspektive möglich, weshalb die menschliche Annahme einer steten Verbesserung der menschlichen Verhältnisse in der Geschichte seines Erachtens nicht überzeugend ist. Allein die bescheidenere Aussage über die Potentialität des Fortschritts erscheint Nietzsche sinnvoll. „Möglichkeit des Fortschritts - ... Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt nothwendig er folgen müsse; aber wie könnte man leugnen, dass er möglich sei?" (ΜΑ I 45)

Zwar verwendet auch Nietzsche den Begriff ,Menschheit' und gibt Urteile über deren bisherige und künftige Entwicklung ab, aber er verdeutlicht zugleich, daß damit kein Absolutheitsanspruch erhoben wird, da auch seine Urteile perspektivische Deutungen sind, die weder der Vielfalt des Geschehens vollkommen gerecht werden, noch auf einen absoluten Maßstab rekurrieren können. Bei seinen Interpretationen von bestimmten Geschichtsprozessen erinnert er zudem an die Verwerfungen, Verschiebungen und Diskontinuitäten in der Geschichte, die eine Betrachtung der Gesamtheit der Menschen als ein homogenes Objekt kaum zulassen. Gegen die Vorstellung einer streng linearen Geschichtskonzeption sprechen seines Erachtens zudem die folgenschweren Rückschritte in der Kultur, die er beispielsweise in der Ablösung der Renaissance durch die Reformation erkennt (siehe ΜΑ I 47). Das blinde Vertrauen in den Fortschritt ist demnach blind hinsichtlich der Grenzen der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten, die keine absoluten Aussagen zulassen und folglich auch niemals den künftigen Verlauf der menschlichen Geschichte mit völliger Sicherheit antizipieren können.

336

Siehe ζ. B. das Textstück Nr. 2 2 2 in Vermischte Meinungen und Sprüche, in dem an den religiösen Vorstellungen kritisiert wird, sie hätten in voneinander unabhängige Prozesse „viel falsche Entwikkelung und Allmählichkeit hineingedichtet" ( Μ Α II 474 f.). Ähnlich wird in der Morgenröthe der Historiker der ,Weltgeschichte' demaskiert: „die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf wirkt" (M 225).

142

D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

Ein weiterer zentraler Punkt von Nietzsches Kritik hängt mit seiner generellen Absage an das teleologische Denken zusammen, die er schon früher andeutet, aber erst in seinen mittleren Schriften vehement vorträgt. Der chiliastisch-metaphysische Fort» schrittsglaube erwartet die schrittweise Realisierung oder zumindest Annäherung an einen leidfreien Idealzustand der Menschheit, von dem aus die Geschichte strukturiert wird. Nietzsches zentraler Einwand gegen diese teleologische Deutung des Geschichtsprozesses richtet sich gegen die implizite Vorstellung eines zielsetzenden Wesens, denn in ihr wittert er eine weitere Variante des transzendenten Schöpfergottes, von dessen Existenz die Menschen angesichts der Einsicht in ihre endlichen Erkenntnismöglichkeiten kein sicheres Wissen gewinnen können. Problematisch erscheint ihm zudem, die Vorstellung eines göttlichen Gesetzgebers mit der offenkundigen Unvernunft und Grausamkeit in der Welt zusammenzudenken. „Angebliche Zweckmäßigkeit der Natur - ... - alles Erdichtungen! Es ist vielleicht die letzte Form einer Gottes Vorstellung - aber dieser Gott ist nicht sehr klug und sehr unbarmherZig.

"337

Für Nietzsche sind die vermeintlich absoluten Zwecke der Natur also „Erdichtungen", mit denen die Dichter den Prozeß des Werdens in ein teleologisches Korsett zwingen. Gegen diese dichterischen Deutungsversuche, die in der Geschichte der Menschheit einen höheren Zweck zu erkennen glauben, wendet sich auch seine Hervorhebung des Zufalls in der Geschichte. Fern einer Apologie des Zufalligen will er damit lediglich die Vermessenheit der chiliastisch-metaphysischen Denker darstellen, die sich seines Erachtens zum Mundstück eines göttlichen Schöpfers aufschwingen und die Faktizität eines zielgerichteten, von kontingenten Momenten freien Geschichtsprozesses verkünden. Gegen derartige teleologische Deutungen richtet Nietzsche seinen oft wiederholten „Grundsatz: in der gesamten Geschichte der Menschheit bisher kein Zweck..." (KSA 9/19, vgl. auch KSA 9/112 u. ΜΑ I 53). Ein drittes gewichtiges Argument gegen den neuzeitlich-metaphysischen Fortschrittsglauben bezieht sich auf dessen implizite Desavouierung des tatsächlichen Daseins. Die metaphysische Hoffnung auf eine „Universalmedicin", die die negativen Aspekte des Lebens fortschreitend abschaffen soll, ist auf einen höheren, wünschbaren Idealzustand ausgerichtet. Mit diesem Fortschrittsprogramm korreliert nach Nietzsche eine verhängnisvolle Abwertung der vorliegenden Wirklichkeit, denn an ihr wird schließlich eine akute, allgemeine Krankheit diagnostiziert, die es zu heilen gilt. Als das Schädliche, das das menschliche Glück verhindert, wird von den metaphysischen Deutungen die Gefährlichkeit und Unbeständigkeit des Lebens stigmatisiert. Wenn der Fortschritt zu einem Idealzustand aber die Abschaffung der ,dunklen' Seiten des Lebens erfordert, dann wird damit kein irdisches Glück sondern die Amputation, von grundlegenden Elementen des Lebens angestrebt. Die Hoffnung auf ein jenseitiges Glück führt damit zu einer Abwertung und dem Bedeutungsverlust des tatsächlichen' Lebens.

337

K S A 9/447. Siehe auch KSA 9 / 1 7 7 f. Hier unterscheidet Nietzsche Schopenhauers „verkappte Teleologie" von der „früheren Teleologie", gegen die er ähnlich argumentiert.

METAPHYSISCH-CHILIASTISCHER FORTSCHRITTSGLAUBEN

143

„Nachtheil der Metaphysik sie macht gegen die richtige Ordnung dieses Lebens gleichgültig insofern gegen Moralität. Ist pessimistisch immer, weil sie kein hiesiges Glück anstrebt". (KSA 8/526, vgl. auch S. 552)

Der neuzeitlich-metaphysische Fortschrittsglaube unterscheidet sich von dem Glauben an einen Fortschritt zu einer besseren Welt im Jenseits durch die Aufgabe der strikten Zweiteilung des Universums in ein irdisches Reich der Natur und ein überirdisches Reich der Gnade. Gleichwohl ist auch bei Ersterem eine Abwertung des faktischen Geschehens zu konstatieren, denn die Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts auf Erden betont ebenfalls den niederen Wert des noch nicht fortgeschrittenen Daseins, in dem die negativen Aspekte noch nicht abgeschafft worden sind. Die Skizze dieser drei Problemfelder hat gezeigt, daß sich Nietzsches Kritik an den chiliastisch-metaphysischen Fortschrittsvorstellungen gegen den Glauben an eine „Universalmedizin" richtet, weil dieser nach der Entlarvung der absoluten Erkenntnisansprüche des Menschen als Illusion nicht mehr überzeugen könne und zudem zu gefährlichen Folgen führe. Aufgrund der Entlarvung der Anmaßungen des chiliastischmetaphysischen Denkens hofft Nietzsche, daß es in der Moderne zu einer Überwindung der vermessenen Erwartungshaltung kommt. Seine diesbezüglichen Hoffnungen stützen sich auch auf die von ihm diagnostizierte Zunahme und Verbreitung des strengen Denkens und den daraus resultierenden Erkenntnisfortschritten. 338 „Die Kunst, zu schliessen. - Der grösste Fortschritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin, dass sie richtig schliessen lernen. Das ist gar nicht so etwas Natürliches... sondern ist spät erlernt und jetzt noch nicht zur Herrschaft gelangt." (ΜΑ I 223)

Ausdrücklich positiv verwendet Nietzsche den Fortschrittsbegriff somit in bezug auf die Entfaltung der menschlichen Verstandestätigkeit, dank der auch die Vermessenheit des absoluten, metaphysischen Denkens und des chiliastisch-metaphysischen Fortschrittspathos zu entlarven sei. Letztere werden in einer Nachlaßaufzeichnung vom Sommer 1880 als bedeutende Hindernisse der menschlichen Entwicklung betrachtet: „Unglück der Menschheit und Grund ihres langsamen Fortschrittes ist, daß man die erhebenden und erregenden Dinge höher geschätzt hat als die nährenden" (KSA 9/159). Dieses kurze Textstück ist eine der seltenen Passagen in Nietzsches veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften, in denen er explizit von einem Fortschritt der Menschheit spricht. 339 Dabei bleibt aber zu beachten, daß auch hier nicht eine umfassende Abschaffung der Leid verursachenden Momente im Verlauf der Geschichte angezeigt wird. Vielmehr denkt Nietzsche hier an bestimmte produktive Konsequenzen einer Eindämmung der

338

Wiederholt verwendet Nietzsche den Begriff Fortschritt' im Zusammenhang mit der Steigerung des Erkenntniskraft und der Zunahme des Wissens (siehe MA 470, KSA 8/357 u. 460 sowie KSA 9/312).

339

Auch mit den Metaphern der Stufenabfolge und der Leiter der menschlichen Entwicklung scheint Nietzsche einen gewissen Fortschrittsprozeß ausdrücken zu wollen (siehe ζ. Β. ΜΑ 1 48 und 144 sowie KSA 8/331).

144

DIE FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

„gewohnten Übertreibungen der populären oder metaphysischen Auffassung" (MA I 23). 340 Festzuhalten bleibt, daß Nietzsche den chiliastisch-metaphyischen Glauben an einen notwendigen Fortschritt, der als „Universalmedizin" eine allgemeine, dauerhafte Verbesserung der conditio humana herbeiführt, entschieden ablehnt.

IV. 2. 3 Gerechtigkeit der Metaphysik Aufgrund seiner scharfen Kritik an der Metaphysik ist Nietzsche oft als Feind und Verächter der Metaphysik gedeutet worden, der die metaphysischen Erklärungen und Systeme schlichtweg verdammt. Seine in den letzten beiden Unterkapiteln vorgestellte Ablehnung der Weltauffassung der „Hinterweiter" scheint diese Interpretation zu bestätigen, da er wiederholt die Destruktion und Überwindung der Metaphysik fordert. Neben diesen Forderungen finden sich aber auch anderslautende Äußerungen, die eine differenziertere Position Nietzsches zur Metaphysik erkennen lassen. In diesem Unterkapitel wird diese Einstellung und ihr Verhältnis zur erstgenannten Auffassung untersucht, weil in diesem Zusammenhang Nietzsches Annahme eines Fortschritts der Aufklärung dargestellt werden kann. In zahlreichen Textstücken der mittleren Schriften finden sich neben den ablehnenden auch positive Aussagen über die Metaphysik, wobei vor allem deren teils fruchtbare Wirkung hervorgehoben wird. Häufig benutzt Nietzsche zur Veranschaulichung dieser Wirkung die Metapher des gespannten Bogens, der durch die Spannkraft der Metaphysik bis zum Äußersten angespannt worden sei. Diese Spannkraft, die den Menschen zur höchsten Geistestätigkeit und Schaffenskraft stimuliere, soll aus der Ausrichtung des Lebens auf ferne, höchst erstrebenswerte Ziele erwachsen. Dabei verspreche eine fortschreitende Annäherung an diese Ziele eine grundlegende Verbesserung der menschlichen Situation. Es sei demnach die Aussicht auf einen Fortschritt zu Gott, zur Wahrheit etc., die den Einzelnen die mannigfaltigen Entbehrungen in seinem Erdendasein ertragen lasse. Hervorgehoben werden von Nietzsche in diesem Zusammenhang insbesondere die Vorstellung des Seelenheils, dessen Rettung die höchsten Energien freisetzen soll.341 Angesichts dieses Vermögens zur Entfesselung der menschlichen Energie würdigt Nietzsche die metaphysischen Vorstellungen in der Philosophie, Religion, Moral und Kunst auch als „die mächtigsten Kraftquellen" (MA 131, vgl. ΜΑ I 358). Die besondere Bedeutung der Metaphysik für die abendländische Geschichte liegt nach Nietzsche aber nicht allein in der Anspannung von Einzelnen, sondern auch in der Bündelung der menschlichen Energien über längere Zeiträume hinweg. So soll der feste

340

In Kapitel IV.4 werden Nietzsches diesbezügliche Hoffnungen näher untersucht. Seine entschiedene Absage an die Vorstellung eines notwendigen Fortschritts der Menschheit ist bereits nachgewiesen worden (siehe auch Μ Α I 206, Μ 3 2 4 und K S A 8/357).

341

Außerdem wird die stimulierende, kräftefreisetzende Wirkung des Glaubens an die Möglichkeit einer Erkenntnis der absoluten Wahrheit von Nietzsche betont. Bereits in der Vorrede Über das Pathos der Wahrheit wird diese Wirkung mit Hinblick auf Heraklit sehr anschaulich beschrieben (siehe PW 758).

METAPHYSISCH-CHILIASTISCHER FORTSCHRITTSGLAUBEN

145

Glaube an die metaphysisch verankerten Normen und Ziele, deren Befolgung bestimmte Verbesserungen verspricht, ganze Generationen veranlassen, ihre Bedürfnisse einzuschränken und ihre gesamten Kräfte auf die Realisierung von , wahrhaft' bedeutsamen Werken zu konzentrieren. Im Unterschied zu einer Vielfalt von Partikularinteressen, die unvermittelt aufeinandertreffen und zu schwerwiegenden Differenzen fuhren können, ermöglicht die Metaphysik demnach eine Bündelung der menschlichen Kräfte. Die Bindung der menschlichen Kräfte an ferne Ziele kann nach Nietzsche kontinuierliche Entwicklungen fördern, die in einem nachmetaphysischen Zeitalter massiv gefährdet seien. „Ein wesentlicher Nachtheil, welchen das Aufhören metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze Lebenszeit in's Auge fasst und keine stärken Antriebe empfängt, an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Früchte selber vom Baume pflücken, den es pflanzt." 342

Mittels der bekannten Metapher des Baumes, die beispielsweise Pascal in seinen Pensees verwendet, würdigt Nietzsche insbesondere die Religion und Kunst als bedeutende Resultate der metaphysischen Anspannung, wenn er sie als „Blüthen" (ΜΑ I 49) der Welt bezeichnet. Denn trotz der ihnen zugrunde liegenden metaphysischen Irrtümer sind es seiner Ansicht nach vor allem die Religion und die Kunst, die das menschliche Leben nachhaltig verschönern. 343 Ohne diese Irrtümer hätte sich das Leben mithin nicht in der bekannten Vielfalt und Schönheit entwickeln können und wäre folglich nicht derart anziehend. Nietzsche läßt damit bereits seine spätere Ansicht anklingen, daß die menschliche Geschichte ohne die Metaphysik und die Religion „eine gar zu dumme Sache" (GM 267, vgl. ΜΑ I 50) gewesen wäre. Diese positiven Aspekte der Metaphysik, die in der Geschichte zu wirkungsmächtigen Anspannungen der menschlichen Kräfte geführt haben sollen, sind nach Nietzsche von der bisherigen Aufklärung nicht angemessen gewürdigt worden. Aus diesem Grunde fordert er eine Korrektur des einseitigen Urteils über die Metaphysik, durch welche nun neben den nachweisbaren Schwächen der Metaphysik auch ihre bislang verdeckten Stärken hervorgehoben werden. Dieser Korrektur liegt eine Berücksichtigung von ausgleichenden Perspektiven zugrunde, die, im Unterschied zu den unzähligen Versuchen einer Destruktion der Metaphysik, auch deren positiven Wirkungen zu würdigen weiß. Gemäß Nietzsche ist es die Aufgabe der historisch-kritischen Aufklärungsphilosophie, nach der notwendigen Distanzierung von der Metaphysik eine erneute Annäherung an sie einzuleiten. „Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen." ( M A 42)

342

Μ Α I 43. Siehe dazu auch den folgenden Aphorismus, in dem die Moderne durch „äußere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen" gekennzeichnet wird (ΜΑ I 44).

343

Von einer schlichten Ablehnung oder Verdammung der Kunst in den mittleren Schriften kann demnach nicht geredet werden.

146

D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN G E I S T E S

Die angestrebte Kehre bedeutet aber keine Aufforderung zu einer künstlichen Revitalisierung der Metaphysik, denn deren Entzauberung ist nach Nietzsche nicht einfach umkehrbar. Gegen eine willkürliche Umkehr in der Moderne spricht beispielsweise, daß die dann wiedergewonnenen, vermeintlich absoluten Wahrheiten lediglich dem Bedürfnis nach allgemein akzeptierten Werten dienen würden und damit als Mittel für einen Zweck keinesfalls absolut wären. Trotz der Würdigung der positiven Aspekte der Metaphysik lehnt Nietzsche deshalb ihre Wiederbelebung entschieden ab. 3 4 4 Von der historisch-kritischen Philosophie erwartet er denn auch, nicht nur der Metaphysik Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern zugleich einen künftigen Rückfall in die dogmatische Metaphysik zu verhindern. Eindringlich warnt Nietzsche den modernen Menschen vor den Versuchungen der rückwärtsgewandten Ideologien. „Wandle zurück, in die Fusstapfen tretend, in welchen die Menschheit in ihren leidvollen grossen Gang durch die Wüste der Vergangenheit machte: so bist du am gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen kann oder darf." 3 4 5

Angesichts Nietzsches Warnung vor einer Reaktualisierung von metaphysischen Vorstellungen scheint mir die Pointe an der oben zitierten Metapher des „Hippodroms" (ΜΑ 1 42) die Aufforderung zu einem bereits angedeuteten Perspektivenwechsel zu sein, der einen anderen Blick sowohl auf die Metaphysik als auch auf die bisherige Aufklärung zuläßt. Die einseitige Polemik gegenüber ersterer dürfte dadurch abnehmen, während letztere ihren Hochmut verliert. Denn bei einer kritischen Untersuchung der Herkunft des aufklärerischen Denkens wird dessen Verachtung gegenüber der vermeintlich primitiven und einseitigen Metaphysik als ein voreiliger Triumph entlarvt, der selbst noch einem einseitigen Denken verhaftet ist. So soll die kritisch-historische Betrachtung der bisherigen Aufklärung offenbaren, daß letztere selbst an einen absoluten Gegensatz zwischen der ,unreinen' Metaphysik und ,reinen' Aufklärung glaubt. Wiederholt wird dagegen auf die Relevanz der metaphysischen Vorstellungen für die Entwicklung der Aufklärung hingewiesen. Insbesondere die Entstehung der kritischen Vernunft als eines Zentralorgans der Aufklärung soll eng mit metaphysischen Vorstellungen verknüpft sein. So erläutert Nietzsche in einem Textstück zur Bedeutung der Sprache für die kulturelle Entwicklung, daß die Ausbildung der kritischen Vernunft auf den metaphysischen Irrtum einer Gleichsetzung von begrifflicher und absoluter Erkenntnis zurückzuführen sei. „Der Glaube an die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind... Glücklicherweise ist es zu spät, als dass es die E n t w i c k l u n g der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig machen könnte." 3 4 6

344

Ähnlich formuliert später Max Horkheimer seine Kritik am Neuthomismus, dessen künstlichwiederbelebte Metaphysik er als Ergänzung des Pragmatismus desavouiert. Siehe Horkheimer (1986) S. 66 ff.

345

ΜΑ I 236. Daß nach Nietzsches Ansicht eine Überwindung der Metaphysik auch Gefahren in sich bergen kann, zeigt beispielsweise ein Nachlaßtext vom Oktober/Dezember 1876, in dem er kritisch nach der Möglichkeit eines Lebens ohne metaphysisch verankerte Nonnen fragt ( K S A 7/343).

METAPHYSISCH-CHILIASTISCHER FORTSCHRITTSGLAUBEN

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Ähnlich wie die Religion und die Kunst, die aufgrund ihrer teils narkotisierenden Wirkungen partiell kritisiert werden, können folglich auch die kritische Vernunft und die Aufklärung als „Blüten" der Metaphysik bezeichnet werden, die in letzterer die gemeinsamen Wurzeln haben. Auch Nietzsche selbst weiß, was er der metaphysischen Tradition zu verdanken hat, wenn er beispielsweise den Einfluß der metaphysischen Schriften Piatons, Pascals oder Schopenhauers auf die Entwicklung seines Philosophierens hervorhebt. Im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft wird die enge Beziehung der Aufklärung zur traditionellen Metaphysik deutlich beschrieben, wenn in dem bekannten Textstück Nummer 344 betont wird, daß auch noch das Denken der Moderne durch das metaphysische Absolutheitsdenken beeinflußt ist. „Doch man wird es begriffen haben... dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube... dass die Wahrheit göttlich ist." (FW 577)

Mit dieser Überlegung wendet Nietzsche seine Kritik an dem metaphysischen Glauben an absolute, binäre Polaritäten auch gegen die bisherige Aufklärung, die ihre eigene Herkunft nicht genügend reflektiert und damit einen gravierenden Mangel an aufklärerisch-genealogischem Denken offenbart. Erst mit der historisch-kritischen Philosophie, die auf die Übergänge von scheinbar völlig gegensätzlichen Phänomenen achtet, soll die Aufklärung dieses Manko beheben können. 47 Die Überwindung der metaphysikfeindlichen Aufklärung, deren mangelnde Selbsterkenntnis zu einem Hochmut gegenüber der vermeintlich primitiven Metaphysik verführte, wird von Nietzsche ausdrücklich als ein Fortschritt gewürdigt. In dem Kurztext Nummer 26 von Menschliches, Allzumenschliches, der die Überschrift Die Reaction als Fortschritt trägt, wird dieser Gedanke näher expliziert. Neben der Reformation wird in diesem Textstück die Philosophie Schopenhauers als Beispiel für ein rückwärtsgewandtes Denken präsentiert und kritisiert, weil sie weniger durch wissenschaftliche Untersuchungen als durch metaphysische Spekulationen geprägt sei. Aber Nietzsche sieht in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Schopenhauer auch einen unüberschätzbaren positiven Aspekt, da die Beschäftigung mit dessen metaphysischer Philosophie das Verständnis von längst vergangenen Vorstellungen fordert. So soll durch das Studium von Schopenhauer beispielsweise eine bessere Kenntnis und eine ausgewogenere Bewertung der christlichen und buddhistischen Religion möglich werden. Der Fortschritt der historisch-kritischen Aufklärung liegt demnach in einer Überwindung von zu engen Perspektiven durch umfassendere Ansichten, die der komplexen Wirklichkeit eher gerecht werden. 348

346

Μ Α I 31. An einer späteren Textstelle bezeichnet Nietzsche die methodische Wahrheitssuche der Aufklärung als ein Resultat des erbitterten Kampfes von unbedingten Wahrheitsansprüchen (siehe ΜΑ I 359).

347

Allerdings glaubt Nietzsche nicht, daß dank dieser weitreichenden Verbesserungen eine vollkommene Abschaffung von unlogischen Vorurteilen möglich wäre (siehe MA 151).

348

Auch in den mittleren Schriften setzt sich Nietzsche intensiv mit dem Begriff der „Gerechtigkeit" auseinander (siehe beispielsweise ΜΑ I 236). In den Unterkapiteln IV.3.2 und IV.4.2 dieser Dissertation wird diese Thematik weiterführend untersucht.

148

D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

„Erst nach diesem grossen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung - ... - von N e u e m weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht." ( Μ Α I 4 7 )

Mit dieser Überlegung zeigt Nietzsche, daß er neben dem Heilsdenken der chiliastischen Metaphysik auch das Fortschrittsdenken der metaphysikfeindlichen Aufklärung als ungerecht ablehnt. Gegenüber diesen einseitigen und hochmütigen Vorstellungen präsentiert er einen alternativen Fortschrittsbegriff, der ein höheres Maß an Gerechtigkeit anstrebt. Diese Position bedeutet nicht, daß er sein Programm einer Überwindung der transzendenten Grundsätze der Metaphysik aufgibt, aber sie dokumentiert, daß neben der , lauten' Ablehnung der Metaphysik auch moderatere, differenziertere Äußerungen in seinen Schriften zu finden sind, wobei letztere von ihm selbst als fortschrittlicher bewertet werden. Zu fragen bleibt angesichts Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik, ob auch seiner Philosophie noch ein metaphysisches Denken zugrunde liegt.

IV. 2. 4 Anmerkungen zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik In den letzten Unterkapiteln ist herausgearbeitet worden, daß Nietzsche seit Menschliches, Allzumenschliches die Überwindung der neuzeitlichen Metaphysik anstrebt, ohne allerdings deren partiell positive Aspekte zu negieren. Scheinbar ist diese Überwindung im 20. Jahrhundert vollzogen worden, denn gegenwärtig wird häufig, und oft mit Bezug auf Nietzsche von einem „nachmetaphysischen Denken" oder „postmetaphysischen Zeitalter" gesprochen. In diesem Zusammenhang wird insbesondere von ,postmodernen' Denkern die Bedeutung der Verabschiedung des notwendigen Fortschrittsglaubens betont. Trotz dieser oft artistischen Post-Ismen bleibt zu fragen, ob Nietzsche sich tatsächlich von der Metaphysik ablöst und ob seine Absage an einen metaphysischchilistischen Fortschrittsglauben einen nachmetaphyischen Fortschritt darstellt. Der Begriff der Metaphysik ist nicht erst von postmodernen Denkern pejorativ konnotiert benutzt worden, sondern bereits Kant konstatiert, daß der „Modeton des Zeitalters... ihr alle Verachtung" 349 entgegenbringt. Ähnlich schreibt später Hegel, seine Zeitgenossen liefen vor dem Ausdruck „wie vor einem mit Pest behafteten davon". 350 Vergangene als auch gegenwärtige Debatten über die Metaphysik und deren Überwindung offenbaren, daß sowohl die Verteidiger der Metaphysik als auch deren Gegner den Begriff äußerst heterogen verwenden. Nietzsche bezieht sich bei seiner Auseinandersetzung mit der Metaphysik auf die unterschiedlichsten Denker, was die zahlreichen Zitate von Parmenides, Demokrit, Pascal, Kant, Hegel oder Afrikan Spir in seinen Schriften belegen. Anhand von Piaton und Schopenhauer wird von ihm vor allem das metaphysische Denken in binären Polaritäten eingehend untersucht, wobei er sich insbesondere

349

Immanuel Kant: Kritik der reinen

350

Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Wer denkt abstrakt?

Vernunft A IX (Vorrede zur ersten Auflage). In: Werke. Bd. 2, S. 575.

METAPHYSISCH-CHILIASTISCHER FORTSCHRITTSGLAUBEN

149

dem Gegensatz von Sinnlichem und Übersinnlichem widmet.351 Im Unterschied zu der metaphysischen Philosophie als der Wissenschaft von den übersinnlichen, ersten Prinzipien und Ursachen, die beispielsweise als Ideen- oder Willensmetaphysik absolute Wahrheitsansprüche erhebt, erinnert Nietzsche völlig zu Recht an die Endlichkeit des menschlichen Erkennens und Handelns, wozu er den für seine Philosophie seit Menschliches, Allzumenschliches zentralen Begriff der Perspektive einfuhrt. Denn das menschliche Erkennen ist niemals unabhängig von Perspektiven, sondern es bleibt immer an spezifische sinnlich-leibliche Horizonte gebunden, die das Erkennen überhaupt erst ermöglichen. Das Perspektivische, das von Nietzsche später als die „Grundbedingung alles Lebens" (JGB 12) bezeichnet wird, ist aber nicht erst von ihm entdeckt worden, sondern hat eine lange Tradition in der Philosophie.352 So kann sich Nietzsche beispielsweise auf die antiken Skeptiker beziehen, wenn er Schopenhauers metaphysische These, daß alle Dinge der Natur durch einen Willen geprägt sind und dieser Wille das Ding an sich ist, als eine perspektivlose „Hinterwelt" ablehnt, die mit der menschlichen Welt nichts gemeinsam hat. 53 Wenn die Metaphysik sich durch dieses perspektivlose, absolute Denken auszeichnen sollte, dann könnte Nietzsches historisch-kritische Philosophie treffend als ein nachmetaphysisches Denken bezeichnet werden, das die unüberwindbare Bindung des menschlichen Erkennens und Handelns an einen bestimmten Standort anerkennt, ohne dabei allerdings die positive Bedeutung der Metaphysik zu ignorieren.354 Auch die Rede von einem notwendigen, linearen und allgemeinen Fortschritt der Menschheit, die nicht in regulativer Absicht geäußert wird, kann Nietzsche mit dem Verweis auf das Perspektivische kritisieren, weil sie die menschlichen Erkenntnisbedingungen nicht angemessen reflektiert. Bei einer derartigen Aussage wird jedoch nicht allein die Perspektivität und damit die Begrenztheit des eigenen Erkennens übersehen, sondern es wird zugleich auch die Vielfalt der individuellen Blickwinkel ausgeblendet, wodurch mögliche alternative Perspektiven ignoriert werden. So konstruiert die absolu351

352

Dieser Aspekt von Nietzsches Metaphysikkritik wird von Martin Heidegger in dem Kapitel Nietzsches Umdrehung des Piatonismus. treffend betont. Siehe Heidegger ( 5 1 9 8 9 ) S. 231 ff. Siehe dazu insbesondere die Monographie von Friedrich Kaulbach Perspektiven des Perspektivismus. (Teil I, Tübingen 1990) und die gleichnamige Gedenkschrift für ihn. In Letzterer weist Norbert Herold die Bedeutung von perspektivischen Konstruktionen und deren philosophischen Implikationen in der frühen Neuzeit nach. Siehe Norbert Herold: Die Perspektive - Eine Erfindung einer beherrschten Welt. In: Perspektiven des Perspektivismus. Hrsg. v. V. Gerhardt u. N. Herold. Würzburg 1992, S. 1 ff.).

353

Siehe dazu beispielsweise Volker Spierlings Aufsatz Schopenhauers furchtbare Wahrheit, in dem dieser zeigt, wie Schopenhauer die Kopernikanische Wende Kants zwar aufnimmt, aber nicht konsequent durchhält (In: Schopenhauer im Denken der Gegenwart. Hrsg. v. Volker Spierling. München 1987). Differenziert wird das Verhältnis von Nietzsches und Schopenhauers Metaphysikkritik von Jörg Salaquarda behandelt (ders.: Nietzsches Metaphysikkritik und ihre Vorbereitung durch Schopenhauer. In: N.-St. 24 (1995) S. 258 ff). Von den antiken Skeptikern, die einen großen Einfluß auf Nietzsches Philosophie ausgeübt haben, ist insbesondere Pyrrhon von Elis zu erwähnen.

354

Hiermit wird aber nicht behauptet, daß die Metaphysik sich durch ein perspektivloses, absolutes Denken auszeichnet (siehe unten).

150

D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

te, universalhistorische Perspektive, die sich ihrer eigenen Perspektivität nicht bewußt ist, eine Homogenität, die in der Praxis zu Konformitätszwängen führen kann. Walter Benjamin hat in seinen knappen Thesen Über den Begriff der Geschichte das vereinheitlichende Moment im allgemeinen Fortschrittsbegriff der Moderne problematisiert und die mit ihm einhergehenden Gefahren einer Repression gegenüber dem Disparaten deutlich gemacht. Angesichts von repressiven Einheitszwängen sieht er die Aufgabe der von ihm angestrebten materialistischen Geschichtsschreibung im Aufbrechen der homogenen, universalhistorischen Perspektive durch den Verweis auf alternative Perspektiven, die die Einzigartigkeit von Ereignissen festhalten. 355 Auch wenn Benjamins Fortschrittskritik letztlich andere Ziele als Nietzsche verfolgt, scheint mir seine Kritik an der Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts ähnlich wie bei Nietzsche auf die perspektivischen Bedingungen des Erkennens zu rekurrieren, die den Glauben an einen homogenen Verlauf der Geschichte erschüttern. 356 In den letzten beiden Jahrzehnten ist die Auseinandersetzung mit dem universalgeschichtlichen Fortschrittsverständnis insbesondere durch die Schriften von JeanFrancois Lyotard angeregt worden, dessen Bericht Das postmoderne Wissen der Ausgangspunkt für die oft leidenschaftlich geführten Diskussionen um den Begriff der Postmoderne war. Diese Bestandsaufnahme charakterisiert die Moderne als das Zeitalter der „großen Erzählung" 357 , die das totalisierende Wissen und damit die Herrschaft der modernistischen Führungsschichten legitimiert. Im Unterschied zu den traditionellen narrativen Wissensformen rekurriert die „große Erzählung" nach Lyotard auf die Idee des allgemeinen Fortschritts, womit sie gemäß seiner Argumentation einen Anspruch auf kumulative Verbesserung und Universalität erhebt. 358 Die Grundlage für eine erfolgreiche Legitimation des modernen Wissens bildet seines Erachtens der Glaube an die Möglichkeit einer fortschreitenden Optimierung der sozialen Gerechtigkeit, der wirtschaftlichen Prosperität und der wissenschaftlichen Wahrheitssuche. Im späten 20. Jahrhundert diagnostiziert Lyotard ein sich verbreitendes Bewußtsein für die „innere Erosion des Prinzips der Legitimität des Wissens", die die Überzeugungskraft der „großen Erzählungen" erschüttert und einen Prozeß der Delegitimierung des Wissens auslöst. 359 Diese Erschütterung wird von ihm als ein Bruch mit dem Projekt der Moderne bewertet, was er durch die exponierte Verwendung des Begriffs der Postmodeme kennzeichnet. Der Auslöser dieser Delegitimationsbewegung soll gemäß 355

Benjamin ( 1 9 8 0 Bd. 1.2) S. 702.

356

Benjamins Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsgedanken ist nachweisbar durch Nietzsches Schriften beeinlußt worden. Wie sehr Benjamins Fortschrittskritik auch durch die Auseinandersetzung mit Ludwig Klages und dessen Nietzsche-Rezeption befruchtet worden ist, zeigt Michael Großheim in seinem Artikel Die namenlose Dummheit, die das Resultat des Fortschritts ist - Lebensphilosophie und dialektische Kritik der Moderne. In: Logos. Heft 2 / 1 9 9 6 .

357

Lyotard (21993) S. 112.

358

359

Ebenda S. 93. Die zentrale Bedeutung der Fortschrittsidee für Lyotards Konzeption der Moderne offenbart sich auch in seinen Briefen aus den Jahren 1982-1985, die unter dem Titel Postmoderne für Kinder zusammengestellt wurden (ders.: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982 bis 1985. Wien 1987). Ähnlich erkennt auch Gianni Vattimo mit Verweis auf Nietzsche und Heidegger in dieser Idee ein konstitutives Element der Moderne. Siehe Vattimo ( 1 9 9 0 ) S. 8. Lyotard (21993) S. 117. Zum Fragment aus der Lenzer Heide siehe K S A 12/211 f.

METAPHYSISCH-CHILIASTISCHER FORTSCHRITTSGLAUBEN

151

seinem Postmoderne-Bericht bereits in der „großen Erzählung" selbst verborgen sein, was er anhand einer vermeintlich inneren Erosion des Prinzips der Legitimität des Wissens in der spekulativen Philosophie Hegels nachzuweisen versucht. Lyotard erinnert in diesem Kontext an Nietzsches berühmtes Fragment aus der Lenzer Heide vom 10. Juni 1887, in dem dieser ein Scheitern des wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs an der Selbstanwendung schildert. 360 Infolge der unaufhaltsamen Destruktion der „großen Erzählung" soll es zu einer irreversiblen Zerstreuung („dissemination") 361 von Perspektiven und Sprachspielen kommen, die in keiner universellen Metaperspektive oder Metasprache mehr geordnet werden können und dadurch das soziale Band lösen. „In der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur, also der postindustriellen Gesellschaft, der postindustriellen Kultur, stellt sich die Frage der Legitimierung des Wissens in anderer Weise. Die großen Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren, welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird: Spekulative Erzählung oder Erzählung der Emanzipation." 362

Seine Kritik an den „großen Erzählungen" hat Lyotard später modifiziert, ohne jedoch seine scharfe Kritik an allen Formen von Einheit zurückzunehmen, die immer zu einer Ausgrenzung und Zerstörung von Ungleichem und Disparatem führe. Vielmehr bekräftigt er auch in späteren Schriften die irreduzible Vielfalt von Perspektiven, die alle Aussagen über die Menschheit und damit auch die Rede von einem allgemeinen Fortschritt der Menschheit als reduktionistische Simplifizierungen entlarvt. 363 Obwohl Lyotard mit seiner Kritik an den „großen Erzählungen" ebenso wie Nietzsche zu Recht vor dem blinden Vertrauen in das Prinzip eines notwendigen, allgemeinen Fortschritts warnt, erscheint mir die Begründung seiner Kritik und deren Folgerungen wenig plausibel, was in drei Punkten erläutert werden soll. Lyotards These, aufgrund der irreduziblen Pluralität der komplex vernetzten Perspektiven sei ein metanarrativer Diskurs unmöglich, ist kaum innovativ, wenn mit ihr ausgedrückt wird, daß der Mensch keinen ahistorischen Standpunkt einnehmen könne, der ihm einen absoluten Blick auf das Ganze gestatte. Allerdings scheint er phasenweise sämtliche Versuche einer Einnahme von umfassenden Perspektiven, die sich auf das Ganze des menschlichen Lebens beziehen, zu desavouieren, denn er zweifelt an grundsätzlichen Übergängen zwischen den Sprachspielen und Perspektiven als einer Voraussetzung fur eine geistige Übersicht der Perspektivenvielfalt. Da die Annahme einer umfassenden Perspektivenordnung eine gefahrliche Illusion sei, die im Terror zu enden drohe, ruft Lyotard deshalb zum „Krieg dem Ganzen" 364 auf. Diese Ansicht ist meines Erachtens wenig überzeugend, denn es ist auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt sowohl möglich als auch sinnvoll, Aussagen über die Verfaßtheit und Zukunft der Menschheit 360 361 362 363 364

Siehe Lyotard (2)993) S. 117. Lyotard (21993) S. 119. Lyotard (21993) S. 112. Siehe Lyotard (1987) S. 101. Lyotard (1987) S. 31. Ähnlich schreibt Adorno in der Minima Moralia, das „Ganze ist das Unwahre" (Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M. 1978, S. 57. An dieser Stelle kann leider nicht auf das interessante Verhältnis der beiden Denker eingegangen werden.

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zu treffen. Möglich sind derartige umfassende Perspektiven, wenn ihnen ein oft mühsames, aber nicht aussichtsloses Verstehen der verschiedensten Perspektiven vorausgeht, wodurch allerdings der perspektivische Standpunkt keinesfalls überwunden werden kann. Sinnvoll sind derartige umfassende Perspektiven, weil erst durch sie auf bestimmte Chancen oder Gefahren, wie beispielsweise das Ausmaß der ökologischen Krise, aufmerksam gemacht werden kann. Auch Lyotards Ansicht, in der Kritik an den „großen Erzählungen" und den allgemeinen linearen Fortschrittsvorstellungen sowie dem daraus resultierenden Delegitimierungsprozeß offenbare sich ein postmodernes Zeitalter, ist meines Erachtens fragwürdig, weil seiner Bestimmung der Moderne eine reduktionistische Perspektive zugrunde liegt, die deren Vielfalt nicht gerecht wird. Die gesamte Moderne wird auch von Denkern bestimmt, die sich intensiv mit dem vermeintlich genuin ,postmodernen' Gedankengut auseinandersetzen, was Lyotard selbst mit seinen zahlreichen positiven Verweisen auf Kant und die Romantiker kaum leugnen kann. Damit scheint aber die Postmoderne mit der Moderne zusammenzufallen und ihre zentrale Bestimmung, die sie aus der scharfen Abgrenzung zur Moderne zieht, zu verlieren. Die Diskussionen um die Postmoderne haben deshalb meines Erachtens nicht den Tod der Moderne nachgewiesen, sondern die Vielfalt ihrer philosophischen Ansätze verdeutlicht, was letztlich einen Verzicht auf den Begriff der Postmoderne nahelegt. Weitaus weniger kontrovers als der Begriff der Postmoderne ist Lyotards Einordnung Nietzsches als postmetaphysischen Denker diskutiert worden, denn zahlreich sind Nietzsches Angriffe auf die Metaphysik und die Stimmen, die verkünden, Nietzsche sei der postmetaphysische Denker par excellence. 365 Im Gegensatz zu dieser verbreiteten Ansicht, die beispielsweise von Derrida, Habermas, Nehamas, Rorty und Vattimo vertreten wird, glaube ich, daß er an die traditionelle Philosophie und auch an die Metaphysik anknüpft. Damit wird nicht der prominenten These Heideggers zugestimmt, die Nietzsches Philosophie als Vollendung der europäischen Metaphysik interpretiert. 366 Vielmehr liegt meiner Auslegung ein Begriff der Metaphysik zu Grunde, der deren teilweise von Nietzsche selbst vorgenommene etymologische Reduzierung auf eine „Hinterwelt" nicht teilt, sondern der den Bezug auf die großen, komplexen Fragen nach der Verfaßtheit des Menschen in der Welt in den Vordergrund rückt. 67 Auch Nietzsche, auf dessen vielschichtige Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Denkern der Antike, der christlichen Philosophie, der Neuzeit und der Moderne mehrfach hingewiesen worden ist, bewegt sich im Rahmen dieser nicht endgültig abzuschließenden Fragen, die Kant an prominenter Stelle als die Fragen „Was kann ich wissen?", „Was soll

365

Die Nähe von Postmoderne und Postmetaphysik deutet Lyotard zu Beginn von Das postmoderne Wissen an. Siehe Lyotard ( 2 1 9 9 3 ) S. 14. 366 Zu Heideggers früher Nietzsche-Auslegung siehe Unterkapitel IV.4.5 dieser Dissertation. Gegen die einseitige Einordnung Nietzsches in die Postmoderne wendet sich auch der amerikanische Philosoph Robert Pippin. Siehe ders.: Nietzsche's alleged farewell: The premodern, modern and postmodern Nietzsche. In: The Cambridge Companion to Nietzsche (1996) S. 2 5 2 ff. 367 In einem Spiegel-Interview erkennt Walter Schulz gerade in diesen Fragen die unaufhebbare Bedeutung der Metaphysik (Der Spiegel Nr. 26 vom 24.6.96).

(IM)MORALISTISCHE KRITIK AM MORALISCHEN FORTSCHRITTSGLAUBEN

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ich tun?" und „Was darf ich hoffen?" spezifiziert hat.368 In der existentiellen Auseinandersetzung mit diesen Fragen tätigt Nietzsche im Bewußtsein der Perspektivität des menschlichen Erkennens auch Aussagen über das Ganze des Daseins, woran Heidegger zu Recht erinnert. Allerdings betont Nietzsche dabei deutlicher als viele Denker vor ihm die Endlichkeit des Menschen und attackiert sämtliche metaphysisch-dogmatischen Versuche, die die Leiblichkeit und Sinnlichkeit des menschlichen Lebens stigmatisieren und die Erkenntnis- und Handlungsgrenzen des Menschen mißachten. Doch die Versuche einer Distanzierung und Überwindung der bisherigen metaphysisch-dogmatischen Tradition, die sich auch in Nietzsches begrenzt erfolgreicher Vermeidung der alten ,Begriffsgespinste' ausdrückt, gehören selbst zur Geschichte der Metaphysik, in der überlieferte metaphysische Thesen und Systeme immer wieder von neuen, modifizierten metaphysischen Programmen als defizient demaskiert worden sind.369 Bei dieser .weiten' Bestimmung des Metaphysikbegriffs wird deutlich, daß auch die Auseinandersetzung mit der Vorstellung des Fortschritts einen Teil der metaphysischen Philosophie darstellt, was sich in der bereits erwähnten Frage „Was darf ich hoffen?" deutlich widerspiegelt. Wenn Nietzsche in seinen Schriften seit Menschliches, Allzumenschliches teilweise auch heftig gegen die Metaphysik, und insbesondere gegen den chiliastisch-metaphysichen Fortschrittsglauben, polemisiert, so zeigt sich bei der differenzierten Interpretation seiner Schriften, daß er gerade auch mit seinen Gedanken zur Fortschrittskategorie dem metaphysischen Philosophieren verhaftet bleibt.

IV. 3

Die (im)moralistische Kritik am moralischen Fortschrittsglauben

IV. 3. 1 Die Destruktion der „absoluten Moral" Von herausragender Bedeutung für die mittleren Schriften ist neben Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik seine Beschäftigung mit der Moral. Schon in dem Tragödienbuch und den Unzeitgemäßen Betrachtungen ist eine Reserviertheit gegenüber der Moral spürbar, doch erst mit dem zweiten Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches, das den Titel „Zur Geschichte der moralischen Empfindungen" trägt, wird diese deutlich formuliert. Auch die folgenden Schriften beschäftigen sich ausfuhrlich mit diesem Thema, was sich beispielsweise im Untertitel der Morgenröthe nieder368 369

Siehe Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft Β 833. Friedrich Kaulbach hat im Zuge seiner Interpretation bedeutender Philosophen von Piaton über Leibnitz bis zu Heidegger nachgewiesen, daß es zum Wesen der Metaphysik gehört, gerade ihre eigenen Ansätze immer wieder zu kritisieren. Siehe Kaulbach (1972) S. 222. Auch bei Nietzsche erkennt er den „bekannten metaphysischen Kunstgriff der Entlarvung der überholten Perspektiven und metaphysischen Modelle" (ebenda S. 107). In Anknüpfung an Kaulbach werden von mir auch der vermeintlich metaphysikfeindliche Philosoph Nietzsche und dessen vermeintlich .postmetaphysischer Perspektivismus' zur Metaphysik gerechnet.

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schlägt, der die Veröffentlichung von Gedanken über die moralischen Vorurtheile ankündigt. Grundlegend ist für Nietzsches Untersuchung der Moral, daß er auch hier die Unterwerfung des irdisch-vergänglichen Lebens unter vermeintlich absolute Werte kritisiert. In diesem Unterkapitel wird Nietzsches Versuch einer Destruktion der „absoluten Moral" (M 131) untersucht, ehe in den nächsten beiden Unterkapiteln auf seine Kritik an der Vorstellung eines allgemeinen moralischen Fortschritts und schließlich auf seinen Entwurf einer fortschreitenden Entwicklung der Moral in der Geschichte eingegangen wird. Nachdem Nietzsche sich der Öffentlichkeit zuletzt als Unzeitgemäßer Denker vorgestellt hatte, präsentiert er sich in Menschliches, Allzumenschliches nicht nur als historisch-kritischer Philosoph, sondern wiederholt auch als Psychologe. Schon Heidegger hat versucht, einer irrtümlichen Interpretation dieses Begriffs vorzubeugen, indem er Nietzsches Distanz zur modernen, positivistischen Individualpsychologie betont. 370 Im Unterschied zu dieser Disziplin bestimmt Nietzsche die Psychologie allgemein als eine philosophische Wissenschaft, die sich Gedanken über das Menschliche, Allzumenschliche macht. 371 Im Zentrum dieser Wissenschaft sollen die moralischen Empfindungen der Menschen stehen, deren Herkunft und Geschichte der historisch-kritische Philosoph als Genealoge nachspürt. Nietzsche selbst sieht sich als Genealoge der Tradition der französischen Moralisten, wie Montaigne, Pascal, La Rochefoucauld und Chamfort, verpflichtet. Allerdings radikalisiert er das kühle Sezieren von moralischen Handlungen soweit, daß er sich schließlich als „Immoralisten" (ΜΑ II 553) bezeichnet und von den älteren Moralisten absetzt, weil diese noch zu sehr moralischen Vorurteilen verhaftet gewesen seien. 372 Mit dieser Selbsteinschätzung deutet Nietzsche bereits die charakteristische Arbeitsweise seiner vielfaltigen Untersuchungen von moralischen Phänomenen an: er versucht sich als „Immoralist", also möglichst frei von eigenen moralischen Wertungen, der Moral zu nähern. Dabei ist ihm aber zugleich bewußt, daß eine völlige Loslösung von ihr nicht möglich ist. Seine Methode impliziert, daß er versucht, einen a n deren' Blick auf die vorherrschenden moralischen Urteile zu werfen und sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. So lobt er in diesem Zusammenhang, ähnlich wie Montaigne, das Reisen, welches den Reisenden durch die Konfrontation mit fremden Bräuchen und Traditionen von der vermeintlichen Selbstverständlichkeit von Urteilen befreien kann. Auch das von Nietzsche häufig verwandte Bild des Wanderers ist eine Metapher für seine Forderung nach einem Wechsel der Standpunkte bei der Untersuchung von Sachverhalten. Wie der Wanderer im Fortschreiten neue Orte entdeckt und sie in eine Übersichtskarte einordnet, so soll auch der Psychologe bei der Beschäftigung

370

371 372

Heidegger ( 5 1 9 8 9 Bd. II) S. 60 ff. Allerdings erscheint mir Heideggers Annahme, Nietzsches Psychologie sei gleichbedeutend mit der neuzeitlichen Metaphysik nicht überzeugend, denn Nietzsches Philosophie lehrt keinesfalls einen unbedingten Vorrang des Menschen im Seienden. Letztere Überzeugung soll jedoch ein entscheidendes Charakteristikum der neuzeitlichen Metaphysik sein (siehe dazu auch Kapitel IV.4 meiner Dissertation). Siehe ΜΑ I 57. Nietzsches Verhältnis zu den französischen Moralisten untersucht Brendan Donnellan, der insbesondere auf deren Bedeutung für die Komposition von Menschliches, Allzumenschliches und den aphoristischen Stil Nietzsches eingeht (ders.: Nietzsche and the French Moralists. Bonn 1982.

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mit moralischen Phänomenen durch die Einnahme und Ordnung von verschiedenen Perspektiven die Rätsel der menschlichen Seele lösen. „Denn hier gebietet jene Wissenschaft (die Psychologie, Anm. Verf.), welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten so ciologischen Probleme aufzustellen und zu lösen hat:..." (ΜΑ I 59/60) Ausdrücklich bezeichnet Nietzsche die Psychologie als die Wissenschaft, deren Aufgabe in der Erweiterung des menschlichen Wissens besteht, um gesellschaftlich-moralische Phänomene angemessen erklären zu können. 3 7 3 Die Möglichkeit von Erkenntnisfortschritten in der moralisch-psychologischen Wissenschaft wird damit anerkannt und gewürdigt, ohne daß die frühere Kritik an dem hybriden Erkenntnis- und Heilsanspruch des Szientismus revidiert wird. 374 Die anvisierten Lösungen der soziologischen Probleme durch die Psychologie sollen sich dabei grundsätzlich von den Grundthesen der „absoluten Moral" unterscheiden, was im folgenden näher untersucht wird. Zentral ist für die psychologisch-historische Wissenschaft nach Nietzsche die Einsicht, daß es eine „absolute Moral" nicht geben kann. Seine bereits dargestellte Destruktion des metaphysisch-absoluten Wahrheitsanspruchs richtet sich auch gegen die Vorstellung von absolut gültigen moralischen Werten und Prinzipien, da diese die begrenzten Erkenntnismöglichkeiten des Menschen ebenfalls nicht angemessen berücksichtigen. Auch diese „höher gewerteten Dinge" können seines Erachtens nicht auf einen „Wunder-Ursprung" (ΜΑ I 23) jenseits der menschlichen, Bedingtheiten rekurrieren. 375 Die Aufdeckung der Geschichte der höheren moralischen Werte soll die Aufgabe der historisch-kritischen Psychologie sein, die die Herkunft und Entstehung der moralischen Empfindungen möglichst frei von moralischen Wertungen untersuchen soll. Provokant vergleicht Nietzsche in diesem Zusammenhang den Wandel der Deutungen des Moralischen mit der Geschichte der medizinischen Interpretationsversuche. „Die moralischen Phänomene machen die Geschichte der Krankheiten durch: erst etwas von außen her, Wirkungen übernatürlicher Mächte. Dann ganz menschlich, aber etwas für sich, das ,Moralische'. Endlich erkennt man, daß es ebenso ungenau bezeichnete Vorgänge sind wie die Krankheiten... Es giebt nichts ,Moralisches an sich': es sind Meinungen von Trieben erzeugt und diese Triebe wieder beeinflußend." (KSA 9/365) 373

Zu Nietzsches Verhältnis zur Soziologie hat Horst Baier einen interessanten Aufsatz geschrieben, der Nietzsches spätere Verwerfung der Soziologie als decadence und seine positive GegenSoziologie der Herrschaftsgebilde darstellt. Baier weist nach, daß sich Nietzsche bereits in den mittleren Schriften von den soziologischen Überzeugungen seiner Zeit distanziert, ohne aber den oben zitierten positiven Bezug der Soziologie zur Psychologie zu erwähnen. Siehe Horst Baier: Die Gesellschaft - ein langer Schatten des toten Gottes. In: N.-St. 10/11 (1981/82), S. 6 ff. 374 Die positive Verwendung der Begriffe ,Wissenschaft' und ,Erkenntnisfortschritt' in den mittleren Schriften zeigt meines Erachtens keinen Bruch in Nietzsches Philosophie an, denn auch seine frühe Kritik des ,Sokratismus' richtet sich nicht gegen die Wissenschaften und das Streben nach sinnvollen Erkenntnisfortschritten. Zu Nietzsches Wissenschaftsbegriff in den mittleren Schriften siehe das Nachwort zu Menschliches, Allzumenschliches I in der Kritischen Studienausgabe von Giorgio Colli (KSA 2/707 f.). 375 Μ A I 23. Die „absolute Moral" vertritt dagegen aus Nietzsches Perspektive die Annahme, die moralischen Werte würden dem unveränderlichen Guten an sich entspringen.

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Auch wenn Nietzsche den absoluten Anspruch des Moralischen durch die Darstellung der irdischen Geschichte der moralischen Empfindungen als übertrieben und falsch entlarvt, so weiß er, daß die „absolute Moral" durch deren täuschende und partiell sich selbst täuschenden Protagonisten äußerst wirksam ist. Am erfolgreichsten ist in der Moderne nach Nietzsche die egalitaristische „Heerdenthier-Moral" (JGB 124, vgl. Μ 93), die versucht, sich zur einzigen und allgemein verbindlichen Moral zu erheben. In zahlreichen Textstücken untersucht er deren Deutung von moralischen Phänomenen wie ζ. B. der Scham, Barmherzigkeit, Aufopferung oder Dankbarkeit. Außerdem widmet er sich der Untersuchung von moralischen Vorbildern wie den Asketen und Heiligen sowie der Analyse von Verbindungen der modernen absoluten Moral mit der christlichen Tradition. Anhand von Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauers Mitleidsmoral werden nun drei seiner Argumente gegen die „absolute Moral" der Moderne vorgestellt. Für Schopenhauer, dessen einflußreiche Moralphilosophie oft als Kontrastfolie der ,immoralistischen' Psychologie dient, ist das Mitleid die Wurzel allen moralischen Handelns bzw. die Quelle der Moral. Das Handeln aus Mitleid, das frei von jeglichem Egoismus sein soll, und bei ihm auf die Vorstellung von einem gemeinsamen Willen in allen Individuen und der daraus resultierenden Annahme einer Gleichheit aller Individuen zurückgeführt wird, bezeichnet Schopenhauer gemäß Nietzsches Zitat als „unmöglich und doch wirklich". 376 Diese Charakterisierung des Mitleids ist Nietzsche äußerst verdächtig, weshalb er die Entstehung der Mitleidsempfindung kritisch untersucht. Entgegen Schopenhauers willensmetaphysische Erklärung gründet das Mitleid seines Erachtens nicht in der unpersönlichen, reinen Liebe. 377 Statt selbst eine monokausale Erklärung abzugeben, konstatiert Nietzsche zunächst eine Vielfalt von Beweggründen, die einen Menschen zu Mitleidsbekundungen veranlassen können. Seine Analysen offenbaren aber nicht allein eine Pluralität von Motiven, sondern sie zeigen auch, daß diese Bekundungen partiell auch auf ein begehrliches Wollen zurückzufuhren sind. „Doch thun wir Etwas der Art (Handlungen des Mitleids, Anm. Verf.) nie aus Einem Motive; so gewiss wir uns dabei von einem Leiden befreien wollen, so gewiss geben wir bei der gleichen Handlung einem Antriebe der Lust nach..." (M 126, siehe auch Μ Α I 71 u. 100)

Auch die Äußerungen des Mitleids sind gemäß seiner Interpretation nicht frei von persönlichen und egoistischen Empfindungen, wodurch der Anspruch der „absoluten Moral", der Mensch könne rein moralisch handeln, als Heuchelei entlarvt werde. Vielfaltig sind die egoistischen Motive, die Nietzsche in den moralischen, scheinbar selbstlosen Handlungen nachzuweisen versucht. Es sei hier nur an die wiederholte Nennung der Eitelkeit, des Selbstgenusses und des Machstrebens erinnert. 378 Neben diesen Motiven

376

Μ Α I 76. Während Nietzsche Schopenhauers Akzentuierung des Mitleids stark kritisiert, lobt er die Moralphilosophien von Piaton und Kant in diesem Punkt, weil sie dem Mitleiden keine derart hohe Bedeutung zusprechen (siehe dazu Μ 125).

377

Ebensowenig soll das Mitleid allerdings auf die menschliche Dummheit zurückzufuhren sein, womit er sich gegen eine These des ansonsten von ihm sehr geschätzten La Rochefoucauld wendet (siehe Μ Α I 70).

378

Vgl. Μ A I 71, 76 u. 104.

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soll auch die Bedeutung des Zwangs und des Sicherheitsstrebens bei der Entstehung der Moral beweisen, daß Schopenhauer und die gesamte Tradition der absoluten Moral irren, wenn sie leugnen, daß die Moral selbst nicht moralisch ist (siehe Μ 89). Ein weiteres Argument Nietzsches gegen die „absolute Moral" richtet sich gegen deren Interpretation der Begriffe ,Freiheit' und , Verantwortung', weil diese die Annahme vertrete, es gebe eine absolute Freiheit und Verantwortung. In dem Textstück Nummer 39 aus Menschliches, Allzumenschliches wird dagegen von dem „Irrthum von der Verantwortlichkeit" und dem „Irrtum der Freiheit des Willens" (ΜΑ I 63) gesprochen. Denn kein Mensch kann nach Nietzsche vollkommen frei handeln, da er immer von bestimmten Traditionen und Lebensumständen abhängig ist. So ist der Einzelne bei seinem Handeln immer auf vorausliegende Weichenstellungen angewiesen und vermag beispielsweise seine Kindheit und frühe Erziehung nicht völlig selbst zu bestimmen, obwohl sie für sein weiteres Leben von großer Bedeutung sind. Außerdem kann er bei einer Entscheidungsfindung niemals alle Momente einer Situation und deren mögliche Konsequenzen erfassen, da er weder seine Mitmenschen, noch sich selbst vollkommen kennt. Nietzsche erinnert in diesem Zusammenhang an seine Kritik des metaphysischen Wahrheitsbegriffs, die auch die Möglichkeit einer absolut wahren Erkenntnis unseres Selbst negiert. „Die Handlungen sind niemals Das, als was sie uns erscheinen! Wir haben viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, - nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso! Die moralischen Handlungen sind in Wahrheit,etwas Anderes', - mehr können wir nicht sagen: und alle Handlungen sind wesentlich unbekannt." (M 109, siehe auch M A I 103)

Ohne ein detailliertes Wissen von dem Wesen der moralischen Handlungen ist nicht zu entscheiden, ob eine Handlung überhaupt auf einem freien Willen beruht. Dann erscheint aber auch die Rede von der völligen Freiheit des Willens als Wurzel des moralischen Handelns wenig überzeugend. Entsprechend betitelt Nietzsche das bereits erwähnte Textstück Nummer 39 in Menschliches, Allzumenschliches auch „Die Fabel von der intelligibelen Freiheit". Wenn der Mensch aber nicht völlig frei handeln kann, wie kann er dann für sein Handeln völlig verantwortlich gemacht werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich Nietzsche wiederholt in seinen moralkritischen Texten und verkündet schließlich konsequenterweise die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln. „Niemand ist fur seine Thaten verantwortlich, Niemand fur sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet." ( Μ Α I 64, siehe auch ΜΑ I 102 u. 103)

Nietzsches Ausführungen zur absoluten ,Freiheit' und Verantwortlichkeit' sollen das problematische, metaphysische Fundament der „absoluten Moral" erschüttern, ob er damit aber jeglichen Begriff von Verantwortung und Freiheit aufgibt, wird später noch zu klären sein. Ein drittes Argument gegen die absolute Moral wendet sich gegen deren Anspruch, die einzige und allgemein verbindliche Moral zu sein. In dem oben genannten Textstück Die Fabel von der intelligiblen Freiheit wird beispielsweise Schopenhauers Begrün-

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D I E FORTSCHRITTSKRITIK D E S FREIEN G E I S T E S

dung der völligen Verantwortlichkeit, die dieser mit dem Schuldbewußtsein des Menschen erklärt, verworfen, weil sich bei verschiedenen Individuen und Kulturen infolge von unterschiedlichen Handlungen Schuldgefühle einstellen können (Siehe ΜΑ I 63). In zahlreichen Untersuchungen versucht Nietzsche zu zeigen, daß die Wertschätzung von gut und böse bzw. von moralisch und unmoralisch, nicht zu allen Zeiten gleich, sondern variant ist. Montaignes und Nietzsches einleitend erwähnte Würdigung des Wanderers und Reisenden hängt auch damit zusammen, daß diese auf ihren Reisen die Vielfalt der Wertschätzungen und Moraltypen kennenlernen und dadurch den ungerechtfertigten Monopolanspruch einer Moral demaskieren können. „Die einmal angenommene Rangordnung der Güter, je nachdem ein niedriger, höherer, höchster Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein... Die Rangordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleich; wenn Jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so ist er nach dem Maasstabe einer früheren Cultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch... Die Rangordnung der Güter selber wird nicht nach moralischen Gesichtspunkten auf- und umgestellt." (ΜΑ I 65)

Die Pluralität und Wandelbarkeit der moralischen Empfindungen werden somit gegen die Annahme eingewendet, es gebe überzeitliche, moralische Tatsachen wie das von Schopenhauer beschriebene Schuldgefühl. 379 Die drei dargestellten Argumente bezüglich der Unmoralität der Moral, der Unverantwortlichkeit des Einzelnen und des Pluralismus der Moraltypen, veranlassen den Psychologen Nietzsche schließlich zu der nüchternen Feststellung: „es giebt keine absolute Moral" (Μ I 131, siehe auch Μ 127).

IV. 3. 2 Die Defizite des moralisch-egalitaristischen Fortschrittsglaubens In den mittleren Schriften attackiert Nietzsche die „absolute Moral", weil sie aufgrund der Täuschung über ihre menschliche, allzumenschliche Herkunft einen absoluten Monopolanspruch erhebt, der den Pluralismus der Moralen verschleiert und unterdrückt. Konstitutiv ist für diese „absolute Moral" der Neuzeit nach Nietzsche eine wirkungsmächtige Fortschrittsvorstellung, die dem Menschen von der schrittweisen Durchsetzung der moralischen Prinzipien die Annäherung an einen allgemeinen Glückszustand verspricht. Der Weg zur moralischen Utopie eines leidfreien Zusammenlebens der Menschen wird von Nietzsches historisch-psychologischer Philosophie nüchtern und akribisch analysiert. In diesem Unterkapitel wird eine Deutung seiner Kritik an dieser Fortschrittsvorstellung vorgelegt, die insbesondere Nietzsches Auseinandersetzung mit der Herkunft und mit den Konsequenzen der Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts der Moral untersucht. Die herrschende Moral der Moderne ist nach Nietzsche die „absolute Moral" des Mitleids und der Gleichheit, die andere Moraltypen leugnet und sich als die einzige und 379

Später betont Nietzsche in der Götzendämmerung, „dass es gar keine moralischen Thatsachen giebt, um sich von den „Verbesserern der Menschheit" deutlich abzusetzen (GD 98). Die Pluralität der Moraltypen wird von Nietzsche auch terminologisch berücksichtigt, wenn er konsequenterweise den Begriff „Moral" im Plural verwendet und von „Moralen" (KSA 9/115) spricht.

(IM)MORALISTISCHE KRITIK AM MORALISCHEN FORTSCHRITTSGLAUBEN

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allgemein verbindliche Moral versteht. Mitleid, Gleichheit, Brüderlichkeit, Altruismus und eine bestimmte Freiheitsauffassung sind die obersten Werte dieser „HeerdenthierMoral", die universale Gültigkeit beansprucht. Von der schrittweisen Monopolisierung dieser Werte und der damit verbundenen Repression gegen alternative, vermeintlich ,unmoralische' Werte, erwartet diese Moral laut Nietzsche die Etablierung einer wahrhaft menschlichen, besseren Gesellschaft. Entscheidende Bedeutung soll dabei der fortschreitenden Abschaffung der Leid verursachenden Momente im Leben zukommen, wobei insbesondere die Beseitigung jeder Form von individuell-schöpferischem Machtstreben anvisiert werde. Gegen diese Hoffnung auf eine schrittweise Abschaffung der Ungleichheit formuliert Nietzsche eine scharfe Replik, die nicht im Altruismus, sondern in der Herausbildung einer nicht-altruistischen Individualethik eine Verbesserung erkennt. Auch in letzterer ist die Gleichheitsvorstellung von zentraler Bedeutung, allerdings strebt sie weder die Abschaffung der individuellen Interessen noch der individuellen Differenzen an. 380 „Der Fortschritt in der Moral bestünde in dem Überwiegen altruistischer Triebe über egoistische und ebenso der allgemeinen Urteile über die in dividuellen? Ist jetzt der locus communis. Ich sehe dagegen das Individuum wachsen, welche seine wohlverstandenen Interessen gegen andere Individuen vertritt (Gerechtigkeit unter Gleichen, insofern es das andere Individuum als solches anerkennt und fördert); ich sehe die Urtheile individueller werden und die allgemeinen Urtheile flacher und schablonenhafter werden." (K.SA 9/238)

Die Fortschrittsvorstellung der neuzeitlichen Moral wird von Nietzsche vehement kritisiert, weil sie einerseits andere, und teilweise auch sich selbst über die Herkunft ihres Fortschrittsglaubens täusche, und andererseits mit ihrer zunehmenden „Flachheit" und „Schablonenhaftigkeit" die Entfaltung von Individuen verhindere, die nicht in bestimmte Schablonen hineinpassten. Der erste Kritikpunkt richtet sich gegen den Anspruch der „absoluten Moral", mit der fortschreitenden Durchsetzung des Altruismus und des Egalitarismus könne das Leid verursachende Machtstreben der Menschen abgeschafft werden. Wie schon in früheren Schriften, verweist Nietzsche in diesem Zusammenhang auf Rousseau und dessen wirkungsmächtigen Entwurf des wünschbaren Menschen. Gemäß seiner Auslegung glaubt Rousseau, in dem Menschen der Zukunft könne die gegenwärtig verschüttete Güte der menschlichen Natur wieder freigelegt, und das leidbringende Streben nach Macht beseitigt werden. Rousseau als auch andere wichtigen Vertreter dieses moralischen Fortschrittsglaubens, wie Comte, Mill und Spencer, ignorieren aus Nietzsches Perspektive jedoch, daß auch der Hoffnung auf eine Annäherung an einen macht- und herrschaftsfreien allgemeinen Glückszustand ein spezifisches Machtstreben zugrunde liegt.381 Es sind seines Erachtens die vergleichsweise schwachen und ängstlichen Individuen, die, aus Furcht vor den schöpferischen und machtvollen Einzelnen, ihr eigenes Ebenbild als das anzustrebende, wahrhaft moralische Menschenbild verabsolutieren, und dadurch das

380 381

Siehe dazu die näheren Ausführungen in den Unterkapiteln IV.3.3 und IV.4.4. Bei diesen Philosophen diagnostiziert Nietzsche einen problematischen „Cultus der Menschenliebe" (M 123). Besonders gefährliche Vertreter dieses Cultus sind seines Erachtens die sozialistischen Ideologen.

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D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

Mitleid, die Gleichheit und den Altruismus zu höchsten Werten stilisieren. Der angestrebte Fortschritt in der Moral fuhrt demnach nicht zu der angekündigten Abschaffung des Machtstrebens, sondern er dient vielmehr zur Verwirklichung eines spezifischen Machtstrebens. Nach Nietzsche steht diese letztlich selbstwidersprüchliche moralische Fortschrittsvorstellung in der jüdisch-christlichen Tradition, was auch in dem bereits oben angeführten Nachlaßtext vom Herbst 1880 angedeutet wird. „Ich sehe in der staatlichen und gesellschaftlichen Tendenz eine Hemmung fur die Individuation, ein Ausbilden des homo communis: aber der gemeine und gleiche Mensch wird nur deshalb so begehrt, weil die schwachen Menschen das starke Individuum furchten und lieber die allgemeine Schwächung wollen, statt der Entwicklung zum Individuellen. Ich sehe in der jetzigen Moral die Beschönigung der allgemeinen Schwächung·, wie das Christenthum die starken und geistigen Menschen schwächen und gleichmachen wollten." 382

In der Textpassage wird eine in den späteren Schriften detailliert analysierte Verbindung zwischen dem Christentum und der modernen „Gleichheitsmoral" nur angedeutet, aber es wird bereits ein gemeinsamer, von Nietzsche heftig attackierter Wesenszug genannt: der Heil- bzw. Fortschrittsgedanke, der, aus einem ressentimentgeladenen Streben nach Macht heraus, eine künftige Abschaffung des Leid verursachenden Machtstrebens anvisieren soll. Die Demaskierung der Gleichheits- und Mitleidsmoral als Ideologie leistet nach Nietzsche die historisch-psychologische Wissenschaft, die die menschlich-allzumenschliche Herkunft der Vorstellung eines allgemeinen moralischen Fortschritts offenbart. Das zweite Argument Nietzsches gegen den Fortschrittsglauben der neuzeitlichen Moralphilosophie bezieht sich auf dessen Konsequenzen. Auch seine Moralkritik konstatiert, daß die gefahrlichen, immoralistischen Eigenschaften des Menschen bis zu einem gewissen Grad sublimierbar sind, aber die Sublimation ist nicht mit deren Abschaffung zu verwechseln. In der Moderne diagnostiziert er statt einer fortschreitenden Beseitigung eine folgenschwere Verlagerung der Grausamkeit. Es sind insbesondere die vielfältigen Formen der Repression gegen das schöpferische Machtstreben der freien Geister, die er als unmittelbare Folgen des moralischen Fortschritts' erkennt. Wiederholt erinnert Nietzsche in diesem Zusammenhang an die terroristischen Folgen der Französischen Revolution, deren Auslöser er in den optimistischen Fortschrittsverheißungen zu verorten glaubt. 383 Auch der egalitaristische Terror der Französische Revolution steht seiner Ansicht nach letztlich in der Tradition des Christentums, das den machtvollen freien Geist „gleichmachen" (KSA 9/238) wolle. 384 Die Verwirklichung 382

383

384

KSA 9/238. Siehe auch das Textstück 132 aus der Morgenröthe, das den Titel „Die ausklingende Christlichkeit in der Moral" trägt (M 123). Siehe MA 299. An dieser Textstelle betont Nietzsche die seines Erachtens fatale Wirkung Rousseaus auf die Revolutionäre. Sein Verhältnis zu Rousseau ist jedoch nicht auf eine bloße Ablehnung zu reduzieren, was beispielsweise das Ende von Vermischte Meinungen und Sprüche belegt, w o er neben Epikur, Montaigne, Goethe, Spinoza, Plato, Pascal und Schopenhauer auch Rousseau als bedeutenden Denker würdigt. Siehe ΜΑ II 534). Im Unterschied zu diversen moralischen Bewegungen der Moderne soll das Christentum jedoch nicht den unmittelbaren Umsturz der inegalitären Ordnungen gepredigt haben (siehe ΜΑ I 299). In dem Textstück 473 von Menschliches, Allzumenschliches geht Nietzsche noch weiter in der Ge-

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des angestrebten Egalitarismus scheitert aus Nietzsches Perspektive an der unüberwindbaren Differenz der Menschen. Gleichwohl erkennt er in der Tendenz zu einem alles nivellierenden, moralischen Fortschritt eine große Gefahr. So soll mit einer Einschränkung des Individuellen zugunsten des Allgemeinen ein altruistischer Rückschritt ins Animalische drohen, das erst durch die Ausbildung des Individuellen überwunden worden war. „das Princip ,das Wohl der Mehrzahl geht über das Wohl des Einzelnen' genügt um die Menschheit alle Schritte bis zur niederesten Thierheit zurück machen zu lassen. Denn das U m gekehrte (,der Einzelne mehr werth als die M a s s e ' ) hat sie erhoben"

( K S A 9/334, vgl.

9/238)385

Die Pointe dieses Arguments liegt in der Annahme, daß der altruistische Fortschritt zwar das verdeckte Machtstreben der weniger machtvollen Individuen auf Kosten der freien Geister zu befriedigen vermag, aber letztlich zu einer Regression der gesamten Menschheit fuhrt. Der allgemeine Fortschritt der Moral, der eine umfassende und gleiche Befriedigung aller Bedürfnisse verspricht, offenbart sich damit als Rückkehr zu den niederen Bedürfnissen. Mit den beiden vorgestellten Argumenten versucht Nietzsche, die innere Widersprüchlichkeit und die fatalen Folgen der Fortschrittsvorstellung der „HeerdenthierMoral" aufzuzeigen. Darüber hinaus deutet er an, daß nicht nur der Glaube an eine fortschreitende Annäherung an einen allgemeinen leidfreien Zustand auf Erden, sondern das metaphysische Gedankengut überhaupt, dem Machtstreben der „Heerde" dient. In scharfen Formulierungen versucht Nietzsche, die absoluten Wahrheiten der traditionellen Metaphysik, die auf einen vermeintlich höheren „Wunder-Ursprung" gründen sollen, als Mittel einer verhängnisvollen egalitaristischen Moral bloßzustellen. „ D i e Tendenz der altruistischen Moral ist der sanfte Brei, der w e i c h e Sand der Menschheit. D i e Tendenz der allgemeinen Urtheile ist die Gemeinsamkeit der Gefühle. Es ist die Tendenz nach dem Ende der Menschheit.

Die ,absoluten Wahrheiten' sind das Werkzeug der N i v e l l i -

rung, sie fressen die charaktervollen Formen hinweg." ( K S A 9 / 2 3 9 , vgl. Μ 1 5 4 / 1 5 5 )

Die metaphysische Rede von „absoluten Wahrheiten" wird damit von Nietzsche als eine moralische Strategie entlarvt, die bestimmten Machtinteressen dient. Statt vom menschlichen, allzumenschlichen Machtstreben unabhängig zu sein, wären diese Wahrheiten demnach lediglich Instrumente dieses Machtstrebens. Sie sind gemäß Nietzsches Interpretation nicht,höchste' Zwecke, die aus dem Wesen des ,Dinges an sich' entspringen, sondern effiziente Mittel für die bisher stigmatisierten ,niederen' Zwecke. Die potentielle Gefahr der altruistischen Moral wird in dem obigen Zitat nochmals deutlich hervorschichte zurück und erkennt in dem „alte(n) typische(n) Socialist(en) Plato" ( M A I 2 0 7 ) einen vermeintlichen Vorläufer des Despotismus gegen das Individuum. Richtig ist, daß Piaton angesichts des Verfalls der Polis einen absoluten Individualismus abgelehnt hat, aber gleichzeitig hat gerade er g e g e n die zeitgenössischen Gleichheitsparolen die unterschiedlichen Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen verteidigt. Daß Nietzsche Piaton trotz seiner großen N ä h e zu dessen Philosophie als Sozialisten stigmatisiert, erscheint mir einfach grotesk. 385

A u c h dieses Zitat belegt, daß Nietzsche sich intensiv mit dem Verhältnis Tier/Mensch auseinandergesetzt hat.

162

D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

gehoben: die reiche Vielfalt von „charaktervollen Formen" wird zerstört und am Ende der gleichgeschalteten Menschheit triumphiert die Schablone des letzten Menschen.386 In dem Vermögen, verdeckte Entstehungs- und Entwicklungslinien der Moral zu demaskieren, liegt nach Nietzsche die spezifische Bedeutung der psychologischhistorischen Wissenschaft. Sein ausdrückliches Bekenntnis zu dieser Wissenschaft und zur Aufklärung bedeutet aber nicht, daß seine mittleren Schriften als „positivistisch" bezeichnet werden können.387 So distanziert er sich ausdrücklich vom Positivismus, den er in Comtes Texten kennengelernt hat und als eine Form der „absoluten Moral" entlarvt (Siehe KSA 9/362). Seine Hoffnung auf ein Fortschreiten der Wissenschaften bezieht sich vor allem auf eine Aufklärung über das Menschliche, Allzumenschliche, ohne davon jedoch eine fortschreitende Abschaffung der Leid verursachenden Momente im Dasein zu erwarten. Die Vorstellung eines egalitaristischen Fortschritts in der Moral erscheint ihm dagegen als selbstwidersprüchlich und zerstörerisch.

IV. 3. 3 Der Fortschritt zur Individualethik Die vehemente Kritik an der bisherigen Moral und die provokante Selbstcharakterisierung als „Immoralist" haben seit über einem Jahrhundert heftige Angriffe auf Nietzsches Philosophie ausgelöst. Auch der Vorwurf einer Nähe Nietzsches zur Ideologie des Nationalsozialismus gründet zumeist auf seiner „immoralistischen" Psychologie, die gemäß einigen Interpreten eine grausame Verabschiedung vom Humanismus antizipiere. Obwohl Nietzsches Aussagen zur Moral äußerst vielschichtig sind, bleibt gegen diese Angriffe einzuwenden, daß seine Kritik keine Absage an jegliche Moral impliziert. Die Pluralität der moralischen Ordnungen erlaubt ihm vielmehr, die verschiedenen Moralen unterschiedlich zu bewerten. Außerdem konstatiert er in Menschliches, Allzumenschliches einen Zusammenhang von verschiedenen Moralen, die von ihm in Phasen eines Entwicklungsprozesses gegliedert werden. Da die Abfolge dieser Phasen von ihm als ein Höhersteigen bewertet wird - ausdrücklich verwendet er die Begriffe „Sprossen" und „Stufen" (ΜΑ I 90 u. ΜΑ II 573) - kann Nietzsche in einem bestimmten Sinn auch die Vorstellung von einem „Fortschritt der Moral" affirmieren.388 In den moralkritischen Textabschnitten der mittleren Schriften werden wiederholt beistimmte Phasen der Moral unterschieden, wobei insbesondere auch Mutmaßungen 386 387 388

Siehe dazu Zarathustras Rede vom letzten Menschen (Za 19 f.). Lou Andreas-Salome: Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Frankfurt a. M. 1983, S. 36. Nietzsche benutzt den Terminus auch dreimal explizit positiv in Verbindung mit der Entwicklung der Moral. Die Feststellung, es sei „ein großer Fortschritt zu lernen, daß alles Moralische nicht mit dem Ding an sich zu thun hat" (KSA 8/460), findet sich in den nachgelassenen Schriften zwischen Ende 1876 und Sommer 1977. Im Sommer 1880 werden die „Anfange der Moral mit dem Zwecke individueller Folgen" als „Fortschritt" bezeichnet (KSA 9/105). Schließlich wird in den Nachlaßnotizen, die Nietzsche zwischen Frühjahr und Herbst 1881 niederschreibt, das „schärfer-Fassen des Wahren im Anderen und in mir und in der Natur" als „Hauptfortschritt der Moral" (KSA 8/450) bezeichnet. Seine in meinem letzten Unterkapitel dargestellte Kritik an der zeitgenössischen Deutung eines „Fortschritts in der Moral" wendet sich somit nicht gegen mögliche alternative Auslegungen dieses Terminus.

(IM)MORALISTISCHE KRITIK AM MORALISCHEN FORTSCHRITTSGLAUBEN

163

über die Anfange des Menschen angestellt werden. Gemeinsam mit Darwin ist Nietzsche davon überzeugt, daß der Mensch vom Tier abstamme, und sein Handeln von dem Drang zur unmittelbaren, oft gewaltsamen Befriedigung der triebhaften Bedürfnisse dominiert gewesen sei. Erst mit der Entstehung der Moral beginnt der Mensch sich nach Nietzsche von seinen tierhaften Bindungen zu lösen: Erst durch die Moral wird der Mensch zum Menschen. Diese Loslösung wird in expliziter Absetzung zu Rousseau als ein gewaltsamer Zähmungsprozeß beschrieben, der schrittweise die grausamen Antriebe des Menschen zurückdrängt.389 Der gesamte Zivilisationsprozeß soll demnach auf der Eindämmung der animalischen Triebe durch den moralischen Zwang gründen, dem unzählige Menschen zum Opfer fallen. Bereits in Menschliches, Allzumenschliches wird ein Wandel der Disziplinarmechanismen detailliert beschrieben, durch den der Mensch begonnen habe, sich schrittweise den moralischen Geboten und Verboten zu fügen. Entscheidend sei dabei eine Veränderung der Einstellung bei der Befolgung des Pflichtenkanons gewesen, der nur anfangs als aufoktroyiert und leidbringend empfunden worden sei. Später seien die Pflichten aus eigenem, ,freien' Antrieb heraus angenommen worden und schließlich habe sich sogar ein Moment des Genusses bei deren Erfüllung eingestellt. „Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich zur Vermeidung der Unlust, fugt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft und heisst nun Tugend." ( Μ Α I 96)

Charakteristisch fur die entwickelte Moral ist gemäß dieser Auslegung, daß ein Mensch sich ohne direkten Zwang dafür entscheidet, die geltenden Gebote und Verbote zu beachten, und seine widerstrebenden Antriebe dementsprechend unterzuordnen. Auf die Fähigkeit einer derartigen Unterordnung, die den Menschen vom triebgesteuerten Tier unterscheiden soll, bezieht sich auch Nietzsches berühmtes und viel diskutiertes Diktum, der Mensch behandele sich in der Moral „nicht als individuum, sondern als dividuum".390 Allerdings wird das Verhältnis von tierischem und moralischem Verhalten nicht als ein absoluter Gegensatz gedeutet. Mehrfach betont Nietzsche, daß sich die animalische Abstammung des Menschen auch in der Moderne noch auswirkt, wobei er insbesondere an die Bedeutung der Affekte und der Triebe in der herrschenden Moral erinnert.391 Von den verschiedenen Phasen der Moralentwicklung, die von Nietzsche wiederholt in drei aufeinander aufbauende Hauptstufen gliedert wird, sollen an dieser Stelle die ersten beiden nur knapp angedeutet werden, ehe auf die letzte ausführlicher eingegan389

In einem Kurztext aus Der Wanderer und sein Schatten wird die Überwindung des „Zürnen(s) und Strafen(s)", das noch der Tierheit entstammen soll, als ein „Fortschritt aller Fortschritte" ( Μ Α II 631) bezeichnet.

390

MA 76. Mit dem Begriff des „dividuum" wird an die Spannung zwischen verschiedenen Motiven im moralisch handelnden Individuum erinnert, die darin kulminiert, daß der Mensch „den einen Teil dem anderen zum Opfer bringt" (ebenda). Siehe auch die Interpretation dieser Textpassage von Volker Gerhardt (ders.: (1992) S. 126 f.).

391

Siehe beispielsweise den Kurztext 26 aus der Morgenröthe, ral" trägt (M 36 f.).

der den Titel „Die Thiere und die Mo-

164

D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

gen wird. 392 Gemeinsam soll allen Stufen eine Ausrichtung auf den Nutzen sein. Die Anfänge der Moral, also der Übergang vom Tier zum Menschen, zeichnen sich durch die vereinzelte Unterordnung der unmittelbaren Bedürfnisse unter längerfristige Partikularinteressen aus. Da der Mensch den potentiellen Nutzen von verschiedenen Situationen zu reflektieren vermag, spricht Nietzsche auch von der Geburt der „freie(n) Herrschaft der Vernunft" (MA 191). Auf der zweiten Stufe ist der Nutzen dagegen an die Ehre gebunden, die den Gehorsam gegenüber einem altbegründeten, vermeintlich absoluten Gesetz verlangt. Der Einzelne strebt dabei nach der Achtung der anderen Menschen, die von der Ausrichtung auf die überlieferten Werte der Gemeinde abhängt. Die dritte Stufe der Moral wird von Nietzsche als die bisher fortgeschrittenste und erstrebenswerteste präsentiert, allerdings soll sie lediglich von wenigen, außergewöhnlichen Einzelnen erreicht werden. Geprägt ist diese Stufe von der oben dargestellten Demaskierung und der daraus resultierenden Implosion der absoluten Moralwerte, die an ihren überzogenen Geltungsansprüchen zugrunde gehen. Die Erkenntnis, das „alles Moralische nichts mit dem Ding an sich zu thun hat", wird von Nietzsche explizit als ein „großer Fortschritt" (KSA 8/460) bezeichnet. Die Konsequenz dieser Entwicklung, die auch durch die ,immoralistische' Psychologie nachhaltig beschleunigt werden soll, ist aus Nietzsches Perspektive zunächst ein bedrohlicher Verlust an Orientierung, denn die bisherigen Ziele erscheinen fortan als widersinnig und der Menschen sieht sich unausweichlich mit der Frage konfrontiert: „Wohin bewegen wir uns?" (FW 480). In dieser Situation der Unsicherheit soll dem Einzelnen schließlich allein sein eigenes Urteilsvermögen bleiben, mit dem er die je konkrete Sachlage abwägen und Entscheidungen treffen kann. Dabei wandeln sich nach Nietzsche die Begriffe der Achtung und der Ehre, denn der Einzelne bestimmt nun selbst den Nutzen einer Handlung und ist damit nicht mehr primär von fremden Wertschätzungen abhängig. Das Prinzip der Ehre fordert vom Einzelnen auf dieser Stufe der Moral, den selbst auferlegten Kodex zu erfüllen. „Endlich handelt er, auf der höchsten Stufe der bisherigen Moralität nach seinem Maasstab über die Dinge und Menschen, er selber bestimmt für sich und Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist; er ist zum Gesetzgeber der Meinungen geworden, gemäss dem immer höher entwickelten Begriff des Nützlichen und Ehrenhaften." 393

Im Gegensatz zum weniger entwickelten Menschen spricht Nietzsche bei dem Menschen dieser höchsten Stufe von dem „reifen Individuum" oder der „ganze(n) Person" (ΜΑ I 91/92). Dessen Reife soll sich insbesondere in der Besinnung auf die Fragwürdigkeit der individualitätsverleugnenden, herrschenden Moral und auf die positiven Aspekte des Persönlichen niederschlagen, wodurch der vermeintliche Gegensatz von

392

Eine Zusammenfassung der trimeren Struktur der moralischen Entwicklung präsentiert Nietzsche im Aphorismus 9 4 von Menschliches. Allzumenschliches, der im folgenden näher analysiert wird ( Μ Α I 91, vgl. auch Μ Α II 573 u. JGB 32).

393

Μ A 1 9 1 . Das Erreichen dieser Stufe bedeutet nicht, daß der Einzelne vollkommen frei von gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen ist. Wiederholt betont Nietzsche seine Ansicht, daß es in diesem Zusammenhang keine absolute Freiheit gibt. Es soll seines Erachtens j e d o c h möglich sein, die gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse zu hinterfragen.

(IM)MORALISTISCHE KRITIK AM MORALISCHEN FORTSCHRITTSGLAUBEN

165

persönlichen und unpersönlichen Handlungen überwunden werden soll. Im Unterschied zu weiten Teilen der moralphilosophischen Tradition, sieht Nietzsche in dem Streben des reifen Einzelnen, sein eigenes Wohlergehen nicht zu verleugnen, sondern vielmehr bewußt in den Vordergrund zu stellen, die bislang höchste moralische Reife. Die Pointe an dieser Perspektive liegt in der Annahme, daß mit der Steigerung des eigenen Wohls entsprechend auch das Wohl der Anderen wächst. 394 Fraglich bleibt allerdings, wieso mit dem Streben nach dem individuellen Vorteil auch der allgemeine Nutzen am größten sein soll. Diese Annahme begründet Nietzsche einerseits mit der Überwindung der überzogenen, die tatsächlichen Partikularinteressen kaschierenden Verabsolutierungen, die die früheren Stufen der Moral ausgezeichnet haben sollen. Andererseits soll sich der Selbstgenuß auf dieser Stufe verfeinert haben und nicht länger auf die Maximierung der Befriedigung von niederen Bedürfnissen konzentrieren. Mit der wachsenden Selbstbeherrschung vermag das reife Individuum demnach, seine vielfaltigen, oft grausam-aggressiven Antriebe zu zügeln, ihnen gleichzeitig aber auch ausreichend verfeinerte Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen. „Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser Ansichten bevor stehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass gerade in der möglichst persönlichen Rücksicht auch der Nutzen für das Allgemeine am grössten ist:... Es kommt nur darauf an, was man als seinen Vortheil versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen." ( Μ Α I 92)

Die Mitmenschen werden gemäß Nietzsches Auslegung durch ein „reifes Individuum", das seine eigenen Interessen angemessen berücksichtigt und sich dementsprechende Gesetze selbst auferlegt, weniger belastet werden als durch Menschen, die vermeintlich unpersönliche, moralische Vorsätze predigen, ohne sie selbst einhalten zu können. Die in den mittleren Schriften skizzierte trimere Stufenabfolge der Moralen darf allerdings nicht dahingehend interpretiert werden, daß mit der Moderne die höchste Stufe der Moral erreicht wird und nun alle Menschen die moralische Reife erlangen werden. Das selbstverantwortliche Individuum soll vielmehr eine Ausnahme bilden, die nur unter bestimmten Bedingungen heranreifen kann. Gefährdet wird dieser Reifungsprozeß nach Nietzsche durch die Mitmenschen, die entweder noch weitgehend von animalischen Antrieben beherrscht werden oder aber sich auf der ersten bzw. zweiten Stufe der Moral befinden und die Distanzierung von diesen Stufen als unmoralisches Verhalten auslegen. 395 Besonders bedrohlich sind in der Moderne seines Erachtens diejenigen Tendenzen, die eine extreme Domestikation der vielfältigen Antriebe der Individuen anstreben, um einen ,besseren' Menschen zu schaffen. So diagnostiziert er als Zeichen seiner Zeit, daß die zunehmende Vereinheitlichung der Bedürfnisnaturen als Grundlage eines moralischen Fortschritts begeistert aufgenommen wird. „Es scheint jetzt Jedermann wohlzuthun, wenn er hört, dass die Gesellschaft auf dem Wege sei, den Einzelnen den allgemeinen Bedürfnissen anzupassen und dass das Glück und zugleich das

394

395

Am wichtigsten bleibt für Nietzsche allerdings auch in den mittleren Schriften die Ausbildung der höheren Individuen und nicht das allgemeine Wohlergehen (siehe dazu Kapitel IV.4.). Eine weitere Gefahr ist zudem des „höheren Menschen" Scheitern an den eigenen Defiziten (siehe ζ. Β. ΜΑ II 628).

166 Opfer des Einzelnen fühlen:..." 396

D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN G E I S T E S darin liege, sich als ein nützliches Glied und Werkzeug des Ganzen zu

Gegen diese Bereitschaft zur Opferung der je spezifischen Bedürfnisse des Einzelnen auf dem Altar eines allgemeinen moralischen Fortschritts wehrt sich Nietzsche ebenso 397

entschieden wie vor ihm schon Max Stirner. Beide Denker kritisieren, daß die egalitaristische Fortschrittsvorstellung zu einer empfindlichen Einschränkung und Unterdrückung der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten fuhrt. Entsprechend heftig sind auch Nietzsches Angriffe auf die sozialistisch-revolutionären Bewegungen der Moderne, die eine mögliche Verbesserung des Menschen durch eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse erwarten. 398 Aus seiner Perspektive stellen die neuzeitlichen Revolutionen, die die Gleichheit als absolutes Postulat verkünden, keinen Fortschritt dar, weil sie den Menschen in seiner je spezifischen Einzigartigkeit nicht anerkennen und damit verstümmeln. 399 Nietzsches Urteil, daß der Socialismus „reactionär" sei, wird vor dem Hintergrund seines Entwicklungsschemas der Moral deutlich: Wenn der Socialismus die „Vernichtung des Individuums anstrebt" (ΜΑ I 307), dann ist die bisherige höchste Stufe der Moral massiv gefährdet. Gegenüber dieser Tendenz einer Vereinheitlichung der Bedürfnisnatur betont er die Vielfalt der individuellen Ansätze und erkennt in der Steigerung der einzigartigen, höchsten Bedürfnisse die Voraussetzung für einen potentiellen Fortschritt der Moral. Statt eines allgemeinen moralischen Fortschritts wird somit ein Fortschritt in der Entwicklung der Moral angestrebt, der um die Förderung von außergewöhnlichen Einzelnen zentriert ist.400 Zu beachten bleibt bei Nietzsches Stufenmodell, daß die dritte Stufe der Moral nicht die höchste Stufe schlechthin sein soll, sondern lediglich die fortschrittlichste Phase der bisherigen Entwicklung darstellt. Ausdrücklich betont Nietzsche, daß weitere Steigerungen möglich sein können, weil das gegenwärtige menschliche Urteilen und Handeln noch überboten werden kann. 401 Da sich im gegenwärtigen Zeitalter jedoch allein im selbstverantwortlichen, reifen Individuum die höchste Stufe der Moral manifestieren soll, engagiert sich Nietzsche in seinen Schriften für dessen Herausbildung. 396

Μ 124. Dagegen verweist Nietzsche mit einer düsteren Beschreibung eines Märtyrers wider Willen, der aus Feigheit vor der Mißachtung seiner Parteigenossen ,heroisch' in den Tod geht, auf die negativen Aspekte der Anpassung (siehe MA 83). In der Moderne diagnostiziert er einen eklatanten „Mangel an Person" (FW 577), so daß den Anpassungsprozessen kaum Widerstand geleistet werde. Wie schon in den frühen Schriften vergleicht er die angepassten Menschenmassen mit „Sand", dem die Schärfen und Kanten (M 155) fehlen. Vgl. auch FW 526.

397

Siehe Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart 1985, S. 207 ff. Trotz aller Differenzen stimmt Nietzsche hinsichtlich einer Absage an den Egalitarismus mit Stirner überein. Nochmals sei in diesem Zusammenhang auf die von Nietzsche hervorgehobene Bedeutung Rousseaus hingewiesen, an dessen Fortschrittslehren die Sozialisten anknüpfen sollen (siehe ΜΑ I 299).

398

399

Siehe ΜΑ I 307. Allerdings lehnt Nietzsche revolutionäre Bewegungen nicht völlig ab, sondern würdigt ihre Funktion als Energiequelle in bestimmten Zeiten.

400

Dieser Ansatz markiert Nietzsches entschiedene Distanz zu allen egalitaristischen Aufklärungsvorstellungen. Siehe ΜΑ I 104. In diesem Textstück werden die Wandelbarkeit der Moral hervorgehoben, und die Möglichkeit von deren Weiterbildung durch eine Steigerung der Grade der menschlichen Urteilsfähigkeit anvisiert.

401

(IM)MORALISTISCHE KRITIK AM MORALISCHEN FORTSCHRITTSGLAUBEN

167

IV. 3. 4 Anmerkungen zu Nietzsches Moralkritik Nietzsches psychologisch-genealogische Kritik der „absoluten Moral" ist teilweise gewürdigt, oft aber auch vehement angegriffen worden. Dem bekannten Lob von Sigmund Freud stehen vielfaltige Ablehnungen gegenüber, die den ,Immoralisten' vereinzelt sogar zum größten Feind der Menschheit erheben.402 Auch die zeitweise vorherrschende Ansicht, Nietzsche sei aufgrund seiner Moralkritik ein wichtiger Vorläufer des Faschismus gewesen, ist teils immer noch verbreitet, was beispielsweise betreffende Äußerungen von Ernst Tugendhat in seinen Vorlesungen über Ethik belegen.403 Diese anhaltend heftigen Reaktionen auf Nietzsches Auseinandersetzung mit der Moral verwundern, weil dank der Veröffentlichung der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Schriften seine nuancierten Aussagen zur Moral nunmehr allgemein zugänglich sind. Zudem haben verschiedene Interpreten in den letzten Jahren die Vielschichtigkeit und Fruchtbarkeit seiner praktischen Philosophie herausgearbeitet.404 Die folgende Untersuchung eines aktuellen Rezeptionsstrangs seiner Moralkritik wird sich auch mit der Empörung über seinen „Immoralismus" beschäftigen, die eng mit Nietzsches Stellung zur Idee eines allgemeinen moralischen Fortschritts verwoben ist. Im Unterschied zu Interpreten, die von der „Moral der Individualität"405 Nietzsches sprechen oder ihn selbst als einen „Moralisten des Amoralismus"406 bezeichnen, wird in einer aktuellen Diskussion in den USA wiederholt ausdrücklich sein „Immoralismus" betont. Alexander Nehamas und Philippa Foot erkennen beispielsweise in den Versuchen, bei Nietzsche fruchtbare Ansätze einer künftigen Moral herauszuarbeiten, eine

402

Freud lobt Nietzsche, weil sich dessen „Ahnungen und Einsichten... oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken" (ders.: Selbstdarstellung. In: Gesammelte Werke. Bd. 14. Hrsg. v. A. Freud u. a. London 1940, S. 86). V e h e m e n t verworfen wird N i e t z s c h e s psychologische Moralkritik dagegen von W o l f g a n g Harich, weil er dessen Philosophie v o n gefahrlich-reaktionären Tendenzen bestimmt sieht. Siehe W o l f g a n g Harich: Nietzsche und seine Brüder. Berlin 1994.

403

Siehe Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. 1993, S. 218. D i e s e These vertritt beispielsweise auch Ernst Sandvoss, der in Nietzsche einen wichtigen Wegbereiter d e s „Hitlerismus" erkennt (ders.: Hitler und Nietzsche. Göttingen 1969). Problematisch erscheint mir auch Bernhard Taurecks Charakterisierung N i e t z s c h e s als „Protofaschisten", weil mit diesem Begriff N i e t z s c h e s Engagement für die Anerkennung v o n Ungleichheiten nicht angemessen beschrieben wird (siehe ders.: Nietzsche und der Faschismus. Hamburg 1989, S. 188).

404

Siehe beispielsweise die bereits zitierte Monographie von Henning Ottman und den in den

Nietz-

sche-Studien veröffentlichten Aufsatz von Volker Gerhardt Selbstbegründung. Nietzsches Moral der Individualität. In: N.-St. 21 (1992), S. 28 ff. Ein interessanter Kommentar zu Jenseits von Gut und Böse trägt den Titel Die Moral von Nietzsches ral von Nietzsches Moralkritik. B o n n 1989.

Moralkritik.

Siehe Paul van Tongeren: Die

Mo-

405

S o der Titel des oben erwähnten Aufsatzes von Volker Gerhardt, in dem fünf zentrale Einwände N i e t z s c h e s gegen die bisherige Moral als Kriterien für eine Moral der Zukunft herausgearbeitet

406

Thomas Rentsch: Die Aufhebung der Ethik. Frankfurt a. M. 1990, S. 126. Im Unterschied zu Volker Gerhardt versucht Rentsch vor allem mögliche Inkonsistenzen v o n N i e t z s c h e s Versuch einer genea-

werden.

logischen A u f h e b u n g der Moral nachzuweisen.

168

D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN G E I S T E S

Verharmlosung, weil sie Nietzsches ausdrückliche Verabschiedung von jeglicher Moral nicht angemessen interpretieren. Während Nehamas allerdings Nietzsches Position zur Moral noch als produktiv beschreibt, so lehnt Foot dessen „Immoralismus" vehement ab, weil er auf gravierenden immanenten Widersprüchen basiere und eine ernsthafte Gefahr ftir den moralischen Fortschritt bilde.407 Ihre Kritik soll im folgenden näher untersucht werden, da sie meines Erachtens ein verbreitetes Unbehagen an Nietzsches Moralkritik artikuliert. Zu Beginn ihres Aufsatzes Nietzsches Immoralism würdigt Foot sehr knapp und unbestimmt Nietzsches moralkritischen Untersuchungen, ehe sie versucht, die ihrer Ansicht nach zentralen Argumente Nietzsches gegen die Moral zu entkräften.408 Im Hinblick auf mein Thema sind insbesondere zwei der von ihr erhobenen Einwände von Interesse. Der erste Einwand richtet sich gegen seine Kritik des freien Willens und der Verantwortlichkeit. Im Anschluß an ein Zitat einer Textpassage aus dem Kurztext Nummer 107 aus Menschliches, Allzumenschliches, der den Titel „Unverantwortlichkeit und Unschuld" trägt, konstatiert sie zunächst, daß seine Kritik an der umfassenden Verantwortung des Menschen kaum eine aktuelle Moralkonzeption des späten 20. Jahrhunderts trifft, weil mittlerweile weder der Begriff des freien Willens überschätzt, noch die Bedeutung von unbewußten Motiven unterschätzt werden.409 Ohne anzumerken, daß gerade diese Entwicklung auch ein Verdienst von Nietzsche sein könnte, fordert sie daraufhin eine Differenzierung des Begriffs , Verantwortung', der bei Nietzsche zu eindimensional beschrieben werde. Dieser Vorwurf bezieht sich auf den oben genannten Kurztext, in dem Nietzsche von der „völligen Unverantwortlichkeit des Menschen ftir sein Handeln" spricht und damit die Betonung der Verantwortlichkeit in der herrschenden Moral kritisiert. Die Interpretation dieser Textstelle durch Foot erscheint mir nicht überzeugend, da Nietzsche trotz seiner Kritik an einer bestimmten Deutung des Begriffs keinesfalls völlig auf ihn verzichtet.410 Seine Kritik richtet sich vielmehr gegen das verbreitete Verständnis von Verantwortung, nach dem der Einzelne gegenüber einer übergeordneten Instanz verantwortlich sei und deren vorgegebene Normen zu erfüllen habe.411 Mit dem Entwicklungsschema der Moral deutet Nietzsche dagegen an, daß eine

407

Zu Alexander Nehamas Auseinandersetzung mit Nietzsches Moralkritik siehe sein Buch Life as literature (siehe S. 257 ff.) und seinen Aufsatz The Genealogy of Genealogy. In: Nietzsche, Genealogy, Morality. Berkeley/Los Angeles/London 1994, S. 6.

408

Im Gegensatz zu den meisten anderen Diskussionsteilnehmern konzentriert sich Foot dabei nicht allein auf Jenseits von Gut und Böse und die Genealogie der Moral, sondern sie bezieht sich auch auf Menschliches, Allzumenschliches und die Fröhliche Wissenschaft. Siehe Philippa Foot: Nietzsches Immoralism. In: Nietzsche, Genealogy, Morality (1994) S. 3 ff.

409

Siehe Foot (1994) S. 11.

410

Die Gefahr ist, Nietzsche an dieser Textstelle allzu wörtlich zu nehmen, wovor insbesondere Thomas Mann eindringlich gewarnt hat. Den Begriff der Verantwortung stellt Richard Wisser in das Zentrum seines Aufsatzes Nietzsches Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld Jedermannes. Treffend betont Wisser dabei Nietzsches Distanz zu einer instanziellen Verantwortlichkeit, ohne jedoch die positive Konnotation des Begriffs „Verantwortung" bei ihm herauszuarbeiten. So kommt er zu dem meines Erachtens voreiligen Schluß, daß Nietzsche „angesichts konkreter Probleme unserer Zeit... nicht das

411

(IM)MORALISTISCHE KRITIK AM MORALISCHEN FORTSCHRITTSGLAUBEN

169

höhere Stufe der Moral erreicht ist, wenn ein Individuum allein sich selbst gegenüber verantwortlich zeichnet. Die von Foot geforderte Differenzierung des Begriffs ist somit bereits bei Nietzsche anzutreffen. Der zweite Einwand gegen Nietzsches Moralkritik bezieht sich auf dessen Absage an die Universalisierbarkeit von moralischen Urteilen, demgemäß ein Verhalten für alle Menschen nicht generell als ,gut' bzw. ,böse' beurteilt werden kann. 412 Mit einem Verweis auf einen Vortrag Thomas Manns fragt Foot, ob sich Nietzsches Weigerung, von dem ,Bösen an sich' zu sprechen, nach der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors nicht als ein gravierender Fehler herausgestellt habe. 413 Der Hintergrund seiner Verfehlung liegt nach Foot in Nietzsches Betonung der unaufhebaren Differenzen zwischen den Menschen, die die Legitimation von grausamen Ungerechtigkeiten ermöglicht. So lautet ihr zentraler Vorwurf an Nietzsche: Aus seiner Kritik an der Universalisierbarkeit resultiert eine Bedrohung der Tugend der Gerechtigkeit, weil aufgrund seiner Ablehnung der Idee der Gleichheit das Fundament fur ein gerechtes Urteilen nachhaltig erschüttert ist. „In any case I do not think it should be argued that the virtue of justice can be accommodated within Nietzsche's picture of splendid individuals finding each his own values and ,his own way'... Nietzsche says at one point that contempt is better than hatred, and o f course he thinks the idea o f equality utterly despicable." 4 1 4

Im Gegensatz zu Nietzsches Emphase der Ungleichheit der Menschen erinnert Foot in diesem Zusammenhang an Gertrud Steins Rede von dem „sense of equality" 415 , der für die Tugend der Gerechtigkeit von fundamentaler Bedeutung sei. An dieser Stelle wird meines Erachtens deutlich, was auch viele andere Interpreten an Nietzsches Immoralismus maßgeblich beunruhigt: sein Angriff auf den Egalitarismus. In Deutschland sind in diesem Zusammenhang beispielsweise die einflußreichen Kritiken von Jürgen Habermas 416 und Karl-Otto Apel 41 zu nennen. Gemeinsam ist

Wesentliche zu sagen (habe)" (ders.: Nietzsches Lehre von der völligen Unschuld Jedermannes. In: N.-St. 1 (1972), S. 167). 412 413

414

Unverantwortlichkeit

und

Siehe Foot (1994) S. 6. Foot zitiert an dieser Stelle den bekannten Vortrag Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, den Thomas Mann im Mai und Juni 1947 gehalten hat. Siehe Foot (1994) S. 6 f. Foot (1994) S. 9. Noch deutlicher wird Foot zum Ende des Aufsatzes, wenn sie zu dem Ergebnis kommt: „Nietzsche an teaching is inimical to justice. His teaching has been sadly seductive in the past. Who can promise that it will never be seductive again?" (Ebenda S. 13).

415

Foot (1994) S. 9.

416

Habermas zentraler Vorwurf lautet: „Mit Nietzsche verzichtet die Kritik der Moderne zum ersten Mal auf die Einbehaltung ihres emanzipatorischen Gehaltes" (Habermas ( 4 1 9 8 8 ) S. 117). Allerdings verzichtet Habermas bei seiner Stilisierung Nietzsches zum Gegenaufklärer auf eine ausgewogene Interpretation von dessen Schriften und bleibt statt dessen bei Nietzsches grellen, starken Worten hängen, die dessen eigentliche, vielschichtige Philosophie verbergen. Der „andere" Nietzsche, derjenige jenseits der effektvoll-plakativen Thesen, wird von Reinhart Maurer in dem gleichnamigen Aufsatz treffend herausgearbeitet. Siehe ders.: Der andere Nietzsche. Zur Kritik der moralischen Utopie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Heft 11/1990, S. 1019.

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DIE FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

diesen Interpreten, daß sie das Projekt der Aufklärung, zu dessen zentralen Momenten insbesondere „Fortschritte in der Gleichheit"418 gehören, durch Nietzsche gefährdet sehen.419 Dagegen bleibt einzuwenden, daß seine Texte gerade durch eine Differenzierung der Begriffe ,Gleichheit' und ,Gerechtigkeit' eine Radikalisierung der Aufklärung anstreben.42 Dieses kann geradezu exemplarisch an dem zweiten Einwand von Foot verdeutlicht werden. Ihre zentrale These, daß die Tugend der Gerechtigkeit auf dem Gefühl der Gleichheit gründet, wird überhaupt nicht näher erläutert, sondern als selbstverständlich präsentiert. Im Gegensatz zu dieser Überzeugung fragt Nietzsche nach der Herkunft dieses Gleichheitsgefühls und dessen Berechtigung. In der Auseinandersetzung mit den Forderungen nach einer direkten Gleichheit, die jedem Menschen unabhängig von seinen Fähigkeiten die gleichen Leistungen zuordnet, stellt er schließlich seinen alternativen Gleichheitsund Gerechtigkeitsbegriff vor, den Foot völlig unterschlägt. Grundlegend für die Tugend der Gerechtigkeit ist nach Nietzsche die Fähigkeit zur Interpretation der jeweiligen Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen in den unterschiedlichsten Situationen, denn diese soll erst ermöglichen, die individuellen Qualitäten angemessen zu würdigen. Entgegen der Interpretation von Foot ermutigt Nietzsche folglich nicht zur Ungerechtigkeit, sondern er warnt vor der seines Erachtens ungerechten Absolutsetzung des wünschbaren Menschen und streitet für die Tugend der Gerechtigkeit, die die komplexe Vielfalt des Lebens angemessen berücksichtigt.421 Auch wenn Foot und andere Interpreten zu Recht daran erinnern, daß Nietzsche sich als „Immoralist" bezeichnet, so impliziert sein Begriff der Gerechtigkeit aus meiner Perspektive keinesfalls einen Immoralismus. Zwar formuliert er prinzipielle Einwände gegen die „absolute Moral" und provoziert den Leser durch seine grellen, scheinbar gewaltverherrlichenden Polemiken, aber im Zentrum seiner Moralkritik stehen seine Bemühungen um Ansätze zu einer moralischen Alternative zur „absoluten Moral". Am deutlichsten hat Nietzsches dieses selbst in dem Textstück Nummer 19 aus Der Wanderer und sein Schatten formuliert, wo er den Immoralisten als den eigentlichen Morali-

417

Siehe Karl-Otto Apel: Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik. Studienbegleitbrief 2. Weinheim/ Basel 1980, S. 20. Vgl. Karl-Otto Apel: Zurück zur Normalität? In: Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins: Chance oder Gefährdung? Frankfurt a. M. 1988, S. 106.

4.8

Diese Bestimmung von Condorcet scheint mir auch in gegenwärtigen Diskussion unterschwellig von Bedeutung zu sein (Condorcet (1976) S.193). Vgl. auch Kapitel 1.2. dieser Dissertation.

4.9

Auf den Zusammenhang der heftigen Angriffe auf Nietzsches Moralkritik mit seiner Infragestellung der Fortschrittsidee geht auch Richard Wisser in der genannten Monographie ein. Siehe Wisser (1972) S. 152.

420

Wenig erhellend ist dagegen der Aufsatz Nietzsche und die Wiederkehr der Ungleichheit, in dem der Autor Jürgen Manthey dem interessanten Thema völlig ausweicht (In: Literaturmagazin 12. Nietzsche. Hamburg 1980, S. 11 ff.).

421

Fraglich ist, ob Nietzsche den Aspekt der Rangordnung bei seinem Gerechtigkeitsbegriff zu stark akzentuiert. Meines Erachtens ist es sinnvoll, diesen Aspekt gegenüber dem Egalitarismus zu betonen, aber ebenso wichtig ist ein rechtlicher Rahmen, der Verstöße gegen die Grundrechte des Menschen ahndet. Letzterer Aspekt findet sich bei Nietzsche vereinzelt auch, aber er wird kaum hervorgehoben.

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sten bestimmt, der lediglich aufgrund des Vergleichs mit der bisherigen Moral als Immoralist bezeichnet wird. „Immoralisten - Die Moralisten müssen es sich jetzt gefallen lassen, Immoralisten gescholten zu werden, weil sie die Moral seciren. Wer aber seciren will, muss tödten: jedoch nur, damit besser gewusst, besser geurtheilt, besser gelebt werde; nicht damit alle Welt secire." (ΜΑ II 553)

Wenn in diesem Zitat indirekt von der Tötung der Moral gesprochen wird, so ist dies allein auf die bisher herrschende, „absolute Moral" bezogen, was keinesfalls eine mögliche Erneuerung der Moral ausschließt. 422 Es zeigt sich meines Erachtens, daß Nietzsches historisch-kritische Analyse der „absoluten Moral" und der Idee eines allgemeinen moralischen Fortschritts keinen immoralistischen Rückschritt darstellt. Seine Schriften enthalten vielmehr Anstöße für eine Weiterentwicklung der Moral unter den Konditionen der Endlichkeit, die jedoch nicht systematisch ausgearbeitet werden.

IV. 4

Der Fortschritt aus dem Nihilismus

IV. 4. 1 Die Ambivalenz des Nihilismus In den letzten beiden Kapiteln ist herausgearbeitet worden, wie Nietzsche in den mittleren Schriften als historisch-kritischer Psychologe jede Form von dogmatischer Metaphysik und egalitaristischer Moral zu destruieren versucht. Als bedeutenden Erkenntnisfortschritt würdigt er in diesem Zusammenhang die Demaskierung der chiliastischmetaphysischen Annahme eines notwendigen allgemeinen Fortschritts der Menschheit. Aber was sind die theoretischen und praktischen Folgen dieser Einsicht? Mit der Zerstörung des vermeintlich absoluten Fundaments im Leben, das den Menschen bislang sichere handlungsanweisende Normen vermittelte und die kontinuierliche Annäherung an ein zukünftiges Erdenglück Aller zu garantieren schien, diagnostiziert Nietzsche die Heraufkunft einer umfassenden theoretischen und praktischen Orientierungslosigkeit in der Moderne. Seine Diagnose einer umfassenden modernen Unsicherheit aufgrund der Enttäuschung der metaphysischen Versprechen wird in diesem Unterkapitel untersucht, ehe im Folgenden ein von ihm angedeuteter Fortschritt aus dem Nihilismus herausgestellt wird. Mit der von ihm angestrebten Aufklärung der Aufklärung wird nach Nietzsche der moderne Fortschrittsglaube, nach dem sich die Menschheit automatisch einem besseren Zustand annähert, als Illusion entlarvt. Denn ein vorgegebenes, letztes Ziel, auf das die Menschheit asymptotisch zusteuert, bleibt seines Erachtens ein teleologisches Konstrukt aus dem Bannkreis der dogmatischen Metaphysik, die das kontingente Geschehen aus lebenspraktischen Gründen einseitig interpretiert. Die Einsicht in das Fehlen eines letz422

Der Immoralismus scheint mir demnach eine Maske zu sein, hinter der sich eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Moral verbirgt.

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ten Ziels der Menschheit, das durch kein anderes absolutes Ziel zu ersetzen ist, kennzeichnet den von Nietzsche diagnostizierten Zustand der europäischen Moderne, den er zunächst als „Interim-Zustand" (ΜΑ I 206) bzw. „Interregnum" (M 274) und schließlich als „Nihilismus" (FW 581) bezeichnet. Die erste bedeutende philosophische Auseinandersetzung um diesen Begriff in Deutschland entzündet sich an Friedrich Jacobis Sendschreiben an Fichte von 1799, in dem Fichte vorgeworfen wird, daß sich als Konsequenz von dessen Wissenschaftslehre dem Menschen alles „allmählig auf(löst) in sein eigenes Nichts". 423 Nietzsches Nihilismusverständnis ist jedoch vor allem durch französische und russische Autoren geprägt. 424 Einflußreich ist insbesondere Turgenjews Buch Väter und Söhne, in dem anhand des Schicksals des Protagonisten Basarow der Verlust der überkommenen Wertvorstellungen in der radikalen russischen Jugendbewegung beschrieben wird. Ähnlich wie Basarows Gesellschaftskritik, zielt auch Nietzsches kritische Psychologie auf eine Loslösung von erstarrten Konventionen, verbreiteten Vorurteilen sowie unbegründeten Autoritäten. Sowohl Nietzsche als auch Turgenjew verkennen dabei nicht die Gefahren für den Menschen, die mit diesen Freisetzungen verbunden sind. Entscheidend ist für Nietzsches Nihilismus-Diagnose, daß mit der Entwertung der bisherigen obersten, absoluten Werte die Gegenwart nicht mehr automatisch als Übergang zu einer besseren Zukunft interpretiert wird und diese Erschütterung des Fortschrittsglaubens eine umfassende Unsicherheit in der Moderne auslöst. Ohne den bisherigen, handlungsanleitenden Wertekanon, der das künftige Heil der Menschheit zu verheißen schien, aber nun diskreditiert ist, wird der Einzelne mit der entscheidenden Frage ,Wie soll ich handeln?' konfrontiert. Problematisch für den Einzelnen ist dabei, daß er durch den Verlust der absoluten Normen eine unüberschaubare Unendlichkeit an möglichen Wertsetzungen und entsprechenden Handlungsoptionen ,gewinnt', denn ohne ein orientierungsstiftendes Maß sind diese Handlungsoptionen gleich gültig und bedeuten folglich nichts. Mit zahlreichen Bildern der Meer- und Luftschiffahrt, die den Menschen ohne jegliche Bindungen an festes Land, verloren in der unendlichen Weite des Meers oder des Luftraums zeigen, beschreibt Nietzsche die moderne Gefahr der Haltlosigkeit, in der der Menschen weder weiß wo er steht, noch wohin er gehen soll. Eindrucksvoll

423

Friedrich Heinrich Jacobi: Jacobi an Fichte (Sendschreiben an Fichte). Hamburg bei F Pertes 1799, S. 48. Den Begriff „Nihilismus" verwendet Jacobi explizit im Kontext seiner Kritik am Idealismus: „Wahrlich, mein lieber Fichte, es soll mich nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sey, Chimärismus nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze." (ebenda S. 39). Zur Geschichte des Nihilismusbegriffs siehe den Artikel von Wolfgang Müller-Lauter im Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 846 ff. und die Ausführungen von Martin Heidegger in den Nietzsche-Vorlesungen (Heidegger ( 5 1 9 8 9 II) S. 31 f.).

424

Nietzsche verwendet den Begriff zuerst in den Nachlaßschriften vom Sommer 1880, in denen er die russischen Nihilisten zweimal explizit erwähnt (KSA 9/125 u. 127). Ab dem Sommer 1882 setzt er sich intensiver mit dem Nihilismus auseinander. Die lebensgefährliche Tendenz zum Nichts ist allerdings schon früher ein wichtiges Thema seiner Schriften. Über die Quellen und die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Nihilismus-Begriffs bei Nietzsche unterrichtet Elisabeth Kuhn umfassend in ihrer Monographie Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin/New York 1992.

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sind die Konsequenzen dieser Unsicherheit in dem berühmten Aphorismus Nummer 125 der Fröhlichen Wissenschaft dargestellt, der den Titel „Der tolle Mensch" trägt. „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, - ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!... Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?..." (FW 481, vgl. ΜΑ I 44)

Bei dieser Schilderung, die heutzutage auch Assoziationen an ein schwereloses Gleiten durch den unendlichen Weltraum aufkommen läßt, ist zunächst der Sprecher interessant, dem Nietzsche diese Worte in den Mund legt. Es ist ein Irrer, ein verrückter Mensch, der den Tod Gottes verkündet, ehe später Zarathustra und schließlich auch Nietzsche selbst diese Formel öffentlich auszusprechen wagen. Die durchgehende Verwendung von Ausrufen und Fragen, deren Stakkato keine Besinnung zuläßt, dokumentiert die Aufregung des Verrückten, der seinen angestammten, sicheren Platz verloren hat. Ohne die Bindung an eine licht- und energiespendende Sonne verschwindet der Horizont des Verrückten, der mangels eines verläßlichen Wertesystems mit dem „unendlichen Nichts" konfrontiert wird. Die Formel vom „Tod Gottes" bezieht sich dabei auf das Schwinden der göttlichen Autorität und auf die Erosion von deren Surrogaten, was Heidegger in seiner Deutung dieses Aphorismus treffend betont. 425 Auch der Fortschrittsglaube, nach Heidegger eine wirkungsmächtige, moderne Abwandlung der Tendenz zur übersinnlichen Weltflucht, verliert in diesem Erosionsprozeß an Plausibilität: Der „tolle Mensch" weiß nicht mehr, wohin die Zukunft ihn fuhrt. Offensichtlich wird dieses Herumirren ohne ein Wissen um orientierungsgebende Koordinationspunkte von dem verrückten Menschen nicht als ein positiver Fortschritt empfunden, sondern ganz im Gegenteil als ein gefährliches Fortstürzen. Dieses Fortstürzen trifft auch den Stolz des Menschen, denn er verliert seine herausgehobene Position in der ,Weltgeschichte', die ihm die Jenseits- und DiesseitsMetaphysiken aufgrund seiner exponierten Beziehung zu Gott oder seiner Vernunftbegabung eingeräumt hatten. 426 Wie schon in seinen früheren Schriften, richtet sich Nietzsche in diesem Zusammenhang entschieden gegen die Gleichsetzung von Welt- und Menschheitsgeschichte und den Glauben, daß „Alles in der Welt auf den Menschen hin

425

Siehe Heidegger ( 6 1 9 8 0 ) S. 2 1 6 f. Heidegger bemüht sich in diesem Teil des Textes zunächst, die oberflächlichen Deutungen des Nietzscheschen Nihilismus-Begriffs zu entkräften. Im Folgenden konstatiert er dann, daß Nietzsche das Wesen des Nihilismus noch nicht denken konnte (ebenda S. 259 f.). Meines Erachtens trifft Heidegger mit dem auch gegen Nietzsche gerichteten Vorwurf der Seinsvergessenheit nicht dessen Nihilismusbegriff, sondern vielmehr einen hybriden Szientismus in der Moderne.

426

Die Bedeutung des Christentums, das in Nietzsches späteren Schriften als Frühform des Nihi lismus bestimmt wird, wird in diesem Kontext hervorgehoben, denn seines Erachtens „gab (es) Jedem das Recht, sich unsäglich wichtig zu nehmen" (KSA 9/186).

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eingerichtet" sei. 427 Mit der Verabschiedung dieses hybriden Anthropozentrismus, der von den aufgeklärten Aufklärern als Illusion entlarvt wird, droht jedoch die Gefahr, daß der Mensch sich als Mensch verachtet und sein Leben nicht mehr lebenswert findet. 428 Denn die Dezentrierung, die den Menschen von der zentralen zu einer peripheren Erscheinung werden läßt, kann nach Nietzsche zu einer Entfesselung des Willens zum Nichts fuhren. 429 Verliert der Mensch seinen bisherigen „absoluten Werth" (KSA 12/211), droht die Paradoxie, daß das letzte „Ziel" des Menschen das Nichts ist. Mit dem Verlust der obersten Werte wird zudem die bisherige Rechtfertigung der irdischen Übel, die der Mensch zu erleiden hat, problematisch. Die Depotenzierung des erfahrenen Leidens durch den Ausblick auf künftige Fortschritte zu höheren Zielen kann angesichts der radikal-aufklärerischen Demaskierung dieser Fortschrittserwartungen als hybrid nicht mehr gelingen. Wenn beispielsweise die Vorstellung eines notwendigen, allgemeinen Fortschritts als Chimäre entlarvt wird, dann kann die Fortschrittsidee nicht mehr das Opfer der individuellen Existenz rechtfertigen. Ohne diese rechtfertigenden Erklärungen verliert der Mensch aber seine trostspendenden Strategien zur Relativierung des irdischen Übels, so daß die menschliche Situation auf Erden unerträglich und sinnlos erscheinen kann. Nietzsches Diagnose des Nihilismus besagt, daß der mit der Erosion des neuzeitlichen allgemeinen Fortschrittsglaubens einhergehende Verlust an Orientierung, Selbstwertgefühl und metaphysischem Trost den Menschen in der Moderne zu einem verhängnisvollen Fortschritt zum Nichts drängen kann. 430 In einem späteren Nachlaßtext wird dieser negative Fortschritt als „der Prozeß ins Nichts" (KSA 12/247) beschrieben. 431 Vor den möglichen Folgen eines derartigen negativen Fortschritts, die er in den Schriften von Dostojewski, Turgenjew u.a. anschaulich beschrieben findet, hat Nietzsche vielfach gewarnt. Der Zerfall des metaphysischen Sinnhorizonts und die Dezentralisierung des Menschen werden von Nietzsche jedoch nicht resignativ als beklagenswerter und entmutigender Verfallsprozeß gedeutet. An die moderne Erkenntnis vom „Tod Gottes" knüpft er vielmehr die große Hoffnung auf eine mögliche Überwindung des Nihilismus, so daß der Abschied von den bisherigen metaphysischen Wertsystemen zugleich ein Aufbruch zu neuen Ufern sein soll. Die Loslösung von den überlieferten Wertordnungen und den tradierten Lebensformen bietet seines Erachtens neben den bereits genannten Gefahren 427

Μ 317. Siehe auch den Kurztext Nummer 14 in Der Wanderer und sein Schatten, w o Nietzsche, ähnlich wie in Wahrheit und Lüge, den Menschen mit einem sich selbst überschätzenden Insekt vergleicht (ΜΑ II 459).

428

Die Geschichte der Enttäuschung der übersteigerten Erwartungshaltungen des Menschen wird von Peter Furth treffend herausgearbeitet. Siehe ders.: Phänomenologie der Enttäuschungen, Frankfurt a. M. 1991.

429

Berühmt ist Friedrich Nietzsches Diktum aus Zur Genealogie der Moral, das besagt: „... eher will er (der Mensch, Anm. Verf.) noch das Nichts wollen als nicht wollen." (GM 339).

430

Siehe dazu KS A 12/216. In dieser Aufzeichnung von 1886 deutet Nietzsche einen Umschlag von einer eudämonistischen in eine „dysdämonistische(n) Perspektive" (KSA 12/247) an. Im Hintergrund dieser Auseinanersetzung mit dem Fortschrittsbegriff steht seine Beschäftigung mit Kants geschichtsphilosophischen Schriften (Vgl. KSA 12/265 ff.).

431

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auch die Chance zu neuen, gesteigerten „Wertschätzungen". 432 Die destruktiven Kräfte des modernen Nihilismus werden nicht allein als Symptom einer Krise gedeutet, sondern sie werden auch als Voraussetzung für eine potentielle Erneuerung der europäischen Kultur interpretiert. Wenn Nietzsche schreibt, es bedarf zu neuen Wertschätzungen „zunächst eine(r) Kritik und Beseitigung des Alten" (KSA 9/186), dann erschließt sich seine Hoffnung auf eine reinigende Funktion des Nihilismus. Dabei wird die Moderne, ähnlich wie schon in der Tragödienschrift, zu einem entscheidenden „Wendepunkt" (GT 100 ff.), denn entweder schafft der moderne Mensch neue Werte oder er geht an dem Verlust der überlieferten, absoluten Wertordnung zugrunde. 433 Gemäß seiner Interpretation ist der moderne Nihilismus eine Gefahr, die entweder zur Zerstörung oder zur Läuterung führt. Angesichts dieser Alternative wendet sich Nietzsche sowohl gegen die Leugner als auch gegen die Apologeten des modernen Nihilismus und engagiert sich als historisch-kritischer Psychologe für eine künftige Überwindung des bedrohlichen Willens zum Nichts. Im Zentrum von Nietzsches Engagements zugunsten einer künftigen Überwindung des Nihilismus stehen seine Suche nach der elementaren Triebkraft des menschlichen Lebens sowie nach deren qualitativ höchsten individuellen und kulturellen Manifestationen. Bedeutsam ist für meine Dissertation, daß Nietzsche bei seinen Versuchen, diese Triebkraft und deren höchste Erscheinungen zu bestimmen, auch den Fortschrittsbegriff verwendet. Wie bereits erwähnt, wird der Begriff im Unterschied zu früheren Aufzeichnungen in den ,mittleren Schriften' häufiger positiv konnotiert verwandt. Dieser Wandel resultiert meines Erachtens auch aus seiner verstärkten Wahrnehmung des Menschen als eines fortschreitenden Wesens. Im folgenden werde ich mich zunächst mit Nietzsches Suche nach dem inneren Prinzip des Lebens auseinandersetzen, ehe ich seine Hoffnungen auf ein Fortschreiten zu den höchsten Formen des individuellen und kulturellen Lebens skizziere. Zu Bedenken bleibt dabei allerdings, daß die Überwindung des modernen Nihilismus seines Erach-

432

Μ 92. Nach Nietzsche ist es fraglich, ob dieser Aufbruch tatsächlich zu neuen Ufern führt, denn der Mensch kann auch in der Unendlichkeit untergehen (siehe Μ 331, bzw. FW 480). Seine Hoffnung konzentriert sich meines Erachtens aber darauf, daß ein neues Ufer jenseits des absoluten Fundaments der überlieferten Metaphysiken erreicht wird. Die Erkenntnis des modernen Nihilismus kann als ein bedeutender Erkenntnisfortschritt bezeichnet werden, insofern gefahrliche Ideologien demaskiert wurden. Dieser Erkenntnisfortschritt kann jedoch so wohl zu einem Fortschritt ins Nichts, als auch zu einem Fortschritt einer Umwertung der Werte fuhren. Viele Interpreten haben die positive Bedeutung, die Nietzsche diesem Erkenntnisfortschritt beimißt, konstatiert, aber selten ist sie explizit als Fortschritt bezeichnet worden. Exemplarisch sind die Nietzsche-Vorlesungen von Georg Picht, der neben der negativen auch die positive Bedeutung dieser Erkenntnis darstellt (Georg Picht: Nietzsche. Suttgart 1988, S. 67), gleichwohl aber die Benutzung des Terminus Fortschritt' in diesem Kontext vermeidet, obwohl seine späteren Ausführungen zu „Nietzsches Fortschrittsgedanke(n)" (ebenda S. 386) dies durchaus erlauben. Der Grund für diese Zurückhaltung liegt meines Erachtens in der Gefahr, daß die Verwendung dieses Begriffs in bezug auf Nietzsche mißverständlich ist, wenn nicht zuvor auf die vielschichtige Spezifität von Nietzsches Verhältnis zur Fortschrittsvorstellung eingegangen wird.

433

Nietzsche spricht zumeist von der Alternative „Barbarei" oder „höhere Kultur" (vgl. ΜΑ I 209).

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tens auch scheitern kann und statt einer neuen kulturellen Morgenröte eine kulturfeindliche Barbarei einsetzt.

IV. 4. 2 Der „Fortschritt in der Macht" Ein zentrales Thema der mittleren Schriften ist die von Nietzsche schon vorher diskutierte Frage nach dem Wesen des menschlichen Handelns, die aber zunehmend von der umfassenderen Frage nach dem auslösenden Prinzip aller Lebensäußerungen dominiert wird. ,Was treibt den Menschen zum Handeln an?' und ,Was treibt das Leben an?' diese Fragen beschäftigen sein Denken während seines Aufenthaltes in Sorrent 1876/77 und sie gewinnen in den folgenden Jahren zunehmend an Bedeutung, da er erkennt, daß das Leben im modernen Nihilismus grundsätzlich von einem Willen zum Nichts bedroht ist. Wiederholt kreist sein Denken dabei tastend um die Phänomene Selbsterhaltung, Eitelkeit und Machtgefühl als potentielle Grundmotive des Lebens, ehe er im Jahr 1883 mit der Lehre des Zarathustra vom Willen zur Macht seine endgültige Antwort findet und auszuarbeiten beginnt. In diesem Unterkapitel wird gezeigt, daß Nietzsche bei seiner Suche nach dem elementaren Lebenstrieb in Absetzung zu dem Selbsterhaltungstheorem auf die Kategorie des Fortschritts stößt, um den Grundcharakter des Lebens zu bestimmen. In Nietzsches Aufzeichnungen aus Sorrent, die später maßgeblich in Menschliches, Allzumenschliches einfließen, findet sich eine wichtige Auseinandersetzung mit Schopenhauers Grundannahme, daß der „Wille zum Leben" die allumfassende Lebenskraft darstelle (Siehe KSA 8/406 ff). Einleitend wird in diesen Notizen die Formel vom „Willen zum Leben", die Nietzsche anfangs kritiklos von Schopenhauer übernommen hatte, gewürdigt, weil sie auf dessen Beschäftigung mit der Frage nach der zentralen Lebenskraft hindeutet. Zugleich prüft Nietzsche nun aber als Wissenschaftler diesen „glücklichen Fund" (KSA 8/406) und moniert, daß der Begriff den wissenschaftlichen Kriterien nicht standhalte. Das entscheidende Defizit dieser Konzeption, das auch fur deren Pluralisierung in Mainländers Lehre von der Vielheit der individuellen Willen gelte, soll darin liegen, daß der „Wille zum Leben" ohne den problematischen willensmetaphysischen Überbau von Schopenhauer nur als Erhaltungstrieb verstanden werden kann. Denn der Wille zum Leben ist nach Nietzsche immer schon ein Wille im Leben, so daß dieser Wille immer anstreben würde, was ihm schon zugrunde liegt. 434 Mit dem Willen 434

Bei Schopenhauer ist der Wille zum Leben dagegen das „Ding an sich in allen Erscheinungen" ( W W V § 54), was das Leben als die Darstellung des Wollens fur die Vorstellung erst schafft. Mainländer, dessen Philosophie der Erlösung Nietzsche bereits im Erscheinungsjahr aufmerksam studiert, versucht sich dagegen von den transzendenten Grundlagen Schopenhauers zu distanzieren. Siehe Friedrich Mainländer: Die Philosophie der Erlösung. Bd. I. Berlin 1876. Zu Nietzsches Mainländer-Rezeption siehe den Aufsatz in den Nietzsche Studien Nr. 25 von Friedhelm Decher Der eine Wille und die vielen Willen. Schopenhauer-Mainländer-Nietzsche, der allerdings die von Nietzsche hervorgehobene Differenz der Konzeptionen des Willens zum Leben, die auf Selbsterhaltung ausgerichtet sein soll, und des Willens zur Macht, die auf Selbststeigerung ausgerichet sein soll, nicht näher untersucht. Siehe N.-St. 25 ( 1 9 9 6 ) S. 221 ff. Im Zarathustra wird diese Differenz explizit herausgearbeitet (Za 148 f.).

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zur Lebenssicherung werden aus seiner Perspektive aber die vielfaltigen Gefühle des Menschen, die permanent die dynamischen, leiblich-seelischen Prozesse begleiten, nicht angemessen interpretiert. „Ist es wahr, daß, wenn der Mensch in sein Inneres blickt, er sich als Erhaltungstrieb wahrnimmt? Vielmehr nimmt er nur wahr, daß er immer fühlt, genauer daß er irgend an welchem Organe irgend welche, gewöhnlich ganz unbedeutende Lust- und Unlustempfindungen hat: die Bewegungen des Blutes des Magens der Gedärme drückt irgend wie auf die Nerven, er ist immer fühlend und immer wechselt dies Gefühl.... Aber mit dem Erhaltungstrieb hat diese Thatsache einer fortwährenden Erregtheit und Bemerkbarkeit des Gefühls nichts gemein." ( K S A 8/407)

Bei dieser Distanzierung vom Erhaltungstrieb wird bereits die Pluralität und Dynamik der menschlichen Lebenskräfte angedeutet, ihr fortwährendes Streben nach neuen Konstellationen. Allerdings gelingt es Nietzsche hier noch nicht, die zentrale Lebenstriebkraft begrifflich zu fassen. 435 Zum Ende dieser Nachlaßaufzeichnung findet sich allerdings ein Gedanke, der als Vorbote seiner späteren Erklärung des nihilistischen Willens zum Nichts angesehen werden kann. Gegen Schopenhauers Argument, die Todesangst sei ein Beleg für den Willen zum Leben, wendet Nietzsche ein, daß der Mensch das Leben unter bestimmten Umständen auch aufgeben will (KSA 8/408, vgl. FW 585). Der zentrale Antrieb des menschlichen Handelns vermag demnach sogar das Leben selbst zur Disposition zu stellen. Im Unterschied zu dieser Aufzeichnung erkennt Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches anscheinend gerade in der Selbsterhaltung den entscheidenden Lebensantrieb, der mit dem Streben nach Lustempfindungen und der Vermeidung von Unlust einhergeht. 436 In den Textstücken Nummer 102 und 103, in denen sich Nietzsche mit dem maßgeblichen Motiv von bösartigen Handlungen und deren Verhältnis zu Notwehräußerungen auseinandersetzt, konstatiert er im Anschluß an die sokratischplatonische Rede „Der Mensch handelt immer gut" 437 , daß bösartige Handlungen nicht auf boshafte Absichten zurückzuführen sind, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung dienen. Allerdings beginnt das Textstück Nummer 103 mit einer Beschreibung von Bosheiten, die entgegen der zugedachten Aufgabe nicht die zentrale Bedeutung der Selbsterhaltung herausstellen, sondern meines Erachtens vielmehr die Defizite dieses Erklärungsversuches offenbaren. Das boshafte Handeln, so führt Nietzsche anhand des Phänomens des Neckens aus, ist nicht auf eine Schädigung der Mitmenschen ausgerichtet, aber es zielt auch nicht, wie er zu zeigen meint, auf die bloße Erhaltung des Selbst 435

Interessanterweise erwähnt Nietzsche nur wenig später zum ersten Mal den Terminus „Willen zur Macht" ( K S A 8/425), aber er entdeckt in ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht den zentralen Grundtrieb des Lebens.

436

Das Verhältnis von Selbsterhaltung und -Steigerung scheint mir zu dieser Zeit noch nicht geklärt zu sein, denn mal sieht er in der „Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust" ( Μ Α I 95) das eigentliche Motiv des Handelns und mal in der Selbsterhaltung ( Μ Α I 99).

437

Dieser Satz wird von Nietzsche ausdrücklich affirmiert, wenn sich das Urteil auf die Binnenperspektive des Handelnden bezieht (siehe Μ Α I 99). Der Satz „Der Mensch handelt immer gut" ist in dieser Disseration bereits im Kontext des handlungstheoretischen Fortschrittsbegriffs in den Kapiteln II.4 und III.4 diskutiert worden.

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ab. So dient das Necken gemäß seiner eigenen Analyse vor allem der angenehmen Empfindung der eigenen Macht. „Die Bosheit hat nicht das Leid des Andern an sich zum Ziele, sondern unsern eigenen Genuss, zum Beispiel als Rachegefühl oder als stärkere Nervenaufregung. Schon j e d e Neckerei zeigt, wie es Vergnügen macht, am Andern unsere Macht auszulassen und es zum lustvollen Gefühle des Übergewichts zu bringen." ( Μ Α I 99)

Diese Darstellung des Selbstgenusses bei der Machtausübung läßt sich nur schwer mit dem Schopenhauerschen Theorem der Selbsterhaltung in Einklang bringen, weil hier eine gesteigerte Lebenskraft im Zentrum steht, deren Reichtum nicht nur die Erhaltung der bloßen Existenz anstrebt. Entscheidend an dem Gefühl der Macht, das den Menschen zu den beschriebenen Neckereien drängt, ist gemäß dieser Auslegung der Genuß, den der Einzelne aus der Erfahrung seiner eigenen Kräfte und Möglichkeiten gewinnt. Es bereitet dem Menschen demnach ein Vergnügen, dank seines spezifischen Vermögens eine Erhöhung seines Einflusses und damit ein „Übergewicht" zu erzeugen. Mit dieser Beschreibung wird bereits der qualitative Unterschied zwischen den Konzepten einer Sicherung und einer Steigerung des Daseins angedeutet. Trotz dieser Spannung bleibt fur Nietzsche der Selbsterhaltungstrieb vorerst der elementare Lebenstrieb, was sich auch noch in zentralen Textpassagen von Der Wanderer und sein Schatten widerspiegelt. 438 Erst in den Aufzeichnungen des Jahres 1880, die ihren Niederschlag in der Morgenröthe finden, wendet sich Nietzsche bei den Versuchen, das Phänomen des Wollens genauer zu erfassen, deutlich gegen den „Willen zum Dasein". In dem Textstück Nummer 155 aus der Nachlaß-Mappe mit dem Titel L'Obra di Venezia nimmt er seine bereits dargestellte, vier Jahre alte Kritik am „Willen zum Dasein" wieder auf und wendet gegen ihn ein, daß der Wille immer einen aus seiner Sicht qualitativ besseren Zustand anstrebe, der folglich nicht der gegenwärtig schon erreichte Zustand des ,bloßen' Daseins sein könne. In diesem Kontext findet sich eine Definition des Willens, die für Nietzsches weiteres Bemühen einer Bestimmung der zentralen Lebenskraft bedeutend ist. „Wohl wäre zu verstehen: Wille zu einem längeren, oder höheren, oder anderen Dasein. - Wille ist die Vorstellung eines werthgeschätzten Gegenstandes verbunden mit der Erwartung, daß wir uns seiner bemächtigen werden." ( K S A 9/71)

Der Wille ist gemäß dieser Begriffsbestimmung immer auf eine künftige, gesteigerte Situation ausgerichtet, die die gegenwärtige, als defizient erkannte Situation des Wollenden übersteigt. Das Ziel des Willens soll die Übermächtigung des Gewollten sein, die für den Wollenden im Bereich des Möglichen liegen muß, da er sie sonst nicht erwarten könnte. Dabei ist das Gewollte aus der Perspektive des Wollenden ein begehrenswerter Zustand, der ihn zu einer Bemächtigung anreizt. Wie schon in dem oben zitierten Nachlaßtext, nimmt der B e g r i f f , Macht' auch in dieser Notiz, wenngleich in der Verbform, eine wichtige Position ein, denn durch ihn wird angezeigt, worauf der Wille abzielt. Wiederholt werden die Begriffe ,Wille' und ,Macht' in den nächsten

438

Siehe ζ. Β. Μ Α II 565 ff. und K S A 8/602 (Juli-August 1879).

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beiden Jahren von Nietzsche in Relation gesetzt, ohne daß er in dieser Zeit allerdings schon den „Willen zur Macht" als seine Lehre auszeichnet. Festzuhalten ist jedoch angesichts seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Machtstreben, dem Machtgefühl und dem Machtwillen, daß seine aufklärerische Psychologie in der Macht ein wichtiges Phänomen erkennt. 439 Im Textstück Nummer 262 der Morgenröthe wird das Streben nach Macht schließlich als das dominierende Lebensmotiv präsentiert, das den Menschen am stärksten antreibt. Dabei bestimmt Nietzsche in diesem Kontext nicht, was er unter „Macht" versteht, sondern läßt offen, ob hier die Macht über andere, die Macht über sich selbst oder beides gemeint ist. 440 Offenkundig schätzt er den „Dämon der Macht" aber stärker ein als das Streben nach der Befriedigung der primären Bedürfnisse. „Der Dämon der Macht. - Nicht die Nothdurft, nicht die Begierde, - nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon des Menschen. Man gebe ihnen Alles, Gesundheit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung, - sie sind und bleiben unglücklich und grillig: denn der Dämon wartet und wartet und will befriedigt werden. Man nehme ihnen Alles und befriedige diesen: so sind sie beinahe glücklich - so glücklich als eben Menschen und Dämonen sein können..." (M 209) Wie schon bei der oben zitierten Definition des Willens, steht auch bei dieser Beschreibung der Macht als „Dämon" der Drang nach einer Steigerung des gegenwärtigen Zustands im Vordergrund, der ein zumindest relatives Glück verheißt. Erstaunlicherweise spricht Nietzsche zunächst von der „Liebe zur Macht", was zwar auch in dem Begriff der ,Machtverliebtheit' anklingt, aber dennoch eher eine unglückliche Formulierung ist, weil der Ausdruck Liebe das dämonisch Drängende nicht angemessen beschreibt. Schon im nächsten Satz wird jedoch wieder der Bezug zum Willen hergestellt, wenn 439

Mit Thukydides beschäftigt sich Nietzsche in den Siebziger Jahren eingehend und in der Morgenröthe Nr. 168 bekennt er, daß er ihn aufgrund seiner praktischen Gerechtigkeit sogar höher ehre als Piaton (M 150 f.). Wer Nietzsches Nähe zu Piaton kennt, weiß, was dieses Lob bedeutet. Wichtig ist fur Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Macht auch, daß er bereits Thomas Hobbes Schriften studiert hat, dessen „Wahrheitsliebe" in der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung gewürdigt wird (DS 194). Auf diese sowie antike und moderne Quellen von Nietzsches Machtbegriff verweisen ζ. B. Ottman (1987) S. 220 f. und Volker Gerhardt (Vom Willen zur Macht. Berlin/New York 1996, S. 61 ff.). Während Ottman in seiner Monographie zu Nietzsches politischer Philosophie nur knapp den Machtbegriff in den mittleren Schriften berührt, bietet Gerhardts Untersuchung eine umfassendere Auseinandersetzung mit Nietzsches Formel vom Willen zur Macht. Auf dessen Verbindung zum Fortschrittsbegriff geht er nicht explizit ein, aber bei seiner Interpretation des Willens, der „auf mehr gerichtet ist, als die gegebene Situation enthält" (ebenda S. 187) klingt doch ein Bezug an.

440

Da Nietzsche sich bis 1882 oft auf zwischenmenschliche Machtverhältnisse bezieht, meint Willard Mittelmann, daß dieser nur einen Begriff von Macht als „external power" habe (ders.: The Relation between Nietzsche 's Theory of the Will to Power and his Earlier Conception of Power. In: N.-St. 9 (1975), S. 125). Gegenüber dieser These ist der Kritik von Volker Gerhardt zuzustimmen, daß hier die Notizen über die innere Macht und der gesamte psychologische Ansatz nicht angemessen berücksichtigt werden (Gerhardt (1996) 140 ff.). Die Verbindung von „äußerer" und „innerer" Macht zeigt sich meines Erachtens deutlich in einer Nachlaßaufzeichnung vom Sommer 1880, wo die „Macht über sich selbst" als Bedingung der „wahre(n) Macht" über Andere bestimmt wird (KSA 8/163).

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D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN G E I S T E S

konstatiert wird, daß der Dämon im Menschen die Erfüllung seines Machtstrebens „will". Das Dämonische an der Macht scheint hier gerade das drängende Streben nach einer künftigen Machtfülle zu sein, die als unverfügbarer Antrieb den Einzelnen nicht zur Ruhe kommen läßt. Diese knappe Annäherung an Nietzsches Auslegung des Phänomens der Macht zeigt, daß er in ihr einen zentralen Lebensantrieb erkennt. Dabei soll der Macht und damit auch dem Leben eine Tendenz zur Erweiterung bzw. Erhöhung bzw. Steigerung innewohnen. Diese permanente Ausrichtung auf eine Überwindung von Widerständen und auf eine Steigerung der Wirkungsmöglichkeiten offenbart, daß mit der Macht immer ein Fortschritt in der Macht angestrebt wird. Die Aussicht auf einen derartigen Fortschritt ist ein auslösendes Moment von Lebensäußerungen, ohne daß diese allerdings jemals das Streben nach Machtsteigerung endgültig befriedigen könnten. Ähnlich wie Hobbes Charakterisierung des fortschreitenden Machtstrebens ist auch Nietzsches Beschreibung des Dämons der Macht, der immer nur „beinahe glücklich" macht, von der Idee der unendlichen Perfektibilität der Macht durchdrungen. 441 Neben der wiederholten Verwendung der Termini „Machtsteigerung" und „Machterhöhung" findet sich im Nachlaß vor 1883 auch die Rede vom „Fortschritt in der Macht" (KSA 9/575). Diese Kombination der Begriffe belegt, daß Nietzsche über deren Zusammenhang nachgedacht hat und die Bedeutung der Fortschrittskategorie für die Charakterisierung des Drängens der Macht erkannt hat. 442 In der angesprochenen Nachlaßaufzeichnung wird das Verhältnis des Menschen zur Natur im Zeitalter der modernen Wissenschaften skizziert und kritisch nach deren möglichen Folgen gefragt. „der Mensch die Natur in Dienste nehmend und überwältigend der wissenschaftliche Mensch arbeitet im Instinkt dieses Willens zur Macht und fühlt sich gerechtfertigt Fortschritt im Wissen als Fortschritt in der Macht (aber nicht als Individuum). Vielmehr macht dieser sklavenmäßige Verbrauch der Gelehrten das Individuum niedriger"443

Die Forschungsanstrengungen der modernen (Natur)wissenschaftler werden gemäß dieser Auslegung durch eine bestimmte Form des Willens zur Macht stimuliert, der nach einer zunehmenden Verfügbarkeit über die Natur strebt. Dieser Machtfortschritt, der sich konkret in der wachsenden Naturbeherrschung ,auszahlt', stellt somit das antreibende Motiv des Wissenschaftlers dar. Auch wenn der Begriff Fortschritt' an dieser Stelle eng mit der gekannten' Vorstellung des Erkenntnisfortschritts verbunden ist, offenbart diese Notiz, was der Willen zur Macht anstrebt: einen „Fortschritt in der 441

Thomas Hobbes schreibt zu Beginn des 11. Kapitels im Leviathan·. „So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht fur einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet" (ders.: Leviathan. Hrsg. v. I. Fetscher. Frankfurt a. M. 1984, S. 75).

442

Später bezeichnet Nietzsche in einer kritischen Anmerkung zur „darwinistischen Biologie" den Fortschritt im Gefühl der Stärke als Auslöser des „Wille(ns) zum K a m p f ( K S A 12/309). (KSA 9/575). Diese Nachlaßaufzeichnung wurde zum Schluß des Großoktavheftes vom Frühjahr Herbst 1881 veröffentlicht, sie stammt allerdings frühstens aus dem Februar 1882, weshalb sie unter der Angabe „Späteres" gedruckt wurde. Dieser Kurztext stellt meines Erachtens eine Antwort auf seine Frage nach der „Macht der Wissenschaften" vom Sommer 1880 dar (KSA 9/149).

443

D E R FORTSCHRITT AUS DEM NIHILISMUS

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Macht". Nietzsche deutet damit an, daß das auslösende Moment von Lebensäußerungen mit der Vorstellung des Fortschritts als Erwartung einer künftigen Verbesserung beschrieben werden kann. Allerdings wird der wissenschaftliche Wille zur Macht in diesem Kontext von Nietzsche abgewertet, da der wissenschaftliche Gelehrte sich völlig im Dienst einer fortschreitenden Naturbeherrschung verzehren soll, die wiederum von egalitaristisch-liberalistischen Tendenzen stimuliert werde. „Sklavenmäßig" nennt er diesen Machtfortschritt, weil der Einzelne diesen Tendenzen ausgeliefert ist und von der Ausbildung seiner individuellen Entfaltungsmöglichkeiten abgehalten wird. Offensichtlich strebt Nietzsche im Unterschied zu diesem wissenschaftlichen Willen zur Macht einen anderen, individuellen „Fortschritt in der Macht" an, was im nächsten Unterkapitel näher untersucht wird. Auf der Suche nach dem zentralen Antrieb des menschlichen Lebens, von dem aus eine Gegenbewegung gegen den modernen Nihilismus seinen Ausgang nehmen soll, entdeckt Nietzsche somit, daß der menschliche Wille einen „Fortschritt in der Macht" anstrebt, der jeweils qualitativ unterschiedlich zu bewerten ist. Die Fortschrittskategorie ist demnach tief im menschlichen Leben verankert und nicht bloß eine neuzeitliche Erfindung.

IV. 4. 3 Das experimentell-geistige Fortschreiten Zum Abschluß des letzten Unterkapitels ist anhand einer Nachlaßnotiz dargelegt worden, daß Nietzsche einen bestimmten wissenschaftlichen Willen zur Macht kritisiert, weil dieser die Entfaltung der individuellen Talente des Gelehrten behindert. Angesichts der Ablehnung dieses Machtwillens streitet er offensichtlich für einen „Fortschritt in der Macht", der eine je spezifische Erhöhung des Einzelnen auslöst. Das höhere Individuum selbst bezeichnet er dabei im Unterschied zu seinen frühen Schriften nur noch unter Vorbehalten als „heroischen Genius", worin sich sowohl seine Distanzierung von Wagner, als auch seine Absage an die mythologisch-romantischen Geniekonzeptionen widerspiegeln. Zumeist spricht er seit Menschliches, Allzumenschliches vom „Freigeist" oder „freien Geist", was einen gewissen Wandel seiner Konzeption vom ,höheren' Menschen signalisiert. Bedeutsam erscheint mir an diesem Wandel seine Betonung des Experimentellen, womit auf die Offenheit des individuellen Scheiterns oder Bestehens im modernen Nihilismus hingewiesen wird. Bereits seit 1876 stellt sich Nietzsche explizit in die Tradition des freien Geistes, was seine Konzeptionierung einer später nicht veröffentlichten fünften Unzeitgemäßen Betrachtung. Der Freigeist sowie seine mannigfaltigen Bezügen zu Themen und Positionen der ,libre penseurs' dokumentieren.444 Der Leser konnte diese Bezugnahme unmittelbar zu Beginn von Menschliches, Allzumenschliches entdecken, weil es den Untertitel Ein Buch für freie Geister trägt und die Erstausgabe von 1878 durch eine spielerische Widmung an Voltaire, den „Befreier des Geistes", eingeleitet wird. Zudem folgt auf die Widmung ein von Nietzsche übersetztes Zitat aus dem Discours de la methode, in dem 444

Das Bekenntnis zur Lebensform des freien Geistes wird der Leserschaft erst mit der Veröffentlichung von Menschliches, Allzumenschliches im Jahr 1878 mitgeteilt.

182

D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN G E I S T E S

Descartes seine freigeistige Lebensmaxime mitteilt, nämlich „meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen".445 Das Zitat an dieser exponierten Stellung zeigt, daß Nietzsche trotz seiner vielschichtigen Kritik an dem hybriden, rationalistischen Vernunft- und Wahrheitsbegriff in der ihm eigentümlichen Art und Weise an diese Maxime anknüpft und sie für sich als verbindlich ansieht. Explizit wird die individuelle Ausbildung der Vernunft von ihm auch als ein „geistige(s) Fortschreiten" bezeichnet.446 Konsequent verschreibt er sich in diesem Zusammenhang dem Ideal einer intellektuellen Redlichkeit, die ihn beispielsweise zu der schmerzvollen Lösung der engen Bindung zu Richard Wagner und dessen Programmatik nötigt. Weder die Rolle als Adlatus des Meisters, der als Schauspieler demaskiert wird, noch die Gefolgschaft des metaphysischen Pessimismus und der nationalistischen Kulturentwürfe, die als defizient und selbstwidersprüchlich entlarvt werden, sind aus seiner Perspektive mit dem Streben nach fortschreitender geistiger Selbständigkeit zu vereinbaren. Die für seine Biographie wichtige, leidvolle Distanzierung von Wagner deutet an, was Nietzsche von dem Typus des freien Geistes verlangt: ein unerbittliches und unbestechliches Mißtrauen gegenüber all seinen Überzeugungen. Der von ihm angestrebte geistige Fortschritt erfordert demnach ein Nachdenken über die gewohnten Bindungen und deren Hinterfragung, was überhaupt erst eine potentielle Befreiung von diesen Bindungen ermöglicht. In einer Auseinandersetzung mit verschiedenen Bestimmungen des Freigeistes, die den Titel Freigeist ein relativer Begriff' (ΜΑ I 189) trägt, wird von Nietzsche vor allem die Bedeutung des Bruchs mit dem überlieferten Werthorizont als Charakteristikum des freien Geistes hervorgehoben, wobei die Loslösung allein jedoch kein Kriterium für die Überlegenheit eines freigeistigen Arguments darstellen soll. Die in der Überschrift des Textstücks angesprochene Relativität der Begriffsbestimmung bezieht sich dagegen auf die Genese der freien Geister, die seines Erachtens nicht einheitlich, sondern höchst unterschiedlich verlaufen kann. „Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet...; in der That entstehen auch viele Freigeister auf die eine oder andere Art. Desshalb könnten aber die Sätze, zu denen sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger sein, als die der gebundenen Geister... Uebrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Mißerfolg." ( Μ Α I 189 f.)

Mit dieser Beschreibung knüpft Nietzsche teilweise an die Geburt der Tragödie und die Unzeitgemäßen Betrachtungen an, insofern auch in ihnen vor dem dominierenden Zeitgeist, dem die „gebundenen Geister" ausgeliefert sind, gewarnt wird. Allerdings führen ihn seine theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen nun zu der Einsicht, daß die Loslösung von den Fesseln der eigenen Überzeugungen weitreichender sein

445

ΜΑ Ι 11 (An Stelle einer Vorrede). Über die Herkunft und Übersetzung des cartesianischen Zitats hat Robert A. Rethy einen Aufsatz mit dem Titel The Descartes Motto to the First Edition of Menschliches, Allzumenschliches veröffentlicht. In: N.-St. 5 (1976), S. 289 ff.

446

M A I 187.

D E R FORTSCHRITT AUS DEM NIHILISMUS

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muß, als bisher von ihm angenommen wurde. So zeigt ihm beispielsweise die Enttäuschung über Wagners Kulturprogramm, daß nicht nur die überlieferten Werte, sondern auch die scheinbar überlegenen, zukunftsträchtigen Ideen wiederholt kritisch überprüft werden müssen. Die unablässige Kritik beinhaltet aber auch eine Gefahr. Bei der oben zitierten Charakterisierung des freien Geistes deutet sich bereits eine Spannung zwischen einem Primat des Loslösens und einem Primat des Auffindens an. Wenn ersteres das entscheidende Kennzeichen sein soll, dann kann auch der destruktiv-anarchische Nihilist, der gerade nicht nach wahren Sätzen strebt, als freier Geist bezeichnet werden. 447 Als ein wesentliches Mittel, um das geistige Fortschreiten vor der Hemmung durch herrschende Zeitansichten zu schützen, hebt Nietzsche in den Schriften seit Menschliches, Allzumenschliches wiederholt die Bedeutung des Kontemplativen hervor. Bei dem beschaulichen Nachdenken und dem geistigen Sichversenken in bestimmte Themen kann der Einzelne abseits von der „modernen Hektik" (ΜΑ I 626) die Ruhe zu einem konzentrierten und gründlichen Selbstdenken finden. Seine Wertschätzung der individuellen Ausbildung der Vernunft zeigt sich auch in der Verwendung der Formel vom freien Geist, womit er trotz aller Einschränkungen bewußt an einen zentralen Begriff der europäischen Philosophie anknüpft. Während die Kontemplation in der Mystik, Religion und dogmatischen Metaphysik allerdings oft zu schwärmerischen, weitabgewandten Ausflügen des Geistes genutzt wurde, soll die vita contemplativa des freien Geistes eine kritisch-nüchterne, zugleich aber auch lebensbejahende Einschätzung der Welt ermöglichen. 448 Die kritische Kontemplation fuhrt gemäß Nietzsches Auslegung in der Moderne zu der Erkenntnis des gegenwärtigen „Interim-Zustandes", der sich durch den Verfall der bisherigen Normen und eine daraus resultierende umfassende Orientierungslosigkeit auszeichnen soll. Nun bleibt zu fragen, ob und wie der freie Geist, der alle Erkenntnisansprüche einer radikalen Überprüfung unterzieht, aus Nietzsches Perspektive dem modernen Nihilismus standzuhalten vermag. Mit der Betonung des Vermögens des freien Geistes zu einer Loslösung von den überlieferten, orientierungsstiftenden Werten deutet Nietzsche bereits eine spezifische Eigenschaft des freien Geistes an: Er hat den Mut, das Ungewisse zu wagen. Entscheidend ist nach Nietzsche, daß der Versuch riskiert wird, nach neuen, ungewohnten Normen zu leben, weshalb der freie Geist auch doppeldeutig als „Versucher" (M 266) bezeichnet wird. Das geistige Fortschreiten geht demnach mit dem Mut zu einem experimentellen Umgang mit den Dingen einher, der eine Befreiung von bisher als sicher angenommenen, metaphysisch-absoluten Wertungen und ein Vertrauen auf die Tätigkeit des eigenen Geistes erfordert. Dabei sollen es aber nicht allein die Dinge und Ge-

447

Im Nachlaß prognostiziert Nietzsche angesichts der Ermattung des Glaubens und der Schwächung der bisherigen Autoritäten eine „Lust an der Anarchie" (KSA 9/200). Die destruktiv-nihilistischen Konsequenzen einer radikalen Ideologiekritik beschreibt Reinhardt Maurer sehr anschaulich in dem Aufsatz Das antiplatonische Experiment Nietzsches. In: N-St. 8 (1979), S. 104 ff.

448

Daß dieser Begriff der Kontemplation sich gleichwohl der Tradition verdankt, zeigt auch Nietzsches ambivalentes Verhältnis zur Metaphysik (siehe IV.2.2)

DIE FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

184

danken sein, mit denen der freie Geist experimentiert, sondern auch sein eigenes Dasein soll zum Experimentierfeld werden. 449 „Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen, - zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften... noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein vorläufiges sein oder ein nachläufiges

Da-

Dasein... und thun am besten in diesem Interregnum... unsere eige-

nen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!" (M 274, vgl. auch Μ 2 9 4 )

Daß diese Experimente auch scheitern können, weil deren Ausgang prinzipiell offen ist, wird von Nietzsche wiederholt hervorgehoben. Zahlreich sind seine Metaphern für die existentielle Bedrohung des freien Geistes. So wird er als Wanderer durch Gletscherwüsten oder als Seefahrer auf stürmischem Gewässer beschrieben, um die vielfaltigen Gefahren deutlich zu machen. Dabei soll die Bedrohung einerseits aus der konsequenten Umsetzung der kritischen Einsichten erwachsen, die zu mannigfaltigen Differenzen mit dem gesellschaftlichen Umfeld führt. Schon aus der vorurteilsfreien Prüfung von v e r achtenswerten' Perspektiven, zu denen die Redlichkeit den freien Geist zwinge, können laut Nietzsche Zerwürfnisse mit Freunden und Bekannten resultieren, weil sie diesen Umgang mit dem ,Bösen' nicht verstehen (Siehe ΜΑ I 350 und Μ 484). Noch größer werden von ihm aber die Gefahren eingeschätzt, die aus dem Experimentieren selbst erwachsen, da eine extreme Hinterfragung von allen Wertungen und der ungezügelte Drang nach neuen Wagnissen dazu fuhren können, daß der Versucher sich in endlosen Versuchen verliert. Die Gefahr, an der „Unendlichkeit zu scheitern" (M331), droht, wenn das Experimentieren von der Vorstellung eines Fortschritts ins Unbestimmte angetrieben wird, die jede experimentell gewonnene Erkenntnis zugunsten möglicher neuer Experimente umgehend wieder aufs Spiel setzt. 450 Ohne zumindest temporär verbindliche Ziele wird das Experimentieren maßlos, d.h. jede Bindung an eine bestimmte Norm wird als Hindernis des fortschreitenden Experimentierens attackiert, und der Einzelne droht sich beim Experimentieren mit sich selbst ins Nichts aufzulösen, weil alle Bestimmungen des Selbst im unendlich fortschreitenden Experimentieren wieder zur Disposition gestellt werden. Statt zu einer Überwindung des Nihilismus, fuhrt das maßlose Experimentieren zum handlungsblockierenden Scheitern im Nihilismus. Diese Problematik wird bereits in Menschliches, Allzumenschliches I angedeutet, wenn gefragt wird, wie der freie Geist als ungebundener Versucher in der Praxis noch konkrete Ziele anstreben und erreichen kann. „Esprit fort.

- Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat und keine

Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive und Gesichtspuncte und hat desshalb eine unsichere, ungeübte Hand. Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch verhältnissmässig

stark zu machen, so dass er

449

Auch Nietzsches versucht, als Experimentierender mit sich selbst zu experimentieren, ohne jedoch die Gefahren dieses Experiments zu verkennen.

450

Die gefährliche Seite des Experimentierens und deren Zusammenhang mit einem Fortschritt ins Unbestimmte, der jedes Ergebnis eines Experiments lediglich als Mittel für neue Experimente betrachtet, wird deutlich von Reinhart Maurer herausgearbeitet. Siehe Maurer ( 1 9 8 4 ) S. 18 f.

D E R FORTSCHRITT A U S DEM NIHILISMUS

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sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu Grunde geht?" (ΜΑ I 193 - siehe auch ΜΑ I 300) Auch wenn Nietzsche den Reiz eines unbestimmt-experimentellen Fortschritts ins Unendliche nicht leugnet, so zeigt das obige Zitat, daß er primär versucht, die Möglichkeiten eines konstruktiven, geistig-experimentellen Fortschreitens auszuloten. 4 Nietzsches Überlegungen zum starken und schwachen Handeln hat Wolfgang Müller-Lauter im Kontext seiner Deutung von zwei Typen des Übermenschen bei Nietzsche, dem gewalttätigen Naturwesen einerseits und dem weisen Kulturwesen andererseits, untersucht. 452 Letzteres kann meines Erachtens als das Ideal eines souverän experimentierenden Freigeistes beschrieben werden. Die entscheidenden Charakteristika dieses Typs sind nach Müller-Lauters Auslegung die Offenheit gegenüber allen möglichen Perspektiven sowie die Fähigkeit, diese Perspektiven in Rangordnungen zu synthetisieren. 45 Problematisch scheint an dieser Deutung allerdings der Rekurs auf ein rangordnendes Prinzip zu sein, das auf teleologisch-normative Strukturen gründet. Obwohl diese von Nietzsche teils vehement abgelehnt werden, erkennt Müller-Lauter mit seiner treffenden Auslegung des ordnend-synthetisierenden Weisen, daß Nietzsche trotz seiner Teleologiekritik nicht völlig auf gewisse teleologische Strukturen in der „Wirklichkeit" und damit auch im „Subjekt" verzichtet. 454 So soll sich der „esprit fort" gemäß Nietzsches eigener Deutung im Experimentieren mit sich selbst finden. Die Annahme, der Mensch könne sich selbst finden, impliziert aber das Vorhandensein von gewissen teleologischen Leitlinien. Zudem betont Nietzsche die nicht zu unterschätzende Fähigkeit zur Disziplin, damit der freie Geist seine „angeborenen" höchsten Kräfte auszubilden vermag. „Begabung- In einer so hoch entwickelten Menschheit, wie die jetzige ist, bekommt von Natur Jeder den Zugang zu vielen Talenten mit. Jeder hat angeborenes Talent, aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit, Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein Talent wird, also wird, was er ist, das heisst: es in Werken und Handlungen entladet."455

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Die Verlockungen des Zerbrechens am Unendlichen deutet Nietzsche mit einem Zitat des von ihm geschätzten italienischen Dichters Leopardi an: „Unendlichkeit! Schön ist's in diesem Meer zu scheitern" (K.SA 9/290). Siehe Müller-Lauter (1971) S. 116 ff. Auf die Vielschichtigkeit der Äußerungen Nietzsches zum Übermenschen haben zahlreiche Interpreten hingewiesen. Besonders interessant ist meines Erachtens aber Müller-Lauters detaillreiche Auslegung vor dem Hintergrund von Nietzsches Philosophie der Gegensätze. Müller-Lauter (1971) S. 120. In wichtigen Textstücken der mittleren Schriften zeigt sich allerdings, daß der Gewalttätige gegenüber dem geistig Fortschreitenden von Nietzsche als ein zurückgebliebener Mensch" stigmatisiert wird (ΜΑ I 348). Zurecht konstatiert Müller-Lauter, daß der Übermensch angesichts der sich wandelnden Zeit keine absoluten Ziele, gleichwohl aber temporäre Ziele erkennen kann, „die dem Prozeß der sich wandelnden Wirklichkeit gerecht... werden" (Müller-Lauter (1971) S. 128). Dieser Gerechtigkeitsbegriff, der für Nietzsches Philosophie von zentraler Bedeutung ist, rekurriert meines Erachtens auf zumindest latent angelegte teleologische Strukturen. ΜΑ 1219. In dem Textstück Nr. 548 der Morgenröthe wird die Ausbildung des Genius als das höchste Werk bezeichnet, wobei besonders die Bedeutung einer ordnenden Kraft im Genius her-

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Das geistige Fortschreiten eines freien Geistes gründet demnach auf der beharrlichen Ausbildung seiner Begabung, die auch durch ein maßvolles Experimentieren gefordert werden kann. Die Ausbildung des freien Geistes wird dabei nicht als ein Fortschritt ins Unbestimmte, sondern als Fortschreiten zum höheren Selbst bestimmt, was auch eine der zentralen, auf Pindar zurückgehenden Überzeugungen Nietzsches ausdrückt: „Werde der, der du bist". 456 Wenn ein Individuum aber sein spezifisches Talent zu erkennen vermag und seine Kräfte auf dieses Talent auszurichten weiß, dann bedeutet dies einen „Fortschritt in der Macht" als Individuum, der auch ein „verhältnismässig stark(es)" Handeln erlaubt. Allerdings kann die Macht zum maßvollen Experimentieren beim freien Geist auch ermüden, was Nietzsche am Beispiel des positivistischen Fortschrittsphilosophen Auguste Comte darzustellen versucht (siehe Μ 311). Die Gefahren des modernen Nihilismus kann der freie Geist demnach nur durch die Loslösung von den absterbenden Werten und die experimentelle Suche nach neuen Handlungszielen überwinden. Dieses Experimentieren wird von Nietzsche zumeist nicht als ein Fortschreiten ins Unbestimmte beschrieben, sondern als ein geistiges Fortschreiten, das zur Entfaltung von bestimmten Talenten fuhrt. 457 Die kulturellen Hoffnungen, die Nietzsche an dieses geistige Fortschreiten knüpft, werden im nächsten Unterkapitel untersucht.

IV. 4. 4 Die Morgenröthe eines kulturellen Fortschritts Der moderne Nihilismus stellt gemäß Nietzsches Diagnose eine Gefahr für die moderne Kultur dar, weil mit der Erosion der bisher vorherrschenden moralisch-metaphysischen Werte die Heraufkunft des kulturfeindlichen Willens zum Nichts droht. Angesichts dieser Bedrohung sucht er nach Möglichkeiten einer Überwindung des nihilistischen Zersetzungsprozesses, der auch zu einem kulturellen Aufschwung fuhren soll. In diesem Zusammenhang verwendet er trotz seiner Kritik an der verbreiteten Fortschrittseuphorie in der Moderne auch den Fortschrittsbegriff, was in diesem Unterkapitel näher untersucht wird. Dabei wird ausgehend von einer Besinnung auf Nietzsches Kulturbegriff gezeigt, daß die von ihm angestrebten kulturellen Fortschritte auf den Aufbau einer modernen Aristokratie abzielen, die den unterschiedlichen Machtwillen der Individuen gerechte Entfaltungsmöglichkeiten einräumt. Die Suche nach Steigerungsmöglichkeiten der Kultur bleibt aufgrund von Nietzsches Diagnose einer kulturellen Mediokrität in der Moderne und einer Bedrohung durch nihilistische Desintegrationstendenzen auch nach seiner Enttäuschung über Wagners

vorgehoben wird (M 319). Daneben gibt es Textstellen, die die Anlage von teleologischen Strukturen entschieden abzulehnen scheinen. Siehe zu dieser Thematik auch Maurer (1984) S. 18 ff. 456

KSA 8/340, vgl. FW 563. Siehe dazu auch den Brief an Lou von Salome vom 10. Juni 1882 (KSB 6/203).

457

Es sei nochmals daraufhingewiesen, daß Nietzsches Auftihrungen zum Experimentellen nicht kohärent sind. So sympathisiert er teilweise auch mit dem maßlosen Experimentieren, das zu den oben skizzierten Aporien führen kann.

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Kulturprogrammatik ein zentrales Thema seiner Schriften. 458 Deutlich schlägt sich diese Suche beispielsweise im fünften Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches nieder, das den Titel „Anzeichen höherer und niederer Cultur" trägt. Dort wird zunächst herausgearbeitet, daß vor allem zwei menschliche Eigenschaften für die Entstehung einer Kultur konstitutiv sind, einerseits ein plurales, energievolles Machtstreben und andererseits ein ordnendes, strukturierendes Vermögen (siehe z.B. Μ A I 196, 204 u. 209). Letzteres wird aber nicht als Gegenpol zu Ersterem, sondern als eine verfeinerte Form desselben vorgestellt, so daß zwei unterschiedliche Formen des Machtstrebens kulturbildend sein sollen. 459 In ihren höchst unterschiedlichen, konkreten Ausformungen sowie ihrem komplexen Verhältnis zueinander sollen diese beiden Formen des Machtstrebens einen Indikator fur den niedrigen bzw. hohen Stand einer Kultur bilden. Gefährlich sind gemäß Nietzsches Interpretation die Tendenzen zur absoluten Dominanz von einer der beiden genannten Formen, denn dann droht entweder eine chaotische Barbarei oder eine Erstarrung in fest zementierten Ordnungen. Dagegen wird eine Kultur, die ein ausgewogenes Verhältnis von energiegeladenen Lebenskräften und strukturierenden Ordnungskräften erreicht, als eine höhere Kultur ausgezeichnet. „Denn überall, w o sich die grosse Architektur der Cultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammelung der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie desshalb zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen." 460

Die höhere Kultur zeichnet sich gemäß dieser Textpassage durch die Bändigung der komplex-pluralen Machtwillen zu einer zumindest temporären Einheit aus, die diesen durch eine sinnvolle Ordnung angemessene Entfaltungsmöglichkeiten einräumt. Der nicht-repressive Zwang, der durch eine maßvolle Anordnung der Mächte ausgeübt wird, vermag nach Nietzsche sowohl das chaotisch-ungezügelte Ausleben aller Bedürfnisse, als auch den Terror gegen das plurale Machtstreben zu verhindern. Dabei soll diese Architektur einerseits die Wirklichkeit der widerstrebenden Mächte anerkennen und ihnen gewisse Entfaltungsfreiräume zugestehen sowie diese Mächte andererseits kraftvoll einen. Eine derartige „Eintracht" der „einander widerstrebenden Mächte" wird meines Erachtens von Nietzsche in der Moderne angestrebt. Aus seiner Perspektive vermag eine 458

Nietzsche verwendet den Begriff Kultur in den ,mittleren' Schriften außerordentlich vielseitig. So spricht er beispielsweise von der Kultur der Menschheit, eines Kontinents, einer Nation, einer Gemeinschaft oder eines Einzelnen. Dieses Unterkapitel konzentriert sich vordringlich auf Nietzsches Aussagen zur europäischen Kultur, die allerdings mit anderen Verwendungen des Begriffs vielschichtig verwoben sind.

459

Obwohl Nietzsche seine Lehre vom Willen zur Macht bis 1881 noch nicht ausformuliert hat, scheint er mir bereits die besondere Bedeutung des Machtstrebens zu erkennen, wenn er schreibt, daß alle Individuen und damit auch die freien Geister nach Macht streben. Siehe KSA 9/147, vgl. auch GM 293.

460

ΜΑ I 228. Mit dieser Bestimmung der höheren Kultur knüpft Nietzsche an seine früheren Schriften an. Im Tragödienbuch ist es die Eintracht der widerstrebenden apollinischen und dionysischen Mächte, die die antike Hochkultur ausgezeichnet haben soll und auch in den Unzeitgemäßen Betrachtungen wird die höhere Kultur als Einheit von widerstrebenden Mächten bestimmt.

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große Architektur der Kultur sowohl den kulturhemmenden Egalitarismus als auch den kulturzerstörerischen Nihilismus zu demaskieren und zu überwinden, da sie einerseits die Differenz der widerstrebenden Mächte offenbart und andererseits sinnvolle, wenngleich nicht absolute Rangordnungen festlegt. Die Grundlage einer höheren Kultur der Moderne bildet demgemäß die nüchterne Anerkennung der ungleichen, widerstrebenden Machtwillen und deren Einigung in temporären Rangordnungen. Die kraftvolle aber zugleich ausgleichende Einigung der pluralen Machtwillen kann laut Nietzsche nur gelingen, wenn nicht bestimmte Partikularperspektiven verabsolutiert werden, sondern ein Überblick über die mannigfaltigen Perspektiven die Grundlage der Einigung bildet. Dabei ist aber zu beachten, daß auch diese überblickende Perspektive letztlich nur eine begrenzte, nach Macht strebende Perspektive ist. Im letzten Unterkapitel ist herausgearbeitet worden, daß Nietzsche einen derartigen, synthetisierenden „Fortschritt in der Macht" allein vom freien Geist erwartet. Folglich kann es nicht verwundern, wenn er dem freien Geist die zentrale Aufgabe zuerkennt, aus einer überblickenden Perspektive die widerstrebenden Mächte in einer Kultur zu ordnen und über deren Entfaltungsmöglichkeiten zu entscheiden. „Selbständige und vorsichtige Haltung der Erkenntniss schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehlen und ihnen die Wege und Ziele der Kultur zu zeigen." (ΜΑ I 231)

An dieser Textstelle wird die Bedeutung sichtbar, die den freien Geistern als Architekten der höheren Cultur beigemessen wird. Im Unterschied zu den „gebundenen Geistern" sollen sie den Gang der Kultur maßgeblich bestimmen, d.h. das vielfaltige und spannungsreiche Machtstreben auf zumindest temporär sinnvolle Ziele ausrichten. Fraglich ist jedoch, was aus Nietzsches Perspektive als sinnvoll angestrebt werden soll? Offensichtlich sind die von ihm anvisierten „Wege und Ziele" weder in den einzelnen Wissenschaften, noch in den Diskussionen auf den Marktplätzen der „gebundenen Geister" zu finden. Seines Erachtens ist eine „neue, Wertschätzung" (M 305) vielmehr im Zwiegespräch der freien Geister zu ermitteln, die jenseits des absolut Guten und Bösen argumentieren. Grundlegend soll für die neue freigeistige Wertschätzung die Beachtung der Rangordnung des Machtstrebens sein, die nach dem Vermögen der Mächte bemessen wird, das Widerstrebende sinnvoll zu interpretieren und zu einigen. 461 Falls die freien Geister an dieser schwierigen Kunst des Interpretierens und Experimentierens nicht scheitern, wäre, gemäß Nietzsches hoffnungsvoller Perspektive, eine Umwertung der bisherigen Werte und der Fortschritt zu einer höheren Kultur der Moderne möglich. „Aber die Menschen können mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufallig entwickelten: sie können jetzt bes-

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Von der weisen unterscheidet Nietzsche die gewaltsame Einigung der widerstrebenden Mächte, die seines Erachtens in bestimmten Situationen auch sinnvoll sein kann, aber aufgrund ihres repressivgeistlosen Charakters von ihm zumeist abgelehnt wird (siehe Μ 175 f.).

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sere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen. Diese neue bewusste Cultur tödtet die alte...; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, - er ist möglich." (ΜΑ I 45)

Gegenüber einer fortschrittsfeindlichen Perspektive wird in dieser Aufzeichnung auf die gesteigerten, kulturellen Möglichkeiten in der Moderne verwiesen. Daß Nietzsche in diesem Kontext eine Fähigkeit zur bewußten Beeinflussung des künftigen Kulturverlaufs konstatiert, mag angesichts seiner zahlreichen Hinweise auf die Macht des Unbewußten überraschen. Letztere wird dadurch aber keinesfalls marginalisiert. Hier wird vielmehr der positive Aspekt der ambivalenten Befreiung des Menschen von den traditionellen orientierungsstiftenden Beständen angeschnitten: Nach der Enttäuschung des chiliastischen Vertrauens auf eine metaphysisch garantierte, fortschreitende Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf Erden bleibt dem Menschen die eigenständige Suche nach geeigneten Maßnahmen zur Förderung der Kultur. Wenn der Mensch in der Moderne nicht von der nihilistischen Dynamik des blinden Machtstrebens fortgerissen werden will, so muß er nach Nietzsche diese Chance auf einen möglichen Fortschritt nutzen. 462 Wichtig ist in diesem Zusammenhang das prinzipielle Vermögen des Menschen, auf eine große Menge von Erfahrungen zurückzugreifen und aus ihnen zu lernen, um „bessere Bedingungen" des kulturellen Zusammenlebens zu schaffen. Besonders wird von Nietzsche im o.g. Kontext die Bedeutung der Fähigkeit des bewußten Abwägens der unterschiedlichen menschlichen Kräfte hervorgehoben. Diese Kunst des „vorsichtigein) Spiel(s) mit den Wagschalen: ,einerseitsandererseits"' (ΜΑ I 236), die ein feines Interpretationsgespür voraussetzt, beherrschen seines Erachtens allein die freien Geister. Nur sie können die Architekten eines möglichen Fortschritts der Kultur sein. 463 Ein solcher Fortschritt, der den „widerstrebenden Mächten" gerecht zu werden versucht, unterscheidet sich nach Nietzsche fundamental von moralisch-egalitaristischen Fortschrittsprogrammen, weil hier die Differenzen zwischen den Menschen und das daraus entstehende Leiden anerkannt werden. Die ausgewogene Förderung der unterschiedlichen physischen und psychischen Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen wird seines Erachtens in einer „geistig-leibliche(n) Aristokratie" (ΜΑ I 204) erreicht, deren Bildung er in der Moderne anstrebt. Diese aristokratische Ordnung soll sich im Unterschied zu den zeitgenössischen Kulturen nicht auf eine Steigerung der allgemeinen, gleichen Bedürfnisbefriedigung konzentrieren. Nach der Befriedigung der primären Bedürfnisse Aller wird vielmehr die angemessene Erfüllung der höheren Bedürfnisse der begabten Individuen anvisiert. Eine Bewertung der Bedürfnisse und die Entscheidung über deren Erfüllung bzw. Hemmung soll dabei die abwägende und rangordnende,

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Siehe ΜΑ I 0205 f. Als einen Fortschritt bezeichnet Nietzsche explizit den modernen Übergang von der „tropischen" zur „gemässigten Zone der Cultur" (ΜΑ I 198), in der die metaphysischen Dogmen durch nüchterne, ausgewogene Urteile abgelöst werden. Da eine derartige Kulturzone den vielfältigen Seiten des Menschen entsprechenden Entfaltungsraum bieten soll, spricht Nietzsche auch von der „höheren vielsaitigeren Cultur" (ebenda 230).

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geistig-leibliche Vernunft der freien Geister leisten, die in der neuen Aristokratie mit einer Richtlinienkompetenz ausgestattet werden sollen. 464 Die Distanz von Nietzsches Fortschrittshoffnung zu den Fortschrittsprogrammen moderner Provenienz manifestiert sich jedoch nicht nur in seiner Überzeugung, daß die leidvollen Unterschiede der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten nicht abzuschaffen seien, sondern in seiner Fürsprache, diese Unterschiede möglichst noch zu steigern. 465 Denn j e stärker die widerstreben Mächte, j e größer die Spannung zwischen geistigleiblicher Inferiorität und Superiorität, desto höher soll die Architektur der Kultur werden, die diese Mächte in einer Rangordnung zu einigen vermag. Insofern richtet sich seine Hoffnung auf die Herausbildung einer aristokratischen Kultur in der Moderne, in der die widerstrebenden und rangordnenden Machtwillen am stärksten ausgeprägt sind. Der von Nietzsche angestrebte kulturelle Fortschritt zu einer „geistig-leiblichen Aristokratie" bedeutet aber keine unmittelbare Anknüpfung an bisher bekannte aristokratische Gesellschaftsordnungen. Auch die sonst so geschätzten, vornehmen Griechen sind aufgrund ihres blinden, tyrannischen „Machtgelüst(s)" (M 174), das bei günstigen Gelegenheiten auch die ,Standesgenossen' nicht verschont, keine Vorbilder fur den modernen Adel. Gegenüber deren teils blindem Machtdrang soll sich das Machtstreben der künftigen Aristokraten durch das Vermögen des geistreichen Interpretierens auszeichnen, daß die eigene Position und die widerstrebenden Mächte hinsichtlich der Realisierungschancen vorsichtig abtastet und sich bemüht, ihnen jeweils gerecht zu werden. Dank dieses Vermögens soll es den vornehmen Individuen der Zukunft möglich sein, die fremden und eigenen Grenzen zu erkennen und ihresgleichen zu respektieren. 466 In einem Kurztext mit der Überschrift Meine Utopie wird zudem die Leidensfahigkeit der Individuen als das Maß einer besseren gesellschaftliche Ordnung bestimmt. 467 Entgegen den bisher bekannten Aristokratien soll sich demnach der Rang in der künftigen Gesellschaft auch nach der feinfühligen Empfindsamkeit des Einzelnen richten. Zentral bleibt aber auch für Nietzsches mittlere Philosophie die Betonung der unüberbrückbaren Distanz seiner Kulturhoffnungen zu den modernen Fortschrittserwartungen. Im Textstück Nummer 554 der Morgenröthe unterscheidet Nietzsche aus diesem Grund zwischen den Begriffen „Fortschritt" und „Vorschritt", ohne diese terminologische Unterscheidung jedoch in seinen Schriften streng zu verfolgen.

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Im Unterschied zu Interpreten wie Jürgen Habermas sehe ich in Nietzsches Philosophie demnach keine grundsätzliche Absage an die Vernunft, sondern eine vielschichtige Auseinandersetzung mitverschiedenen Vernunftkonzeptionen. Vielfach wird in seinen Schriften explizit an die positive Bedeutung der Vernunft erinnert. Siehe ζ. Β. Μ Α I 220.

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Siehe ζ. Β. ΜΑ I 209. Der Begriff Gleichheit wird in diesem Kontext positiv verwendet und ist hier eine Sonderform der proportionalen Gerechtigkeit. Vereinzelt nennt Nietzsche die geistreichen Aristokraten auch Oligarchien des Geistes, die sowohl gegen die halbgeistige Ochlokratie als auch gegen die Tyrannei des Geistes kämpfen (siehe ΜΑ 1218, ähnlich Μ 547).

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Siehe ΜΑ I 299. Wenn Nietzsche den Utopiebegriff an dieser Stelle positiv verwendet, zeigt dies, daß Nietzsche utopische Vorstellungen nicht vollständig ablehnt. Allerdings distanziert er sich grundsätzlich von allen modernen Hoffnungen auf eine umfassende und irreversible Verbesserung des menschlichen Daseins.

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„Vorschritt. - Wenn man den Fortschritt rühmt, so rühmt man damit nur die Bewegung und Die, welche uns nicht auf der Stelle stehen bleiben lassen, - und damit ist gewiss unter Umständen viel gethan... Im beweglichen Europa aber, w o sich die Bewegung, wie man sagt, ,νοη selbst versteht'... lobe ich mir den Vorschritt und die Vorschreitenden, das heisst Die, welche sich selber immer wieder zurücklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen Jemand sonst nachkommt." (M 324)

Gemäß dieser Textpassage vermag sich der „Vorschreitende", im Unterschied zur unreflektierten Einordnung in einen übergeordneten, unbestimmten Prozeß, mit der „individuelle^) Frage nach dem Wozu?" (M 95) auseinanderzusetzen und selbständig nach sinnvollen Zielen zu suchen. 468 Dieser Vorschritt kann auch einen Widerstand gegen den Fortschritt bedeuten, da der individuellen Entfaltung gegenüber einem allgemeinen Fortschritt Priorität eingeräumt wird. 469 Charakteristisch soll für diesen Vorschritt sein, daß dabei Spuren zurückbleiben, die von den bereits überwundenen, zu engen Perspektiven zeugen. Auch mit der oft von ihm verwandten Metapher der sich häutenden Schlange beschreibt Nietzsche diesen Prozeß des Vorschritts des freien Geistes, der eine Erstarrung in dogmatischen Perspektiven verhindern könne. 470 Dieser Wandel bedeutet allerdings keine Hingabe an eine maßlose Fortschrittsdynamik, denn der Vorschreitende soll sich gerade dadurch auszeichnen, daß er das Maß seines Vorschritts unabhängig von dieser Dynamik eigenständig bestimmt. 471 Die herausragende Bedeutung dieser vorschreitenden, freien Geister für die Bildung einer höheren, aristokratischen Kultur wird von Nietzsche oft betont, so beispielsweise wenn er konstatiert, daß durch sie „alles Fortschreiten überhaupt möglich" wird. 472 Allerdings ist sich Nietzsche immer der Gefahr bewußt, daß der von ihm erhoffte kulturelle Fortschritt auch ausbleiben kann oder auf einen Fortschritt möglicherweise ein barbarischer Rückschritt folgt, denn schließlich ist seines Erachtens die „Cultur (...) nur ein dünnes Apfelhäutchen über einem glühenden Chaos". 473

468

Trotz dieser Kritik sollte die einleitende Würdigung der „beweglichen" modernen europäischen Kultur gegenüber anderen Kulturen nicht übersehen werden, denn sonst kommt es zu unausgewogenen Deutungen seiner Auseinandersetzung mit der Moderne. Siehe ζ. B. Karen Joisten (1994) S. 232.

469

Im Nachlaß vom Herbst 1881 wird ein „Nachlassen... unseres Glaubens an die Verwerflichkeit des Individuellen" ausdrücklich als „Fortschritt aus der Barbarei"' (KSA 9/571) gewertet. Siehe ζ. Β. Μ 330. Siehe dazu die Ausführungen zum geistig-experimentellen Fortschreiten des freien Geistes im Unterkapitel IV.4.3. Die Differenz von Fort- und Vorschritt hat Reinhart Maurer in dem Artikel Der Begriff Unendlicher Progreß im Hegel-Jahrbuch 1971 herausgearbeitet. Siehe Hegel-Jahrbuch (1971) S. 189 ff.

470 471

472

ΜΑ I 188. Neben dieser Würdigung der ungebundeneren Geister betont Nietzsche aber auch die Bedeutung der stabilen Bindungen in einer Kultur. Gerade dies ist jedoch das Problem der nihilistischen Moderne. Fraglich bleibt, ob sie durch die modernen Aristokraten neu geknüpft werden könnten.

473

KSA 10/362. Dieses berühmte Zitat stammt vom Mai-Juni 1883, doch gibt es ähnliche Textstücke aus der Zeit vor 1881 (vgl. Μ A I 206). An die Offenheit der künftigen Entwicklung wird auch in einem Textstück mit dem Titel Trostrede eines desperaten Fortschritts erinnert (ΜΑ I 206).

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Meine These ist somit, daß Nietzsche durch eine freigeistige Umwertung aller Werte die Überwindung des Nihilismus und einen Kulturfortschritt zu einer modernen Aristokratie anstrebt. Die neue Wertschätzung hätte, im Gegensatz zu den von ihm kritisierten neuzeitlichen Fortschrittsvorstellungen, von der irreduziblen Vielfalt der widerstrebenden Mächte im Leben auszugehen und die gerechte Entfaltung des unterschiedlichen Machtstrebens in angemessenen Rangordnungen zu fördern. In der Herausbildung derartiger Rangordnungen erkennt Nietzsche den höchsten „Fortschritt in der Macht", ohne davon jedoch eine prinzipielle Verbesserung der Situation des Menschen auf Erden noch des Menschen selbst zu erwarten.

IV. 4. 5 Anmerkungen zum positiven Fortschrittsverständnis des freien Geistes In den letzten Kapiteln sind Nietzsches Diagnose des modernen Nihilismus und seine Überlegungen hinsichtlich einer Überwindung desselben untersucht worden, wobei drei bedeutende positive Bezugnahmen auf die Fortschrittsvorstellung herausgearbeitet werden konnten. Es zeigt sich damit, daß der Fortschrittsbegriff auch in den ,mittleren Schriften' weder durchgehend positiv noch negativ, sondern ambivalent besetzt ist. Sowohl die Fortschrittseuphorie als auch der euphorische Angriff auf die Fortschrittsvorstellung werden zugunsten einer eigenständigen und komplexen Interpretation der Fortschrittsidee abgelehnt. In diesem Unterkapitel wird abschließend nach der Plausibilität von Nietzsches Zeitdiagnose sowie seiner Vorstellungen eines „Fortschritt(s) in der Macht", eines geistig-experimentellen Fortschreitens und eines kulturellen Fortschritts gefragt. Weder der Begriff noch die Diagnose des Nihilismus sind eine Entdeckung Nietzsches, aber ihm kommt das Verdienst zu, mit diesem Begriff zentrale Probleme der Moderne deutlich thematisiert zu haben. Daß diese Probleme eng mit der Lockerung der religiösen Bindungen und der metaphysisch garantierten Werte sowie der Enttäuschung über das Ausbleiben eines umfassenden, leidabschaffenden Fortschritts zusammenhängen, haben zahlreiche Interpreten ausfuhrlich herausgearbeitet. 474 Gegenwärtig scheint die Nihilismusproblematik weniger akut zu sein, da in aktuellen Diskussionen vergleichsweise selten der Begriff bemüht wird. Angesichts der Potenzierung der modernen Gefahren durch atomare, ökologische, gentechnische u.a. .Fortschritte', die einen irreversiblen Prozeß ins Nichts auslösen können, erscheint es mir zum Ende des 20. Jahrhunderts jedoch nicht abwegig, wenn Gianni Vattimo im Anschluß an Nietzsche

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Aufgrund der gefährlichen Konsequenzen eines maßlosen Fortschritts in der Moderne hat der von Burckhardt und Nietzsche stark beeinflußte Karl Löwith von dem Verhängnis des Fortschritts gesprochen und einen Aufsatz unter diesem Titel veröffentlicht. Siehe Karl Löwith: Sämtliche Schriften. Bd. 2. Stuttgart 1983, S. 392 ff. Auf die nihilistischen Konsequenzen der vermeintlich Leid abschaffenden Fortschrittsprogramme hat Reinhardt Knodt deutlich hingewiesen. Siehe Knodt (1987) S. 169 ff.

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und Heidegger konstatiert: „Der Nihilismus ist Wirklichkeit".475 Der Nihilismus wird von Vattimo in diesem Kontext als Dekomposition des Gebrauchswertes in den Tauschwert gedeutet, wodurch es zur völligen Austauschbarkeit der Werte und zu „unbegrenzten Verwandlungen der universalen Gleichwertigkeit" kommen soll.476 Unter der programmatischen Überschrift Die Apologie des Nihilismus interpretiert Vattimo die Schriften Nietzsches als Affirmation des Nihilismus, da Nietzsche eine Überwindung desselben weder für möglich noch für wünschenswert erachte. Vielmehr sei der Nihilismus zu bejahen, da dieser die Chance einer befreienden Auflösung von Ordnungsstrukturen biete.477 Vattimos Deutung trifft meines Erachtens Nietzsches Ansicht einer Wandelbarkeit der Werte, aber sie verfehlt die Intention von Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Nihilismus. Denn Nietzsches partielle Affirmation des Nihilismus bedeutet weder eine Verteidigung des Verharrens im Nihilismus noch eine Aufforderung zum munteren Austausch der gleichwertigen Werte, sondern sie bezieht sich auf die Destruktion der bisherigen Wertordnung, die die Errichtung einer neuen Wertordnung ermöglichen kann. Zurecht weist Margot Fleischer in ihrer Auseinandersetzung mit dieser Problematik daraufhin, daß der Nihilismus aus Nietzsches Perspektive „doppelgesichtig" ist und seine Affirmation des Nihilismus nicht mit einem dauerhaften Arrangement zu verwechseln ist. „Festzuhalten bleibt hier, daß er (Nietzsche, Anm. Verf.) den Nihilismus, so gefährlich er als Krise ist, bejaht als logische und psychologische Voraussetzung dafür, daß seine eigene Weltauslegung zur Wirkung kommen kann... Deshalb sind in seiner Sicht die schmerzlichen Beraubungen, die sein destruktives Denken zufugt, zugleich Befreiungen." 4 7 8

Erst wenn Nietzsches Warnung vor der drohenden Gefahr eines Arrangements mit dem Nihilismus richtig interpretiert wird, offenbart sich seine eigentliche Intention: die kritische Überwindung des Nihilismus. Im Gegensatz zu Vattimos Auslegung, die ausgerechnet den für das Verständnis der Schriften Nietzsches zentralen Begriff der Überwindung bei ihm als negativ konnotiert betrachtet, soll sich der Einzelne gemäß Nietzsche gerade nicht mit dem Nihilismus abfinden.479 Nietzsches diesbezügliche Absicht 475

Vattimo (1990) S. 23. Diese Diagnose wird von zahlreichen Interpreten geteilt, allerdings ziehen sie aus dieser Bestandsaufnahme oft völlig andere Konsequenzen als Vattimo. Zur Aktualität von Nietzsches Nihilismusdiagnose siehe den Aufsatz Nietzsche und das Experimentelle von Reinhart Maurer, in dem verschiedene Interpretationen zu dieser Thematik vorgestellt werden. Siehe Maurer (1984) S. 7 f.

476

Vattimo (1990) S. 26. Vattimo experimentiert in dieser Textpassage mit Begriffen von Karl Marx. Vattimo (1990) S. 23 ff. Ähnlich auch in Vattimo (1992) S. 85. Margot Fleischer (1993) S. 45. Ähnlich urteilt Renate Reschke, die feststellt, daß Nietzsche die Kultursituation seiner Zeit „differenziert" wahrnimmt. Allerdings liefert sie in einem daran anschließenden Zitaten-Patchwork einen recht undifferenzierten Eindruck von Nietzsches Gegenwartsdiagnose. Dies.: Die Angst vor dem Chaos. In: N.-St. 18 (1989), S. 290 f. Das der ambivalente Blick auf den modernen Nihilismus auch beim späten Nietzsche trotz seiner scharfen Kritik an modernen Mißständen keinesfalls verloren ist, dokumentiert folgende Nachlaßaufzeichnung: „Gesammt-Einsicht: der zweideutige Charakter unserer modernen Welt..." (KSA 12/468).

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479

Siehe Vattimo (1990) S. 6 f.

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hat Albert Camus treffend gedeutet, wenn er schreibt, daß dieser sich auf einen „Wiederaufstieg", also auf die Überwindung des gefährlichen, orientierungslosen ZwischenZustands konzentriere. 480 Das Bemühen um eine Überwindung des nihilistischen „alles ist umsonst" erklärt auch Nietzsches intensive Suche nach dem fundamentalen Lebensantrieb, den er in den mittleren Schriften vor allem im Selbsterhaltungsdrang und im Streben nach Lust bzw. Macht erblickt. In den Reden von der „Machtsteigerung", der „Machterhöhung" und dem „Fortschritt in der Macht", die bereits über das Konzept der Selbsterhaltung hinausweisen und die spätere Lehre vom Willen zur Macht ankündigen, zeigt sich meines Erachtens die tiefe Verankerung der Fortschrittsvorstellung im Leben. Da in der Sekundärliteratur die Rede vom „Fortschritt in der Macht" keine unmittelbare Beachtung gefunden hat, werde ich mich bei meiner diesbezüglichen Untersuchung auf die Auseinandersetzung mit zwei prominenten Interpretationen des „Willens zur Macht" konzentrieren. 481 Einen wirkungsmächtigen Versuch einer philosophischen Deutung des „Willens zur Macht" unternimmt Martin Heidegger in seiner Freiburger Nietzsche-Vorlesung, in der er sich allerdings ausschließlich auf dessen „eigentliche(s) ,Werk(es)' (1881-89)" stützt. 482 In diesen Vorlesungen wird die Bedeutung der Lehre vom Willen zur Macht betont, weil sich in ihr die Vollendung der europäischen Metaphysik und die Verschüttung der eigentlichen Frage nach dem Sein offenbaren sollen. Diese Seinsvergessenheit zeigt sich nach Heidegger exemplarisch in den lediglich auf Machtsteigerungen ausgerichteten Machtwillen, die eine Überwältigung des als beständig und anwesend vorgestellten Seienden anstreben. 483 In dem unersättlichen Steigerungsdrang, der das Seiende fortschreitend verrechnen und vernutzen will, liegt nach seiner Nietzsche-Interpretation der Charakter des Machtstrebens. ,„Werte' sind die Bedingungen, mit denen die Macht als solche rechnen muß. A u f MachtSteigerung zu rechnen, auf Übermächtigung der jeweiligen Machtstufe, ist das Wesen des Willens zur Macht. ,Werte' sind in erster Linie die Steigerungs-Bedingungen, die der Wille zur Macht in A u g e faßt. Wille zur Macht ist als Sichübermächtigen nie ein Stillstand." 484

In der Moderne wird dieses permanente „Sichübermächtigen" gemäß Heideggers Auslegung als „Befreiung in das fortgesetzte von-sich-weg-Schreiten zu Steigerungen von 480

Albert Camus: Nietzsche und der Nihilismus. In: Salaquarda ( 2 1 9 9 6 ) S. 63. Auch wenn diese Interpretation aus meiner Perspektive einige problematische Thesen enthält, so gelingt es Camus doch, Nietzsche als besorgten „Kliniker" des Nihilismus und nicht als dessen Propheten oder Verteidiger darzustellen.

481

Der Gebrauch des Ausdrucks „Wille zur Macht" als Schlagwort wird an dieser Stelle nicht untersucht. Siehe dazu den Aufsatz „Der Wille zur Macht" als Buch der ,Krisis'philosophischer Nietzsche-Interpretationen von Wolfgang Müller-Lauter in den Nietzsche-Studien (N.-St. 2 4 ( 1 9 9 5 ) S. 223 ff.).

482

Heidegger ( 5 1 9 8 9 I) S. 18. Die Problematik einer derartigen Verengung, die die Entwicklung des Denkens unterschätzt, hat Volker Gerhardt in seiner Monographie Vom Willen zur Macht aufgezeigt. Siehe Gerhardt ( 1 9 9 6 ) S. 85 f.

483

Siehe Heidegger (51989 Bd. I) S. 656.

484

Heidegger (51989 II) S. 103.

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Allem in Allem"485 gedeutet. Mit dieser Deutung gelingt ihm meines Erachtens, den von Nietzsche in der Rede vom „Fortschritt in der Macht" angedeuteten Zusammenhang von Machtstreben und Fortschrittsvorstellung treffend zu beschreiben. Problematisch ist allerdings seine einseitige Auslegung der Machtsteigerung als maßlose, verrechnende Übermächtigung des Seienden. Heidegger beachtet nicht, daß Nietzsche zwischen verschiedenen Formen der Machtsteigerung differenziert und diese unterschiedlich bewertet. Dadurch zwingt er Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht in den von ihm skizzierten Leitentwurf der abendländischen Metaphysik, die das Seiende als anwesend und beständig vorstellt, um es zu vernutzen. Statt beispielsweise Nietzsches deutliche Kritik an dem naturausbeutenden „Fortschritt in der Macht" wahrzunehmen, der ausdrücklich als sklavenmäßig stigmatisiert wird, ordnet er Nietzsches Gedanken allzu glatt in seine Geschichte der Metaphysik ein. Heideggers Kritik am Machtstreben, das nur auf eine Potenzierung des Nutzwertes ausgerichtet ist, trifft deshalb an Nietzsches komplexer Philosophie der Macht vorbei.486 Trotz der grundsätzlichen Unterstützung von Heideggers Bestrebungen einer „Verwindung der Metaphysik" distanziert sich Wolfgang Müller-Lauter von Heideggers Deutung des „Willens zur Macht" in entscheidenden Punkten.487 Die grundlegende Differenz bezieht sich auf die Interpretation des „Willens zur Macht" als metaphysisch gründendes Prinzip, was von Müller-Lauter abgelehnt wird, da seiner Ansicht nach Nietzsches Lehre eine Auslegung ist, die um ihren auslegenden Charakter weiß. Den „Willen zur Macht" bezeichnet er im Anschluß an Karl Jaspers als „Antrieb zur Auslegung"488, was Nietzsche auch auf seine eigene Philosophieren bezogen habe. Auch wenn Müller-Lauter im Anschluß an Heidegger die Machtsteigerung als eine zentrale Bestimmung des „Willens zur Macht" interpretiert, so erkennt er im Unterschied zu ihm bei Nietzsche eine Differenzierung zwischen einer Vielfalt von Überwältigungsformen, die deren Reduzierung auf das vorstellende Rechnen zur Vernutzung des Seienden nicht überzeugend erscheinen läßt.489 Gerade die Anerkennung der Wirklichkeit in ihrer widerstrebenden, nicht verfugbaren Vielfalt ist nach Müller-Lauter ein zentrales Thema von Nietzsche. Treffend bemerkt er, daß Nietzsche gerade im vorsichtigen Ordnen der komplexen Pluralität eine Machtsteigerung erkennt. „Machtvermehrung besagt Gewinnung neuer Perspektiven (weil weitere Machtquanten einverleibt worden sind) und damit Erweiterung der Interpretationen. Diese wiederum kennzeichnet die Erhöhung des Menschen. Umgekehrt gilt: ,die Mehrung der Deutung (:) Zeichen der

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Heidegger (51989 II) S. 27. Meines Erachtens lassen sich gewisse Ähnlichkeiten von Nietzsches und Heideggers Moderne Kritik herausarbeiten, die gerade mit ihrer Absage an hybrid anthropozentrische Fortschrittsprogramme der Moderne zusammenhängen. Wolfgang Müller-Lauter: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht. In: Salaquarda (21996) S. 234 ff. Ebenda S. 267. Siehe Müller-Lauter: Das Willenswesen und der Übermensch. In: N.-St. 10/11 (1981/82) S. 153. In diesem interessanten Aufsatz wird der Wandel von Heideggers Nietzsche-Verständnis skizziert und gezeigt, daß Heidegger in den fünfziger Jahren diese einseitige Auslegung des Willens zur Macht aufgibt (S. 168 ff.).

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Kraft'. Die Umkehrung gilt freilich nur dann, wenn die vielen Deutungen sich zur Einheit organisieren lassen und nicht die Disgregation bewirken..." 4 9 0

Auch wenn diese Interpretation sich vordringlich auf die späten Schriften Nietzsches konzentriert, so kann sie meines Erachtens auch zur Deutung der positiv konnotierten Vorstellung des Machtstrebens in den ,mittleren Schriften' dienen. Gerade in dieser Schaffensperiode zeigt sich deutlich, daß die höchste Form des „Fortschritts in der Macht" nach Nietzsche in der Gewinnung von weiten, rangordnenden Perspektiven liegt. Wenn Nietzsche in seinen Texten vom „Fortschreiten... eines Menschen" ( M A I 188) spricht, bezieht er sich gemäß meiner Deutung insbesondere auf die oben genannte Form der Machtsteigerung. Daneben finden sich allerdings auch Textstücke, in denen er Formen der gewaltsamen Machtsteigerung untersucht und diese partiell positiv konnotiert. Die Nietzsche-Interpreten haben in seinen Beschreibungen des höheren Menschen die unterschiedlichsten Typen erkannt, wobei sie sich zumeist auf zwei Grundtypen konzentriert haben: den starken Gewalttätigen und den synthetisierenden Weisen. 4 1 Im Gegensatz zu der problematischen Interpretation von J. P. Stern, der in Hitlers Laufbahn nahezu eine „Verkörperung des ,Willens zur Macht'" 492 erblickt, denke ich, daß Nietzsche nicht nur in seinen mittleren Schriften deutlich dem weisen Typus den Vorzug gibt. Wiederholt betont er, daß es allein der geistreiche Einzelne vermag, die höchste Form des „Fortschritts in der Macht" umzusetzen. Auch Müller-Lauters Rede von einem „Widerstreit zwischen Weisheit und Macht im höchsten Menschen" 493 erscheint mir in diesem Zusammenhang nicht überzeugend. Denn für Nietzsche ist auch die Weisheit machtvoll, sonst könnte sie nicht dem Scheitern im modern-experimentellen Nihilismus entgehen. Außerdem konstatiert Nietzsche wiederholt die Unzeitgemäßheit des Gewalttätigen in der Moderne (Siehe z.B. ΜΑ I 348). In bezug auf ein Individuum wird gewöhnlich von einer Entwicklung oder Reife aber eher selten von einem Fortschritt oder einem Fortschreiten gesprochen, während Nietzsche letzteren Ausdruck verwendet, um den Prozeß der Ausbildung der freien Geister zu beschreiben. 494 Diese Verwendung ist aus meiner Sicht möglich und sinnvoll, wenn Nietzsche nicht an ein Fortschreiten ins Unbestimmte sondern an ein Fortschreiten zum

490

Müller-Lauter ( 2 1 9 9 6 ) . Verfehlt erscheint mir dagegen Vattimos Interpretation des Willens zur Macht, die gerade das disgregierende Moment einseitig herausstellt. Siehe Vattimo ( 1 9 9 2 ) S. 85.

491

Die Differenzierung findet sich beispielsweise in dem Nihilismus-Aufsatz von Camus, der jedoch meines Erachtens eine einseitige Dominanz des starken Gewaltätigen konstatiert. Siehe Camus ( 5 1 9 9 6 ) S . 74.

492

J. P. Stern: Die Moralität der äußersten Anstrengung. Köln 1982, S. 202. Eine verwerfliche Verbindung zwischen Nietzsche und Hitler konstatiert auch Karl-Otto Apel in seiner wenig überzeugenden Warnung vor einer Rehabilitierung Nietzsches. Siehe Apel ( 1 9 8 8 ) S. 106.

493

Müller-Lauter ( 1 9 7 1 ) S. 133. Der Widerstreit soll in der machtvollen Absolutsetzung einer Perspektive und der weisen Bejahung der Gegensätze liegen.

494

Auch in einer autobiographischen Bemerkung in einem Brief vom 12. Juli 1879 wird auf das individuelle Fortschreiten abgehoben, wenn er schreibt, „allein sein bringt mich mehr vorwärts" ( K S B 5/426).

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höheren Selbst denkt, dessen je spezifischen Anlagen fortschreitend entfaltet werden. 495 Dabei bleibt aber zu beachten, daß auch das Fortschreiten eines Menschen keinesfalls notwendig ist. Zu Recht betont Nietzsche in diesem Zusammenhang wiederholt die Brisanz des geistig-experimentellen Fortschreitens des freien Geistes, dessen tragisches Scheitern im endlosen Experimentieren keinesfalls ausgeschlossen ist. Dieser Aspekt wird meines Erachtens in Tilman Borsches Darstellung des freien Geistes als fröhlichen, unermüdlichen Abenteurer nicht angemessen berücksichtigt. „Ruhelos schweift der Ritter der Erkenntnis durch die Fremde und sucht das Abenteuer, ohne bestimmte Absicht, ohne Ziel, stets jedoch im Dienst seiner Geliebten der Wahrheit, in der er für sie kämpft, der er seine vielfältige Beute zu Füßen legt - und die er doch niemals gewinnen kann." 4 9 6

Aber nicht nur das existentielle Risiko wird bei dieser Beschreibung ausgeklammert, sondern Borsche verkennt auch die praktische Aufgabe der freien Geister, die über die reine Erkenntnislust hinausgeht. 497 Wenngleich in den mittleren Schriften die Destruktion der Metaphysik und Moral im Vordergrund steht, so marginalisiert Nietzsche keinesfalls die Frage nach dem „Wozu", die den Menschen insbesondere im modernen Nihilismus existentiell beschäftigt. Ausdrücklich wird den freien Geistern bei ihm die Aufgabe zugesprochen, die gewonnenen Einsichten zu nutzen, um eine neue Wertordnung vorzubereiten. Von einem Fortschreiten der freien Geister ist nach Nietzsche auch ein möglicher Fortschritt der Kultur abhängig. In einem Artikel über Nietzsches Neubestimmung der Philosophie hat Werner Stegmaier diagnostiziert, daß der Gedanke einer Steigerung der Kultur zum Ende des 20. Jahrhundert fremd geworden ist, was auf ein gewandeltes Kulturverständnis zurückzuführen sei. 498 Trotz der Unscharfe des Terminus ,Kultur', der auch bei Nietzsche verschiedenste Bedeutungsnuancen hat, zeigt sich meines Erachtens aber auch in „unserer Weltgesellschaft" 499 noch eine Konkurrenz der Kulturen, die allerdings verdeckt wird, wenn der Bezug der Kultur zur Ökonomie und Politik getrennt

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Es ist bereits angemerkt worden, daß Nietzsche zwischen den Vorstellungen einer antiteleologischen Selbsterzeung und einer zumindest latent vorangelegte Selbstfindung schwankt. Tilman Borsches Fröhliche Wissenschaft freier Geister - eine Philosophie der Zukunft In: Nietzsches Begriff der Philosophie.WüTzburg 1990. S. 67. Zwar spricht Borsche auch von der Bedeutung des Schmerzes für die Befreiung des Geistes (S. 58), aber die Gefahr eines möglichen existentiellen Scheiterns wird überhaupt nicht in Betracht gezogen. Ähnlich einseitig sind Vattimos knappe Anmerkungen zum freien Geist in seiner Einführung in Nietzsches Philosophie. Siehe Vattimo (1992) S. 54.

497

Angeblich soll Nietzsche erst nach 1887 dem freien Geist die Aufgabe zugedacht haben, Werte zu setzen. Borsche beschreibt mit der reinen Erkenntnislust eine Tendenz, die Nietzsche tatsächlich bei den reinen Geistern entdeckt, doch wird sie von Borsche überwertet.

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Siehe Werner Stegmaier: Nietzsches Neubestimmung der Philosophie. In: Nietzsches Begriff der Philosophie. Würzburg 1990, S. 21 ff. Das gegenwärtige Kulturverständnis ist nach dieser Diagnose „konservativ und föderalistisch", weil bestimmte Kulturen in „Reservate" abgedrängt werden.

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Stegmaier ( 1 9 9 0 ) S. 23. Meines Erachtens verwendet Stegmaier einen zu engen Kulturbegriff, der nicht alle gesellschaftlichen Erscheinungen in sich schließt, denn sonst würde er die Aktualität von Nietzsches weitem Begriff der Kultur und dessen kritisches Potential erkennen.

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D I E FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN G E I S T E S

wird. Die Vorstellung eines kulturellen Verfalls bzw. Aufschwungs erscheint mir, sowohl im intra- als auch interkulturellen Vergleich, nicht völlig obsolet zu sein. Die Hoffnung auf eine Überwindung des modernen Nihilismus und auf einen künftigen Kulturfortschritt gründet sich bei Nietzsche auf der Schaffung einer neuen Wertordnung durch die „vorschreitenden" freien Geister. Nietzsches Auszeichnung des „Vorschritts" gegenüber dem „Fortschritt" hat Karen Joisten in ihrer Studie zu Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Anthropozentrismus ein Unterkapitel gewidmet. Treffend schildert sie dort Nietzsches positiv konnotiertes Fortschrittsverständnis, in dessen Zentrum sie die Selbstüberwindung des begabten Ausnahmemenschen sieht. Letzteres hebt sie von einem anthropozentrischen Fortschrittsverständnis ab, das die Abschaffung des tatsächlichen zugunsten eines wünschbaren Menschen anstrebt. 500 Dieses anthropozentrische Verständnis soll sich durch die Annahme einer Universalität und Notwendigkeit des Fortschritts auszeichnen, womit die unterschiedlichen Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen jedoch nicht angemessen berücksichtigt werden. „Der angebliche Fortschritt der Moderne ist daher als ein Trugbild zu entlarven, insofern er fälschlicherweise von der kontinuierlichen und notwendigen Erhöhung der gesamten Menschheit ausgeht... Nietzsche sieht demgegenüber einen höheren Typus nicht in der ganzen Menschheit sondern in einzelnen Fällen, die im Verhältnis zum Ganzen erhöht sind." 501

Problematisch an dieser tendenziell richtigen Hervorhebung der Bedeutung der außergewöhnlich talentierten Einzelnen bei Nietzsche erscheint mir, daß Joisten die von Nietzsche explizierte Interdependenz von individuellem und kulturellem Fortschreiten kaum berücksichtigt. Ihre Interpretation, die vor allem die „Zeitlosigkeit" der überragenden Einzelnen betont, unterschätzt die Bedeutung des kulturellen Umfeldes für den „Vorschritt" des Einzelnen, da sie der wechselseitigen Beeinflussung von kultureller Verfassung und Ausbildung der schöpferischen Vernunft der freien Geister kaum Beachtung schenkt. 502 Deshalb wird bei Joisten auch weitgehend ausgeblendet, daß von Nietzsche nicht nur eine Steigerung der ordnenden und schöpferischen Weisheit der freien Geister, sondern zugleich ein damit einhergehendes Fortschreiten zu einer neuen, aristokratischen Wertordnung angestrebt wird. Die Hoffnung auf eine moderne Aristokratie, die die widerstrebenden Mächte in der Gesellschaft durch temporär sinnvolle Rangordnungen einigt, ist meines Erachtens Nietzsches beachtenswerter Versuch, den vielfältigen und unterschiedlichen Fähigkeiten der Individuen gerecht zu werden. 503 Wenngleich die unzeitgemäße Anknüpfung an den Begriff der „Aristokratie" einige Interpreten vor der Auseinandersetzung mit diesen 500

Siehe Joisten (1994) S. 226 ff. Die Vorstellung des „Vorschritts" interpretiert sie dabei allerdings mißverständlich als Überwindung der „anthropozentrischen Sichtweise", die „am Menschen fest(hält) und... ihm nicht (erlaubt), über ihn hinaus voranzuschreiten" (Ebenda S. 228). Diese Beschreibung erscheint mir wenig geglückt, denn es ist gerade Nietzsche, der unermüdlich auf die unüberwindbare menschliche Perspektive unseres Erkennens hinweist.

501

Joisten (1994) S. 231 f. Siehe Joisten (1994) S. 232. Verfehlt erscheint mir Vattimos Deutung des Willens zur Macht, wenn er unter er unter Anfuhrung eines unvollständigen und dadurch sinnentstellenden Zitats konstatiert, daß die Entdeckung des Willens zur Macht zur „Auflösung" der Politik führe. Siehe Vattimo (1992) S. 85.

502 503

ZUSAMMENFASSUNG

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Aspekten von Nietzsches Philosophie abschrecken mag, so denke ich, daß sein neuaristokratischer Entwurf hinsichtlich der Diskussionen über die Rolle der Eliten in demokratisch-pluralistischen Gesellschaften von Bedeutung sein kann. Im negativen Sinne unzeitgemäß wäre dagegen eine Negation des neuzeitlichen Rechtsfortschritts, die die Grundrechte des Individuums leugnet und es nicht vor Willkür schützt. Nietzsches Aussagen zur aristokratischen Rangordnung sind vielfältig und es fehlt dabei meines Erachtens nicht an regressiven, negativ-unzeitgemäßen Gedanken. 504 Überzeugend erscheint mir aber sein anti-egalitaristischer Ansatz zu sein, der einen über die allgemeine Befriedigung der primären Bedürfnisse aller Menschen hinausgehenden Anspruch einer gleichberechtigten Entfaltung aller Bedürfnisse kritisch hinterfragt. 505 Seine Hoffnung auf eine höhere, aristokratische Kultur in der Moderne, die sich aus der fortschreitenden Ausbildung der rangordnenden Vernunft speisen soll, erweist sich meines Erachtens letztlich als zu optimistisch. Die im 19. Jahrhundert verbreiteten Erwartungen an die kulturerneuernde Kraft der Philosophie, der Nietzsche seine eigene radikal-aufklärerische, modern-aristokratische Wendung gibt, haben sich zumindest im 20. Jahrhundert nicht erfüllt. Fraglich bleibt deshalb, ob der Einfluß der freien Geister von ihm nicht überschätzt worden ist. Tragisch wäre gleichwohl eine positive Antwort auf diese Frage. Denn in diesem Fall könnte die moderne Kultur, die sich vordringlich auf den technisch und sozialtechnisch machbaren, aber letztlich maßlosen „Fortschritt in der Macht" konzentriert, dem modernen Nihilismus nicht entrinnen.

IV. 5

Zusammenfassung

Die Untersuchung der Fortschrittskritik in den ,mittleren' Schriften hat gezeigt, daß sich Nietzsche auch in seinen Schriften und Aufzeichnungen zwischen 1876 und 1881 differenziert mit dem Fortschrittsgedanken auseinandersetzt. Im Unterschied zu den früheren Schriften verwendet er den Begriff nun öfter explizit positiv, ohne jedoch seine scharfe Kritik an den Hoffnungen auf eine prinzipielle Verbesserung der conditio humana abzuschwächen. Auffallig ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung, die der einsetzenden historisch-psychologischen Analyse der Metaphysik und Moral beigemessen wird. Seine oft scharfe Kritik an der Metaphysik richtet sich gegen den Glauben der „Hinterweltler" an eine höhere, wahre Welt, in der die Werte im Gegensatz zu den irdischvergänglichen Normen metaphysisch verankert sein sollen. Kennzeichnend für die neu504

505

Problematisch sind beispielsweise die neolamarckistischen Aspekte bei Nietzsche Züchtungsprogrammen. Siehe dazu den Abschnitt VI. meines Aufsatzes Friedrich Nietzsches Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie. In: Nietzscheforschung. Bd. 5/6. Hrsg. v. V. Gerhardt u. R. Reschke. Berlin 2000, S. 177 ff. Die Bedeutung der Befriedigung der existentiellen Bedürfnisse ftir die geistige Entfaltung zeigt beispielsweise die Rezeption von Nietzsches Schriften im 20. Jahrhundert in Korea. Siehe dazu die interessante Darstellung Nietzsche in Korea von Dong-Ho Chung (In: N.-St. 25, S. 387 ff). Wie problematisch allein die Befriedigung der primären Bedürfnisse von 6 Milliarden oder künftigen 10 Milliarden Menschen ist, konnte Nietzsche damals noch nicht erahnen.

200

DIE FORTSCHRITTSKRITIK DES FREIEN GEISTES

zeitlich-chiliastische Metaphysik ist nach Nietzsche eine Fortschrittsvorstellung, die eine notwendige, allgemeine Verbesserung der menschlichen Situation auf Erden prognostiziert. Die von ihm vorgetragenen Zweifel an derartigen Fortschrittskonzeptionen sowie seine Sorge gegenüber den Folgen einer Abwertung der irdisch-vergänglichen Welt scheinen mir weitgehend überzeugend. Wenn Nietzsche aber phasenweise eine Verwerfung der Metaphysik anstrebt, so liegt dieser Intention ein zu enger Begriff von Metaphysik zugrunde. Anders als bei Lyotard und den meisten postmetaphysischen Philosophen finden sich in seinen Schriften jedoch neben der Aufforderung zu einer Verabschiedung der Metaphysik auch anderslautende Äußerungen, die eine Einordnung seiner eigenen Philosophie in die Tradition der Metaphysik andeuten. Im Unterschied zu Lyotards postmoderner Philosophie fuhrt Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik nicht zur Annahme eines postmetaphysischen Ultraperspektivismus, der alle Varianten des Fortschrittsbegriffs verwirft. Die psychologisch-kritische Destruktion der „absoluten Moral" in den mittleren Schriften konzentriert sich auf eine Demaskierung der menschlichen, allzumenschlichen Wurzeln von vermeintlich überzeitlichen moralischen Tatsachen. Im Unterschied zu vielen Zeitgenossen sieht Nietzsche in der Tendenz zu einer Gleichheitsmoral, die eine fortschreitende Abschaffung des als ,böse' verurteilten individuellen Machtstrebens anstrebt, keinen moralischen Fortschritt, sondern ein bedrohliches egalitaristisches Machtstreben in der Tradition des jüdisch-christlichen Heilsglaubens: Statt eines allgemeinen Fortschritts drohe eine allgemeinen Schwächung durch die nivellierende Moral. Wiederholt wird von ihm dagegen der Pluralismus der Moralen betont, wobei er eine Periodisierung in drei Phasen der Moral vornimmt und Fortschritte zu einer Individualmoral konstatiert. Im Unterschied zu der partiellen Selbstcharakterisierung als „Immoralist" scheint mir Nietzsches psychologisch-kritische Destruktion der „absoluten Moral" nicht einem Immoralismus, sondern einer von ihm nicht ausformulierten Individualmoral verpflichtet zu sein. Schließlich ist Nietzsches ambivalente Stellung zum modernen Nihilismus herausgearbeitet worden, dessen Heraufkunfit nach der Destruktion der vermeintlich metaphysischen Werte von ihm diagnostiziert wird. Es zeigte sich, daß der „Tod Gottes" von ihm einerseits als Auslöser eines Fortschritts ins Nichts und andererseits als Voraussetzung fur eine neue Wertordnung gedeutet wird. Angesichts der drohenden Gefahren durch den destruktiven Willen zum Nichts forscht Nietzsche nach dem zentralen Lebenstrieb, den er im Nachlaß der mittleren Schriften auch als Willen zu einem Fortschritt in der Macht umschreibt, ehe er ihn endgültig im Willen zur Macht findet. Da es seines Erachtens verschiedene Arten dieses Willens gibt, spezifiziert er diejenigen Formen, die eine Überwindung des Nihilismus einleiten könnten. In diesem Zusammenhang konnte herausgearbeitet werden, daß Nietzsche den höchsten Willen zu einem Fortschritt in der Macht vor allem im experimentell-geistigen Fortschreiten der freien Geister erkennt. Von diesen freien Geistern erhofft er eine Umwertung der höchsten Werte, die im Unterschied zu den von ihm kritisierten moralisch-repressiven Fortschrittsprogrammen das spannungsvolle, menschlich-allzumenschliche Machtstreben anerkennen und es in einer kulturellen Ordnung kraftvoll einen soll. Seine diesbezüglichen Hoffnungen richten sich

ZUSAMMENFASSUNG

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gemäß meiner Interpretation auf den Fortschritt zu einer geistig-leiblichen Aristokratie der Moderne. Gegenüber Interpreten, die Nietzsches Texte als eine Apologie des Nihilismus und seinen Begriff der Machtsteigerung als eine verrechnende Übermächtigung des Seienden deuten, habe ich abschließend sein Streben nach einer Überwindung des Nihilismus und seine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Formen der Machtsteigerung betont. Meines Erachtens zeigen seine Hoffnungen auf eine Entfaltung des Machtstrebens der freien Geister und auf eine aristokratische Umwertung der bisherigen Werte, daß seine Intention auf einen Fortschritt aus dem Nihilismus gerichtet ist. Allerdings sind diese Hoffnungen zumindest bislang weitgehend enttäuscht worden, weil dem modernen Willen zu einem Fortschritt in der Macht zumeist ein sinnvolles Maß fehlt. Zusammenfassend kann konstatiert werden, daß Nietzsche sich trotz seiner entschiedenen Kritik an den Fortschrittsideen der chiliastischen Metaphysik und der egalitaristischen Moral auch in den mittleren Schriften keinesfalls als Fortschrittsfeind präsentiert, denn die Fortschrittskategorie sieht er im menschlichen Streben nach Macht fest verankert und an bestimmte freigeistige Ausformungen dieses Strebens knüpft er die Hoffnung auf kulturelle Fortschritte. Abschließend werden nun die Ergebnisse dieser Untersuchung von Nietzsches Kritik des Fortschritts bis 1881 zusammengefaßt und ein knapper Ausblick auf die späteren Schriften eröffnet.

Schlußbemerkung und Ausblick

Meine Dissertation hat Friedrich Nietzsches Kritik des Fortschritts in seinen frühen und mittleren Schriften untersucht und damit ein wichtiges Thema seiner labyrinthischkomplexen Philosophie fokussiert. Im folgenden werden nun die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammengefaßt, ehe nach einem möglichen Fortschritt seiner Fortschrittskritik gefragt wird. Abschließend wird dann noch ein Ausblick auf Nietzsches Spätwerk und seine ambivalente Fortschrittskritik im Spannungsfeld seiner Lehren von der ewigen Wiederkunft und dem Übermenschen gewagt. Bei der Interpretation von ausgewählten Textpassagen Nietzsches zeigte sich, daß seine Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsgedanken vielschichtig ist. Die herausgearbeitete Ambivalenz von Nietzsches Einstellung zur Fortschrittsvorstellung erscheint mir charakteristisch für seine Philosophie, die weder eindeutig noch widersprüchlich ist, sondern die differenzierte Komplexität des Geschehens darzustellen versucht. Sein Bemühen, der Vielschichtigkeit dieser Vorstellung gerecht zu werden, unterscheidet sich deutlich von denjenigen Denkern, die vermuten, die Kategorie des Fortschritts sei simpel strukturiert und es bleibe nur die Aufgabe, dem Fortschritt zuzustimmen oder ihn abzulehnen.506 Es finden sich zwar auch in Nietzsches Werk einige effektvoll arrangierte Textpassagen, die eine simple Begriffsbestimmung unterstellen und eindeutige Positionen beziehen, aber bei einer umfassenderen Lektüre überwiegen die nuancierten, subtilen Töne. So verliert das Schlagwort „Fortschritt" seinen selbstverständlichen, ,schlagenden' Charakter, wenn Nietzsche verschiedene Bedeutungen differenziert, um seinen Begriff des Fortschritts zu spezifizieren. Damit widerspricht Nietzsche nicht der Wittgensteinschen These, daß es keine privaten Sprachen gebe, sondern er versucht vielmehr, die von ihm diagnostizierte Tendenz zur Absolutsetzung der Interpretation des Fortschritts als kontinuierliche Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf Erden zu unterminieren und andere, (un)zeitgemäße Interpretationen anzudeuten. In

506

Siehe beispielsweise Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie. In: Gesamtausgabe. Bd 13. Frankfurt a. M. 1970, S. 118. Bloch stellt hier fest, daß ihm der Begriff Fortschritt sowie die mit diesem bezeichnete Sache „einfach und klar" erscheine.

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SCHLUßBEMERKUNG UND AUSBLICK

Opposition zum teils dogmatischen Fortschrittsglauben seiner Zeit gelingt es Nietzsche in diesem Zusammenhang, an die Variabilität des Fortschrittsdenkens zu erinnern. Auch in dem historischen Überblick zu Beginn dieser Arbeit sind verschiedene Varianten des Fortschrittsgedankens skizziert worden, wodurch die Relativität des neuzeitlichen Fortschrittsdenkens und die Dürftigkeit des Monopolanspruchs des szientistischegalitaristischen Fortschrittsprogramms der Neuzeit aufgedeckt werden konnten. Obgleich der Fortschrittsbegriff kein genuin neuzeitlicher Begriff ist, läßt sich eine starke Zunahme der Bedeutung und Verbreitung des Fortschrittsbegriffs in der Neuzeit konstatieren, wie sie sich beispielsweise in den Texten von Condorcet, Turgot, Saint-Simon und Comte niederschlägt. Gemäß diesen Autoren bestimmt das Fortschrittsprinzip den Gang der Geschichte und fuhrt zu einer allgemeinen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf Erden. Im Vordergrund steht dabei die Idee des allgemeinen Fortschritts der Menschheit, während die tiefere Verankerung der Fortschrittskategorie im menschlichen Handeln von den eudämonistisch-chiliastischen Interpreten der Fortschrittsidee weitgehend ignoriert wird. Die Untersuchung von Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Fortschritt ergab, daß sich seine Kritik vor allem gegen den neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus richtet, wenngleich er sich auch mit anderslautenden Varianten des Fortschrittsdenkens beschäftigt. Obgleich der Terminus „Fortschritt" in der Geburt der Tragödie nur einmal und dazu auch nur an marginaler Stelle verwandt wird, hat sich gezeigt, daß bereits in dieser frühen Schrift die neuzeitliche Idee eines allgemeinen Fortschritts massiv kritisiert wird. Zentral ist fur Nietzsches frühe Fortschrittskritik seine Auseinandersetzung mit dem von ihm diagnostizierten modernen „Sokratismus", der aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts an eine grundlegende Korrektur des menschlichen Daseins glaubt. Meine Interpretation hat herausgearbeitet, daß sich seine Kritik am „Sokratismus" nicht gegen die Wissenschaft als solche, sondern gegen den szientistischen Eudämonismus in der Moderne richtet. Trotz des problematischen Bezugs auf Sokrates sind Nietzsches Argumente gegen den szientistisch-eudämonistischen Fortschrittsglauben weitgehend überzeugend, denn eine fortschreitende Abschaffung des menschlichen Leidens kann von Wissenschaft und Technik definitiv nicht erwartet werden. In der heutigen Risikogesellschaft ist das Wissen um die Ambivalenz des vermeintlichen „Gott(es) der Maschinen und Schmelztiegel" (GT 115) weiter verbreitet als noch zu Nietzsches Zeiten. Insbesondere durch den fortschreitenden Ausbau der Möglichkeit der technischen Zerstörung der Menschheit sowie der Erde und die immer wieder auftretenden „Störfalle" gewinnt die Kritik am blinden Fortschrittsglauben an Aktualität. Gleichwohl sind die verbreiteten Verdrängungstendenzen nicht zu unterschätzen, die den Preis der szientistisch-eudämonistischen Fortschrittsprogramme in der Moderne nicht zur Kenntnis nehmen. Im Tragödienbuch wird aber nicht nur die Fortschrittsidee des modernen „Sokratismus" abgelehnt, sondern es finden sich auch positive Bezüge zur Fortschrittsvorstellung. Gemäß meiner Deutung zielt Nietzsches „Pessimismus... zum Bessersein" (KSA 7/75) auf die Bildung einer künstlerisch-tragischen Kultur der Moderne, die gegenüber dem modernen „Sokratismus" einen Fortschritt darstellen soll. Entscheidend ist für die von ihm angestrebte Kultur der Moderne die Auseinandersetzung mit der tragischen

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Erkenntnis der dionysischen Weisheit, die die prinzipielle Nicht-Abschaffbarkeit des menschlichen Leidens lehrt. Statt auf einen allgemeinen Fortschritt richten sich Nietzsches Hoffnungen auf die fortschreitenden Entfaltungsmöglichkeiten von genialen Einzelnen und auf einen dadurch initiierten Kulturfortschritt. Wenig überzeugend erscheint mir in diesem Zusammenhang Nietzsches Überbewertung der genialen Einzelnen und vor allem des Meisters Richard Wagner. So ist beispielsweise von Wagners Kunst nicht die im Tragödienbuch ausgesprochene Hoffnung auf eine kulturerneuernde Wiederbelebung des deutschen Mythos ausgegangen. Grundsätzlich falsch ist meines Erachtens eine Tendenz bei Nietzsche, zugunsten der Ausbildung von genialen Einzelnen die neuzeitlichen Rechtsfortschritte zur Disposition zu stellen. So ist es ein Fehler, wenn die Einklagbarkeit von Grundrechten eingeschränkt wird. Ebenso abzulehnen ist aber auch die Einebnung von unterschiedlichen Entwicklungspotentialen durch den Egalitarismus, wogegen sich Nietzsche immer wieder treffend gewandt hat. Sein Engagement für einen Kulturfortschritt, der auf der Achtung der verschiedenartigen Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen gründet, zeigt auch, daß der Begriff „Fortschritt" bei Nietzsche trotz seiner Angriffe gegen eine übermäßige Fortschrittseuphorie partiell positiv besetzt ist. Die Untersuchung der Unzeitgemäßen Betrachtungen und der unveröffentlichten Schriften aus deren Umfeld ergab, daß Nietzsches Verhältnis zum Fortschritt auch in der Folgezeit ambivalent bleibt. Gleichwohl deuten die Texte einen Wandel in zahlreichen Positionen Nietzsches an, der sich auch auf seine Auseinandersetzung mit dem Fortschritt auswirkt. So distanziert er sich zunehmend von der durch Schopenhauer und Wagner geprägten „Artistenmetaphysik" (Gamma-GT 21) des Tragödienbuches und deren Wahrheitsbegriff. Entgegen der Ansicht von postmodernen und dekonstruktivistischen Interpreten findet sich bei Nietzsche aber keine radikale Ablehnung des Wahrheitsbegriffs, da er gemäß meiner Auslegung einen lebenspraktischen Begriff der Wahrheit ausdrücklich affirmiert. Deutliche Kritik übt er an Hegels vermeintlichem Pathos der Wahrheit und dessen geschichtsphilosophischem Entwurf, weil dieser einen Fortschritt in der Geschichte durch die sich selbst verwirklichende Vernunft postuliere. Allerdings ist seine Ablehnung von Hegels Fortschrittsdenken wenig überzeugend, denn seine Argumente treffen weniger Hegel als den Optimismus der rationalistischen Geschichtsphilosophen. Als weitgehend plausibel erwiesen sich dagegen Nietzsches kritische Anmerkungen zum Populärdarwinismus, zu der Hypertrophie der historischen Bildung und zum Nationalismus, die er allesamt als „Götzen der zeitgenössischen Bildungsphilister" stigmatisiert. In diesen Götzen erkennt der Nietzschesche „Arzt der Cultur" (KSA 7/545) wichtige Impulsgeber für den unkritischen Fortschrittsglauben der Philister. Überzeugend erscheint mir seine Einschätzung, daß weder der Fortschritt der menschlichen Spezies, noch die übermäßige Ausweitung der Historie oder die übersteigerte Erhöhung der Nation eine prinzipielle Verbesserung der Situation des Menschen auf Erden auslösen werden. Zu beachten bleibt in diesem Zusammenhang, daß sich seine Kritik weder grundsätzlich gegen die Historie, noch prinzipiell gegen Darwins Denkart richtet. In den der Geburt der Tragödie nachfolgenden Schriften wurde nicht nur eine weiterführende Auseinandersetzung mit den zeitgemäßen Fortschrittsvorstellungen nachgewiesen, sondern es wurden zudem auch verschiedene positive Bezüge zum Fortschritts-

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gedanken vorgestellt. Wenngleich letztere von Nietzsche kaum explizit ausformuliert werden, offenbaren sie die grundsätzliche Bedeutung der Fortschrittskategorie für den Menschen. In der Historienschrift wird meines Erachtens überzeugend die Unterstellung der Möglichkeit eines Fortschritts als Grundbedingung des menschlichen Handelns angedeutet, denn ohne diese Unterstellung ist ein Handeln überhaupt nicht möglich. Besondere Relevanz mißt Nietzsche der Gesamtheit des Handelns des Menschen zu, dem ,Wozu' des individuellen Daseins. Obwohl seine eindringlichen Appelle zu einer heroischen Selbstüberwindung teilweise etwas pathetisch anmuten mögen, erscheint mir seine an den Einzelnen gerichtete Aufforderung zu einem Fortschreiten zum höheren Selbst sinnvoll, denn sie kann einen Impuls zur Ausbildung der individuellen Begabungen unterstützen. Problematisch ist dagegen seine bereits aus dem Tragödienbuch bekannte Tendenz, zugunsten der Ausbildung der höheren, genialen Menschen einer Einschränkung der Grundrechte zuzustimmen. Die Möglichkeit der fortschreitenden Selbstüberwindung von genialen Einzelnen bildet gemäß meiner Deutung die Voraussetzung für Nietzsches Hoffnung auf einen Kulturfortschritt. In den Unzeitgemäßen Betrachtungen werden allerdings die vormals euphorischen Erwartungen bezüglich der vermeintlich mythenerweckenden und kultursteigernden Kunst Richard Wagners verabschiedet. Dabei erkennt Nietzsche weiterhin in der Ausbildung von genialen, wirkmächtigen Individuen wie Wagner - sowie deren Anerkennung und Förderung in einem Gemeinwesen die wichtigsten kulturellen Aufgaben. Letztere sind meines Erachtens die Grundlage für jeden kulturellen Fortschritt. Fragwürdig erscheint mir dagegen Nietzsches Streben nach einer „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes" (DS 163), um die von ihm diagnostizierte eklektizistische Zerrissenheit in der Moderne zu überwinden. In seiner bekannten Formulierung wird das Einheitsmoment überstrapaziert, da eine Vereinheitlichung aller Lebensäußerungen eines Volkes auch bezüglich künstlerisch-stilistischer Aspekte nicht ohne Gleichschaltungen zu realisieren ist. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung seiner Fortschrittshoffnungen überzeugen aus meiner Perspektive aber Nietzsches positive Bezugnahmen auf die Fortschrittskategorie. Meine abschließende Interpretation der mittleren Schriften führte zu dem Ergebnis, daß Nietzsche trotz weitreichender Veränderungen in seiner Lebenssituation und Philosophie an der ambivalenten Einstellung zum Fortschritt festhält. Im Unterschied zu den früheren Schriften verwendet er den Begriff „Fortschritt" nun aber häufig explizit, wobei der Terminus wiederholt auch positiv konnotiert ist. Weiterhin übt er jedoch scharfe Kritik am zeitgemäßen Fortschrittsoptimismus, die nun durch historischpsychologische Analysen der Metaphysik und Moral unterfüttert wird. Bei Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik steht die Demaskierung der Vorstellung einer höheren, absolut wahren Welt im Vordergrund, da er in letzterer ein folgenschweres, die Wirklichkeit abwertendes Wunschdenken erkennt. Es ist herausgearbeitet worden, daß Nietzsche insbesondere die neuzeitlich-chiliastische Metaphysik mit der Hoffnung auf einen notwendigen und allgemeinen Fortschritt der Menschheit ablehnt. Plausibel erscheint mir diese Ablehnung, da er die Ignoranz des modernen Chiliasmus gegenüber dem Perspektivischen als der Grundbedingung allen Lebens

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nachweist. Allerdings konnte im Unterschied zu der Ansicht von zahlreichen postmodernen und dekonstruktivistischen Nietzsche-Interpreten nachgewiesen werden, daß Nietzsche die Metaphysik nicht grundsätzlich verwirft. Wiederholt finden sich in seinen Schriften Textpassagen, die die positiven Aspekte der metaphysischen Philosophie ausdrücklich würdigen. Überzeugend ist meines Erachtens an Nietzsches Streben nach Gerechtigkeit gegenüber der Metaphysik seine Einsicht, daß sich sowohl der Fortschritt des aufklärerischen Denkens als auch sein eigenes Philosophieren der metaphysischen Tradition verdanken. Gemäß meiner Interpretation geht seine Ablehnung eines metaphysischen Denkens in absoluten Kategorien mit der Sympathie für ein metaphysisches Philosophieren jenseits von absoluten, binären Polaritäten einher. Zentral ist für Nietzsches mittlere Schriften zudem die Auseinandersetzung mit der „absoluten Moral", deren menschliche, allzumenschliche Herkunft er zu entlarven versucht. Die Untersuchung seiner Moralkritik veranschaulichte, daß er sich insbesondere gegen die Überzeugung richtet, die Tendenz zur egalitaristischen Moral sei die Grundlage eines moralischen Fortschritts. Wie schon in seinen früheren Schriften wird in diesem Zusammenhang zu Recht vor den gefahrlichen Folgen eines nivellierenden Egalitarismus gewarnt, dessen jüdisch-christliche Wurzeln er freizulegen versucht. Statt eines allgemeinen Fortschritts zu einer direkten Gleichheit konstatiert Nietzsche wiederholt die Herausbildung einer Individualmoral in der Geschichte der Moral, die es einigen Individuen erlaubt, ihr Handeln nach ihren eigenen Maßstäben auszurichten. Entgegen verschiedenen Interpreten, die Nietzsches Moralkritik als Immoralismus deuten und auf diesbezügliche Selbstcharakterisierungen Nietzsches verweisen, hat meine Deutung aufgrund seiner individualmoralischen Überlegungen den moralischen Aspekt seines „Immoralismus" betont. Auch von der Herausbildung der Individualmoral erwartet Nietzsche allerdings keinen allgemeinen moralischen Fortschritt. Abschließend ist Nietzsches Auseinandersetzung mit dem von ihm diagnostizierten modernen Nihilismus untersucht worden, den er zu Recht auch auf die moderne Enttäuschung von übersteigerten Fortschrittserwartungen zurückführt. Meine Interpretation hat gezeigt, daß die Heraufkunft dieses Nihilismus von ihm ambivalent bewertet wird, da mit dem Nihilismus einerseits ein destruktiver Fortschritt ins Nichts droht, sich andererseits aber auch die Chance einer künftigen Umwertung aller Werte eröffnet. Die Diagnose eines gefahrlichen Sogs zum Nichts hat meines Erachtens angesichts der atomaren, ökologischen und anderer Risiken nichts an Aktualität eingebüßt, wenngleich der Begriff „Nihilismus" in gegenwärtigen Diskussionen an Bedeutung verloren hat. Auch die bedrohlichen Konsequenzen des modernen Nihilismus veranlassen Nietzsche, nach dem zentralen Lebenstrieb zu suchen, den er im Nachlaß einmal explizit als Willen zu einem Fortschritt in der Macht beschreibt. Treffend wird mit dieser Formulierung das dynamisch-drängende Moment des Lebensantriebs betont, das zugleich die Verwurzelung der Fortschrittskategorie im menschlichen Leben anzeigt. Im Unterschied zu Heideggers frühen Nietzsche-Interpretation ist dieser Wille zur Machtsteigerung von mir nicht nur als verrechnende Übermächtigung des Seienden gedeutet worden, da Nietzsche aus meiner Perspektive zwischen verschiedenen Arten der Machtsteigerung differenziert. Dabei unterstützt er keinesfalls den verrechnenden Fortschritt sondern das geistig-experimentelle Fortschreiten der freien Geister. Dem individuellen

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Fortschreiten zum höheren Selbst gilt gemäß meiner Interpretation Nietzsches größte Aufmerksamkeit, da auch in seinen mittleren Schriften der Ausbildung der geistigleiblichen Elite der höchste Wert beigemessen wird. Da diese Elite seines Erachtens am besten in einer geistig-leiblichen Aristokratie gefordert werden kann, richten sich seine Hoffnungen auf eine aristokratische Umwertung aller Werte in der Moderne, die mir jedoch hinsichtlich der Marginalisierung der Menschenrechte als problematisch erscheint. Aufgrund des skizzierten Engagements Nietzsches für eine Überwindung des Nihilismus ist meine Auslegung schließlich postmodernen Interpreten entgegengetreten, die in seinen Texten eine Apologie des Nihilismus erkennen. Aus meiner Perspektive strebt Nietzsche einen Fortschritt aus dem modernen Nihilismus an. Für diesen Fortschritt gibt es im 20. Jahrhundert allerdings ebensowenig Anzeichen wie für eine von ihm angestrebte aristokratische Umwertung aller Werte. In Anbetracht der vorliegenden Ergebnisse bleibt zum Schluß meiner Dissertation, nach einem möglichen Fortschritt von Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Fortschritt zu fragen. Hinsichtlich der werkimmanenten Entwicklung ist festzustellen, daß sowohl die Absage an die Idee eines allgemeinen und notwendigen Fortschritts der Menschheit als auch das Engagement für einen kulturellen Fortschritt nicht das Ergebnis eines langjährigen Erkenntnisprozesses sind. Vielmehr ist Nietzsches ambivalentes Verhältnis zum Fortschrittsgedanken sowohl in seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie als auch in den darauf folgenden Schriften angelegt. Es zeigte sich allerdings, daß seine ambivalente Einstellung zum Fortschritt im Laufe der untersuchten Schaffensperiode an Konturen und Substanz gewinnt. So untermauert er seine Ablehnung eines maßlosen Fortschrittsoptimismus durch weiterfuhrende genealogische Untersuchungen, während er gleichzeitig die alternative Vorstellung eines maßvollen Fortschritts stetig ausarbeitet. Befreit von den nationalistisch-romantischen Ideen Wagners und dem pessimistischen Ansatz Schopenhauers, kann Nietzsche in den mittleren Schriften schließlich seinen Begriff des Fortschritts vorstellen und gegen andere Begriffsdeutungen abgrenzen.507 Diese zunehmende Ausdifferenzierung von verschiedenen Fortschrittsinterpretationen kann meines Erachtens als Erkenntnisfortschritt bezeichnet werden. Fortschrittlich ist dieses Denken auch im Verhältnis zu Denkern, die den Fortschrittsgedanken undifferenziert bejahen oder ablehnen, was auch für einige NietzscheInterpreten gilt. Letztere haben sein differenziertes Fortschrittsdenken zum Teil nicht angemessen ausgelegt, sondern ein einseitiges Verhältnis zum Fortschrittsgedanken bei ihm diagnostiziert. Populär ist immer noch die postmoderne Charakterisierung Nietzsches als eines radikalen, verwerfenden Kritikers des Fortschritts und postmetaphysischen Überwinders der Moderne. Gegen derartige Auslegungen ist einzuwenden, daß sie, geblendet durch effektvolle Formulierungen Nietzsches, die Ambivalenz seiner Fortschrittskritik ebensowenig erkennen wie seine Verbindungen zur Metaphysik und zur Moderne. Ganz anders, aber nicht weniger problematisch, deutet Ernst Bloch Nietzsche, wenn er in ihm trotz fortschrittsfeindlicher Tendenzen auch einen fortschrittsbe-

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Gemäß einer späten Aussage sieht Nietzsche in den freigeistigen mittleren Schriften und dem darin geäußerten Bekenntnis zu Voltaire einen „Fortschritt" (EH 322) zu sich.

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geisterten Utopisten erkennt. 508 Die Vielschichtigkeit des Nietzscheschen Denkens wird bei dieser Interpretation zwar anerkannt, aber Bloch ignoriert, daß Nietzsche an eine prinzipielle Verbesserung der menschlichen Situation auf Erden nicht glaubt. Gerade diese skeptische Grundeinstellung ermöglicht meines Erachtens aber die nüchterne Rehabilitierung eines differenzierten, abwägenden Fortschrittsdenkens. Nietzsches Philosophie vermag aus meiner Sicht nach den von ihm prognostizierten Enttäuschungen der großen sozialutopischen Hoffnungen wichtige Impulse für ein andersartiges Fortschrittsdenken zu geben, deren Herausbildung angesichts des gegenwärtig dominierenden, neoliberalistischen Fortschrittsprogramms äußerst wünschenswert ist. Abschließend wird nun noch ein Ausblick auf das labyrinthisch-vielschichtige Spätwerk Friedrich Nietzsches unternommen, um die Entwicklung seiner Kritik des Fortschritts im Spannungsfeld seiner späten Lehren anzudeuten. In den Schriften und Nachlaßaufzeichnungen nach der Fröhlichen Wissenschaft bleibt die Auseinandersetzung mit der Fortschrittsidee ein wichtiges Thema, worauf auch die häufige explizite Verwendung des Begriffs hinweist. Deutlich spürbar ist in diesen Texten eine Verschärfung der Ablehnung der Idee eines allgemeinen Fortschritts, die als eine der wirkungsmächtigsten Ideen der Moderne entschieden bekämpft wird. Mit dieser Absage an einen allgemeinen Fortschritt in der Geschichte verträgt sich die von Nietzsche als „furchtbarste Beschwerung" (KSA 10/43) charakterisierte, antiprogressive Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Problematisch scheint jedoch das Verhältnis der Wiederkunftslehre zu seinen hoffnungsvollen Visionen einer Umwertung aller Werte und eines Übergangs zum Übermenschen zu sein. 509 Abschließend wird daher untersucht, ob in Nietzsches Spätwerk statt einer ambivalenten Fortschrittskritik ein von Karl Löwith diagnostizierter Widerspruch zwischen progressiven und antiprogressiven Lehren zu konstatieren ist.510 Der Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen wird in Also sprach Zarathustra verkündet und geht gemäß der Selbstdarstellung in Ecce homo auf ein Erlebnis im August 1881 am See von Silvaplana zurück. 511 Obgleich der Gedanke schon früher in Nietzsches Schriften auftaucht, scheint sich ihm erst zu diesem Zeitpunkt die große Bedeutung des Wiederkunftsgedankens für seine Philosophie offenbart zu haben. Was die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen besagt, wird Zarathustra von seinen Tieren, dem Adler und der Schlange, mitgeteilt. „Denn deine Thiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und werden musst: siehe, du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft-, das ist nun dein Schicksal!... Siehe, wir wissen, was du lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male da gewesen sind, und alle Dinge mit uns". (Za 275/276)

508

Siehe Ernst Bloch: Erbschaft

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Das Verhältnis der späten Lehren ist von zahlreichen Interpreten untersucht worden. Im Gegensatz zu vielen Denkern, die die Spannungen zwischen Nietzsches Lehren betonen, hat Martin Heidegger in seiner einflußreichen Nietzsche-Deutung, den Zusammenhang zwischen den Grundgedanken Nietzsches hervorgehoben. Siehe Heidegger ( 5 1 9 8 9 Bd. II) S. 40.

5,0

Siehe Löwith ("1986) S. 197. Siehe EH 335.

511

dieser Zeit. In: Gesamtausgabe

Bd. 4. Frankfurt a. M. 1962, S. 361.

210

SCHLUßBEMERKUNG UND AUSBLICK

Obwohl Nietzsche in seinen Texten und Briefen die besondere Bedeutung der Wiederkunftslehre betont, wird ihr Gehalt außer in Also sprach Zarathustra in keiner weiteren veröffentlichten Schrift ausfuhrlich dargelegt und auch Zarathustra weiht noch nicht einmal seine Schüler in den furchtbaren, abgründlichen Gedanken ein. Bemerkenswert ist weiterhin, daß sowohl Franz Overbeck als auch Lou Andreas-Salome berichten, Nietzsche selbst sei von dem Gedanken zutiefst erschüttert gewesen.512 Wie Zarathustra scheint er sich zumindest zeitweise vor dem Gedanken gefurchtet zu haben. Diese beiden Aspekte weisen daraufhin, daß es sich hier um eine persönliche Erfahrung handelt, die Nietzsche offensichtlich auch nicht deutlich mitzuteilen vermag. Trotz aller Rätsel und Geheimnisse offenbart Nietzsches Deutung des Wiederkunftsgedankens als „extremste Form des Nihilismus" (KSA 12/213) einen wesentlichen Aspekt der Lehre. In der vielzitierten Nachlaß-Aufzeichnung mit dem Titel Der europäische Nihilismus vom 10. Juni 1887 wird die radikalste Spielform des Nihilismus in der Vorstellung der Sinnlosigkeit der Geschichte erkannt, weil der Mangel an Sinn die negativen Seiten des Daseins nun nicht mehr rechtfertigt und damit das sinnlose Nichts verewigt. Dieses „Umsonst" des Geschichtsverlaufs zerstört gemäß Nietzsche die neuzeitliche Hoffnung auf eine fortschreitende Abschaffung der Übel des Daseins, denn statt einer schrittweisen Überwindung der leidvollen Aspekte im Leben sollen sie vielmehr immer wiederkehren. Radikal ist diese Vorstellung, wenn dabei eine Verbesserung des Menschen und seiner Lebensverhältnisse prinzipiell abgelehnt wird. „Die Dauer, mit einem .Umsonst', ohne Ziel und Zweck ist der lähmenste Gedanke... Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ,die ewige Wiederkehr'. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ,Sinnlose') ewig." (KSA 12/213)

Der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen beinhaltet demnach eine Absage an die Vorstellung einer Verbesserung der menschlichen Verhältnisse in der Geschichte aufgrund der fortschreitenden Überwindung der Leid verursachenden, grausamen Seiten des Menschen. Auch wegen dieser Negation eines allgemeinen Fortschritts in der Geschichte wird der Wiederkunftsgedanke wiederholt als der „abgründlichste Gedanke" (EH 345) bezeichnet. Um den Stellenwert dieses bedeutenden Gedankens hervorzuheben, finden sich im Nachlaß auch zahlreiche Aufzeichnungen, in denen eine wissenschaftliche Fundierung des Wiederkunftsgedankens angestrebt wird.513

512

In der Erinnerung von Lou Andreas-Salome hat Nietzsche ihr den Wiederkunftsgedanken wie ein grauenvolles „Geheimnis" mitgeteilt. Sie schreibt: „Unvergeßlich sind mir die Stunden, in denen er ihn mir zuerst, als ein Geheimnis, als Etwas, vor dessen Bewahrheitung und Bestätigung ihm unsagbar graue, anvertraut hat: nur mit leiser Stimme und mit allen Zeichen des tiefsten Entsetzens sprach er davon" (Andreas-Salome (1994) S. 255). Vgl. auch die Erinnerung von Franz Overbeck. Siehe Carl Albrecht Bernoulli: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Bd. II. Jena 1908, S. 216 f.

513

Nietzsches Versuche, die wissenschaftliche „Wahrheit" des Wiederkunftsgedankens unter Zuhilfenahme aktueller Entdeckungen wie dem zweiten Satz der Thermodynamik zu beweisen, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Seine Annahme, der „Satz vom Bestehen der Engergie fordert die ewige Wiederkehr" (KSA 12/205), erscheint mir allerdings nicht überzeugend zu sein.

SCHLUßBEMERKUNG UND AUSBLICK.

211

Um die von Nietzsche geforderte Auseinandersetzung des modernen Menschen mit dem Wiederkunftsgedanken zu provozieren, wird der Leser der Fröhlichen Wissenschaft beispielsweise durch die Verwendung des eindringlichen ,Du' direkt angesprochen. Als weitreichend werden die ethischen Konsequenzen dieses Gedankens eingeschätzt, denn er soll sich als das „größte Schwergewicht" (FW 570) auf das Handeln des Individuums legen. Dabei wird die konkrete Wirkung dieses radikalen Nihilismus auf den modernen Menschen von Nietzsche unterschiedlich eingeschätzt: Während zahlreiche Menschen an dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen zerbrechen sollen, weil ihnen die Hoffnung auf eine allgemeine Besserung und die Abschaffung von den Übeln des Lebens genommen wird, sollen andere den Wiederkunftsgedanken als die höchste Formel der Bejahung affirmieren können. Entscheidend ist demnach, ob der Einzelne der ernüchternden Einsicht standhalten kann, daß eine schrittweise Erlösung von den Übeln des Daseins und eine allgemeine Besserung der menschlichen Verhältnisse im Verlauf der Geschichte nicht zu erreichen sind. Nietzsches Aussagen zu den praktischen Konsequenzen des Wiederkunftsgedankens betonen somit dessen antiperfektibilistische Ausrichtung, die bewußt den wirkungsmächtigen Fortschrittsglauben der Neuzeit angreift. Wie sind jedoch die hoffnungsvollen Visionen einer Umwertung aller Werte und eines Übergangs zum Übermenschen mit diesem Angriff auf die Vorstellung einer Verbesserung der menschlichen Verhältnisse zu vereinbaren? Zunächst ist festzuhalten, daß Nietzsche die Moderne, ebenso wie in den frühen und mittleren Schriften, auch im Spätwerk ambivalent bewertet: die von ihm diagnostizierten modernen Transformationen bergen einerseits die Gefahr des Niedergangs und andererseits die Chance des Aufschwungs. Letztere wird vor allem durch seine Hoffnung auf eine „Umwerthung aller Werte" (GM 409) präzisiert. Diese Chance einer neuen Wertsetzung soll auf dem Verfall der alten, von der jüdischchristlichen Religion geprägten Werte im modernen Nihilismus gründen, in dem sich auch die Selbstwidersprüchlichkeit des Willens zur Moral offenbare. 514 Entscheidend ist aus Nietzsches Perspektive die Demaskierung der Teleologie der Moral durch die Wahrhaftigkeit, womit der oberste Wert der Moral sich gegen diese selbst wende. So soll sich im modernen Nihilismus die grundlegende Bedeutung des „Willens zur Macht" im Leben zeigen, der als elementarer Antrieb auch im vermeintlich interesselosen Willen zur Moral präsent sei.515 Wiederholt wird in diesem Zusammenhang das ethisch-politische Fortschrittsstreben zu einer egalitaristischen Gesellschaft von gleichberechtigten Machtwillen kritisiert, das aus Nietzsches Perspektive den machtvollen Versuch einer Unterdrückung von höheren Lebensformen darstellt. Mit der Heraufkunft des modernen Nihilismus prognostiziert Nietzsche eine Erschütterung der in der Moderne seines Erachtens vorherrschenden egalitaristischen „Heer514

515

Zu beachten ist, daß aus Nietzsches Perspektive die alten Werte selbst auf eine frühere Umwertung aller Werte zurückgeführt werden können. Siehe dazu GM 270. Siehe KSA 12/215. Das Verhältnis zwischen dem Willen zur Moral und dem Willen zur Macht ist äußerst komplex, so daß es nicht als einfacher Gegensatz interpretiert werden kann. Meine Interpretation wird hier im Anschluß an die bereits erwähnte Nachlaß-Aufzeichnung vom 10. Juni 1887 nur auf einen wesentlichen Aspekt des Verhältnisses eingehen.

212

SCHLUßBEMERKUNG UND AUSBLICK

denthier-Moral" (JGB 124), die es den freien Geistern erlauben könnte, in höherem Maße schöpferisch tätig zu werden und im Idealfall eine Umwertung aller Werte einzuleiten. Dabei sollen die höheren, vornehmen Individuen, die etwas abstrakt auch als Übermenschen bezeichnet werden, als Protagonisten des geistvollen Willens zur Macht auftreten und versuchen, der Pluralität der Machtwillen gerecht zu werden. 516 Mit dieser Auszeichnung des Willens zur Macht als Prinzip der angestrebten Umwertung soll es zu einer Anerkennung der von komplexen, spannungsvollen Machtwillen durchsetzten Wirklichkeit kommen, die dadurch nicht mehr utopisch-optimistisch verklärt wird. Deutlich bekennt Nietzsche in diesem Zusammenhang, daß er im Willen zur Macht die zentrale Lebenskraft erkennt. „Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären - nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist - ; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückfuhren könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung - es ist ein Problem - fände, so hätte man sich damit das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht."5'7

Nietzsches Ideal des Übermenschen vermag einerseits die komplexe Vielfalt der Machtwillen in der Wirklichkeit anzuerkennen und andererseits geistreiche Interpretationen der dynamischen Willenskonstellationen vorzulegen. 518 Ersteres verlangt, nüchtern und tabulos mit Perspektiven und Auslegungen zu experimentieren, um Monopolansprüche zu demaskieren, während letzteres die Fähigkeit erfordert, die jeweiligen Entfaltungspotentiale der Machtwillen abzutasten und in ein Verhältnis zueinander setzen zu können. Außerordentlich anspruchsvoll soll ein derartiges Abtasten und Vergleichen sein, weil Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht einen vielschichtigdynamischen Wandel der Organisationen der Machtwillen annimmt. Die Kunst des sensiblen Interpretierens der fragil-komplexen Machtkonstellationen soll deshalb lediglich der weise, weitsichtige Machtwille beherrschen, wobei dieser selbst auch wieder als fragil-komplexe Organisation gedeutet wird. Grundlegend ist für diese Kunst, daß die vielfaltigen, spannungsvollen Machtwillen in ein sinnvolles Verhältnis zueinander gesetzt werden und damit zumindest temporär geeint werden. Statt eines völligen Durcheinanders vermag der geistvolle Wille zur Macht gemäß Nietzsches Auslegung Ordnungsstrukturen zu fordern, die von der Rangordnung der unterschiedlichen Entfaltungsmöglichkeiten der Machtwillen geprägt sind. Für Nietzsches Visionen einer Umwertung aller Werte und einer Heraufkunft des Übermenschen ist der Gedanke der Rangordnung von zentraler Bedeutung, denn in ihm 5,6

Entscheidend ist an Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, daß die Machtwillen nicht als prinzipiell gleichwertig gedeutet werden. Vielmehr spricht er von dem „ungeheuren Reich zarter Werthgeftihle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehen" (JGB 105).

517

JGB 55. Siehe auch GM 316. Nietzsche betont dabei ausdrücklich, daß seine Lehre vom Willen zur Macht ebenfalls „nur" eine Interpretation ist (JGB 37). In einigen Textpassagen scheint allerdings der sich selbst verabsolutierende, brutal-gewaltsame Machthaber dem Ideal des Übermenschen zu entsprechen (siehe GM 288). Letztlich wird der geistlose Starke jedoch als rückständig bewertet. So wird auch der teils verehrte Napoleon schließlich als eine „Synthesis von Unmensch und Übermensch" (ebenda) kritisiert.

518

SCHLUßBEMERKUNG UND AUSBLICK

213

sieht er eine wesentliche Differenz zu den wirkungsmächtigen Tendenzen zur Uniformierung in der Moderne. Deutlicher noch als in den frühen und mittleren Schriften wird im Spätwerk der je unterschiedliche Rang der Machtwillen, Interpretationen, Individuen betont und damit gegen die verbreiteten Parolen eines egalitaristischen Fortschritts in Anklang gebracht. Die von ihm angestrebte Umwertung soll sich an einer modernaristokratischen Wertgleichung orientieren und dem „Pathos der Distanz" (JGB 205, GM 259) gerecht werden, wodurch aus seiner Perspektive eine umfassende Steigerung des Menschen erreicht werden könne. „Jede Erhöhung des Typus ,Mensch' war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werth Verschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das Pathos der Distanz..., könnte auch jenes andere geheimnisvollerer Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer DistanzErweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltenerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände..." (JGB 205)

Hinsichtlich der Bestimmung einer sinnvollen Rangordnung macht Nietzsche vielfältige Aussagen, die partiell schon bei der oben erfolgten Annäherung an Nietzsches Ideal des Übermenschen angeklungen sind. Hervorgehoben werden sollen an dieser Stelle lediglich zwei Aspekte, durch die sich die „Neue Aristokratie" (KSA 12/207) von den bisherigen Aristokratien unterscheiden soll. Einerseits wird sie als geistig-leibliche Aristokratie spezifiziert und andererseits wird die Tiefe des Leidens als ein wesentliches Kriterium ihrer Rangordnung bestimmt. So werden sowohl die Höhe des geistig-leiblichen Ranges als auch die Tiefe des Leidens als Anzeichen eines weisen, umfassenden Willens zur Macht interpretiert. 519 Zusammenfassend kann konstatiert werden, daß für Nietzsches Hoffnung auf eine künftige Umwertung aller Werte die Erhöhung und Verfeinerung des Willens zur Macht grundlegend ist. Dabei nimmt er ausdrücklich in Kauf, daß eine große Anzahl an Menschen zugunsten der Herausbildung von neuen geist- und machtvollen Aristokraten geopfert werden. Seine diesbezügliche, positive Fortschrittsvorstellung weist eine unüberbrückbare Distanz zu der optimistischen Vorstellung eines allgemeinen, dauerhaften Fortschritts auf. So würden die Verfechter des zuletzt genannten allgemeinen Fortschrittsglaubens in Nietzsches Hoffnung nur eine reaktionäre, fortschrittsfeindliche Vorstellung erkennen. „Ich wollte sagen: auch das theilweise Unnützlichwerden..., kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu grösserer Macht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. Die Grösse eines .Fortschritts' bemisst sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles geopfert werden musste; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Species Mensch geopfert zu werden, - das wäre ein Fortschritt..." (GM 315)

519

Siehe ΜΑ I 203 f. bzw. JGB 225. Auch hinsichtlich Nietzsches Vision einer neuen Aristokratie bleibt festzuhalten, daß deren konkrete Ausformung nur schemenhaft bleibt. Offensichtlich soll sie jedoch keine einfache Renaissance früherer Aristokratien darstellen (vgl. GM 267 u. KSA 12/208).

214

SCHLUßBEMERKUNG UND AUSBLICK

In dieser Textpassage wird ein „wirklicher" Fortschritt angedeutet, dessen Sinn und Preis aus Nietzsches früheren Schriften bereits ansatzweise bekannt ist. So wurde beispielsweise schon in den Vorträgen Ueber die Zukunft der Bildungsanstalten und in den Unzeitgemäßen Betrachtungen der höhere Mensch als der Sinn der Geschichte bestimmt, dessen Förderung auch das Opfer des Glücks der Mehrzahl der Menschen verlangt. Im Gegensatz zu den klassischen Fortschrittstheorien von Turgot, Comte u.a. impliziert Nietzsches Fortschrittsvorstellung nicht einen Vorrang des Allgemeinen gegenüber der Einzelexistenz, sondern einen Vorrang des höheren Individuums gegenüber dem Allgemeinen. Wenngleich mir Nietzsches Sorge um die Achtung des Individuellen begründet erscheint, ist seine hier angedeutete Bereitschaft, die Menschheit als Masse zu opfern, wenig überzeugend, da letztere sich auch aus Individuen zusammensetzt. Trotz der scheinbaren Unvereinbarkeit mit einer progressiven Ausrichtung soll auch der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen den Fortschritt zu einer „stärkeren Species Mensch" fördern. Wiederholt hat Nietzsche einen rangordnenden, reinigenden Aspekt des Wiederkunftsgedankens betont, da er annahm, daß dieser „abgründlichste Gedanke" zu einer Selektion der höheren Menschen führen könne. „Was heißt jetzt ,schlechtweggekommen'? Vor allem physiologisch nicht mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen) ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als Fluch empfinden... Der Werth einer solchen Crisis ist, daß sie reinigt, daß sie... zu einer Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkte der Gesundheit, den Anstoß gibt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen." (KSA 12/217)

Die im Wiederkunftsgedanken enthaltene Absage an einen allgemeinen Fortschritt der Menschheit soll demgemäß einen Fortschritt zu einer höheren Gesellschaftsordnung und zu einer höheren Species Mensch einleiten. Aufgrund dieser Funktion spricht Nietzsche auch vom „großen züchtenden Gedanken" (KSA 11/250), was jedoch zu zahlreichen Mißverständnissen gefuhrt hat. Denn hier steht nicht die planmäßige Zucht von Menschen im Vordergrund, sondern die individuelle Zucht durch die Auseinandersetzung mit dem Gedanken, daß es keinen allgemeinen Fortschritt zu Gott oder zu einem weltimmanenten Heil gibt. Aber steht die Vision einer „Umwertung aller Werte" nicht dennoch im Widerspruch zum Gehalt des Wiederkunftsgedankens, demzufolge auch keine Abschaffung der alten, von der Sklavenmoral geprägten Werte möglich sein soll? Zunächst bleibt zu beachten, daß Nietzsche nicht an die Möglichkeit einer völligen Abschaffung der bisherigen Werte glaubt, sondern eine größere Spannung von niederen und höheren Werten anstrebt. 520 Auch wenn er die „Reaktions- und Ressentimentsinstinkte" (GM 276) ablehnt und bekämpft, so weiß er doch, daß sie ein fester Bestandteil des menschlichen Daseins sind. Entsprechend betont er: „Mein Schlußsatz ist: daß der wirkliche Mensch einen viel höheren Werth darstellt als der ,wünschbare' Mensch irgend eines bisherigen Ideals;" (KSA 13/56). Seine Hoffnung richtet sich deshalb auf eine Eindämmung des Einflusses der erwähnten Instinkte, wodurch die von ihm diagnostizierte Gefahr einer fortschreitenden Domestizierung und Verkleinerung des Menschen abgewendet werden soll.

520

Siehe KSA 12/519 bzw. KSA 13/65.

215

SCHLUßBEMERKUNG UND AUSBLICK

Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß Nietzsches Vision einer „Umwertung aller Werte" keine Vorstellung einer irreversiblen Verbesserung beinhaltet. Auch eine derartige Umwertung kann aufgrund der von ihm angenommenen Dynamik des Werdens, die durch die herakliteische Vorstellung eines Flusses und Wechsels der Dinge geprägt ist, nicht zu einer unumkehrbaren, dauerhaften Verbesserung fuhren. 521 Der lineare Verlauf des Lebensalters ist gemäß Nietzsches Interpretation definitiv kein Muster für die Entwicklung der Menschheit. Im Unterschied zu der Annahme von Thomas von Aquin wird die Geschichte der Menschheit nicht mit der Entwicklung eines einzelnen Menschen verglichen, da die Menschheit ein komplexes Konglomerat von sich überlagernden Aufstiegs- und Verfallsprozessen sein soll.522 „Daß die Menschheit eine Gesammt-Aufgabe zu lösen habe, daß sie als Ganzes irgend einem Ziel entgegenlaufe, diese sehr unklare und willkürliche Vorstellung ist noch sehr jung... Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und nieder steigenden Lebensprozessen - sie ist nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter... Die decadence andererseits gehört zu allen Epochen der Menschheit: überall giebt es Auswurf- und Verfall-Stoffe, es ist ein Lebensprozeß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs und Abfalls-Gebilde." (KSA 13/87)

Die Annahme eines auf alle Aufstiegsprozesse folgenden Niedergangs gilt konsequenterweise auch fur die von Nietzsche angestrebte „höhere Cultur". So kann auch die von ihm geforderte Umwertung aller Werte von langer, letztlich aber nur zeitlich begrenzter Dauer sein, ehe sie von einer erneuten Umwertung abgelöst wird. Diese Annahme wiederholt Nietzsche im Kontext einer späten Auseinandersetzung mit dem Darwinismus, in der er einerseits die Idee eines weltgeschichtlichen Fortschritts ablehnt und andererseits betont, daß auch die anvisierten Fixpunkte einer höheren Kultur, die höheren Menschen, keine dauerhafte und unvergängliche Verbesserung initiieren können. „Meine Consequenzen Meine Gesammtansicht. - Erster Satz: der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben." (KSA 13/316)

In dieser Textpassage wird deutlich, daß sich Nietzsches Engagement für die höheren Menschen und das aufsteigende Leben sowie eine neue Wertsetzung im Bewußtsein einer begrenzten Dauer aller möglichen Steigerungen vollzieht. Prinzipielle Verbesserungen auf Erden sind demzufolge nicht nur hinsichtlich einer Abschaffung des Leidens, sondern auch hinsichtlich einer dauerhaften Entfaltung von menschlicher Größe illusorisch. Auf höhere Kulturen werden wieder niedere Kulturen folgen und so fort. Diese Vorstellung der ewigen Wiederkunft von auf- und niedersteigenden Lebensprozessen bedeutet bei Nietzsche aber keinesfalls einen resignativen Verzicht auf ein konkretes Engagement. Mit seiner Absage an die Vorstellung eines notwendigen, welthistorischen Fortschrittsprozesses deutet er vielmehr an, daß es allein die Individuen sind, die durch ihren persönlichen Einsatz zumindest temporär mögliche Verbesserungen und Fortschritte anregen können. 521

Siehe Heraklit Β12. In: Die Fragmente Berlin 1956.

522

Zu Thomas von Aquins Fortschrittsbegriff siehe diese Arbeit S. 32.

der Vorsokratiker

Bd. 1. Hrsg. v. H. Diels u. W. Kranz.

216

SCHLUßBEMERKUNG UND AUSBLICK

Meine Interpretation legt nahe, daß die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen und die Visionen einer Umwertung aller Werte und einer Heraufkunft des Übermenschen sich nicht grundsätzlich widersprechen. Nietzsches Fortschritts-Visionen sind vielmehr in der antiprogressiven Lehre der ewigen Wiederkunft aufgehoben. Im Unterschied zu Löwith und in Übereinstimmung mit Heidegger glaube ich daher, daß ein plausibles Zusammendenken von Nietzsches Gedanken möglich ist, wenngleich bei derartigen Versuchen immer die dunkle Vielschichtigkeit und der „esoterische" (JGB 48) Aspekt von Nietzsches „positiver Philosophie" zu berücksichtigen sind. 523 Problematisch erscheinen mir sowohl die skizzierten Visionen als auch die Wiederkunftslehre wegen Nietzsches Neigung zum Extremisieren. So kommt es nicht zu der von ihm prognostizierten Reaktion auf die Entlarvung der „Verlogenheit" der christlichen Moral-Hypothese, weil die seiner Prognose zugrundeliegende Annahme, eine extreme Position wie diese Moral-Interpretation könne nur durch eine andere extreme Positionen abgelöst werden, nicht zutrifft. 524 Meines Erachtens wird die Bedeutung des Wiederkunftsgedankes als die „extremste Form des Nihilismus", die auf die christlichmoralische Weltauslegung folgen soll, in diesem Zusammenhang von ihm überschätzt. Skepsis scheint mir auch gegenüber der Möglichkeit angebracht zu sein, die höheren Menschen könnten den Gegensatz-Charakter des Daseins darstellen und sowohl die positiven als auch die negativen Seiten des Lebens um ihrer selbst willen bejahen. Eine äußerste Affirmation, die auch noch die Grausamkeit und den Terror bejaht, müßte wohl mit dem Attribut übermenschlich ausgezeichnet werden, denn der Mensch scheint mir zu einer derartigen Bejahung nicht fähig zu sein. Zudem ist fraglich, ob eine derartig extreme Steigerung ins Übermenschliche überhaupt wünschenswert ist, oder ob dadurch nicht zuviel vom Menschen aufgegeben würde? Mein Ausblick auf Nietzsches Spätwerk kann einer weiterfuhrenden Diskussion seiner späten Fortschrittskritik nicht nachgehen, da hier lediglich eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Wiederkunftsgedanken und seinen hoffnungsvollen Visionen beabsichtigt war. Abschließend kann festgestellt werden, daß die These von der Unvereinbarkeit seiner späten Lehren nicht überzeugt. Zwar bekräftigt Nietzsche mit dem Wiederkunftsgedanken seine bereits aus den frühen und mittleren Schriften bekannte Absage an die Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts, aber auch dieser bedeutet keine prinzipielle Ablehnung von bestimmten Verbesserungen in der Zukunft, verstanden als temporäre Steigerungen von Positivem und Negativem bzw. von Höherem und Niedrigerem. In der Vereinbarkeit seiner antiprogressiven und progressiven Vorstellungen spiegelt sich letztlich die Ambivalenz eines Fortschrittsdenkens wider, das sowohl die Verherrlichung als auch die Verdammung des Fortschritts als einseitig demaskiert.

523

524

Meine knapp angedeutete Interpretation von Nietzsches späten Visionen stimmt mit Heideggers Deutung hinsichtlich der Kompatibilität dieser Visionen überein, nicht jedoch mit seiner konkreten Auslegung. KS A 12/212 f.

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BAW

KSB

MUS

II.

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Einführung in das Verständnis

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