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German Pages 216 [219] Year 2021
Legend National border
GERMANY
Perimeter Alpine Convention
Wien
Linz
Augsburg
München
Freiburg
City
Salzburg
River Kempten
Lake Glaciated area (> 300 m)
Basel
Leoben
Bregenz Zürich
S WI TZ E R LAN D
Vaduz
Luzern
AUST RIA
Innsbruck
LIECHTENSTEIN
Graz
Bern Thun Villach
Lausanne Bolzano
Klagenfurt
Maribor
Jesenice Kranj
Genève Nova Gorica
Trento
SLOVENIA
Annecy Lyon
Milano
Novara
Zagreb
Trieste
Bérgamo
Chambéry
Ljubljana
Bréscia Verona
Pádova
Rijeka
Venézia
Grenoble Torino
ITALY FRANCE
Parma
:
Bologna
Génova
(Report on the State of the Alps 2008) Firenze
Nice
MONACO Marseille
N
Scale: 1 : 3,300,000
0
25
50
100
150
200 km
SOIA RSA 2008
Overview map perimeter Alpine Convention Date: 2008
Author:
Austria
Da ta so u rce (ba se d ata ) D EM (h illsh a de ): S RTM (NASA 2 00 0 ), mo difie d by Ze b isc h, EU RA C (2 006 ); D EM ( e lev at io n cla ss es , g lacia ted a rea ): G TOPO 3 0 (U SG S 19 96 ); P erime ter A lpin e C onven tio n : S ABE (Ve rs. 1. 1) & Ru ffin i, St re ife ned e r, Eise lt (2 0 04), pr oce ss ed b y Zeb is ch, E UR AC (2 006) b as e d on E uro Bou nd aryMap (20 0 4) a n d m odif ied by ifu p la n (2 0 07 ) a nd U mwelt bun de sa mt (20 07 ); N at iona l B ord ers, C itie s: Eu ro G loba lMa p (E uro Geographic s, 2 00 4 ); Rive rs & L a ke s: CC M Rive r and Cat ch me nt Da ta b a se (Eu ro pea n
2nd Report on the State of the Alps – Water
La Spézia
Commission - JRC 2007)
Alpine Convention
Werner Bätzing
DIE ALPEN Das Verschwinden einer Kulturlandschaft
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
a 3 Die Alpen sind eine der am stärksten touristisch
erschlossenen Regionen der Welt, und sie werden jährlich von Millionen Menschen besucht. Hier der Großparkplatz am Tiefenbachferner, 2740 m, oberhalb von Sölden im Ötztal (Juli 2005).
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbgTHEISS ist ein Imprint der wbg. © 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Gerd Hintermaier-Erhard Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Seeheim Alle Fotos von Werner Bätzing, soweit nicht in den „Bildnachweisen“ anders vermerkt. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3779-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3796-2 eBook (epub): 978-3-8062-3797-9
__ 1 In den Skigebieten der Alpen wird heute bereits
dann künstlich beschneit, wenn es kalt genug ist, weil man sich nicht mehr auf den natürlichen Schneefall verlässt. Im Bild Schneekanonen am Stubnerkogel, 2246 m (Hohe Tauern), am 3. Dezember 2016. _ 2 Die Alpen sind ein Kettengebirge, das aus mehre-
ren parallel verlaufenden Gebirgsketten besteht; hier ein Blick in die Allgäuer Alpen mit dem Gipfel der Höfats, 2259 m, im Zentrum (September 2007).
Inhalt Vorwort
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Einleitung
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WAS SIND DIE ALPEN?
8
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10
............................................................................
14
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18
Die schrecklichen Alpen Die schönen Alpen
7
Die Alpen als Freizeitpark
..........................................................................
DIE NATUR DER ALPEN
................................................................ ...........................................................
32 38
Wasser und Eis als Landschaftsgestalter
..................................................
48
.......................................
58
................................................
62
........................................................................
66
Die Alpen als Regenfänger und Wasserspeicher Die Vegetation der Alpen im Naturzustand Sprunghafte Naturdynamik
28
......................................................................
Die Alpen – ein junges Hochgebirge Großlandschaften der Alpen
24
TRADITIONELLE KULTURLANDSCHAFTEN Die Alpen – kein Ungunstraum für den Menschen
............................
72
.....................................
76
...................
82
...............................................
90
......................................................................
100
Strategien zum Leben mit einer sprunghaften Naturdynamik Charakteristika alpiner Kulturlandschaften Altsiedelräume in den Alpen
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108
Transitwege, Bergbau, Marktorte und Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
Die religiöse Gestaltung der Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124
Jungsiedelräume in den Alpen
DIE MODERNISIERUNG DER ALPEN
.........................................
128
..................
132
Landwirtschaft im Alpenraum – ein Rückzug ohne Ende? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
Gewerbe und Industrie – oft übersehen
146
Verkehrserschließung als Voraussetzung der Modernisierung
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150
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160
Die Alpen – das „Wasserschloss“ Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164
Naturschutz als neue Realität in den Alpen
168
Tourismus – keine Schlüsselbranche im Alpenraum Die Alpenstädte als Wachstumszentren
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AKTUELLE SITUATION UND ZUKUNFT DER ALPEN
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170
...................................
174
........................................
178
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190
.....................................................................
194
Rückzug der Menschen aus den peripheren Lagen Verwilderung der Landschaft und Klimawandel Verstädterung und Zersiedlung der Tallagen Freizeitparks im Hochgebirge
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206
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210
Bilanz: Die Alpen verschwinden Welche Zukunft für die Alpen?
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214
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Literatur und Informative Internet-Seiten Bildnachweise und Über den Autor
1 2 3 4 5 5
Vorwort Da es bereits viele Alpenbildbände gibt, ist es sinnvoll zu begründen, warum dieser Alpenbildband etwas völlig Neues darstellt. Die meisten der bisherigen Alpenbildbände enthalten Fotos von grünen Wiesen, alten Bauernhäusern und steilen Gipfeln bei strahlendem Sonnenschein, zeigen die Alpen also als ländliche Idylle, oder sie bringen spektakuläre Stimmungsfotos mit einem dramatischen Zusammenspiel aus Wolken, Sonne, Wiesen und Felsen. Seit knapp zehn Jahren gibt es einen neuen Typ Alpenbildband: Die Bilder werden bei schlechtem Wetter gemacht, es dominieren gedeckte Farben und Grautöne, die Motive stammen aus dem obersten Höhenstockwerk der Alpen, wo es keine Menschen mehr gibt, oder der Mensch und seine Bauwerke werden so fotografiert, als wären sie Naturphänomene. Beide Typen von Alpenbildbänden bedienen Sehnsuchtsvorstellungen von Städtern, die in den Alpen nach einer nicht-städtischen Gegenwelt suchen: Das ältere Sehnsuchtsbild ist die ländliche Idylle, also die Harmonie zwischen Natur und Mensch, und dieses wird seit kurzem vom neuen Sehnsuchtsbild der Wildnis – die Natur ohne den Menschen – abgelöst. Diese modische Ausrichtung ist deswegen bedauerlich, weil dadurch das Spannendste der Alpen gar nicht vorkommt: Hier zeigt sich nämlich das Mensch-Umwelt-Verhältnis in seiner gesamten Bandbreite von Nicht-Eingriffen und Veränderungen über Aufwertungen bis hin zu Zerstörungen so anschaulich wie nirgendwo sonst in Europa. Und hier kann man ganz konkret und sehr eindrücklich erleben, wie Menschen früher und heute mit Natur umgehen, welche Konsequenzen bestimmte Naturveränderungen durch den Menschen haben oder wie sich das Erleben von Natur ändert.
All das kann man in den Alpen überall sehen, wenn man sehen gelernt hat. Deshalb besteht das Ziel dieses Bildbandes darin, seine Betrachter auf eine unterhaltsame Weise in das „Lesen“ von Alpenlandschaen einzuführen – die Faszination der Alpen erhöht sich dadurch ungemein. Die meisten Fotos in diesem Band stammen von mir, und ich habe sie in den letzten vierzig Jahren gemacht, in denen ich mich intensiv mit den Alpen auseinander gesetzt habe. Darüber hinaus haben mir Jörg Bodenbender (Grafenaschau/D) Lubilder, Lois Hechenblaikner (Reith im Alpbachtal/A) Bilder vom Wintermassentourismus und Erika bzw. Irmtraud Hubatschek (Innsbruck/A) historische Bilder bergbäuerlicher Arbeiten zur Verfügung gestellt, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Weiterhin möchte ich mich bei Gion Caminada (Vrin/CH), Josef Essl (Innsbruck/A), Gerhard Fitzthum (Lollar/D), Urs Frey (Soglio/CH), Marco Giacometti (Stampa/CH), Fritz Grimm (Bremen/D), Sylvia Hamberger (München/D), Beat Hug (Spiez/CH), Michael Kleider (Leinburg/D), Willi Pechtl (Tarrenz/A), Lukas Stöckli (Stans/CH) und Matthias Wenzel (München/D) für die Überlassung von Fotos bedanken. Dieser Band ist erstmals im Jahr 2005 erschienen. Für diese erweiterte Neuausgabe habe ich den gesamten Text neu geschrieben, mehr als drei Viertel der Bilder ausgetauscht oder aktualisiert und besonders in Kapitel 5 bei der Darstellung der aktuellen Situation der Alpen – die sich seit 2005 spürbar verändert hat – relevante Veränderungen vorgenommen. Ich wünsche mir, dass dieser Bildband nicht nur gefällt, sondern das Alpenerlebnis vieler Menschen vertie und bereichert. Bamberg, im Januar 2018 Werner Bätzing
_ 4 In den Alpen verzahnen sich Natur- und Kultur-
landschaen kleinräumig ineinander wie hier im Rheinwald, dem obersten Talabschnitt des Hinterrheins. Unten die „alte Landbrugg“ aus dem Jahr 1693 in 1600 m Höhe, die dem Saumverkehr über den San-Bernardino-Pass diente, oben der Piz Uccello, 2724 m (September 2003).
7
Einleitung Üblicherweise geht man bei einem solchen Bildband davon aus, dass seine Bilder auf manche Menschen schön, auf andere dagegen hässlich oder nichtssagend wirken, und dass man über die Schönheit von Bildern und Landschaen – genauso wie über Geschmack – nicht diskutieren oder streiten könne, weil dies rein subjektive Empfindungen seien. Damit folgt man unbewusst derjenigen Konzeption von Ästhetik, wie sie der Philosoph Immanuel Kant entworfen hatte. Mit einer solchen Ästhetik sieht man allerdings in den Alpen nichts Relevantes, und man kann ihre Landschaen nicht in Hinblick auf das Mensch-Umwelt-Verhältnis lesen, was sich in ihnen ausdrückt. Deshalb gehen dieser Band und die in ihm abgedruckten Bilder von der Ästhetik-Konzeption des Philosophen G. W. F. Hegel aus, für den Ästhetik den unmittelbaren, sinnlich-emotionalen Ausdruck vom „Wesen“ einer Sache oder eines Objekts bedeutet. Das Wesen oder die wesentlichen Elemente einer Alpenlandscha sind geologische Strukturen, eiszeitliche Formungen, Vegetations-, Siedlungs-, Wirtschas- und Verkehrsstrukturen in ihrem wechselseitigen Zusammenwirken. Ästhetik bedeutet nach Hegel, diese Struktu-
8
ren und ihr Zusammenspiel so darzustellen und ins Bild zu setzen, dass sie der Betrachter spontan wahrnimmt und erkennt, also ohne lange Erklärungen unmittelbar ein intuitives Verständnis davon bekommt. Dies ist jedoch keineswegs identisch mit der Dokumentation des Ist-Zustands einer Alpenlandscha, sondern erfordert eine bewusste Bildkomposition, einen angemessenen Bildausschnitt, eine spezifische Perspektive und ganz bestimmte Lichtverhältnisse, damit die wesentlichen Elemente und Strukturen überhaupt herausgearbeitet und sichtbar gemacht werden können. Die Bilder, die auf diese Weise entstehen, unterscheiden sich deutlich von den Bildern, mit denen wir permanent im Alltag konfrontiert werden. Ihnen fehlt das Überraschungs- oder Überrumpelungselement (der „WowEffekt“), mit dem die Werbefotografie versucht, unsere Aufmerksamkeit für wenige Sekunden auf sich zu lenken. Stattdessen wirken diese Bilder auf den ersten Blick wenig spektakulär, und man muss sich auf sie einlassen und länger betrachten, damit sich ihr Inhalt erschließt. Dann jedoch erhält man auf spielerische Weise ein intuitives Verständnis des Mensch-Umwelt-Verhältnisses mit seinen heutigen Möglichkeiten und Problemen.
_ 5 Das Varaita-Tal in den Cottischen Alpen gehört zu
den Entsiedlungsregionen der Alpen. Die Gemeinde Pontechianale zählte 1871 1542 Menschen, heute sind es nur noch 169. Die Erträge der Wasserwirtscha – vorn der Stausee Lago di Castello, 1575 m – bleiben nicht im Tal, sondern fließen nach Rom; links oben der Monte Viso, 3841 m, der höchste Berg der Cottischen Alpen (August 2016).
Der Anspruch dieses Bildbandes ist es, mittels der Auswahl von aussagekräigen Bilder und einer bestimmten Bildfolge, ergänzt durch kurze Erläuterungen, die aktuelle Situation der Alpen versteh- und erfahrbar zu machen. Am Anfang dieses Buches wird geklärt, welche Alpenbilder wir – meist unbewusst – im Kopf haben und wie diese unsere Wahrnehmung der Alpen prägen (Kapitel 1). Dann werden die Landschaen der Alpen im Naturzustand dargestellt (Kapitel 2). Um den heutigen Wandel verstehen zu können, werden dann die traditionellen Kulturlandschaen vorgestellt (Kapitel 3). In Kapitel 4 wird die Modernisierung der Alpen, gegliedert nach
zentralen Themenbereichen, gezeigt. Und zum Schluss bilanziert Kapitel 5 die heutige Situation und fragt nach einer Zukun für die Alpen, bei der sie ein dezentraler Lebens- und Wirtschasraum mit Respekt vor der Natur bleiben bzw. wieder werden können. Jedes Kapitel beginnt mit einem doppelseitigen Lubild und einer einseitigen Texteinführung ins Thema, und dann folgen jeweils 6 – 7 Abschnitte. Dabei behandelt jede Doppelseite immer ein eigenes Unterthema; dominierend sind auf jeder Doppelseite stets die Bilder, die zurückhaltend in den Bildlegenden kommentiert und durch kürzere Hintergrundtexte ergänzt werden. Die Bilder, die hier präsentiert werden, stammen aus sehr unterschiedlichen, teilweise auch aus sehr unbekannten Alpenregionen und sollen Lust machen, die Vielfalt der Alpen aktiv zu entdecken.
b 6 Das Oberengadin (hier von Muottas Muragl aus gesehen) ist eine der
ältesten und berühmtesten Tourismusregionen der Alpen. Deshalb sind die Tourismusorte St. Moritz (Bildmitte) und Celerina (rechts am Rand) sehr stark gewachsen und sehr stark zersiedelt (August 2008).
a
WAS SIND DIE ALPEN?
1
Wenn das Wort „Alpen“ fällt, entstehen bei allen Menschen in Europa sofort bestimmte Bilder im Kopf. Diese Bilder werden automatisch für mehr oder weniger realitätsnah angesehen, denn Bilder lügen ja nicht. Aber so einfach ist es nicht. Betrachtet man mit etwas Abstand die Bilder, die von den Alpen in den letzten 400 Jahren gemacht wurden, dann stellt man schnell fest, dass sie sich sehr stark voneinander unterscheiden: In den einzelnen Epochen werden nicht nur sehr unterschiedliche Motive bevorzugt, sondern diese sind auch mit einer sehr unterschiedlichen Wahrnehmung dessen, was die Alpen eigentlich sind, verbunden. Deshalb bilden Alpenbilder keineswegs „die“ Realität der Alpen ab, sondern sie sind Ausdruck von ganz bestimmten, zeitgebundenen Wahrnehmungen der Alpen. Etwas vereinfachend kann man in der europäischen Geschichte drei große Alpenbilder voneinander unterscheiden: Die schrecklich-bedrohlichen Alpen (Motiv: sehr steile Felswände/Gipfel mit sehr kleinen Menschen), die schrecklich-schönen Alpen (vorn ländliche Idylle, hinten Felsen/Eismassen) und die Alpen als Freizeitpark (im Zentrum ein Sportler in wagemutiger Aktion, im Hintergrund Berge). Diese drei Alpenbilder werden in den drei Abschnitten dieses Kapitels näher vorgestellt. 1. Das älteste Alpenbild wird bereits in der Zeit des Römischen Reiches entwickelt und nimmt die Alpen als „montes horribiles“, als schreckliche, bedrohliche und furchterregende Berge wahr, in denen Menschen eher wie Tiere, also ohne Kultur leben. Dieses Bild wird immer wieder erneuert, und es prägt die europäische Wahrnehmung der Alpen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. 2. Dann ändert es sich fundamental: Im Rahmen von Aufklärung, Aufblühen von Naturwissenscha, Technik und Industrieller Revolution verliert die Gesellscha ihre Angst vor der Natur. Damit werden aus den schreck-
__ 7 Ein zentrales Charakteristikum der Alpen ist der kleinräumige
Wechsel von zwar steilen, aber nutzungsgeeigneten Hängen und nutzungsfeindlichen Fels- und Gletschergebieten, so wie hier im Bereich des Mühlbach- und des Kapruner Tales (Glocknergruppe in den Hohen Tauern). Die höchsten Berge sind von links nach rechts der Hohe Tenn, 3368 m, das Wiesbachhorn, 3564 m, das Kitzsteinhorn, 3203 m (mit Seilbahn erschlossen), und die Klockerin, 3425 m (November 2006).
12
Was sind die Alpen?
lichen die schrecklich-schönen Berge: Sie lösen Nervenkitzel, Spannung und sportliche Herausforderung, aber keine wirkliche Gefahr mehr aus. Und die Bewohner der Alpen werden als „glückliche Wilde“ gesehen, die ihr einfaches Leben auf idyllische Weise im Einklang mit der Natur leben. Damit können die Alpen zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte als „schöne Landscha“ ästhetisch genossen werden, und dies ist die mentale Voraussetzung für den Tourismus, der wenig später entsteht. Beide Alpenbilder sehen den Menschen als total abhängig von Natur; der Unterschied besteht nur darin, dass diese Abhängigkeit zuerst negativ (Bedrohung), dann positiv (Idylle) gesehen wird. 3. Diese Sichtweise ändert sich erst mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellscha: An die Stelle der zu bestaunenden schönen Alpen tritt ihre direkte, unmittelbare Nutzung zur Erzeugung von außergewöhnlichen körperlichen Sensationen, wie sie beim Alpinskilauf, Mountainbiking oder anderen Aktivsportarten aureten. Hierbei stehen die eigenen Körperempfindungen im Mittelpunkt, und die Landscha wird zur Kulisse – die Alpen werden zum Sportgerät und Freizeitpark. Damit steht der Mensch jetzt erstmals über den Alpen und kann sie grenzenlos für seine Freizeitzwecke verändern und nutzen. Diese drei Alpenbilder sind heute o gleichzeitig anzutreffen und prägen auch unsere ganz persönlichen Alpenwahrnehmungen mehr oder weniger stark. Damit sind zentrale Bewertungen dessen, was „die Alpen“ sind oder was sie sein sollen, verbunden – sind sie unkontrollierbare Wildnis oder harmonische Idylle oder grenzenlos nutzbarer Freizeitpark? Ohne diese normativen Grundlagen anzusprechen, die in diesen Alpenbildern enthalten sind, kann man nicht über die Alpen sprechen. Deshalb steht diese Thematik ganz bewusst am Beginn dieses Buches. Der Leser und Betrachter wird deshalb eingeladen, sich an dieser Stelle und bei den folgenden Kapiteln immer wieder zu fragen, mit welchem Alpenbild im Hinterkopf er diese Bilder und Texte wahrnimmt und bewertet. Damit ist keineswegs die Absicht verbunden, die vertrauten Bilder zu zerstören, sondern das Bewusstwerden der damit verbundenen Werte und Normen bereichert das Erleben der Alpen und erleichtert die zahlreichen, wichtigen Diskussionen um ihre Zukun.
a 8 Auch hier stehen sich nutzungsfeindliche und nutzungsgeeignete Gebiete auf kleinräumige Weise gegenüber: Der
breite, gletscherbedeckte Gipfel des Wildstrubels, 3243 m (Berner Alpen), und die weichen Hänge des Saanenlandes (September 2006). Diese Situation wird in den drei klassischen Alpenbildern jeweils sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet.
13
Die schrecklichen Alpen Die Alpen sind – mit Ausnahme der kleinen Pyrenäen – das einzige Hochgebirge in Europa, und vergleichbare Gebirge gibt es nur noch an den äußersten Peripherien Europas (Kaukasus, Nordskandinavien, Island). Gleichzeitig liegen die Alpen im Zentrum Europas mitten zwischen fruchtbaren und sehr früh besiedelten Regionen, deren Bewohner die fernen und irreal erscheinenden schnee- und eisbedeckten Berge fast täglich vor Augen haben. Deswegen spielt diese fremde Landscha in der europäischen Kulturgeschichte schon früh eine herausgehobene Rolle. Die Alpen wirken mit ihrem steilen Relief und der langen Dauer der Schneedecke auf die Bewohner des Umlandes spontan feindlich und bedrohlich. Römische Schristeller entwickeln daraus dann kurz nach Christi Geburt in Städten der Po-Ebene das Bild der Alpen als „montes horribiles“, der schrecklichen Berge, und machen daraus einen literarischen Topos, der ganz Europa bis ins 18. Jahrhundert prägt.
14
Was sind die Alpen?
Dieses Bild ist zwar heute Vergangenheit, aber es ist noch so stark im kollektiven Bewusstsein verankert, dass es schnell aktualisiert werden kann. Jeder Bergsteiger kennt das Gefühl, das sich bei einem plötzlichen Wetterumschwung im Hochgebirge einstellt: Gerade eben genoss man noch die schöne Landscha im Sonnenschein, dann aber zieht sich der Himmel schnell zu, es beginnt zu graupeln und zu schneien, Wege, Wiesen und Felsen werden glatt und rutschig – und auf einmal wirkt die Landscha, die eben noch so schön war, nur noch bedrohlich, feindlich und hässlich. Und mit der Angst sind die „montes horribiles“ sofort wieder präsent. Das von den Römern entworfene Alpenbild geht davon aus, dass die Alpen überall nutzungsfeindlich und gefährlich seien. Die dort lebenden Menschen gelten als „Barbaren“, die eher wie Tiere als wie Menschen lebten und denen das fehle, worauf die Römer so stolz sind, nämlich eine „Kultur“ im Sinne einer städtisch geprägten Hochkultur.
_ 9 Blick vom Monte Matto,
3088 m, in die zentralen Seealpen bei hochsommerlicher Quellbewölkung; ein plötzliches Sommergewitter ist hier jederzeit möglich (August 1983).
a 10 Stich von Johann Melchior Süßlinus aus dem Jahr 1716, der die schreck-
lichen Alpen zeigt. Im Vordergrund sind bereits erste Hinweise auf die beginnende wissenschaliche Analyse der Alpen zu sehen.
15
_ 11 Stich von David Herrliberger „Schnee-Lauwen …
wie sich dieselbigen ab gächstotzigen Gebirgen fast senkrecht herunterstürzen“ aus dem Jahr 1756.
Das Bild der Alpen als „montes horribiles“ ist bereits zur Zeit seiner Entstehung ein Zerrbild: Die Alpen sind schon damals seit 5000 Jahren dauerha besiedelt, und die Alpenbewohner haben mit großen kulturellen Leistungen und viel Arbeit die Alpen von einer Naturlandscha zu einem Lebens- und Wirtschasraum umgewandelt, von dem die römischen Städte regelmäßig eine Reihe von Lebensmitteln beziehen. Und die neuen Römerstraßen machen eine Durchquerung sogar relativ einfach und gefahrlos.
16
Was sind die Alpen? · Die schrecklichen Alpen
Das Bild der schrecklichen Alpen ist also keineswegs realitätsnah, sondern es überzeichnet einen Aspekt der Alpennatur und gibt ihm eine absolute Bedeutung. Bild 11 zeigt dies sehr anschaulich: Die Darstellung einer Lawine als große Kugel, die von einer senkrechten Felswand direkt von oben auf ein kleines Dorf herabfällt und in der noch Bäume, Gebäude sowie eine Gämse stecken, ist ein beliebtes und o wiederholtes Motiv, um die Schrecklichkeit der Alpen zu illustrieren. Aber jeder, der die Alpen nur etwas kennt, weiß, dass Lawinen keine Kugeln sind und erst recht nicht über senkrechte Felswände herabfallen. Das heißt nichts anderes, als dass solche Illustrationen in Städten außerhalb der Alpen entstehen und dass die Zeichner die Verhältnisse in den Alpen nicht kennen: Das Bild der Alpen im Kopf ist stärker als die Realität. So ist es kein Zufall, dass diese Darstellung der Lawine als Kugel heute noch verwendet wird, nämlich in Co-
mic-Zeichnungen oder Karikaturen. Der erste Eindruck vieler Kinder in Europa von den Alpen wird stark durch solche Bilder geprägt. Indem die vorindustriellen Gesellschaen in Europa ihre Angst vor der Natur aus ihrem eigenen Alltag verdrängen und sie auf die fernen Alpen projizieren, versuchen sie sie in den Griff zu bekommen. Insofern sind die „schrecklichen Alpen“ weniger eine Beschreibung der Alpen als vielmehr der Ausdruck der Angst der europäischen Gesellschaen vor der tagtäglichen Bedrohung durch die Natur. Da man diese Angst aber nicht bewältigen kann, wenn man sie bei sich selbst verleugnet und auf etwas Anderes, Fremdes überträgt, stellen die „montes horribiles“ zugleich das Symbol des Scheiterns dieser Angstbewältigung dar. Der Wandel von den schrecklichen zu den schönen Alpen lässt dann anschaulich sichtbar werden, wie die neu entstehende Industriegesellscha mit dieser Angst
a 12 Das Gestein der zentralen Seealpen – hier der Colletto di Valscura,
2520 m, zwischen Gesso- und Stura-Tal – besteht aus sehr langsam verwitternden Gneisen und Graniten mit geringer Bodenbildung, sodass der Ödlandanteil hier sehr hoch ist. Eine solche Landscha wirkt – besonders bei schlechtem Wetter – abweisend und wenig „schön“. Daran ändert auch der Lago Malinvern, 2122 m, im Vordergrund wenig, weil an seinen Ufern alle einladenden Elemente fehlen. Auf diese Weise erhält auch ein Idealtopos der Idylle wie der Bergsee einen strengen Charakter (August 1999).
umgeht: Die Natur stellt für sie keine wirkliche Gefahr, sondern nur noch eine spielerische oder sportliche Herausforderung dar. Damit glaubt die Industriegesellscha, dass sie Natur technisch vollständig im Griff habe. Dennoch bleibt noch die Erinnerung an die frühere Gefahr im „Hintergrund“ erhalten, und diese verschwindet erst beim Übergang zur Dienstleistungsgesellscha endgültig.
17
Die schönen Alpen Die Wahrnehmung der Alpen als „schöner Landscha“ ist für uns heute so selbstverständlich, dass wir sie mit „den Alpen“ identifizieren – die Alpen selbst sind doch schön! – und dass wir gar nicht mehr wahrnehmen, dass es sich dabei um eine Sichtweise handelt, die erst zwischen 1760 und 1780 entwickelt wird. Zuvor galten viele Jahrhunderte lang nur fruchtbare und ertragreiche Ackerfluren oder parkartige Weidelandschaen als schön, und nur solche Motive wurden von Künstlern abgebildet. Jetzt aber geraten diese Motive schnell in Vergessenheit, und Bilder aus den Alpen treten auf einmal an ihre Stelle. Was ist passiert? Sehen wir uns zwei zeitgenössische Darstellungen an: Im Vordergrund befindet sich jeweils ein flacherer, sanfterer Landschasteil, der landwirtschalich genutzt und menschlich geprägt ist, im Hintergrund dagegen eine steile, abweisende Felswand und eisbedeckte, unzugängliche Gipfel. Diese Bildkomposition lebt von dem starken Motivkontrast zwischen einem idyllischen menschlichen Lebensraum im Vordergrund, der behaglich und einladend wirkt, und einem menschenfeindlichen, bedrohlichen Hintergrund, der Angst und Schrecken hervorru – diese Spannung elektrisiert die damaligen Betrachter und spricht sie unmittelbar an. Würden die bedrohlichen Berge im Hintergrund fehlen, wäre der idyllische Vordergrund allein langweilig, nichtssagend und ausdruckslos.
18
Was sind die Alpen?
Seit der Industriellen Revolution haben die Menschen ihre frühere Angst vor der Natur verloren. Die bedrohlichen Berge rufen jetzt keine echte Angst mehr hervor (Abstoßung), sondern nur noch einen aufregenden Nervenkitzel (Anziehung), und dieser würde fehlen, wenn ein Bild nur einladende Nutzflächen und schöne Häuser zeigen würde. Das Aufregende an der neuen Bildkomposition ist also die radikale Gegenüberstellung von menschlicher Idylle und bedrohlicher Natur. Solche Bilder sprechen die damaligen Betrachter – nicht die Alpenbewohner, sondern die Bürger aus den stark wachsenden Industriestädten – emotional stark an, weil sie eine Sehnsucht ausdrücken: Diese Bilder zeigen, dass der Mensch in einer so feindlichen Umgebung wie den Alpen glücklich leben kann, wenn er sich der Natur einpasst und sich ihr unterordnet. Das Erstaunliche an diesem Alpenbild ist, dass die Gegenwart, aus der heraus es entsteht, darin gar nicht vorkommt: Die beginnende Industriegesellscha verbraucht und zerstört im Alltag Natur und Landscha im großen Stil, und erfreut sich am Sonntag bzw. im Urlaub an einer Mensch-Natur-Harmonie, die ihrer Alltagspraxis vollständig widerspricht und die sich auch räumlich getrennt davon abspielt: Industriegebiete sind nie schön. Dieser Widerspruch macht dann Sinn, wenn am Sonntag und im Urlaub der naturzerstörerische Alltag durch die
Bewunderung der schönen Landscha (einschließlich der Menschen, die sich der Natur unterordnen) vergessen gemacht, ausgeglichen oder „kompensiert“ werden soll: Dann wird das Unbehagen an der Naturzerstörung, das den gesamten Alltag durchzieht, durch die große Bewunderung der Natur am Sonntag unterdrückt und vergessen gemacht, und man kann sich am Montag früh wieder mit frischen Kräen seinen Alltagsaufgaben zuwenden. Es liegt auf der Hand, dass diese Sichtweise der Alpen ein Zerrbild ist, was mit ihrer Realität wenig zu tun hat. Heute wird immer wieder argumentiert, dass diese Bewunderung der Alpen doch eigentlich – verglichen mit der aktuellen Zerstörung der Alpen als Freizeitpark – positiv sei und wieder gestärkt werden müsse. Dies ist jedoch schwierig, weil die klassische Bewunderung der Alpen ganz eng mit der Perspektive verbunden ist, dass
sich der Mensch den Alpen unterordnen müsse. Die Geschichte der Alpen zeigt jedoch, dass diese Sichtweise zu einfach ist: In vollem Respekt vor der Natur haben die Menschen die Alpen früher für ihre Zwecke tiefgreifend ökologisch verändert, ohne sie zu zerstören. Dies ist keine Unterordnung unter Natur, aber andererseits auch keine Herrscha über Natur (so die beiden Denkfiguren, die uns heute so alternativlos erscheinen), sondern ein dritter Weg im Umgang mit Natur, der aber meist nicht wahrgenommen wird.
_ 13 und b 14 Zwei Bilder von Mathias Gabriel Lory, dem Sohn (1784 – 1846),
die auf idealtypische Weise die schönen Alpen zeigen: Links Eiger, Mönch und Jungfrau von der Mettlenalp aus, rechts der Staubbachfall mit Lauterbrunnen.
19
a 15 Es ist heute noch möglich, die Alpen auf die klassische Weise als schöne Landscha zu fotografieren, wie
dieses Bild des Ortes Gsteig im Berner Oberland zeigt. Im Hintergrund links das Oldenhorn, 3123 m, rechts dahinter der Gipfel Sex Rouge, 2971 m, der mit einer Seilbahn erschlossen ist (September 2006).
Wie wenig selbstverständlich die Sichtweise der Alpen als schöner Landscha ist, zeigt sich an den Reaktionen der Einheimischen: Für sie ist das Tun der ersten Touristen und Alpinisten, die sich für Felswände, Gipfel und Gletscher interessieren, völlig absurd und verrückt, denn in diesen Gebieten gibt es nichts Nützliches zu finden oder zu holen. Für die Einheimischen sind weiterhin nur diejenigen Stellen in den Alpen „schön“, die zur Lebensmittelproduktion besonders gut geeignet sind, wie man an zahlreichen Orts- und Flurnamen wie Schönbühel, Schönberg, Schönau oder Schönwies feststellen kann. Der neue Inhalt von „schön“, der erst in der zweiten Häle des 18. Jahrhunderts aufkommt und der vom Gegensatz Idylle-Bedrohung lebt, macht für die Bewohner der Alpen keinen Sinn, weil ihnen die damit verbundenen Erfahrungen (Industrielle Revolution und Verlust der Angst vor Natur) fehlen. Ihr Respekt vor der Natur führt nicht zur Unterwerfung, sondern zur vorsichtigen Umgestaltung der Alpen und zum Leben mit den damit verbundenen Gefahren. Bild 16 zeigt ein Dorf, das stets von Felsstürzen und Lawinen bedroht ist, das aber gelernt hat, mit dieser Bedrohung umzugehen, indem die Häuser im Laufe der Zeit an solchen Stellen errichtet wurden, die ei-
20
Was sind die Alpen? · Die schönen Alpen
nigermaßen sicher sind. Während es für Städter nur die Alternative gibt, die Bedrohung technisch zu beseitigen oder sich ihr fatalistisch unterzuordnen, zeigen die Bergbewohner eine dritte Möglichkeit im Umgang mit Gefahren auf (siehe dazu Kapitel 3). Am Anfang wird die Bildkomposition der schönen Alpen in Form von zahllosen Gemälden, Stichen und Veduten umgesetzt. Mit Aufkommen des neuen Mediums Fotografie orientieren sich dann auch die Fotografen daran, und ab Ende des 19. Jahrhunderts entstehen sehr viele Fotos nach diesem Muster. Ganz besonders häufig wird es bei Postkarten, Foto-Kalendern und Bildbänden verwendet und millionenfach reproduziert. Wegen dieser unendlichen Wiederholungen wirkt das „klassische“ Alpenbild heute leicht als ein ärgerliches Klischeebild oder gar als unerträglicher Kitsch, wenn man es auf besonders gewollte oder extreme Weise umsetzt (Alpenglühen im Hintergrund, Sennerin in Tracht im Vordergrund). Deshalb versuchen seit einiger Zeit verschiedene Fotografen, die Alpen ganz bewusst anders zu fotografieren (ohne Sonne, kein typischer Vorder-/Hintergrund-Bildaufbau).
a 16 Der Ort Sambuco, 1135 m, im Stura-Tal mit dem Kalkfel-
sen des Monte Bersaio, 2386 m, in den südlichen Cottischen Alpen. Ganz unten rechts ist ein romanischer Kirchturm zu sehen, dessen Kirchenschiff (das links bis ins freie Feld hineinragte) fehlt, weil es durch einen Felssturz zerstört wurde. Die Kirche wurde im 17. Jahrhundert weiter oben
auf einem Felssporn über dem Bach (genau über dem alten Kirchturm) in sichererer Position neu errichtet. Die traditionelle Lage der Häuser spiegelt die Erfahrungen im Umgang mit den vom Monte Bersaio abgehenden Felsstürzen und Lawinen wider. Die Gebäude in der Bildmitte stammen erst aus dem 20. Jahrhundert (September 2003).
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_ 17 Auch dieses Bild (Tesina-
Seitental in den zentralen Seealpen in 1950 m Höhe) folgt dem klassischen Bildaufbau (Juni 2013). ` 18 Dieses Bild, das ganz in der
Nähe eines klassischen Standpunktes aus dem 18. Jahrhundert gemacht wurde (Lauterbrunnental/Berner Oberland), reproduziert die typische Sicht auf die Alpen mit einem freundlichen Vorder- und einem bedrohlichen Hintergrund (Oktober 2017).
Die wenig selbstverständlich dieser Blick auf die Alpen ist, zeigt sich daran, dass diese Bildkomposition zuerst in der Landschasmalerei ab dem 16. Jahrhundert entwickelt und erst später, ab dem 18. Jahrhundert allmählich auf die realen Alpen übertragen wurde. Deshalb spricht man noch heute davon, dass eine besonders schöne Landscha „wie gemalt“ aussieht: Das Vorbild für Schönheit ist nicht die Natur, sondern die Malerei, ein ästhetisches Kompositionsprinzip! Damit die Alpen als schöne Landscha – mit dem genannten Gegensatz zwischen Vorder- und Hintergrund – wahrgenommen werden können, muss man gezielt Punkte in der Landscha suchen, die genau diese Perspektive ermöglichen. Diese sind in den Alpen selten, denn in den meisten Fällen verhindert das steile Relief, dass man vom Tal aus besonders weit sehen kann, und von vielen Gipfeln sieht man nur Schutt, Geröll und andere Gipfel, aber keine Tallagen mit Dörfern oder Einzelhöfen. Damit ein Bild mit einem freundlichen Vorder- und einem abweisenden Hintergrund entsteht, braucht es entweder einen leicht erhöhten Standpunkt im Talraum, der zugleich den Blick auf die hohen Berge hinter der Kulturlandscha frei gibt, oder einen nicht sehr hohen Aussichtsgipfel, der den vollen Blick ins Tal und auf die dahinter liegenden Berge ermöglicht. Da solche Stellen in den Alpen selten sind, müssen sie gezielt gesucht werden, und die Aufgabe der Pioniere der Alpenerschließung besteht darin, solche Stellen zu finden, sie in Reiseführern zu beschreiben und damit anderen Alpenbesuchern zugänglich zu machen. Das Buch von Heinrich Zschokke
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Was sind die Alpen? · Die schönen Alpen
„Die klassischen Stellen der Schweiz“ aus dem Jahr 1836 ist eines von vielen, die dieses Ziel verfolgen. Ab 1870 werden viele dieser Aussichtspunkte mit bequemen Promenadenwegen oder mit Bergbahnen erschlossen. Solche Aussichtspunkte liegen o in einem Trogtal mit steilen Talflanken zu beiden Seiten, über die man nicht hinwegsehen kann, weshalb die Landscha relativ langweilig wirkt. Nur an einer ganz bestimmten Stelle, o dort, wo ein Seitental einmündet, weitet sich plötzlich der Blick, und es entsteht ein gestaffeltes Panorama wie bei einem Gemälde: vorn eine einladende Kulturlandscha mit Bauernhof, Heustadel und Wiesen und hinten eine steile, abweisende Fels- und Gletscherlandscha. Viele Alpenbesucher düren sich gefragt haben, warum sie die Alpen an vielen Stellen als langweilig erleben, obwohl sie doch „eigentlich“ so schön sein sollten. Die Erklärung ist einfach: Die Alpen sind keineswegs von Natur aus schön, sondern diese Wahrnehmung gründet auf einer ganz bestimmten ästhetischen Bildkomposition, die nur an wenigen ausgewählten Punkten in der Landscha zu finden ist. Im Normalfall zeigen sich die Alpen jedoch nicht als eine schöne Landscha.
` 19 Das nördliche Gasteiner Tal in den Hohen Tauern mit
dem von Skiabfahrten geprägten Fulseck, 2035 m, und Dorfgastein, 830 m (September 2012) – so wie hier sehen die Alpen meistens aus, und ihnen fehlt die „atemberaubende Schönheit“, die nur an wenigen Punkten möglich ist.
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Die Alpen als Freizeitpark Mit dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellscha, der in den 1970er Jahren stattfindet, verändern sich Wirtscha, Gesellscha, persönliche Verhaltensweisen und Umwelt in Europa tiefgreifend. Und damit verändert sich auch das Alpenbild noch einmal fundamental: Die Alpen werden jetzt nicht mehr als schöne Landscha bewundert, sondern sie werden als Sportgerät, Spaßarena, Eventraum und Freizeitpark unmittelbar und ganz direkt genutzt, um außergewöhnliche Freizeiterlebnisse zu produzieren. Das „typische“ Alpenbild zeigt daher in dieser Zeit eine Massenparty im Hochgebirge oder einen Sportler in voller, wagemutiger Aktion, wobei im Hintergrund noch einige Gipfel und Bergketten zu sehen sind, die aber nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. In dieser Zeit werden die Tourismuszentren der Alpen zu riesigen Tourismus-Ghettos ausgebaut. Diese werden vom Gipfel- bis in den Talbereich in künstliche Freizeitwelten verwandelt, die ein totales Konsumerlebnis ermöglichen, die aber mit den Alpen eigentlich nichts mehr zu tun haben. Außerhalb dieser Freizeitwelten werden die Alpen dagegen – im Unterschied zu einer Natur, die fast überall in Europa vom Menschen dominiert wird - als Wildnis wahrgenommen, obwohl sie das gar nicht sind, wie Kapitel 3 zeigen wird.
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Was sind die Alpen?
a 20 Weil die Natur der Alpen und der Ausblick auf die
Berge heute nicht mehr attraktiv genug sind, werden seit etwa 15 Jahren technische Attraktionen im Gebirge entwickelt, deren Vorbilder aus großstädtischen Freizeitparks stammen. Hier ein „Coaster“, eine Art Achterbahn, in Lienz (Osttirol)(März 2017).
` 21 Die Alpen werden jetzt technisch so hergerichtet,
dass man auch in Jahreszeiten Ski fahren kann, in denen es von der Natur her eigentlich nicht möglich ist. Hier Skilie auf dem Tsanfleuron-Gletscher in 3.000 m Höhe (westlichstes Berner Oberland), im Hintergrund die Kette der Walliser Alpen (September 2006). 22 Da der natürliche Schneefall in den Alpen auf `
Grund der Klimaerwärmung immer weniger und unzuverlässiger wird, werden die meisten Skipisten inzwischen künstlich beschneit. Hier der Beginn einer Skipistenbeschneiung in Inneralpbach im Alpbachtal (Kitzbüheler Alpen) kurz vor Weihnachten (Dezember 2015).
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_ 23 Mountainbike-Fahren
ist seit zwei Jahrzehnten zu einer sehr beliebten Freizeitaktivität geworden. Hier ein MTB-Fahrer im französischen Queyras in ca. 2000 m Höhe (August 2014). ` 24 Das Elizabeth Arthotel
in Ischgl (Tirol) steht als 5-Sterne-Haus für die heutigen gehobenen Urlaubsansprüche in den Alpen, die überall zu einem ähnlichen, austauschbaren Angebot führen und die – genau wie die Architektur – nichts mit den konkreten Alpen zu tun haben (April 2016).
Mit dem Wandel des Alpenbildes ändern sich auch die Verhaltensweisen der Alpenbesucher grundlegend. Die traditionellen Aktivitäten der Spaziergänger, Bergwanderer und Kletterer zielten auf das Erleben der Schönheit der Alpenlandscha ab und können daher als „kontemplative“ Handlungen bezeichnet werden: Pausen, in denen man lange das Panorama bewundert, sind dafür charakteristisch. Ganz anders die heutigen Individuen: Sie besuchen die Alpen, damit bestimmte Körpererlebnisse ausgelöst werden; die schöne Landscha wird dabei zur Kulisse. Ihre Aktivitäten können als „körperzentriert“ bezeichnet werden, die sich ausschließlich auf sich selbst beziehen und die im Rahmen von modischen Aktivsportarten – Snowboarden, Mountainbiking, Nordic Walking, Raing, Canyoning usw. – ausgeübt werden. Diese verlangen ein erhebliches Maß an Ausrüstung, Fitness und Training, um Spaß zu machen, und damit dringen die Werte der Arbeitswelt – Leistung, Spezialisierung, Effizienz – in die Freizeitwelt ein. Zwei Aspekte fallen dabei besonders auf. Erstens werden alle Aktivitäten zum Selbstzweck: Man bewegt sich nicht mehr im Gelände, um die schöne Landscha, sondern um den eigenen Körper zu erleben; deshalb können Skifahrer, Mountainbiker oder Gleitschirmflieger
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Was sind die Alpen? · Die Alpen als Freizeitpark
mehrmals am Tag die gleiche Strecke bewältigen, was für klassische Wanderer undenkbar wäre. Und Kletterern kommt es jetzt nicht mehr darauf an, einen Gipfel zu „erobern“, sondern die Schwerkra zu überwinden, und sie können daher genauso gut an Kirchtürmen oder Hochhäusern klettern. Deshalb ist es kein Zufall, dass diese Freizeitaktivitäten aus sich heraus die Tendenz entwickeln, in Indoor-Anlagen oder Freizeitzentren ausgeübt zu werden: Eine künstlich angelegte Kletterwand in einer Kletterhalle kann viel perfekter und funktionaler sein als jeder natürliche Felsen, und hier gibt es auch nie schlechtes Wetter. Damit werden die Alpen langfristig für diese Aktivitäten überflüssig. Als zweiter Aspekt fällt auf, dass die Alpen jetzt nicht mehr als gefährlich und als Angst auslösend erlebt werden. Das Gefühl der technischen Beherrschbarkeit der Natur, das in der Industriegesellscha noch einen fragilen Charakter hatte, ist nun völlig selbstverständlich geworden. Eng damit verbunden ist das Gefühl, dass die Alpen allein dazu da sind, um Freizeitbedürfnisse zu befriedigen, wozu sie tiefgreifend technisch umgebaut werden müssen – so etwas wie Respekt vor den Bergen erscheint jetzt als überholt und unzeitgemäß.
` 25 Neben den Aktiv-
sportarten ziehen auch große Events viele Besucher in die Alpen. Diese haben aber mit den Alpen nichts zu tun und könnten überall stattfinden. Hier die Besucher eines Konzerts der „Zillertaler Schürzenjäger“ in Finkenberg (Zillertal) im August 1996.
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DIE NATUR DER ALPEN
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__ 26 Dieses Bild zeigt anschaulich, wie breit die Gebirgsketten
der Alpen und wie schmal die Täler zwischen ihnen sind. Das Tal in der Bildmitte ist das Montafon (Vorarlberg) mit der Gemeinde Partenen, 1051 m (ganz vorn); in der Mitte hinten das Rätikon (September 2013).
Wenn wir die Alpen angemessen verstehen wollen, dann müssen wir uns von den drei Alpenbildern lösen, die in Kapitel 1 vorgestellt wurden und die jeweils eine bestimmte Sicht auf die Alpen verabsolutieren. Die Frage nach den zentralen Eigenschaen der Alpen beantworten zuerst die Naturwissenschaen (in diesem Kapitel), und deren Ergebnisse werden dann durch die Betrachtung der Alpen als Kulturlandscha im nächsten Kapitel ergänzt und erweitert. In naturwissenschalicher Perspektive gibt es sechs zentrale Aspekte, die die Natur der Alpen prägen: 1. Die Alpen – ein junges Hochgebirge: Als Hochgebirge besitzen die Alpen ein steiles Relief und eine so große Höhe, dass sie weit über die Baumgrenze hinaus aufragen und im Gipfelbereich teilweise vergletschert sind bzw. in den Eiszeiten in weiten Teilen vergletschert waren. Deshalb sind viele Landschasformen der Alpen deutlich glazial geprägt. Die Alpen sind ein junges Hochgebirge, weil der Prozess der Hebung immer noch andauert und dadurch die Abtragung sehr aktiv ist. Deshalb besitzen viele Grate und Gipfel scharfe und steile Formen, und die Schwerkra spielt bei den Bewegungen von Steinen, Eis, Schnee und Wasser eine wichtige Rolle. Als junges Hochgebirge sind die Alpen Teil des großen alpidischen Gebirgssystems, das von den Pyrenäen über den Balkan und Kleinasien bis zum Himalaya reicht. 2. Großlandschaen der Alpen: Das „Gesicht“ der Alpen wird durch die unterschiedlichen Gesteine geprägt. Stark vereinfacht gibt es vom nördlichen Alpenrand bis zum Kern der Alpen folgende Großlandschaen: Ein schmales Band mit weichen Gesteinen direkt am Alpenrand, die randlichen Kalkalpen, die Grauwackenzone und die harten Gesteine der Zentralalpen. Auf der Südseite der Alpen wiederholt sich diese Gliederung in umgekehrter Reihenfolge. 3. Wasser und Eis als Landschasgestalter: Während die „großen“ Landschasformen vom Ausgangsgestein geprägt werden, sind die Vielzahl der kleineren Formen
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Die Natur der Alpen
davon bestimmt, ob Wasser oder Eis für den Abtrag des Gebirges verantwortlich ist. Während fließendes Wasser und Frostsprengung scharfe Formen hervorbringen, schlei das Eis der Gletscher alle Kanten ab und führt zu abgerundeten und flacheren Landschasformen. Diese Unterschiede sind heute in den Alpen gut sichtbar. 4. Die Alpen als Regenfänger und Wasserspeicher: Weil die Alpen im Bereich der feuchten Westwindzone liegen, sind sie niederschlagsreich („Regenfänger“). Der Niederschlag fließt aber meist nicht sofort ab, sondern wird durch die großen Alpenrandseen, durch die winterliche Schneedecke und durch die Gletscher kürzer oder länger zurückgehalten und dann auf eine relativ gleichmäßige Weise abgegeben („Wasserspeicher“). Deshalb versorgen die Alpenflüsse das europäische Umland auch in trockeneren Jahren relativ gleichmäßig mit Wasser. 5. Die Vegetation der Alpen im Naturzustand: Bevor sich der Mensch in den Alpen einen Lebensraum schuf, waren sie nahezu überall mit einem dichten, geschlossenen Wald bestanden, und dieser Wald reichte auch viel weiter nach oben als heute. Dadurch sahen die Alpen im Naturzustand deutlich anders aus als heute, und sie wirkten viel dunkler und finsterer, als wir uns das heute spontan vorstellen würden. 6. Sprunghae Naturdynamik: Weil die Alpen ein junges Hochgebirge sind, für das starke Abtragungsprozesse in den oberen und Ablagerungsprozesse in den unteren Höhenstufen typisch sind, laufen viele dieser Prozesse mit großer Intensität ab und zeichnen sich durch einen plötzlichen oder sprunghaen Verlauf aus – Felssturz, Bergsturz, Lawine, Mure, Hochwasser. Es ist nicht richtig, diese Ereignisse als „Naturkatastrophen“ zu bezeichnen, weil sie für die Natur der Alpen keine Katastrophen, sondern den Normalfall bedeuten. Gerade jene Landschasformen der Alpen, die wir als typisch alpin bezeichnen, also steile Grate und exponierte Gipfel, verdanken ihre Entstehung dieser sprunghaen Naturdynamik. Mit diesen Eigenschaen eines jungen Hochgebirges sind die Alpen eine einzigartige Landscha, für die es in Europa nichts Vergleichbares gibt. Deshalb haben die Alpen in der europäischen Geschichte auch stets eine besondere Aufmerksamkeit erfahren.
a 27 Die Alpen als Hochgebirge mit einer typischen Wetter-
situation – einer Föhnmauer am Hauptkamm der Hohen Tauern (rechts in den Wolken der Gipfel des Scharecks, 3123 m, unten das Gasteiner Naßfeld in 1600 m Höhe). Diese Föhnmauer entsteht, wenn feuchte Lu von Süden her Richtung Alpen strömt. Das Gebirge zwingt die Lu
aufzusteigen, wodurch sie kühler wird und Wolken bildet, die sich abregnen. Am Alpenhauptkamm fällt die inzwischen trockene Lu wieder nach unten, wobei sie sich erwärmt und sich die Wolken auflösen. Bei einer solchen Wettersituation bildet sich über dem Hauptkamm o eine Wolkenmauer (September 2010).
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Die Alpen – ein junges Hochgebirge Die Afrikanische Kontinentalplatte drückt von Süden her auf die Europäische Platte. Im Kollisionsbereich, wo sich beide Platten ineinander verzahnen und wo sich die Afrikanische über die Europäische Platte schiebt, entstehen die Alpen als ein Gebirge aus mehreren parallelen Ketten. Da sich der Druck von Süden an den alten Gebirgen Zentralmassiv, Vogesen-Schwarzwald und Böhmisches Massiv staut, erhält dieses 1200 km lange Kettengebirge seinen bogenförmigen Verlauf. Und da der Druck im Westen wesentlich stärker als im Osten ist, sind die Westalpen deutlich schmaler (150 km) und höher (4800 m) als die Ostalpen (250 km breit, 4000 m hoch), und der östlichste Teil der Ostalpen erhält nicht einmal mehr einen Hochgebirgscharakter.
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Die Natur der Alpen
Weil die Hebung der Alpen nicht gleichmäßig abläu, sondern in einzelnen Hebungsphasen erfolgt, entsteht der „Stockwerksbau“ der Alpen: In den Hebungsphasen werden große Flächen mit flacherem Relief gemeinsam gehoben, dann lässt der Druck nach, und die Erosion beb 28 Die Alpen als Kettengebirge gesehen vom Gipfel
des Chasseral, 1607 m, im Schweizer Jura. Der Bildausschnitt zeigt die Berner Alpen mit (von links nach rechts) Wetterhorn, 3701 m, Schreckhorn, 4078 m, Finsteraarhorn, 4274 m, Eiger, 3970 m (das schwarze Dreieck), Mönch, 4099 m, und Jungfrau, 4158 m. Im Vordergrund der Bieler See, in der Mitte links Teile der Stadt Bern (März 1990).
a 29 Die Alpen wirken an vielen Stellen wie eine unüberwindbare
Mauer. Hier der Alpenhauptkamm im Bereich der Grajischen Alpen, vorn die Alp Gias Travet, 1734 m, im Val Grande der LanzoTäler (September 2014).
ginnt, die gehobenen Flächen abzutragen, aber bevor sie diese Flachreliefs komplett zerstören kann, setzt die nächste Hebungsphase ein. Die steilsten Gebiete der Alpen finden sich daher am Alpenrand und am Rand der großen inneralpinen Längstäler, und o trifft man – was viele Alpenbesucher verblüfft – gerade hoch oben im Gebirge auf ausgedehnte Hochebenen. Es sind heute entweder große Almflächen oder weite vergletscherte Gebiete. Der Charakter der Alpen als Kettengebirge führt dazu, dass sie von der Ferne bzw. von unten o wie eine „Mauer“ wirken, die unüberschreitbar erscheint (im Bild der Alpen als „montes horribiles“ wird dieser Aspekt ver-
a 30 Zwar werben viele Alpentäler stolz mit einem Matternhorn-ähn-
lichen Gipfel, aber markante Gipfelindividuen wie das Bietschhorn, 3934 m (Lötschental, Wallis), sind angesichts der sehr großen Zahl der Alpengipfel doch eher selten (September 2009).
absolutiert). Zum Kettengebirge gehört auch, dass die Gipfel einer Berggruppe, die aus dem gleichen Gestein aufgebaut sind, meist eine ähnliche Höhe und Form aufweisen, sodass sie – vor allem aus der Ferne – einen relativ gleichmäßigen Eindruck erwecken. Ausgesprochene „Bergindividuen“, also markante, isolierte Felsgipfel mit einer unverwechselbaren Form vom Typ „Matterhorn“ sind dagegen in den Alpen eher der Sonderfall: Sie entstehen nur dort, wo lokal härteres Gestein an der Oberfläche ansteht und das umgebende weichere Gestein bereits erodiert wurde, oder im Kulminationspunkt mehrerer scharfer Grate.
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a 31 Der Blick, der über die südlichen Cottischen Alpen von
Norden auf die Seealpen geht, zeigt anschaulich den Stockwerksbau der Alpen: Das weichere Gestein der Cottischen Alpen bildet sanere Formen mit weiten, von der Erosion noch nicht zerschnittenen Hochflächen im Bereich zwischen 2400 und 2600 m aus. Die Gneise und Granite der Seealpen dagegen führen zu einem steilen Relief mit einer Gipfelflur um 3000 – 3100 m. Rechts (mit Schneefeld) der Monte Matto, 3088 m, links davon die Argentera, 3286 m, der höchste Gipfel der Seealpen (September 1983)
Die Alpen bestehen jedoch keineswegs nur aus hohen Gebirgsketten mit weitläufigen Hochflächen. Zwischen und parallel zu ihnen gibt es große, lange und tiefe Längstäler, die durch die Gebirgsfaltung angelegt und in den Eiszeiten durch die damaligen Gletscher noch zusätzlich verbreitert wurden. Hier fließen die großen Alpenflüsse, die an wenigen Stellen die Gebirgsketten in Form von kurzen, steilen Quertälern zerschneiden und die dann die Alpen verlassen. An manchen Stellen erweitern sich diese Längstäler zu kleineren und größeren inneralpi-
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Die Natur der Alpen · Die Alpen – ein junges Hochgebirge
nen Becken, von denen das Klagenfurter Becken in Kärnten das größte der gesamten Alpen ist. Da die Alpen ein junges Hochgebirge sind, sind in den meisten Fällen die Gebirgsketten breiter als die Talräume dazwischen. Diese Längstäler spielen für das Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen eine zentrale Rolle, weil sie hier vergleichsweise günstige Verhältnisse vorfinden und sich dann von hier aus allmählich in die benachbarten Höhenlagen ausbreiten können. In den tiefen Lagen der Längstäler und der inneralpinen Becken gibt es häufig ein Relief, das dem von außeralpinen Regionen ähnlich ist. Die klassischen Alpenbildern rechnen diese Lagen nicht mehr zu den Alpen, weil ihnen hier die „alpine“ Dimension, also der Hochgebirgscharakter fehle. Dies ist jedoch nicht gerechtfertigt: Viele Prozesse des Hochgebirgsstockwerks wie Steinschlag, Bergsturz, Lawinen, Muren oder Hochwasser sind dank Relief und Schwerkra sehr eng und heig mit den tiefen Lagen verzahnt, und diese werden auch o durch hochgebirgsspezifische Klimasituationen geprägt. Deshalb müssen auch die tiefen Lagen eindeutig zu den Alpen als Hochgebirge gezählt werden.
a 32 Es gibt in den Alpen immer wieder
Stellen, an denen sich Täler auf Grund der Geologie und der Arbeit der eiszeitlichen Gletscher zu kleineren inneralpinen Becken weiten; hier das Becken von Bad Hofgastein, 800 m; im Hintergrund der Tauernhauptkamm (April 2018).
` 33 Da die Alpen noch ein junges Hochge-
birge sind, sind viele Täler vor allem im Oberlauf noch eng und schmal. Hier der Blick aus 2000 m Höhe auf das oberste Sesia-Tal, das im Kern der Monte-RosaGruppe entspringt (September 2015).
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Die Natur der Alpen · Die Alpen – ein junges Hochgebirge
a 34 Der Blick von oben auf das Mangfallgebirge im Bereich des Schliersees (vorn links) und des Tegernsees (Mitte rechts) zeigt deutlich, wie breit
die Bergmassive und wie schmal die Täler selbst am Alpenrand sind. Am Horizont die Zillertaler, Tuxer, Stubaier und Ötztaler Alpen (Juli 2010).
Großlandschaften der Alpen Jedem Alpenbesucher fällt auf, dass benachbarte Alpentäler einerseits sehr unterschiedlich aussehen können, andererseits weit voneinander entfernte Gebiete sich zum Verwechseln ähnlich sein können. Die Hauptursache für die unterschiedlichen Landschasformen der Alpen liegt im Gestein, während Unterschiede im Klima und in der Vegetation eine geringere Rolle spielen. Will man daher Großlandschaen voneinander abgrenzen, deren Landschasbild sich signifikant unterscheidet, so muss man sich an der Geologie und den Gesteinen orientieren. Auf Grund der extremen Vielfalt und Kleinräumigkeit der geologischen Struktur der Alpen können hier nur die vier wichtigsten Großlandschaen vorgestellt werden. Ihre Darstellung orientiert sich in etwa an einem Querschnitt von Norden nach Süden durch die Ostalpen entlang einer Linie von Salzburg nach Udine, also dort, wo die Geologie der Alpen relativ einfach und übersichtlich ausgeprägt ist. Der Alpenrand ist im Norden und im Süden unterschiedlich ausgebildet, weil der Druck der Kontinentalplatten von Süd nach Nord gerichtet ist. Am Nordrand der Alpen wurden in einer geologisch jungen Phase noch Gesteine randlich in die Alpenbildung einbezogen, die ursprünglich in den Alpen abgetragen und an den Rand der Alpen transportiert worden waren und dann erneut verfestigt und leicht aufgefaltet wurden. Deshalb findet sich am Nordrand der Alpen ein schmales Band mit re-
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Die Natur der Alpen
a 35 Der Nordrand der Alpen bei Bern: Blick vom hoch-
gelegenen Rande des Gürbetals aus etwa 900 m Höhe über das schmale Flysch-Band mit seinen weichen Gesteinen auf die erste Alpenkette, die Berner Voralpen, die aus Kalkstein bestehen. Der markante Gipfel links ist das Stockhorn, 2190 m, in der Bildmitte Nünenenflue, 2101 m, und Gantrisch, 2175 m, rechts der Ochsen, 2188 m (Mai 1995).
lativ weichen Gesteinen (Molasse, Flysch), das eine Höhe von 800 bis 1000 m erreichen kann und das einen Übergangsbereich zwischen dem Alpenvorland und dem eigentlichen Alpenraum darstellt. Dadurch ist es hier nicht einfach, eine klare Alpengrenze zu erkennen. Anders ist dagegen die Situation am Alpensüdrand: Im Zuge der Alpenauffaltung entstand hier ein großer und tiefer Trog, der allmählich mit Abtragungen aus den Alpen und dem Apennin aufgefüllt wurde und auch heute noch weiter aufgefüllt wird. Daher bilden die steil abfallenden Gesteinsschichten einen deutlichen Gegensatz zur fast waagerechten oberitalienischen Tiefebene, und man kann hier beinahe seinen Fuß von der Ebene auf die Alpen setzen. Überall, wo heute große Flüsse in kurzen Quertälern die Alpen verlassen und in den Eiszeiten große Gletscher bis weit ins Alpenvorland vordrangen, ist die randliche Alpenkette unterbrochen. Sowohl im Norden wie im Sü-
_ 36 Das südliche
Ende der Po-Ebene, die auf drei Seiten von den Alpen begrenzt wird, und deren Berge hier steil aus der waagerechten Ebene aufsteigen. Vorn die Cottischen Alpen, hinten und am rechten Rand die Ligurischen Alpen, und in der Po-Ebene links die Stadt Cuneo und rechts am Gebirgsrand die Kleinstadt Borgo San Dalmazzo (August 2010).
` 37 Der Nordrand der Alpen mit
dem kurzen Aare-Quertal. Der eiszeitliche Aare-Gletscher hat dieses Quertal verbreitert und den Thuner See, 558 m, geschaffen. Hier kann man gut den Übergang von den Alpen ins Alpenvorland erkennen: Das tief eingeschnittene Tal hinter dem See etwas rechts von der Bildmitte ist das Justis- Tal, das auf der linken Seite vom Sigriswilgrat (Sigriswiler Rothorn, 2034 m) und auf der rechten Seite vom Güggisgrat (Gemmenalphorn, 2067 m, beide Kalkalpen) begrenzt wird. Am nördlichen Fuß des Sigriswilgrates schließt sich das schmale Flysch-Band an, und es beginnt die voralpin geprägte Hügellandscha des Emmentals (Oktober 1989).
den der Alpen gibt es an diesen Stellen große oder kleinere Alpenrandseen mit länglichen Formen, die nach außen hin durch große Endmoränenwälle begrenzt werden. Am Ende der letzten Eiszeit waren diese Seen sehr
viel größer – der Bodensee reichte damals fast bis nach Chur, der Genfer See bis nach Martigny –, aber sie werden seitdem immer mehr zugeschüttet und in einigen Tausend Jahren ganz verschwunden sein.
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_ 38 Das Gestein der Kalkalpen bildet sehr o senkrechte
Felswände aus so wie hier in der Engstelle „Le Barricate“ im Tal der Stura di Demonte (Cottische Alpen); die Felswände besitzen hier eine Höhe von 700 Metern (August 2012).
de ausbildet. Weil das schnell versickernde Wasser meist unterirdisch abfließt und erst am Fuß der Felsen in starken Karstquellen ans Tageslicht tritt, kann sich nur dort ein Boden bilden, wo die eiszeitlichen Gletscher Moränenmaterial hinterlassen haben. Deshalb sind die Kalkalpen großflächig mit wenig Vegetation bedeckt (die „bleichen Berge“) und stellen für Pflanzen, Tiere und Menschen einen sehr schwierigen Lebensraum dar. Dort, wo die Kalkalpen große Hochflächen wie z. B. im Steinernen Meer oder im Toten Gebirge ausbilden, finden sich die lebensfeindlichsten Gebiete der gesamten Alpen. Auf Grund dieser Eigenschaen und weil es hier häufig hohe senkrechte Wände gibt, stellen die randlichen Kalkalpen einen Trennraum dar, der das Alpeninnere zum Alpenvorland hin regelrecht abriegelt: Die senkrechten Felswände sind auf direktem Weg fast nirgendwo einfach zu überschreiten, und die kurzen Quertäler, die sie zerschneiden, sind häufig eng und schluchtartig. Und in den wenigen Fällen, wo die eiszeitlichen Gletscher diese Durchbrüche stark geweitet haben wie z. B. an Inn, Rhein oder Rhône, grenzen die steilen Felswände direkt an versumpe Talauen. Die Alpen empfangen also die Menschen, die von außerhalb kommen, mit einer besonders extremen Landscha, die entweder Schrecken oder Begeisterung auslöst, aber selten einfach bloß „neutral“ wirkt.
Die Kalkalpen folgen auf das schmale Band mit weichen Gesteinen als zweite Großlandscha der Alpen, und sie bilden fast überall hohe Gebirgsketten, die von außerhalb der Alpen gut zu sehen sind. Sie fehlen lediglich am Alpeninnenbogen zwischen Biella und Cuneo (Piemont) und am Südostrand zwischen Wien und Graz. Auf Grund ähnlicher Gesteinsqualitäten bieten die weit voneinander entfernten Nördlichen und Südlichen Kalkalpen ein sehr ähnliches Landschasbild. Kalkstein ist ein wasserlösliches Gestein, das nur langsam verwittert und dabei sehr o senkrechte Wän-
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Die Natur der Alpen · Großlandschaften der Alpen
` 39 Kalksteine wiesen o deutliche Schichtungen auf,
und sie prägen häufig als lange Kalkbänder die Landscha, so wie hier am Col du Pillon in 2000 m Höhe in den Berner Alpen (September 2006). ` 40 Weil Kalkstein wasserlöslich ist, bilden sich immer
wieder durch die Erosion besonders bizarre Felsformationen, so wie hier in 2100 m Höhe im Soana-Tal in der Gran Paradiso-Gruppe (August 2012).
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Die Grauwackenzone ist die dritte Großlandscha, die auf die Kalkalpen folgt. Sie wird in den Alpen sehr unterschiedlich benannt, und ihre Berge werden im Dialekt o als „Grasberge“ bezeichnet. Die Gesteine sind weich und zerfallen relativ schnell, sodass sie gute und tiefgründige Böden ausbilden, die jedoch stark erosionsgefährdet sind. Deshalb sind die Gipfelhöhen hier deutlich niedriger als in den Kalkalpen, die Hangneigungen sind eher moderat und das Ödland, also vegetationsfreie Felsen und Schutthalden nehmen einen geringen Flächenanteil ein. Zusätzlich haben sich hier die großen Alpenflüsse in Längsrichtung des Gebirges eingegraben und mit ihren Wassermassen bzw. in den Eiszeiten die Gletscher mit ihren Eismassen die Abtragung besonders stark gefördert, so dass breite und weite Täler entstanden sind. Da sich an den Stellen, an denen die großen Flüsse ihre Richtung abrupt ändern und als Quertäler die Kalkalpen durchbrechen, die weichen Gesteine dieser Großlandscha fortsetzen, besitzen die Zwischenräume zwischen den großen Längstälern niedrige Berge und relativ tiefe Pässe, so dass sie eine gute Durchgängigkeit ermög-
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Die Natur der Alpen · Großlandschaften der Alpen
a 41 Dieser Blick aus dem Alpeninneren, aus dem Gastei-
ner Tal, zeigt deutlich die landschalichen Gegensätze zwischen den steilen Kalkalpen (links das Steinerne Meer, rechts das Tennengebirge, dazwischen das Salzach-Quertal) und den sanen Formen der „Grasberge“. Im Bereich der „Grasberge“ gibt es immer wieder kleine Gebiete mit härterem Gestein, die Felsrippen ausbilden (wie im Vordergrund des Bildes), aber diese sind nicht landschasbestimmend (September 1986).
lichen. Dies erleichtert den Austausch von Pflanzen und Tieren zwischen den großen Längstälern im Alpeninneren stark. Dieser Bereich der weichen Gesteine zwischen den randlichen Kalkalpen und den kristallinen Gesteinen der Zentralalpen stellt den Kernraum der menschlichen Siedlung und Nutzung in den Alpen dar. Hier ist die landwirtschaliche Bevölkerungsdichte dank weitläufiger tieferer Lagen und guter Bodenbildung so hoch, dass sich in den Längstälern – und im gesamten Alpenraum fast nur hier – Städte entwickelt haben. Und nicht zufäl-
lig liegen hier auch die Kernräume der Alpenterritorien wie Tirol, Wallis oder Graubünden. Weil diesen Gebieten o der schroffe alpine Landschascharakter fehlt, werden sie – gerade aus touristischer Perspektive – immer wieder aus den „richtigen“ Alpen ausgeschlossen. Aus naturräumlichen und geschichtlichen Gründen ist dies jedoch eindeutig falsch – diese Gebiete sind ein zentraler Teil der Alpen.
a 42 Die Salzach-Längstalfurche ist im Pinzgau (Salzburg)
breit ausgebildet, und man kann gut erkennen, wie die Schwemmkegel der Seitenbäche die Salzach an das eine oder andere Ufer drücken. Im Vordergrund die Gemeinde Niedernsill, 769 m, im oberen Bilddrittel die Gemeinde Bruck an der Großglocknerstraße, wo es nach links zum Zeller See abgeht. Hinten links das Steinerne Meer, ganz hinten der Dachstein (November 2015).
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_ 43 Die große Längstalfurche
der Rhône setzt sich über den Furkapass, das Urseren-Tal und den Oberalppass ins Vorderrheintal fort und erleichtert so den Austausch zwischen diesen Räumen. Hier geht der Blick vom Oberalppass über das Urseren-Tal in Richtung Furkapass; rechts der Dammastock, 3630 m (Juni 2005).
a 44 Der Großglockner, 3798 m, in den Hohen Tauern ist der Kulminations-
punkt eines Bergmassivs, das aus Gneisen und Graniten besteht. Dieses Gestein bildet häufig lange „Sägezahngrate“ und sehr steile, aber fast nie senkrechte Felswände aus (September 1986).
Als letzte Großlandscha befindet sich im Zentrum der Alpen – eingeschlossen vom Gebiet der weichen Gesteine auf beiden Seiten im Norden und im Süden (bzw. in den Südwestalpen im Westen und Osten) – ein Gebiet mit besonders harten Gesteinen, die der Abtragung einen sehr großen Widerstand entgegensetzen. Diese bilden von den Hohen Tauern im Osten bis hin zu den Seealpen im Südwesten ein durchgehendes breites Gesteinsband, das den Alpenhauptkamm aufbaut. Nur im Osten der Ostalpen (Niedere Tauern bis Wienerwald) und in den Ligurischen Alpen fehlen diese Gesteine, und der Alpenhauptkamm besteht hier aus Kalksteinen. Diese harten Gesteine der Zentralalpen sind meist Gneise und Granite, die nur langsam verwittern und die deshalb die höchsten Gipfel der Alpen bilden. Auch
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Die Natur der Alpen · Großlandschaften der Alpen
wenn diese Alpenregion sehr abweisend aussieht, so ist sie weniger steril als die Kalkalpen: Das Wasser fließt oberirdisch ab, sodass weite, wasser- und vegetationslose Hochflächen fehlen, das Relief ist zwar steil, aber nie senkrecht, und die Bodenbildung läu zwar langsam ab, aber gibt es viele Böden mit einer schütteren Vegetation. Die starke Vergletscherung während der Eiszeiten hat viele zuvor schmale Scharten zu breiten Pässen gemacht und viele enge Täler verbreitert, und viele Moränenreste in den Tälern, an den Hängen und im Bereich der Almen ermöglichen o eine gute Bodenentwicklung. Daher ist diese Alpenregion trotz der schwierigen Rahmenbedingungen – große Seehöhe, hohe Niederschläge, steiles Relief – ein wichtiger Lebensraum für Pflanzen und Tiere, der auch von Menschen recht gut nutzbar ist. Der Gegensatz zwischen einem abweisenden und feindlichen Landschasbild und seiner Funktion als Lebensraum ist in der Großlandscha der Zentralalpen am stärksten ausgeprägt. Während die Bilder der „montes horribiles“ o von den Kalkalpen am Alpenrand bestimmt wurden, be-
a 45 Das Monte-Rosa-Massiv bildet wegen seines harten
Gesteins den zweithöchsten Alpengipfel, und auf den Verebnungsflächen haben sich auf Grund der Höhe Gletscher gebildet. Hier der Ventina-Gletscher und ganz rechts der Torrione di Verra, 3738 m (August 2017). 46 Der Bergeller Granit bildet auf Grund seines ex`
trem harten Gesteins besonders steile Formen aus; beides macht ihn bei Kletterern sehr beliebt. Rechts der Pizzo Badile, 3308 m, links der Pizzo Cengalo, 3370 m (Juli 2017).
zieht sich die touristische Wahrnehmung der Alpen als schrecklich-schöne Landscha meist auf die Zentralalpen und auf die hier liegenden höchsten Gipfel der Alpen. Und weil diese Alpenregion auf städtische Besucher so nutzungsfeindlich wirkt, meinen die meisten, sie seien hier in einer Urlandscha, in einer unberührten und unveränderten Natur. Das nächste Kapitel wird zeigen, dass dies ein Irrtum ist.
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Wasser und Eis als Landschaftsgestalter Die Qualität der Gesteine ist der bestimmende Faktor für Relief und Landschasbild in den Alpen. Die damit verbundenen Reliefformen werden jedoch durch die Abtragungsprozesse permanent modifiziert. Die beiden wichtigsten Kräe, Wasser und Eis, bringen dabei unterschiedliche Formen hervor: Wasser arbeitet in einem jungen Hochgebirge aus dem Fels scharfe Formen heraus, das Eis dagegen schlei Kanten und Ecken ab und führt zu gerundeten und flacheren Formen.
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Die Natur der Alpen
a 47 Die Abtragung eines Bergrückens durch fließendes
Wasser in den Berner Alpen bei Frutigen führt zur Herausbildung von Gräben mit scharfen Reliefstrukturen (August 1982).
Während das Wasser lange Zeit der entscheidende Faktor der Reliefveränderungen war und diese Rolle seit 10 000 Jahren erneut spielt, war das Eis in Form
von Gletschern in den verschiedenen Eiszeiten die dominierende Kra. Trotzdem ist die eiszeitliche Prägung der Landscha in den Alpen heute noch gut zu sehen: Da das Wasser seit dem Ende der letzten Eiszeit die Oberflächenformen der harten Gesteine erst wenig verändern konnte, ist der eiszeitliche Formenschatz hier noch gut sichtbar. Anders dagegen sieht es bei den weichen Gesteinen aus, die dem Wasser wenig Widerstand entgegensetzen; hier sind die eiszeitlichen Formen heute stark verwischt und manchmal sogar ganz verschwunden. Das Wasser prägt das alpine Relief in Form der Frostsprengung sowie in Form der Erosionskra des fließenden Wassers. Frostsprengung beruht auf der physikalischen Eigenscha, dass Eis ein um 10 Prozent größeres Volumen als Wasser besitzt. Alle Felsen enthalten mehr oder weniger zahlreiche Felsspalten, Risse und Ritzen, in die ange-
_ 48 Frostsprengung hat dafür gesorgt, dass sich am Fuß
der Felswände der Rocca la Meia, 2831 m, in den Cottischen Alpen große Schutthalden gebildet haben, die im Untergrund ganzjährig durch gefrorenes Wasser (Permafrost) zusammengehalten werden. Wenn der Permafrost im Zuge der Klimaerwärmung auaut, dann werden diese Schutthalden mobil und können bis in tiefe Tallagen transportiert werden (September 2016).
a 49 Der Wasserfall der Gasteiner Ache mitten im Zentrum von Bad Gastein
macht sehr anschaulich deutlich, welche Gewalt fließendes Wasser besitzen kann, wenn große Wassermengen über einen felsigen Abhang stürzen (Mai 2015). a 50 Der Torrente Germanasca überwindet einen Kalksteinriegel in den Cotti-
schen Alpen in Form eines Wasserfalls, der Cascata del Pis (2150 bis 1750 m). Wegen der Härte des Gesteins steht die Ausbildung einer Schlucht am Beginn des Wasserfalls erst am Anfang (Juni 2015).
sichts der hohen Niederschläge in der Gipfelregion ständig Wasser eindringt, das später gefriert und dabei kleine Felsstücke absprengt. Dieser Prozess wirkt dann besonders stark, wenn das Wasser regelmäßig nachts friert und am Tag wieder auaut. Dadurch werden die Felsen allmählich abgetragen und an ihrem Fuß entstehen große Schutthalden, die größere Flächen bedecken können. Die Erosionskra des Wassers beruht nicht nur darauf, dass das fließende Wasser Gesteins- und Bodenpartikel losreißt, sondern auch darauf, dass im Wasser viele Gesteine mitgeführt werden, die auf dem Untergrund und an den Ufern reiben und schleifen und ihn dadurch erodieren: Je größer die Menge der mitgeführten Steine, desto größer die Erosionskra eines Gewässers. Sie ist am stärksten, wenn Bäche und Flüsse Hochwasser führen und besonders viel Material mit sich reißen.
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a 51 Eine Steinschlag- und Lawinenrinne in den zentralen Seealpen
(Sant’ Anna-Seitental mit Rocca Bravaria, 2550 m), die lockeres Gesteinsmaterial und Schnee aus dem Hang- und Gipfelbereich direkt ins Tal, 1700 m, transportiert. Am Fuß der Rinne ist gut zu erkennen, dass der Wildbach einen Teil des hier abgelagerten Materials bereits weiterverfrachtet hat (Umlagerung), demzufolge eine deutliche Geländestufe entstanden ist (August 1986).
Typisch für Hochgebirge ist es, dass die oberen und unteren Bereiche eng miteinander verzahnt sind, wobei die Schwerkra die zentrale Rolle spielt. Dies führt zu den Landschasformen Steinschlag-/Lawinenrinne und Schwemmkegel, die zu den charakteristischen Formen eines Hochgebirges gehören und die man auch in den Alpen überall sehen kann.
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Die Natur der Alpen · Wasser und Eis als Landschaftsgestalter
Aufgrund der Geländeform sammelt sich das aus Felswänden herausgesprengte Gesteinsmaterial o in einer Rinne, von wo es entweder sofort talwärts rollt oder später von Hochwässern oder Lawinen ins Tal transportiert wird. Ein Seitenbach mit einem starken Gefälle bildet beim Aureffen auf das Haupttal einen größeren Schwemmkegel aus: Solange das Wasser dank der Steilheit schnell fließt, kann es viel Material mit sich führen. Wenn der Bach aber auf das Haupttal trifft und das Relief flach wird, werden die mitgeführten Materialien abgelagert, so dass ein größerer oder kleinerer Schwemmkegel entsteht, dessen Boden in der Regel besonders fruchtbar ist. Deshalb sind Schwemmkegel besonders bevorzugte Siedlungsplätze für die Menschen, und es gibt nicht sehr viele, die völlig unbesiedelt sind.
_ 52 An der Stelle, an der ein kleiner, steiler Seitenbach ins fla-
che Haupttal mündet, verringert sich sein Gefälle abrupt, sodass das im Wasser mitgeführte Material abgelagert wird. Dadurch entsteht ein Schwemmkegel mit einer konischen Form, der ab einer gewissen Größe den Hauptfluss an den Gegenhang drückt. Hier ein Schwemmkegel in etwa 1350 m Höhe im Rhônetal bei Ulrichen (Goms/Oberwallis) (August 1986).
a 53 Sehr hochgelegene Alpenregionen sind heute noch
stark vergletschert. Hier der Blick von der Fuorcla Surlej, 2755 m, auf das Bernina-Massiv: Links Punta Tschierva, 3546 m, dann Piz Morteratsch, 3751 m, Piz Bernina, 4049 m (mit dem berühmten Biancograt), Piz Scerscen, 3971 m, und rechts Piz Roseg, 3937 m. Vorn im Bild vom Gletscher glattgeschliffene Felsen (September 2008).
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a 54 Die stark von Gletschern geprägte Region der zen-
tralen Grajischen Alpen mit den Gipfeln la Grivola, 3969 m (links), und Gran Paradiso, 4061 m (halbrechts), sowie der Monte-Rosa-Gruppe (Mitte links ganz hinten). Die Gletscher fließen von den Gipfeln oder Graten abwärts und enden in etwa 2800 m Höhe, aber es lassen sich im Gelände (gleichmäßig abgeschliffene Hangstücke) noch gut die Spuren der eiszeitlichen Gletscher erkennen, die bis in das Tal in der Bildmitte (Piano di Nivolet, 2400 m) geflossen sind und es zu einem U-Tal umgeformt haben. Seit der Aufnahme dieses Bildes (September 1978) sind die Gletscher weiter stark zurückgeschmolzen.
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Die Natur der Alpen · Wasser und Eis als Landschaftsgestalter
Für Menschen, die die Alpen nicht kennen, zählen die Gletscher zu den eindrücklichsten Erscheinungen der Alpen. Gletschereis entsteht, wenn frisch gefallener Schnee nicht schmilzt, sondern sich zuerst zu Altschnee, später zu körnigem Firn verdichtet. Wenn auf diesen Firn weiterer Schnee fällt, wandelt er sich im Laufe von 10 bis 15 Jahren durch Druck in Gletschereis um, das auf geneigtem Untergrund allmählich zu fließen beginnt und so weit talwärts fließt, bis es taut. Eine der typischsten, durch Gletscher geschaffenen Felsformen ist das Kar: In einer Felswand bleibt auf einem kleinen Vorsprung Schnee liegt, der allmählich zu Eis wird. Im Grenzbereich von Eis und Fels ist der Fels stets gut durchfeuchtet, so dass die Frostsprengung be-
a 55 Ein typisches Kar auf der Nordseite des Wildhorns,
3248 m, in den Berner Alpen. Auf dem ebenen Karboden liegt die Alm Chüetungel, 1786 m (September 2006).
sonders gut wirken kann. Dadurch „frisst“ sich der Gletscher quasi in den Fels hinein, wodurch allmählich eine sesselförmige Hohlform entsteht, die Kar genannt wird. Weil das fließende Eis diese Hohlform weiter vergrößert, bildet sich am Boden des Kars o eine Eintiefung, die durch eine abgerundete Karschwelle abgeschlossen wird und in der nach Abschmelzen des Gletschers o ein Karsee übrig bleibt. Die Alpen sind voll von solchen Karen, die in den Eiszeiten entstanden und die heute eisfrei sind.
a 56 Die eiszeitlichen Gletscher zerlegen Alpentäler
o in eine Abfolge von Steilstufen und flachen Talabschnitten. Die letzteren sind heute o gut nutzbare Almgebiete, oder hier liegen – so wie hier (Lacs de Vens in den französischen Seealpen) – mehrere Seen übereinander (Juli 2004).
Viele Kare dienen seit langem der Almwirtscha, und die Karseen sind leicht von der Elektrizitätswirtscha zu nutzen, da man durch einen kleinen Staudamm schnell ihr Fassungsvermögen vervielfachen kann. Und nicht zuletzt sind Karseen sehr beliebte Ziele von Bergwanderungen, an deren Ufern gern Schutzhütten errichtet wurden.
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a 57 Da die eiszeitlichen Gletscher in der Nähe des Alpenrandes mehr
als 1000 m Mächtigkeit erreichen konnten, haben sich an diesen Stellen besonders tiefe und breite Trogtäler ausgebildet, so wie hier am Alpensüdrand zwischen Lugano und Como. Unten der Luganer See, 271 m, mit der Gotthard-Autobahn (September 1993).
Fließendes Wasser gräbt sich im Laufe der Zeit immer stärker in den Untergrund ein; da die seitlichen Hänge nachrutschen, entsteht auf diese Weise ein Kerbtal oder V-Tal. Wenn ein Gletscher durch ein solches Tal fließt, dann wandelt er es in ein Tal mit einem breiten Talboden und mit senkrechten (Fels-)Wänden um, also in ein Trogtal oder U-Tal. In den Eiszeiten wurden nahezu alle Täler der Alpen in Trogtäler umgewandelt, und diese eiszeitlichen Formen kann man heute noch an zahlreichen Stellen sehr klar erkennen; sie sind die Ursache dafür, dass die Talböden der großen Alpentäler nicht eng und steil, sondern breit und eben sind. Nur an Stellen, wo weiches Gestein vorherrscht, sind diese Trogtalformen heute verwischt. Solange ein Gletscher durch ein Trogtal fließt, erodiert er nicht nur seinen Untergrund, sondern auch die
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Die Natur der Alpen · Wasser und Eis als Landschaftsgestalter
`58 Das Lengtal westlich des Nufenen-Passes in den Le-
pontinischen Alpen (Talboden bei 2000 m, Trogschulter bei 2400 m) ist ein klassisches U-Tal, das vom fließenden Wasser erst wenig überprägt wurde. Direkt unterhalb dieses U-Tales ist erkennbar, wie das fließende Wasser bereits ein enges und steiles V-Tal geschaffen hat, das in geologisch kurzer Zeit dieses Trogtal zerstören wird (August 2017).
beiden seitlichen Wände, die er jedoch gleichzeitig durch sein Eisvolumen auch stabilisiert. Verschwindet der Gletscher jedoch auf Grund einer Klimaerwärmung, dann fehlt den beiden Wänden ihr Widerlager, und es gibt zahlreiche Felsstürze aus diesen sehr steilen und instabilen Felswänden, und es bilden sich große Schutthalden zu ihren Füßen. Diese Prozesse waren am Ende der letzten Eiszeit, als die Gletscher stark zurückschmolzen, sehr häufig; aber sie spielen bis heute eine wichtige Rolle als Auslöser für Fels- und Bergstürze.
_ 59 Gletscher enden nor-
malerweise mit einem großen Gletschertor, aus dem das unter dem Eis abfließende Schmelzwasser herauskommt. Hier das Gletschertor des Langgletschers im Lötschental/Wallis, das heute in 2100 m Höhe liegt. Weil das Eis sehr viel mitgeführten Schutt enthält, besitzt es eine graue Färbung. Seit 1850 ist der Langgletscher um einen Kilometer kürzer geworden (September 2009).
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Die Gletscher der Alpen sind der eindrücklichste und zugleich auch anschaulichste Beleg für die Klimaerwärmung der letzten 150 Jahre, den es in Europa gibt. Die Alpengletscher haben schon immer auf Klimaveränderungen reagiert, indem sie vorstießen, wenn es kälter wurde, und zurückschmolzen, wenn es wärmer wurde. Ihre permanenten Längenveränderungen machen deutlich, dass es in den letzten zehntausend Jahren nie eine stabile Klimasituation gab, sondern dass das Klima stets zwischen etwas wärmeren und etwas kälteren Phasen hin und her pendelte. Wenn Gletscher vorstoßen, transportieren sie in ihrem Eis große Mengen an Schutt und Gestein. Da das Eis an der Gletscherstirn und an beiden Seiten permanent schmilzt und durch neues Eis ersetzt wird, konzentriert sich hier der im Eis enthaltene Schutt, und es bilden sich lange und hohe Schuttbänder aus, die Moränen genannt werden. Schmilzt der Gletscher wieder zurück, bleiben diese Moränen stehen und belegen, wie weit er einmal vorgestoßen ist.
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Die Natur der Alpen · Wasser und Eis als Landschaftsgestalter
Ihren maximalen Stand erreichten die Gletscher um das Jahr 1860 herum, also am Ende der sog. „Kleinen Eiszeit“, die vom 15. bis zum 19. Jahrhundert dauerte. Dieser Gletscherstand ist auch von Laien gut zu erkennen, weil die Moränen von 1860 auf Grund ihrer Steilheit und des fehlenden Bewuchses heute im Gelände nicht zu übersehen sind. Zahlreiche Gemälde und Stiche bilden seit 1760 die vorstoßenden Gletscher ab, und das neue Medium Fotografie liefert in der zweiten Häle des 19. Jahrhunderts zahllose Dokumentationen der damaligen Gletscherstände, so dass wir heute über die Situation der Alpengletscher sehr genau Bescheid wissen. Sehr besorgniserregend ist das besonders schnelle Abschmelzen der Gletscher seit dem Jahr 2000, für das es in der Geschichte offenbar nichts Vergleichbares gibt. Dadurch werden die Hochlagen der Alpen erheblich verändert, und diese Geschwindigkeit ist ein eindeutiger Hinweis auf eine menschlich verursachte Klimaerwärmung.
_ 60 Die steilen und noch unbewachse-
nen Seitenmoränen des Verra-Gletschers (Ayas-Tal) in 2300 m Höhe auf der Südseite des Monte-Rosa-Massivs. Sie stammen aus dem Jahr 1860, als der Gletscher in 2200 m Höhe endete. Heute endet er in 2700 m Höhe und zieht sich immer weiter zurück (August 2017).
b 61 Der Griessee, 2386 m, mit dem Griesgletscher (Ober-
wallis) in den Lepontinischen Alpen. Bis Ende der 1950er Jahre war der Standort dieses Fotos eisbedeckt, und es gab keinen See. Erst Anfang der 1960er Jahre entstand der Griessee durch Zurückschmelzen des Gletschers, und 1966 wurde er durch eine Staumauer zum Zweck der Stromgewinnung deutlich vergrößert. Noch 1986 reichte der Gletscher bis in den See, seitdem zieht er sich immer weiter zurück (August 2017).
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Die Alpen als Regenfänger und Wasserspeicher Wasser in jeder Form, also als Gletscher, Schnee, Bach, Fluss oder See, ist ein zentrales Element der Alpenlandscha, ja, wir können uns die Alpen ohne Wasser gar nicht vorstellen. Diese Erfahrung hat das europäische Bild vom Hochgebirge so tief geprägt, dass wasserarme, trockene Hochgebirge – wie es sie in Vorderasien oder in Australien gibt – für uns gar keine „richtigen“ Gebirge sind. Die Alpen sind ein niederschlagsreiches Gebirge, weil sie im Bereich der Westwinde liegen, die über dem Atlantik oder dem Mittelmeer große Mengen an Feuchtigkeit aufnehmen. Stoßen feuchte Winde auf ein Hochgebirge, so werden sie zum Aufsteigen gezwungen, wobei sie sich abregnen. Deshalb sind Gebirge in der Westwindzone „Regenfänger“, also Gebiete mit stark erhöhtem Niederschlag. Da die Alpen im Übergangsbereich zwischen der kühl-gemäßigten und der mediterranen Klimazone liegen, erhält die Nordabdachung der Alpen ganzjährig Niederschläge, während die Südwest- und Südalpen im Frühjahr und Herbst ihre Niederschlagsmaxima aufweisen und sommertrocken sind. Die tiefen Lagen der inneralpinen Längstäler sind dagegen ganzjährig trocken,
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Die Natur der Alpen
aber ihre Wasserläufe werden durch Gletscher gespeist, so dass es auch hier Wasser gibt. Die große Bedeutung des Wassers in den Alpen hängt jedoch nicht nur von den hohen Niederschlägen ab, sondern auch von der Eigenscha eines Hochgebirges, Wasser zu speichern und erst verzögert abfließen zu lassen. Als kurzfristiger Wasserspeicher wirken zahlreiche Seen und die großen Schotterkörper in den Haupttälern, wobei besonders die großen Alpenrandseen Hochwasserspitzen einige Tage lang dämpfen können. Als mittelfristiger Wasserspeicher fungiert der Schnee, weil durch ihn alle Niederschläge von November bis zum Frühling/Frühsommer in den Alpen zurückgehalten werden. Der langfristige und wichtigste Wasserspeicher sind die Gletscher, in denen so viel Wasser gespeichert ist, wie im Alpenraum in etwa einem Jahr fällt. Weil Gletscher das Schmelzwasser relativ gleichmäßig abgeben, werden dadurch die Niederschlagsschwankungen mehrerer Jahre ausgeglichen. Deshalb versorgen die Alpen das europäische Umland auch in trockenen Jahren relativ gleichmäßig mit Wasser.
_ 62 Seen gehören zu den
kurzfristigen Wasserspeichern, besonders wenn sie so klein sind wie dieser See am Col de Voré in 1900 m Höhe (westliche Berner Alpen). Wie viele andere flache Seen verlandet auch dieser See langsam (September 2006).
` 63 Der Lac du Basto,
2331 m, in den französischen Seealpen im Valmasque-Tal ist als hoch gelegener Karsee o bis in den Juli hinein zugefroren. Hier beginnt er Anfang Juli gerade aufzutauen, aber es wird noch einige Zeit dauern, bis er völlig eisfrei sein wird (Juli 1978).
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a 64 Obwohl der Bach, der in diesen Karsee fließt, nur ein
kleines Einzugsgebiet besitzt, hat er im See bereits ein größeres Delta geschaffen, und er wird ihn in absehbarer Zeit ganz zuschütten (Lago Bleu, 2523 m, mit Roc Niera, 3177 m, in den Cottischen Alpen im Varaita-Tal).
65 Der Karsee Lago soprano della Sella, 2329 m, in den `
italienischen Seealpen im Gesso-Tal wird erst Anfang Juli allmählich eisfrei. Im Hintergrund die Rocca di Valmiana, 3006 m (Juli 1979).
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Die Natur der Alpen · Die Alpen als Regenfänger und Wasserspeicher
Trotz des relativ gleichmäßigen Wasserabflusses aus den Alpen gibt es immer wieder Extremereignisse: Wenn Ende Juni oder in der ersten Julihäle bei einem Wärmeeinbruch die Null-Grad-Grenze schnell auf 3500 m ansteigt und gleichzeitig starker Niederschlag als relativ warmer Regen auf die noch geschlossene Schneedecke im oberen Höhenstockwerk fällt, dann fallen Schneeschmelze und Regenabfluss zusammen und führen zu heigen Hochwassern. Das passiert zwar nicht jedes Jahr, aber doch mit gewisser Regelmäßigkeit. Die Seen der Alpen entstanden am Ende der letzten Eiszeit, als die Gletscher abschmolzen und an sehr vielen Stellen übertiee Becken und Moränen zurückließen. Im oberen Stockwerk der Alpen bildeten sich dabei eher kleinere Seen, in den tiefen Lagen größere Seen, und die allergrößten Seen entstanden am Alpenrand, wo die Gletscher am mächtigsten gewesen waren (der Genfersee als der größte Alpensee). Die Prozesse der Erosion bewirken jedoch, dass selbst sehr tiefe Seen allmählich zugeschüttet werden, sei es durch Steinschlag und Felssturz, sei es durch fließendes Wasser und durch das von ihm mittransportierte Material. Flache Seen, die nicht zugeschüttet werden, weil sie keinen Zufluss haben, verlanden dagegen allmählich. Zahlreiche Seen sind heute bereits verschwunden, und sie sind nur noch an der ebenen Geländeoberfläche zu erkennen – wenn es in den Alpen irgendwo eine ausgeprägt waagerechte Oberfläche gibt, dann handelt es sich praktisch immer um einen ehemaligen See. Die größten Seen der Alpen, die Alpenrandseen, haben seit dem Ende der letzten Eiszeit meist schon die Häle ihrer Fläche eingebüßt: Der Bodensee reichte ursprünglich bis Chur, der Genfersee bis Martigny, und Thuner- und Brienzer See wurden erst im frühen Mittelalter durch den Schwemmkegel der Lütschine voneinander getrennt, während der gemeinsame See ursprünglich bis Meiringen hinauf reichte. Wenn man weiß, dass seit dem Ende der letzten Eiszeit erst 10 000 Jahren vergangen sind, dann kann man davon ausgehen, dass die Alpenrandseen in etwa 15 000 Jahren vollständig verschwunden sein werden. Im Gegensatz zu vielen anderen Formen des Hochgebirges sind die Alpenseen, erdgeschichtlich betrachtet, ein flüchtiges und kurzlebiges Landschaselement.
Die Vegetation der Alpen im Naturzustand Wenn wir an die Alpen denken, dann erscheint automatisch eine offene Landscha vor unseren Augen: Im Talbereich liegen Dörfer und Höfe inmitten von großen Wiesen und Weiden, darüber gibt es an den Hängen Wälder und Weiden, und oben erstrecken sich die von Tieren genutzten Almweiden. Spontan gehen wir davon aus, dass dies – mit Ausnahme der Dörfer und Gebäude – auch der Naturzustand der Alpen sei. Dies ist jedoch falsch, denn im Naturzustand waren die Alpen fast vollständig bewaldet, und die offene Landscha, die uns so natürlich erscheint, ist erst das Ergebnis menschlicher Rodungen. Im unteren Bereich war der Wald nahezu flächenha verbreitet. Ausnahmen bildeten lediglich Felsen, Seen, Moore sowie die Kernbereiche der Flussauen. Im oberen Bereich reichte der Wald im Naturzustand etwa 300 Höhenmeter höher als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und dieser Unterschied betrifft sehr große Flächen – viele weitläufige Almen wurden im Laufe der Zeit erst mühsam gerodet. Die Höhe der natürlichen Waldobergrenze hängt von der Länge der Vegetationsperiode ab. Die niedrigsten Obergrenzen des Waldes finden wir mit 1500 bis 1900 m
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Die Natur der Alpen
a 66 Die Hochlagen der Alpen waren im Naturzustand
fast vollständig bewaldet. Dieses Bild zeigt Aufforstungen von ehemaligen Almweiden und Bergmähdern in der Valle Stura di Demonte (südliche Cottische Alpen), die genau an den Gemeindegrenzen der Gemeinde Demonte (ganz rechts; diese Aufforstungen stammen aus der Mussolini-Zeit) und Aisone (Bildmitte; aus den 1950er Jahren) enden. Im Talbereich Verbuschungen auf ehemaligen Ackerflächen. Der dominierende Grat erreicht ganz rechts 1800 m und ganz links 2039 m. Im Naturzustand wäre die gesamte sichtbare Landscha von Wald bedeckt (September 1985).
am kühlen Alpennordrand, am warmen Alpensüdrand liegen sie zwischen 1800 und 2100 m, und in den inneralpinen Trockenzonen erreichen sie mit 2100 bis 2400 m ihre Maximalwerte in den Alpen. Vergleicht man diese Werte mit den aktuellen Obergrenzen des Waldes, dann erkennt man schnell große Differenzen. Die aktuelle Klimaerwärmung führt übrigens dazu, dass alle Vegetationsobergrenzen und auch die des Waldes noch weiter ansteigen.
Da sich in den Eiszeiten – die letzte ging erst vor 12 000 Jahren zu Ende – kein Baum in den Alpen halten konnte, dauerte es einige Zeit, bis die Bäume aus ihren südeuropäischen Refugien wieder in die Alpen einwandern konnten. Deshalb sind die natürlichen Wälder der Alpen heute noch relativ artenarm: Es gibt nur etwa 40 Baumarten, darunter nur 8 Nadelbaumarten, und keine einzige endemische Baumart, also keine, die ausschließlich in den Alpen vorkommt. Es wird noch viele zehntausend Jahre dauern, bis sich in den Wäldern der Alpen eine Artenvielfalt einstellen wird, wie sie für Wälder von eiszeitlich nicht vergletscherten Regionen typisch ist. Da während der verschiedenen Eiszeiten jedoch die Pflanzen der Rasengesellschaen auf geschützten Stellen der Südwest-, Süd- und Südostalpen überleben konnten, hat sich bei ihnen auf Grund der langen Entwicklungs-
a 67 So könnten die Alpen im Naturzustand ausgesehen haben: Alle Hänge,
Grate und Gipfel sind bis weit hinauf bewaldet, nur im obersten Bereich gibt es einige alpine Rasen. Der Blick geht aus 3000 m Höhe nach Süden auf die Cottischen Alpen (ganz rechts Pelvo d’Elva, 3064 m) und die Seealpen (ganz hinten links). Man blickt also auf die nordexponierten Hänge, die traditionell wenig gerodet waren und deren waldfreie Flecken seit langem wieder zugewachsen sind (August 1981).
zeit und der mehrmaligen Verinselung der Standorte durch die eiszeitlichen Gletscher eine sehr hohe Artenvielfalt ausbilden können. Von den knapp 5.000 Pflanzenarten der Alpen stammen sehr viele aus den Rasengesellschaen, und unter ihnen gibt es 350 endemische Arten.
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Am allerstärksten wurden die Alpen vom Menschen in den Talbereichen der großen und mittleren Alpentäler verändert. Die letzten noch erhaltenen Wildflusslandschaen liegen am Lech (Tirol), am Tagliamento (Friaul) und an der Stura di Demonte (Piemont), und sie zeigen anschaulich, wie diese Talböden im Naturzustand überall ausgesehen haben. In den Eiszeiten hatten sich die Gletscher in diese Täler stark eingetie, und nach der Eiszeit wurde hier sehr viel Moränenmaterial und Gesteinsschutt deponiert. Dadurch entstanden große Schotterkörper mit einer Mächtigkeit von mehreren Hundert Höhenmetern, die als Wasserspeicher und -filter bis heute eine wichtige Rolle spielen und die eine breite und ebene Oberfläche ausbilden. Auf diese Weise entstanden sehr lange Flussabschnitte in den Alpen mit einem geringen Gefälle: Die Etsch verliert auf den 170 km zwischen Meran und Verona nur 260 Höhenmeter, der Inn auf den 100 km zwischen Telfs und Kufstein nur 120 Höhenmeter. Auf Grund der Menge des im Wasser mitgeführten Materials und des schwachen Gefälles bilden die Was-
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Die Natur der Alpen · Die Vegetation der Alpen im Naturzustand
serläufe hier o Verzweigungen aus, wobei nur bei Hochwasser alle Arme Wasser führen und bei Niedrigwasser sich der Fluss auf ein oder zwei Arme konzentriert. Bei Hochwasser gerät das in Form von Sand- und Kiesbänken abgelagerte Material in Bewegung, es wird mitgerissen und an anderer Stelle wieder abgelagert, wodurch alte Wasserarme zugeschüttet werden und neue entstehen. Deshalb stellen diese Wildflusslandschaen sehr dynamische Räume dar, die sich stets verändern und in denen nur wenige hoch spezialisierte Pflanzen und Tiere leben können. Jenseits der Bereiche, die regelmäßig von der Erosion betroffen werden, wächst auf dem ebenen Talboden der sogenannte Auwald, der aus Erlen, Eschen und Weiden besteht und der die regelmäßigen Frühjahrshochwässer toleriert, während denen er jeweils einige Zeit im Wasser steht. Die Talböden der mittleren und großen Alpentäler haben also im Naturzustand völlig anders ausgesehen, als wir uns es heute vorstellen.
_ 68 Im Bereich der östlichen Ostalpen gibt es über 100
räumlich zusammenhängende Gemeinden, in denen der Wald heute jeweils mehr als 80 % der Gemeindefläche umfasst (hier das Türnitzer Tal in den niederösterreichischen Kalkalpen; Talboden 650 m, Gipfel um 1300 m). Ursache sind umfangreiche Wiederaufforstungen von Landwirtschasflächen („Bauernlegen“), um große Jagdgebiete zu schaffen. Solche Alpenregionen sind touristisch unattraktiv (Juli 2013).
a 69 Die Rhone ist im Bereich des Pfynwaldes (750 bis
540 m) zwischen Sierre und Leuk auf 6 km Länge nicht begradigt, und hier haben sich naturnahe Verhältnisse erhalten: Der Auwald bedeckt große Teile des Talbodens, und der Fluss bildet zahlreiche Verzweigungen aus, die sich permanent verändern (September 2009). 70 Auf ebenen Flächen bilden Wasserläufe zahlreiche `
Verzweigungen aus (Ayas-Tal in 2200 m Höhe), und diese kleinen Flächen sind im Naturzustand waldfrei (August 2017).
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Sprunghafte Naturdynamik Die Alpen sind ein junges Hochgebirge, dessen Gebirgsbildung aufgrund der anhaltenden Hebung noch lange nicht beendet ist. In den oberen Höhenstufen dominieren Abtragungs- und in den unteren Höhenstufen Abund Umlagerungsprozesse, weshalb die Landschaen der Alpen einem ständigen Wandel unterworfen sind. Die zahlreichen Prozesse, die damit verbunden sind, laufen zum Teil auf eine kontinuierliche und gleichmä-
a 71 Blick vom Rigi-Gipfel, 1797 m, nach Nordosten auf den Rossberg, 1580 m,
im Hintergrund der Säntis, 2503 m. Die helle Felswand in der Bildmitte, die sich nach rechts unten zieht, ist die Abrissnische des Bergsturzes von Goldau, der am 3. September 1806 abbrach. 50 Millionen m3 Fels bedeckten das Dorf Goldau mit einer 30 m hohen Schuttdecke, zerstörten 331 Gebäude und töteten 457 Menschen. Auf dem Bild sind die schräg gestellten Felsschichten gut zu erkennen, die aus Molassegesteinen (Ablagerungsschutt aus den Alpen, der in der letzten Phase der Alpenbildung noch verfestigt und aufgefaltet wurde) bestehen und die mit Mergelbändern durchsetzt sind. Da Mergel wasserundurchlässig ist, bildet er Gleitschichten aus, auf denen die darüber liegenden Gesteinspakete leicht abrutschen können. Der Bergsturz begann in 1560 m Höhe (Mitte links), und endete im Tal in 460 m Höhe (Oktober 1989).
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Die Natur der Alpen
ßige Weise ab; o aber sind sie mit einer „sprunghaen Dynamik“, also plötzlichen Ereignissen verbunden. Solche Ereignisse wie Bergstürze, Lawinen oder Muren gibt es in den anderen Landschaen Europas kaum, in den Alpen bilden sie dagegen auf Grund des steilen Reliefs, der hohen Niederschläge, der labilen Geologie und der kurzen Vegetationszeit den Normalfall. Beim Prozess der Alpenbildung wurden verschiedenste Gesteine zuerst über- und ineinander geschoben, dann gefaltet und schließlich in die Höhe gehoben. Dadurch liegen heute o harte über weichen Gesteinen und wasserstauende Schichten zwischen wasserdurchlässigem Gesteinsmaterial. Sind solche Gesteinsschichten schräg gestellt, kommt es immer wieder zu großen Bergstürzen oder zu langsamen, großflächigen Rutschvorgängen, die sich irgendwann plötzlich beschleunigen. Die regelmäßige Frostsprengung lockert das Gestein und führt in gewissen Zeitabständen zum Herausbrechen größerer Gesteinsmassen, besonders im Kalkstein, wodurch Felsstürze entstehen. Das fließende Wasser verursacht in Form einer „Mure“ ebenfalls immer wieder sprunghae Ereignisse: Bei einem starken Niederschlagsereignis führt ein Bach
schnell Hochwasser, dieses staut sich an einer Engstelle durch herabgestürzte Felsblöcke und verkeilte Baumstämme und bildet kurzzeitig einen See, der dann mit einer großen Flutwelle ausbricht: Ein großer Schlammstrom aus Steinen, Schutt, Erdreich und Wasser stürzt schnell talwärts und lagert sich als Schwemmkegel in der Talaue des Haupttales ab. Ausgangsmaterial für weitere dynamische Prozesse, die zu besonders spektakulären Landschasformen führen, sind die Moränen der letzten Eiszeit, deren Erosion zu Erdpyramiden, Steinpilzen und anderen bizarren Formen führen kann. Solche Ereignisse werden o als „Naturkatastrophen“ bezeichnet, was jedoch nicht richtig ist: Sie sind ein charakteristisches Element der Natur eines jungen Hochgebirges und keineswegs eine Katastrophe für die Na-
a 72 Ein kleiner Felssturz ist aus einer Kalkwand im Neraissa-Tal (Seitental
der Stura di Demonte/Cottische Alpen) abgegangen und hat sich auf einer eiszeitlich geprägten Karmulde in 2100 m abgelagert. Bei einem solchen „trockenen“ Sturz wird das Gesteinsmaterial so sortiert, dass die größten Felsbrocken am weitesten rollen, während die kleineren Steine am oberen Kegelende liegen bleiben. Bei einem „nassen“ Sturz, einem Gemisch aus Wasser, Gesteinen und Erdreich, also einer Mure, ist es dagegen genau umgekehrt, hier bleiben die großen Steine am Anfang des Ablagerungsgebietes liegen (September 1984).
tur. Im Gegenteil: Gerade diesen sprunghaen Prozessen verdanken die Landschaen der Alpen o ihr spektakuläres – sachlich ausgedrückt: hochgebirgsspezifisches – Landschasbild!
67
Am Ende der letzten Eiszeit war die sprunghae Naturdynamik in den Alpen am stärksten ausgeprägt: Die noch vegetationsfreien Hänge hielten den Abfluss der Niederschläge nicht zurück, und überall gab es leicht umlager- und erodierbares Moränenmaterial. Die Klimaerwärmung förderte den Prozess der Frostsprengung und mobilisierte zahlreiche, zuvor vom Eis zusammengehaltene Schuttflächen. Viele steile Felsflanken, die bislang durch Gletschereis gestützt wurden, brachen nach
b 73 Ablagerungen einer „Mure“ (schnell fließender Schlammstrom aus
Steinen, Schutt, Erdreich und Wasser), die hier im Maira-Tal (Cottische Alpen) nicht den Talboden erreichte, sondern in 2000 m Höhe in einem flacheren Teil des Hanges endete (September 2016).
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Die Natur der Alpen · Sprunghafte Naturdynamik
dem Abschmelzen der Gletscher in großen Bergstürzen zu Tal. Nach ein- bis zweitausend Jahren waren diese durch das Ende der Eiszeit ausgelösten hochdynamischen Prozesse zwar erst einmal abgeschlossen, aber bis heute gibt es in den Alpen noch zahlreiche labile Situationen. Ein Beispiel dafür sind die Bergstürze im Veltlin 1987, bei Randa/Zermatt 1991 und bei Bondo/Bergell 2017. Etwa gleichzeitig mit dem Nachlassen der außergewöhnlich starken nacheiszeitlichen Landschasdynamik begannen die Alpen, sich wieder mit einer Vegetationsdecke zu überziehen. Diese trägt – besonders in Form der Wälder – zu einer Dämpfung der sprunghaen Naturprozesse bei: Erstens wird dadurch das Mikroklima ausgeglichener und temperierter, also weniger extrem tro-
cken oder extrem nass bzw. extrem heiß oder extrem kalt. Zweitens sorgt das Wurzelwerk der Bäume dafür, dass ein erheblicher Teil des Niederschlags nicht sofort abfließt, sondern dass er für einige Zeit gespeichert und dann langsam abgegeben wird. Und drittens sorgt die Vegetationsdecke dafür, dass die Bodenerosion gering gehalten wird und Steinschlag und Lawinen so stark abgebremst werden, dass sie o den Talboden nicht mehr erreichen. Die Waldvegetation, in abgeschwächter Form aber auch die Zwergsträucher und die Rasen der alpinen Stufe sorgen also für eine Abschwächung der Dynamik besonders sprunghaer Prozesse im Alpenraum. Dies gilt aber vor allem für die unteren Höhenlagen, während die vegetationsfreien höchsten Lagen weiterhin stark durch sprunghae Naturdynamiken geprägt sind. Weil in den Alpen Berg- und Tallagen eng miteinander verzahnt sind, erreicht die sprunghae Dynamik der höchsten Lagen regelmäßig auch die tiefen Täler. Dies ist eines der charakteristischen Merkmale des Naturraums
a 74 Eine Endmoräne aus der letzten Eiszeit im Neraissa-Seitental
(Cottische Alpen) zwischen 1700 und 2100 m, die im Jahr 1890 während eines besonders intensiven Starkregens plötzlich aufgerissen und erodiert wurde. Während des Erosionsereignisses wurden große Mengen des lockeren Moränenmaterials talwärts verfrachtet, und im Moränenkörper entstanden zahlreiche Rippen und Grate. Dort, wo das Moränenmaterial gegen den fallenden Starkregen durch einen Stein abgeschirmt wurde, blieb ein Moränenpfeiler, eine „Erdpyramide“ stehen. Wie historische Bilder aus dem Jahr 1910 belegen, haben sich diese Erdpyramiden seitdem kaum verändert, obwohl sie so fragil aussehen. Es braucht ein neues, außergewöhnliches Niederschlagsereignis, damit sie so plötzlich verschwinden, wie sie entstanden sind (September 1984).
Alpen. Daran ändert auch der Wald nichts, der zwar viele sprunghae Prozesse des Hochgebirges dämpfen, aber nicht verhindern kann. Wer sich in den Alpen aufmerksam umsieht, kann die Resultate dieser Prozesse überall in der Landscha erkennen.
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a 75 Ein Felssturz in 1350 bis 1000 m Höhe im Gasteiner Tal (Hohe Tauern).
a 76 Ein Felssturz am Gran Tournalin, 3379 m (Ayas-Tal,
Weil herabstürzende Felsen Teile des Ortes Bad Hofgastein bedrohten, mussten sie mehrmals kurzzeitig evakuiert werden (April 2018).
Monte Rosa-Massiv), der in etwa 2000 m Höhe endet (August 2017).
Den Naturraum Alpen können wir also zusammenfassend so charakterisieren: Die Alpen sind ein junges, kettenförmiges Hochgebirge, das im Zentrum Europas im Übergangsbereich vom kühl-gemäßigten zum mediterranen Klima liegt. Sie weisen einen komplizierten geologischen Bau auf, der mit zahlreichen labilen Gesteinsformationen verbunden ist. Als „Regenfänger“ verzeichnen sie sehr hohe Niederschläge. Weil die Gebirgshebung noch andauert, sind die Prozesse des Gesteinsabtrags in hohen Lagen sowie der Ab- und Umlagerung in tiefen Lagen sehr aktiv. In Verbindung mit dem steilen Relief und den hohen Niederschlägen führt dies dazu, dass viele Naturprozesse
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Die Natur der Alpen · Sprunghafte Naturdynamik
in sprunghaer Form, als plötzlich auretende Ereignisse ablaufen. Die Vegetation im Alpenraum, vor allem der Bergwald, kann diese Dynamik zwar dämpfen, aber nicht verhindern. Die Landschaen der Alpen sind direkter Ausdruck dieser Eigenschaen des Naturraums Alpen: Ihr Hauptcharakteristikum ist fast überall ein steiles Relief mit klaren Unterschieden zwischen den hohen Lagen (Dominanz Abtrag, Zurücktreten der Vegetation) und den tiefen Lagen (Dominanz Ab- und Umlagerung, Zurücktreten des Ödlandes), die jedoch stets miteinander verzahnt sind. Dieser landschaliche Kontrast ist das zentrale Merkmal aller Landschaen der Alpen.
77 Hohe und tiefe `
Lagen sind in den Alpen stets eng miteinander verzahnt. Hier der Illgraben (2025 – 1450 m) in den Walliser Alpen, der im Rhonetal zwischen Leuk und Sierre einen großen Schwemmkegel aufgebaut hat (August 2009).
71
a
TRADITIONELLE KULTURLANDSCHAFTEN
3
Wie bereits mehrfach angesprochen sind die Alpen keine Natur- und auch keine naturnahe Landscha, sondern sie wurden vom Menschen im Laufe seiner Geschichte tiefgreifend ökologisch verändert und umgestaltet. Der Fachbegriff „Kulturlandscha“ besagt, dass eine Naturlandscha vom Menschen zum Zweck seiner Lebenssicherung umgestaltet und verändert wurde; in Europa ist die wichtigste Veränderung die Rodung von Teilen des Waldes, um Siedlungs-, Acker-, Wiesen- und Weideflächen zu gewinnen. „Traditionell“ besagt, dass es sich um Kulturlandschaen handelt, die aus der Zeit der Agrargesellscha, also aus der vorindustriellen Zeit stammen. Diese Gesellschaen leben auf der Grundlage der Nutzung der Sonnenenergie (Wachstum von Nutzpflanzen und Haustieren) und des Einsatzes von viel menschlicher Handarbeit, was noch heute an der Art und Weise der Landschasgestaltung erkennbar ist. Da sich in den Alpen zahlreiche traditionelle Kulturlandschaen – wenn auch o nur noch in Reliktformen oder auf Restflächen – bis heute erhalten haben, und da man die Modernisierung der Alpen nicht versteht, wenn man diese Ausgangssituation nicht kennt, werden in diesem Kapitel die traditionellen Kulturlandschaen der Alpen näher vorgestellt. Das Wissen um diese Themen ist jedoch heute fast vollständig verschwunden, deshalb fällt dieses Kapitel etwas umfangreicher als die anderen aus. Dabei werden folgende Themen vorgestellt: 1. Zuerst wird gezeigt, dass die Alpen keineswegs überall ein Ungunstraum sind, sondern dass sie dem Menschen teilweise sogar gute und sehr gute Lebens- und Nutzungsbedingungen bieten. 2. Das größte Problem für den Menschen stellt die sprunghae Naturdynamik dar, die für die Alpen als junges Hochgebirge charakteristisch ist. Will der Mensch dauerha in den Alpen leben, muss er lernen,
diese Bedrohung zu minimieren. Das damit verbundene bäuerliche Erfahrungswissen hat sich im Laufe von Jahrhunderten entwickelt und kann in fünf „Strategien“ zusammengefasst werden. Auf diese Weise ist es gelungen, die Kulturlandschaen der Alpen langfristig stabil zu halten, obwohl sie künstliche, also vom Menschen geschaffene Landschaen darstellen. 3. Das zentrale Charakteristikum aller alpinen Kulturlandschaen ist ihre vertikale Höhenstaffelung, die zu „alpenspezifischen“ Nutzungsformen führt. Weiterhin sind diese Kulturlandschaen durch eine hohe Artenvielfalt und eine große landschaliche Vielfalt geprägt. Dadurch wirken sie auf fremde Besucher als „schön“, und die Einheimischen erleben sie als unverwechselbare Heimat. 4. und 5. Da die Vielfalt der Kulturlandschaen in den Alpen so groß ist, dass sie hier nicht dargestellt werden kann, werden wenigstens die zentralen Unterschiede zwischen den Kulturlandschaen der Alt- und der Jungsiedelräume vorgestellt. Diese betreffen die Baumaterialien der Gebäude, die Siedlungs- und Flurformen, das Verhältnis Ackerbau – Viehwirtscha – Wald sowie die Kultur, also die gesamte Bandbreite bäuerlicher Kulturlandschaen. 6. Im Abschnitt „Transitorte, Bergbau, Märkte und Städte“ geht es darum, dass die Alpen traditionellerweise keineswegs ein rein bäuerlicher Lebensraum sind, sondern dass sie bereits sehr früh auf verschiedene Weise in europäische Arbeitsteilungen eingebunden sind und deshalb keine Sonderentwicklung in Europa durchlaufen können. 7. Auch bei der religiösen Gestaltung der Landscha, die heute noch in den Alpen sehr präsent ist, zeigt sich, wie eng die Alpen mit der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte verflochten sind und wie wenig sie einen eigenen Mikrokosmos, eine „Welt für sich“ darstellen.
__ 78 Das Oberinntal (Tirol) mit der Grenze zur Schweiz (links oben)
und der Terrasse von Ladis – Fiss – Serfaus in 1400 m Höhe (Bildmitte). Der Talboden des Inns war früher kaum besiedelt und nur extensiv nutzbar; die historischen Siedlungskerne mit der ortsnahen Flur liegen oberhalb des Inns auf einem flacheren Hangstück, darüber der Bannwald und darüber die Almbereiche. Gut erkennbar ist, wie klein der Dauersiedlungsraum mit seinen Fluren ist (September 2013).
74
Traditionelle Kulturlandschaften
Die Abschnitte 6 und 7 zeigen zum Abschluss dieses Kapitels, dass die Alpen schon lange vor Einsetzen der Moderne keineswegs eine abgeschlossene, archaische Selbstversorgerwelt waren, wie sich das die Touristen im 18. und 19. Jahrhundert vorstellten, sondern sie waren auf vielfältige Weise wirtschalich, kulturell und politisch mit Europa verflochten.
a 79 Die traditionelle Kulturlandscha erstreckt sich in den
Alpen über mehrere Höhenstufen, weil die talnahen Flächen relativ klein sind. Im Neraissa-Seitental (Cottische Alpen) wurden alle flacheren Hangteile gerodet, während auf den steileren Flächen der Wald stehen gelassen wurde. Der Talboden liegt auf 1500 m Höhe, und er wurde zusammen mit den untersten Berghängen – wie an den Ackerterrassen ersichtlich – bis 1965 als Acker genutzt (heute Wiesen). Die Flächen darüber waren bis 1965 Wiesen, die bis in 2100 m Höhe reichten (heute Weiden), und
darüber erstreckten sich bis zum Grat in 2286 m Höhe die Almweiden (heute im oberen Teil ungenutzt). Die gleichzeitige Nutzung aller Höhenstockwerke führte früher zu permanenten Wanderungen aller Menschen – auch der Kinder – bergauf und bergab. Traditionelle Bauerngesellschaen waren völlig fassungslos, als die ersten Touristen kamen und einfach nur zum Vergnügen auf die Berge stiegen, weil die Bauern diese Anstrengung für völlig sinnlos hielten (September 1984).
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Die Alpen – kein Ungunstraum für den Menschen Die Wurzeln der europäischen Landwirtscha liegen im Vorderen Orient: Hier wurden um 10 000 v. Chr. in den Gebirgen der heutigen Staaten Syrien, Türkei, Irak und Iran die ersten Getreidesorten kultiviert und Ziege und Schaf, später auch Rind und Schwein domestiziert. Ab 8000 v. Chr. dringt diese Innovation nach Europa vor, das im Mittelmeerraum ähnliche Naturbedingungen wie im Entstehungsgebiet aufweist, während Mitteleuropa wegen seines feuchteren und kühleren Klimas dafür ein etwas schwierigeres Umfeld bietet. Dabei wird das landwirtschaliche Muster des Vorderen Orients in Europa nicht verändert: Ackerbau und Viehwirtscha werden überall gemeinsam betrieben, um eine vollständige Ernährung zu ermöglichen. Damit sind zugleich die ökologischen Ansprüche der Landwirtscha abgedeckt: Der Ackerbau benötigt ein warmes Klima mit hoher Sonnenscheindauer, die Vieh-
a 80 In den Alpen gibt es viele große und weite Hochflächen, die sich sehr gut
als Viehweide eignen. Hier eine Hochfläche in 2000 – 2200 m Höhe im Maira-Tal (Cottische Alpen), die im Naturzustand mit Wald bedeckt war und die zum Zweck der Weidenutzung spätestens im Mittelalter gerodet wurde (August 2016).
76
Traditionelle Kulturlandschaften
wirtscha dagegen stellt geringere Ansprüche und kann auch noch bei größerer Feuchtigkeit und kühleren Temperaturen betrieben werden. Deshalb ist der Ackerbau in der Regel in Europa der limitierende Faktor: Wo kein Getreide mehr wächst, können auch die besten Weideflächen nicht mehr genutzt werden, weil man sich von den Produkten der Viehwirtscha allein nicht ernähren kann. Auch in den Alpen stellt der Ackerbau die kritische Größe dar: Nur in den inneralpinen Trockenzonen und im mediterran geprägten Südsaum der Alpen ist es für ihn warm und trocken genug. Zwar gelingt es bereits in vorrömischen Zeiten, Getreidesorten zu züchten, die bis in 2000 m Höhe wachsen können, aber diese Anpassung wird durch ein sehr starkes Absinken des Ertrags erkau. Der Ackerbau ist daher in starkem Maße auf die tieferen Lagen beschränkt, und diese sind in den Alpen nicht besonders flächengroß, dafür aber nach der Waldrodung gut nutzbar. Viel besser sieht dagegen die Lage für die Viehwirtscha aus. Schafe und Ziegen sind gebirgsgängig und von Vorderasien her an eine karge Vegetation angepasst. Sie können die weiten, waldfreien Hochflächen der Alpen sehr gut nutzen, die dank Schnee- und Gletscherschmelze auch im Sommer und Herbst gut durchfeuchtet sind und
hohe Erträge liefern. Wenn man hier die Tiere nicht nur weiden lässt, sondern ihre Milch zu Käse verarbeitet, der längere Zeit haltbar ist (Almwirtscha), dann kann der Ertrag der Hochflächen noch einmal gesteigert werden. Damit können wir das Grundmuster der alpinen Landwirtscha so beschreiben: Der Ackerbau wird in der Regel auf den besten Böden im Talbereich betrieben, während sich die Viehwirtscha auf die Flachreliefs der höheren und hohen Lagen konzentriert. Damit steht dem arbeitsintensiven und flächenkleinen Ackerbau eine arbeitsextensive und großflächige Viehwirtscha gegenüber, wobei beide Bereiche vertikal in der Höhe übereinander gestaffelt sind. Auf diese Weise können die Alpen durchaus gut landwirtschalich genutzt werden, wie die Besiedlung beweist, die bereits um 6000 v. Chr. einsetzt. Diese Aussage gilt aber nur für die inneralpinen Trockenzonen und den mediterran geprägten Südsaum der Alpen, also für etwa die Häle der Alpenfläche. Die kontinental geprägten östlichen Ostalpen und der feuchte und kühle Nordsaum der Alpen sind dagegen ein Ungunstraum, genau wie die Mittelgebirge in Mitteleuropa und
ganz Nordeuropa. Sie sind lange Zeit nur dünn besiedelt und werden erst ab dem Mittelalter auf der Grundlage einer Innovation in der Landwirtscha flächenha genutzt. Darüber hinaus wertet aber auch eine nicht landwirtschaliche Ressource die Alpen zusätzlich auf: Die Alpen sind reich an kleinen Lagerstätten für Gold, Silber, Kupfer und andere Metalle sowie für Salz. Dies sorgt seit vorgeschichtlichen Zeiten für einen blühenden Bergbau, der die landwirtschaliche Nutzung in seiner Nähe stark intensiviert und durch den die Alpen eng mit anderen europäischen Wirtschasregionen verflochten werden.
b 81 Traditionelle Kulturlandschaen auf der Südseite des Monte-Rosa-Mas-
sivs (rechts oben der Monte Rosa, der Blick geht ins Enderwasser-Tal oberhalb der Walsersiedlung Rimella, ganz vorn die Alpe Pianello, 1800 m): Die Ackerflächen liegen im Tal und sind nicht sichtbar. In der Bildmitte und im Vordergrund sind auf den Hängen zahlreiche gerodete Wiesen- und Weideflächen zu erkennen. Das Bild wurde in einer Höhe von 1950 m aufgenommen, und im Naturzustand hätte hier Wald gestanden (September 2015).
_ 82 Diese Hänge im Urse-
ren-Tal bei Realp (Urner Alpen), die in einer Höhe zwischen 1500 – 2100 m liegen, wurden vollständig gerodet, um im engen Tal genügend Wiesenflächen zu erhalten. Wenn hier im Winter Lawinen abgehen, stört das nicht, weil keine Gebäude auf dem Talboden liegen. Nur oberhalb der Dörfer wurde der Wald gezielt als Lawinenschutz stehen gelassen (Juli 2017).
Da in den Alpen große waldfreie Gebiete fehlen, bedeutet Landwirtscha immer Waldrodung. Genauer gesagt: Man muss für den Ackerbau Wald roden, während man Schafe und Ziegen in einer langen Anfangszeit auf den alpinen Rasen oberhalb des Waldes oder im Wald weiden lassen kann. In Hinblick auf die mühsame Waldrodung bieten die Alpen einige Vorteile: Der Wald ist o von Lawinenrinnen durchzogen und bietet an diesen Stellen gute Weidemöglichkeiten, weil die Lawinenablagerungen den Boden düngen und für eine üppige Vegetation sorgen. Und die zahlreichen Schwemmkegel im Tal, die dem Ackerbau eine sehr gute Bodenqualität bieten, sind häufig nur mit einem lückenhaen Wald bedeckt und daher leicht zu roden. Lediglich diejenigen Teilflächen, die unserem heutigen Blick nach eigentlich optimal nutzbar wären, nämlich die breiten Talauen, sind ausgesprochene Ungunst-
78
flächen: Die regelmäßigen Hochwasser sowie die hohe Dynamik der Umlagerungsstrecken sind für den Menschen so bedrohlich, dass er diese Gebiete in der vorindustriellen Zeit weder besiedeln noch intensiver nutzen kann; sie dienen lediglich in Zeiten mit niedrigem Wasserstand als extensive Viehweide. Diese Talauen werden erst im 19. und 20. Jahrhundert mittels Begradigung, Eindämmung und Tieferlegung der Flüsse sowie Entwässerung der gesamten Aue zu intensiv genutzten Gebieten umgewandelt, und sie werden sogar erst nach 1955 zum Standort von Dauersiedlungen. Damit stellen größere Teile der Alpen im Rahmen der vorindustriellen Agrargesellschaen einen günstigen Raum für den Menschen dar, dessen spezifische Nachteile durch eine Reihe von Vorteilen mehr als aufgewogen werden. Das Bild der Alpen als Ungunstraum und als benachteiligte Region wird viel stärker vom Bild der „Alpen im Kopf“ als von der realen Situation bestimmt.
`83 Vorn die vergleichsweise kleinen Ackerfluren im Dauersiedlungs-
`` 84 Kulturlandschaen in den Dolomiten: Das
raum (als Wiese genutzt), hinten die großflächigen Almweiden auf Hochflächen, die im Naturzustand bewaldet waren und die sehr langsam wieder zu verwalden beginnen. Die steilen, nordexponierten Hänge in der Mitte waren früher mosaikförmig aufgelichtet (Wiesen und Weideparzellen), und sie wurden vor 70 Jahren aufgeforstet. Das Bild zeigt vorn Weiler in der Gemeinde Prazzo im MairaTal (Cottische Alpen) in 1500 m Höhe, die Almflächen liegen zwischen 2000 und 2200 m, und ganz hinten sind die Ligurischen Alpen (links die Punta Marguareis, 2651 m) zu erkennen (September 1983).
Valle di Duron, ein Seitental des Fassa-Tales, wurde in den Eiszeiten in ein Trogtal umgewandelt und vom Menschen im Hohen Mittelalter gerodet. Der etwa 1850 – 1900 m hoch gelegene Talboden und die Almbereiche wurden gerodet, und auf den Steilhängen wurde meist der Wald stehengelassen. Links oben Langkofel, 3181 m, und Plattkofel, 2964 m, hinten die Sellagruppe (August 2008).
Traditionelle Kulturlandschaften · Die Alpen – kein Ungunstraum für den Menschen
Strategien zum Leben mit einer sprunghaften Naturdynamik Wenn Menschen in den Alpen sessha werden und beginnen, Landwirtscha zu betreiben, dann stellt für sie die sprunghae Naturdynamik (siehe Kapitel 2) eine permanente Bedrohung dar. Und da sie zur Gewinnung von Acker-, Wiesen- und Weideflächen Wald roden müssen, der der beste Schutz gegen Erosion, Lawinen und Hochwasser ist, verstärken sie diese Naturdynamiken durch die Anlage ihrer Kulturlandschaen sogar noch zusätzlich. Deshalb können Bauerngesellschaen die Alpen nicht „einfach so“ für Ackerbau und Viehwirtscha nutzen, sondern sie müssen ihre Nutzung so gestalten, dass diese dynamischen Prozesse sie nicht direkt bedrohen und dass auf allen genutzten Flächen die sprunghafte Naturdynamik gedämp wird. Dies gilt grundsätzlich für alle Bauerngesellschaen weltweit, aber es wird im Alpenraum besonders eindrücklich sichtbar. Das einschlägige Erfahrungswissen aus den Alpen lässt sich in fünf Strategien zusammenfassen.
82
Traditionelle Kulturlandschaften
Die erste Strategie lautet, dass der Wald nicht überall gerodet werden darf, um Kulturland zu gewinnen, sondern dass er auf allen steileren und/oder schattigeren Hängen stehen bleiben muss, wo er als Lawinen- und Erosionsschutz unverzichtbar ist. Dies kann man heute noch im Landschasbild erkennen, weil die steilen Flächen in der Regel mit Wald bestockt sind, während sich das Kulturland auf die flacheren Gebiete konzentriert. Am Beispiel der „Bannwälder“ ist diese Strategie besonders gut sichtbar. Diese stehen seit dem Mittelalter unter strengem Schutz, was deutlich macht, dass bereits damals die Folgen von Waldrodungen bekannt sind. Indem man Grenzen für die Ausweitung des Kulturlandes festlegt und akzeptiert und bestimmte Wälder bewusst nicht rodet, versucht man also, das Auslösen von besonders heigen und existenzgefährdenden Naturdynamiken zu vermeiden.
_ 85 Bannwald (Schutz-
wald) über dem Ort Realp, 1538 m, im glazial geprägten Urseren-Tal (Urner Alpen); seine Untergrenze liegt bei 1630 m, seine Obergrenze bei 1880 m. Der Gipfel etwas links der Bildmitte ist der Spitzberg, 2935 m. Der Bannwald im 9 km entfernten Andermatt ist seit dem 25. Juli 1397 streng geschützt, und dieser Schutz gilt bis heute (Oktober 1989).
` 86 Hänge im Obersim-
mental etwas unterhalb des Jaun-Passes, 1509 m. Bewusst wurden hier nur die flacheren Hangteile gerodet, während auf allen steileren der Wald als Lawinen- und Erosionsschutz stehen gelassen wurde (August 1982).
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Die zweite Strategie besteht darin, denjenigen sprunghaen Prozessen systematisch auszuweichen, deren Dynamik so groß ist, dass sie vom Menschen nicht kontrolliert werden kann. Dies betrifft zum einen die Anlage von Siedlungen: In Gebieten, die von Lawinen, Steinschlag oder Hochwasser bedroht sind, werden keine Gebäude errichtet, was die Menschen teilweise erst mühsam lernen müssen. Zahlreiche traditionelle Siedlungen entstehen an Plätzen, die uns heute als „unlogisch“ erscheinen, die aber den großen Vorteil einer sicheren Lage haben. Lediglich die Siedlungen auf den Schwemmkegeln bilden dabei eine gewisse Ausnahme: Sie sind zwar vor den großen Hochwässern des Hauptflusses, nicht jedoch vor denen des Seitenbaches geschützt. Diese Gefährdung wird jedoch wegen der besonders großen Vorteile (sehr guter Boden) in Kauf genommen. Die Strategie des Ausweichens betrifft zum anderen Flächen, die regelmäßig überschwemmt, von Felsstürzen überdeckt oder häufig vermurt werden. Solche Flächen werden entweder gar nicht oder nur extensiv ge-
84
nutzt. Wenn man sie nur bei gutem Wetter mit Schafen und Ziegen beweidet, kann man sie sinnvoll nutzen, zumal man auf Gefahren schnell reagieren kann. Dieses Ausweichen vor Gefahren war früher völlig selbstverständlich. Es muss heute jedoch gesondert erwähnt werden, weil es unsere moderne Gesellscha mit ihrem technischen Naturumgang als Zumutung ansieht. Die dritte Strategie besteht in der kleinräumigen Gestaltung der Nutzung gemäß den vorgefundenen naturräumlichen Strukturen. Typisch für die Alpen ist ja der häufige Wechsel von Gesteinsfolgen und die Überprägung aller Flächen durch die Eiszeiten mit ihren Moränenablagerungen. Dies führt zu extrem kleinräumigen Landschasstrukturen mit zahllosen nebeneinander liegenden Mikrostandorten, die sich o in Hinblick auf Trockenheit, Feuchtigkeit, Bodenqualität, Steilheit, Besonnung usw. deutlich unterscheiden. Würde man diese Standorte alle auf die gleiche Art und Weise nutzen wollen, müsste man diese Unterschiede ausgleichen, also zu trockene Flächen bewässern, zu feuchte entwässern, zu steile Flächen abflachen, zu magere Flächen gezielt
Traditionelle Kulturlandschaften · Strategien zum Leben mit einer sprunghaften Naturdynamik
_ 87 Die traditionellen
Siedlungen der Alpen liegen so, dass sie vor Steinschlag und Lawinen geschützt sind, so wie hier die Almsiedlung Prato Rui, 2021 m, vor der Rocca Senghi, 2450 m, im Varaita-Tal/ Cottische Alpen (August 2016).
` 88 Kleinräumiges Muster
der traditionellen Kulturlandscha um den Weiler Baletti, 1673 m, herum (Gemeinde Elva im Maira-Tal, Cottische Alpen). Die bewässerten Wiesen auf den ehemaligen Ackerparzellen sind hellgrün, die nicht bewässerten Wiesen darüber gelbgrün, im Vordergrund die gelben Weideflächen; auf den steilen Flächen stockt der Wald (September 1984).
düngen usw., also die Landscha großflächig vereinheitlichen und homogenisieren. Dies würde die Gefahr von Bodenerosionen, Lawinen, Hochwasser oder Muren stark ansteigen lassen. Die traditionellen Bauerngesellschaen haben so nicht gehandelt: Im Rahmen eines Landwirtschassystems, das auf der Nutzung von Sonnenenergie und Handarbeit basiert, bringt die Vereinheitlichung der Nutzflächen kaum Vorteile (dies ändert sich erst beim
Einsatz von Maschinen). Wenn man hingegen die naturräumliche Kleinräumigkeit bei der Nutzung berücksichtigt, erhöht das die ökologische Stabilität der Nutzflächen und reduziert ihre Anfälligkeit für dynamische Prozesse. Die ausgeprägte Kleinräumigkeit der traditionellen Kulturlandschaen, die man heute o noch gut sehen kann, ist also ebenfalls eine Strategie zur Dämpfung der sprunghaen Naturdynamik.
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a 89 Eine Schafherde auf einer Alm in 2000 m Höhe, im Hintergrund die Seeal-
pen. Nur wenn Hirten mit Hütehunden den Weidegang der Schafe kontrollieren, wird die Vegetationsdecke der gesamten Alm gleichmäßig abgeweidet, ohne dass Über- oder Unternutzung entsteht (Juli 2004).
Die vierte Strategie zur Dämpfung der sprunghaen Naturdynamik besteht darin, das richtige Maß der Nutzung herauszufinden, also die Mitte zwischen einer zu extensiven und einer zu intensiven Nutzung, denn in diesem Fall kann sich die Vegetationsdecke während und mit der Nutzung am besten regenerieren. Wird eine Weide zu extensiv genutzt, befinden sich also zu wenige Tiere auf einer bestimmten Fläche, dann fressen die Tiere selektiv nur die besten Futterkräuter und lassen den Rest stehen; in wenigen Jahren wird diese Weide durch „Weideunkräuter“ dominiert, die vom Vieh nicht gefressen werden, es kommen Sträucher und Bäume auf und die Weide verschwindet. Wird eine Weide dagegen zu intensiv genutzt, befinden sich also zu viele Tiere auf einer bestimmten Fläche, dann fressen die Tiere alles ab, sodass sich die Vegetation nicht mehr regenerieren kann und vegetationsfreie Stellen immer größer werden. In wenigen Jahren ist die Vegetationsdecke weitgehend verschwunden, die Bodenerosion setzt ein und die Weide verschwindet ebenfalls. Gleiches gilt für Beginn und Ende der Weidezeit und für die Weidedauer: Wird eine Weide zu früh im Jahr ge-
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nutzt, wird der Prozess der Samenbildung und des Pflanzenwachstums gestört, wird sie dagegen zu spät im Jahr genutzt, so ist der Futterwert der Pflanzen sehr gering. Wird eine Weide zu lange genutzt, kann sich die Vegetationsdecke nur noch schlecht regenerieren, wird sie dagegen zu kurz genutzt, können sich Sträucher und Bäume schnell ausbreiten. Wenn eine Weide also dauerha als produktive Weide genutzt werden soll, sodass sie weder durch Verbuschung noch durch Bodenabtrag verschwindet, so braucht es dafür eine ganz bestimmte Anzahl Tiere und ein ganz bestimmtes Datum für Beginn und Ende der Nutzung. In diesem Fall wird die Vegetationsdecke der Weide gleichmäßig abgefressen, ohne dass übrig bleibende größere Pflanzen einen Angriffspunkt für Bodenerosion bilden (sie würden im Winter durch Kriechschnee oder Lawinen leicht herausgerissen), und die Vegetationsdecke wird im Laufe der Zeit sehr dicht und gleichmäßig. Dadurch bildet sie einen guten Schutz vor Bodenabtrag (große Fähigkeit, Wasser zu speichern und geringe Ansatzpunkte für Erosion) und vor Lawinen (der Schnee rutscht auf einer gleichmäßig kurzen Vegetationsdecke nur schwer ab, während sich langes Gras beim ersten Schnee nach unten legt, sodass gute Gleitbahnen für Lawinen entstehen). Ähnliches gilt für Wiesen: Mäht man zu selten, also weniger als einmal pro Jahr, dann kommen Sträucher und Bäume auf, mäht man zu häufig, also mehr als zwei-
Traditionelle Kulturlandschaften · Strategien zum Leben mit einer sprunghaften Naturdynamik
oder dreimal pro Jahr, dann bleiben nur wenige robuste Pflanzenarten übrig und die Artenzahl geht zurück. Aus dem sehr unterschiedlichen Wurzelhorizont mit einer Mischung aus Flach- und Tiefwurzlern wird dann ein einheitlicher Wurzelhorizont, der eine Art Gleitschicht ausbildet, die das Abrutschen des Oberbodens fördert und die Fähigkeit der Böden zur Wasserspeicherung reduziert. Das richtige Maß der Nutzung ist also sehr entscheidend dafür, dass die menschlich genutzte Vegetationsdecke stabil und dicht bleibt, dass sie eine gute Biomasseproduktion gewährleistet, und dass sie die sprunghae Dynamik dank hoher Wasserspeicherfähigkeit und als wirksamer Erosions- und Lawinenschutz dämp. Die Suche und die Beachtung des richtigen Maßes der Nutzung prägt alle Nutzungsformen der traditionellen Bauerngesellschaen in den Alpen. In vielen Fällen sind es Regelungen, die mündlich weitergegeben werden, die aber trotzdem einen verbindlichen Charakter besitzen. Am deutlichsten lässt sich diese Strategie an den gemeinschalich genutzten Almen erkennen: Hier besteht die Gefahr, dass sich einzelne Nutzer zu Lasten der Ge-
meinscha einen Vorteil verschaffen, indem sie individuell zu intensiv wirtschaen. Deshalb werden in den Almsatzungen die Rahmenbedingungen der „richtigen“ Almnutzung bis ins letzte Detail schrilich festgelegt und genau überprü (genaue Zahl der Tiere, Beginn und Ende der Almzeit usw.). Wegen der großen kulturellen und ökologischen Bedeutung im Umgang mit der Umwelt sind inzwischen alpenweit eine Reihe von Almsatzungen in das Verzeichnis des immateriellen Weltkulturerbes des UNESCO aufgenommen worden.
b 90 Sogenannte „Viehgangeln“ bei Gsteig (Berner Alpen) in ca. 1800 m Höhe.
Solche treppenartigen Viehwege entstehen auf allen steileren Weideflächen durch die Angewohnheit der Rinder, beim Weiden hangparallel zu gehen und dabei mit dem Kopf nach oben zu fressen. Auch hier ist das richtige Maß entscheidend: Sind zu viele Tiere auf der Weide, dann werden die Viehgangeln tief ausgetreten und fördern den Bodenabtrag; bei der richtigen Zahl der Tiere können die Viehgangeln wie hier jedoch den Boden festigen und durch die leichte Terrassierung sogar zusätzlich stabilisieren (September 2006).
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_ 91 Weil auf allen geneigten Ackerflächen das fließende
Wasser Boden abträgt und weil die Erde bei der Bodenbearbeitung mit Pflug und Haue hangabwärts verlagert wird, ist das „Erd-Auragen“ vom unteren zum oberen Rand der Ackerparzelle eine der wichtigsten und zugleich anstrengendsten der traditionellen Pflegearbeiten im Frühjahr, das nicht zufällig auch „Erd-Aufschinden“ genannt wird. Hier ein Beispiel aus dem Tuxer Tal in Tirol (Tuxer Alpen), das von Erika Hubatschek im Jahr 1943 aufgenommen wurde.
Die füne Strategie besteht darin, die Kulturlandscha mittels einer großen Menge von Pflege- und Reparaturarbeiten jeweils dort gezielt zu stabilisieren, wo sie als menschlich geschaffenes Ökosystem immer wieder durch natürliche Prozesse instabil wird. Dies sind einerseits regelmäßige Pflegearbeiten, andererseits periodisch anfallende Reparaturarbeiten. Die meisten der regelmäßigen Pflegearbeiten werden im Frühling und Frühsommer ausgeführt. Dazu gehört das „Erd-Auragen“ auf allen geneigten Ackerflächen, das Beseitigen der Schnee- und Lawinenschäden an Wegen, Zäunen oder Wasserleitungen und das Wegräumen von Steinen und Schutt aus dem gesamten Kulturland, das durch Lawinen im Laufe des Winters dort abgelagert wird. Im Hochsommer werden die Bachbetten ge-
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säubert, damit sich kein Material ansammelt, das einen Stau oder gar eine Mure auslösen könnte, und auf den Almen werden die aufkommenden Sträucher und Bäume „geschwendet“, also entfernt. Die unregelmäßigen Arbeiten fallen an, wenn nach einem heigen Sommergewitter der Boden abrutscht und wieder gesichert werden muss, wenn eine Mure oder ein Felssturz abgegangen ist und das Kulturland von den Ablagerungen befreit werden muss, wenn ein Sturm Bäume entwurzelt hat usw. Unter Einsatz von viel Handarbeit werden die Auswirkungen der sprunghaen Naturdynamik möglichst schnell beseitigt. Zusammenfassend kann man festhalten: Während die Strategien 1 und 2, also die Nichtnutzung von Teilflächen und das systematische Ausweichen vor zu großen Gefahren, einen präventiven Charakter besitzen, zielen die Strategien 3 und 4, also die kleinräumige Nutzung und die Ausrichtung der Nutzung am richtigen Maß, auf die Minimierung der vom Menschen durch die Waldrodung ausgelösten Naturdynamiken. Strategie 5 ist schließlich einer nachsorgenden Perspektive verpflichtet. Mit dieser Kombination aus sehr unterschiedlichen, sich wechselseitig ergänzenden Strategien ist es den traditionellen Bauerngesellschaen in den Alpen häufig – aber nicht immer – gelungen, ihrer Kulturlandscha diejenige ökologische Stabilität zu geben, die sie von Natur aus gerade nicht hat, die aber erforderlich ist, damit der Mensch dauerha in den Alpen leben kann. Zahllose Siedlungen und Fluren, die seit Jahrhunderten an der gleichen Stelle liegen und die heute noch bewohnt und genutzt werden, beweisen dies.
Traditionelle Kulturlandschaften · Strategien zum Leben mit einer sprunghaften Naturdynamik
Die bäuerliche Kulturlandscha ist auf diese Weise in vielen Fällen ökologisch ähnlich stabil wie die Waldgesellschaen, die zuvor auf diesen Flächen gestanden hatten. Dies gilt aber nur unter der Bedingung der permanenten Bewirtschaung – wird diese eingestellt oder stark reduziert, dann erhalten die Naturprozesse schnell ihren sprunghaen Charakter zurück. Bäuerliches Wirtschaen kann sich daher nicht allein auf die Produktion von Lebensmitteln konzentrieren, sondern es muss sich zugleich auch dafür verantwortlich fühlen, dass die Voraussetzung ihres Wirtschaens, die ökologisch stabile Kulturlandscha, erhalten bleibt. Oder anders ausgedrückt: Sie muss die Produktion so gestalten, dass der Erhalt, die „Reproduktion“ der Kulturlandscha gewährleistet ist, denn andernfalls würde sie ihre eigene Grundlage zerstören. Diese doppelte Aufgabe gilt zwar für alle Bauerngesellschaen der Erde, sie wird aber in den Alpen besonders eindrücklich sichtbar. Ähnlich wie alle Bauerngesellschaen denken und handeln auch diejenigen in den Alpen langfristig. Die Maxime: „Gib den Hof so an deinen Sohn weiter, wie du ihn von deinem Vater empfangen hast!“ ist dafür ein gu-
a 92 Die Beseitigung von Lawinenschäden wurden früher o gemeinscha-
lich durchgeführt. Hier Aufräumarbeiten nach einem Lawinenabgang in St. Leonhard im Pitztal (Ötztaler Alpen), 1366 m (historisches Foto aus der Sammlung Willi Pechtl).
tes Beispiel, denn sie verpflichtet den jeweiligen Hofinhaber dazu, das Anwesen in seiner Substanz zu erhalten und es nicht aus kurzfristig-individuellen Interessen zu Lasten der nachfolgenden Generation zu verschlechtern. Bauerngesellschaen wissen, dass ihre aktuelle wirtschaliche Situation sehr stark von der Arbeit der vorangegangenen Generation abhängig ist, und sie erleben dies als Verpflichtung gegenüber den nachfolgenden Generationen. Deshalb ist ein kurzfristiges und individuell-egoistisches Handeln normalerweise wenig verbreitet. Dies kann man an zahlreichen Regelungen und Gewohnheitsrechten ablesen, bei denen jeweils der Hof, die Familie, die Alm oder das Dorf über den Interessen einer einzelnen Person steht. Ohne diesen sozialen und kulturellen Rahmen wäre die ökologische Stabilität der Kulturlandscha nicht zu erreichen.
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Charakteristika alpiner Kulturlandschaften Das zentrale Charakteristikum der alpinen Kulturlandschaen ist ihre vertikale Staffelung: Die Hauptsiedlung mit den wichtigsten Ackerflächen liegt unten im Tal, und die Fluren sind hier wegen des Reliefs relativ klein. Gut tausend Höhenmeter darüber erstrecken sich weitläufige Hang- und Hochflächen, die viehwirtschalich genutzt werden. Zwischen diesen beiden Höhenstockwerken gibt es noch ein oder mehrere Zwischenstockwerke der Nut-
a 93 Die Nutzungsstockwerke der traditionellen Kulturlandscha: Die
Dauersiedlung Guarda, 1653 m (Unterengadin), liegt im Tal - aus Gründen der besseren Besonnung oberhalb des Talbodens – und ist umgeben von ihren Ackerfluren, was an den Ackerterrassen gut erkennbar ist (inzwischen als Wiese genutzt). Darüber liegt der Bannwald, darüber die Almweiden und Bergmähder, die sich weit in das Tuoi-Seitental (Bildmitte oben) hineinziehen, und darüber das alpine Ödland mit dem Piz Buin, 3312 m (Mitte links). Weil die Dauersiedlung Guarda bereits relativ hoch liegt, fehlt hier das Zwischenstockwerk der Maiensässen (Oktober 1994).
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Traditionelle Kulturlandschaften
zung, die unterschiedlich benannt werden, z. B. Maiensäss oder Voralm, und von denen es eine große Vielfalt im Alpenraum gibt. Diese Höhen- oder Nutzungsstockwerke werden zu unterschiedlichen Zeiten schneefrei, und deshalb fallen die landwirtschalichen Tätigkeiten hier zu sehr verschiedenen Zeiten an. Daher ist es von zentraler Bedeutung, die Arbeiten innerhalb einer Familie so zu organisieren, dass die Familienmitglieder zum richtigen Zeitpunkt auf der richtigen Höhenstufe die dort anfallenden Arbeiten ausführen können, was permanente Wanderungen zwischen den einzelnen Höhenstufen erfordert. Dieses System der zeitlich nach der Höhe gestaffelten Nutzungen nennt man „Staffelsystem“, und es stellt das zentrale Merkmal der Landwirtscha im Alpenraum dar, durch das sie sich von der außeralpinen Landscha fundamental unterscheidet. Und die große Kunst besteht darin, die Erträge der einzelnen Nutzungsstockwerke so miteinander zu kombinieren, dass eine Familie davon leben kann.
a 94 und b 95 Da die traditionelle Landwirtscha von der
Sonnenenergie lebt, sind die Unterschiede zwischen den wärmeren und trockeneren Sonnseiten (süd-exponierte Hänge) und den kühleren und feuchteren Schattseiten (nord-exponierte Hänge) sehr wichtig: Während Sonnseiten o bis in große Höhen gerodet und genutzt werden, sind Schattseiten häufig mit Wald bestanden. Oben ein Beispiel aus dem Almbereich (Varaita-Tal/ Cottische Alpen): Der Grat zwischen der Punta della
Battagliola, 2402 m (vorn), und dem Monte Pietralunga, 2736 m (oben), bildet die Grenze zwischen der Alm auf der Sonn- und dem Wald auf der Schattseite (August 2016). Unten ein Beispiel aus dem Dauersiedlungsbereich (Stura-Tal/Seealpen): Während die Sonnseite stark gerodet und in Ackerflächen umgewandelt wurde (Höhe der Ackerflächen: 1750 – 2000 m), ist auf der Schattseite der Wald bewusst stehen gelassen worden (Höhe des Waldes: 1750 – 2200 m Höhe)(September 2014).
`` 96 Höhenstaffelung der Kulturlandscha
zwischen dem Walensee, 419 m, und der Bergkette der Churfirsten, 2204 bis 2306 m (Appenzeller Alpen): Gut erkennbar die Dauersiedlungen in 1000 m und die Almen/Wildheugebiete in 1500 m Höhe, die jeweils durch Felsen voneinander getrennt sind (September 2009).
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_ 97 Im Mai ist der Unterschied zwischen den Flächen,
die im letzten Jahr als Wiese oder Weide genutzt wurden, und den nicht mehr genutzten Flächen besonders gut sichtbar (hier im Neraissa-Tal/Cottische Alpen in 1200 – 1300 m Höhe): Während das im letzten Jahr abgemähte oder abgeweidete Gras bereits seit zwei Wochen wieder wächst, bildet das lange Gras der nicht mehr genutzten Flächen einen dichten Grasfilz, der das Wachstum der Vegetation um etwa drei bis vier Wochen verzögert: Die menschliche Nutzung fördert die frühe und schnelle Vegetationsentwicklung (Mai 1980).
Ein weiteres Charakteristikum der traditionellen Kulturlandschaen der Alpen ist ihre große Artenvielfalt, die sogar deutlich höher als im Naturzustand ist. Dies liegt einerseits daran, dass der Wald in den Alpen auf Grund seines geringen Alters noch nicht sehr vielfältig ist, andererseits an der Art und Weise der traditionellen Gestaltung der Kulturlandschaen. Dafür kann man fünf Punkte anführen: Erstens führt die kleinräumige Nutzung der Landscha mit der Nichtrodung von relevanten Waldflächen dazu, dass keine Pflanzen- und Tierarten aus den Alpen verschwinden, die hier vor der Besiedlung durch den Menschen heimisch waren. Dies gilt selbst für Raubtiere wie Wolf, Bär oder Luchs, mit denen Bauerngesellschaften in den Alpen mehrere Tausend Jahre lang zusammengelebt haben. Ihre Ausrottung wird erst durch die Erfindung des Gewehrs möglich, also eines Instruments, das in der Neuzeit in den Städten erfunden wird.
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Zweitens sorgen der richtige Beginn und die richtige Dauer der Nutzung dafür, dass sich die Vegetationsdecke mit der Nutzung gut entwickeln kann. Die regelmäßige Mahd oder Beweidung verhindert, dass sich einige wenige Pflanzenarten zu Lasten aller anderen durchsetzen und dominant werden, weshalb vergleichsweise viele Pflanzen und Pflanzenarten Wuchsmöglichkeiten erhalten. Und da der Boden auf Weiden und Wiesen selten gedüngt wird, bleiben die Unterschiede zwischen magereren und fetteren Standorten bei der Nutzung erhalten. Drittens ist die Kulturlandscha sehr kleinräumig geprägt und enthält dadurch besonders viele Grenzsäume, die für die Artenvielfalt so wichtig sind. Darüber hinaus sorgt die Auflichtung der eher artenarmen Wälder dafür, dass sich die sehr artenreichen Rasengesellschaen gut ausbreiten können. Viertens verwildern aus den Gärten der Dörfer immer wieder Blumen und Nutzpflanzen und breiten sich ins Gebirge aus. Und bei den großräumigen Schafwanderungen zwischen den Almweiden im Sommer und den Alpenvorländern im Winter werden immer wieder Pflanzensamen in der Schafwolle aus den Tiefländern in die Alpen eingebracht. Fünens werden mit den Getreidesorten auch die Pflanzen der Ackerbegleitflora, also die sogenannten Ackerunkräuter in die Alpen eingeführt. Alle diese Pflanzen stammen aus dem Vorderen Orient, und sie verbreiten sich schnell auch außerhalb der Äcker in den Alpen. Die Umwandlung der Alpen in eine bäuerliche Kulturlandscha zerstört also die Artenvielfalt nicht, sondern erhöht sie sogar noch spürbar. Deshalb liegt der Höhepunkt der Artenvielfalt im Alpenraum seit dem Ende der letzten Eiszeit in der Zeit um 1800 – 1850, also in der Zeit, in der die traditionelle Landwirtscha ihren Höhepunkt erreichte.
Traditionelle Kulturlandschaften · Charakteristika alpiner Kulturlandschaften
` 98 In den Südwestalpen
kann man häufig den weißen Affodill sehen, die traditionelle Totenblume der Griechen, die aus Gärten heraus verwilderte und in den Alpen heimisch wurde. Hier im Stura-Tal (Cottische Alpen) in 1800 m Höhe (Juni 2015).
a 99 Eine sehr artenreiche Mähwiese auf ehemaligen Ackerflächen in 1500 m Höhe: Wenn
Kulturlandschaen auf die „richtige“ Art und Weise genutzt werden, dann bilden sie o sehr artenreiche Vegetationsgesellschaen aus (Juni 2013).
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a 100 Die gleichmäßige Vegetationsdecke dieser Almweide in etwa 2200 m
Höhe in der Nähe des Grates zwischen Maira- und Varaita-Tal (Cottische Alpen) lässt die kleinsten Geländeunebenheiten deutlich sichtbar werden. In der Bildmitte zwei ehemalige, inzwischen verwachsene Wege (Juni 1979).
Ein weiteres Charakteristikum der alpinen Kulturlandschaen besteht darin, dass wegen ihrer kleinräumigen Gestaltung alle naturräumlichen Unterschiede und Strukturen sehr viel deutlicher sichtbar werden, als wenn ein geschlossener Wald an den gleichen Stellen wachsen würde. Der Grund dafür ist, dass nahezu alle flacheren und steileren Flächen in den Alpen ein sehr bewegtes Mikrorelief besitzen und es selten größere Flächen mit einer gleichmäßigen oder homogenen Oberfläche gibt. Dies liegt am kleinräumigen Wechsel der unterschiedlichen Gesteinsarten, an der eiszeitlichen Überprägung des Reliefs und am chaotischen Verhalten des fließenden Wassers. Die niedrige Vegetationsdecke der Kulturlandschaen macht diese Mikroformen sehr gut sichtbar, besonders wenn die Sonne schräg steht und der Schatten-
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wurf auch kleinste Geländeunterschiede herausarbeitet. Dort, wo im Naturzustand Wald steht, verschwinden diese Unterschiede: Die langen Baumstämme und die dichten Kronen bilden meist eine relativ einheitliche Waldoberfläche aus, die die Reliefunterschiede am Boden ausgleicht und o sogar mittelgroße Rinnen und Gräben unsichtbar macht. Die kleinräumige Kulturlandscha erhöht daher nicht nur die Artenvielfalt, sondern sie vergrößert auch die landschaliche Vielfalt der Alpen sehr stark. Dies ist deswegen so wichtig, weil die Alpen von Natur aus keine offene Landscha sind, genauer gesagt, weil sie in den unteren und mittleren Höhenbereichen keine offene Landscha sind: Hier durchbrechen nur die Sand- und Kiesbänke in den Talauen, einige Felswände und wenige isolierte Felsgipfel die großen flächendeckenden Wälder. Diese Bereichen düren im Naturzustand relativ gleichförmig ausgesehen haben, und es war damals kaum möglich, vom Tal aus die Berge zu sehen, weil der Wald fast überall die Sicht versperrte. Alle Bilder dieses Kapitels zeigen Landschaen, die im Naturzustand mit Wald bedeckt wären, und sie ma-
Traditionelle Kulturlandschaften · Charakteristika alpiner Kulturlandschaften
chen damit anschaulich nachvollziehbar, welche Bedeutung die traditionelle Kulturlandscha für die Kleinräumigkeit der Alpen besitzt. Für Besucher von außerhalb werden die Alpen dadurch sehr viel abwechslungsreicher, vielfältiger und attraktiver als im Naturzustand, und Viele würden auch sagen, dass sie dadurch „schöner“ werden. Für die Bewohner der Alpen dagegen besitzt die Kleinräumigkeit eine ganz andere Bedeutung: In der kleinräumigen Gestaltung der Kulturlandscha erkennen sie ihre eigene Arbeit und die der vorangegangenen Generationen wieder, sie sehen, wie sich ihre jahrhundertelange Arbeit im Landschasbild und in den Landschasformen niedergeschlagen hat und wie aus der abweisenden und teilweise bedrohlichen Alpennatur ein menschlicher Lebensraum geworden ist. Solche Kulturlandschaen können mit Fug und Recht mit dem o missbräuchlich verwendeten Begriff „Heimat“ bezeichnet werden: Sie stellen einen Teil der Natur
a 101 Bei dieser Kulturlandscha in 1400 – 1500 m
Höhe im Tal des Grischbaches (Vallée des Fenils/Freiburger Alpen) kann man die kleinsten Reliefunterschiede auf den Hängen gut wahrnehmen; der Wald würde an dieser Stelle diese Unterschiede verwischen (September 2006).
dar, der mittels Arbeit zu einem menschlichen Lebensraum umgewandelt wurde, wobei aus der engen Verflechtung von Natur- und Kulturfaktoren im Laufe der Zeit Landschaen entstanden sind, die unverwechselbar und einmalig sind und in denen sich die lange Geschichte des menschlichen Umgangs mit der Natur auch für Laien sichtbar widerspiegelt. Allerdings wissen diese Bauerngesellschaen, dass ihre Kulturlandschaen nicht einfach „da“ sind, sondern steter Nutzung und Pflege bedürfen und ohne sie schnell wieder verschwinden würden.
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a 102 Die kurze Vegetation der Kulturlandscha lässt kleinste
Reliefunterschiede wie eiszeitliche Seitenmoränen oder Erosionsrinnen deutlich hervortreten: Hier am Rande der Emmentaler Alpen oberhalb des Thuner Sees bei Heiligenschwendi in etwa 1100 m Höhe (Oktober 1992).
Die traditionellen Kulturlandschaen im Alpenraum sind sichtbarer Ausdruck einer bestimmten Form der Naturnutzung (vorderasiatisches Grundmuster der Landwirtscha, alpenspezifisch in Form von Staffelsystemen modifiziert), deren zentrales Ziel neben der Produktion von Lebensmitteln darin besteht, die sprunghae Naturdynamik zu dämpfen und die menschlich geschaffenen Kulturflächen ökologisch stabil zu halten, also Produktion und Reproduktion eng miteinander zu verbinden. Das Produkt dieser spezifischen Mensch-Natur-Interaktion ist eine Landscha, die die naturräumlichen Strukturen besonders stark herausarbeitet und die kleinräumiger und artenreicher ist als die Naturlandscha. Diese
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Landscha kann nur dann menschlicher Lebensraum und „Heimat“ sein, wenn der Mensch für ihre Erhaltung und Pflege Verantwortung übernimmt und dies an die nachfolgenden Generationen weitergibt – andernfalls würde die Kulturlandscha entweder zuwachsen und im Wald verschwinden oder von Erosionen, Muren, Lawinen oder Hochwasser zerstört werden. Diese grundsätzlichen Aussagen gelten für alle Kulturlandschaen der Alpen. Um aber ihrer großen Vielfalt etwas gerechter zu werden, stellen die beiden folgenden Abschnitte die zwei wichtigsten Kulturlandschasformen der Alpen etwas näher vor, nämlich die der Alt- und die der Jungsiedelräume. Die Altsiedelräume finden sich in den Alpengebieten, die schon in römischen Zeiten relativ dicht besiedelt sind (inneralpine Trockenzonen, Südsaum der Alpen) und in denen es eine Kontinuität von Siedlungen und Traditionen von der Römerzeit bis zur Neuzeit gibt. Die Jungsiedelräume sind in römischen Zeiten dünn besiedelt, in der Völkerwanderungszeit reißen hier Sied-
Traditionelle Kulturlandschaften · Charakteristika alpiner Kulturlandschaften
lungen und Traditionen ab, und ab dem Hohen Mittelalter werden diese Räume völlig neu besiedelt (Nordsaum der Alpen, östliche Ostalpen). Beide Räume unterscheiden sich deutlich in der landwirtschalichen Nutzung, in der Siedlungsstruktur, in den kulturellen Werten und auch im Landschasbild.
a 103 Im Naturzustand waren diese Hänge bis hinauf zu den Graten
vollständig bewaldet. Erst durch ihre Umwandlung in Ackerflächen (bis in eine Höhe von 2000 m) und Weideflächen (oberhalb der Äcker) wird das Mikrorelief deutlich sichtbar. Rechts am Bildrand der Ort Ferriere, 1888 m (Stura-Tal/Seealpen). Der Grat oben besitzt eine Höhe von 2212 m (ganz rechts) bis 2469 m (Juli 2004).
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Altsiedelräume in den Alpen Die Altsiedelräume der Alpen werden ab etwa 6000 v. Chr. von Süden her besiedelt, also von Menschen mit einer mediterranen Ernährungsweise (Brot, Öl und Wein). Da in den Alpen Oliven nicht wachsen, muss die Ernährungsbasis modifiziert werden: Die Produkte der Viehwirtscha ersetzen die der Olivenkulturen, aber dem Ackerbau kommt weiterhin die zentrale Stellung zu. In den tief gelegenen Tälern am Alpenrand hat die Viehwirtscha nur einen randlichen Stellenwert, und sie nimmt an Bedeutung zu, je höher ein Ort im Gebirge liegt, ohne allerdings jemals den Ackerbau aus seiner dominanten Position zu verdrängen. Allerdings erfordert der Ackerbau pro Parzelle einen Arbeitseinsatz, der dreibis viermal so groß ist wie in der Viehwirtscha, weshalb er hier immer im Zentrum der bäuerlichen Aktivitäten steht. Dies kann man auch daran sehen, dass die wich-
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Traditionelle Kulturlandschaften
tigsten Feste im Jahreslauf mit dem Ackerbau zusammenhängen (Ernte, Brotbacken). Diese Agrarstruktur kann man auch heute noch in der Landscha erkennen: Die ortsnahen Fluren um die Siedlungen herum weisen fast überall Terrassen auf, wurden also früher als Ackerflächen genutzt, denn für Wiesen und Weiden wurden nie Terrassen angelegt. Diese waren auf Ackerflächen nötig, weil der Boden zwischen der Ernte und dem Wachsen der neuen Saat ohne schützende Vegetationsdecke daliegt und leicht erodiert werden kann. Mit dieser landwirtschalichen Ausrichtung sind weitere Charakteristika verbunden: Ackerparzellen erfordern viel Arbeitseinsatz auf kleinen Flächen, bringen aber auch einen hohen Ertrag. Deshalb gibt es in diesen Alpenregionen eine relativ hohe Bevölkerungsdichte. Und da es
für eine Familie nicht sinnvoll wäre, ihre Ackerflächen in der Flur an einer Stelle zu konzentrieren, weil dann ein Unwetter oder eine Lawine die gesamte Getreideernte eines Jahres zerstören würde, werden die Ackerflächen systematisch parzelliert und in der gesamten Flur verteilt. Damit eng verbunden ist die Erbsitte der Realteilung, bei der jedes Kind Parzellen aus dem elterlichen Erbe erhält. Man kann erst dann heiraten, wenn die Parzellen, die beide Ehepartner in die Ehe einbringen, groß genug sind, um eine Familie zu ernähren. Diese Realteilung betrifft auch die Gebäude, die ebenfalls geteilt und dann o durch Anbauten vergrößert werden, sodass dicht zusammengebaute Haufendörfer entstehen. Deshalb sind Gebäudeteile und Ackerparzellen stets in Bewegung und werden bei jedem Erbfall neu kombiniert. Charakteristisch für dieses System ist weiterhin, dass eine Familie ihren Ackerbau auf eigenen Parzellen be-
_ 104 und a 105 Der Ort Soglio im Bergell (Schweiz) liegt in 1097 m Höhe, also
300 Höhenmeter über dem Fluss Mera, auf einem flacheren Hangstück in gut besonnter Lage. Der Ort ist ein dicht zusammengebautes Haufendorf (links), und er wird von der ortsnahen Flur umgeben (oben), die früher als Ackerfläche genutzt wurde und die heute als Wiese der Heugewinnung dient (Juli 2017).
treibt, während ihr Vieh Flächen nutzt, die im Gemeinschasbesitz sind (Wälder und Almen). Daher kommt der Dorfgemeinscha im Alltag ein sehr hoher Stellenwert zu, und dies schlägt sich in großen gemeinsamen Festen nieder. In den Altsiedelräumen der Alpen gibt es also ein relativ arbeits- und flächenintensives Agrarsystem, was heute noch an zahlreichen Landschasrelikten abgelesen werden kann.
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_ 106 Esskastanien sind ein wichtiges Produkt am Südrand
der Alpen. Hier Esskastanien in 950 m Höhe im BognancaTal westlich von Domodossola (Lepontinische Alpen) (September 2015).
_ 107 Pflügen eines Kartoffelackers im Neraissa-Tal (Cotti-
sche Alpen) mit Maultier und Hakenpflug. Wegen der fast vollständigen Einstellung des Ackerbaus in den Alpen sind solche Arbeiten nur noch sehr selten zu sehen (Mai 1980).
Die Bauern der Altsiedelräume legen großen Wert darauf, neben Ackerbau und Viehwirtscha auch etwas Wein zur Eigenversorgung anzubauen. Deshalb wird in vielen Alpentälern bis in eine Höhe von 800 oder 900 m Wein angebaut, auch wenn die Qualität aus heutiger Sicht zu wünschen übrig lässt. Und bei den Weinbergen in den großen und tiefgelegenen Längstälern der Alpen ist es o so, dass Bauern aus benachbarten hochgelegenen Seitentälern hier Weinbergparzellen besitzen, die sie trotz weiter Wege selbst bewirtschaen, um keinen Wein kaufen zu müssen. Insgesamt gibt es in den Alpen gut 30 autochthone Rebsorten, also Rebsorten, die nur hier und nirgendwo anders vorkommen. Dies ist ein Indiz dafür, dass der Wein nicht nur von den Römern in die Alpen gebracht wurde, sondern dass wilde Weinreben vielleicht auch in den Alpen selbst kultiviert wurden.
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Traditionelle Kulturlandschaften · Altsiedelräume in den Alpen
Ein weiteres wichtiges Landwirtschasprodukt am Südrand der Alpen ist die Esskastanie, die im 20. Jahrhundert als „Brot der Armen“ bezeichnet wird. Sie wird o flächendeckend bis in 900 oder 1000 m Höhe angebaut und liefert sehr hohe Erträge, wobei nicht nur die Früchte eine große Rolle spielen, sondern auch ihr vielfältig nutzbares Holz. Darüber hinaus gibt es einige Sonderprodukte wie Lavendel oder Kräuter, die an warmen Standorten angebaut werden. Dadurch besitzt die Landwirtscha der Altsiedelräume eine erhebliche Produktvielfalt. Staffelsysteme haben bei ihr einen hohen Stellenwert: Der Hauptwohnsitz im Tal ist nur im Winter durchgehend bewohnt, und im übrigen Teil des Jahres hält sich die Familie in einer oder mehreren Sommersiedlungen (auch Maiensäss genannt) auf, die o 500 m höher liegen. Solche Sommersiedlungen sehen ganz ähnlich aus wie Wintersiedlungen, es fehlt lediglich der Backofen (früher wurde nur einmal im Jahr im November gebacken), und sie haben keine Balkone (zum Trocknen und Lagern von Landwirtschasprodukten). Die Flur um die Sommersiedlungen herum unterscheidet sich wenig von der der Wintersiedlungen, denn auch hier dominieren die Ackerflächen. Allerdings gibt es in dieser Höhenlage mehr Wiesen als weiter unten, die dazu dienen, das Winterfutter für die Tiere zu gewinnen. In Tälern mit besonders großen Reliefunterschieden gibt es mehrere Sommersiedlungen, um die unterschiedlichen Zeiten des Vegetationsbeginns und der Vegetationsdauer optimal zu nutzen. Den Rekord im Alpenraum hält das Val d’Anniviers im französischsprachigen Wallis, wo es früher bis zu zwanzig verschiedene Nutzungsstufen gab, um die Flur zwischen 520 m (Weinberge im Rhônetal) und 2800 m (höchste Almweiden) zu bewirtschaen; eine einzelne Familie besaß daher bis zu 70 Wohn- und Wirtschasgebäude!
a 108 Weinbau im Susa-Tal westlich von Turin in 910 m Höhe (Cottische Alpen); darunter liegt die große Festung
von Exilles, die den wichtigen Weg zum Montgenèvre-Pass seit der Bronzezeit kontrolliert und deren sichtbare Gebäude aus dem 19. Jahrhundert stammen. Da das Susa-Tal eine kleine inneralpine Trockenzone darstellt, wird hier mindestens seit der Römerzeit Wein angebaut, und es gibt hier vier autochthone Rebsorten, also Rebsorten, die nur hier vorkommen (Juni 2013).
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a 109 Auf den Almweiden gab es früher nur selten Ställe, vielmehr wurde das
Vieh nachts zum Schutz vor Raubtieren in Steinpferchen zusammengetrieben. Dieser Steinpferch in 2100 m Höhe im Neraissa-Tal wurde bis 1965 genutzt. Nicht sichtbar sind zwei kleine Tonnengewölbe am Stein, die halb unterirdisch daneben liegen und die früher als Schlafstätte für die Hirten und als Käsekeller dienten. Im Hintergrund die Seealpen mit dem Rio-Freddo-Seitental (Bildmitte), dem Monte Matto, 3088 m (links), und der Rocca Valmiana, 3006 m (Bildmitte oben) (September 1984).
Wegen der großen Bedeutung des Ackerbaus muss sich die Viehwirtscha im System der Landwirtscha der Altsiedelräume mit den höher gelegenen Gebieten begnügen, und hier liegen die weiten Almgebiete, die jahrtausendelang kaum Gebäude besitzen. Weil alle halbwegs geeigneten Flächen weiter unten als Äcker und Wiesen
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Traditionelle Kulturlandschaften · Altsiedelräume in den Alpen
genutzt werden, bleiben für die Almweiden nur sehr hoch gelegene Gebiete übrig, die heute von Besuchern o als „Urlandscha“ oder „reine Natur“ wahrgenommen werden, obwohl sie sehr alte Almflächen darstellen. Um nicht so viel Heu für die Winterfütterung produzieren zu müssen und die Fläche der Wiesen klein halten zu können, wird der Viehbestand im Spätherbst durch Schlachten und Verkauf von Tieren stark reduziert, und man gewinnt im Wald sog. „Laubheu“ (dünne Zweige mit getrockneten Blättern) als zusätzliches Viehfutter. Die Nutztierrassen dieser Alpenregionen besitzen meist eine sehr lange Züchtungstradition. Die Erträge an Milch, Fleisch und Wolle sind in der Regel nicht hoch, aber dieser Nachteil wird durch die große Robustheit der Tiere (Kälteresistenz, körperliche Stabilität), ihre Geländegängigkeit (Nutzung auch steiler Hänge in großer Höhe) und ihre Genügsamkeit (Verwertung von kargem Futter) mehr als ausgeglichen. Diese Punkte sind ein Hinweis darauf, dass die Viehwirtscha in diesen Alpenräumen nicht sehr intensiv betrieben wird und dass die Hauptarbeit und die Hauptsorge dem Ackerbau gilt.
_ 110 Lämmer der
Sambucana-Rasse im Neraissa-Tal. Diese Schafrasse ist sehr alt und hat sich im Laufe der Zeit sehr gut an die Bedingungen im Alpenraum angepasst. Sie war am Anfang der 1980er Jahre fast ausgestorben, konnte dann aber wieder gezielt aufgewertet werden. Solche traditionellen Haustierrassen sind heute sehr wichtig, wenn es um eine schonende Nutzung der empfindlichen Almregion geht (Mai 1980).
111 Eine kleine Sam`
bucana-Schafherde (die hellen Punkte in der Mitte im unteren Bilddrittel) im Neraissa-Tal in etwa 2200 m Höhe. Diese Schafe können selbst steile und karge Berghänge produktiv nutzen. Wenn der Hirte – so wie hier – auf den richtigen Weidegang und die richtige Zahl der Tiere achtet, dann fördert dies die Stabilität der Vegetationsdecke und die Artenvielfalt (September 1980).
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_ 112 Nach oben hin gehen Almweiden und Bergmähder
allmählich in Ödland über, wobei beide Bereiche sehr kleinräumig miteinander verzahnt sind, wie es am Osthang des Gipfels Pelvo d’Elva, 3064 m, im Maira-Tal in den Cottischen Alpen ab etwa 2500 m Höhe gut zu erkennen ist. Links ist ein Kar mit Moränenresten zu erkennen (Juni 1995).
` 113 Blick auf die Azaria-Hochebene in 1600 m Höhe (die
Fläche vorn im Tal, die auf beiden Seiten von Wald begrenzt wird) und auf den Torre di Lavina, 3308 m, der das Campiglia-Seitental abschließt (Gran Paradiso-Gruppe/Grajische Alpen). Man kann hier sehr gut erkennen, wie eng Natur- und Kulturflächen miteinander verzahnt sind (August 2012).
Für die alpinen Rasen oberhalb der Waldgrenze gibt es zwei Nutzungsmöglichkeiten: Die etwas flacheren Flächen, die über Wasser in Form einer Quelle oder eines kleinen Baches verfügen, werden als Almweiden genutzt, die sehr steilen oder sehr trockenen Flächen werden gemäht, und dies betrifft auch Rasenbänder zwischen Felsen, wo bei der Mahd die Sichel zum Einsatz kommt und das sehr kurze Gras mit dem Reisigbesen zusammengekehrt wird. Diese hochgelegenen Mähflächen, die wegen des langsamen Graswachstums teilweise nur jedes zweite oder jedes dritte Jahr gemäht und nie gedüngt werden und die ein sehr hochwertiges Heu liefern, nennt man „Wildheuplanggen“ (Schweiz) oder „Bergmähder“ (Österreich). Das gewonnene Heu wird an Ort und Stelle in Heutristen aufgeschichtet und erst im Winter mit
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Traditionelle Kulturlandschaften · Altsiedelräume in den Alpen
dem Heuzug ins Tal gebracht, was eine gefährliche Tätigkeit darstellt. Auf diese Weise gibt es kaum einen Vegetationsflecken im Gebirge, der nicht vom Menschen genutzt wird. Am alpinen Ödland haben Bauerngesellschaen keinerlei Interesse, weil dieses für sie nutzlos ist. Die Suche nach verlorenen Tieren, der Überblick über die gesamte Almfläche oder die Jagd auf Gemsen und Steinböcke sind der einzige Grund, Felsgrate und Gipfel zu besuchen. Deshalb ist es auch nicht nötig, die Almflächen nach oben hin abzugrenzen: Nach unten hin, also zum Wald oder Privateigentum, sind die Grenzen der Almen genau festgelegt, aber oben reichen sie meist pauschal einfach bis zur nächsten Wasserscheide, also bis zu den Felsgraten und Gipfeln. Da sich viele aktuelle Aussagen zur flächenhaen Nutzung der Alpen immer noch auf die traditionellen Almgrenzen beziehen (es gibt kaum Neuvermessungen mit einer systematischen Trennung von Weide- und Ödlandflächen), sind diese Flächenangaben sehr mit Vorsicht zu betrachten. Das Bild rechts zeigt noch einmal eine typische Kulturlandscha im Altsiedelraum der Alpen, die sich mit der Höhe immer stärker mit dem alpinen Ödland vermischt, so dass eine klare Grenze zwischen Kultur und Natur kaum zu ziehen ist.
Jungsiedelräume in den Alpen Die Jungsiedelräume der Alpen (Alpennordsaum und östliche Ostalpen) werden ab dem 7. – 8. Jahrhundert n. Chr. von Norden her durch Alemannen und Baiern besiedelt, und von Südosten kommende Slawen erschließen sich die südöstlichen Ostalpen als Lebensraum. In der Völkerwanderungszeit sind diese Alpenregionen ziemlich menschenleer geworden, und der Wald hat die ehemaligen Kulturlandschasflächen wieder in Besitz genommen, so dass die neuen Siedler den Eindruck haben, erstmals in der Wildnis sessha zu werden. Bei vielen Menschen Mittel- und Nordeuropas hat sich um 3000 v. Chr. eine genetische Mutation durchgesetzt, die es Erwachsenen ermöglicht, Rohmilch zu verdauen. Alemannen und Baiern besitzen deshalb eine Ernährungsweise, bei der die Produkte Milch, Käse und Fleisch wichtiger sind als Getreide. Sie sind daher in der Lage, sich im feuchten Alpennordsaum, der für Ackerbau ungünstig ist, einen Lebensraum zu schaffen, indem die Viehwirtscha die zentrale und der Ackerbau nur noch eine sekundäre Rolle spielt. An die Stelle der Dauerackerflächen treten jetzt Feldgraswechselflächen mit „Egartwirtscha“: Im regelmäßigen Turnus werden Parzellen wenige Jahre als Acker, dann viele Jahre als Wiese genutzt, die mit dem hofeigenen Viehmist gedüngt werden (so genannte „Fettwiesen“). Auf diese Weise dient der größere Teil der hofnahen Flur der Viehwirtscha (Gewinnung des Win-
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Traditionelle Kulturlandschaften
a 114 Die Gebäude im Jungsiedelraum der Alpen beste-
hen o aus Holz, und die Höfe liegen häufig einzeln (Streusiedlung) so wie hier in Gsteig im westlichen Berner Oberland (September 2006).
terfutters), während die Getreideparzellen immer nur einen kleinen Teil der Fläche ausmachen. Weil die Produktivität bei der Lebensmittelproduktion und der Arbeitsaufwand pro Fläche bei der Viehwirtscha deutlich geringer als beim Ackerbau ist, lässt dieses Landwirtschassystem nur eine Siedlungsdichte zu, die etwa ein Drittel bis ein Viertel von der der Altsiedelräume beträgt. Dies schlägt sich unter anderem in einem deutlich höheren Waldanteil in der Kulturlandscha nieder, der um 1900 etwa doppelt bis dreimal so hoch ist wie in den Altsiedelräumen. Die mit der Viehwirtscha verbundene arbeitsextensivere Nutzungsweise führt dazu, dass sowohl die einzelnen Parzellen als auch die normalen landwirtschalichen Betriebe deutlich größer als im Altsiedelraum sind. Häufig – aber nicht immer – herrscht hier die Tradition des Anerbenrechts (der gesamte Hof wird im Erbgang geschlossen an einen Sohn weitergegeben); vielerorts gibt es Streusiedlungen mit zahllosen Einzelhöfen, die inmitten ihrer Flur liegen und die (mit Ausnahme der Küche) o aus Holz gebaut sind.
a 115 Das Streusiedlungsgebiet „Sunnige
Lauenen“, 1250 – 1500 m, oberhalb des Ortes Lauenen (Berner Alpen). Die Höfe liegen inmitten ihrer Parzellen. Über dem Kulturland steht der Bannwald, und darüber beginnen die Bergmähder (September 2006). Im Hintergrund das breite Wildstrubel-Massiv, 3244 m (August 1982).
` 116 Im Rahmen der „Egartwirtscha“
wird die hofnahe Flur einige Jahre als Acker und anschließend viele Jahre als Wiese genutzt. Wenn eine Wiese zu einem Acker umgewandelt werden soll, ist der erste Arbeitsschritt das sog. „Vorpflügen“, bei dem die Vegetationsdecke in zahlreiche schmale Streifen zerschnitten wird. Die Aufnahme von Erika Hubatschek vom Frühjahr 1943 zeigt diesen Arbeitsgang und den dabei benutzten „Vorpfluag“ (bei Juns im Tuxer Tal, Tirol).
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a 117 Dieser „Paarhof“ (zwei etwa gleich große, nebeneinander stehende Ge-
bäude, links das Wohn- oder „Feuerhaus“, rechts die Stallscheune, das „Futterhaus“) liegt auf einem flachen Schwemmkegel in 800 m Höhe im Streusiedlungsgebiet „Laderding“ der Gemeinde Bad Hofgastein (Hohe Tauern). Er liegt als Einzelhof mitten in seiner Flur, einer sogenannten „Einödblockflur“, deren Parzellengrenzen durch Hecken markiert werden, wodurch die Größe der Parzellen gut sichtbar ist (April 2018).
Neben den Unterschieden bei den Gebäuden (Stein-Holz) und der Siedlungsstruktur (Dorf-Einzelhof) fallen beim Vergleich der Kulturlandschaen zwei Dinge besonders ins Auge. Das ist einmal der deutlich höhere Waldanteil im Jungsiedelraum, der zustande kommt, weil der Nutzungsdruck hier geringer ist als im Altsiedelraum. Der zweite Unterschied besteht darin, dass es in der hofnahen Flur keine Ackerterrassen gibt, denn diese würden die Wiesennutzung der Egartwirtscha stören. Dies führt
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Traditionelle Kulturlandschaften · Jungsiedelräume in den Alpen
zu vermehrtem Bodenabtrag, und deshalb ist die Arbeit des „Erd-Auragens“ hier ganz besonders wichtig. Auf Grund des Anerbenrechtes bleibt der „Hof“ in der Regel im Besitz der Familie, und er wird o als „Erbhof“ über viele Generationen in der gleichen Familie weitergegeben. Während im Altsiedelraum das Dorf das bäuerliche Zentrum darstellt, nimmt im Jungsiedelraum der Hof diese Stelle ein. Die Höfe können unterschiedlich groß sein (Bewirtschaung allein durch die eigene Familie oder Mitarbeit von wenigen Dienstboten bis hin zu 30 Dienstboten; die größten Höfe der Alpen gibt es im Raum Kitzbühel), und alle größeren Höfe stellen in der Regel einen selbständigen bäuerlichen Mikrokosmos dar, der nicht sehr viele Bezüge zur übrigen Bevölkerung besitzt. Die wichtigsten Feste im Jahreslauf hängen hier mit der Viehwirtscha zusammen, etwa der Almabtrieb oder die Verteilung des auf der Alm produzierten Käses an die Alpgenossen.
a 119 Eine typische Kulturlandscha im Jungsiedelraum
des Berner Oberlandes: An den Hängen zwischen den Orten Schönried und Saanenmöser liegen Einzelhöfe in 1250 – 1400 m Höhe; die Flur ist hier sehr kleinräumig gekammert und durch zahlreiche Waldstreifen untergliedert (Bildmitte). Der Bannwald ist stark aufgelichtet, und darüber erstrecken sich die Almen und die Bergmähder bis in 2000 m Höhe. Dahinter die schneebedeckte Kette der Berner Alpen mit dem Wildstrubel, 3243 m (September 2006).
_ 118 Während im Altsiedelraum zur Abgrenzung o
Trockenmauern verwendet werden, erfüllen im Jungsiedelraum o Holzzäune diese Funktion, wobei es sehr unterschiedliche „Zaunlandschaen“ gibt. Hier ein Beispiel aus dem Großarltal/Hohe Tauern (April 2018).
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_ 120 Rasenflächen im alpinen
Höhenstockwerk, die für Tiere zu steil oder zu trocken sind, werden auch im Jungsiedelraum als Bergmähder genutzt. Die Aufnahme von Erika Hubatschek vom August 1939 aus der Gemeinde Zederhaus in etwa 2200 m Höhe (Lungau, Niedere Tauern) zeigt große Bergmähderflächen, die gerade gemäht werden. Das Gras wird zum Trocknen in Streifen zusammengerecht (helle Streifen in Falllinie) und später in kleinen Bergmahdhütten gelagert oder zu Heutristen aufgestapelt. Dieses Bild macht sehr gut deutlich, dass man o aus großer Entfernung erkennen kann, wann bzw. ob jemand seine Bergmähderparzelle mäht und ob er dies in der „richtigen“ Weise tut. Auf diese Weise ist soziale Kontrolle leicht möglich, was früher eine wichtige Rolle zur Gewährleistung einer nachhaltigen Nutzung spielte.
Während es im Altsiedelraum viele und o stark ausdifferenzierte Staffelsysteme gibt, sind diese im Jungsiedelraum vergleichsweise einfach. Der Hauptunterschied besteht darin, dass der „Hof“ ganzjährig, also auch im Sommer bewohnt wird, während die Wintersiedlungen im Altsiedelraum im Sommer bis auf wenige Tage (Erntezeit) unbewohnt sind. Das „nomadische“ Element mit mehreren Wohnsitzen in unterschiedlichen Höhenlagen ist im Jungsiedelraum nur schwach ausgebildet. Es gibt zwar auch hier eine Zwischenstufe zwischen dem Hof und der Alm, aber diese –Vorsass oder Voralm genannt – dient in der Regel nur der Viehwirtscha und besitzt keine Acker-, sondern nur Wiesen-, Wald- und
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Traditionelle Kulturlandschaften · Jungsiedelräume in den Alpen
Weideparzellen. Hier wohnen für zwei, drei Wochen im Frühsommer und im Herbst ein oder zwei Familienangehörige und nicht die gesamte Familie, sodass diese Zwischenstufe einfacher ausgebildet ist als die Sommersiedlungen im Altsiedelraum. Im Almbereich dagegen gibt es wenig relevante Unterschiede, denn hier hängt es in erster Linie vom Relief und von der Höhenerstreckung der Alm ab, wie viele Almstaffel ausgebildet werden, also wie viele Höhenstufen die Tiere nacheinander systematisch abweiden. Allerdings kann man im Jungsiedelraum feststellen, dass die wichtigsten Almen, die Kuh- oder Sennalmen, auf denen der Käse produziert wird, o relativ tief, auf ehe-
maligen Waldflächen liegen, während im Altsiedelraum ähnliche Almen eher am oberen Rande der früheren Wälder liegen. Interessant ist, dass sich in der alemannischen „Älplersprache“ zahlreiche Lehnwörter aus dem Romanischen finden. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die neuen Siedler im Bereich der Almwirtscha viele wichtige Dinge von den Bewohnern der Altsiedelräume lernen und dass sie damit zugleich deren Namen übernehmen. Auch bei den Nutzungsabsprachen gibt es wichtige Unterschiede: Während im Altsiedelraum alle Wälder und Almen im Gemeinschasbesitz sind und ihre Nutzung gemeinschalich abgesprochen und geregelt werden muss, besitzt ein Hof im Jungsiedelraum o auch einige Wald- und Almflächen als Eigentum, und der Gemeinschasbesitz hat hier einen geringeren Stellenwert. Die kleinen Ackerparzellen im Altsiedelraum erfordern ebenfalls eine Nutzungsabsprache, weil man sie nur er-
a 121 Eine „Vorsass“ im Hengstschlund in 1249 m Höhe
(Berner Voralpen), die im Juni und im September vor und nach der Almzeit genutzt wird. Im Unterschied zu den Almen, die häufig gemeinschalich genutzt werden, sind Gebäude und Flur der „Vorsassen“ in der Regel im Privatbesitz (Mai 1995).
reichen kann, wenn man fremde Ackerparzellen überquert, und ähnliches gilt für Veränderungen an Gebäuden, die meist mehrere Besitzer haben. Im Altsiedelraum muss daher das gesamte Wirtschaften mit der Dorfgemeinscha abgesprochen werden, was sehr mühsam ist und weshalb Innovationen nur schwer umzusetzen sind. Im Jungsiedelraum fällt dies dagegen viel leichter, weil der einzelne Hof wirtschalich o ziemlich eigenständig ist und es kaum einer Absprache mit Nachbarn bedarf.
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Obwohl die Kulturlandschaen der Alpen zentrale Gemeinsamkeiten aufweisen (Waldrodung, Staffelwirtscha, Kleinräumigkeit, Arten- und Landschasvielfalt), zeigen die Alt- und Jungsiedelräume doch verschiedene Landschas“gesichter“ und unterscheiden sich bei Gebäuden, Siedlungsformen, Ackerterrassen und beim Waldanteil deutlich voneinander. Es gibt einige wenige Alpentäler, die zwischen Altund Jungsiedelräumen liegen und die gleichzeitig von beiden Seiten her beeinflusst werden. Zu diesen Tälern gehört das Fex-Tal im Oberengadin (Talboden zwischen 1850 und 2250 m), das beim Ort Sils Maria in den Inn mündet und das lange Zeit lediglich almwirtschalich genutzt wird. Ab dem 16. Jahrhundert wird der untere Talteil zwischen 1850 m und 1970 m Höhe von zwei Seiten aus für eine intensivere Nutzung erschlossen: Bauernfamilien aus dem Bergell errichten hier Maiensässe (Sommersiedlungen), während Adelsfamilien aus dem Engadin hier Einzelhöfe anlegen, die von Pächtern ganzjährig bewohnt und bewirtschaet werden. Die unterschiedlichen Gebäude stehen noch heute in Fex-Platta und Fex-Crasta nebeneinander und verweisen auf unterschiedliche Nutzungskonzepte im gleichen Naturraum.
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Traditionelle Kulturlandschaften · Jungsiedelräume in den Alpen
Dieses Beispiel macht anschaulich deutlich, dass es im Agrarzeitalter keinesfalls eine einzige, sozusagen „naturangepasste“ oder „naturgemäße“ Nutzungsform der Alpen gibt, sondern dass o mehrere Formen möglich sind, sofern jeweils die Reproduktion der Kulturlandscha gewährleistet ist. Deshalb ist es nicht sinnvoll, die traditionellen Kulturlandschaen als „naturangepasst“ oder „naturgemäß“ zu bezeichnen, weil sich der Mensch beim Entwurf seiner Siedlungs- und Nutzungsstrukturen keinesfalls der Natur unterwir, sondern weil er im Gegenteil seine kulturellen Strukturen, Muster und Werte in der Landscha realisiert, die Natur also nach seinen Ideen umgestaltet und verändert. Die unterschiedlichen Strukturen der Kulturlandscha in den Alt- und Jungsiedelräumen der Alpen belegen dies sehr anschaulich. Wer in den Alpen Landschaen lesen gelernt hat, der wird schnell zahlreiche weitere Unterschiede entdecken, sei es innerhalb des Alt-, sei es innerhalb des Jungsiedelraumes. Und die Vielfalt der traditionellen Kulturlandschaen düre in den Alpen auch heute noch so groß sein, dass ein Menschenleben nicht ausreicht, sie zu erfassen und zu verstehen.
_ 122 Traditionelle Kulturlandscha im Lauenental (Ber-
ner Alpen): In der Bildmitte die Einzelhöfe mit ihrer Flur (grün) auf der östlichen Talseite, die bis in 1400 m Höhe reichen. Darüber erstreckt sich der Bannwald, der teilweise vollständig erhalten, teilweise etwas aufgelöst ist. Der Grat, der darüber die Grenze zum Obersimmental bildet, ist zwischen 2038 und 2100 m hoch. Hier wurde der Wald flächenha gerodet, um Almflächen (gelb) zu gewinnen (September 2006).
a 123 Das Fex-Tal im Oberengadin liegt im Grenzbereich
zwischen dem Engadiner und dem Bergeller Siedlungsraum und wird lange Zeit von beiden Räumen almwirtschalich genutzt. Hier der vordere Talteil (Fex-Platta) in 1900 m Höhe. Im Hintergrund Piz Lagrev, 3164 m (ganz links mit Wolkenfahne), und Piz Polaschin, 3013 m (September 2001).
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Transitwege, Bergbau, Marktorte und Städte Die bisherigen Ausführungen könnten den Eindruck erwecken, die Alpen seien in der vorindustriellen Zeit ein rein ländlich-bäuerlicher Raum gewesen. Dies ist jedoch nicht der Fall: Über den Transitverkehr und den Bergbau ist die alpine Welt von Anfang an wirtschalich und kulturell eng mit Europa verbunden, und zahlreiche Marktorte und Städte blühen seit römischen Zeiten in den Alpen auf, weil überregionale Wirtschasverflechtungen neben der Selbstversorgerwirtscha immer wichtiger werden. Die damit verbundenen Strukturen gehören zur traditionellen Kulturlandscha und zum traditionellen Leben in den Alpen untrennbar dazu. Zum Transitverkehr: Die lokalen Bauerngesellschaften ermöglichen eine gute Durchquerung der Alpen, denn ihr Wegsystem verbindet nicht nur die einzelnen Siedlungen im Tal, sondern auch die einzelnen Höhenstockwerke miteinander, und es reicht von den höchsten Almen fast immer über die Wasserscheiden zu den Almen der Nachbartäler hinüber. Mit Hilfe dieser lokalen Wegsysteme gibt es für Auswärtige zahllose Möglichkei-
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Traditionelle Kulturlandschaften
ten, die Alpen problemlos zu überschreiten, wenn ihnen Einheimische den Weg zeigen. Die Nutzung des bäuerlichen Wegsystems für den Transitverkehr von Personen und Waren wird dadurch erleichtert, dass sich lokale Landwirtscha und Transitverkehr auf das gleiche Transportmittel stützen, nämlich auf sogenannte „Saumtiere“, also Pferde oder Maultiere, die Lasten tragen („säumen“). Im Unterschied zu heute, wo Transitverkehr und lokale Wirtscha einen Gegensatz darstellen, fördert der Transitverkehr in der vorindustriellen Zeit die lokale Wirtscha, weil er sich dezentral auf gut 300 Übergänge verteilt und weil er auf bäuerliche Leistungen angewiesen ist (Bereitstellung der Saumtiere, Transport der Waren durch lokale Säumergenossenschaen). Da Saumtiere mit einem steilen Relief keine Probleme haben, können Saumwege relativ steil verlaufen, und sie benötigen nur wenige Serpentinen, um Höhe zu gewinnen, und wenige Kunstbauten, um Hindernisse (v. a. tief eingeschnittene Wasserläufe) zu bewältigen.
_ 124 Traditionelle Saum-
wege sind in der Regel auf beiden Seiten mit Steinmauern eingefasst, um Flurschäden durch Tiere zu vermeiden, sie sind gepflastert, um Erosion zu verhindern, und sie verfügen bei Steilstellen o über Steintreppen. Hier der historische Saumweg aus dem Sesia- ins Gressoney-Tal (Piemont/AostaTal) im Vogna-Seitental in 1550 m Höhe (September 2015).
` 125 Die „Hohe Brücke“
über die Schlucht des Feschelbaches in 910 m Höhe, die 1563 erstmals erwähnt wird und die die Kleinstadt Leuk im Wallis mit dem Ort Erschmatt und den Leuker Sonnenbergen verbindet. Wie bei vielen ähnlichen Steinbogenbrücken in den Alpen, die sehr tiefe Schluchten überspannen, rankt sich auch um den Bau dieser Brücke eine Legende, weshalb diese Brücke wie viele andere „Teufelsbrücke“ genannt wird (August 2009).
Häufig genutzte Wege werden im Laufe der Zeit ausgebaut, um den Warentransport zu erleichtern: Mit vielen Serpentinen werden lange und gleichmäßige Steigungen hergestellt, es werden Schluchten wegbar gemacht (Schöllenen-Schlucht am Gotthard, Via Mala am Splügen), und es werden sogar kurze Tunnel gebohrt
(„Buco di Viso“ zwischen Po- und Guil-Tal/Cottische Alpen 1479 – 1480, „Urnerloch“ am Gotthard 1707 – 1708). Die Relikte dieser Weganlagen sind noch heute an vielen Stellen im Alpenraum zu sehen. Seit einiger Zeit werden sie wieder hergerichtet („ViaStoria“ in der Schweiz), und sie stellen sehr attraktive Wanderwege dar.
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Als junges Hochgebirge mit einer komplizierten Geologie sind die Alpen reich an kleinen Lagerstätten von Gold-, Silber-, Kupfer- und Eisenerzen sowie von Salz. Erst in der Industriegesellscha werden diese Ressourcen ökonomisch entwertet, weil ihr Abbau zu teuer ist, in der vorindustriellen Zeit sind sie jedoch stets sehr wertvoll. Ihre Nutzung beginnt um 3800 v. Chr. und erreicht erstmals in der Bronzezeit (2000 – 750 v. Chr.) eine große Blüte, weil sich die begehrten Kupferlagerstätten in Europa fast nur in den Alpen finden, und sie erlebt in der Neuzeit, im 15./16. Jahrhundert, erneut ein „goldenes Zeitalter“. Die Bergbaureviere liegen o in großer Höhe, d.h. über 2000 m Höhe, weil hier das erzhaltige Gestein nicht von der Vegetation verdeckt wird und offen zu Tage tritt. Neben den bekannten Revieren – Goldbergbau in Gastein-Rauris, Silberbergbau bei Schwaz und Sterzing, Salzbergbau bei Hall in Tirol, bei Hallein und Hallstadt (Land Salzburg) – gibt es unzählige kleine und kleinste Gebiete. Fast in jedem Alpental werden irgendwann einmal Bodenschätze abgebaut und weiterverarbeitet. Dies ist immer mit großen Waldrodungen verbunden, da die Verarbeitung der Erze sehr viel Holzkohle benötigt.
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Da in der vorindustriellen Zeit Lebensmittel nicht leicht transportiert werden können, fördert der Bergbau die Entstehung und Vergrößerung der lokalen Berglandwirtscha und besonders der Almwirtscha zur Versorgung der Bergleute mit Lebensmitteln. Die Relikte des historischen Bergbaus sind heute noch in den Alpen an zahllosen Stellen in der Landscha zu sehen, aber sie sind o nicht leicht zu erkennen. Gelegentlich werden beim Zurückschmelzen der Gletscher alte Stolleneingänge wieder frei, die im 17. oder 18. Jahrhundert vom Gletscher überfahren wurden. Die Bergbauprodukte Gold, Silber, Eisen, Kupfer und Salz sind sehr kostbare Güter von europäischer Bedeutung und die Bergleute gesuchte Fachkräe mit europaweiter Mobilität. Der mit dem Bergbau verbundene große Reichtum führt zu einem kurzfristigen Verhalten der Landesherren als den Eigentümern der Bergwerke: Mit dem Auffinden und Ausbeuten eines neuen Golderzganges lässt sich kurzfristig so viel Reichtum erzielen, dass man den nächsten Krieg gewinnen und seine militärische und wirtschaliche Macht schlagartig vergrößern kann. Deshalb gibt es beim Bergbau keinerlei Grenzen (außer finanziellen): Auf dem Höhepunkt des Goldberg-
Traditionelle Kulturlandschaften · Transitwege, Bergbau, Marktorte und Städte
baus z. B. ist das gesamte Gasteiner Tal vollständig waldfrei, und Arsendämpfe (Nebenprodukt bei der Goldgewinnung) vergien Pflanzen, Tiere und Menschen, sodass von einer dauerhaen oder nachhaltigen Nutzung keine Rede sein kann. Die Faktoren Reichtum und Macht, die beide eng miteinander verbunden sind, forcieren also kurzfristige Nutzungsformen, die sich um die langfristigen Auswirkungen des Bergbaus überhaupt nicht kümmern. Daher gibt es in diesem Bereich ganz andere Werte als im Rahmen der bäuerlichen Gesellschaen, wobei Letztere im Konfliktfall stets die Schwächeren sind. Damit sind die Alpen in Europa der Normalfall – sie sind so eng mit dem übrigen Europa verflochten, dass sie sich nicht von der Entwicklung abkoppeln können, die ganz Europa ab der Renaissance prägt, nämlich der immer stärkeren Konzentration von Macht und Reichtum in wenigen Händen. Und deshalb können sie keinen Son-
_ 126 und a 127 Relikte des Goldbergbaus im Bockhart-Tal (Gastein/Hohe
Tauern). Die auffälligen hellen Flecken auf Bild 126 sind Abraumhalden aus den Stollen, die an dieser Stelle in den Berg getrieben wurden und die den Golderzgängen folgten. Sie liegen in Höhen zwischen 2100 und 2300 m, stammen aus dem 15./16. Jahrhundert und sind dank frühneuzeitlicher Bergbaukarten alle namentlich bekannt (September 2010). Das Bild 127 zeigt ähnliche Strukturen auf dem Gegenhang, die jedoch deutlich älter sind. Leider ist es bislang nicht gelungen, diese Halden zu datieren; es ist möglich, dass es sich um Relikte des römerzeitlichen Goldbergbaus handelt (September 2007).
derweg einschlagen, bei dem die langfristig-egalitären bäuerlicher Werte die kurzfristigen Wirtschasinteressen der Machthaber dominieren würden. Die Relikte des überall sichtbaren Bergbaus in der hochalpinen Landscha symbolisieren genau diese Abhängigkeit der Alpen von der europäischen Entwicklung.
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_ 128 Der Marktort Pont Cana-
vese, 451 m, liegt dort, wo Orco- und Soana-Fluss zusammenfließen und gemeinsam die Grajischen Alpen verlassen. Der Name Pont bedeutet „Brücke“ und bezieht sich auf den Flussübergang, der von diesem Ort aus kontrolliert werden kann. Zu diesem Zweck werden im Mittelalter auf Moränenhügeln mitten im Tal zwei Burgen erbaut, die heute noch erhalten sind. Solche Orte sind ideale Marktorte, in denen die Produkte der Po-Ebene mit denen des Gebirges ausgetauscht werden (August 2012).
Die Landnutzungsstrukturen sind zwar im Alt- wie im Jungsiedelraum der Alpen auf Selbstversorgung hin ausgerichtet – in der zum Dorf bzw. Hof gehörenden Flur werden alle zum Leben notwendigen Dinge produziert (nur Salz als Konservierungsmittel muss eingeführt werden) –, aber das bedeutet nicht, dass sich die Bauernfamilien auch vollständig selbst versorgen. Das Aufblühen unzähliger Marktorte ab dem hohen Mittelalter verweist auf die steigende Bedeutung von Tausch und Handel, und diese Marktorte gehören untrennbar zur traditionellen Welt der Alpen dazu. Marktorte gibt es in jedem längeren Alpental. Sie liegen entweder in der Mitte des Tales, wo sie von allen Siedlungen des Tales aus gut zu erreichen sind, oder dort, wo ein Alpenfluss die Alpen verlässt. Die große Palette von Landwirtschasprodukten, die an den Markttagen getauscht oder ge- und verkau wird, besitzt zwei Ursachen: Erstens werden Produkte zwischen Regionen mit sehr unterschiedlichen landwirtschalichen Voraussetzungen getauscht oder ge- und verkau: Tiefer gelegene Regionen liefern Produkte wie Wein, Kastanien oder Getreide und höher gelegene Regionen Käse, Trockenfleisch oder Zucht-/Schlachttiere. Zweitens werden auf diesen Märkten all diejenigen Produkte ge- und verkau, die überall in den Alpen pro-
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duziert werden wie Getreide, Fleisch, Käse, Vieh, Holz usw. Die Ursache dieses Handels liegt darin, dass zahlreiche Landwirtschasbetriebe im Rahmen der Erbteilung per Zufall zu viel Acker- und zu wenig Wiesenflächen oder umgekehrt erhalten haben, oder dass die Zufälle der Witterung in einem Jahr in einem Tal ein Produkt begünstigen und in einem anderen benachteiligen. Über den Markt versucht man, diese Zufälle ausgleichen. Sobald auf den Märkten regelmäßig viele Lebensmittel angeboten werden und genügend Geld zirkuliert, könnte man eigentlich von der Selbstversorgeridee abrücken und sich allein auf das spezialisieren, was im eigenen Betrieb am besten zu produzieren ist. Aber dieses Vertrauen in den Markt besitzen die Bauern der vorindustriellen Zeiten nicht, und sie behalten aus Sicherheitsgründen bis weit ins 20. Jahrhundert ihre traditionelle Produktpalette bei. Allerdings nutzen sie die Märkte sehr aktiv, um Zufälligkeiten der Besitzverteilung oder des Klimas auszugleichen, aber auch um Unterschiede bei den Marktpreisen oder beim Währungsgefälle auszunutzen. Es ist daher sinnvoll, dieses Agrarsystem als „marktoffene Selbstversorgerwirtscha“ zu bezeichnen, weil es sich sowohl von einer reinen Selbstversorger- als auch von einer reinen Marktwirtscha deutlich unterscheidet.
Traditionelle Kulturlandschaften · Transitwege, Bergbau, Marktorte und Städte
129 Der Marktort Splügen, `
1457 m, liegt dort im Tal des Hinterrheins, wo sich die Passstraßen zum Splügen und zum San Bernardino gabeln. Der Ort ist seit dem Mittelalter eine wichtige Sust, also ein Ort, an dem die über die Pässe zu transportierenden Waren zwischengelagert werden, bevor sie von der nächsten Säumergenossenscha weitergetragen werden. In dem großen Gebäude wurden die Waren gelagert, die Brücke davor ist ein Teil des historischen Saumwegs. Wegen seiner großen Bedeutung als Sust erhielt Splügen im Jahr 1443 das Marktrecht (Oktober 2008).
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_ 130 Das historische Zentrum der
Stadt Innsbruck mit dem markanten Stadtturm aus dem Jahr 1450 und dem „Goldenen Dachl“ aus dem Jahr 1500. In solchen Alpenstädten bildeten sich in der vorindustriellen Zeit Elemente einer Hochkultur aus, die im klassischen Alpenbild stets übersehen und verdrängt werden (Mai 2014).
Städte sind Knotenpunkte im ländlichen Raum: Sie bieten für ihr großes Umland hoch spezialisierte Produkte und Dienstleistungen an, was in einem Dorf wegen der geringen Nachfrage nicht möglich ist. Deshalb gilt: Je dichter eine ländliche Region besiedelt ist und je intensiver sie landwirtschalich genutzt wird, desto größer ist die Nachfrage nach Spezialisierungen und desto größere Städte können hier entstehen. Aus dieser Perspektive sind die Alpen benachteiligt, denn dichter besiedelte Gebiete gibt es nur in den gro-
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ßen inneralpinen Längstälern. Deshalb sind die Alpen in der vorindustriellen Zeit ein städtearmer Raum in Europa. Trotzdem gehören zahlreiche – allerdings meist kleine – Städte untrennbar zur traditionellen Alpenwelt dazu. Die wirtschaliche Bedeutung der Alpenstädte besteht erstens in ihrer Funktion als überregional bedeutsamer Marktort für höherwertige Landwirtschasprodukte sowie als Handelsort, denn alle Alpenstädte liegen an einer Transitroute. Zweitens dienen diese Alpenstädte o der Vermarktung der in den benachbarten Bergbaugebieten
Traditionelle Kulturlandschaften · Transitwege, Bergbau, Marktorte und Städte
gewonnenen Produkte, womit ein besonderer Reichtum verbunden ist. Drittens sind die Alpenstädte der Standort zahlreicher spezialisierter Handwerksbetriebe, und viertens führt die Bedeutung von Alpenstädten als Residenz-, Garnisons-, Verwaltungsort oder als Bischofssitz zu einem umfangreichen Dienstleistungssektor. In kultureller Hinsicht stellt eine Alpenstadt den geistigen Kristallisationspunkt für eine Alpenregion dar und repräsentiert ihre kulturelle Identität wie z. B. Innsbruck für Tirol, Chur für Graubünden, Aosta für das Aosta-Tal oder Trient für das Trentino. In den großen Alpenstädten entfalten sich in der vorindustriellen Zeit Ansätze für eine sogenannte „Hochkultur“ (Theater, Bibliotheken, Museen, höhere Schulen usw.), die für die Ausbildung einer eigenständigen regionalen Kultur sehr wichtig sind und deren Existenz o übersehen wird. Die politische Bedeutung der Alpenstädte besteht darin, dass sie lange Zeit Hauptstädte von kleinen Territorien sind. Diese Funktion wird ab dem 17. Jahrhundert geschwächt, als in Europa immer größere staatliche Gebilde entstehen und viele politische Grenzen aus militärischen Gründen auf die Wasserscheiden, also auf den Alpenhauptkamm verlegt werden. Dabei werden viele kleine Alpenterritorien aufgelöst, und die Alpen wer-
a 131 Das Stockalperschloss in der Stadt Brig (Wallis), das 1651 – 1671 von Kas-
par Stockalper erbaut wurde. Der Bauherr präsentierte seinen im Transithandel erworbenen Reichtum u.a. mit diesem Gebäude. Solche baulichen Symbole von Reichtum und Macht finden sich in allen größeren Alpenstädten (November 2016).
den trotz ihrer zentralen Lage in Europa zu einem Grenzraum, zu einer Peripherie. Dies blockiert die Entwicklung zahlreicher Alpenstädte. Das Netz der Marktorte und der Alpenstädte verbindet die traditionelle ländliche Welt (dezentrale Siedlungsstruktur, wenig arbeitsteilige Wirtscha, ländliche Kultur) mit der städtischen Welt (stark arbeitsteilige Wirtscha, Hochkultur). In der vorindustriellen Zeit durchdringen sich beide Welten in den Alpen auf eine intensive und gleichberechtigte Weise, zum Vorteil für beide Seiten. Erst mit der Industriellen Revolution beginnen die Städte das Land zu beherrschen und es als Lebensund Wirtschasraum zu entwerten. Da die Alpenstädte systematisch aus dem klassischen Alpenbild ausgeblendet werden, werden sie heute noch o übersehen, und ihre Bedeutung für die Alpen wird häufig stark unterschätzt.
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Die religiöse Gestaltung der Landschaft Zur traditionellen alpinen Kulturlandscha gehören Kirchen, Kapellen, Bildstöcke und Wegkreuze untrennbar dazu. Diese kommen jedoch fast nur in der wirtschalich genutzten Flur vor und sind im alpinen Ödland extrem selten. Die allermeisten Kirchen und Kapellen liegen in den Dauer-, Sommer- oder Almsiedlungen. Liegt eine Kirche abseits eines Ortes in der freien Landscha, so wird sie o an derjenigen Stelle errichtet, die von allen zugehörigen Dörfern, Weilern und Höfen gleich weit entfernt liegt. Einzeln stehende Kapellen findet man häufig an den Stellen in der Landscha, von denen besondere Gefahren für das Kulturland ausgehen (Lawinen, Steinschlag, Überschwemmungen), und sie besitzen die Aufgabe der Gefahrenabwehr. Und Bildstöcke oder Wegkreuze finden sich an einem Saumweg genau dort, wo ein gefährliches Wegstück beginnt und endet. Das alpine Ödland, also die Fels- und Gletschergebiete, die sich der bäuerlichen Nutzung entziehen, sind – mit Ausnahme weniger Wallfahrtsgipfel – frei von religiösen Symbolen. Die bekannten Gipfelkreuze kommen erst mit der touris-
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Traditionelle Kulturlandschaften
a 132 Die Pfarrkirche San Peyre der Gemeinde Stroppo
(Maira-Tal/Cottische Alpen) liegt isoliert in 1233 m Höhe im Zentrum des Gemeindegebietes, um allen Gemeindemitgliedern eine gleich gute Erreichbarkeit zu bieten (August 2016).
tischen Erschließung der Alpen auf und haben mit der Tradition der Alpen nichts zu tun. Diese Lokalisierung der religiösen Bauwerke und Symbole innerhalb der Kulturlandscha verweist darauf, dass Religion untrennbar mit dem täglichen Handeln und Wirtschaen verbunden ist und ihm seinen Sinn und seine Würde verleiht. Es gibt in den Alpen keinen religiösen Bereich, der außerhalb davon in einem abgesonderten Raum – z.B. in Form eines „Heiligen Berges“, der nicht bestiegen werden darf – existiert, auch wenn sich an wenigen Stellen eine schwache Erinnerung an solche religiösen Vorstellungen erhalten hat (z.B. im „Vallée des Merveilles“ in den französischen Seealpen). Damit vollziehen die Alpen auch im Bereich der Religion die euro-
päische Entwicklung mit, die dadurch geprägt ist, dass das Christentum früh zur dominierenden Religion wird. Es vermischt sich dabei zwar auf vielfältige Weise mit „heidnischen“ Elementen, aber es setzt sich damit letztlich eine Form der Religion durch, bei der man sich das Göttliche nur noch im „Jenseits“, also außerhalb der Erde, und nicht mehr in abgegrenzten „Heiligen Orten“ auf der Erde vorstellt.
a 133 Die Kapelle Madonna della Visitazione liegt in
1452 m Höhe mitten im Gebiet der Sommersiedlungen von Rivotti (Gemeinde Groscavallo/Lanzo-Täler/ Grajische Alpen)(September 2014). ` 134 Der „Pilone di Narbona“ (Bildstock von Narbona)
steht in 1263 m Höhe genau an der Stelle, an der der Saumweg zum Ort Narbona (Gemeinde Castelmagno/ Grana-Tal/Cottische Alpen) in einen sehr steilen, abschüssigen Hang hineinführt (September 2014).
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a 135 Dieser erratische Felsblock im Anzasca-Tal (Südseite der Walliser Alpen)
in 480 m Höhe, den der eiszeitliche Gletscher hier deponiert hat, hat früh die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich gezogen. Zuerst wurde in einer Felshöhlung ein Marienbild verehrt, dann wurde dieses Bild durch ein kleines Gebäude geschützt, und im 17. Jahrhundert wurde darüber die Kapelle Madonna della Gurva erbaut (September 2015).
Auch wenn sich das Christentum schon sehr früh, ab 400 n. Chr., in den Alpen ausbreitet, so bleiben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vorchristliche religiöse Vorstellungen lebendig, die von der Kirche zwar bekämp, aber nicht ausgerottet werden können. Diese sind o mit auffälligen Naturphänomenen verbunden: Sehr große, isolierte Felsblöcke auf der Alm oder im Tal, starke Quellen, v.a. solche mit heißem Wasser, außergewöhnliche Felsformationen, „Sonnenlöcher“ (Öffnungen im Fels, durch die zweimal im Jahr die Sonne scheint) oder eindrückliche Felsüberhänge und Höhlen. Ein aufschlussreiches Beispiel mit alpenweiter Bedeutung ist die San Besso-Wallfahrt: Auf der Fanton-Alm oberhalb von Campiglia (Soana-Tal/Gran Paradiso-Gruppe) gibt es mitten im Almgebiet einen großen, isolierten Felsen, den Monte Fanton, 2072 m, der in Form eines riesigen Menhirs 53 m aus dem Almboden herausragt. Direkt an diesem Felsen steht eine kleine Kapelle, die San Besso geweiht ist und die am 10. August das Ziel einer regionalen Wallfahrt ist.
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Traditionelle Kulturlandschaften · Die religiöse Gestaltung der Landschaft
San Besso ist ein wenig bekannter katholischer Heiliger, der wegen seines Glaubens vom Monte Fanton herunter geworfen wurde und hier als Märtyrer starb. Diese typische Heiligenlegende besitzt einen vorchristlichen Ursprung: Ein Schäfer aus Campiglia, der o auf dem Monte Fanton zu den Göttern betete und dessen Schafe außergewöhnlich gut heranwuchsen, erweckte den Neid der anderen Hirten, die ihn schließlich vom Gipfel herunter warfen und töteten. Aber auch dahinter gibt es noch eine ältere Tradition, bei der der Berg Fanton selbst heilig ist, weshalb die Wallfahrer Felsstückchen von ihm abschlagen und diese lebenslang als eine Art Talisman bei sich tragen. Diese Wallfahrt, die heute noch auf eine lebendige Weise durchgeführt wird, ist ein konkretes Beispiel dafür, wie Traditionen weitergeführt und dabei immer wieder neu interpretiert werden. Der gesamte vorindustrielle Alpenraum ist von diesem Umgang mit der Tradition geprägt – Tradition nicht als etwas Festes, Unwandelbares, wie man heute o meint, sondern sich verändernde Traditionen als Grundlage zum Verständnis einer sich wandelnden Welt.
136 Der Monte Fanton, 2072 m, auf der gleichnamigen `
Alm oberhalb von Campiglia (Gran Paradiso-Gruppe) mit der San Besso geweihten Kapelle, die jedes Jahr am 10. August Ziel einer Wallfahrt ist (August 2012).
a
DIE MODERNISIERUNG DER ALPEN
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__ 137 Die Stadt Bozen hatte 1870 erst 15 000 Einwohner und zählt heute mit gut
100 000 Einwohnern in der Stadt selbst und 240 000 in der Agglomeration Bozen-Meran zu den größten Städten der Alpen (nur Trient, Innsbruck und vor allem Grenoble sind größer). Sie liegt an der Stelle, wo die vom Brenner her kommende Eisack (Bildmitte) in die vom Reschenpass her kommende Etsch mündet. Im Hintergrund die Dolomiten mit dem Rosengarten (rechts) und dem Schlern (links) (Oktober 2002). Dieses Bild wurde als Titelbild für Kapitel 4 ausgewählt, weil nicht das touristische Wachstum, sondern die Verstädterung das wichtigste Phänomen der Modernisierung der Alpen darstellt.
Die Industrielle Revolution bedeutet in der Geschichte der Menschheit eine sehr große Zäsur: Sie ermöglicht eine sehr kostengünstige Produktion, weil das Wirtschaften extrem arbeitsteilig organisiert wird und weil dabei viele Arbeitsschritte von Maschinen übernommen werden, die mit billiger Fremdenergie – anfangs Kohle, später Elektrizität und Erdöl – angetrieben werden. Dies erfordert sehr große Fabriken und einen gut funktionierenden Massengüterverkehr. Damit wird das Wirtschaen so produktiv, dass mehr produziert werden kann, als gebraucht wird. Da das Wirtschaen jetzt allein unter Marktbedingungen stattfindet, also einem Konkurrenzkampf ausgesetzt ist, setzen sich nur die Betriebe durch, die am kostengünstigsten produzieren, und das sind in der Regel die größten und diejenigen mit den stärksten Arbeitsteilungen. Dadurch werden alle vorindustriellen Wirtschasformen zerstört, und alle dezentral gelegenen Kleinbetriebe geraten in die Krise. Wirtschaen bedeutet seitdem, entweder konkurrenzfähig zu produzieren oder gar nicht mehr zu produzieren – eine dritte Möglichkeit gibt es jetzt nicht mehr. Auf dieser Grundlage entstehen in Europa völlig neue Siedlungs- und Wirtschasstrukturen: Während Bevölkerung und Wirtscha im Agrarzeitalter noch dezentral mit vielen kleinen Knotenpunkten (Marktorte und Städte) im Raum verteilt waren, konzentrieren sie sich ab dem 19. Jahrhundert sehr stark, und es entstehen einerseits sehr große Industriestädte und Industriegebiete, während andererseits die ländlichen Räume einen relevanten Teil ihrer Bevölkerung und ihrer Arbeitsplätze verlieren. Ab dem Jahr 1970 wandeln sich in Europa die Industrie- in Dienstleistungsgesellschaen. In räumlicher Perspektive führt dies dazu, dass sich die großen (Industrie-) Städte flächenha in ihre Umgebung hinein ausbreiten und zu großen Agglomerationen oder Großstadtregionen werden. Dadurch durchläu der zentrennahe ländliche Raum eine Verstädterung, während die übrigen ländlichen Räume weiter entwertet werden.
130
Die Modernisierung der Alpen
Dieser gesamte Prozess wird „Modernisierung“ genannt, wobei manchmal noch zwischen Modernisierung und Postmodernisierung (ab 1970) unterschieden wird. Dieser Wandel hat gravierende Auswirkungen für die Alpen, weil hier zentrale Voraussetzungen für eine industrielle Entwicklung fehlen: Weder gibt es industriell verwertbare Kohle- oder Erzlagerstätten, noch eine große Zahl von Arbeitskräen; der Platz für große Industrieanlagen ist sehr beschränkt und die Erreichbarkeit für Massengütertransporte schlecht. Darüber hinaus sind die Alpen politisch zersplittert und liegen jeweils in der Peripherie der Industriestaaten, was Investitionen zusätzlich erschwert. Die industrielle Entwicklung benachteiligt daher die Alpen: Die dezentral verteilten Wirtschasaktivitäten Land- und Forstwirtscha, Handwerk, Bergbau, Erzverarbeitung und Saumverkehr werden entwertet, weil sie zu teuer sind; sie werden entweder schnell vollständig eingestellt oder werden im Laufe der Zeit immer weniger. Nur flächenkleine Alpengebiete werden durch die neue Entwicklung aufgewertet (Transitachsen, Städte, Industrie, Tourismus), und hier wachsen Einwohner und Arbeitsplätze. Insgesamt gesehen werden die Alpen ab dem 19. Jahrhundert zu einer Problemregion, zu einem benachteiligten Raum in Europa. Nach 1950 verzeichnen zwar die Alpenstädte, der Tourismus und die von Transitrouten erschlossenen Alpentäler ein starkes Wachstum, aber die Alpen insgesamt bleiben trotzdem eine wirtschaliche Problemregion, und große Teilgebiete von ihnen sperren sich weiterhin der modernen bzw. der postmodernen Entwicklung. Dieses Kapitel stellt die Modernisierung der Alpen dar, indem die wichtigsten Veränderungen zuerst einmal getrennt voneinander dargestellt werden. Dies sind die Verkehrserschließung als die Voraussetzung der Modernisierung, die Landwirtscha, die o übersehenen Bereiche Gewerbe/Industrie, der Tourismus, die Alpenstädte, die Wasserkranutzung sowie der Naturschutz. Im nächsten und letzten Kapitel, also in Kapitel 5, wird dann dargestellt, wie sich die Alpen insgesamt durch die Modernisierung verändern und was dies für die Zukun der Alpen bedeutet. `138 Die 1995 eröffnete Autobahn zwischen Turin und
dem Fréjus-Tunnel (Strecke Turin-Lyon) besteht im oberen Susa-Tal wegen des steilen Reliefs fast nur aus Tunneln und hohen Brücken. Im Hintergrund ist der Gipfel des Rocciamelone, 3538 m (Grajische Alpen) zu sehen, des höchsten Wallfahrtsziels der Alpen (Juni 2013).
Verkehrserschließung als Voraussetzung der Modernisierung Da das moderne Wirtschaen sehr stark arbeitsteilig organisiert ist, ist es auf eine gute Erreichbarkeit für Massentransporte angewiesen. Deshalb ist die Erschließung der Alpen für die neuen Massenverkehrsmittel des Industriezeitalters die zentrale Voraussetzung – ohne sie ist ein modernes Wirtschaen im Alpenraum nicht möglich. An die Stelle der traditionellen Saumwege treten jetzt drei neue Verkehrssysteme: Fahrstraßen (ab 1805), Eisenbahnen (ab 1854) und Autobahnen/Autostraßen (ab 1967). Eine neue Entwicklung, der Bau von Hochgeschwindigkeitseisenbahnlinien mit Alpenbasistunnel, hat zwar bereits begonnen (Lötschberg: 2007, Gotthard: 2016), aber sie besitzt wegen des fehlenden Ausbaus der Zulaufstrecken vorerst eine eingeschränkte Bedeutung. Alle modernen Verkehrssysteme sind reliefempfindlich und für die Alpen eigentlich wenig geeignet; sie be-
a 139 Die 1782 – 88 gebaute Fahrstraße (Südrampe) über
den Tenda-Pass, 1871 m (Grenze zwischen den Ligurischen und den Seealpen), die Turin mit dem Mittelmeer verbindet, ist nach der Brenner-Fahrstraße die zweitälteste im Alpenraum. Da der Tenda-Straßentunnel als ältester Straßentunnel der Alpen bereits 1882 eröffnet wurde, wurde die alte Passstraße seitdem nicht mehr modernisiert (Juli 2004).
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Die Modernisierung der Alpen
schränken sich deshalb nicht zufällig auf die größeren und großen Alpentäler und auf vergleichsweise wenige Pässe. Alpenspezifische Verkehrsmittel wie z. B. Seilbahnen werden kaum entwickelt, und sie sind deshalb bis heute allein im Bereich Freizeit/Tourismus, nicht aber im Bereich Alltags- und Güterverkehr verbreitet. Dies stellt eine gravierende Benachteiligung der Alpen dar. Der Transitverkehr durch die Alpen wird jetzt stark beschleunigt: Die Fahrtzeit von Basel über den Gotthard nach Chiasso beträgt auf dem Saumweg gut sechs Tage, reduziert sich mit dem Bau der Fahrstraße 1830 auf dreieinhalb Tage, mit dem Bau der Eisenbahn 1882 auf 10,5 Stunden und mit dem Bau der Autobahn (mit Basistunnel) auf drei Stunden. Dadurch werden die Alpen in so kurzer Zeit gequert, dass die positiven Wirkungen des Verkehrs (Warenlagerungen, Übernachtungen, Halte mit Verpflegung) wegfallen und die Alpentäler lediglich mit den negativen Wirkungen des Verkehrs (Abgase, Lärm, Flächenverbrauch) belastet werden. Die allerersten neuen Fahrstraßen in den Alpen entstehen am Brenner (1772) und am Tenda-Pass in den Seealpen (1788); ab 1805 werden sie dann so zahlreich, dass ein neues Verkehrszeitalter beginnt. Da die Karren und Fuhrwerke, die auf diesen Straßen verkehren, keine starke Steigung bewältigen können, benötigen sie endlose Serpentinen oder Kehren, um langsam Höhe zu gewin-
a 140 Die Furka-Passstraße oberhalb von Realp im Urseren-Tal (Urner Alpen). Die Straßenanlage stammt aus dem Jahr 1866,
ist aber so ideal angelegt, dass sie mit leichten Verbreiterungen für den heutigen Verkehr gut zu nutzen ist, obwohl sie für Karren und Fuhrwerke gebaut wurde (Oktober 1989).
nen. Daher sind Fahrstraßen im Gebirge wesentlich länger als Saumwege, und die Baukosten vervielfachen sich. Diese neuen Straßen werden so geschickt in das alpine Relief eingepasst und sind so optimal angelegt, dass sie später, also ab 1900, auch vom Automobil genutzt werden können, für das sie gar nicht gebaut wurden. Mit nur leichten Veränderungen – Fahrbahnverbreiterungen, Ausbau von Kehren, Steinschlag-/Lawinenüberdachungen – dienen viele von ihnen noch heute dem PKW-Verkehr. Während der Saumverkehr das alpine Relief gut nutzen kann, haben die Fahrstraßen damit Probleme: Saumwege verbinden die Orte in den Alpentälern über zahlreiche hohe Pässe auf direkte Weise miteinander, Fahrstraßen dagegen meiden das steile Relief und bevorzugen die Talachsen. Deshalb werden hohe Passübergänge selten: Während Saumwege an etwa 300 Stellen die Alpen überquerten, gibt es bei den Fahrstraßen nur noch 30 solcher Passübergänge. Dadurch entsteht ein System von vergleichsweise wenigen Durchgangs- und sehr vielen Stichstraßen, und die meisten Alpentäler werden zu Sackgassen. Dadurch werden die tiefen Tallagen und die großen Haupttäler der Alpen stark bevorzugt und alle Standorte in peripherer Lage im Gebirge entwertet.
a 141 Kleine Orte, die weit hinten in einem Tal liegen, erhalten erst ab den
1960er Jahren eine richtige Fahrstraße. Hier ein Pkw, der um 1950 herum bis nach Plangeross, 1617 m, im Pitztal vorgedrungen ist (historisches Foto aus der Sammlung Willi Pechtl).
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Das zentrale Verkehrsmittel der Industriegesellscha sind aber nicht die vergleichsweise kleinen und langsamen Karren und Fuhrwerke, sondern Eisenbahn und Dampfschiff. Das Dampfschiff kann in den Alpen nicht eingesetzt werden, aber auch die Eisenbahn bekommt hier sehr große Probleme, weil sie kaum Steigungen bewältigen kann. Deshalb sind die Alpen in einer langen Anfangsphase für dieses neue Verkehrsmittel nicht erreichbar und entziehen sich deshalb auch dem industriellen Einfluss. Erst mit dem Bau stärkerer Lokomotiven und mit der Erfindung langer Rampen, Kehrtunnel (360°-Tunnel im Fels, um Höhe zu gewinnen) und langer Scheiteltunnel (zur Vermeidung des eigentlichen Passanstieges, o in 1000 m Höhe gelegen und 10 – 20 km lang) kann die Eisenbahn ins Gebirge vordringen. Vorreiter ist die 1854 eröffnete Bahnverbindung von Wien nach Triest, die am
b 142 Die Tauerneisenbahn im Gasteiner Tal, die stellen-
weise heute noch eingleisig ist (Mai 2015).
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Semmering und in den Karawanken die Alpen quert und die aus militärischen Gründen (Verbindung der Hauptstadt des Habsburgerreiches mit ihrem wichtigsten Adria-Hafen) gebaut wurde. Zwischen 1867 und 1913 entstehen dann in kurzer Zeit sechs neue Eisenbahnstrecken durch die Alpen (Fréjus, Lötschberg-Simplon, Gotthard, Brenner, Tauern, Pyhrn). Danach wird nur noch eine einzige weitere Strecke – die Tenda-Linie von Cuneo nach Ventimiglia und Nizza (1928) – gebaut; das Erschließungszeitalter der Eisenbahn geht in den Alpen sehr schnell wieder zu Ende und umfasst nur acht alpenquerende Linien. Auch hier ist es wieder aufschlussreich, sich das Streckennetz etwas näher anzusehen: Die Eisenbahnlinien führen aus Großstädten in der Nähe des Alpenrandes (München, Wien, Mailand, Turin, Lyon usw.) durch die Alpen hindurch zur nächsten Großstadt auf der anderen Alpenseite. Damit steht die Transitfunktion absolut im Vordergrund, und die für die inneralpine Wirtscha und Kultur so bedeutenden inneralpinen Längstäler spielen keine Rolle – nur Österreich baut aus militärischen Grün-
Die Modernisierung der Alpen · Verkehrserschließung als Voraussetzung der Modernisierung
den die Bahnlinie Salzburg–Innsbruck–Bregenz durch die Alpen, obwohl die Verbindung über München viel einfacher gewesen wäre. Die zahlreichen Seiten- und Nebentäler erhalten erst recht keine Trasse, weil das Relief die Kosten in astronomische Höhen treiben würde. Die Struktur der Eisenbahnlinien folgt daher eindeutig der Logik der europäischen Wirtschasinteressen und stellt für die Alpen eine Benachteiligung dar. Lediglich die wenigen Täler an einer Transitbahnlinie profitieren von der neuen, schnellen Erreichbarkeit. Nach dem Bau der großen Transitstrecken entstehen in einer zweiten Phase meist noch vor 1914 eine Reihe von Nebenbahnen – aus Kostengründen meist als Schmalspurbahnen –, die als Stichstrecken weitere Alpenregionen an das europäische Eisenbahnnetz anschließen. Dieses Nebenbahnnetz ist im Kanton Graubünden in der Schweiz am stärksten ausgebildet, weil hier eine Transitlinie fehlt und der Kanton diesen Nachteil wenigstens durch ein Netz von Nebenbahnen kompensieren wollte. Allerdings erfüllten die meisten Nebenbahnen nicht die wirtschalichen Erwartungen, weil sie zu teuer und zu langsam waren. Viele von ihnen sind seit langem stillgelegt. Ein dritter Eisenbahntyp sind die touristischen Bahnen: Ohne einen direkten Eisenbahnanschluss (meist
a 143 Die Eisenbahn hat grundsätzlich Schwierigkeiten
mit dem steilen Relief der Alpen. Wenn jedoch Zahnstangen verwendet werden wie hier am Oberalp-Pass in 1800 m Höhe oberhalb von Andermatt (Kanton Uri), dann können auch größere Steigungen bewältigt werden, allerdings nur mit geringer Geschwindigkeit (Juni 2005).
Schmalspur) kann sich in einem Gebirgsdorf kein Massentourismus entwickeln, und darüber hinaus braucht es die Erschließung von spektakulären Aussichtsgipfeln. Dafür werden Schmalspurbahnen mit Zahnradantrieb gebaut, die Höhen bis 3500 m erreichen. Mit der Erfindung der Seilbahn geht allerdings auch ihre große Zeit bereits im Jahr 1914 zu Ende. Einige dieser touristischen Bahnen sind inzwischen stillgelegt und abgebaut, viele werden heute – vor allem in der Schweiz – als Nostalgiebahnen erfolgreich betrieben. Weil Eisenbahnen seit dem Anbruch des Krafahrzeugzeitalters als veraltetes Verkehrsmittel gelten, wurden viele Eisenbahnlinien seit Jahrzehnten kaum modernisiert. Hier besteht heute ein großes Potenzial, die Kapazitäten im Transitverkehr deutlich zu erhöhen, ohne neue Strecken bauen zu müssen.
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_ 144 Die 1967 eröffnete San-Bernardino-Autostraße
führt auf einer autobahnähnlichen Trasse durch die Alpen (Juni 2015).
Die Eisenbahn als charakteristisches Verkehrsmittel der Industriegesellscha wird in der Dienstleistungsgesellscha vom Lkw abgelöst, der flexibler, schneller und billiger ist und der kleinere Mengen „just-in-time“ anliefern kann. Die neue Straßeninfrastruktur – Autobahnen und Autostraßen – ist ebenfalls sehr reliefempfindlich, und auch sie dringt mit großer Verspätung in die Alpen vor, nämlich erst ab 1967, als es im außeralpinen Europa längst ausgedehnte Autobahnnetze gibt. Die erste Autobahn ist die 1967 eröffnete Brenner-Autobahn. Anschließend werden nur sechs weitere Stre-
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cken gebaut (Fréjus, Montblanc, Simplon, Gotthard, Tauern, Pyhrn), die aber bis heute meist nicht durchgehend vierspurig ausgebaut sind. Im Rahmen der Alpenkonvention haben die Alpenstaaten im Jahr 2000 beschlossen, dass keine weiteren Transitautobahnen mehr gebaut werden sollen, und dieser Beschluss hat bis heute Gültigkeit. Autostraßen sind Straßen mit zwei Fahrbahnen, die nur dem schnellen motorisierten Verkehr dienen. Auch hier entsteht 1967 ein neuer Straßentyp: Die neuen Südrampen des Gotthard- und Großen-St.-Bernhard-Passes umgehen mit aufwendigen Bauwerken die Serpentinenstrecken der alten Straßen. Gleiches gilt für die als Autostraße gebaute und ebenfalls 1967 eröffnete San-Bernardino-Route, deren autobahnähnliche Trasse (mit Scheiteltunnel) eine schnelle Alpenquerung ermöglicht. Die Trassen dieser neuen Straßen lösen sich vom vorhandenen Relief, um hohe Geschwindigkeiten zu ermöglichen. Dies ist jedoch sehr teuer, weil es viele Kunstbauten erfordert, und im Extremfall besteht eine solche Straße nur aus Brücken und Tunneln. Inzwischen haben fast alle großen inneralpinen Längstäler solche neuen Straßen erhalten, und weitere größere und dichter besiedelte Täler werden derzeit damit erschlossen. Damit verbessert sich ihre Erreichbarkeit signifikant, und diese Gebiete sind jetzt in so kurzer Zeit von einer Alpenstadt oder vom Alpenrand aus zu erreichen, dass sie als Wohnstandort für Pendler aufgewertet werden. Alle Alpentäler, Dörfer oder Einzelhöfe, die mit den neuen Straßen jedoch nicht erreichbar sind, werden benachteiligt: Sie sind zwar genauso schnell oder langsam wie früher zu erreichen, im Zeitalter eines immer schnelleren Verkehrs aber wird dies immer weniger akzeptiert und gilt als Standortnachteil. Auch das neu entstehende Straßennetz der Autobahnen und Autostraßen orientiert sich wieder an den großen Alpentälern. Es erschließt die Alpen von unten her, sodass die meisten dieser Straßen dort als Sackgassen enden, wo ein Tal eng und steil wird. Wenn man heute von einem Alpental ins Nachbartal will, muss man in der Regel erst einmal talabwärts fahren, dann in das Alpenlängstal einbiegen und hier ein Stück weit aufwärts fahren, bis man die Mündung des Nachbartals erreicht und dann wieder talaufwärts fährt – die Wegstrecke wird
Die Modernisierung der Alpen · Verkehrserschließung als Voraussetzung der Modernisierung
dadurch o fünfmal so lang wie die Strecke des alten Saumwegs. Benachbarte Alpentäler rücken auf diese Weise real und mental immer weiter voneinander weg, und dieses Straßennetz fördert die Dominanz der Stadt über das Land, weil man schneller in der nächsten Stadt statt im nächsten Tal ist. Je mehr die Straßen in den Alpen ausgebaut werden, desto mehr Verkehr verläu auf ihnen: Je besser die Erreichbarkeit, desto intensiver die Verflechtung der lokalen Wirtscha mit dem globalen Markt (meist zu Lasten der einheimischen Betriebe), desto weiter die täglichen Strecken zwischen Wohnen, Arbeiten, Einkaufen (bei gleichem Zeitaufwand) und desto intensiver der Freizeitverkehr. Das viel diskutierte Verkehrsproblem in den Alpen besteht deshalb keineswegs allein aus dem Transitverkehr, sondern hängt auch mit dem immer stärkeren räumlichen Auseinanderfallen von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen zusammen. Der Verkehr hat inzwischen entlang der Transitautobahnen, aber auch bereits entlang vieler Bundesstraßen so stark zugenommen, dass er die Lebens- und Wohnqualität der betroffenen Alpentäler in Frage stellt: Lärm
a 145 Schottwien, 569 m, war der Ort, in dem man traditi-
onellerweise vor dem steilen Aufstieg zum Semmeringpass die Pferde wechselte und übernachtete. Mit der Eröffnung der Semmering-Eisenbahn 1854 wurde dieser Ort schlagartig entwertet. Heute verläu die neue Semmering-Schnellstraße (S6) hoch über dem Ort, der dadurch erneut ins Abseits geraten ist (Juni 2017).
und Luverschmutzung konzentrieren sich in den engen Alpentälern vielfach stärker als im Flachland, und viele Straßen stellen inzwischen unüberwindbare Korridore dar, die Orte von ihrer Umgebung abschneiden. Soll der Straßenverkehr nicht die Lebensqualität vieler Alpentäler ersticken, muss er verringert und langsamer gemacht werden. Ansätze dazu, über die sehr heig gestritten wird, gibt es in vielen Alpentälern.
`` 146 Die Europa-Brücke der Brenner-Autobahn südlich von Innsbruck
wurde an der Stelle errichtet, wo das Stubaital ins Wipptal mündet. Direkt oberhalb der Brücke der Patscherkofel, 2246 m, darüber die Tuxer Alpen (Oktober 2009).
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Landwirtschaft im Alpenraum – ein Rückzug ohne Ende? Sobald die Landwirtscha im Alpenraum nicht mehr der Selbstversorgung dient, sondern ihr Einkommen durch den Verkauf ihrer Produkte auf dem Markt erwirtschaften muss, ist sie prinzipiell benachteiligt, weil sie zu teuer produziert. Dieser Wandel beginnt um das Jahr 1880 herum, als die erste moderne Agrarkrise Europa erschüttert – der Getreidepreis bricht durch den Import von billigem Getreide aus Übersee zusammen – und als die jungen Industriestaaten nationale Märkte auch für die Landwirtscha aufbauen. Seit dieser Zeit erlebt die Landwirtscha im Alpenraum einen Rückgang, der bis heute nicht beendet ist. Allerdings gibt es dabei erhebliche Unterschiede in den Alpen: Der arbeitsintensive und wenig ertragreiche Ackerbau im Gebirge ist gegenüber den europäischen Gunstlagen stark benachteiligt, während die arbeitsextensive Viehwirtscha der Alpen noch längere Zeit mit
a 147 Auf diesem Hang im Schmirntal (Tirol) kann man sehr gut intensiv ge-
nutzte und gedüngte Mähwiesen (grüne Farbe) von extensiv genutzten Flächen (gelbe Farbe) und nicht mehr genutzten Flächen (mit kleinen Bäumen bestanden) unterscheiden. Im Hintergrund die Tuxer Alpen (Oktober 2015).
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Die Modernisierung der Alpen
der der Tiefländer mithalten kann. Die Landwirtscha in den Altsiedelräumen der Alpen, bei der der Ackerbau eine relevante Bedeutung hat, ist dadurch besonders benachteiligt, zumal sie sehr kleine Betriebsflächen mit starker Parzellierung besitzt und wegen der Eigentumsstrukturen wenig flexibel reagieren kann. Die Landwirtscha in den Jungsiedelräumen der Alpen, bei der die Viehwirtscha die dominante Rolle innehat, steht dagegen deutlich besser da, zumal die Flächen der Betriebe hier relativ groß sind, die Höfe flexibel agieren können, in der Regel Waldflächen besitzen und mit dem Wald, der „Sparkasse der Bergbauern“, finanzielle Engpässe überbrücken oder größere Investitionen tätigen können. In einer langen Anfangsphase führt die Abnahme der Zahl der Landwirtschasbetriebe zu keinen Flächenstilllegungen, weil die verbleibenden Betriebe alle frei werdenden Nutzflächen sofort übernehmen. Die ersten größeren Flächen fallen erst in den 1920er Jahren brach, aber in den beiden folgenden Jahrzehnten wird dieser Prozess durch die Weltwirtschaskrise und den Zweiten Weltkrieg wieder gestoppt. Erst ab 1955 beginnt dann – stark vorangetrieben durch den Arbeitskräemangel im Rahmen des europäischen Wirtschas-
wunders – die Aufgabe größerer Nutzflächen, und dieser Prozess hält bis heute an, ohne dass eine Trendwende erkennbar wäre. Bei dieser Entwicklung markiert die Zeit um 1965 herum eine besondere Zäsur, denn jetzt wird alpenweit der Ackerbau eingestellt. Damit werden große fruchtbare Gebiete in tiefen Lagen zur Nutzung als Wiese frei, weshalb die hoch gelegenen Bergmähder aufgegeben werden können, die in der Regel flächenha verbuschen. Die damit verbundenen Veränderungen sind heute überall im Landschasbild gut zu erkennen. Da die Definition eines landwirtschalichen Betriebs in den Staaten mit Alpenanteil sehr unterschiedlich ist und zudem im Laufe der Zeit mehrfach geändert wurde, gibt es keine Daten über den Rückgang der landwirtschalichen Betriebe im Alpenraum zwischen 1880 und heute, aber er düre weit über 65 % liegen. 1980 gab es
alpenweit noch etwa 450 000 Betriebe, 2010 noch knapp 290 000 Betriebe, und diese Zahlen sinken permanent weiter. Bei der landwirtschalichen Nutzfläche gibt es Schätzungen, dass sie seit 1880 um etwa die Häle abgenommen hat: Der größte Teil davon ist heute verbuscht, verwaldet oder aufgeforstet, ein kleiner Teil wurde durch Wohngebäude, Gewerbeflächen und Straßen überbaut.
b 148 Ehemalige, jetzt verbuschende Almweiden in knapp 2000 m Höhe im
nördlichen Gasteiner Tal. Wie die Bäume am Rand dokumentieren, handelt es sich von Natur aus um einen Waldstandort, d. h., irgendwann werden sich die Zwergstrauchgesellschaen zu einem Wald weiterentwickeln. Im Hintergrund der Bernkogel, 2325 m, und ganz hinten die Hohen Tauern (Oktober 1996).
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Während die traditionelle Landwirtscha im Alpenraum ein mehr oder weniger kompliziertes Staffelsystem entwickelt hatte, um die unterschiedlichen Höhenlagen angemessen zu nutzen, besteht die moderne Landwirtscha nur noch aus der Viehweide im Bereich der Almen und der Wiesennutzung im Bereich der Täler; die früheren Zwischenstufen zwischen Berg und Tal sind weggefallen, weil sie zu arbeitsintensiv und zu wenig ertragreich waren. Weiterhin kannte die traditionelle Landwirtscha sehr unterschiedliche Nutzungsformen, die je nach naturräumlichen Voraussetzungen von sehr arbeitsintensiv bis sehr arbeitsextensiv reichten; auch diese Vielfalt gibt es nicht mehr – eine Fläche wird entweder (intensiv) genutzt oder gar nicht mehr genutzt. Die Kleinräumigkeit der traditionellen Kulturlandscha mit ihrer ausgeprägten Artenvielfalt geht dadurch verloren. Die Nutzung der Almen ist heute dadurch geprägt, dass menschliche Arbeit sehr teuer geworden ist und eingespart werden muss. Dies hat dazu geführt, dass die arbeitsintensive Käseproduktion auf nicht wenigen Almen eingestellt wurde und dass ein Teil der ehemaligen Kuhalmen in Galtviehalmen (Rinder, die noch keine Milch geben) umgewandelt wurde. Die sehr extensive Schafhaltung hatte auf den Almen lange Zeit stark zuge-
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a 149 Eine Schafherde in den Cottischen Alpen oberhalb
des Ortes Sambuco in 1700 m Höhe, die noch auf traditionelle Weise von einem Hirten von einem Weideplatz zum nächsten geführt wird. Die Bäume links unten wachsen auf ehemaligem Kulturland, das jetzt als Weidefläche dient (August 2012).
nommen, weil dies eine besonders kostengünstige Form der Almwirtscha war. Seitdem jedoch der Wolf wieder in großen Teilen der Alpen heimisch geworden ist, ist dies nicht mehr möglich, und die Schafherden benötigen Hirten mit Hüte- und Schutzhunden, die sie gegen die Wölfe verteidigen. Ziegen werden dagegen heute nur noch selten auf der Alm gehalten, weil ihr Eigensinn so stark ausgeprägt ist, dass ihre Betreuung viel Zeit erfordert. Auch andere Tiere, die früher auf den Almen anzutreffen waren (Pferde, Ochsen, Stiere, Schweine), sind heute weitgehend verschwunden. Auch die Art und Weise der Almbewirtschaung hat sich stark geändert: Früher stand viel Arbeitszeit für die notwendigen Reparatur- und Pflegearbeiten zur Verfügung, was heute nicht mehr bezahlbar ist. Früher betreuten mehrere Hirten eine Herde, heute steht bestenfalls
Die Modernisierung der Alpen · Landwirtschaft im Alpenraum – ein Rückzug ohne Ende?
a 150 Auf der Alm Gias Vallonetto, 2189 m (Gemeinde Sam-
b 151 Wenn heute noch Ziegen gehalten werden, werden
buco, Cottische Alpen), wurde wegen der Bedrohung durch Wölfe im Jahr 2005 ein neues Almgebäude mit staatlicher Förderung errichtet. Seitdem wird die große Schafherde, die rechts oben im Hang zu erkennen ist, durch einen rumänischen Hirten betreut (August 2012).
sie meist in Hof- und Ortsnähe gehalten, so wie hier im Weiler Chiesa der Gemeinde Trasquera, 1036 m (Divedro-Tal, Lepontinische Alpen); im Hintergrund verbuschende Landwirtschasflächen (September 2015).
ein einziger Hirte zur Verfügung. Die Tiere konzentrieren sich daher beim Weidegang auf die besten und flachsten Almflächen, meist in der Nähe der Almhütten, und meiden die steileren und abgelegenen Hänge der Alm. Viele Almen sind daher um die Almhütten herum übernutzt, während die übrigen Flächen unternutzt oder gar nicht mehr genutzt werden. Dadurch nimmt die Artenvielfalt auf den Almen spürbar ab und die Verbuschung zu. Um eine Alm heute bewirtschaen zu können, braucht es eine Lkw-taugliche Fahrstraße, auf der die Tiere hinauf oder herab gefahren werden können und auf der der Bauer schnell die Alm erreichen kann. Solche Almstraßen werden häufig kostengünstig gebaut, was mit Umweltschäden verbunden ist, und sie werden dann o auch zu Freizeitzwecken genutzt, was zu Lärm und Abgasen und zu touristischen Strukturen im Almbereich führt (Zweitwohnungen, „Almdörfer“, „Almhotels“), die im Extremfall die Weidenutzung verdrängen können. Es gibt jedoch heute immer noch zahlreiche Almen, deren Bewirtschaung sich noch nicht sehr weit von den traditionellen Formen entfernt hat; allerdings muss man solche Almen mühsam suchen.
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a 152 Gülle-Düngung von Bergwiesen mit der Spritzkanone
bei Hüttschlag (Hohe Tauern). Bei hohem Düngereinsatz steigt der Ertrag stark an, aber die Artenzahl geht stark zurück (April 2018). _ 153 Solche Silageballen – hier in der Gemeinde Bad Hofga-
stein – prägen inzwischen viele Alpentäler (Oktober 2015).
Die Landwirtscha in den Talräumen der Alpen besteht heute fast ausschließlich aus Wiesen, auf denen das Heu gewonnen wird, mit dem das Vieh im Winter gefüttert wird. Diese Heugewinnung ist aber ökonomisch nur dann sinnvoll, wenn möglichst häufig Maschinen eingesetzt werden und wenn zugleich der Ertrag stark erhöht wird. Zum Mähen von Wiesen gibt es seit einigen Jahrzehnten eine Reihe von Motormähern, die inzwischen so weiterentwickelt wurden, dass sie auch auf sehr steilen Bergwiesen einsetzbar sind. Das Heuwenden und das Zusammenrechen des Heus in Streifen erfolgt maschinell mit dem Heuwender, und anschließend nimmt der Ladewagen das Heu automatisch auf und fährt es zum Hof, wo es mittels eines Gebläses auf den Heuboden (direkt
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über den Tieren) verfrachtet und dort notfalls maschinell weiter getrocknet wird. Damit können in der gesamten Produktionskette Maschinen eingesetzt werden. Da ein unruhiges und welliges Mikrorelief, das bei Handarbeit keine Probleme macht, den Einsatz von Maschinen bei der Heugewinnung verunmöglicht, werden zahlreiche hofnahe und ertragreiche Flächen planiert, eingeebnet und anschließend neu – meist mit wenigen standortfremden Arten – eingesät. Um den Ertrag der Wiesen zu steigern, werden sie gedüngt, u. zw. nicht mehr wie früher nur mit dem hofeigenen Dung, sondern mit gekauem Kunstdünger. Zusätzlich werden die Wiesen häufiger als früher geschnitten, und seit der zweiten Häle der 1990er Jahre setzt sich in vielen Alpenregionen der Silageschnitt durch: Das Gras wird alle drei bis vier Wochen geschnitten, und es wird als frisches, feuchtes Gras sofort in großen Kunststoffballen ludicht verpackt, wo es zu gären beginnt, was sich auf den Futterwert positiv auswirkt. Diese Silageballen werden dann am Rand der Wiesen in großer Zahl gelagert, bis sie gebraucht und abtransportiert werden. Zusätzlich wird für Kühe und Rinder häufig Krafutter zugekau, weil die heute verwendeten Rassen von
Die Modernisierung der Alpen · Landwirtschaft im Alpenraum – ein Rückzug ohne Ende?
Heu alleine nicht mehr leben können und weil nur so hohe Erträge erzielt werden können. Durch den Kauf von Kunstdünger und Krafutter ist auch die Landwirtscha im Alpenraum inzwischen in den globalen Agrarhandel einbezogen. Obwohl alle diese Modernisierungen den Ertrag der Landwirtscha im Alpenraum sehr stark gesteigert haben, steht sie ökonomisch nicht gut da: Einerseits kosten die Modernisierungen sehr viel Geld und sind nicht in jedem Fall auch ökonomisch effizient, andererseits produziert die industrialisierte Landwirtscha in den europäischen Gunstgebiete inzwischen noch sehr viel günstiger als früher, so dass sich die Kostenschere eher vergrößert als verkleinert. Die betroffenen Bauern in den Alpen halten ihre Wirtschas- und Lebensform zu Recht für so wichtig und wertvoll, dass sie sie unter fast allen Umständen fortzusetzen versuchen. Zu diesem Zweck verwenden sie o Einnahmen aus einem Zu- oder Nebenerwerb, um ihre eigene Landwirtscha zu unterstützen, oder sie nehmen dazu die Einnahmen, die sie aus einem „Urlaub auf dem Bauernhof“ oder aus touristischen Angeboten (Fahrten mit der Pferdekutsche, Ponyreiten usw.) erzielen. Dabei werden sie von EU und Staat unterstützt, deren Agrarförderungen heute o mehr als die Häle der Betriebseinnahmen ausmachen.
a 154 Eine planierte und neu eingesäte Fläche im Gasteiner
Tal bei Dorfgastein in 850 – 900 m Höhe. Da solche Flächen einen sehr gleichmäßigen Wurzelhorizont ausbilden, sind sie stärker erosionsgefährdet als die traditionellen artenreichen Wiesen am gleichen Standort (April 2018).
Auch wenn die Landwirtschasflächen inzwischen erheblich kleiner als früher geworden sind und einen Teil ihrer Kleinräumigkeit und Artenvielfalt verloren haben, so sorgt die Fortführung der Landwirtscha doch dafür, dass die Alpen weiterhin eine offene Landscha bleiben und die Siedlungen nicht im Wald verschwinden.
`155 Eine Mähmaschine, die auch für steile Hänge ge-
eignet ist. Im Hintergrund die Burgruine Splügen im Tal des Hinterrheins (Juni 2015).
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Gewerbe und Industrie – oft übersehen Das städtische Bild der „schönen“ Alpen, das das Gegenbild zum industriellen Alltag darstellt (siehe Kapitel 1), blendet bewusst die tiefen Tallagen mit den Alpenstädten und den zahlreichen Gewerbe- und Industriestandorten aus den Alpen aus. Dieses Alpenbild ist jedoch realitätsfern, da die tiefen Tallagen sehr wichtige Arbeitsplätze bereitstellen, zu denen täglich viele Menschen aus den benachbarten hochgelegenen Seitentälern auspendeln. Häufig gibt es im Umkreis von großen Industriebetrieben viele Arbeiterbauern-Betriebe, deren Beschäigte die Arbeit in der Fabrik mit der in der Berglandwirtscha kombinieren – Gewerbe und Industrie sind sehr viel enger mit den Alpen verzahnt, als man üblicherweise annimmt. Für die großen Industriekonzerne Europas stellen die Alpen zwar einen peripheren Standort dar, aber für ihn sprechen folgende Faktoren: Eine sehr gute Erreichbarkeit via Eisenbahn/Autobahn, ein großes Arbeitskräepotenzial mit bäuerlicher Mentalität (also mit schwach ausgebildeten „städtischen“ Gewerkschasstrukturen) sowie eine ökonomisch sehr günstige Energieversorgung auf der Grundlage der Wasserkranutzung. Deshalb entstehen im Zuge der Industrialisierung ab 1890 eine größere Zahl von Industriebetrieben in den Alpen, allerdings nur in den gut erreichbaren Alpentälern in der Nähe des Alpenrandes und in den großen inneralpinen Längstälern, die über eine gut ausgebaute Transitverkehrsstrecke verfügen.
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Die Modernisierung der Alpen
a 156 Während früher überall in den Alpen kleine Stein-
brüche existierten, sind diese heute geschlossen, und es gibt nur noch relativ wenige, aber dafür große, industriell betriebene Steinbrüche. Hier ein Steinbruch bei Saalbach-Hinterglemm (Kitzbüheler Alpen); hinten rechts die Loferer Steinberge (August 2012).
Da diese Industriebetriebe häufig viele Tausend Arbeiter beschäigen, während in den benachbarten, hochgelegenen und dünn besiedelten Seitentälern o nur wenige Hundert Arbeitsplätze in Landwirtscha und Tourismus existieren, besitzen sie eine starke wirtschaliche Stellung in der alpinen Wirtscha. Auf dem Höhepunkt der industriellen Entwicklung in den Alpen, also in den Jahren 1970 – 1975, düre jeder zweite Erwerbstätige im zweiten Wirtschassektor (Industrie, Handwerk, Baugewerbe, Wasserwirtscha) gearbeitet haben! Mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellscha gehen europaweit und alpenweit die Arbeitsplätze in der Industrie deutlich zurück. Die Alpen verlieren dabei viele Arbeitsplätze, allerdings wird dies in der breiten Öffentlichkeit – im Unterschied zu den Arbeitsplatzverlusten in Berglandwirtscha und Tourismus – nie wahrgenommen und nie thematisiert. Trotz dieser Rückgänge spielen die Industrie-Arbeitsplätze heute in den Alpen weiterhin eine wichtige Rolle, denn sie stellen Ganzjahresarbeitsplätze mit höheren
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beruflichen Qualifikationen dar, und solche Arbeitsplätze sind in den Alpen nicht sehr häufig. Das zentrale Argument für Industriebetriebe, ihre Standorte in den Alpen nicht zu schließen, sind heute neben der sehr guten Erreichbarkeit im Zentrum Europas in erster Linie die sehr gut ausgebildeten und motivierten Mitarbeiter. Mit dieser Begründung hat die Lonza AG (Chemie- und Pharmaunternehmen) vor wenigen Jahren beschlossen, ihren Standort in Visp/Wallis gezielt auszubauen und zu vergrößern, und mit der gleichen Begründung wurde im Jahr 2017 in Kapfenberg/Steiermark, also im größten traditionellen Schwerindustriegebiet der Alpen, das erste neue Stahlwerk in Europa seit 40 Jahren errichtet. Die Industrie düre auch in Zukun ein wichtiger Teil der alpinen Wirtscha bleiben.
a 157 Das 1942 gegründete Chemiewerk bei Domat/Ems,
598 m, im Rheintal (das große Rechteck im Tal vorn ist das Industriegelände, dahinter der Doppelort Domat/Ems, und hinten im Tal die Stadt Chur). Rechts neben und oberhalb des Industriegeländes liegt ein Golfplatz, der an den langen weißen Rechtecken zu erkennen ist. Gut sichtbar die Autostraße N 13, etwas weniger ins Auge fallend die Eisenbahn, die direkt am Werk vorbeiläu. Im Talboden fallen zahlreiche kleine, mit Wald bedeckte Hügel auf, die aus nutzungsfeindlichem Bergsturzmaterial bestehen. Die Berge im Hintergrund links gehören zum Rätikon (mit Schesaplana, 2954 m, als höchstem Gipfel), auf dessen Kamm die Grenze Graubünden – Vorarlberg verläu (August 2003).
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a 158 An der Brenner-Autobahn gibt es zwischen Kufstein und Innsbruck kei-
ne Autobahnauffahrt ohne ein Gewerbegebiet (hier das von Strass ganz in der Nähe von Jenbach). Solche Gewerbegebiete brauchen viel Platz, und hier siedeln sich Betriebe an, die stärker mit den europäischen Zentren als mit den Alpen vernetzt sind (März 2009).
Neben der „klassischen“ Industrie gibt es zwei Formen von Gewerbegebieten, die seit etwa 20 Jahren in den Alpen stark wachsen. Einerseits handelt es sich um Gewerbegebiete, die an den Autobahnauffahrten der großen Transitstrecken liegen. Hier siedeln sich international tätige Logistik- und Transportfirmen, aber auch Service- und hochspezialisierte Produktionsbetriebe an, deren Standort eigentlich überall liegen könnte, die sich hier jedoch wegen der kurzen Entfernung zu vielen großen europäischen Metropolen niederlassen – die Alpen liegen ja im Zentrum Europas. Im Rahmen sehr ausgeprägter Arbeitsteilungen werden einige Produktionsschritte, aber vor allem bestimmte Transport-, Lager-, Reparatur- und Servicetätigkeiten, die für sehr große Räume bestimmt sind, an Punkten mit optimaler Erreichbarkeit konzentriert. Die so genannten „ubiquitären“ Betriebe, die hier ansässig sind, sind eng mit den europäischen Metropolen verflochten, haben aber mit den Alpen selbst fast nichts zu
148
Die Modernisierung der Alpen · Gewerbe und Industrie – oft übersehen
tun, obwohl sie in den Alpen liegen. Sie tragen mit dazu bei, dass die tiefen Tallagen entlang der Transitachsen stark durch Zersiedlung geprägt sind. Andererseits entstehen neue Gewerbegebiete an Bundes- oder Kantonalstraßen in der Nähe größerer Orte. Hier siedeln sich Supermärkte und Einkaufszentren, aber auch Betriebe des verarbeitenden Gewerbes an, für die der Platz im Ortszentrum zu eng geworden ist. Damit sind zwar für die betroffenen Firmen größere Angebote und mehr Möglichkeiten verbunden, aber gleichzeitig werden dadurch die Ortszentren geschwächt und entwertet, und für Menschen ohne Pkw wird das Einkaufen schwieriger. Auch diese neuen Gewerbegebiete tragen zur Zersiedlung bei, weil ihr Flächenbedarf so groß ist.
159 Die Fabriken der Textilindustrie in der Kleinstadt Pont `
Canavese am Rand der Grajischen Alpen wurden 1870 errichtet und 1964 stillgelegt, und sie werden heute für die Produktion von Plastikteilen genutzt. Dieser Standort wurde gewählt, weil die Erreichbarkeit mittels Eisenbahn gut war, weil Wasserkra zur Energiegewinnung genutzt werden konnte und weil viele Bauern aus dem angrenzenden Soana-Tal als Arbeiter zur Verfügung standen (August 2012).
149
_ 160 Das Zentrum von Bad
Gastein (Hohe Tauern), einem zuvor sehr kleinen Ort, der durch den Tourismus der Belle-Époque sehr groß und weltberühmt wurde (April 2018).
Tourismus – keine Schlüsselbranche im Alpenraum Die Alpen sind erst touristisch interessant, wenn aus den schrecklichen Bergen die schönen Berge geworden sind (siehe Kapitel 1). Dann jedoch erhält der Alpentourismus schnell eine große Bedeutung. Seine Entwicklung lässt sich in sechs Phasen unterteilen. Entdeckungszeit (1760/80 bis 1880): In dieser Zeit ist ein Alpenaufenthalt mehr ein Abenteuer als eine Erholung, und es kommen nur wenige Menschen, um die Schönheit der Alpen vor Ort zu entdecken. Aber in dieser Zeit wird dasjenige Alpenbild entwickelt und popularisiert, das anschließend sehr viele Menschen in die Alpen zieht. Belle-Époque-Zeit (1880 bis 1914): Jetzt entsteht der erste Massentourismus für die europäische Oberschicht, wobei ein Eisenbahnanschluss die zentrale Voraussetzung darstellt. Dieser Tourismus konzentriert sich stark auf die Schweiz, wo an zahlreichen Orten sehr große Palasthotels und spektakuläre touristische Bahnen auf Aussichtsgipfel gebaut werden und wo in etwa 80 Orten eine Tourismusdichte entsteht, die bis heute kaum übertroffen wird. Daneben gibt es alpenweit in vielen Seitentälern erste kleine Hotels, und die Alpenvereine, die zwischen 1862 und 1874 entstehen, erschließen viele Gebirgsgruppen mit Hütten und Wegen. Dieser dezentrale Tourismus ist zwar wirtschalich nicht sehr relevant, aber er baut dasjenige touristische Image auf, das nach 1955 dann sehr wichtig wird.
150
Die Modernisierung der Alpen
Kriegs- und Zwischenkriegszeit (1914 bis 1955): Am Ende des Ersten Weltkriegs verschwindet die traditionelle Oberschicht in Europa, und dies wirkt sich für den Alpentourismus negativ aus. Als neue Zielgruppe wird die Mittelschicht erschlossen, und diese wohnt in kleinen Hotels, Pensionen oder Ferienhäusern. Durch die Weltkriege und die Weltwirtschaskrise sind jedoch die Rahmenbedingungen für den Alpentourismus schlecht, und die Nächtigungen erreichen nicht mehr diejenigen der Belle-Époque. Alpine Goldgräberzeit (1955 bis 1985): Jetzt wird der Alpentourismus zum Massentourismus, der auch die Unterschicht breit einbezieht. Weil die Zuwachsraten bei den Nächtigungen regelmäßig im zweistelligen Bereich liegen, werden an vielen Orten Hotels und Seilbahnen massiv ausgebaut, und Viele haben den Eindruck, dass diese Entwicklung nie enden werde. Deshalb wird eine Reihe von überdimensionierten Großprojekten realisiert, die später eine große wirtschaliche Belastung darstellen. Stagnationsphase (1985 bis 2003): Auf Grund von Globalisierung und Liberalisierung (Öffnung vieler Grenzen, zahlreiche neue Tourismusdestinationen weltweit, billige Flugreisen und Pauschalangebote) und auf Grund des Images der Alpen, das jetzt nicht mehr die allergrößte Faszination ausstrahlt, stagniert der Alpentourismus auf einmal. Teile der Tourismusbranche, in erster Linie klei-
ne Hotels und Seilbahnen, die hoffnungslos überschuldet sind, können jetzt ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen und schließen. Der Tourismus konzentriert sich immer stärker auf die großen Tourismuszentren mit mindestens einer halben Million Übernachtungen pro Jahr, und es gibt kaum noch Neuerschließungen. Phase der Neuerschließungen (ab 2003): Die großen Tourismuszentren setzen jetzt auf neue Großprojekte, um sich im immer schärferen Wettbewerb gegenüber der Konkurrenz behaupten zu können. Da aber die Zahl der Nächtigung weiterhin stagniert, entsteht daraus ein ruinöser Verdrängungswettbewerb, der zu Lasten der kleinen und mittleren Tourismusanbieter geht: Der Tourismus verliert in den Alpen seinen dezentralen Charakter und konzentriert sich immer stärker in nur 300 Alpengemeinden mit jeweils mehr als 5000 Tourismusbetten, die zu touristisch geprägten Städten werden.
a 161 Der touristische Blick auf die schönen Alpen erfordert
eine leicht erhöhte Position, damit man sie auch „richtig“ sehen kann. Hier eine Aussichtsplattform oberhalb von Leukerbad, die einen Panoramablick auf die Walliser Alpen ermöglicht; im Zentrum das Weisshorn, 4505 m (September 2009).
ser großen Zahlen stellt der Tourismus (direkte und indirekte Effekte) lediglich 15 – 18 % aller Arbeitsplätze in den Alpen, und er ist nur in folgenden Regionen stark vertreten: Bayern, Westösterreich, Südtirol, Dolomiten, Graubünden, Berner Oberland, Wallis, Savoyen, Hoch-Savoyen, Isère, Aosta-Tal, Susa-Tal und die Nordseite der Ligurischen Alpen. Alle anderen Alpenregionen haben entweder nur vereinzelte Tourismuszentren oder gar keine.
`` 162 In der Entdeckungszeit nutzen die ersten Alpinisten o Almhütten
Heute gibt es in den Alpen knapp eine Million touristischer Betten (einschließlich privat genutzter Zweitwohnungen), etwa eine halbe Milliarde Nächtigungen und mehr als 60 Millionen Tagesbesucher pro Jahr. Trotz die-
als Unterkun. Später entstanden auf den Almen neben Alpenvereinshütten auch private Unterküne wie die 1898 errichtete „Kuranstalt Meglisalp“ auf der Meglisalp, 1517 m (links unten). Ganz oben der Altmann, 2436 m, im Säntis-Massiv/Appenzeller Alpen (August 2016).
151
_ 163 Der Sommertourismus wäre ohne die technische
Erschließung der Alpen kein Massenphänomen. Deshalb sind diese Seilbahnmasten oberhalb von Bad Gastein dafür ein angemessenes Symbol (Dezember 2016).
Der Alpentourismus ist an seinem Beginn ein reiner Sommertourismus, der sich auf das Erleben der schönen Berge in den guten Jahreszeiten konzentriert, und das bleibt er auch für lange Zeit. Dabei bilden sich schnell zwei Varianten heraus: Einerseits brauchen sehr viele Alpenbesucher die technische Erschließung der Alpen, um die berühmten Aussichtsberge zu besuchen, die sie zu Fuß nie erreichen könnten. Zu diesem Zweck entstehen ab 1879 die ersten Zahnradbahnen und die ersten Standseilbahnen und ab 1908 die ersten beiden Luseilbahnen in den Alpen, die Besucher schnell und gefahrlos zu den Aussichtspunkten bringen. Andererseits gibt es die Alpinisten und viele Menschen, die von den Alpenvereinen zum Wandern
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in den Alpen motiviert werden. Diese besteigen die Berge aus eigener Kra und lehnen o die Benutzung einer Bahn ab, weil damit ein „richtiges“ Bergerlebnis nicht möglich sei. Beide Gruppen stehen seit dem Belle-Époque-Tourismus nebeneinander, und daran ändert auch der Siegeszug der Luseilbahnen nichts, der in den 1920er Jahren einsetzt. Im Laufe der 1980er Jahre verliert das Alpenerlebnis beider Gruppen an Faszination und wird altmodisch, und die Besucherzahlen beider Gruppen gehen deutlich zurück. Die Tourismusanbieter reagieren darauf in der Form, dass sie ab den 1990er Jahren an der Stelle des bloßen Wanderns Aktiv-Sportarten im alpinen Sommertourismus anbieten, also Mountainbiking, Paragliding, Riverraing, Schluchting, Golf usw. Und etwa ab der Mitte der 2000er Jahre werden im Bereich der Bergstationen der Bahnen zusätzliche Attraktionen wie Aussichtsplattformen, Hängebrücken, Kletterwände, Fahrgeschäe, Hüpfburgen, Märcheninszenierungen für Kinder oder Streichelzoos geschaffen, um die Attraktivität weiter zu steigern. Damit gelingt es zwar, den Abwärtstrend im alpinen Sommertourismus zu beenden und wieder ein leichtes Wachstum zu erzielen. Aber alle diese neuen Attraktionen werden als bloße technische Spielereien schnell langweilig und müssen durch neue, noch größere ersetzt werden. Für die Anbieter bedeutet das, dass sie immer wieder neu investieren müssen und dass diese Investitionen im Rahmen des harten Konkurrenzkampfes allmählich so groß werden, dass sie die eigene ökonomische Existenz bedrohen. Für die Besucher bedeutet das, dass sich die Faszination einer neuen technischen Attraktion bald abnutzt, so dass sie eine größere Attraktion brauchen, um weiterhin ein eindrückliches Erlebnis haben zu können. Da aber auch dieses bald langweilig wird, braucht es noch größere Attraktionen, um das Erlebnis zu steigern, und dieser Prozess setzt sich so lange fort, bis ein Erlebnis-Burnout einsetzt, also eine grundsätzliche Langeweile an allen technisch vermittelten, künstlichen und käuflichen „Erlebnissen“. Parallel zu dieser Aufrüstung im Sommertourismus gibt es aber auch einen neuen Sommertourismus im Al-
Die Modernisierung der Alpen · Tourismus – keine Schlüsselbranche im Alpenraum
` 164 und b 165 Die zwei Seiten des heutigen Sommertouris-
mus im Alpenraum: Oben Großkabinenbahn vom Col du Pillon, 1546 m, auf den Aussichtsgipfel Sex Rouge, 2940 m, im Les Diablerets-Massiv (westliche Berner Alpen)(September 2006). Unten: Wanderer auf dem Balkonweg im Val Grande der Lanzo-Täler (Grajische Alpen) in 2000 m Höhe, wo es weit und breit keine Seilbahn gibt (September 2014).
penraum, der ganz bewusst darauf setzt, eigene Erfahrungen selbst zu machen und nicht zu kaufen, und der an die Stelle von Aktiv-Sportarten die Freude an der eigenen körperlichen Bewegung ins Zentrum stellt, um die Alpen mit allen Sinnen als Natur- und als Kulturlandscha wahrzunehmen und zu erleben. Allerdings wird diese neue Zielgruppe leicht übersehen, weil sie durch keinerlei Besonderheiten auffällt.
155
a 166 Der Bereich der Resterhöhe, 1894 m, oberhalb von Pass Thurn im Ski-
gebiet von Kitzbühel wurde stark für das Skifahren umgestaltet: Auf dem Grat wurde ein Speichersee gebaut, und das Gelände wurde großräumig planiert. Alle Skipisten werden heute möglichst früh künstlich beschneit (Oktober 2017).
Der Wintersport entsteht der Legende nach im Winter 1864/65 in St. Moritz, als ein Hotelier seinen englischen Sommergästen vom sonnigen und schneereichen Winter im Engadin vorschwärmt und mit ihnen wettet, ihren Aufenthalt zu bezahlen, falls dies nicht zutreffe. Die Engländer nehmen dies ungläubig an, um dem nassen und nebligen Winter in London zu entfliehen, sind sofort begeistert und verbreiten ihre Begeisterung schnell in der europäischen Oberschicht. Am Beginn des Wintertourismus stehen Aktivitäten und Vergnügungen auf dem Eis sowie Schlitten- und Bobfahrten. Das Skifahren wird erst in den 1920er Jahren populär, und als an Weihnachten 1934 in Davos der erste Skili der Alpen in Betrieb geht, beginnt die neue Gleichung „Winter = Abfahrtsski“ für viele Jahrzehnte den Wintertourismus der Alpen zu prägen. Der eigentliche Aufschwung des Wintertourismus beginnt jedoch erst 1965, und ab dem Ende der 1990er Jahre übertreffen die Winternächtigungen im Alpenraum erstmals die Sommernächtigungen. Da aber der Wintergast etwa 3 – 4 mal so viel Geld pro Tag ausgibt wie der Sommergast, ist der Winter bereits seit den 1980er Jahren ökonomisch wichtiger als der Sommer. Der Winter erfordert sehr viel umfangreichere technische Infrastrukturen als der Sommer, und diese werden permanent ausgebaut: Ab den 1970er Jahren werden die Skipisten zu breiten Skiautobahnen erweitert, ab den 1980er Jahren entstehen sehr große Skigebiete, ab den 1990er Jahren wird künstlich beschneit, und ab den
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2000er Jahren wird auch der gesamte Grat- und Gipfelbereich in den Skigebieten künstlich beschneit, wofür sehr große Speicherseen in der Höhe gebaut werden müssen, weil der natürliche Wasserablauf dafür nicht mehr ausreicht. Derzeit gibt es gut 600 Skigebiete mit mehr als 5 km Pistenlänge in den Alpen; 61 von ihnen haben mehr als 100 km Pistenlänge, und die beiden Spitzenreiter verzeichnen 600 km („Les Trois Vallées“ und „Portes du Soleil“ in den nordfranzösischen Alpen). Obwohl die Nachfrage nach Skifahren seit 15 Jahren in den Alpen stagniert und die Zahl der potenziellen Skifahrer in Europa in Zukun weniger wird (Europas Bevölkerung wird weniger und älter), herrscht derzeit ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb: Die großen Skigebiete werden immer größer (gut 20 Skigebietszusammenschlüsse werden derzeit vorbereitet bis hin zu 800 km Pistenlänge), und sie konkurrieren untereinander mittels Dumpingpreisen. Dies geht zu Lasten der kleinen Skigebiete, von denen alpenweit bereits etwa 60 verschwunden sind. Auf Grund der häufigen schneearmen Winter beginnt sich aber die traditionelle Gleichung Winter = Abfahrtsski derzeit etwas zu lockern: Ein kleiner Teil der Wintergäste beginnt, die Alpen im Winter auch ohne Skifahren attraktiv zu finden, und es entstehen allmählich erste Winterangebote für diese Zielgruppe.
` 167 Um im Gipfel- und Gratbereich künstlich beschnei-
Die Modernisierung der Alpen · Tourismus – keine Schlüsselbranche im Alpenraum
en zu können, braucht es neue große Speicherseen in großer Höhe. Hier ist gerade ein solcher Speichersee oberhalb von Dorfgastein (Hohe Tauern) in 1800 m Höhe im Bau; nach seiner Fertigstellung wird er als besonderes „Naturerlebnis“ vermarktet (September 2007).
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Um die Bedeutung des Tourismus für die Alpen gibt es seit Jahrzehnten einen heigen Streit: Tourismusvertreter weisen darauf hin, dass der Tourismus heute die einzige Wirtschasmöglichkeit in den Hochlagen der Alpen sei und dass ohne ihn viele Alpentäler längst entsiedelt wären. Umweltschützer kritisieren dagegen die ökologische Zerstörung der Berge, die Verschandelung der Orte und die Instrumentalisierung der lokalen Traditionen zu Werbezwecken. Betrachten wir die Bereiche Wirtscha, Umwelt und Kultur, um am Schluss ein Fazit zu ziehen. Wirtscha: Der Tourismus hat in hochgelegenen Alpentälern während langer Zeit den Erhalt von dezentralen Arbeitsplätzen gesichert. Inzwischen aber konzentriert er sich immer stärker auf vergleichsweise wenige und große Tourismuszentren, die zu Städten werden, und zieht sich immer mehr aus kleinen Orten zurück. In den städtischen Tourismuszentren erfordern die jährlichen Investitionen dagegen solch gewaltige Summen, dass sich hier o fremde Kapitalgesellschaen durchgesetzt haben, von denen die „Compagnie des Alpes“ (Paris) alpen- und weltweit die größte ist. Umwelt: Die Umweltschützer irren, wenn sie meinen, der Tourismus zerstöre die Natur der Alpen, weil es sich in den meisten Fällen um Kulturlandschaen handelt. Hier lautet die Frage nicht „Eingriff ja oder nein“, sondern es geht darum, ob die ökologische Stabilität der vom Menschen veränderten Landscha gewährleis-
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tet ist oder nicht. Schon die breiten Skiautobahnen erhöhen das Erosionsrisiko erheblich, und ein modernes Skigebiet, das bis in die Gipfellagen hinein künstlich beschneit wird, stellt mit seinen unzähligen Baumaßnahmen in den empfindlichen Höhenlagen (kilometerlange in den Boden eingelassene Strom- und Wasserleitungen, Speicherseen, Reliefveränderungen) eine große ökologische Gefahr dar. Eine Reihe von Seilbahngesellschaen legt auf die ökologische Stabilisierung ihrer Skigebiete großen Wert, für viele jedoch ist dies nur ein Kostenfaktor, der im Konkurrenzkampf minimiert werden muss, so dass man lediglich kurzfristige Schadensbeseitigung betreibt und die ökologischen Probleme damit in die Zukun verschiebt. Vollends problematisch wird es aber, wenn durch die Klimaerwärmung die meisten Skigebiete geschlossen werden: Wenn sie dann nicht aufwendig und mit großen Kosten zurückgebaut werden, dann entstehen hier „ökologische Zeitbomben“ mit einem sehr großen Gefahrenpotenzial. Kultur: Die von den Gästen im Urlaub zur Schau gestellten Werte der Freizeitgesellscha stehen im krassen Gegensatz zu denen der traditionellen bäuerlichen Gesellschaen, und der Tourismus hat früh lokale Traditionen (Heimatabende, Trachtenumzüge, religiöse Feste) zur Tourismuswerbung benutzt. Eine solche Instrumentalisierung nimmt aber den Traditionen ihren Wert und ihre Würde und zerstört sie dadurch. Aber es grei zu
Die Modernisierung der Alpen · Tourismus – keine Schlüsselbranche im Alpenraum
_ 168 Im ehemaligen Walserort Cunéaz, 2049 m (Ayas-
Tal, Monte Rosa-Gruppe), der seit vielen Jahrzehnten nur noch von wenigen Menschen im Sommer bewohnt wird, wurde im Jahr 2008 in einem der alten Häuser ein „Rifugio“ mit acht Betten und Restaurant neu eröffnet. Solche kleinen Tourismusstrukturen sind für ein dezentrales Leben und Wirtschaen im Alpenraum ein wichtiger Bestandteil (August 2017). b 169 Die Skistation Isola 2000 (französische Seealpen)
entstand 1972 auf dem Gebiet der Chastillon-Alm in 2000 m Höhe und zählt heute über 10 000 Gästebetten. Solche großen Tourismuskonzentrationen wirken sich auf Wirtscha, Kultur und Umwelt der Alpen zerstörerisch aus (September 2017).
kurz, die Zerstörung der Tradition allein dem Tourismus anzulasten: Die lokalen Gemeinschaen im Alpenraum waren über saisonale Emigranten, Wanderhändler, den Transitverkehr u.a. eng mit Europa vernetzt und kannten die kulturellen Veränderungen. Die direkte Anwesenheit der „Fremden“ vor Ort kann sich dann kulturell zerstörend auswirken, sie kann jedoch auch die bewusste Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne fördern und Traditionen bereichern oder neue Traditionen entstehen lassen. Fazit: Während kleine Tourismusstrukturen gut in die dezentralen Strukturen der Alpen passen und diese stärken können, sprengen die städtischen Tourismuszentren diesen Rahmen und wirken sich ökonomisch, kulturell und ökologisch zerstörerisch aus.
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Die Alpenstädte als Wachstumszentren Häufig werden die Alpenstädte aus den Alpen ausgeblendet, weil man in der Perspektive der schönen Berge meint, dass sie keinen „alpinen“ Charakter hätten. Das stimmt schon für die vorindustrielle Zeit nicht, und es führt erst recht in der Gegenwart zu einer verzerrten Alpenwahrnehmung. Die Alpenstädte waren in der vorindustriellen Zeit als Standort für spezialisierte Handwerks- und Gewerbebetriebe und als überregionale Markt- und Handelsorte das zentrale Verbindungsglied zwischen der alpinen und der europäischen Wirtscha. Mit der Industriellen Revolution dringen die neuen wirtschalichen Möglichkeiten der Industrie- und später der Dienstleistungsgesellscha in erster Linie über die Alpenstädte in die Alpen vor, die dadurch zu „Vorposten“ der neuen Wirtschas- und Lebensweisen in den Alpen werden.
a 170 Die Stadt Varallo liegt im unteren Sesia-Tal und stellt das wirtschali-
che und kulturelle Zentrum dieses großen Tales im Südosten der Walliser Alpen dar. Ab 1880 erlebte die Stadt einen wirtschalichen Aufschwung, nach 1945 stagniert ihre Entwicklung bei gut 7000 Einwohnern (periphere Lage, keine Transitachse), und im Jahr 2014 wird die Bahnlinie Novara – Varallo stillgelegt (September 2015).
160
Die Modernisierung der Alpen
Auch wenn das Bevölkerungswachstum der Alpenstädte im Vergleich mit Berlin, London, Paris oder Wien eher schwach ausfällt, so wachsen sie aus der Sicht des Alpenraums sehr stark, und sie prägen das Bevölkerungswachstum der Alpen im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich: Ohne die Alpenstädte würde die Einwohnerzahl der gesamten Alpen seit 1870 mehr oder weniger stagnieren! Die Alpenstädte machen dabei die typische Stadtentwicklung in Europa mit: Sie wachsen bis 1970 kontinuierlich und transformieren sich dann zur „Stadtregion“, wobei die Stadt selbst stagniert, während die angrenzenden ehemaligen Bauerngemeinden ein stürmisches Wachstum durchlaufen (Suburbanisation). Ab 1980 gibt es eine neue Form der Verstädterung im Alpenraum: Das Siedlungswachstum der Großstädte in der Nähe der Alpen wie München, Zürich, Genf oder Mailand ist jetzt so groß geworden, dass Alpenregionen in der Nähe des Alpenrandes zu Wohnregionen für die außeralpinen Großstädte umgewandelt werden. Diese Regionen weisen seitdem die höchsten Wachstumsraten im Alpenraum auf, und hier leben inzwischen gut 20 % der gesamten Alpenbevölkerung. Derzeit gibt es in den Alpen unter Berücksichtigung aller Verstädterungsformen (auch der touristischen) knapp 190 Stadtregionen, die 27 % der Alpenfläche um-
fassen. Hier leben heute zwei Drittel der Alpenbevölkerung, und hier konzentrieren sich sogar drei Viertel aller Arbeitsplätze im Alpenraum. Das bedeutet, dass die Alpen in Bezug auf Bevölkerung und Wirtscha, nicht jedoch in Bezug auf die Fläche ein verstädterter Raum geworden sind. Damit sind sie jedoch kein Sonderfall, denn viele periphere Regionen in Europa verzeichnen eine ähnliche Entwicklung. Allerdings werden keineswegs alle Alpenstädte von diesem Wachstum erfasst: Kleinere Städte in peripherer Lage ohne einen Eisenbahnanschluss, die mitten in einer wirtschalich zusammenbrechenden Alpenregion liegen, werden in den Abstieg mit hineingezogen, verlieren Einwohner und entwickeln sich zu einer ländlichen Gemeinde zurück.
a 171 Die Stadt Chur im Rheintal (Graubünden) ist wie die
meisten Alpenstädte eine Schwemmkegelsiedlung. Sie liegt an der Mündung der Plessur ins breite Rheintal. Der historische Siedlungskern liegt am oberen Ende des Schwemmkegels (ganz links), und der gut sichtbare Bahnhof von 1858 markiert sein unteres Ende. Seitdem breitet sich Chur nach allen Seiten schwemmkegelabwärts aus. 1870 lebten 7487 Menschen in der Stadt, heute sind es über 37 000. Im Hintergrund als höchster Berg links das Rheinwaldhorn, 3402 m, und rechts der Tödi, 3614 m (August 2003).
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a 172 Die Stadt Interlaken (Berner Oberland) breitet sich inzwischen weit in
ihr Umland aus, und die „Stadtregion Interlaken“ besteht aus 7 Gemeinden mit knapp 24 000 Einwohnern. Ganz rechts der alte Ortskern, links davon die späteren Erweiterungen. Die große freie Fläche innerhalb der Siedlung ist die „Höhematte“, die seit 1864 gezielt von jeder Bebauung freigehalten wird, um den angrenzenden Hotels den Blick auf die Berner Alpen nicht zu verbauen. Das große runde Gebäude links oben ist das Freizeitcenter „JungfrauPark“ mit der „Mystery World“ Erich von Dänikens (Oktober 2017).
Die traditionelle Stärke einer Alpenstadt bestand früher darin, als Knotenpunkt zwischen der ländlichen Wirtscha des eigenen Umlandes und der arbeitsteiligen überregionalen Wirtscha zu vermitteln, was für beide Seiten ein Vorteil war. Mit der Industriellen Revolution gerät diese Balance ins Wanken: Einerseits werden die – im europäischen Rahmen relativ kleinen – Alpenstädte mit modernen Verkehrsmitteln immer besser mit den großen europäischen Metropolen verbunden, andererseits wird die dezentrale ländliche Wirtscha im Alpenraum immer mehr geschwächt und bricht teilweise völlig zusammen. Damit verliert die Vermittlerrolle der Alpenstädte ihre Bedeutung.
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Die Modernisierung der Alpen · Die Alpenstädte als Wachstumszentren
Dank der immer schnelleren Erreichbarkeit werden die Alpenstädte so eng mit den europäischen Metropolen verflochten, dass eine Reihe von hochwertigen Wirtschasfunktionen aus den Alpenstädten in die Metropolen abwandert, während umgekehrt Wirtschastätigkeiten mit hohem Flächenbedarf aus den Metropolen dorthin verlagert werden. Obwohl die Alpenstädte weiterhin in den Alpen liegen, wird dadurch ihr Alpenbezug immer mehr geschwächt, und sie werden immer stärker zu Teilräumen der großen, außeralpinen Metropolen. Am Ende liegen die Alpenstädte dann an den Alpen, aber nicht mehr wirklich in den Alpen. Je intensiver die Alpenstädte mit den großen europäischen Metropolen verflochten werden, desto mehr verlieren sie ihre Eigenständigkeit und werden zu einer Art „Vorstadt“ von ihnen. Viele kleinere Alpenstädte in der Nähe des Alpenrandes haben diesen Status heute bereits erreicht, z. B. die Städte im bayerischen Oberland als Vororte von München, die Städte am Zürcher See und in Teilen der Innerschweiz als Vororte von Zürich, Thun und Interlaken als Teil der Stadtregion Bern oder die Städte des Arve-Tals als Vororte von Genf. Da der Verlust der Vermittlerrolle und der Eigenständigkeit mit einem Bevölkerungs- und Wirtschaswachs-
tum verbunden ist, wird die Entwicklung der Alpenstädte meist nicht als Problem wahrgenommen – lediglich der hohe Bodenverbrauch, die stark steigenden Grundstückspreise und die Zunahme des Verkehrs werden von den Betroffenen kritisiert. Wichtiger aber ist, dass mit dieser Entwicklung der Alpenbezug der Alpenstädte verloren geht und die Bedeutung der Alpen auf einen „weichen Standortfaktor“ reduziert wird. Noch haben die großen Alpenstädte wie Grenoble, Innsbruck, Bozen, Trient oder Klagenfurt den Status als „Vorstadt“ einer Metropole nicht erreicht. Aber durch die Weiterentwicklung der elektronischen Medien und durch die neuen Hochgeschwindigkeitseisenbahnen wird die
a 173 Die Stadt Innsbruck von Westen gesehen, links die Ausläufer des Kar-
wendels (Nördliche Kalkalpen), rechts die Tuxer Alpen. Die Stadt Innsbruck liegt auf dem Schwemmkegel der Sill, die von Süden her ins Inntal mündet und den Inn mit einem großen Bogen nach Norden bis an den Fuß der Kalkalpen ablenkt. Die Stadt Innsbruck zählt 1870 26 573 und heute 132 000 Einwohner, die gesamte Agglomeration, die sich bandartig im Inntal nach Westen und Osten ausbreitet, gut 300 000 Einwohner (August 2012).
Distanz zwischen den Alpenstädten und den europäischen Metropolen noch einmal deutlich verkürzt und der Prozess der „Vervorstädterung“ der Alpenstädte noch einmal beschleunigt.
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_ 174 Der Alpenraum ist
ein wichtiges Drehkreuz für die eng miteinander verbundenen Stromnetze Europas, bei der der Strom die Alpen überquert. Hier Hochspannungsleitungen am Griespass (Lepontinische Alpen) an der Grenze Schweiz/Italien(August 2017).
Die Alpen – das „Wasserschloss“ Europas Die Ressource Wasser wird seit der Industriellen Revolution enorm aufgewertet, weil bei der Industrieproduktion und in der industrialisierten Landwirtscha sehr viel Wasser verbraucht wird, weil die Stromgewinnung aus Wasserkra ab 1890 sehr wichtig wird und weil der moderne Lebensstandard mit einem sehr hohen Wasserverbrauch verbunden ist. Die Wasserkranutzung setzt in den Alpen um 1890 ein und erreicht bald ein solches Ausmaß, dass sie in einigen Alpenregionen (am stärksten in den Walliser Alpen) zur landschasdominierenden Kra wird. Dabei kann man drei verschiedene Krawerkstypen unterscheiden. Laufkrawerke entstehen ab 1890, und dafür wird ein Fluss leicht aufgestaut, der direkt die Turbinen antreibt. An vielen größeren Alpenflüssen werden ganze Ketten von Laufkrawerken hintereinander gebaut, so dass ein Fluss in eine Abfolge von Staustufen zerlegt wird. Speicherkrawerke nutzen ein steiles Gefälle, um mit relativ wenig Wasser eine Turbine antreiben zu können. Bei den ersten Anlagen ab 1890 ist der Speicher am oberen Ende der Gefällstrecke noch klein. Ab 1919 werden Anlagen mit großen, ab 1928 solche mit sehr großen Speicherseen gebaut. Ab 1955 werden die Speicher stark vergrößert, indem ihnen durch unterirdische Leitungen Wasser aus weiter entfernten Bächen zugeleitet wird. Dadurch fallen lange Gewässerstrecken trocken und der Abfluss wird räumlich stark verändert. Pumpspeicherwerke entstehen ab 1970. Die Stauseen werden jetzt nicht mehr durch natürliche Zuflüsse ge-
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Die Modernisierung der Alpen
füllt, sondern vor allem durch Wasser, das aus dem Tal nach oben gepumpt wird. Dies ist keine Stromproduktion mehr, sondern Stromveredelung, indem Wasser mit billigem Bandstrom in den Speicher hinauf gepumpt wird, um es in Zeiten der Bedarfsspitzen – vor allem im Winter – in teuren Spitzenstrom zurück zu verwandeln. Dadurch wird ein Teil des Abflusses vom Sommer in den Winter verlagert, was weitreichende ökologische Auswirkungen hat. Weil fast alle Wasserkrawerke ganz oder zum größeren Teil außeralpinen Kapitalgesellschaen gehören, ist die Wasserkra derjenige Teil der alpinen Wirtscha, der am direktesten außeralpinen Interessen unterworfen ist. Die Liberalisierung der europäischen Strommärkte durch die EU und der starke Ausbau der regenerativen Energiequellen verändern die wirtschaliche Grundlage der alpinen Wasserkra fundamental; deshalb werden seit Ende der 1990er Jahre kaum neue Anlagen geplant oder gebaut.
` 175 Der Grimselstausee, 1909 m, in den Berner Alpen
mit dem Finsteraarhorn, 4274 m (September 1990). Der See ist Teil der „Krawerke Oberhasli“, deren acht Stauseen zwischen 1928 und 1954 erbaut wurden. Seit längerer Zeit gibt es Pläne, das Volumen des Stausees durch eine höhere Staumauer zu vervierfachen, was bis heute aber noch nicht realisiert wurde.
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Der Ausdruck „Wasserschloss“ bezieht sich nicht nur auf die große Bedeutung der Wasserkranutzung der Alpen für Europa, sondern auch auf ihre Eigenscha als Regenfänger und Wasserspeicher (siehe Kapitel 2). Die großen europäischen Ströme, die in den Alpen entspringen (Rhein, Po, Rhone) oder die sehr viel Wasser aus den Alpen erhalten (Donau), versorgen halb Europa mit Wasser. Alle europäischen Städte, die in der Nähe der Alpen liegen, sind vollständig vom Wasser der Alpen abhängig. Wien und Turin beziehen ihr Trinkwasser mit langen Leitungen direkt aus hochgelegenen starken Alpenquellen, und die Mehrzahl der Städte nutzt die großen Schotterkörper am Rande der Alpen zur Trink-
b 176 Die Großstadt Wien bezieht ihr Trinkwasser direkt
aus den Alpen. Die I. Hochquellenleitung (1870 – 73 erbaut) bezieht das Wasser aus dem 95 km entfernten RaxSchneeberg-Gebiet, wo zur Sicherung der Quellen 330 km2 Land durch die Stadt Wien aufgekau und aufgeforstet wurden. Im Bild der Oberhof, 615 m, im Naßwald, der dem Forstbetrieb der Stadt Wien gehört (Juni 2017).
` 177 Der Untere Bockhartsee, 1872 m, in den Hohen Tau-
ern, im Hintergrund der Kreuzkogel, 2686 m. An diesem Karsee entstand 1913 die erste kleine Wasserkraanlage, die mehrfach vergrößert wurde, zuletzt im Jahr 2007 (Oktober 2010).
wassergewinnung. In Zeiten von Wasserknappheit kann sogar der Raum Stuttgart-Heilbronn mit Wasser aus dem Bodensee und der Raum Nürnberg mit Wasser aus der Donau versorgt werden. Im Süden der Alpen sind die alpinen Wasserressourcen noch wichtiger als auf der Nordseite, weil wir uns hier im sommertrockenen mediterranen Raum befinden, wo der Wasserbedarf ganz besonders hoch ist. Der Lac de Serre-Poncon, der größte Stausee der Alpen (südfranzösische Alpen), dient seit 1961 neben der Stromproduktion der Wasserversorgung des Raums Marseille. In Zukun wird die Bedeutung der Alpen als Wasserschloss für Europa stark steigen: Alle Klimaprognosen gehen davon aus, dass es in absehbarer Zeit im Sommer in Europa deutlich trockener werden wird und dass die Niederschläge unregelmäßiger fallen werden. Dadurch wird die Nachfrage nach Trink-, Brauch- und Bewässerungswasser sprungha ansteigen. Was das für die Alpen bedeuten wird, ist derzeit noch unklar: Da auf Grund der Klimaerwärmung gleichzeitig die Gletscher stark abschmelzen, sinkt die natürliche Wasserspeicherfähigkeit der Alpen gerade in der Zeit, in der sie besonders stark benötigt wird. Rein theoretisch könnte man diesen Rückgang durch den Bau von riesigen Stauseen kompensieren, aber dies wäre nur möglich, wenn viele Menschen umgesiedelt würden, was derzeit kaum vorstellbar ist. Es ist jedoch zu erwarten, dass es um die Nutzung des Alpenwassers, um seinen Preis, um neue Formen der Wassernutzung und um neue Stauseen in Zukun sehr heige Konflikte geben wird.
178 Die Cascata del Toce in den Lepontinischen Alpen `
zählt mit 143 m Fallhöhe zu den größten Wasserfällen der Alpen, und deshalb wurde hier im Jahr 1863 in 1675 m Höhe ein Hotel errichtet. Seitdem ab den 1920er Jahren zahlreiche Stauseen oberhalb dieses Wasserfalls gebaut wurden, fließt hier normalerweise wenig Wasser. Diese Aufnahme wurde am Sonntag, den 24. September 2017 gemacht, als zu touristischen Zwecken kaum Wasser durch die Turbinen geleitet wurde.
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Die Modernisierung der Alpen · Die Alpen – das „Wasserschloss“ Europas
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Naturschutz als neue Realität in den Alpen Die Grundidee des Naturschutzes, Natur nicht zu nutzen und sie vor jedem menschlichen Eingriff zu schützen, ist ein städtischer Gedanke. Er entsteht erstmals im Gefolge der Industriellen Revolution und setzt voraus, dass jede Form der (industriellen) Naturnutzung Natur zerstört. Für Bauerngesellschaen, deren Lebensgrundlage die menschlich veränderte Natur ist, ist der Naturschutz jedoch ein völlig fremder Gedanke. Natur nicht zu nutzen erscheint ihnen genauso absurd wie nicht mehr zu essen oder wie die ästhetische Bewunderung nutzloser Fels- und Eiswüsten. Dadurch trifft der Naturschutz lange Zeit in den Alpen auf heigsten Widerstand. Ab 1900 kaufen Privatpersonen und Vereine erste Flächen auf, um sie vor touristischer Erschließung zu schützen. 1914 wird der Schweizer Nationalpark im Un-
a 179 Blick auf den Dürrenstein, 1878 m, in den nieder-
österreichischen Kalkalpen. An seinen Südhängen hat sich der größte, vom Menschen nie genutzte Wald der Alpen erhalten, der 460 Hektar große Rothwald. Er steht seit 1875 unter Schutz (Juli 2013).
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Die Modernisierung der Alpen
terengadin als erster Nationalpark der Alpen gegründet, und in ihm sind alle Nutzungen untersagt. In der Folge entstehen der Gran-Paradiso- (1922) und der Stilfser-Joch-Nationalpark (1935) gegen den Widerstand der betroffenen Bevölkerung. Diese Nationalparks orientieren sich an der nordamerikanischen Idee des Schutzes von unberührten Naturlandschaen. Solche Landschaen gibt es jedoch in den Alpen schon seit dem Mittelalter nicht mehr, was dieses Konzept eigentlich in Frage stellen müsste, was aber nicht diskutiert wird. Ab den 1960er Jahren werden in den Alpen sehr viele Neubauprojekte in den Bereichen Verkehr, Tourismus und Wasserkra realisiert, die mit großen Umweltschäden verbunden sind. Zu Beginn der 1970er Jahre entsteht der Umweltschutz, und die 1970er und 1980er Jahre sind dann in den Alpen die Jahre heigster Kontroversen zwischen Einheimischen und Umweltschützern um solche neuen Projekte. Gegen Ende der 1980er Jahre wird man sich im Umweltschutz bewusst, dass viele schützenswerte Biotope und Landschaen der Alpen nicht Natur-, sondern Kul-
turlandschaen sind, und es entsteht ein neuer Umweltschutz, der jetzt naturverträgliche oder nachhaltige Nutzungsformen gegen neue Großprojekte setzt. Damit lösen sich die Gegensätze zwischen den Interessen der Einheimischen und der Umweltschützer allmählich wieder auf. Nach der Jahrtausendwende entsteht mit dem Schutz der „Wildnis“ eine neue Leitidee, die darauf abzielt, die Natur sich selbst zu überlassen, egal wie sie sich entwickelt („Prozessschutz“). Dabei versteht man unter „Wildnis“ sowohl vom Menschen unberührte Gebiete (die es in den Alpen kaum noch gibt) als auch Gebiete, die allmählich verwildern, weil der Mensch seine Nutzung eingestellt hat. Kulturlandschasschutz und Wildnisentwicklung stehen seitdem als zwei sich ergänzende Naturschutzstrategien nebeneinander und führen immer wieder zu Grundsatzdiskussionen.
a 180 Weil der Kern der Gran-Paradiso-Gruppe ab 1856 Jagdge-
biet des italienischen Königs wurde, dure nur er die damals stark dezimierten Steinböcke jagen. Deren Bestand erholte sich dadurch wieder, und dies war ein zentrales Argument, hier 1922 einen Nationalpark einzurichten. Im Bild eines der fünf königlichen Jagdhäuser in 2222 m Höhe, das heute von der Parkverwaltung genutzt wird (August 2012).
Derzeit gibt es in den Alpen 1146 Schutzgebiete, die zusammen 28 % der Alpenfläche ausmachen. Die Schutzgebiete mit einem strengen Naturschutz, die keinerlei Nutzungen zulassen (darunter die 13 Nationalparks), sind in der Minderheit; viele Schutzgebiete verbinden Naturschutz mit einem umweltverträglichen Wirtschaen (darunter die 98 Natur- und Regionalparks und die 13 UNESCO-Biosphärenreservate) und stärken so ein dezentrales Leben und Wirtschaen im Alpenraum.
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Die Modernisierung der Alpen · Naturschutz als neue Realität in den Alpen
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AKTUELLE SITUATION UND ZUKUNFT DER ALPEN
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Nachdem wir im 1. Kapitel die drei populärsten Alpenbilder präsentiert hatten, im 2. Kapitel die Alpen als Naturraum und im 3. Kapitel als Kulturlandscha dargestellt hatten, thematisierte das 4. Kapitel die tief greifenden Veränderungen der Alpen durch die moderne Entwicklung; dabei wurden die einzelnen Bereiche getrennt voneinander behandelt, weil die mit ihnen verbundenen Veränderungen jeweils auf unterschiedliche Weise ablaufen. Damit haben wir jetzt die Voraussetzungen geschaffen, um im fünen und letzten Kapitel ein realitätsnahes Gesamtbild der gegenwärtigen Situation der Alpen zu entwerfen und um nach der Zukun der Alpen zu fragen:
` 182 Auch dieses Bild zeigt die moderne Entwicklung
● Ohne Kapitel 1 bestünde die große Gefahr, die aktuelle Situation der Alpen aus der Perspektive eines der drei populären Alpenbilder wahrzunehmen und damit letztlich die „Alpenbilder im Kopf“ mit der Realität der Alpen zu verwechseln.
Fassen wir die Veränderungen in den Bereichen Verkehr, Landwirtscha, Industrie, Tourismus, Alpenstädte, Wasser und Naturschutz zusammen, dann können wir feststellen, dass die Modernisierung der Alpen seit 1880 zu starken räumlichen Gegensätzen geführt hat:
● Ohne Kapitel 2 könnten wir leicht meinen, die Alpen wären von Natur aus eine offene Landscha, und der Mensch würde über den Alpen stehen und hätte sie technisch vollständig im Griff.
– Das moderne Wirtschaen und Leben konzentriert sich nur noch auf die gut erreichbaren Teilräume der Alpen (Talböden der großen und größeren Alpentäler) sowie auf ausgewählte Standorte im eigentlichen Gebirgsraum (300 Tourismuszentren), und beide sind stark durch Prozesse der Verstädterung und Zersiedlung geprägt.
● Ohne Kapitel 3 würden wir kaum wahrnehmen, dass die Landschaen der Alpen mit Ausnahme der Felsund Eiswüsten Kulturlandschaen sind und wie stark diese alpenspezifisch (also durch die jeweils konkrete Natur/Umwelt und die regionale Geschichte) geprägt sind. ● Und für die Modernisierungen, die in Kapitel 4 angesprochen werden, ist es sehr entscheidend, dass sie einen dezentral geprägten menschlichen Lebens- und Wirtschasraum verändern und nicht eine mehr oder weniger menschenleere Naturlandscha.
__ 181 Dieses Bild zeigt die moderne Entwicklung der Alpen
auf einem Blick: Im Tal der kanalisierte Inn, die Verkehrslinien von Eisen- und Autobahn und eine deutliche Verstädterung (Kleinstadt Landeck in der Bildmitte und Gemeinde Zams rechts unten), im Vordergrund der Krahberg, 2208 m, mit den Pisten des Skigebiets Landeck-Zams-Fließ/Venet, auf den Berghängen geschlossene Wälder (früher mosaikförmig aufgelichtet) und um die Dörfer herum Kulturlandschaen mit beginnender Verbuschung. Im Hintergrund die Berge der Verwallgruppe (September 2013).
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen
der Alpen auf einen Blick: Ganz vorn die sehr steilen, südexponierten Hänge, die meist brachgefallen sind, in der Bildmitte das breite Rhônetal im Oberwallis mit begradigtem Fluss und Eisenbahn, der Aluminiumfabrik in Steg (Bildmitte, von 1962 bis 2006 in Betrieb) und dem Industriestandort Visp (hinten). Oberhalb des Waldes die beiden kleinen Tourismusorte Unterbäch, 1221 m, und Bürchen, 1444 m; darüber Fletschhorn, 3993 m, und Lagginhorn, 4010 m (August 2010).
– Alle anderen Alpengebiete werden von der modernen Entwicklung nicht erfasst; im besten Fall – bei günstiger Pkw-Erreichbarkeit der außeralpinen Metropolen oder der Alpenstädte – entwickeln sich hier Pendlerwohnregionen, im schlechtesten Fall – bei peripherer Lage und mangelndem Interesse eines Staates am Berggebiet – entstehen hier Entsiedlungsregionen. Oder ganz kurz zusammengefasst: Die Alpen zwischen Verstädterung und Entsiedlung. Die Untergliederung des 5. Kapitels folgt diesen Veränderungen: Zuerst wird der Rückzug der Menschen aus peripheren Lagen und die Verwilderung der Kulturlandschaen dargestellt; dabei wird auch der Klimawandel angesprochen, dessen Auswirkungen in den Alpen deutlicher zu sehen sind als in vielen anderen Teilen Europas. Darauf folgt die Darstellung der Verstädterung und Zersiedlung der Talbereiche und der Tourismuszentren mit ihren Freizeitparks im Hochgebirge. Nach einer kurzen Bilanz „Die Alpen verschwinden“ bilden dann Überlegungen zur Zukun der Alpen den Abschluss dieses Bildbandes.
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Rückzug der Menschen aus den peripheren Lagen Da die Arbeitsplätze in den peripheren Lagen der Alpen, also an Standorten, die mit einem großen Lkw nicht erreichbar sind, im Laufe der Zeit immer weniger werden, geht auch die Zahl der Menschen, die an solchen Orten wohnen, immer mehr zurück. Zuerst wandern die jungen Menschen ab, so dass immer weniger Kinder geboren werden und der Altersdurchschnitt permanent ansteigt, irgendwann wohnen nur noch ältere und alte Menschen dort, die immer weniger werden, und am Schluss bleiben ein oder zwei Personen übrig, die o noch viele Jahre allein in einem Ort leben, bis mit ihrem Tod ein Ort zu einer Wüstung wird. Da alle Dauer- und Temporärsiedlungen der Alpen im Bereich des Waldes liegen, bedeutet die Aufgabe einer Siedlung, dass sie wieder vom Wald zurückerobert wird,
a 183 Eine Hausruine in Narbona, 1495 m, im Grana-Tal (Cottische Alpen). In
diesem großen Ort lebten 1901 140 Menschen, 1951 immer noch 76 Menschen, und im Jahr 1960 wurde der Ort von den letzten Bewohnern verlassen. Da der Ort nur über einen sehr langen, exponierten Saumweg zu erreichen war bzw. ist, ließen die Bewohner bei der Abwanderung ihr Mobiliar und große Teile ihres Hausrates zurück. Dies zog in den beiden folgenden Jahrzehnten viele Plünderer an und machte den Ort in ganz Piemont bekannt (September 2014).
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen
zumal Ruinengebäude ein optimales Biotop für junge Bäume darstellen. Viele Wüstungen sind heute im Wald verschwunden und kaum noch zu finden. Nur wenn einige Gebäude eines unbewohnten Ortes weiterhin landwirtschalich genutzt werden und die Bauern hier regelmäßig Bäume und Büsche beseitigen, dann bleibt solch ein Ruinendorf von weitem sichtbar. Der Bevölkerungsrückgang, der mit dieser Entwicklung verbunden ist, beginnt alpenweit im Jahrzehnt 1880 – 1890. Bereits in den 1920er Jahren werden die ersten besonders peripher gelegenen Orte menschenleer, aber der Höhepunkt des Bevölkerungsrückgangs liegt etwa in der Zeit des europäischen Wirtschaswunders (1955 – 1975), als die außeralpinen Industriegebiete besonders viele Arbeitskräe anziehen, und dieser Rückgang ist bis heute noch nicht abgeschlossen. In der Zeit zwischen 1871 und 2011 geht die Einwohnerzahl von knapp 2200 Alpengemeinden – das sind 41 % aller Alpengemeinden – zurück, und mehr als 1000 Gemeinden verlieren sogar mehr als die Häle ihrer Bewohner. Die beiden Gemeinden mit der negativsten Bevölkerungsentwicklung der gesamten Alpen liegen in den südfranzösischen Alpen, wo die Gemeinden Rochefourchat (Préalpes du Diois) 99,3 % und Majastres (Préalpes de Provence) 99,4 % ihrer Einwohner verlieren.
Die Alpenregionen mit den stärksten Bevölkerungsrückgängen und mit den meisten Wüstungen sind die südfranzösischen Alpen und die piemontesischen Alpen, in denen die Entsiedlung in den vier benachbarten Tälern Varaita, Maira, Grana und Stura di Demonte (Cottische Alpen) sowie in den Ligurischen Alpen am weitesten vorangeschritten ist. Weitere Gebiete mit starken Bevölkerungsrückgängen sind die ostitalienischen Alpen, die westlichen slowenischen Alpen, die östlichen Ostalpen in Österreich, das Tessin, die Innerschweiz, sowie Teile von Graubünden und des Wallis. Insgesamt gibt es in den Alpen viele tausend Orte, die heute nicht mehr bewohnt sind und die in Ruinen liegen. Weil diese zum großen Teil auf der Südseite der
Alpen liegen, stellen sie eine Realität der Alpen dar, die im deutschen Sprachraum wenig bekannt ist. Wer auf dem Weitwanderweg „Grande Traversata delle Alpi/GTA“ durch die piemontesischen Alpen wandert, trifft fast täglich auf solche Orte.
b 184 Im Weiler Le Grange, 1769 m, im Tal der Stura di Demonte
(Seealpen), lebten 1891 60 Menschen und 1940 noch drei Familien. Im Jahr 1944 wurde der Ort von deutschen Truppen bei einer Aktion gegen Partisanen zerstört. Seitdem lebte hier nur noch eine alte Frau, und mit ihrem Tod 1959 wurde der Ort endgültig zur Wüstung. Da eines der Gebäude seit langem im Sommer von Schäfern genutzt wird, verschwindet der Weiler nicht unter Bäumen (August 2012).
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Neben den Siedlungswüstungen gibt es in den peripheren Lagen der Alpen auch viele Dörfer, Weiler und Streusiedlungen, die bis heute nur einen Teil ihrer Einwohner verloren haben. Dies hängt damit zusammen, dass hier einerseits noch einige dezentrale Arbeitsplätze in den Bereichen Landwirtscha, Handwerk oder Tourismus vorhanden sind und dass andererseits der nächste größere Ort gut und schnell erreichbar ist. Die weitere Zukun solcher kleinen Orte in peripheren Lagen hängt von zwei Faktoren ab: Zum einen braucht ein solcher Ort, damit er dauerha lebensfähig sein kann, eine gewisse Mindestausstattung an Infrastrukturen wie Laden, Gastwirtscha, Post, Bank, ärztliche Versorgung, Schule, Internetanschluss u. ä. Diese müssen nicht unbedingt im gleichen Ort, aber doch in direkter Nähe und in schneller Erreichbarkeit vorhanden sein. Viele junge Familien z. B., die von einem dezentralen Arbeitsplatz in peripherer Lage leben, verlassen einen Ort ohne Schule, wenn ihre Kinder ins schulpflichti-
a 185 Im Ort Podio soprano, 1302 m (Valle Stura di Demonte,
Cottische Alpen), gab es 1890 90 und 1951 noch 22 Einwohner. Ab 1982 lebten hier nur noch zwei Brüder, ab 2002 nur noch einer von beiden, und seit 2014 ist der Ort unbewohnt. Früher lag er inmitten großer offener Flächen, inzwischen liegt er inselförmig im Wald (Juli 2014).
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ge Alter kommen, und ähnliches gilt für alte Menschen, wenn sie ab einem bestimmten Zeitpunkt häufig medizinische Betreuung benötigen. Eine „modernes“ Leben ist heute auf eine Reihe von Infrastrukturen und Dienstleistungen angewiesen und ohne diese nicht möglich. Zum anderen sind solche Orte auf eine ganzjährig gut funktionierende Straßenverbindung angewiesen, die für Auspendler, Bauern, Handwerker, Touristen, aber auch für Besorgungen aller Art und bei Notfällen die Verbindung zur Außenwelt darstellen. Wird die Zufahrtsstraße durch Felsstürze, Muren, Erosionen oder Lawinen unpassierbar, ist ein solcher Ort völlig isoliert, weil es in der Regel im Gebirge keine zweite Straße gibt. Da die Alpen als junges Hochgebirge eine hohe naturräumliche Dynamik besitzen, werden Straßen häufig unterbrochen und müssen immer wieder neu repariert werden. Für die Aufrechterhaltung eines Teils der notwendigen Infrastrukturen und Dienstleistungen (Schule, Medizin, Verwaltung) und für Unterhalt und Reparatur der Straßen ist der Staat zuständig. Da die anfallenden Kosten in Bezug auf die geringe Zahl der betroffenen Personen relativ hoch sind, müssen sie in einer Demokratie begründet werden. In der Zeit der sozialen Marktwirtscha (1949 – 1989) war dies kein Thema, weil sich der Staat für alle seine Bürger und auch für seine peripheren Regionen gleichermaßen verantwortlich fühlte. Mit dem Zerfall des Kommunismus verschwindet auch die sozia-
Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Rückzug der Menschen aus den peripheren Lagen
le Marktwirtscha, und der Liberalismus erstarkt wieder, der die überproportional hohen staatlichen Ausgaben für die Peripherie scharf kritisiert. Wenn sich diese Position in Zukun durchsetzen sollte, dann hätten viele kleine und dezentral im Gebirge gelegenen Siedlungen keine Überlebenschance mehr. In den Fällen, in denen eine aufgegebene Siedlung oder eine Siedlung mit Bevölkerungsrückgang in einer landschalich attraktiven Position liegt und mit einer Straße gut erreichbar ist, verfallen viele ungenutzte Häuser nicht, sondern werden von ihren Eigentümern in Ferienhäuser umgewandelt. Diese Eigentümer wohnen entweder weiterhin in den Alpen (in der Regel in einem größeren Ort unten im Tal an der Hauptverkehrsstraße), oder sie sind in eine Stadt außerhalb der Alpen emigriert, die o nicht sehr weit von ihrer Heimatregion entfernt ist. Beide Gruppen kommen öers in solche Orte zurück und verbringen in der Regel hier einen Teil des Sommers, was als Zeichen ihrer emotionalen Verbundenheit mit ihrem Herkunsort zu interpretieren ist: Wenn sie hier schon nicht mehr leben können, weil es keine Ar-
a 186 Dieses Bild zeigt keine Idylle, sondern ein Beispiel für eine Sied-
lungswüstung, die aber auf den ersten Blick nicht so aussieht. Das Dorf Neraissa inferiore, 1433 m (Valle Stura di Demonte, Cottische Alpen), bestand im Jahr 1890 aus 49 Gebäuden und war von 110 Menschen ganzjährig bewohnt. 1936 waren es noch 20, 1955 noch 15 Personen, und 1973 wurde es als Dauersiedlung aufgegeben. Viele ehemalige Bewohner benutzten und benutzen diesen Ort weiter, anfangs für landwirtschaliche Tätigkeiten, aber diese werden im Generationenwechsel immer mehr zu Freizeitaufenthalten umgewandelt. Heute wird noch ein Gebäude landwirtschalich genutzt, 21 Gebäude sind Ferienhäuser (meist von Einheimischen, die wenigen Fremden sind seit langem sozial integriert), und 27 Gebäude sind Ruinen. Die Flur um den Ort herum wurde früher als Ackerfläche genutzt, seit 1965 dominieren hier Wiesen. Ganz vorn sind in den Wiesen Wildschweinschäden zu erkennen, die etwa 15 Jahre brauchen, bis sie wieder verwachsen (September 1984).
beit gibt, dann möchten sie hier wenigstens einen Teil ihrer Freizeit verbringen. Deshalb wirken viele Orte in den Entsiedlungsregionen der Alpen im August sehr viel lebendiger als sie es in Wirklichkeit sind.
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` 187 Ehemalige Nutzflächen
im Tal der Stura di Demonte oberhalb von Pietraporzio in 1400 – 1550 m Höhe (im Hintergrund die Seealpen). Auf den Flächen im Vordergrund ist flächenhae Verbuschung zu sehen, die hier zu Beginn der 1960er Jahre einsetzte. Die Nutzflächen in der Bildmitte sind ehemalige Äcker, die heute als Wiesen genutzt werden; auf diesen Flächen gibt es zahlreiche Wildschweinschäden und am Rand Ansätze für Verbuschung (September 2014).
Verwilderung der Landschaft und Klimawandel Wenn Acker-, Wiesen- oder Weideflächen in den Alpen nicht mehr genutzt werden, dann verwalden sie wieder, weil sie in fast allen Fällen – Ausnahmen sind nur sehr hoch gelegene Almweiden – erst durch Waldrodung entstanden sind und ohne menschlichen Einfluss wieder zu Wald werden. Das Brachfallen wird von ökonomischen Faktoren gesteuert und durch bestimmte Umweltentwicklungen noch zusätzlich beschleunigt: Wenn die Zahl der Men-
schen im Gebirge abnimmt und ihre Nutzungen stark zurückgehen, dann erhalten viele Wildtiere wieder die Möglichkeit, sich auszubreiten. Dies betrifft in besonderem Maße Wildschweine, die die letzten Kulturflächen durchwühlen und zerstören sowie Wölfe und Bären, die sich seit Anfang der 1990er Jahre wieder in den Alpen ausbreiten und die Schafherden auf den Almen bedrohen. Beide Entwicklungen beschleunigen den Rückgang der Landwirtscha. Wenn eine Landwirtschasfläche nicht mehr genutzt wird, dann entwickelt sie sich über drei Phasen zum Wald: In der ersten Phase, der Krautphase, werden die Gräser durch Kräuter zurückgedrängt; in dieser meist kurzen Phase steigt die Artenvielfalt der Vegetation an. In der zweiten Phase, der Strauchphase, die ziemlich lange dauert, setzen sich wenige, dominante Büsche (auf feuchten Flächen o die Grünerle) durch, so dass die Artenvielfalt sehr stark zurückgeht; von weitem sehen solche Flächen leicht wie ein Wald aus. In der dritten Phase entsteht ein
_ 188 Wildschweinschäden in einer Wiese in 1700 m Höhe
in den Cottischen Alpen (Juni 2015).
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen
Pionierwald, der sich dann sehr langsam in den standortgemäßen Wald wandelt, wobei die Artenvielfalt wieder ansteigt, aber nicht mehr die Fülle der ersten Phase erreicht. Die Schnelligkeit dieser Entwicklung hängt von folgenden Faktoren ab: Ausgangsvegetation: Eine dichte, gleichmäßige Wiesenvegetation ist sehr stabil, so dass es sehr lange dauert, bis sich nach der Nutzungseinstellung die ersten Büsche entwickeln können. Auf einer Weide mit zahlreichen kleinen Trittschäden dagegen können Büsche und Bäume schnell anwachsen. Höhenlage: Je tiefer eine Fläche liegt, desto schneller, und je höher eine Fläche liegt, desto langsamer laufen alle biologischen Prozesse ab. Feuchtigkeit: Je feuchter eine Fläche ist (Niederschlag oder Wasser im Boden), desto schneller entwickeln sich Büsche und Bäume, je trockener eine Fläche ist, desto schwerer haben sie es. Die schnellste Waldentwicklung der Alpen finden wir am warmen und feuchten Alpensüdrand in tiefen Lagen,
a 189 Das Val Grande der Lanzo-Täler (Grajische Alpen)
hat seit 1871 gut 80 % seiner Bevölkerung verloren. Während der Wald auf den Hängen früher stark aufgelichtet war, breitet er sich heute flächenha aus, und nur der schmale Talboden ist noch auf einem kleinen Streifen waldfrei (September 2014).
wo bereits nach 50 bis 70 Jahren die Strauchvegetation durch den aufkommenden Pionierwald ersetzt wird. In vielen Alpenregionen dauert die Krautphase 5 bis 10 Jahre und die Strauchphase 80 bis 120 Jahre. In den sommertrockenen Alpenräumen dagegen kann die Krautphase mehr als 20 Jahre betragen, und hier ist es derzeit noch unsicher, ob sich am Ende überhaupt wieder ein Wald bildet, oder ob die Strauchphase nicht als Macchia ähnliche Trockenbuschvegetation das Endstadium bildet, so wie wir das aus mediterranen Gebirgen kennen.
`` 190 Das obere Isartal mit dem Karwendelgebirge.
Wenn nicht der Staudamm des Sylvensteinspeichers, die Brücke der Bundesstraße und einige Rodungsinseln sichtbar wären, könnte man meinen, die Alpen seien hier im Naturzustand erhalten (August 2011).
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a 191 Die sichtbaren Berghänge auf diesem Bild in 1200
bis 1400 m Höhe, ehemalige Wiesen und Weiden im Neraissa-Tal (Cottische Alpen), waren noch bis Mitte der 1960er Jahre fast völlig frei von Büschen und Bäumen. Da zum Zeitpunkt der Aufnahme große Trockenheit herrschte, ist der Unterschied zwischen der bräunlichen Gras- und Krautschicht und den hellgrünen Büschen/Laubbäumen und den dunkelgrünen Nadelbäumen sehr deutlich zu erkennen (September 2017).
Während sich Siedlungswüstungen und Orte mit stark rückläufigen Einwohnerzahlen in erster Linie in Alpenregionen mit einer schlechten Erreichbarkeit zu den großen Metropolen und Alpenstädten finden, sind verwildernde Kulturlandschaen ein Phänomen, das überall im Alpenraum anzutreffen ist, selbst am Alpenrand und in der direkten Nähe von Alpenstädten und Tourismuszentren. Da verlässliche Zahlen der Flächennutzung für frühere Zeiten alpenweit nicht vergleichbar vorliegen, ist man auf Schätzungen angewiesen: Zwischen 1870 und heute düre sich die Waldfläche (einschließlich der verbuschenden Flächen) verdoppelt haben. Die Waldzunahme ist in den traditionell waldarmen Altsiedelräumen der Alpen größer als in den Jungsiedelräumen, allerdings sind die Jungsiedelräume heute stärker bewaldet als die Altsiedelräume.
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Die größten Wälder der Alpen finden sich heute in den östlichen Ostalpen, also im Grenzbereich der Bundesländer Niederösterreich, Oberösterreich und Steiermark; hier gibt es gut 100 räumlich zusammenhängende Gemeinden, in denen die Waldfläche mehr als 80 % der gesamten Gemeindefläche beträgt. Ursache dieser außergewöhnlichen Entwicklung sind großflächige Aufforstungen im 19. Jahrhundert durch Adel und Großbürgertum zum Zwecke der Jagd, bei denen zahlreiche Bauerngüter aufgekau und aufgeforstet wurden („Bauernlegen“). Heute sind diese großflächigen Waldgebiete touristisch uninteressant. In der Schweiz werden die Flächenveränderungen besonders genau erfasst: Zwischen 1985 und 2009 gehen in den Schweizer Alpen die Landwirtschasflächen um 5,9 % zurück und die Waldflächen steigen um 5,1 % an. Dabei übersteigen die Werte der Alpensüdflanke (Tessin und Südbünden) die Durchschnittswerte stark: Hier geht die Landwirtschasfläche zwischen 1985 und 2009 sogar um 15,6 % zurück, und die Waldfläche steigt um 7,8 % an. Da die Schweizer Alpen repräsentativ für die gesamten Alpen sind, düre diesen Werten eine alpenweite Bedeutung zukommen. Mit der Verwilderung vieler ehemaliger Kulturlandschaen wird aus den ehemals offenen Alpen ein immer stärker bewaldetes und dunkles Hochgebirge. Dabei verschwinden die kleinräumigen Landschasstrukturen mit ihrer alpenspezifischen Gestaltung,
Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Verwilderung der Landschaft und Klimawandel
a 192 Diese Almflächen in 1700
bis 2100 m Höhe im FormazzaTal oberhalb von Riale (Lepontinische Alpen) wurden früher flächenha als Almweiden genutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog sich die Almnutzung auf kleine Restflächen zurück, und seitdem verbuschen die meisten Flächen mit Zwergsträuchern (Alpenrosen, Heidelbeeren, Zwergwacholder). Hinten links die Corni di Nefelgiù, rechts die 3000 m hohe Ban-Gruppe (September 2017).
` 193 Die Gemeinde Canosio,
1275 m, im Maira-Tal (Cottische Alpen) hat seit 1871 89 % ihrer Einwohner verloren. Ihre südexponierten Hänge (Bildmitte und Bildmitte rechts), die bis in eine Höhe von 1650 m gerodet und früher vollständig waldfrei waren, sind heute zu großen Teilen verbuscht und verwaldet (September 2016).
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a 194 und ` 195 Die Vergleichsbilder des Gepatschferners im
Kaunertal/Tirol (Ötztaler Alpen) aus den Jahren 1904 (links) und 2017 (rechts) zeigen eindrücklich, wie stark der Gletscher seitdem zurückgeschmolzen ist. Deutlich erkennbar ist auf dem Foto von 1904 die Moräne des Gletscherhöchststandes von 1860, und selbst heute noch ist dieser ehemalige Gletscherrand deutlich in der Landscha zu erkennen (weitere aufschlußreiche GletscherVergleichsfotos: www.gletscherarchiv.de).
Die Gletscher der Alpen zeigen sehr anschaulich und besonders deutlich, dass das Klima in Europa in den letzten zweitausend Jahren permanent zwischen etwas wärmeren und etwas kühleren Phasen pendelte: Zur Zeit des Römischen Reiches war es relativ warm und die
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Gletscher waren noch etwas weiter als heute zurückgeschmolzen, in der Völkerwanderungszeit und im frühen Mittelalter wurde es relativ kühl und die Gletscher stießen wieder weit vor, dann gab es zwischen 900 und 1300 n. Chr. erneut eine relativ warme Phase, und anschließend setzte die so genannte „Kleine Eiszeit“ ein, an deren Ende um 1860 die Gletscher so weit vorstießen wie noch nie in den letzten zweitausend Jahren. Seitdem wird es wieder deutlich wärmer, und die Gletscher schmelzen wieder sehr stark zurück. Diese natürlichen Pendelbewegungen des Klimas werden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die anthropogene Klimaerwärmung überlagert, die durch die Lu- und Umweltverschmutzungen des Industriezeitalters verursacht wird. In den Alpen ist die Klimaerwärmung seit 1860 deutlich stärker als im globalen Durch-
Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Verwilderung der Landschaft und Klimawandel
schnitt ausgeprägt, aber es ist schwer, den natürlichen und den anthropogenen Anteil dabei voneinander abzugrenzen. Die Gletscher haben sich seit 1860 sehr stark zurückgezogen; allerdings liegt ihr Rückzug vorläufig noch innerhalb der natürlichen Schwankungsbreite der vergangenen zweitausend Jahre. Anders sieht es dagegen mit der Geschwindigkeit des Rückzugs aus: Dieser läu sehr viel schneller ab, als wir es aus den Zeiten vor 1860 kennen, und die Zeit ab dem Jahr 2000 ist durch ausgeprägte Hitzesommer und durch ein besonders schnelles Abschmelzen der Gletscher geprägt. Dies stellt einen eindeutigen Hinweis auf eine anthropogene Klimaerwärmung dar. Jeder Laie kann in den Alpen die permanenten Klimaveränderungen am Beispiel der Gletscher wahrneh-
men und beobachten: Wenn Gletscher vorstoßen, dann bilden sie an ihren Seiten und an ihrem Ende große Seiten- und Endmoränen aus, die in der Landscha stehenbleiben, wenn sich der Gletscher wieder zurückzieht. Heute sind die Moränen aus der Zeit um 1860 herum überall in den Alpen sehr deutlich zu sehen, weil sie noch nicht erodiert sind und weil sie auf den Innenseiten (also dort, wo früher das Eis war) immer noch keine richtige Vegetationsdecke ausgebildet haben. Dank dieser Moränen kann sich jeder Alpenbesucher sehr einfach die Klimasituation von 1860 vorstellen, und er kann sich sehr anschaulich und sehr konkret vor Augen führen, wie sich die Alpen seitdem verändert haben. Es gibt weltweit kaum ein anderes Naturphänomen, was auf Klimaveränderungen so anschaulich und so gut sichtbar reagiert wie Gletscher.
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_ 196 Der Stausee Bacino del Chiotas, 1978 m, in den zen-
tralen Seealpen am 7. September 2017. Üblicherweise ist er zu diesem Zeitpunkt gut gefüllt, aber da es hier zuvor 10 Wochen lang nicht geregnet hatte, war er außergewöhnlich leer, was die Stromproduktion im Winter 2017/18 stark beeinträchtigte. _ 197 Am Rande des Unteren Grindelwaldgletschers
(Berner Alpen) haben sich seit dem Jahr 2005 in 1400 m Höhe zwei Seen gebildet, die für den Ort Grindelwald eine große Gefahr darstellen. Mit großem Aufwand wurde im Jahr 2009 ein Stollen gebaut, der einen kontinuierlichen Wasserablauf gewährleistet und der damit verhindern soll, dass ein See überläu und eine gewaltige Flutwelle verursacht (27. August 2013).
` 198 In der Bildmitte links genau oberhalb der Gebäude
der Gias dei Signori, 1950 m, erkennt man eine große Hohlform im Fels (Val Grande der Lanzo-Täler, Grajische Alpen). Hier befand sich in der „Kleinen Eiszeit“ ein Gletscher, von dem heute nur noch ein sehr kleines Schneefeld übrig geblieben ist. Im unteren Teil, der schon länger eisfrei ist, hat bereits die Verbuschung eingesetzt, während der obere Teil noch vegetationsfrei ist (September 2014). ` 199 Blick von der Ortscha Gletsch, 1759 m, im Oberwal-
lis auf die Felsstufe, über die in der „Kleinen Eiszeit“ der Rhônegletscher hinabgeflossen ist und die heute vollständig eisfrei geworden ist. Um das Jahr 1860 herum reichte der Rhônegletscher bis fast zum Standpunkt, von dem aus dieses Foto gemacht wurde (August 2017).
Mit der Klimaerwärmung verändern sich auch die Niederschläge: Sie werden im Sommerhalbjahr tendenziell geringer, und sie fallen vermehrt innerhalb kurzer Zeiträume als Starkregen, die katastrophale Folgen auslösen können. Auf Grund des Rückgangs der sommerlichen Niederschläge speichern die Alpen in den Gletschern weniger Wasser als früher; dies macht der Wasserkranutzung heute schon Schwierigkeiten, und diese werden sich in Zukun noch verstärken. Und die Tendenz zu katastrophalen Starkregen erhöht die Bedrohung der Alpen durch Muren und Hochwasser. Durch den starken Rückzug der Gletscher entstehen im Gletschervorfeld, also an den ehemals eisbedeckten Standorten, eine Reihe von neuen Seen. Diese stellen ein
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erhebliches Gefahrenpotenzial dar, weil sie leicht ausbrechen können – das Moränenmaterial, was sie begrenzt, ist leicht erodierbar – oder weil Eismassen vom Gletscher in sie hineinstürzen können, was in beiden Fällen eine Flutwelle auslösen würde. Davon werden zahlreiche Orte bedroht, die unterhalb von ihnen liegen. Derzeit ist die Zahl der neuen Seen in den Gletschervorfeldern noch überschaubar, aber mit dem weiteren Rückzug der Gletscher düre ihre Zahl sprungha ansteigen. Allein in der Schweiz rechnen Experten im Verlauf der nächsten Jahrzehnte mit 500 bis 600 neuen Seen, und alpenweit düre diese Zahl mindestens 1500 betragen. Dadurch steigt das Gefahrenpotenzial durch Muren und Hochwasser erheblich an.
Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Verwilderung der Landschaft und Klimawandel
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Sprunghae Naturereignisse wie Bergstürze, Muren, Hochwasser oder Lawinen sind typisch für ein junges Hochgebirge wie die Alpen (siehe Kapitel 2). Seit 1987 jedoch werden solche Ereignisse wieder häufiger. Dafür gibt es zwei sehr unterschiedliche Ursachen. Die erste Ursache ist die Klimaerwärmung: Durch die höheren Temperaturen steigt die Null-Grad-Grenze im Gebirge an, und der Permafrost in großen Höhen beginnt aufzutauen. Permafrost ist gefrorenes Wasser im Boden und in Felsritzen, was in Zeiten eines kühleren Klimas permanent, also ganzjährig gefroren ist. Als fein verteiltes Eis hält es lockeren Boden und gelockerte Felsstücke zusammen und stabilisiert sie. Wenn dieses Eis auf Grund der Klimaerwärmung auaut, kann ein lockerer Boden leicht erodiert werden, und aus einer Felswand brechen zahlreiche Felsstücke heraus und bilden große Schutthalden am Fuß einer Felswand. Zugleich ist mit der Klimaerwärmung die Tendenz zu vermehrten Starkniederschlägen verbunden. Die sehr
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heigen Niederschläge finden durch das Auauen des Permafrostes sehr viel lockeres Material im oberen Höhenstockwerk der Alpen vor, das sie in Form von Muren talwärts verfrachten, die dann dort sehr große Zerstörungen verursachen. Die zweite Ursache sind die menschlichen Veränderungen der Alpen seit 1860. Weil die traditionellen Bauerngesellschaen die Alpen sehr kleinräumig nutzten, blieben zahllose Feuchtbiotope und Moore erhalten, die bei Hochwasser zu unzähligen dezentralen Wasserspeichern wurden und die dadurch Hochwasserspitzen deutlich dämpfen konnten. Solche Flächen sind heute durch die agrarischen Intensivierungen fast vollständig verschwunden, und die Vegetation der intensiv genutzten Hänge (Wiesen und Skipisten) ist auf Grund der geringen Artenzahl und des gleichmäßigen Wurzelhorizontes gegenüber der Erosion durch fließendes Wasser nicht sehr widerstandsfähig. Die modernen Intensivnutzungen in Landwirtscha und Tourismus mit ihren großflächigen
Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Verwilderung der Landschaft und Klimawandel
Geländeplanierungen und den zahlreichen Bodenversiegelungen fördern darüber hinaus den sofortigen oberirdischen Wasserabfluss, so dass aus einem starken Niederschlag ein extrem starker Abfluss werden kann. Da die moderne Gesellscha den Eindruck hat, sie hätte die Natur dank Naturwissenscha und Technik total im Griff, fehlt heute der Respekt vor und das Wissen um die Gefährlichkeit der Natur. Deshalb weicht man heute bei Wohn-, Gewerbe- oder Straßenbauten den Gefahren nicht mehr wie früher aus, sondern baut in ehemalige Gefahrenbereiche, nachdem sie zuvor technisch „gesichert“ wurden. Oder man erlebt Naturkatastrophen nur noch als Event und geht „Hochwasser schauen“, wodurch die Auswirkungen von Naturereignissen zusätzlich vergrößert werden. Die Auswirkungen der Klimaerwärmung und der menschlichen Veränderungen der Alpen im Gefolge der Modernisierung verstärken sich also wechselseitig und erhöhen damit die Wahrscheinlichkeit, dass sprunghae Naturereignisse häufiger werden und für den Menschen katastrophale Ausmaße annehmen.
_ 200 In der zweiten Septemberhäle 1993 gab es in großen Teilen der zent-
ralen Westalpen (Piemont, Wallis, Tessin, Lombardei) in kurzer Zeit extrem heige Niederschläge, die zahlreiche Muren und Hochwasser auslösten. Hier die Mure, die das Dorf Forno Alpi Graie, 1218 m (südliche Grajische Alpen) am 24. September 1993 verwüstete. Nachdem das Wasser abgelaufen war bedeckten die Ablagerungen aus Steinen, Geröll, Sand und Erde den Ort in einer Höhe von einem bis 1,5 Metern (25. September 1993). a 201 Am 23. August 2017 gab es am Piz Cengalo, 3369 m (Bergeller bzw. En-
gadiner Alpen), einen großen Bergsturz. Da die Steine mit großer Wucht auf den Cengal-Gletscher stürzten, schmolz das Eis plötzlich, und es entstand eine große Mure, die durch das Bondasca-Tal floss und die erst im Haupttal bei Bondo, 823 m, zum Stehen kam, wobei die wichtige Talstraße vollständig blockiert wurde. Da es hier bereits in den Jahren 2010 und 2011 Muren gegeben hatte, hatte man am Zusammenfluss der Bondasca mit dem Fluss Mera ein großes Rückhaltebecken für Murablagerungen angelegt. Dieses wurde am 23. August vollständig gefüllt. Als dann am 25. August eine weitere Mure abging, ergoss sich diese zweite Mure über die Randgebiete des Ortes Bondo mit den dortigen Neubauten und richtete zusätzlich große Zerstörungen an. Auffällig ist, dass der historische Ortskern von Bondo von diesen Muren nicht betroffen wurde, sondern nur die Neubauten am Ortsrand (1. September 2017).
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Verstädterung und Zersiedlung der Tallagen Die wichtigste Veränderung, die der Prozess der Modernisierung den Alpen gebracht hat, ist nicht der Tourismus, sondern die starke Verstädterung und Zersiedlung, die heute die Tallagen aller großen und größeren Alpentäler prägen. Diese Veränderungen sind so groß, dass die Alpen in Bezug auf Bevölkerung und Arbeitsplätze zum verstädterten Raum geworden sind (siehe Kapitel 4). Der damit verbundene Wandel ist für jeden Alpenbesucher und für jeden Alpenbewohner unübersehbar: Jeder, der von außen in die Alpen hineinkommt, und jeder, der sich vom Wohnort zum Arbeitsort innerhalb der Alpen bewegt, fährt kilometerlang durch Räume, die erst seit den 1960er Jahren bebaut wurden und die sich mit ihrer Zersiedlung und Gesichtslosigkeit in Nichts von den Randbereichen der großen europäischen Metropolen unterscheiden. Erstaunlich ist, dass dieser wichtige Teil der Realität der Alpen üblicherweise ausgeblendet wird, wenn man von „den Alpen“ spricht, und dass alle Bildbände diesen Teil der Alpen aussparen – die Realität
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen
der Alpen und das „Alpenbild im Kopf“ fallen hier besonders weit auseinander. Ursache für diese Entwicklung ist einerseits das starke Bevölkerungswachstum fast aller Alpengemeinden mit guter Erreichbarkei – 1652 Gemeinden (27 % aller Alpengemeinden) verzeichnen zwischen 1871 und 2011 ein Wachstum von mehr als 100 % –, andererseits das starke Wachstum aller Raumansprüche: Der durchschnittliche Wohnraum pro Kopf hat sich seit 1960 verdoppelt, die neuen Supermärkte benötigen fünfmal mehr Platz als früher, und ähnlich sieht es bei den Gewerbebauten, bei den Freizeitanlagen und bei den Verkehrsinfrastrukturen aus. Das bedeutet, dass das Siedlungswachstum mit einem enormen Flächenbedarf verbunden ist und noch sehr viel stärker als das Bevölkerungswachstum ausfällt. Dieses Siedlungswachstum ist am stärksten im Umfeld der großen und der mittelgroßen Alpenstädte, am Alpenrand in der Nähe der außeralpinen Metropolen sowie in den Tourismuszentren ausgeprägt; es setzt sich
entlang der großen Transitachsen fort, wo jede Autobahnausfahrt zum Siedlungsknoten wird und wo lange Siedlungsbänder zwischen den Alpenstädten entstehen, und es ist auch bereits abseits der Transitachsen in größeren Alpentälern mit guter Erreichbarkeit zu finden. Von dieser Entwicklung werden zwar viele Gemeinden erfasst (in den tiefen Tallagen gibt es viel mehr Gemeinden als im eigentlichen Gebirgsraum), aber die davon betroffenen Flächen sind doch eher klein und beschränken sich auf die flachen Talböden. Dass dieses starke Siedlungswachstum aber überall zu einer chaotischen und flächenhaen Zersiedlung führt, liegt daran, dass es in keinem Staat mit Alpenanteil eine verbindliche Raumplanung gibt, die diese Entwicklung in geordnete Bahnen lenken würde. In der Regel sind die Gemeinden dafür zuständig, und diese handeln o egoistisch und kurzfristig. Diese chaotische Zersiedlung steigert noch zusätzlich den Flächenverbrauch, weil dadurch weit verstreute und wenig kompakte Strukturen entstehen, die besonders lange Straßen und große Parkplätze benötigen.
a 202 und 203 schließen unmittelbar aneinander an und zeigen die flächenhaf-
te und chaotische Zersiedlung im Umfeld der Stadt Lugano (Tessin). Ganz rechts ein Teil des Stadtkerns von Lugano mit dem gut sichtbaren Bahnhof (Gotthard-Linie). Auf dem rechten Bild links am Bildrand die Gotthard-Autobahn, darüber der Lago di Muzzano, 337 m (von einer eiszeitlichen Moräne verursacht), und etwas links darüber der Flughafen Lugano-Agno. Auf dem linken Bild in der Bildmitte der nordwestliche Arm des Lago di Lugano, 271 m, links darüber ein kleiner Ausschnitt des Lago Maggiore. Ganz links am Bildrand der Ort Ponte Tresa mit der schweizerisch-italienischen Grenze. Im Hintergrund von links nach rechts die verschneiten Walliser Alpen mit der Monte Rosa-Gruppe (leicht in Wolken), die Berge des Nationalparks Val Grande (die Felsgrate ohne Schnee) und die Lepontinischen Alpen (verschneit). Dann auf der rechten Häle des linken Bildes und auf der linken Häle des rechten Bildes die Region Malcantone, eine traditionelle Abwanderungsregion, mit Gipfelhöhen zwischen 1620 m (Monte Lema, links), und 1961 m (Monte Tamaro, rechts). Rechts am Bildrand über dem Vedeggio-Tal (Transitachse zum Gotthard) die verschneiten Adula-Alpen. Gut erkennbar ist die flächendeckende Zersiedlung aller gut erreichbaren und flacheren Standorte rund um Lugano herum. Dort, wo das Relief steiler wird, werden die Siedlungen seltener oder hören ganz auf, und der eigentliche Gebirgsraum ist seit langem verbuscht und verwaldet (Oktober 1993).
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a 204 Die Gemeinde Mittenwald, 923 m, wächst von 1685 Einwohnern im Jahr
1871 auf 7410 Einwohner im Jahr 2016, und ihre Siedlungen füllen inzwischen fast das gesamte Isar-Tal aus. Vorn links Abhänge des Karwendel, hinten die Dreitorspitze, 2682 m, im Wettersteingebirge (August 2012).
Die zersiedelten Gebiete mit ihren Wohn-, Gewerbeund Freizeitgebieten, Einkaufszentren, Parkplätzen und Bahn-/Straßenflächen sind durchsetzt mit Landwirtschas-, Wald-, Sport- und kleinen Naturschutzflächen, die inselförmig zwischen ihnen liegen. Solche Strukturen werden „Zwischenstadt“ genannt, weil sie weder Land noch Stadt sind und weil sie keine gemeinsame Identität besitzen. Die einzelnen Standorte in dieser Zwischenstadt sind funktional jeweils eng mit anderen, weit entfernten Standorten außerhalb der Alpen vernetzt, haben aber weder etwas mit ihren benachbarten Standorten noch mit den Alpen zu tun. Dadurch sind diese Räume durch kalte Funktionalitäten und anonyme Beziehungen geprägt. Dies zeigt sich in der Architektur sehr deutlich: Sowohl bei den Wohn- wie auch bei den Gewerbegebäuden
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handelt es sich in der Regel um schnell und möglichst kostengünstig errichtete Zweckbauten. Sie sehen hier so aus wie überall in Europa, sind also völlig austauschbar, und sie besitzen keinerlei Beziehungen zu ihrer Umgebung, weder zu den anderen Gebäuden in ihrer unmittelbaren Nachbarscha, noch zu den Alpen. Die Mobilität ist in diesen Räumen dadurch geprägt, dass alles auf Pkw und Lkw ausgerichtet ist, weil es kaum einen öffentlichen Nahverkehr gibt und weil die Entfernungen zu groß sind, um zu Fuß zu gehen. Da der Platz auf den ebenen Talböden begrenzt ist – eine Bebauung der benachbarten Hänge wäre sehr viel teurer – herrscht hier o eine gewisse Flächennutzungskonkurrenz, so dass die Grundstückspreise nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr günstig sind. Das Leben hier besitzt eine geringe Umweltqualität: Der sehr starke Verkehr verschmutzt die Lu stark, was besonders an Tagen mit Temperaturinversion (warme Lu liegt über kalter Lu) große Probleme macht, der Lärm stellt trotz langer Schallschutzmauern eine permanente Belastung dar, die ökologische Qualität der Freiflächen ist sehr niedrig, weil sie von anderen Freiflächen
Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Verstädterung und Zersiedlung der Tallagen
isoliert sind, und der Boden ist sehr stark versiegelt. Und da es kaum ein soziales und kulturelles Leben gibt, hält man sich hier nicht länger als unbedingt nötig auf. Solche Strukturen finden sich heute in größeren Teilen Europas, aber sie sind auch längst Bestandteil der Alpen geworden und prägen gerade die dynamischen und stark wachsenden Alpenregionen mit guter Erreichbarkeit. Als demographisch und wirtschalich wichtige Teile der Alpen dürfen sie nicht ausgeblendet werden, wenn es um „die Alpen“ geht.
b 205 Die Gemeinde Garmisch-Partenkirchen, 708 m, am
Fuß der Zugspitze (Wettersteingebirge) verzeichnet seit dem Eisenbahnanschluss im Jahr 1889 ein starkes Tourismuswachstum. Ihre Bevölkerung wächst von 3038 Einwohnern im Jahr 1871 auf 27 149 Einwohner im Jahr 2016. Dieses sehr starke Wachstum führt zu einer so starken Zersiedlung im Loisach-Tal, dass die dringend benötigten Umgehungsstraßen nur noch in Form langer Tunnel gebaut werden können; deshalb wird ihre Fertigstellung noch längere Zeit brauchen (August 2012).
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_ 206 Die Tourismusgemeinde
Leukerbad im Wallis hatte seit 1981 ihre Infrastrukturen massiv ausgebaut (Sportarena, Alpentherme, Burgerbad, Rathaus, Parkhaus) und dabei so extrem hohe Schulden angehäu, dass sie 1998 als erste Schweizer Gemeinde unter kantonale Zwangsverwaltung gestellt und der Gemeindepräsident wegen Betrugs und Untreue im Amt verurteilt wurde. Die damit verbundene touristische Verstädterung ist typisch für viele Tourismusgemeinden und macht aus dem Ort eine gesichtslose Ansammlung von Gebäuden (August 2009).
Freizeitparks im Hochgebirge Die zweitwichtigste Veränderung, die die Alpen im Verlauf der Modernisierung durchgemacht haben, ist die Ausbreitung des Massentourismus im eigentlichen Gebirgsraum. In der Öffentlichkeit wird dies o als die wichtigste Veränderung angesehen, aber dies ist nicht richtig: Bei dieser Sichtweise werden erstens die tiefen Tallagen mit ihrer starken Verstädterung aus den Alpen ausgeblendet, was jedoch falsch ist, und zweitens werden die Alpen aus der Münchner oder Zürcher Perspektive wahrgenommen, von wo aus man in kurzer Zeit sehr viele Tourismusorte, aber kaum Entsiedlungsregionen erreicht, so dass es sich um eine sehr spezielle Alpenperspektive handelt. Wenn wir jetzt die aktuelle Situation der Alpen zusammenfassend darstellen, dann müssen wir feststellen, dass die Alpen zwar eine der am stärksten für den Tourismus erschlossenen Regionen der Welt sind, dass der Tourismus hier aber trotzdem kein flächenhaes Phänomen ist, sondern sich sehr stark auf nur etwa 300 Tourismusgemeinden, also 5 % aller Alpengemeinden konzentriert und dass er nur für etwa 15 – 18 % aller Arbeitsplätze der Alpen verantwortlich ist (siehe Kapitel 4). Da sich jedoch der eigentliche Gebirgsraum grundsätzlich den Nutzungen der Moderne sperrt, erregt der Tou-
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen
rismus als die einzige Kra, die – neben der Wasserwirtscha – die Hochgebirgslandscha nach den Prinzipien der Moderne nutzt und umbaut, stets eine besondere Aufmerksamkeit. Betrachtet man die großen und erfolgreichen Tourismusorte, dann sind sie heute – wie es der Logik der Moderne entspricht – alle zu Städten geworden, die in der Hochsaison um die 25 000 bis 50 000 Bewohner (Einheimische und Gäste) zählen und die über entsprechende Infrastrukturen verfügen. Damit verbunden sind städtische Baustrukturen und eine starke Zersiedlung, die von den ehemaligen Bauerndörfern kaum noch etwas ahnen lassen. Es ist sehr erstaunlich, dass der Tourismus in der Werbung immer noch die ländliche Idylle ins Zentrum stellt und seine städtischen Strukturen „versteckt“. Genauso erstaunlich ist es aber, dass die Gäste diesen Gegensatz offenbar nicht wahrnehmen – solche Widersprüche sind typisch für den gegenwärtigen Massentourismus.
207 Die Tourismusgemeinde Zermatt, 1608 m, im Wallis `
ist so stark gewachsen (1870 = 482, 2016 = 5714 Einwohner bei 20 000 Gästebetten), dass die Siedlungen den gesamten Talboden vollständig ausfüllen (August 2003).
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a 208 Für die Anlage von Skipisten, kilometerlangen Leitungen, Speicherseen,
Lianlagen, Versorgungsstraßen und Sicherungsbauten (im Vordergrund Lawinengitter) müssen die Alpen flächenha umgebaut werden so wie hier das Gebiet der Idalp, 2311 m, oberhalb von Ischgl/Tirol (August 2009).
Die Skipisten für den Abfahrtsskilauf stellen große flächenhae Eingriffe in die Alpen dar. Während man in einer langen Anfangszeit einfach das vorhandene Relief einschließlich der Forst- und Almstraßen nutzte, um bergab zu fahren, sind die Skipisten heute sehr breit, besitzen einen planierten Untergrund und werden in der Regel künstlich eingesät. Um ein optimales System von Skipisten anlegen zu können, muss das Relief eines gesamten Hanges aufwendig mit Planierraupen verändert werden, der gesamte Wasserabfluss muss mittels Entwässerungsgräben neu gestaltet werden, damit die Pisten nicht durch Erosio-
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Freizeitparks im Hochgebirge
nen zerstört werden, und alle Pisten – selbst die im Gipfel- und Gratbereich – müssen künstlich beschneit werden, wozu große Speicherseen gebaut werden müssen. Felsige Engstellen werden durch Sprengungen erweitert, ebenso wie exponierte Steilstellen im Pistenverlauf abgeflacht werden. Zusätzlich werden viele Pisten mit Musik beschallt und abends beleuchtet, was zusammen mit den Anlagen der künstlichen Beschneiung ein System von kilometerlangen Leitungen erfordert, die frostsicher im Boden verlegt werden müssen. Das bedeutet, dass ein solches Skigebiet einen sehr großen technischen Eingriff in die Natur- und Kulturlandscha der Alpen bedeutet, der das betroffene Gebiet ökologisch vollständig verändert. Im Winter bei einer hohen Schneedecke wirkt das Ergebnis vielleicht „natürlich“, aber im Sommer sind die Veränderungen unübersehbar, und wenn man einmal zufälligerweise die Bau-
a 209 Gletscher, die für den Gletscherskilauf erschlossen
werden, werden heute o künstlich beschneit, und die Pisten werden im Sommer abgedeckt, um die Schneeschmelze zu verzögern so wie hier am Stubaier Gletscher in den Stubaier Alpen (August 2010).
arbeiten für ein solches Skigebiet sieht, dann erhält man einen Eindruck, wie tief greifend die Eingriffe sind, um die Alpen optimal für den Abfahrtsskilauf umzubauen. Heute gibt es gut 600 Skigebiete mit mehr als 5 km Pistenlänge in den Alpen, darunter sind 25 sehr große Skigebiete, die mehr als 180 km Pistenlänge aufweisen. Auf Grund des Klimawandels werden viele kleine Skigebiete in tieferen Lagen trotz künstlicher Beschneiung in absehbarer Zukun verschwinden, während große und sehr große Skigebiete miteinander zu Superskigebieten verbunden werden.
Die Flächen aller Skigebiete der Alpen wurden von Alfred Ringler sehr detailliert berechnet, und sie machen derzeit 2,9 % der Alpenfläche aus. Bezieht man die Skigebiete dagegen auf die Alpengemeinden, dann haben 13 % aller Alpengemeinden auf ihrer Gemeindefläche mindestens ein Skigebiet mit mehr als 5 km Pistenlänge. Die Skigebiete sind also einerseits Flächen mit sehr großen ökologischen Veränderungen, aber andererseits sind diese flächenha begrenzt und keineswegs überall in den Alpen zu finden.
`` 210 Der Tuxer Ferner in Tirol ist einer der für den Gletscherskilauf erschlos-
senen Alpengletscher. Links unten das Tuxer Ferner-Haus, 2600 m, darüber die mit einer Seilbahn erschlossene Gefrorene Wand, 3288 m, und rechts hinten der Olperer, 3476 m. Gut erkennbar der Gletscherrückzug, die Versorgungsstraßen, die Lie und die teilweise abgedeckten Skipisten (August 2012).
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a 211 Seit 15 Jahren werden Bergbahnstationen im Hochgebirge architekto-
nisch auffällig gestaltet, um die Präsenz des Menschen in dieser eigentlich menschenfeindlichen Region zu symbolisieren. Hier die Bergstation der 2012 eröffneten Wildspitzbahn am Hinteren Brunnenkogel, 3440 m, im Pitztaler Gletscherskigebiet (Ötztaler Alpen); links davon die neue Aussichtsplattform (Juli 2016).
In der vorindustriellen Zeit waren die weitläufigen Felsund Gletschergebiete der Alpen uninteressant und menschenleer, und nur einige Steinbock- und Gemsjäger besuchten sie kurzfristig. Dies ändert sich erst mit der touristischen Erschließung der Alpen: Die Alpenvereine errichten seit 1880 in den Fels- und Eisregionen der Alpen zahlreiche Wege, Klettersteige und Hütten, damit Alpinisten diese eigentlich lebensfeindlichen Alpenregionen besuchen können.
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Freizeitparks im Hochgebirge
Heute gibt es etwa 2000 hochgelegene Hütten, von denen zehn sogar oberhalb von 3500 m liegen; die beiden höchsten sind der Refuge de Gouter, 3835 m, am Montblanc und die Capanna Regina Margherita, 4554 m, am Monte Rosa. Ab 1880 werden Bahnen zu hoch gelegenen Aussichtspunkten gebaut. Im Jahr 1912 wird das Jungfraujoch, 3454 m, mit einer Zahnradbahn erschlossen, und nur der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert den Bau bereits geplanter Bahnen auf die Jungfrau und das Matterhorn. Erst im Jahr 1955 wird mit der Seilbahn auf die Aiguille du Midi, 3842 m (Montblanc), dieser Höhenrekord gebrochen, und im Jahr 1979 erschließt eine Seilbahn das Klein Matterhorn, 3883 m (Monte-Rosa-Gruppe), den höchsten Aussichtspunkt der Alpen, der bis heute mit einer Bahn erreichbar ist. Derzeit gibt es gut 130 Aussichtsbahnen, die Punkte oberhalb von 2500 m, der traditionel-
len Obergrenze der Almwirtscha, erschließen. Mit ihnen werden sehr viele Menschen in den Gipfelbereich der Alpen transportiert, die allerdings – im Unterschied zu den Alpinisten – dort meist nur für kürzere Zeit verweilen. Beim Wintertourismus verbleiben die höchsten Skipisten lange Zeit im Almbereich, und erst ab den 1960er Jahren werden Gletscher zum Skifahren erschlossen. Heute gibt es 91 Skigebiete, deren höchster Punkt jeweils zwischen 2500 und 2999 m, und 38 Skigebiete, deren höchster Punkt jeweils über 3000 m liegt; das höchste Skigebiet der Alpen findet sich am Klein Matterhorn (Monte-Rosa-Gruppe), wo der Skili kurz unter der Gobba di Rollin, 3899 m, endet. Von den knapp 5000 Gletschern der Alpen sind heute 46 für den Gletscherskilauf erschlossen, aber auf knapp 10 weiteren Gletschern wurde der Skilauf bereits wieder eigestellt. Während viele Jahrzehnte lang die technischen Anlagen im Gipfelbereich so angelegt wurden, dass sie möglichst wenig sichtbar waren, ändert sich das etwa ab dem
Jahr 2005 bei Bergbahngebäuden und Alpenvereinshütten: Jetzt planen häufig bekannte Stararchitekten besonders auffällige Gebäude in futuristischem Design und machen sie zu markanten baulichen Wahrzeichen oder Landmarken im Hochgebirge. Damit symbolisieren diese neuen Bauwerke den Anspruch, dass der Mensch die Alpen technisch total beherrsche und dass hier alles machbar sei, was Gewinn bringe.
`` 213 Der Kronplatz, 2275 m, südlich von Bruneck am Nordrand der Dolo-
miten, ist einer jener Alpenberge, die vollständig für Freizeitzwecke umgebaut wurden: 21 Kabinenbahnen, 5 Sessellie und 6 Schlepplie erschließen das Gipfelplateau von drei Seiten aus, die über 100 km Skipisten werden komplett künstlich beschneit, es gibt Downhill-Trails, Gleitschirmfliegen, eine Flying-Fox-Anlage, ein Reinhold-Messner-Museum, einen Aussichtsturm mit Friedensglocke, und der Gipfel war 2008 und 2010 Etappenende des Giro d’Italia. Im Hintergrund die Zillertaler Alpen (November 2016).
` 212 Für den Neubau der
Bergbahnstation des „Glacier 3000“ in fast 3000 m Höhe, der den Tsanfleuron-Gletscher zum Skifahren erschließt (westliche Berner Alpen), wurde ein sehr berühmter Architekt verpflichtet, um das Gebäude als unverwechselbares Wahrzeichen des Menschen im Hochgebirge zu gestalten. Rechts das Oldenhorn, 3123 m; hinter seinem Grat sind in der Bildmitte Eiger, Mönch und Jungfrau zu erkennen (September 2006).
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Freizeitparks im Hochgebirge
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a 214 und _ 215 Der Gipfelbereich des
Stubnerkogels, 2246 m, oberhalb von Bad Gastein wurde zu einem „Erlebnisberg“ umgestaltet: Es gibt die Aussichtsplattform „Glocknerblick“ (oben), eine 140 m lange Hängebrücke (unten) mit Foto-Point (der rote Kreis rechts am Geländer), einen „Felsenweg“, ein „Funcenter“ für Kinder und WLAN-Verbindung. Deshalb befinden sich die Besucher auf diesem Gipfel in einer städtisch geprägten (Konsum-)Welt und müssen sich gar nicht auf die Bergwelt einlassen (Dezember 2016).
Zeitgleich mit der Neugestaltung der Gebäude im Höhen- und Gipfelbereich setzt eine weitere Entwicklung ein, die in die gleiche Richtung geht: Überall neben den Bergstationen der Seilbahnen werden spektakuläre Hängebrücken, Aussichtsplattformen, Klettersteige oder Felsenwege neben riesigen Hüpfburgen, Hochseilgärten, Bikeparks, Streichelzoos, Funcenter und anderen Attraktionen gebaut, und abwärts kann man mit dem „Flying Fox“ durch die Lu schweben oder einen Monsterroller, einen „alpinen Coaster“ (eine Art Achterbahn) oder ein anderes Gefährt benutzen. Viele Besucher erwarten in den Alpen besondere Erlebnisse, und sie haben den Eindruck, dass eine „normale“ Wanderung lange nicht so attraktiv sei wie der Gang
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Freizeitparks im Hochgebirge
über eine spektakuläre Hängebrücke. Allerdings nutzt sich dieses besondere Erlebnis bei einem mehrmaligen Besuch schnell ab, und dass man von einer aufwendig gebauten Aussichtsplattform die Berge gar nicht anders als von Standorten daneben wahrnimmt, merkt man spätestens beim zweiten Besuch. Diese künstlichen Erlebnisangebote, die gekau werden müssen (Kauf der Bergbahnfahrt) werden schnell langweilig, weil sie ausschließlich normierte und standardisierte Erlebnisse ermöglichen, bei denen alles – bis hin zum idealen „Fotopoint“ – bereits vorgefertigt ist, so dass kein Spielraum für eigene Erlebnisse bleibt. Ein wirkliches Erlebnis enthält dagegen immer ein unvorhergesehenes, überraschendes Element: Wer sich mit of-
fenen Sinnen auf die Natur- und Kulturlandschaen der Alpen einlässt, wird stets etwas Neues auf eindrückliche Weise erfahren; wer jedoch im Bereich der touristischen Infrastrukturen verbleibt, wird immer nur standardisierte Erlebnisse bekommen und enttäuscht zurückfahren. Mit dieser fundamentalen Umgestaltung der Alpen für den Tourismus, die von den verstädterten Tourismusorten im Tal bis hinauf zu den künstlichen Erlebnisangeboten im Gipfelbereich reicht, wird aus Teilen der Alpen ein riesiger Freizeitpark gemacht. Dieser hat mit „den Alpen“ als Natur- und Kulturlandscha nichts mehr zu tun, sondern gleicht einem städtischen Freizeitpark, der gegen Geld auf Knopfdruck scheinbar perfekte Erlebnisse produziert und der dabei die reale Welt mit all ihren
a 216 Die im Juli 2010 eröffnete Aussichtsplattform AlpspiX
in 2080 m Höhe, die etwas oberhalb der Bergstation der Alpspitzbahn (unten links) liegt. Rechts das Höllental, am oberen Ende des Höllentals die Zugspitze, 2962 m, und links davon die Höllentalspitzen. Gegenüber dieser eindrücklichen Bergwelt verliert diese Aussichtsplattform sofort ihren spektakulären Charakter (August 2010).
Widersprüchen, Hoffnungen und Phantasien aussperrt. Deshalb kann man sagen, dass die touristisch geprägten Hochlagen der Alpen ein „Tourismusghetto“ darstellen, aus dem die Alpen eigentlich ausgeschlossen sind.
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Bilanz: Die Alpen verschwinden Die traditionellen kleinräumigen Kulturlandschaen der Alpen verschwinden mit der Modernisierung der Alpen, und zwar auf zweierlei Weise: Dort, wo nicht modern (also intensiv und konkurrenzfähig) gewirtschaet werden kann, werden die Kulturlandschaen nicht mehr genutzt, und sie verbuschen und verwalden; dort, wo modern gewirtschaet werden kann, wird die Nutzung so intensiviert, dass die traditionelle Kleinräumigkeit durch ausgeräumte, zersiedelte, verstädterte Landschaen oder durch künstliche Freizeitparks ersetzt wird. Und die Naturlandschaen der Alpen, die zuvor vom Menschen nur selten betreten und überhaupt nicht verändert wurden, werden jetzt zu kleinen Teilen in künstliche Freizeitparks umgewandelt. Kurz ausgedrückt: Die traditionellen Kulturlandschaften verschwinden durch Entsiedlung und durch Zersiedlung, und das, was vom Menschen in den Alpen übrig bleibt, hat mit alpenspezifischen Lebens- und Wirtschasformen nur noch wenig zu tun: Die heutigen Wirtschas- und Lebensformen in den Alpen stellen ubiquitäre, austauschbare Formen dar, die sich bestenfalls graduell von denen der europäischen Metropolen unterscheiden. Sie verdanken ihre Existenz nicht mehr der Nutzung konkreter alpenspezifischer Ressourcen, son-
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen
a 217 Blick vom Monte San Salvatore, 912 m, nach Osten
auf den Lago di Lugano. Links die Ausläufer der Stadt Lugano an den Hängen des Monte Brè (Schweiz), rechts die fast vollständig verwaldete Region Intelvi in den lombardischen Voralpen (Italien); im Hintergrund rechts die Bergamasker Alpen. Der Gegensatz zwischen Zersiedlung und Entsiedlung wird hier exemplarisch sichtbar (September 1993).
dern allein der Tatsache, dass die Alpen sehr günstig mitten in Europa liegen, dass sie eine hohe Bedeutung als „weicher Standortfaktor“ besitzen und dass sie als Kulisse für künstliche Freizeiterlebnisse dienen. Damit bleibt für den Menschen von „den“ Alpen nichts Relevantes mehr übrig, und deshalb kann man provokant bilanzieren: „Die Alpen verschwinden“. Sie verschwinden natürlich nicht in dem Sinne, dass die Gipfel, die Bergketten, die Hochflächen oder die Täler verschwinden, aber sie verschwinden in dem Sinne, dass die Gipfel, die Bergketten, die Hochflächen und die Täler für das moderne Wirtschaen und Leben keinerlei Bedeutung mehr besitzen – die Alpen werden bestenfalls noch als Kulisse, Hindernis oder Störfall wahrgenommen.
a 218 und b 219 Der Weiler Toldern, 1452 m, in Innerschmirn
(Tirol, Tuxer Alpen) im Jahr 1958 (oben) und im Jahr 2006 (unten) (weitere, sehr aussagekräige Fotovergleiche in Hubatschek „Auf den zweiten Blick“). Obwohl die bergbäuerliche Nutzung „wie früher“ fortgesetzt wird, zeigen sich sehr große Unterschiede: Die Nutzflächen sind auf
Grund schleichender Intensivierungen inzwischen ausgeräumt und homogenisiert, und die traditionellen Gebäude sind auf Grund von Umbauten und Neubauten kaum wiederzuerkennen: Die Kulturlandscha wird austauschbar und verliert ihre Identität.
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a 220 und _ 221 Der Weiler Maison,
1564 m, oberhalb von Noasca im Orco-Tal (Gran Paradiso-Gruppe), der in den 1960er Jahren vollständig verlassen wurde (oben) (Juni 2012), und die Lauchernalp, 1969 m, im Lötschental (Wallis), die dank Seilbahn (1972) und Gletscherbahn (2003) in eine Ferienhaussiedlung umgewandelt wurde (unten)(Oktober 2017).
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Vergleicht man die traditionellen Kulturlandschaen der Alpen mit den heutigen Landschaen, dann werden schnell Grundsatzfragen in Bezug auf die moderne Entwicklung aufgeworfen:
trifft dieser Verlust das ökologische Fundament unserer modernen Gesellscha – allein mit Technik oder mit noch mehr Technik lassen sich die Umweltprobleme der Erde nicht lösen.
Umwelt: Die Kleinräumigkeit der traditionellen Kulturlandschaen ist sichtbarer Ausdruck davon, dass die Menschen beim Wirtschaen Respekt vor der Natur der Alpen hatten und dass sie die vorgefundene Natur zwar tief greifend ökologisch veränderten, aber nicht zerstörten. Wenn mit den traditionellen Kulturlandschaen das Wissen um diesen Naturumgang verlorengeht, dann be-
Kultur: Die Vielfältigkeit der traditionellen Kulturlandschaen ist sichtbarer Ausdruck davon, dass das Handeln und Wirtschaen der Menschen auch von der Geschichte mitgeprägt ist – von der Geschichte mit der Natur, mit spezifischen Erfahrungen im Umgang mit Familienmitgliedern und Nachbarn, mit außergewöhnlichen Ereignissen, mit fremden Menschen und Kulturen usw.
Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Bilanz: Die Alpen verschwinden
Diese Geschichte hat sich im Laufe der Zeit in den unterschiedlichen Haus-, Orts- und Flurformen niedergeschlagen und hat zu Identitäten geführt, die sich klar von Tal zu Tal unterscheiden. Heute verschwinden diese gewachsenen Identitäten zugunsten von globalen Normen und Werten, in denen sich die Menschen nicht mehr zu Hause fühlen – das Verschwinden der Tradition hinterlässt eine Leerstelle. Wirtscha: Die traditionellen Kulturlandschaen sind sichtbarer Ausdruck davon, dass das Wirtschaen dazu dient, die notwendigen Lebensmittel zu erzeugen, dass dies aber nur dann langfristig möglich ist, wenn dabei auch die Erfordernisse der Umwelt (ökologische Stabilisierung der Kulturlandschaen) und der Kultur (Pflege und Weiterentwicklung der kulturellen und sozialen Werte) gleichwertig mitberücksichtigt werden. Wenn die Wirtscha zum Selbstzweck wird (aus Geld mehr Geld zu machen) und ihre ökologischen und kulturellen Grundlagen verdrängt, dann entsteht eine kalte, funktionale Welt ohne Sinn, die letztlich ihr eigenes Fundament selbst zerstört. Die Umwandlung von Teilen der Alpen in künstliche Freizeitparks ist davon vielleicht der deutlichste Ausdruck.
a 222 Die Albigna-Staumauer, 2163 m, im Bergell (Grau-
bünden) mit der Kunst-Installation des Schweizer Künstlers Roman Signer „Piaggio an der Mauer“, die im Rahmen der „Arte Albigna – ein wandernd erlebbares Kunstprojekt“ vom 2. Juli bis zum 30. September 2017 gezeigt wurde (Juli 2017).
Landscha/Welt: Die Natur- und Kulturlandschaen der Alpen sind sichtbarer Ausdruck davon, dass sich der Mensch als Teil der Natur nie über die Natur stellen kann. Trotzdem glaubt die moderne Welt, sie könne mittels ihrer Technik die Dynamik der Alpen total beherrschen. Viele große Bauwerke symbolisieren diese Überheblichkeit, so wie die 1959 fertig gestellte Albigna-Staumauer, die als Gewichtsstaumauer allein durch ihr Eigengewicht das aufgestaute Wasser zurückhält. Die Kunst-Installation von Roman Signer, der einen kleinen Dreiradtransporter der Marke „Piaggio“ an einem Stahlseil hängend an der Staumauer fixierte, lässt die funktionale Brutalität des Bauwerks ins Lächerliche kippen und stellt so ein angemessenes Symbol für moderne Technik im Hochgebirge dar.
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Welche Zukunft für die Alpen? Wenn die Entwicklung der Alpen so weitergeht wie bisher, dann werden die letzten noch erhaltenen Kulturlandschaen in absehbarer Zeit allmählich verschwinden, und die Alpen werden ausschließlich aus verwaldeten und verstädterten Regionen bestehen. Dies stellt keine positive Zukun für die Alpen dar. Wünschenswert ist es stattdessen, die Alpen gezielt als dezentralen Lebens- und Wirtschasraum aufzuwerten, damit hier wieder ein gutes Leben möglich wird. Dies wäre jedoch nicht möglich, wenn man in Anti-Position zur Modernisierung das Ziel ausgibt, die Alpen von Europa abzuschotten und wirtschalich autark zu machen – dazu sind die Alpen ökonomisch, ökologisch und auch kulturell viel zu eng mit Europa verflochten. Aber eine gewisse Distanz zu den großen Metropolen ist not-
wendig, damit die Alpen den Freiraum erhalten, sich eigenständig dezentral zu entwickeln. Den Kernpunkt einer solchen dezentralen Aufwertung stellt die Nutzung der wertvollen Ressourcen der Alpen dar, allerdings nicht als Massenprodukte – dazu ist die Produktion in den Alpen viel zu teuer – sondern in Form hochwertiger und regionstypischer Qualitätsprodukte. Daran besteht heute bei der Bevölkerung der den Alpen benachbarten Metropolen und bei den Alpentouristen ein sehr großes Interesse, und dies ist eine kaufkräige, relevante und sehr große Zielgruppe. Allerdings müssen die Qualitätsprodukte auf eine umwelt- und sozialverträgliche Weise produziert werden, und es müssen in den Alpenregionen Wertschöpfungsketten von der Gewinnung der Rohstoffe über die Verarbeitung bis hin zu Marketing/Vertrieb aufgebaut werden, damit der Gewinn nicht abfließt. Dazu eignen sich folgende Bereiche:
a 223 Viehmarkt in Hittisau (Bregenzerwald). Die „Käsestraße Bregenzerwald“
ist eine der wichtigsten und erfolgreichsten Initiativen, die mit garantierter Herkun und festen Qualitätskriterien das Produkt Käse nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell aufwerten (Oktober 2017).
Viehwirtscha: Beim Käse gibt es bereits gute Ansätze, Qualitätsprodukte und Spezialitäten mit Herkunsgarantie zu erzeugen; dies sollte stark ausgeweitet werden und auch auf den Bereich des Fleisches übertragen werden.
a 224 Eßkastanien waren früher der große Reichtum der Täler auf der Al-
pensüdseite, aber seit den 1950er Jahren wurden sie kaum noch genutzt. Hier ein Kastanienwald im Tal der Stura di Demonte (Seealpen) in 600 m Höhe, der wieder neu genutzt wird (September 2014).
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen
Ackerbau: Alte Getreidesorten eignen sich sehr gut für Spezialitäten wie Bündner Gerstensuppe oder bestimmte Brotsorten.
Obst, Gemüse, Kastanien, Wein, Kräuter: Hier gibt es eine große Fülle an traditionellen Produkten, die sehr gut aufgewertet werden könnten, und viele wichtige Initiativen. Holz: In den Alpen wächst viel mehr Holz, als geschlagen wird, und diese wertvolle Ressource könnte neu für viele Bauwerke an Stelle von Beton verwendet werden. Mit dem „Werkraum Bregenzerwald“ gibt es dabei bereits eine sehr wichtige und erfolgreiche Umsetzung. Energienutzung: Hier gibt es viele Potenziale, deren Nutzung aber umweltverträglich geschehen muss und wo der Schwerpunkt nicht auf Großanlagen, sondern auf der Kombination unterschiedlichster kleiner regionaler Energiequellen liegen sollte.
für regionale Qualitätsprodukte müssen Verarbeitungs-, Marketing- und Logistikstrukturen entstehen, und die Alpen müssen ein schnelles Internet erhalten, weil dies für neue, dezentrale Arbeitsplätze sehr wichtig ist. Und da dieses Wirtschaen auf den Ressourcen des Alpenraums basiert und sie auf eine umwelt- und sozialverträgliche Weise nutzt, entstehen damit neue alpenspezifische Wirtschas- und Lebensformen und auch neue Kulturlandschaen. Diese werden zwar im Detail anders aussehen als die traditionellen, aber sie werden auf ihre Weise den Respekt vor der Natur und die Verantwortung für den Lebensraum Alpen zum Ausdruck bringen.
b 225 Ein im Jahr 2012 wieder neu angelegter Weinberg im Susa-Tal (nördliche
Weiterhin muss der Tourismus so umgebaut werden, dass er die Regionalwirtscha fördert und dass seine dezentralen Strukturen erhalten bleiben und wieder ausgeweitet werden, die Industrie darf nicht verschwinden,
Cottische Alpen) in 800 m Höhe; im Hintergrund der Rocciamelone, 3538 m. Der Wein besitzt in den Alpen ein großes Aufwertungspotenzial, weil es hier gut 30 autochthone Rebsorten gibt, von denen aber die meisten bis heute nur lokal bekannt sind (Juni 2013).
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a 226 Die Ötscherregion (Türnitzer und Ybbstaler Alpen) ist die größte Alpen-
region, die sich bislang allen Tendenzen sowohl der Verstädterung als auch der Entsiedlung entzogen hat und die derzeit wichtige Initiativen für eine dezentrale Aufwertung ihrer Ressourcen umsetzt. Hier der Blick vom Ötscher, 1893 m, nach Osten (Juli 2013).
Die skizzierte wirtschaliche Aufwertung ist allerdings nur tragfähig, wenn sich die Staaten für die regionale Daseinsvorsorge in den Alpen verantwortlich fühlen: Ohne ein dezentrales Netz von Schulen, Bildungseinrichtungen, medizinischer Versorgung, Kinder- und Altenbetreuung, Verwaltung, öffentlichem Nahverkehr usw. ist ein Leben heute nicht mehr möglich. Da derzeit neoliberale Gedanken immer populärer werden, die dafür plädieren, alle Staatsausgaben aus Gründen der Kosteneffizienz auf die großen Zentren zu konzentrieren, hängt die Zukun der Alpen auch davon ab, dass sich die Staaten weiterhin für „ihre“ Randgebiete verantwortlich fühlen und dort nicht ihre staatlichen Infrastrukturen zusammenlegen, ausdünnen oder gar ganz schließen. Allerdings reichen die skizzierte wirtschaliche Aufwertung und eine intakte regionale Daseinsvorsorge
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Aktuelle Situation und Zukunft der Alpen · Welche Zukunft für die Alpen?
noch nicht aus, um den Alpen eine positive Zukun zu ermöglichen. Die 15 Millionen Menschen, die heute in den Alpen leben, können nicht allein von der Nutzung der Alpen-Ressourcen leben, sondern sie benötigen auch die Arbeitsplätze der vielen außeralpinen Firmen, die nur auf Grund der guten Erreichbarkeit einen Standort in den Alpen gewählt haben und die viel enger mit Europa und der Welt als mit den Alpen verflochten sind. Deshalb braucht es die Leitidee der „ausgewogenen Doppelnutzung“: Die „exogenen“ Wirtschaskräe (ubiquitäre Betriebe, die eng mit den Metropolen verflochten sind) dürfen die „endogenen“ Wirtschaskräe (Nutzung der Alpen-Ressourcen) nicht dominieren, so wie es heute der Fall ist, sondern beide Teile müssten gleichberechtigt sein, wobei im Konfliktfall die Interessen der endogenen Wirtscha den Vorrang haben sollten. Und das Ziel müsste es sein, beide Wirtschasformen ein Stück weit miteinander zu vernetzen und dabei eine gemeinsame Umwelt- und Lebensraumverantwortung auszubilden. Mit der internationalen „Alpenkonvention“, die dem Schutz und der nachhaltigen Entwicklung der Alpen verpflichtet ist, besteht bereits die geeignete politische
Struktur, um diese Leitidee für die Zukun der Alpen umzusetzen. Mit der Alpenkonvention treten die Alpen zum erstenmal in der Geschichte einheitlich in Europa auf, so dass einzelne Alpenregionen nicht mehr wie früher gegeneinander ausgespielt werden können, um europäische Interessen an den Alpen (Transitverkehr, Wassernutzung) durchzusetzen. Auf dem Höhepunkt der Modernisierung der Alpen, um das Jahr 1980 herum, sah es so aus, als würden in kurzer Zeit alle dezentralen Wirtschasaktivitäten endgültig aus den Alpen verschwinden. Dies passierte jedoch nicht – stattdessen entstanden immer mehr neue Initiativen zur dezentralen Aufwertung alpiner Ressourcen. Diese sind heute ziemlich zahlreich geworden und stellen einen großen Reichtum dar, aber sie stehen meist isoliert nebeneinander. Deshalb besteht die zentrale Aufgabe darin, diese Initiativen zuerst miteinander zu vernetzen und dann deutlich auszuweiten.
Dies wären wichtige Schritte, damit die Alpen auch in Zukun ein dezentraler Wirtschas- und Lebensraum sein können, dessen kleinräumige und vielfältige Kulturlandschaen den Respekt vor der Natur und eine starke kulturelle Identität zum Ausdruck bringen.
b 227 Die zukünigen Kulturlandschaen der Alpen können nicht so aussehen
wie die traditionellen, weil sie anders genutzt werden; aber sie werden auf ihre Weise den Respekt vor der Natur und die Verantwortung für den eigenen Lebensraum zum Ausdruck bringen. Im Bild landwirtschaliche Neubauten des Architekten Gion Caminada in der Gemeinde Vrin (Graubünden). Dieser Architekt verwendet regionale Baumaterialien, er konzipiert die Gebäude so, dass zum Bau keine städtischen Spezialisten erforderlich ist, und er orientiert sich an der lokalen Tradition und an der Landscha der Umgebung, aber er entwir für neue Anforderungen neue Gebäude: So kann eine lebendige Tradition aussehen, die in der Lage ist, den Herausforderungen der Zukun gerecht zu werden.
213
Literatur Die folgende Zusammenstellung wendet sich an alle, die zum Thema „Alpen“ mehr wissen wollen und gut verständliche Bücher mit aufschlussreichen Fotos suchen. Wer die in diesem Bildtextband angesprochenen Sachverhalte gezielt weiter vertiefen möchte, sei auf mein Buch „Die Alpen“ (2015) hingewiesen, in dem sich auch viele Hinweise auf die einschlägige Fachliteratur finden. Arens, Detlev: Die Alpen. Naturerlebnis, Kulturgut, Sehnsuchtsort. Fackelträger Verlag, Köln 2016, 322 S. Alpenkonvention: Nachhaltiger Tourismus in den Alpen. 4. Alpenzustandsbericht. Innsbruck 2013, 145 S. Bätzing, Werner: Zwischen Wildnis und Freizeitpark – eine Streitschri zur Zukun der Alpen. Rotpunktverlag, Zürich 22017, 154 S. Bätzing, Werner: Grande Traversata delle Alpi. Der große Weitwanderweg durch die Alpen des Piemont. Rotpunktverlag, Zürich 82018, 224 + 296 S. Bätzing, Werner: Die Alpen – Geschichte und Zukun einer europäischen Kulturlandscha. Verlag C. H. Beck, München 2015, 484 S. Chappaz, Maurice: Die Zuhälter des ewigen Schnees. Ein Pamphlet. Orte-Verlag, Zürich 1976, 60 S. CIPRA (Hrsg.): Wir Alpen! Menschen gestalten Zukun. 3. Alpenreport. Haupt-Verlag, Bern 2007, 301 S.
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Hubatschek, Erika und Irmtraud: Auf den zweiten Blick. Menschen, Höfe und Landschaen im Wandel. Verlag Dr. Hubatschek, Innsbruck 2007, 282 S.
Literatur und Informative Internet-Seiten · Bildnachweise und Über den Autor
https://www.alpinesmuseum.ch/de Alpines Museum der Schweiz in Bern http://www.gletscherarchiv.de Gletscher-Archiv der Gesellscha für ökologische Forschung in München
Bildnachweise Von den 228 Bildern dieses Bandes stammen 171 Bilder vom Autor. Folgende Personen haben mir Bilder für diesen Band zur Verfügung gestellt, wofür ich sehr dankbar bin: Bodenbender, Jörg (Grafenaschau/D): Bilder 2, 7, 26, 34, 42, 43, 78, 84, 96, 137, 143, 146, 156, 157, 162, 171, 173, 181, 190, 204, 205, 207, 210, 213, 216, 228 und Umschlagbild. Caminada, Gion (Vrin/CH); Bild 227 Essl, Josef (Innsbruck/A): Bild 211. Fitzthum, Gerhard (Lollar/D): Bild 197. Frey, Urs † (Soglio/CH): Bild 93. Giacometti, Marco (Stampa/CH): Bild 201. Grimm, Fritz (Bremen/D): Bild 224. Hamberger, Sylvia/Gesellscha für ökologische Forschung (München/D): Bild 195. Hechenblaikner, Lois (Reith im Alpbachtal/A): Bilder 3, 22, 24, 25, 166, 208, 209. Hubatschek, Irmtraud (Innsbruck/A): Bild 219. Hug, Beat (Spiez/CH): Bilder 18, 172, 196, 221. Kleider, Michael (Leinburg/D): Bild 220. Stöckli, Lukas (Stans/CH): Bild 23. Wenzel, Matthias (München/D): Bild 158.
Quellen der Historischen Abbildungen: Stich Süßlinus (S. 13): G. Seitz: Wo Europa den Himmel berührt. Die Entdeckung der Alpen. Artemis Verlag, München 1987. Stich Herrliberger (S. 14): D. Herrliberger: Neue und vollstaendige Topographie der Eydgenossenscha. Zürich 175458. http://purl.org/viatimages/fr/image/1776 Aquarell Lory (S. 16 und 17): U. Chr. Haldi: Reise in die Alpen. Büchler-Verlag, Wabern 1969. Historische Bilder 91, 116, 120, 218: Die Fotos von Erika Hubatschek wurden ihren beiden Büchern „Bauernwerk in den Bergen“ und „Auf den zweiten Blick“ entnommen; das Archiv von Erika Hubatschek wird von Irmtraud Hubatschek betreut. Historische Bilder 92 und 141: Anonymer Fotograf und Privatbesitz Gasthof Traube/Kirchenwirt aus der Sammlung Pechtl (Tarrenz/Tirol). W. Pechtl: Im Tal leben. Das Pitztal längs und quer. Innsbruck 2015. Historisches Bild 194: Sammlung Gesellscha für ökologische Forschung, München. Zur Karte „Gliederung der Alpen in Gebirgsgruppen“ Es gibt bislang keine alpenweit einheitliche und anerkannte Gliederung der Alpen nach Gebirgsgruppen, sondern lediglich unterschiedliche Entwürfe aus nationaler Sicht: Der
Deutsche und der Österreichische Alpenverein untergliedern aufgrund ihrer alpinistischen Tradition die Ostalpen zwischen Rhein und Enns ganz besonders stark und weisen im übrigen Alpenraum relativ große Gebirgsgruppen aus; der Italienische und der Französische Alpenclub verfahren in „ihren“ Alpengebieten ähnlich, während beim Schweizer Alpenclub die Kantonsgrenzen, also politische Grenzen, die o auf Berggraten verlaufen, bei der Abgrenzung der Gebirgsgruppen eine wichtige Rolle spielen. Deshalb wird hier der von Paul Zahn (Ottobrunn) erarbeitete Entwurf präsentiert, der die Gebirgsgruppen der Alpen nach einem alpenweit einheitlichen Konzept gliedert. Der Kerngedanke besteht darin, sog. „Knotenpunkte“ festzulegen, an denen sich die beiden Systeme „Grate“ und „Wasserläufe“ schneiden. Nach dem gleichen Konzept können die einzelnen Gebirgsgruppen auch noch weiter in Untergruppen aufgegliedert werden.
Über den Autor Werner Bätzing, geboren 1949 in Kassel, studierte nach dem Abitur zunächst Evangelische Theologie und Philosophie (1968 – 1974) und war dann sieben Jahre lang als Sortimentsbuchhändler, Buchhersteller und Verlagslektor in Berlin tätig. Seit 1977 beschäigt er sich wandernd, fotografierend und analysierend mit den Alpen, zuerst in seiner Freizeit, von 1983 – 1987 als Student der Geographie in Berlin, von 1988 – 1995 als Assistent/Dozent in Bern/Schweiz, von 1995 – 2014 als Professor für Kulturgeographie in Erlangen und seit seiner Emeritierung als Leiter des Archivs für integrative Alpenforschung in Bamberg. Über seine wissenschalichen Analysen hinaus engagiert sich der Autor als wissenschalicher Berater der internationalen Alpenschutzkommission CIPRA, als Beiratsmitglied im internationalen Verein „Pro Vita Alpina“ und als Mitglied im Naturschutzbeirat beim Bayerischen Umweltministerium für eine lebenswerte Zukun der Alpen. Neben den Alpen sind die ländlichen Räume in Bayern/ Deutschland/Europa und das Mensch-Umwelt-Verhältnis in seiner geschichtlichen Entwicklung von der Entstehung des homo sapiens bis zur Postmoderne die inhaltlichen Schwerpunkte des Autors. Kontakt: Prof. em. Dr. Werner Bätzing Archiv für integrative Alpenforschung Geyerswörthstr. 12, 96047 Bamberg/Deutschland [email protected] https://www.geographie.fau.de/personen/werner-baetzing/
`` 228 Der Große Mythen, 1898 m, ist einer der alpinen Symbolberge der
Schweiz. Er wurde 1790 erstmals erstiegen; 1864 wurde der Weg zum Gipfel, 1865 die Gipfelhütte gebaut, und heute besuchen jedes Jahr 30 000 Menschen diesen Gipfel (Oktober 2012).
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Um die Alpen nach einem alpenweit einheitlichen Konzept in Gebirgsgruppen einzuteilen (siehe dazu Seite 215), werden auf dieser Karte die Wasserscheiden oder Grate und die Wasserläufe dargestellt. Beide Systeme schneiden sich an ausgewählten Sattelpunkten (tiefe Pässe innerhalb der Grate) oder „Knotenpunkten“. Mittels der Wasserläufe und ein bis vier Knotenpunkten kann dann eine Gebirgsgruppe sinnvoll abgegrenzt werden. Um diese Karte übersichtlich zu halten, werden innerhalb der Alpen nur diejenigen Wasserläufe dargestellt, die zugleich Grenzen einer Gebirgsgruppe sind. Die hier vorgestellte Unterteilung der Alpen in 63 Gebrigsgruppen stellt eine Möglichkeit dar, mittels Wasserläufen und Knotenpunkten die Alpen nach einer einheitlichen Methode zu untergliedern.
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Höchster Gipfel P.Marguareis C.d. Argentera Tete d.Estrop Monte Viso Aig.d. Arves P.d. Belledonne Barre d.Ecrins l’Obiou M.Ventoux Gran Paradiso Grande Casse Mont Blanc Haute Cime Pointe Percée Pointe d’Arcalod Chamechaude Monte Rosa M.Leone Dammastock Brienzer Rothorn Finsteraarhorn Wildhorn Tödi Bächistock Säntis Rheinwaldhorn Camoghe
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km 2 3600 6700 4000 5500 1910 1200 3200 6400 5100 4100 2110 1640 2200 2000 1500 1600 6500 3770 1330 1850 2800 2400 1780 1400 1300 2480 2000
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Gebirgsgruppe Ligurische Alpen Seealpen (Var A.) Provenzalische Alpen Cottische Alpen Aig.d. Arves-Gruppe (mit Thabor) Chaine de Belledonne Dauphiné-Hochalpen Nördliche Dauphiné-Kalkalpen Südliche Dauphiné-Kalkalpen Östliche Grajische Alpen Vanoise (Westliche Grajische A.) Montblanc/Beaufort-Massive Chablais-Alpen (mit Dents du Midi) Aravis und Bornes Bauges (Cheran-A.) Chartreuse Walliser Alpen Ticino-Alpen (Lepontinische A.) Urner Alpen Emmentaler Alpen Berner Alpen Freiburger Alpen Glarner Alpen Schwyzer Alpen Appenzeller Alpen (St. Gallener A.) Adula-Alpen Luganer Alpen
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Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Knotenpunkt Gebirgsgruppe mit Nummer
Copyright Dr. Paul Zahn, Ottobrunn 2004 Kartographische Bearbeitung: Stephan Adler, Inst. f. Geographie, Universität Erlangen-Nürnberg
Ostalpen Nr. 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63
Gebirgsgruppe Bündner Alpen Silvretta/Samnaun, Rätikon u. Ferwall Lechtaler Alpen Bregenzer und Allgäuer Alpen Wetterstein/Mieminger, Walchenseeb. Karwendel Rofan, Mangfallgebirge Engadiner Alpen Ortler Alpen Bergamasker Alpen Adamello, Brenta, Gardaseeberge Ötztaler Alpen Stubaier Alpen Sarntaler Alpen Zillertaler Alpen (mit Tuxer A.) Kitzbüheler Alpen Kaiser-Gebirge, Westl. Chiemgauer A. Steinberge, Östliche Chiemgauer A. Berchtesgadener und Dientner Alpen Hohe Tauern Dolomiten Vicentiner Alpen Karnische und Gailtaler Alpen Julische Alpen Karawanken und Bacher Gebirge Nockberge Lanvanttaler Alpen und Gleinalpe Niedere Tauern Dachsteingebirge und Tennengebirge Salzkammergutberge Totes Gebirge und Nördl. Ennstaler A. Eisenerzer Alpen (mit Hochschwab) Mürzsteger Alpen Türnitzer und Ybbstaler Alpen Gutensteiner Alpen und Wienerwald Randgebirge östlich der Mur
km 2 2660 2800 1700 3700 1200 1100 1400 3400 2880 3400 5050 2520 1730 1100 2460 1840 630 1060 1440 6010 6670 2600 5900 5000 5400 3760 4600 4560 1100 1800 3000 1690 1190 2330 2100 2600
Höchster Gipfel Hm Piz Kesch 3418 Piz Linard 3411 Parseierspitze 3036 Wildgrubenspitze 2753 Zugspitze 2962 Birkkarspitze 2749 Hochiß 2299 Piz Bernina 4049 Ortler 3905 Pizzo d.Coca 3052 Presanella 3556 Wildspitze 3768 Zuckerhütl 3507 Hirzer 2781 Hochfeiler 3509 Kreuzjoch 2558 Ellmauer Halt 2344 Birnhorn 2634 Hochkönig 2941 Großglockner 3798 Marmolada 3343 Cima Dodici 2341 Hohe Warte 2780 Triglav 2864 Grintavec 2558 Eisenhut 2441 Zirbitzkogel 2396 Hochgolling 2862 Hoher Dachstein 2995 Gamsfeld 2027 Großer Priel 2515 Hochtor 2369 Heukuppe/Rax 2007 Hochstadl 1919 Klosterwappen 2076 Stuhleck 1782