Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union 3658434465, 9783658434465, 9783658434472

Das Buch befasst sich mit der Problematik der Abtreibung, wobei ihre menschenrechtlichen Aspekte und ihr Bezug zur Diens

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German Pages 102 Year 2023

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Table of contents :
Zusammenfassung
Abstract
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Der Begriff der Abtreibung
2.1 Philologische Perspektive
2.2 Medizinische Perspektive
2.3 Gesetzliche Perspektive
3 Abtreibung als die traditionelle Ursache der sozialen Polarisierung
3.1 Ethisches Dilemma der Abtreibung
3.2 Geschichtlicher Hintergrund
3.3 Pro-Life v. Pro-Choice
4 Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung
4.1 Gibt es das „Recht auf Abtreibung“?
4.2 Die Rechte der Frau vs. der Rechtschutz ihres Kindes
4.3 Abtreibung und die Margin-of-appreciation-Doktrin
4.4 Rechtlicher vs. faktischer Zugang zur legalen Abtreibung
5 Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen der europäischen Integration
5.1 Abtreibung als die nationale Sache
5.2 Polarisierung der staatlichen Politik und Gesetzgebung
5.2.1 Restriktive Ansätze
5.2.2 Liberale Ansätze
5.3 Zentrale Liberalisierungsbemühungen
6 Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten der Europäischen Union
6.1 Rechtsgarantie des freien Dienstleistungsverkehrs
6.2 Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung
6.3 Das polnische Problem des Abtreibungstourismus
6.4 Das tschechische Abtreibungsrecht und seine europarechtskonforme Auslegung
7 Schluss
Literaturverzeichnis
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Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union
 3658434465, 9783658434465, 9783658434472

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BestMasters

Jakub Valc

Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union

BestMasters

Mit „BestMasters“ zeichnet Springer die besten Masterarbeiten aus, die an renommierten Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz entstanden sind. Die mit Höchstnote ausgezeichneten Arbeiten wurden durch Gutachter zur Veröffentlichung empfohlen und behandeln aktuelle Themen aus unterschiedlichen Fachgebieten der Naturwissenschaften, Psychologie, Technik und Wirtschaftswissenschaften. Die Reihe wendet sich an Praktiker und Wissenschaftler gleichermaßen und soll insbesondere auch Nachwuchswissenschaftlern Orientierung geben. Springer awards “BestMasters” to the best master’s theses which have been completed at renowned Universities in Germany, Austria, and Switzerland. The studies received highest marks and were recommended for publication by supervisors. They address current issues from various fields of research in natural sciences, psychology, technology, and economics. The series addresses practitioners as well as scientists and, in particular, offers guidance for early stage researchers.

Jakub Valc

Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union

Jakub Valc Brno, Czech Republic

ISSN 2625-3577 ISSN 2625-3615 (electronic) BestMasters ISBN 978-3-658-43446-5 ISBN 978-3-658-43447-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-43447-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Karina Kowatsch Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Zusammenfassung

Die Masterarbeit befasst sich mit der Problematik der Abtreibung, wobei ihre menschenrechtlichen Aspekte und ihr Bezug zur Dienstleistungsfreiheit innerhalb der Europäischen Union im Vordergrund stehen. Mit anderen Worten werden zwei Dimensionen der Abtreibung erforscht. Die erste Dimension hängt mit dem immer noch umstrittenen Konzept der Abtreibung als ein Menschenrecht zusammen, einschließlich der Art und des Umfangs ihres institutionellen Schutzes. Die zweite Dimension ist eine unterschiedliche Natur, da sie die Abtreibung nicht als ein Menschenrecht, sondern als eine Gesundheitsdienstleistung im Sinne des EU-Primärrechts betrachtet, und zwar in Bezug auf eine der Grundfreiheiten des freien Verkehrs. In methodischer Hinsicht wird nicht nur auf die Analyse des internationalen Rechtsrahmens für die Abtreibung und der damit verbundenen Rechtsprechung des EGMR und des EUGH, sondern auch auf den Vergleich der nationalen Abtreibungsrechtsvorschriften, zurückgegriffen. Mithilfe dieser Methoden wird es festgestellt, dass die Abtreibung derzeit international nicht einheitlich geregelt ist. Ebenso gibt es keinen verbindlichen internationalen Vertrag, in dem das „Recht auf Abtreibung“ ausdrücklich verankert ist. Im Zusammenhang mit dem institutionellen Schutz der Menschenrechte leitet sich die Existenz dieses Rechts daher eher aus dem Schutz anderer Menschenrechte ab, insbesondere dem Recht auf Leben, dem Recht auf Gesundheit und dem Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens. Aus der Rechtsprechung des EGMR lässt sich jedoch nicht ableiten, dass ein restriktiver Ansatz zur Regulierung der Abtreibung ohne weiteres eine unzulässige Verletzung der Menschenrechte darstellt. Nach der Margin-of-appreciation-Doktrin hat jeder Staat die Möglichkeit, nicht nur die Menschenrechte der schwangeren Frauen, sondern auch den kollidierenden Schutz ihres ungeborenen Kindes zu berücksichtigen. Dies schließt

V

VI

Zusammenfassung

nicht aus, dass jeder Staat verpflichtet ist, den effektiven Zugang zur Abtreibung unter den geltenden Bedingungen zu gewährleisten. Die oben genannten Umstände spiegeln sich in der Existenz unterschiedlicher nationaler Rechtsvorschriften wider, was natürlich zur Entwicklung des Abtreibungstourismus führt. Auch wenn diese Form des Tourismus als negativ empfunden werden kann, wird sie durch das EU-Primärrecht gestützt, das den freien Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten garantiert, was nach der Rechtsprechung des EuGH auch für die Abtreibung gilt. Am Beispiel des Abtreibungstourismus zwischen Polen und der Tschechischen Republik wird dann erläutert, dass nationale Rechtsvorschriften den Zugang zur Abtreibung für Bürger eines anderen Mitgliedstaates grundsätzlich nicht ausschließen können, da dies dem EU-Recht widersprechen würde, das Vorrang vor nationalem Recht hat.

Abstract

The Master’s thesis deals with the issue of abortion, focusing on its human rights aspects and its relation to the freedom to provide services within the European Union. In other words, two dimensions of abortion are explored. The first dimension is related to the still contested concept of abortion as a human right, including the nature and extent of its institutional protection. The second dimension is of a different nature, considering abortion not as a human right but as a health service under EU primary law, in relation to one of the fundamental freedoms of free movement. From a methodological point of view, it draws not only on the analysis of the international legal framework on abortion and the related case law of the ECHR and the ECJ, but also on the comparison of national abortion laws. With the help of these methods, it was established that abortion is currently not regulated in a uniform manner internationally. Similarly, there is no binding international treaty in which the „right to abortion“ is explicitly enshrined. The existence of this right in the context of institutional human rights protection therefore derives more from the protection of other human rights, in particular the right to life, the right to health and the right to protection of private and family life. However, it cannot be inferred from ECHR case law that a restrictive approach to the regulation of abortion is, without more, an impermissible violation of human rights. According to the margin-of-appreciation doctrine, the state has the possibility to take into account not only the human rights of the woman, but also the conflicting protection of the unborn child. This does not exclude the obligation of each state to ensure effective access to abortion under the conditions in force. The above circumstances are reflected in the existence of different national legislation, which naturally leads to the development of abortion tourism. Even though this form of tourism may be perceived as negative, it is supported by the primary law of the European Union, which guarantees the free

VII

VIII

Abstract

movement of services between Member States, which, according to the case law of the ECJ, also applies to abortion. Using the example of abortion tourism between Poland and the Czech Republic, it is then explained that national legislation cannot in principle exclude access to abortions for citizens of another Member State, as this would contradict EU law, which takes supremacy over national law.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2 Der Begriff der Abtreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Philologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Medizinische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Gesetzliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5 5 8 10

3 Abtreibung als die traditionelle Ursache der sozialen Polarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ethisches Dilemma der Abtreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Geschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Pro-Life v. Pro-Choice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 17 20

4 Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Gibt es das „Recht auf Abtreibung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Rechte der Frau vs. der Rechtschutz ihres Kindes . . . . . . . . . . 4.3 Abtreibung und die Margin-of-appreciation-Doktrin . . . . . . . . . . . . 4.4 Rechtlicher vs. faktischer Zugang zur legalen Abtreibung . . . . . .

25 25 30 36 40

5 Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen der europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Abtreibung als die nationale Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Polarisierung der staatlichen Politik und Gesetzgebung . . . . . . . . . 5.2.1 Restriktive Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Liberale Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Zentrale Liberalisierungsbemühungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 45 48 48 52 56

IX

X

Inhaltsverzeichnis

6 Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Rechtsgarantie des freien Dienstleistungsverkehrs . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das polnische Problem des Abtreibungstourismus . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das tschechische Abtreibungsrecht und seine europarechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63 64 69 73 76

7 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Abkürzungsverzeichnis

AEUV Das polnische Abtreibungsgesetz

Das tschechische Abtreibungsgesetz

Das tschechische Strafgesetzbuch Die tschechische Abtreibungsverordnung

EGMR EuGH EU-Grundrechtecharta

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Gesetz über die Familienplanung, den Schutz des menschlichen Fötus und die Bedingungen für die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs vom Jahr 1993 Gesetz Nr. 66/1986 Slg., über die künstliche Unterbrechung einer Schwangerschaft Gesetz Nr. 40/2009 Slg., Strafgesetzbuch Verordnung des Gesundheitsministeriums Nr. 66/ 1986 Slg., zur Durchführung des Gesetzes Nr. 66/1986 Slg. des tschechischen Nationalrats über die künstliche Unterbrechung einer Schwangerschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Gerichtshof der Europäische Union Charta der Grundrechte der Europäischen Union

XI

XII

EMRK

EUV Frauenrechtskonvention

RL 2011/24/EU

UN-Kinderrechtskonvention Zivilpakt

Abkürzungsverzeichnis

Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Vertrag über die Europäische Union Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau RL 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. 3. 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung Übereinkommen über die Rechte des Kindes Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

1

Einleitung

Im Vergleich mit der Abtreibung gibt es nicht viele andere Themen, die ähnliche Kontroversen und ethisch-rechtliche Fragen aufwerfen. Wie bei der Todesstrafe oder der Euthanasie handelt es sich nämlich um ein Thema, das mit dem Leben und dem Tod des Menschen zusammenhängt, der nicht natürlich vorkommt. Abtreibungen sind insofern spezifisch, weil sie nicht in der Bestrafung des Täters eines Verbrechens oder in der autonomen Entscheidung einer Person darüber bestehen, wann und wie sie ihr Leben beenden will. Ihr Wesen besteht in der absichtlichen Beendigung des Lebens eines ungeborenen Kindes auf der Grundlage der Entscheidung seiner Mutter, mit der es während der Schwangerschaft untrennbar verbunden ist. Im Laufe der Menschheitsgeschichte ändern sich danach nicht nur die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Beobachtung der vorgeburtlichen Entwicklung des Menschen und die Methoden der künstlichen Beendigung einer Schwangerschaft, sondern auch die Gründe für eine Abtreibung, die gesellschaftlich diskutiert und schließlich anerkannt werden. Im Hintergrund steht jedoch nach wie vor die Frage, wann das menschliche Leben beginnt bzw. ab welchem Zeitpunkt jedem Lebenswesen der Status einer Rechtsperson als Träger von Rechten, einschließlich des Rechts auf Leben, zugeschrieben werden kann. Obwohl sich die wissenschaftlichen Kenntnisse im Bereich der Embryologie durch die Entwicklung moderner Technologien bereits erheblich erweitert haben, ist diese Frage noch nicht beantwortet. Das Fehlen einer klaren Antwort wirkt sich unmittelbar auf die anhaltende gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskussion bzw. den Meinungsstreit über die Lösung des möglichen Konflikts zwischen dem Schutz des ungeborenen Kindes einerseits und den Rechten bzw. Interessen seiner Mutter andererseits aus. Die gesellschaftlichen und gesetzlichen Ergebnisse dieses Konfliktes sind dann historisch und kulturell bedingt, was bedeutet, dass sie einem ständigen Wandel unterworfen © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Valc, Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union, BestMasters, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43447-2_1

1

2

1

Einleitung

sind, sei es zugunsten eines verstärkten Schutzes des beginnenden menschlichen Lebens oder umgekehrt zugunsten der Mutter und ihrer Fähigkeit, frei über eigene Schwangerschaft zu entscheiden. Die kulturellen Unterschiede und ihre Berücksichtigung bei der Regulierung der Abtreibung auf nationaler Ebene werden jedoch in der modernen Geschichte nicht nur durch die Stärkung der Bedeutung der sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen, sondern auch durch die Integrationstendenzen auf regionaler Ebene konterkariert, wofür auch die Europäische Union ein typisches Beispiel ist. Die schrittweise Schaffung eines Binnenmarktes oder eines Raums ohne Grenzen hat sich zwangsläufig auf verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausgewirkt, nicht zuletzt auf die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung. Auf einer Seite wird die Frage der Abtreibung aufgrund ihrer kulturellen Prägung und ihres kontroversen Charakters traditionell als nationale Angelegenheit betrachtet. Auf der anderen Seite stehen die Grundfreiheiten im Sinne des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, auf denen die derzeitige Konzeption der Europäischen Union beruht und deren praktische Anwendung mit den Bestrebungen eines Mitgliedstaates, den Zugang zur legalen Abtreibung gänzlich zu beschränken, in Konflikt geraten kann. Alle diesen Umstände machen die künstliche Beendigung einer Schwangerschaft zu einem immer aktuellen und wichtigen Thema, das nicht nur eine ethische, sondern auch eine (menschen-)rechtliche und eine politische Dimension hat. Das Ziel dieser Masterarbeit ist es, die (menschen-)rechtlichen Aspekte des Zuganges zur Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung innerhalb der Europäischen Union und die damit verbundenen Probleme mit dem Abtreibungstourismus zu analysieren. Mit anderen Worten werde ich mich mit der Forschungsfrage beschäftigen, wie der derzeitige Rechtsrahmen für den Zugang zur Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung in der Europäischen Union aussieht und wie sich die Existenz unterschiedlicher legislativer Ansätze der Mitgliedstaaten in dieser Frage auswirkt. Zu diesem Zweck werde ich hauptsächlich die Methoden der Analyse und der Rechtsvergleichung verwenden. Was die Menschenrechtsfragen angeht, werde ich mein Augenmerk auf die völkerrechtliche Verankerung des Rechts auf Leben und anderer in Frage stehender Menschenrechte richten, einschließlich der diesbezüglichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (weiter auch bezeichnet als „EGMR“). In diesem Zusammenhang werde ich auch auf den Vergleich der Rechtsansätze der einzelnen Mitgliedstaaten eingehen, was ich mit der Verankerung des freien Dienstleistungsverkehrs im primären EU-Recht und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (weiter auch bezeichnet als „EuGH“) konfrontieren werde.

1

Einleitung

3

Im zweiten Kapitel werde ich den Begriff „Abtreibung“ definieren. Zu diesen Zweck werde ich zwischen der philologischen, medizinischen und gesetzlichen Perspektive unterscheiden, weil sie mit verschiedenen Aspekten dieses Begriffes zusammenhängen. Was die philologische Perspektive betrifft, werde ich erklären, dass es sich nur um eine von mehreren Bezeichnungen der Beendigung einer Schwangerschaft handelt, was auch davon abhängig ist, dass der Vorgang auf natürliche oder künstliche Weise erfolgen kann. Im Kontext mit dem Thema dieser Abschlussarbeit werde ich vor allem mögliche Bezeichnungen der künstlichen Beendigung einer Schwangerschaft definieren und vergleichen. Gleichzeitig werde ich auch daran erinnern, dass dieser Eingriff heutzutage mit der Anwendung mehrerer medizinischer Methoden verbunden ist, die in den einzelnen Stadien der Schwangerschaft Anwendung finden. Anschließend werde ich drei Regulierungsmodelle vorstellen, einschließlich der Faktoren, die ihre Identifizierung und Differenzierung ermöglichen. Im dritten Kapitel werde ich mich schon auf die ethische Dimension der Abtreibung fokussieren. Mit anderen Worten werde ich mich mit dem ethischen Dilemma beschäftigen, das im Kontext mit der künstlichen Beendigung einer Schwangerschaft besprochen wird. Auf einer Seite geht es um die Position jeder Frau, falls sie durch die Schwangerschaft in unterschiedlicher Art und Weise beschränkt oder sogar bedroht wird. Auf zweiter Seite ist auch die gegenseitige Argumentation zu berücksichtigen, die daran erinnert, dass die Abtreibung immer zur Beendigung eines unschuldigen menschlichen Lebens führt. In diesem Zusammenhang werde ich die philosophischen und ethischen Ansätze zum moralischen Status des ungeborenen Kindes aufzählen, deren Anwendung die beiden Meinungspositionen voneinander unterscheidet. Danach werde ich beschreiben, wie sich diese dichotomischen Ansätze während der Zeit entwickelt haben und wie sie sich in der Entstehung und den Tätigkeiten von Aktivistenbewegungen „Pro-Life“ und „Pro-Choice“ widerspiegeln. Im vierten Kapitel werden die menschenrechtlichen Aspekte der Problematik diskutiert. Vor allem werde ich mich mit der Frage beschäftigen, ob die internationalen Verträge das „Recht auf Abtreibung“ direkt oder indirekt verankern. In dieser Hinsicht werde ich auch erforschen, welche Rolle die Kategorie der sexuellen und reproduktiven Rechte spielt. Darüber hinaus werde ich erklären, dass die Garantie des Zuganges zur legalen Abtreibung auch von der Existenz anderer Menschenrechte abgeleitet werden kann, die mit dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit oder des Privat- und Familienlebens der schwangeren Frauen zusammenhängen. Zusätzlich werde ich den kollidierenden Schutz des ungeborenen Kindes berücksichtigen, um die Frage zu beantworten, welcher Rechtsstatus

4

1

Einleitung

ihm im Rahmen des Völkerrechts und der Verfassungsordnungen der ausgewählten europäischen Staaten zugeschrieben wird. Ich werde darauf hinweisen, dass diese Problematik mit vielen Unklarheiten verbunden ist, die bis jetzt nicht entfernt wurden, obwohl der EGMR in seiner Rechtsprechung mit entsprechenden Auslegungsproblemen schon mehrmals konfrontiert wurde. Daran schließt sich das fünfte Kapitel an, in dem ich mich mit der Rechtsvergleichung der nationalen Abtreibungsgesetze innerhalb Europas befassen werde. Meine Absicht ist zu zeigen, dass die Rechtsansätze zur Abtreibung in den einzelnen europäischen Staaten sehr unterschiedlich sind, was auf das Fehlen einer supranationalen Regulierung und die unklare Rechtsprechung des EGMR zurückzuführen ist. In diesem Zusammenhang werde ich zwei Kategorien der Abtreibungsgesetze unterscheiden, je nachdem, ob sie liberal oder restriktiv gestaltet sind. Ich werde erklären, dass beide Kategorien breit verstanden werden müssen, weil sie mehrere Rechtsansätze einschließen, die sich in den gesetzlichen Gründen und anderen Bedingungen für eine legale Abtreibung unterscheiden. Obwohl es keine Harmonisierung der nationalen Abtreibungsgesetze auf der Ebene der Europäische Union gibt, werde ich darauf hinweisen, dass man schon eine zentralisierte Tendenz zur Förderung des liberalen Ansatzes in Bezug auf die Abtreibung zu beobachten ist, und zwar in Verbindung mit den bestimmten Entschließungen des Europäischen Parlaments, die als Reaktion auf die jüngste Verschärfung der Abtreibungsrechtsvorschriften in Polen verabschiedet wurden. Im letzten Kapitel werde ich mich danach auf die Frage des grenzüberschreitenden Zuganges zur Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung innerhalb der Europäischen Union konzentrieren. Zuerst werde ich die Dienstleistungsfreiheit als eine der Grundfreiheiten des freien Verkehrs innerhalb des Binnenmarktes charakterisieren, die als der Ausdruck oder vielmehr das Ergebnis der langjährigen europäischen Integration im wirtschaftlichen Bereich betrachtet werden kann. Zu diesem Zweck werde ich mich nicht nur mit den betreffenden Artikeln des AEUV befassen, sondern auch mit der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH. Nachfolgend werde ich mich mit der Begrenzung der Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung beschäftigen, um die Frage zu beantworten, ob sie unter den freien Dienstleistungsverkehr fällt, der die einzelnen Mitgliedstaaten grundsätzlich (mit einigen Ausnahmen) nicht beschränken dürfen. Diese Erkenntnisse werde ich danach mit dem Thema des Abtreibungstourismus konfrontieren, der im europäischen Kontext hauptsächlich von Polen in andere Mitgliedstaaten, einschließlich der Tschechischen Republik, stattfindet. Anhand der tschechischen Abtreibungsgesetzgebung werde ich letztlich erforschen, ob die nationalen Rechtsvorschriften den Bürgerinnen eines anderen Mitgliedstaates den Zugang zur legalen Abtreibung rechtmäßig verwehren können, wenn man das EU-Recht und die in seinem Rahmen garantierten Dienstleistungsfreiheit reflektiert.

2

Der Begriff der Abtreibung

Wenn man sich mit dem Thema „Abtreibung“ beschäftigen möchte, ist es vor allem nötig, den Begriff selbst näher zu definieren, weil er in verschiedenen Kontexten und Bedeutungen verwendet werden kann. Darum richte ich mich zuerst auf die philologischen Aspekte der Problematik. Mit anderen Worten begrenze ich die einzelnen Begriffe oder sprachlichen Äquivalente, die als Bezeichnungen der Beendigung einer Schwangerschaft dienen können, einschließlich der Frage, ob und wie sie sich voneinander unterscheiden. Anschließend begrenze ich schon nicht nur die medizinischen Methoden des diskutierten Eingriffes, sondern auch die damit verbundenen zeitlichen und sachlichen Faktoren, die sich in den gesetzlichen Gründen und Bedingungen widerspiegeln und für eine ethische und (menschen-)rechtliche Analyse entscheidend sind.

2.1

Philologische Perspektive

Sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch im Alltagsprache werden verschiedene Begriffe verwendet, um die Beendigung einer Schwangerschaft zu bezeichnen. Um sie zu definieren, muss man vor allem unterscheiden, ob dieser Zustand durch natürliche oder unnatürliche Prozesse verursacht wird. Im ersten Fall handelt es sich um die Situationen, wenn eine Schwangerschaft spontan oder ohne einen externen Eingriff beendet wird, was in verschiedenen Entwicklungsstadien des Embryos und des Fötus passieren kann und vom menschlichen Willen unabhängig ist. Hier spricht man über einen Spontanabort oder einen Abort, dem eine natürliche Ursache zugrunde liegt. Obwohl diese Art der Beendigung einer Schwangerschaft auch mit dem tragischen Schicksal vieler Frauen zusammenhängt, die ihr erwartetes Kind unwillkürlich verloren haben, führt sie nicht zu © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Valc, Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union, BestMasters, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43447-2_2

5

6

2

Der Begriff der Abtreibung

solchen Kontroversen, die man im Kontext mit einem artifiziellen oder künstlich ausgelösten Abort beobachten kann, der das Ergebnis eines menschlichen Handelns ist.1 Was die entsprechenden Begriffe angeht, werden in der medizinischen Terminologie, die eine sprachübergreifende Funktion hat, immer noch die traditionellen lateinischen Termini „Abruptio graviditatis“ oder „Interruptio“ gebraucht.2 Dabei handelt es sich jedoch um die Fachbegriffe, die in anderen wissenschaftlichen Bereichen und im Alltagsgespräch keine Anwendung finden. Im Gegensatz kommen andere Begriffe vor, die ermöglichen, die Beendigung einer Schwangerschaft in einzelnen menschlichen Sprachen auszudrücken. Die Anzahl der möglichen Bezeichnungen variiert von Sprache zu Sprache.3 Im deutschsprachigen Raum werden die Begriffe „Abtreibung“, „Schwangerschaftsabbruch“ oder selten auch „Schwangerschaftsunterbrechung“4 üblicherweise nebeneinander oder sogar als Synonyme angewendet, und zwar nicht nur in der Fachsprache, sondern auch in den politischen Debatten oder in der Umgangssprache.5 Aus historischer Sicht ist der Begriff „Abtreibung“ jedoch älter, weil der Begriff „Schwangerschaftsabbruch“ erst im Jahr 1960 und aus politischrhetorischen Gründen in Gebrauch kam. Konkret weisen manche Autoren darauf hin, dass der Begriff "Abtreibung", der in der Vergangenheit eine allgemeine und neutrale Bedeutung hatte, im zwanzigsten Jahrhundert eher in politischen oder aktivistischen Äußerungen vorkam oder mit einer ungewollten (illegalen) Beendigung einer Schwangerschaft in Verbindung gebracht wurde.6 In der aktuellen Fachdiskussion werden jedoch beide Begriffe verwendet, um die absichtliche Beendigung einer Schwangerschaft zu bezeichnen, weil sie „implizieren, dass es im Stadium der Schwangerschaft zwei Möglichkeiten für die schwangere Person gibt: Die willentliche Fortführung der Schwangerschaft, einhergehend mit physiologischen Veränderungen des Körpers der schwangeren Person und in vielen 1

Hoffmann, Schwangerschaftsabbruch: Statistische, medizinische, juristische, soziologische und psychologische Aspekte (2013) 21. 2 Buth/Schirrmacher, Schwangerschaftsabbruch: Fakten und Entscheidungshilfen (2023). 3 Im Englischen gibt es zum Beispiel den Begriff "abortion", der als einziger und allgemeiner sprachlicher Ausdruck dient. 4 Die Verwendung des Begriffs „Schwangerschaftsunterbrechung“ ist jedoch unangemessen, da die Natur dieses medizinischen Eingriffs die Möglichkeit einer Fortsetzung der Schwangerschaft, die das Wort "Unterbrechung" suggeriert, ausschließt. Siehe dazu: Buth/ Schirrmacher, Schwangerschaftsabbruch. 5 Krolzik-Matthei, Abtreibungen in der Debatte in Deutschland und Europa, APuZ 2019, 4 (5). 6 Krolzik-Matthei, APuZ 2019, 4.

2.1 Philologische Perspektive

7

Fällen in die Geburt eines Kindes mündend, oder aber der freiwillige Abbruch der Schwangerschaft durch einen medizinischen Eingriff.“7 Im Prinzip kann man also beide Begriffe als gleichwertig betrachten, weil sie aus heutiger Sicht über die ähnlichen Konnotationen verfügen, was nicht bezweifelt, dass ihre reale Nutzung oder Bedeutung nicht nur durch die individuellen Präferenzen, sondern auch durch die Sprache des Gesetzgebers beeinflusst werden kann.8 Trotzdem gibt es auch Bemühungen, das Dilemma der Frauen im Kontext mit der Entscheidung über die Fortführung oder Beendigung einer Schwangerschaft nicht implizit (durch die Bedeutung der oben genannten Begriffe), sondern explicit auszudrücken. Zu diesem Zweck hat sich auch der Begriff „Schwangerschaftskonflikt“ etabliert, obwohl man ihn eher in wissenschaftlichen Texten als im Alltagsgespräch beobachtet. Wie schon angegeben wurde, sollte man darauf hinweisen, dass es im Zusammenhang mit der Beendigung einer Schwangerschaft primär nicht um die bestimmten medizinischen Eingriffe, sondern um die Position der Frauen geht, die eine sehr schwierige und unveränderliche Lebensentscheidung treffen müssen. Einfach gesagt, es handelt sich um das Dilemma zwischen zwei Möglichkeiten, und zwar, das Leben mit oder ohne Kind zu haben. Der Sinn dieses Begriffes besteht also nicht darin, die Begriffe „Abtreibung“ und „Schwangerschaftsabbruch“ ganz zu ersetzen, sondern zu betonen, dass ihre Verwendung den entsprechenden Werthintergrund berücksichtigen sollte.9 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass es in der zwischenmenschlichen Kommunikation mehrere Möglichkeiten gibt, die Beendigung einer Schwangerschaft zu bezeichnen, wobei nicht festgestellt wird, dass einer von angewendeten deutschen Begriffen (mit Ausnahme der Gesetztexte) den Vorrang haben sollte. Daher werde ich für den Zweck dieser Abschlussarbeit weiterhin den Begriff „Abtreibung“ als Synonym zum Begriff „Schwangerschaftsabbruch“ betrachten und verwenden, und zwar in seiner neutralen Bedeutung.

7

Doctors for Choice Germany, Schwangerschaftsabbruch oder Abtreibung?, https://doctor sforchoice.de/ueber/begriffe/abbruch-abtreibung/ (abgefragt am 11. 7. 2023). 8 In Deutschland und Österreich wird der Begriff "Schwangerschaftsabbruch" in der Gesetzgebung verwendet. Wenn sich die Argumentation also ausschließlich auf die betreffenden Rechtsvorschriften beziehen sollte, kann die Anwendung des vom Gesetzgeber verwendeten Begriffs vernünftig begründet werden. 9 Hoffmann, Schwangerschaftsabbruch 19.

8

2.2

2

Der Begriff der Abtreibung

Medizinische Perspektive

Es wurde schon erklärt, dass die Abtreibung als die absichtliche Beendigung einer Schwangerschaft durch einen medizinischen Eingriff verstanden werden kann. In diesem Kontext existieren mehrere Methoden, die ermöglichen, dieses Ziel zu erreichen. Grundsätzlich kann man sie nach dem Kriterium klassifizieren, ob sie instrumentell durchgeführt werden oder nicht. Mit anderen Worten geht es darum, ob ihre Anwendung mit einer chirurgischen Operation verbunden ist. Es spielt eine wichtige Rolle, weil es sich schon um einen invasiven Eingriff in den Frauenkörper handelt, der nicht nur mit gewissen Unannehmlichkeiten, sondern auch mit mehreren Risiken zusammenhängt, wie die verstärkte Blutung, die Infektionen, die Schädigung des Gebärmutterhalses oder sogar die Verlust der Fruchtbarkeit. Natürlich wird das Risikoniveau nicht nur durch die Einhaltung der medizinischen Standards (lege artis) beeinflusst, sondern auch durch eine Reihe anderer Faktoren auf der Frauenseite, wie zum Beispiel ihr Alter und Gesundheitszustand oder die Anzahl früherer Abtreibungen, falls vorhanden. Darüber hinaus ist die Schwangerschaftsdauer bzw. das Entwicklungsstadium des Embryos oder Fötus, in dem eine instrumentelle Abtreibung vorgenommen wird, von entscheidender Bedeutung. Der Zeitfaktor nämlich beeinflusst, welche Methode der instrumentellen Abtreibung in Frage kommt.10 Ein Meilenstein ist die achte Schwangerschaftswoche, denn bis zu diesem Zeitpunkt kann die so genannte Mini-Abtreibung durchgeführt werden, was eine weniger invasive Methode der absichtlichen Beendigung einer Schwangerschaft ist. Obwohl es sich um eine instrumentelle Abtreibung unter Vollnarkose handelt, besteht kein hohes Risiko von Blutungen oder Schäden am Gebärmutterhals. Der Grund basiert auf der Tatsache, dass der Gebärmutterhals mit speziellen Metallwerkzeugen geweitet wird (Dilatation), wodurch ein Gerät eingeführt werden kann, mit dem das Fruchtwasser abgesaugt wird. Soll die Abtreibung jedoch nach der achten Schwangerschaftswoche durchgeführt werden, ist in der Regel eine Kürettage erforderlich, was bedeutet, dass das Fruchtwasser oder seine Reste nach der Absaugung mit einem speziellen Instrument (Kürette) entfernt oder buchstäblich auskratzt werden müssen. Es ist verständlich, dass zu den Risiken der mechanischen Kürettage die bereits erwähnte Schädigung des Gebärmutterhalses oder der Gebärmutterhöhle gehört.11 10

Lim/Kuldip, Methods of Abortion in First and Second Trimester, OJOG 2014, 924 (925). Doctors for Choice Germany, Methoden des Schwangerschaftsabbruches, https://doctor sforchoice.de/unsere-arbeit/information/schwangerschaftsabbruch/methoden/ (abgefragt am 16. 7. 2023).

11

2.2 Medizinische Perspektive

9

Als Alternative zu den instrumentellen Methoden der medizinischen Beendigung einer Schwangerschaft dienen die medikamentösen Abtreibungen. Im Wesentlichen handelt es sich um die Einnahme von zugelassenen und ärztlich verordneten Medikamenten, in der Regel in einem Krankenhaus, d. h. unter Aufsicht von medizinischem Personal. Umgangssprachlich werden diese Medikamente als „Abtreibungspille“ (RU 486) bezeichnet, deren Hauptvorteil darin besteht, dass keine Operation unter Vollnarkose erforderlich ist. Studien zufolge ist die medikamentösen Beendigung einer Schwangerschaft mithilfe der Abtreibungspille in bis zu 98 % der Fälle sicher, was aber auch daran liegt, dass sie unter europäischen Bedingungen in der Regel bis zur siebten Schwangerschaftswoche eingesetzt wird. Darüber hinaus ist es üblich, dass Frauen nach der Einnahme des Medikaments unter ärztlicher Aufsicht stehen, bevor sie in die häusliche Umgebung entlassen werden. Aufgrund ihrer Vorteile (gegenüber instrumentellen Formen der Abtreibung) finden die medikamentösen Abtreibungen immer mehr Verbreitung, obwohl auch sie nicht nahtlos sind.12 Unabhängig von der Methode der Abtreibung kann festgestellt werden, dass es sich dank der Entwicklung der modernen Technologien und der allgemeinen Fortschritte in der Medizin um ein Standardverfahren handelt, das in den meisten Fällen nicht mit größeren Gesundheitsrisiken verbunden ist, falls das auf qualifizierte Weise durchgeführt wird. Vor allem bestehen solche Probleme insbesondere in den Entwicklungsländern und -regionen. Gleichzeitig ist die künstliche Beendigung einer Schwangerschaft zu einem der am häufigsten durchgeführten Eingriffe in der Medizin geworden, wie aus den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervorgeht, nach denen jedes Jahr bis zu 73 Millionen Abtreibungen vorgenommen werden. Dazu kann man ergänzen, dass 61 % aller ungewollten Schwangerschaften mit einer Abtreibung enden. Von der Gesamtzahl der Schwangerschaften macht dies dann bis zu 29 % aus.13 In Anbetracht dieser Zahlen und der potentiellen oder realen Auswirkungen einer Abtreibung liegt es auf der Hand, dass dieser auch eine Reihe von ethischen und rechtlichen Fragen aufwirft, die im Folgenden erörtert werden.

12

Arp, Medikamentöser Schwangerschaftsabbruch: Frauen sollten die Wahl haben, Dtsch Arztebl 2013, 2422 (2423). 13 World Health Organisation, Abortion, https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/ abortion (abgefragt am 16. 7. 2023).

10

2.3

2

Der Begriff der Abtreibung

Gesetzliche Perspektive

Es ist verständlich, dass die oben begrenzten Durchführung der einzelnen Methoden der Abtreibung staatlich geregelt sein muss, wie dies auch bei anderen medizinischen Verfahren und Eingriffen der Fall ist. Mit anderen Worten: Der Staat als Souverän und Träger der öffentlichen Gewalt, dessen Existenz im Geiste des Gesellschaftsvertrags vom Willen seiner Bürger abhängt, deren Rechte er schützen muss14 , kann die Regulierung so wichtiger sozialer Beziehungen, die mit Eingriffen in die physische und psychische Integrität des Menschen verbunden sind, nicht anderen normativen Systemen überlassen. Vielmehr muss er Rechtsvorschriften erlassen, die zumindest einen Rechtsrahmen für die Durchführung dieser Verfahren setzen, auch wenn viele Fragen auch durch Stellungnahmen oder Empfehlungen von Fachinstitutionen mit unterschiedlichen Befugnissen in den betreffenden medizinischen Bereichen geregelt werden, obwohl sie auf jedem Fall mit den geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmen müssen.15 Wie es später gezeigt wird, gibt es verschiedene Rechtsmodelle, die sich vor allem darin unterscheiden, ob sie den Zugang zur Abtreibung restriktiv oder liberal konzipieren. In einigen Staaten ist die künstliche Beendigung einer Schwangerschaft (typischerweise mit ausdrücklichen Ausnahmen) verboten. Andere Staaten lassen diesen medizinischen Eingriff auch ohne besondere Gründe oder Indikationen zu. In diesem Zusammenhang legen nationale Gesetze verschiedene Bedingungen fest, die erfüllt sein müssen, damit eine konkrete Abtreibung nicht nur lege artis, sondern auch in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung des betreffenden Staates durchgeführt werden kann. In dieser Hinsicht sind danach in der Fachliteratur drei Hauptmodelle der gesetzlichen Regulierung der Abtreibung zu unterscheiden, die ermöglichen, nationale Rechtsansätze nicht nur anhand der oben genannten Polarisierung, sondern auch mithilfe der Berücksichtigung der schon erwähnten medizinischen Aspekten und der damit verbundenen Methoden zu kategorisieren.16 Das erste ist das so genannte Term-Modell. Sein Wessen besteht darin, dass der Gesetzgeber bestimmte Fristen festlegt, innerhalb derer eine Abtreibung durchgeführt werden kann. Es ist daher möglich, einen Zusammenhang mit den 14

Zu den Wert- und Denkgrundlagen des Gesellschaftsvertrags siehe: Pope, Social Contract Theory in American Jurisprudence: Too Much Liberty and Too Much Authority (2013) 3. 15 Natürlich regeln die Gesetze die einzelnen medizinischen Verfahren nicht im Detail, denn es handelt sich um eine Sache der Theorie und vor allem der Praxis des jeweiligen Fachgebiets, das sich aufgrund der Modernisierung der Gesellschaft ständig weiterentwickelt. 16 Vielmehr handelt es sich um zwei Modelle und ihre Mischform, wie in Kürze näher erläutert wird.

2.3 Gesetzliche Perspektive

11

oben definierten Methoden zu sehen, die zur medizinischen Beendigung einer Schwangerschaft verwendet werden, da sie nach dem Stadium der Schwangerschaft Anwendung finden. Einfach gesagt spielt hier der Zeitfaktor eine wichtige Rolle. Die zweite Option ist das so genannte Indikationsmodell, bei dem die Gesetzgebung eine Abtreibung nur aus genau festgelegten Gründen zulässt, die therapeutischer oder sozialer Natur sein können. Die dritte Alternative ist das so genannte Mischmodell, das als das am häufigsten verwendete Modell beschrieben werden kann. Wie die Benennung schon sagt, handelt es sich immer um eine Kombination der vorherigen Modelle. Mit anderen Worten werden die gesetzlichen Bedingungen für die Durchführung einer Abtreibung nicht nur durch konkrete Gründe, sondern auch durch entsprechende Fristen festgestellt, obwohl man nicht bezweifeln kann, dass manche von diesen Gründen (Schutz des Lebens und der Gesundheit der Mutter) ohne zeitliche Begrenzung vorkommen.17

17

ˇ Dudová, Interrupce v Ceské republice: zápas o ženská tˇela (2012) 9.

3

Abtreibung als die traditionelle Ursache der sozialen Polarisierung

Die im vorherigen Kapitel genannten Rechtsmodelle haben sich schrittweise zu ihrer heutigen Form entwickelt, und zwar im Zusammenhang mit der Entwicklung der gesellschaftlichen, politischen und folglich auch gesetzgeberischen Einstellung zur Abtreibung, deren ideologische Grundlagen eine lange Tradition haben und von einem der am längsten andauernden und immer noch eskalierenden Meinungskonflikte in der ganzen Gesellschaft begleitet werden. Der Zweck dieses Kapitels ist es, die ethischen Fragen abzugrenzen, die mit der Abtreibung verbunden sind und zu bestimmten Konflikten führen. Danach werde ich mich auf die Geschichte der Abtreibung innerhalb Europas konzentrieren, um zu zeigen, dass man die allmählichen Tendenzen zur Liberalisierung in diesem Bereich beobachten kann, obwohl es immer Bemühungen gab, sie in verschiedener Art und Weise unterzudrücken, was in manchen Staaten bis zum heutigen Tag erfolgreich ist.

3.1

Ethisches Dilemma der Abtreibung

Wenn man sich mit ethischen Themen befasst, sucht man im Wesentlichen nach Antworten auf Fragen darüber, was gut und was böse oder was richtig und was falsch ist.1 Meistens ist es jedoch nicht einfach, zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen, da jede Sache aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Mit anderen Worten: Was jemand für richtig hält, kann ein anderer aus den verschiedensten Gründen für falsch halten. Dies ist ein Ausdruck des moralischen Relativismus, der sich in gewisser Weise gegen die Akzeptanz allgemein gültiger 1

Rich, Introduction to Ethics, in Butts/Rich (Hrsg), Nursing Ethics: Across the Curriculum and Into Practice (2019) 3. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Valc, Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union, BestMasters, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43447-2_3

13

14

3

Abtreibung als die traditionelle Ursache der sozialen …

moralischer Schlussfolgerungen richtet. Obwohl wir in der heutigen Gesellschaft einen allgemein akzeptierten Konsens darüber finden, dass einige Handlungen oder Aktionen von Natur aus moralisch verwerflich sind (z. B. Mord oder sogar Völkermord), geht es eher um die bestimmten Ausnahmen, weil die Majorität von ethischen Themen ermöglicht, ganz unterschiedliche Meinungspositionen zu vertreten und sie durch widersprüchliche Argumente zu unterstützen.2 Dasselbe gilt für die Abtreibung, auch wenn sie einen besonderen Charakter hat, da sie von niemandem als grundsätzlich positiv oder wünschenswert angesehen wird. Der Grund basiert auf der Tatsache, dass die Abreibung die Beendigung der Entwicklung eines neuen menschlichen Lebens verursacht und gleichzeitig von der Entscheidung einer Frau abhängig ist, deren physische und psychische Integrität durch dieses Verfahren beeinträchtigt werden kann. Wie es später erläutert wird, wird die Abtreibung in der wissenschaftlichen Diskussion meist mit dem Recht der Frau in Verbindung gebracht, über ihren eigenen Körper und ihre Zukunft zu entscheiden, denn die Geburt des Kindes und seine Erziehung sind nicht nur mit den gesundheitlichen Risiken, sondern auch mit einer Reihe von Einschränkungen in der Sphäre des persönlichen und beruflichen Lebens verbunden. Sieht man einmal von den problematischen Aspekten der Begrenzung und Verankerung des „Rechts auf Abtreibung“ ab, muss man sich auf ethischer Ebene fragen, ob es sich in allen Fällen wirklich um eine freiwillige und informierte Entscheidung der Frau handelt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine schwangere Frau zu diesem Schritt direkt oder indirekt gezwungen wird, entweder durch eine andere Person oder durch eine schwierige persönliche oder sozioökonomische Situation.3 Natürlich können Fälle nicht ausgeschlossen werden, in denen sich eine Frau aus freiem Willen für die Abtreibung entscheidet, weil sie sich nicht in der Lage fühlt, ein Kind aufzuziehen, oder weil sie einfach keine Kinder haben möchte. Auf jedem Fall stellt die Abtreibung eine Art ethisches Dilemma dar, da sie verschiedene individuelle und öffentliche Interessen gegeneinander ausspielt. Falls ich hier bewusst das öffentliche Interesse an der Bekämpfung der steigenden Unfruchtbarkeit und der niedrigen Geburtenrate ausklammere, die typisch für die europäischen Länder sind, stehen sich das Interesse des Kindes einerseits und 2

Im Sinne einer reinen Form des moralischen Relativismus könnte man auch die moralische Verwerflichkeit beispielsweise der Sklaverei oder des schon erwähnten Völkermordes in Frage stellen, was jedoch unter den Bedingungen der modernen europäischen Gesellschaft unvorstellbar ist, denn solche Praktiken richten sich gegen die Achtung des menschlichen Lebens und der Menschenwürde als Grundlage des Menschenrechtschutzes. Siehe dazu: Valc, Právo na život a biomedicína (2020). 3 Fischer, Abortion: The Ultimate Exploitation of Women (2013) 99.

3.1 Ethisches Dilemma der Abtreibung

15

das Interesse der Mutter andererseits gegenüber.4 Einfach gesagt geht es um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen eine schwangere Frau in der Lage sein sollte, über das Leben ihres eigenen Kindes zu entscheiden. Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, dass es möglich ist, die absichtliche Beendigung des Lebens einer anderen Person ethisch zu legitimieren, nicht zuletzt in einer Situation, in der es nicht notwendig ist, um eigenes Leben zu retten. Das Problem liegt daran, dass es keinen Konsensus darüber gibt, ob Embryo oder Fötus nicht nur als menschliches Wesen, sondern auch als Person und Rechtsträger betrachtet werden muss, deren Leben trotz der Frauenwünsche geschützt werden kann oder vielmehr muss.5 Obwohl diese Frage rein rechtlich erscheinen mag, hat sie nicht nur ethische, sondern auch philosophische Grundlagen. Dabei geht es um die Beurteilung des moralischen Status des ungeborenen Kindes. In diesem Kontext können wir auf zwei grundlegende Ansätze stoßen, die einerseits den Animalismus und andererseits den Funktionalismus umfassen. Was die Vertreter des Animalismus betrifft, der ontologischer Natur ist, argumentieren sie damit, dass es keine Rolle spielt, in welcher Entwicklungsphase sich das ungeborene Kind befindet. Im Prinzip vertreten sie die Ansicht, dass man von der Empfängnis bis zum Tod das gleiche Individuum ist. Mit anderen Worten kann man über die persönliche Identität sprechen, weil es sich immer um ein konkretes menschliches Lebewesen handelt.6 Jeder war einmal eine Zygote, ein Embryo oder ein Fötus, bevor er zu einer geborenen und heranwachsenden Person wurde. Es geht um die natürliche 4

Ich schreibe hier bewusst über individuelle Interessen, obwohl es rechtlich gesehen einen Konflikt zwischen den Menschenrechten geben wird, der in den folgenden Kapiteln behandelt wird. Gleichzeitig sollte das Interesse des Vaters nicht übersehen werden, der je nach den Umständen entweder ein Interesse an der Abtreibung oder an der Fortführung der Schwangerschaft haben kann. Von einem „Mitbestimmungsrecht“ kann in seinem Fall jedoch keine Rede sein, wie auch der EGMR in der Vergangenheit bestätigt hat. Siehe dazu: EGMR 5. 9. 2002, 50490/99, Boso/Italy. 5 Obwohl manche Unterstützer der Abtreibung bestreiten, dass Embryo oder Fötus ein menschliches Wesen ist, können solche Ansichten durch Verweis auf die modernen Erkenntnisse im Bereich der Embryologie widerlegt werden, da bereits bewiesen ist, dass bei der Empfängnis ein neuer (autonomer) Organismus mit 46 Chromosomen entsteht, der eine einzigartige Kombination von menschlichen DNA trägt, die seine weitere Entwicklung vorbestimmt. Es besteht danach kein Zweifel daran, dass es sich um einen Menschen oder ein Mitglied der menschlichen Spezies handelt. Ob dieser Organismus auch eine Person im moralischen Sinne ist, ist umstritten, wobei auch das genetische Argument eine wichtige Rolle spielen kann. Siehe dazu: Dawson, Fertilisation and moral status: a scientific perspective, J Med Ethics 1987, 173. 6 Lee/George, The Wrong of Abortion, in Cohen/Wellman (Hrsg), Contemporary Debates in Applied Ethics (2005) 14.

16

3

Abtreibung als die traditionelle Ursache der sozialen …

und biologisch bedingte zeitliche Entwicklung jedes Menschen, die von Anfang an im einzigartigen Genom verankert ist. In diesem Sinne gibt es keinen legitimen Grund, zwischen den Begriffen „menschliches Lebewesen“ und „Person“ zu unterscheiden, da sich die beiden Begriffe auf das gleiche Individuum beziehen. Es ist danach nicht zwingend, dass ein Mensch in den einzelnen Stadien der pränatalen Entwicklung noch nicht alle psychischen oder sonstigen menschlichen Eigenschaften besitzt, da diese im Gegensatz zu Tieren und anderen Organismen auf der Ebene der aktiven Potenz gegeben sind und sich auf natürliche Weise Schritt für Schritt entwickeln werden.7 Im Gegensatz zum ontologischen Verständnis der „Person“ steht der Funktionalismus, der den moralischen Status mit dem unmittelbaren Vorhandensein bestimmter menschlicher Eigenschaften in Verbindung bringt. Aus traditioneller Sicht wird hier vor allem auf die Ideen von John Locke verwiesen, der ebenfalls nach dem Prinzip des Dualismus zwischen dem Menschen im biologischen Sinne und der Person unterschied. Nach seiner Meinung muss jede Person rational sein und über die Fähigkeit der Selbstreflexion und der Selbstsorge verfügen.8 Gegenwärtig wird diese Anforderung eher mit der wissenschaftlich beobachteten Entwicklung des Gehirns und des zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht, da sie alle kognitiven Verfahren ermöglichen. Abgesehen davon werden auch andere Argumente angeführt, um zu bestimmen, wann man ein Individuum und eine Person wird.9 Einige Autoren gehen davon aus, dass der Zeitpunkt der Nidation, also der Einnistung der Eizelle in der Gebärmutter, entscheidend ist. Nach anderen Autoren zufolge spielt der 14. Tag nach der Empfängnis eine wichtige Rolle, weil zu diesem Zeitpunkt die spontane Bildung eineiiger Zwillinge nicht mehr möglich ist (Voraussetzung der Unteilbarkeit des Individuums). Darüber hinaus wird der moralische Status vor der Geburt mit dem Zeitpunkt in Verbindung gebracht, an dem die Bewegung des Fötus beobachtet werden kann oder an dem er bereits in der Lage ist, außerhalb des Körpers der Mutter zu überleben (Lebensfähigkeit). Dies sind nur einige der vielen Argumente, die verwendet werden, um den moralischen Status des ungeborenen Kindes in Frage

7

Tooley, Abortion and Infanticide Philosophy and Public Affairs 1972, 37 (55). Rovane, Racionality and Persons, in Mele/Rawling (Hrsg), The Oxford Handbook of Racionality (2004) 329. 9 In diesem Sinne ist nur eine Person, die bestimmte Kriterien erfüllt, Träger des Rechts auf Leben bzw. des Rechts, nicht getötet zu werden, wofür die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung nicht ausreicht. Siehe dazu: Kaczor, The ethics of abortion: woman´s rights, human life, and the question of justice (2011) 14. 8

3.2 Geschichtlicher Hintergrund

17

zu stellen.10 Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Entwicklung eines ungeborenen menschlichen Lebens als einen eher sprunghaften Prozess betrachten, der in den einzelnen Phasen abläuft. Der Unterschied liegt dann darin, welcher dieser Phasen eine konstitutive Bedeutung zugeschrieben wird, ohne dabei die Tatsache zu berücksichtigen, dass ihre Erreichung genetisch bedingt, d. h. im Sinne einer aktiven Potenz gegeben ist. In seiner extremen Form wird nicht nur der moralische Status des ungeborenen Kindes im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft, sondern sogar der moralische Status des Neugeborenen nach diesem Prinzip in Frage gestellt.11

3.2

Geschichtlicher Hintergrund

Das Nachdenken über den Beginn des menschlichen Lebens und die moralische (Un-) Zulässigkeit einer Abtreibung sind so alt wie die Menschheit selbst. Schon vor zweitausend Jahren beschäftigten sich Menschen mit der Frage, ob und wie eine Schwangerschaft beendet werden kann. Dies wird durch schriftliche Hinweise in Gesetzen und anderen Texten aus der Zeit des alten Ägyptens und östlicher Kulturen belegt. Auch im antiken Griechenland spielte die Abtreibung eine wichtige Rolle. Es handelte sich um eine Methode zur Kontrolle der Geburtenrate, wobei das Ziel darin bestand, die angemessene Größe des Staates bzw. der Zivilgesellschaft (Polis) aufrechtzuerhalten.12 Die Durchführung von Abtreibungen spiegelte sich daher auch in den Gedanken bedeutender Denker wider, einschließlich Platon oder Aristoteles. Grundsätzlich kann es davon ausgegangen werden, dass ein Mensch nicht seit seiner Empfängnis als Träger des moralischen Status und des Lebensrechts gilt. In dieser Richtung können wir uns auf 10

Zu den einzelnen und weiteren Argumenten siehe auch: Boonin, A defence of abortion (2003) 91. 11 In diesem Zusammenhang kann man zum Beispiel auf die Meinungen vom Bioethiker Peter Singer verweisen, der sogar so weit geht, dass er den menschlichen Fötus nicht für wertvoller als andere Tierarten auf dem gleichen intellektuellen Niveau hält. Ihm zufolge reicht es nicht aus, zur menschlichen Spezies zu gehören (sog. Speziesismus), sondern man muss in dem bestimmten Moment über Rationalität, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit verfügen, Schmerz zu empfinden. Unter bestimmten Voraussetzungen hält er auch die Tötung eines betroffenen Neugeborenen nicht für ungerechtfertigt. Siehe dazu: Singer, Practical Ethics (1993) 151. 12 Filip, Ein Recht auf Leben? Philosophische Positionen in Bezug auf die derzeitige Rechtslage des Schwangerschaftsabbruchs, in Filip/Salamon/Rüdiger/Meißner/Oppermann (Hrsg), Schwangerschaftsabbruch und Abtreibung: Eine Kontroverse zwischen Kirche und Gesellschaft (2013) 9.

18

3

Abtreibung als die traditionelle Ursache der sozialen …

die Ideen des Aristoteles beziehen, der die vegetative, sensible und rationale Seele unterschied. Die vegetative Seele ist mit der Existenz jedes lebenden Organismus verbunden, weil sie ermöglicht, die Nahrung zu erhalten, sich zu entwickeln und sich fortzupflanzen. Davon abzugrenzen ist die sensible Seele, denn sie verfügt bereits über eine instinktive Basis und drückt vor allem die Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit aus. Das Letzte und Entscheidende ist jedoch die rationale Seele, denn sie unterscheidet den Menschen nicht nur von Pflanzen, sondern auch von Tieren. Das ungeborene Kind galt damals nicht als Träger einer vernünftigen Seele, weshalb ihm nicht einmal der Status einer Person zuerkannt werden konnte, deren Tötung moralisch unzulässig wäre.13 Auch im antiken Rom waren Abtreibungen vor allem in den niedrigen sozialen Schichten der Bevölkerung weit verbreitet. Das ungeborene Kind galt als Teil des Körpers der Frau, die bei der Entscheidung über die Fortsetzung der Schwangerschaft häufig nicht nur den Einfluss auf die Möglichkeit einer künftigen Ehe, sondern auch die unzureichenden Mittel für den Lebensunterhalt des Kindes berücksichtigte. Obwohl eine Frau später bestraft werden kann, falls sie ihre Schwangerschaft absichtlich beendet hat, ging es nicht um den Schutz des ungeborenen Kindes, sondern um die Berücksichtigung der Tatsache, dass sie den Interessen ihres Mannes schadete. Wegen der Abtreibung konnte er nämlich nicht Vater seines eigenen Kindes werden.14 Es scheint, dass sich im mittelalterlichen Europa im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Christentums und der damit verbundenen Autorität der katholischen Kirche ein grundlegender Wandel in der Einstellung zum Schutz des menschlichen Lebens vor der Geburt vollzogen hat. Es muss jedoch betont werden, dass einige prominente Vertreter der katholischen Kirche den Zeitpunkt der Empfängnis nicht als den Ursprung des Menschen als Träger eines moralischen Status betrachteten. Konkret kann man die Meinungen von Thomas von Aquin hervorheben, der in Anlehnung an die Seelenlehre des Aristoteles die These der so genannten verzögerten Animation (Beseelung) vertrat.15 Mit anderen Worten hat Thomas von Aquin darin vertraut, dass die rationale Seele von Gott kommt und nur in einen organisierten menschlichen Körper hinabsteigen kann, den der Mensch zu Beginn seiner vorgeburtlichen Entwicklung nicht besitzt.16 13

Ackrill, Aristoteles (1985) 86. Filip, Ein Recht auf Leben 9. 15 Richter, Der Beginn des Menschenlebens bei Thomas von Aquin (2008) 16. 16 Theoretisch gesehen handelt es sich um die so genannte Sukzessivanimation, was bedeutet, dass der Mensch im Laufe seiner allmählichen (biologischen) Entwicklung zunächst die vegetative Seele, dann die sensible Seele und schließlich die rationale Seele erwirbt, die ihn 14

3.2 Geschichtlicher Hintergrund

19

Allerdings ist die Lehre des Thomas von Aquin nicht mit der Position der katholischen Kirche gleichzusetzen. Schon im Jahr 1588 hat der Papst Sixtus V die Abtreibung als Mord bezeichnet, der mit dem Ausschluss aus der Kirche bestraft wurde. Obwohl dieser restriktive Ansatz kurz darauf für mehrere hundert Jahre gelockert wurde, verurteilte die katholische Kirche die absichtlichen Abtreibungen in der Folge erneut strikt. Es hängt auch damit zusammen, dass der Papst Pius IX. im Jahr 1869 das menschliche Leben vom Augenblick der Empfängnis an für heilig erklärte, was die Theorie von Aquin bezweifelt hat, die auf einer verzögerten Beseelung durch das Eingreifen Gottes beruhte.17 Man kann danach sagen, dass es sich seitdem um eine konstante Meinungsposition der katholischen Kirche handelt. Ein Beweis dafür ist auch ein wichtiges Dokument namens Donum vitae aus dem Jahr 1987, das die Anweisungen zur Achtung des menschlichen Lebens bei der Geburt und der Würde der Fortpflanzung zum Ausdruck bringt. Obwohl sich das vorliegende theologische Dokument im Hinblick auf den Zeitpunkt seiner Verabschiedung nicht nur auf die Frage der Abtreibung bezieht, sondern auch auf die Entwicklung moderner biomedizinischer Technologien, die es bereits ermöglichen, menschliches Leben künstlich zu schaffen und aktiv zu beeinflussen, äußert es die eindeutige Meinung, dass der Mensch als Geschöpf Gottes zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz, also auch vor der Geburt, Schutz verdient.18 Angesichts der starken Stellung der katholischen Kirche in Europa wurde die Abtreibung lange Zeit verboten und bestraft. Obwohl die Position der katholischen Kirche durch die Aufklärung im 17. Jahrhundert zugunsten der Vorstellung vom Menschen als rationalem Wesen und nicht als Produkt des Willens Gottes geschwächt wurde, war dies kein grundlegender Impuls für die Liberalisierung der Abtreibung. Abgesehen davon, dass die weitere Entwicklung in den einzelnen Staaten gewissermaßen autonom verlief, kann die Wende zur Liberalisierung der gesetzlichen Regulierung der Abtreibung vor allem mit der schrittweisen Förderung politischer und anderer Frauenrechte in Verbindung gebracht werden, was zu einem Menschen und einer Person im moralischen Sinne macht. Darin unterscheidet sich dieser Ansatz von der so genannten Simultananimation, die die volle Beseelung und die Entstehung eines menschlichen Individuums mit dem moralischen Status mit der Empfängnis verbindet. Siehe dazu: Richter, Der Beginn des Menschenlebens 37. 17 Hovey, Abortion: a history, Plan Parent Rev 1985, 18. 18 Congregation for the doctrine oft he faith, Instruction Donum Vitae of the Congregation for the Doctrine of the Faith on Respect for Nascent Human Life and the Dignity of Procreation. Replies to Certain Questions oft he Day, https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19870222_respect-for-human-life_en.html (abgefragt am 28. 7. 2023).

20

3

Abtreibung als die traditionelle Ursache der sozialen …

mit den Bemühungen für ihre Gleichberechtigung in der Gesellschaft verbunden war. Im Allgemeinen kann man daher von einer schrittweisen Liberalisierung der Abtreibung seit der ersten und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sprechen, und zwar in Bezug auf die autonome politische und gesellschaftliche Situation in einzelnen Staaten.19 Dies bedeutet natürlich nicht, dass die ethisch-rechtliche Debatte über die Abtreibung endgültig beendet ist, da in einigen Staaten immer noch Gesetzesänderungen stattfinden, egal, ob sie auf einer Volksabstimmung, auf der Entscheidung der aktuellen politischen Vertretung oder sogar auf der Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichtes basieren.20

3.3

Pro-Life v. Pro-Choice

Wie bereits erläutert, gibt es in der fachlichen Debatte über den moralischen Status des ungeborenen Kindes eine Reihe unterschiedlicher Ansätze und Argumente, die sich unter anderem in der Frage niederschlagen, ob die Abtreibung als moralisch zulässig angesehen wird oder nicht. Aus historischer Sicht ist es also klar, dass sich die Methoden der Abtreibung im Laufe der Zeit entwickelt und verändert haben, von körperlicher Anstrengung über gewaltsame Praktiken bis hin zur Verwendung verschiedener Kräuter, die die Schwangerschaft beenden und den Fötus austreiben sollen. Was die moralischen Positionen betrifft, so haben sich diese im Laufe der Zeit je nach den gesellschaftlichen Verhältnissen auf unterschiedliche Weise verändert. Die metaphysischen Argumente, die sich auf die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens als Gabe Gottes bezogen, wurden teilweise durch Argumente mit wissenschaftlicher Grundlage ersetzt. Es hängt nicht nur mit der allgemeinen Schwächung der Macht und Autorität der Kirche, sondern auch mit dem Aufkommen neuer Ideologien und schließlich mit der Entwicklung moderner Technologien, die es bereits ermöglichen, die biologische Entwicklung des Menschen während der vorgeburtlichen Zeit zu untersuchen. Dies hat jedoch die Argumente in der Abtreibungsdebatte nur verändert oder vielmehr erweitert. Nach wie vor stehen sich zwei Hauptmeinungsströmungen 19

Peterson, From Commonplace to Controversial: The Different Histories of Abortion in Europe and the United States, https://origins.osu.edu/article/commonplace-controversial-dif ferent-histories-abortion-europe-and-united-states?language_content_entity=en (abgefragt am 28. 7. 2023). 20 Dies bezieht sich insbesondere auf die vor kurzem erfolgte Liberalisierung der irischen Gesetzgebung durch ein Referendum (2018) und umgekehrt auf die Verschärfung der bereits restriktiven Gesetzgebung in Polen durch die Entscheidung des dortigen Verfassungsgerichts (2020), was noch später beschrieben wird.

3.3 Pro-Life v. Pro-Choice

21

gegenüber, die in der Regel unterschiedliche Auffassungen darüber vertreten, ob sie die Abtreibung für moralisch zulässig halten oder nicht. Die eine hält die Abtreibung für inakzeptabel, die andere für legitim, wenn auch im Sinne eines notwendigen Übels.21 Im Laufe der Zeit haben sich für diese Meinungsströmungen die allgemeinen Bezeichnungen „Pro-Life“ und „Pro-Choice“ eingebürgert, obwohl sie in der Praxis eher zur Beschreibung extremer Meinungspositionen oder gesellschaftlicher Bewegungen verwendet werden, die ihre Ansichten zur Abtreibung auch auf aggressive und militante Weise vertreten. Wenn ich mich zunächst auf die ProLife-Bewegung konzentriere, so geht aus ihrem Namen hervor, dass sie für den Schutz des menschlichen Lebens ab dem Zeitpunkt der Empfängnis eintritt. Im Wesentlichen argumentieren die Befürworter dieser Meinungsposition, dass die Abtreibung als Tötung oder Mord an unschuldigem menschlichem Leben verstanden werden sollte.22 In seiner extremen Form wird daher jede Abtreibung, auch wenn er dem Schutz des Lebens und der Gesundheit der Mutter dient oder wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung war, als ethisch problematisch angesehen. Die Kritik der Pro-Life-Bewegung konzentriert sich jedoch logischerweise in erster Linie auf die Durchführung einer Abtreibung aus privaten Gründen (anhand eines Antrages), die in den meisten Ländern mit einer liberalen Gesetzgebung im ersten Trimester vorgenommen werden kann. Obwohl diese Bewegung überall auf der Welt Anhänger hat, was mit der Tätigkeit verschiedener Organisationen und Bürgervereinigungen auf nationaler Ebene zusammenhängt, ist sie seit langem am deutlichsten in den Vereinigten Staaten von Amerika sichtbar.23 Hier können wir sogar auf solche Meinungsäußerungen stoßen, die nicht 21

Daher stößt man manchmal auch auf Ablehnung der genannten Etiketten, da diese irreführend sein können. Befürworter von Pro-Choice bestreiten oft ausdrücklich, dass sie „AntiLife“ sind, was die gegenteilige Bezeichnung „Pro-Life“ hervorrufen könnte. Trotzdem anwenden sie das Etikett „Anti-Choice“, um die Abtreibungsgegner zu bezeichnen. Siehe dazu: Alvarez Manninem, Pro-Life, Pro-Choice: Shared Values in the Abortion Debate (2014) 9. 22 Beckwith, Defending Life: A Moral and Legal Case Against Abortion Choice (2007) 57. 23 Obwohl dieser Meinungskonflikt seit langem besteht, wurde er kürzlich durch das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA 24. 6. 2022, 19–1392, 597 U.S., Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization, verschärft, in dem die Verankerung des „Rechts auf Abtreibung“ in der US-Verfassung angefochten wurde. Dadurch wurden die vorherigen Rechtsmeinungen des Obersten Gerichtshofs der USA überwunden, die vor allem im seinem Urteil 22. 1. 1973, 410 U.S. 113 (1973), Roe/Wade, und seinem Urteil 29. 6. 1992, 505 U.S. 833 (1992), Planned Parenthood/Casey, ausgesprochen wurden. Damit fiel die Zuständigkeit für die Regulierung des Zuganges zur Abtreibung wieder in die Hände der einzelnen USBundesstaaten, d. h. ohne klare Garantie auf Bundesebene.

22

3

Abtreibung als die traditionelle Ursache der sozialen …

nur in Demonstrationen und Kampagnen mithilfe von Plakaten mit abgetriebenen Föten usw. bestehen, sondern auch darin, Gesundheitspersonal anzugreifen oder sogar Kliniken anzuzünden, in denen Abtreibungen durchgeführt werden.24 Als Gegner der oben genannten Meinungsposition kann man danach die ProChoice-Bewegung betrachten. Der Kern dieses Ansatzes besteht darin, das Recht der Frau zu bekräftigen, über ihren eigenen Körper zu entscheiden.25 Mit anderen Worten: Nach Ansicht der Vertreter der Pro-Choice-Bewegung sollte jede schwangere Frau das Recht auf eine legale und sichere Abtreibung haben, um über ihr Privat- und Familienleben zu entscheiden, was auch mit der Frage der Sexualität und Reproduktion verbunden ist.26 Da die Abtreibung in dieser Sichtweise nicht auf notwendige Fälle zur Rettung des Lebens oder der Gesundheit der Mutter beschränkt wird, sondern unabhängig von den konkreten Gründen erlaubt werden sollte, ist es logisch, dass die Auffassung über den moralischen Status des Embryos und des Fötus ganz unterschiedlich ist als im Fall der Pro-LifeSympathisanten. Der freie Wille der Frau wird hier also als wichtiger erachtet als der Schutz einer potenziellen menschlichen Person, deren Überleben während der Schwangerschaft vom Körper der Mutter abhängt und ihr Leben grundlegend beeinflusst. Die einzelnen Organisationen, die zur Pro-Choice-Bewegung gehören27 , konzentrieren sich danach nicht nur auf die Förderung und allgemeine 24

Es ist jedoch angebracht hinzuzufügen, dass die Anwendung einiger dieser Gewaltpraktiken nicht ohne weiteres als offizielle oder allgemein anerkannte Art und Weise angesehen werden kann, die Ansichten der jeweiligen Bewegung und der mit ihr verbundenen Organisationen zum Ausdruck zu bringen. Bei den Plakaten mit Darstellungen abgetriebener Föten sollte es danach nicht darum gehen, negative Emotionen hervorzurufen, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass das jeweilige Thema an sich tragisch und emotional ist. Siehe dazu: Alcorn, Pro Life Answers to Pro Choice Arguments (1992) 185. 25 Ich schreibe bewusst über das „Recht, über den eigenen Körper zu entscheiden“, weil es eine weit verbreitete These ist, obwohl sie nicht den modernen Erkenntnissen im Bereich der Embryogenese entspricht. Unabhängig davon, ob man den Embryo oder Fötus als Person betrachtet oder nicht, ist er zweifellos ein autonomer menschlicher Organismus, der genetisch oder biologisch nicht mit dem Körper der Mutter verwechselt werden kann. Es geht eher darum, dass jede Frau das Recht haben sollte, zu entscheiden, ob sie ihren Körper für das Kind opfern will oder nicht. 26 Green, Abortion: A Continuing Debate (2018) 13. 27 Als die prominenteste Gruppe dieser Bewegung kann Planned Parenthood angesehen werden.

3.3 Pro-Life v. Pro-Choice

23

Unterstützung von schwangeren Frauen, sondern auch auf die tatsächliche Verfügbarkeit von Abtreibungen im Zusammenhang mit der Ausweitung des Netzes von Kliniken, in denen diese medizinischen Interventionen trotz der negativen Reaktionen eines Teils der Zivilgesellschaft und sogar physischer Angriffe auf das medizinische Personal durchgeführt werden.28

28

Stevenson, My Body My Choice: The Fight for Abortion Rights (2019).

4

Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

Das ethische Dilemma der Abtreibung spiegelt sich auch im Bereich des gültigen Rechts und des institutionellen Menschenrechtschutzes wider. Vor allem stellt sich die Frage, ob es das „Recht auf Abtreibung“ überhaupt gibt, wenn es nicht ausdrücklich in einem verbindlichen internationalen Vertrag verankert ist. Um dieses Problem zu klären, muss man nicht nur die Kategorie der sexuellen und reproduktiven Rechte berücksichtigen, sondern auch den Geltungsbereich anderer Grundrechte zu erforschen, die durch die Verweigerung des Zugangs zur legalen und sicheren Abtreibung verletzt werden können. Dennoch ist zu bedenken, dass neben den Rechten der Frau auch das widerstreitende Interesse am Schutz des Lebens des ungeborenen Kindes nicht außer Acht gelassen werden darf. Hier stellt sich schon die schwierige Frage nach dem nicht nur moralischen, sondern auch rechtlichen Status von Embryo und Fötus. Um diese Frage zu beantworten, muss man sich sowohl mit den einschlägigen Menschenrechtsdokumenten auf internationaler Ebene als auch mit der Rechtsprechung des EGMR befassen, der sich zum Rechtsstatus des ungeborenen Kindes teilweise geäußert hat. In ähnlicher Weise hat er sich mit der Frage befasst, ob und unter welchen Bedingungen die einzelnen Mitgliedstaaten des Europarates den Zugang zur legalen Abtreibung garantieren müssen.

4.1

Gibt es das „Recht auf Abtreibung“?

Man kann nach dem „Recht auf Abtreibung“ in den verbildlichen völkerrechtlichen Verträgen eine lange Zeit suchen, ohne die Möglichkeit zu haben, seine ausdrückliche Verankerung oder Begrenzung zu finden. Mit anderen Worten gibt es keine einheitliche Feststellung, unter welchen Bedingungen jede Frau die © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Valc, Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union, BestMasters, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43447-2_4

25

26

4

Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

gesetzliche Möglichkeit haben muss, sich mithilfe dieses medizinischen Eingriffes zu entscheiden, ob sie die Schwangerschaft fortsetzen möchte oder nicht. Aus diesem Grund wird das „Recht auf Abtreibung“ als ein Bestandteil einer breiteren Kategorie der sexuellen und reproduktiven Rechte betrachtet, deren Definition unter anderem im Rahmen entsprechender internationaler Konferenzen umfassend vorgenommen wurde, einschließlich der Charta der sexuellen und reproduktiven Rechte (1995)1 , die als Ergebnis dieser internationalen Konferenzen verfasst und veröffentlicht wurde.2 Im allgemeinen Sinne umfassen die sexuellen und reproduktiven Rechte sowohl das Recht, über den Zeitpunkt und die Anzahl der Geburten der eigenen Kinder zu entscheiden, als auch das Recht auf den Zugang zu Gesundheitsdiensten, angemessenen Informationen und Ressourcen oder Behandlungen, und zwar auf dem Niveau, das dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht. Darüber hinaus kann man die sexuellen und reproduktiven Rechte auch mit der allgemeinen Freiheit verbinden, über eigene Sexualität zu entscheiden und sie im (in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Anforderungen) auszudrücken. Konkret gesagt sollte es garantiert werden, dass jede Person über das Recht verfügen sollte, es zu entscheiden, mit wem sie den Geschlechtsverkehrt haben wird, egal, ob sie beabsichtigt, sich dadurch zu reproduzieren oder nicht. Es hängt sowohl mit der möglichen Durchführung der Abtreibung als auch mit der Verwendung der zugänglichen Empfängnisverhütungsmittel zusammen, die nur präventiv wirken, weil sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit vermeiden, schwanger zu werden.3 Auf jeden Fall muss es noch einmal wiederholt werden, dass die sexuellen und reproduktiven Rechte in ihrer Gesamtheit nicht verbindlich verankert sind. Darum muss man ihren Schutz von ihren einzelnen und

1

International Planned Parenthood Federation, The IPPF Charter on Sexual and Reproductive Rights, https://www.ippf.org/sites/default/files/ippf_charter_on_sexual_and_reprod uctive_rights_guidlines.pdf (abgefragt am 5. 8. 2023). 2 Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang die Internationale Konferenz der Vereinten Nationen über Bevölkerung und Entwicklung in Kairo (1994), die zu einer entsprechenden Erklärung und einem Aktionsplan über die sexuellen und reproduktiven Rechte führte, gefolgt von dem Internationalen Kongress in Peking (1995). Dies waren jedoch nicht die ersten Konferenzen, die sich mit Bevölkerungsfragen und verwandten Themen befassten. Siehe dazu: Halfon, The Cairo Consensus: Demographic Surveys, Woman´s Empowerment, and Regime Change in Population Policy (2007) 33. 3 Eine besondere Kategorie sind Medikamente, die innerhalb weniger Tage nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen werden, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern (z. B. Postinor).

4.1 Gibt es das „Recht auf Abtreibung“?

27

schon oben bemerkten Aspekten ableiten, die durch den Schutz der allgemein anerkannten Menschenrechte berücksichtigt werden.4 Konzentriert man sich zunächst auf den bereits angedeuteten Schutz der Willensautonomie im Bereich der menschlichen Fortpflanzung, spielt eine wichtige Rolle Art 16 Abs 1 lit e) UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (weiter auch bezeichnet als „Frauenrechtskonvention“), der lautet: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau in Ehe- und Familienfragen und gewährleisten auf der Grundlage der Gleichberechtigung von Mann und Frau insbesondere folgende Rechte: gleiches Recht auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über Anzahl und Altersunterschied ihrer Kinder sowie auf Zugang zu den zur Ausübung dieser Rechte erforderlichen Informationen, Bildungseinrichtungen und Mitteln.“ Anhand dieses Artikels sind die Vertragsstaaten unter anderem verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Frauen eine verantwortungsbewusste Entscheidung treffen können, wann und wie oft sie Mutter im biologischen Sinne werden. Die Frage ist, ob man davon das „Recht auf Abtreibung“ ableiten kann, weil der Akt der natürlichen Empfängnis eines Kindes normalerweise das Ergebnis eines freiwilligen Geschlechtsverkehrs ist. Mit anderen Worten ist es möglich zu argumentieren, dass die Art und Weise, ein Sexualleben frei zu führen, ist an sich eine Möglichkeit, über das eigene Fortpflanzungsleben zu entscheiden, einschließlich der Verfügbarkeit verschiedener Empfängnisverhütungsmittel oder anderer Formen der Verhinderung der Empfängnis eines Kindes.5 Die obige Auslegung des Art 16 Abs 1 lit e) der Frauenrechtskonvention wird aber nicht vom Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung gegen Frauen unterstützt, der sich in seiner Allgemeinen Empfehlung No. 35 so ausgedrückt hat, dass unter anderem die erzwungene Schwangerschaft und ihre Fortsetzung, die erzwungene Abtreibung, die Kriminalisierung der Abtreibung, die Verweigerung oder Verzögerung des Zugangs zu einer sicheren Abtreibung oder zur Nachsorge nach diesem medizinischen Eingriff, als eine Art der Verletzung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte von Frauen betrachtet werden muss. Mit anderen Worten handelt es in solchen Fällen um eine Form der geschlechtsspezifischen Gewalt, die unter bestimmten Bedingungen gegen das absolute Verbot grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung

4 5

Valc, Právo na život. Valc, Právo na život.

28

4

Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

verstoßen kann.6 Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der Inhalt und der Zweck der fraglichen UN-Konvention ausschließlich auf den Rechtsschutz von Frauen ausgerichtet sind, ohne kollidierende Rechte oder öffentliche Interessen zu berücksichtigen. Das Gleiche gilt für die Empfehlung des Ausschusses, der naturgemäß auch die sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen, einschließlich des Zugangs zu einer sicheren Abtreibung, fördert, obwohl sie unter bestimmten Bedingungen auch beschränkt werden können.7 Darüber hinaus darf es nicht vergessen werden, dass die Frauenrechtskonvention zwar für die Vertragsparteien rechtsverbindlich ist, aber von einer Einzelperson auf internationaler Ebene nicht direkt geltend gemacht werden kann. Aus diesem Grund lässt sich das „Recht auf Abtreibung“ eher aus anderen Menschenrechten ableiten, die direkt im Völkerrecht verankert sind und mit dem Zugang zu einer rechtzeitigen und sicheren Abtreibung verbunden sind. Vor allem geht es um das Recht auf Leben, das unter anderem im Art 6 Abs 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (weiter auch bezeichnet als „Zivilpakt“), im Art 2 Abs 1 der Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (weiter auch bezeichnet als „EMRK“) oder im Art 2 Abs 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (weiter auch bezeichnet als „EU-Grundrechtecharta“) verankert ist. Falls eine Schwangerschaft mit irgendwelchen Komplikationen oder Risiken zusammenhängt, muss man auch das Recht auf Gesundheitsschutz im Sinne des Zuganges zur Gesundheitsvorsorge und zur ärztlichen Versorgung nach dem Art 35 der EU-Grundrechtecharta berücksichtigen.8 Gleichzeitig spielt eine wichtige 6

Committee on the Elimination of Discrimination against Women, General recommendation No. 35 on gender-based violence against women, updating general recommendation No. 19, https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N17/231/54/PDF/N17 23154.pdf?OpenElement (abgefragt am 5. 8. 2023). 7 Die Menschenrechte können im Allgemeinen nicht als absolut angesehen werden, d. h. ohne die Möglichkeit von Einschränkungen zugunsten anderer Rechte oder öffentlicher Interessen, mit Ausnahmen, die ausdrücklich in internationalen Verträgen vorgesehen sind oder durch die Rechtsprechung festgelegt wurden. Zu diesen Ausnahmen gehören in der Regel das Verbot von Freiheitsentzug wegen Schulden (Protokoll Nr. 4 zur EMRK) oder das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Art 3 der EMRK) Siehe dazu: Council of Europe, Guide on Article 3 of the European Convention on Human Rights – Prohibition of torture, https://www.echr.coe.int/Documents/Guide_Art_ 3_ENG.pdf (abgefragt am 5. 8. 2023). 8 Die allgemeinen Standards der medizinischen Versorgung werden danach auch in den entsprechenden Bestimmungen des Übereinkommens zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin verankert.

4.1 Gibt es das „Recht auf Abtreibung“?

29

Rolle der Art 12 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, weil er in Bezug auf dieses Recht erfordert, dass die Vertragsstaaten auch die Maßnahmen zur Verringerung der Abtreibung ergreifen. Tatsächlich kann die Abtreibung oft die einzige Lösung für gesundheitliche Komplikationen während der Schwangerschaft sein. Auf der anderen Seite geht es auch um einen invasiven medizinischen Eingriff, der vor allem im späteren Verlauf der Schwangerschaft ein Gesundheitsrisiko darstellen kann. Dies bestätigt die zuvor aufgestellte These, dass die Abtreibung nicht generell als wünschenswert angesehen werden kann, unabhängig davon, welche Meinungsposition man vertritt. Das „Recht auf Abtreibung“ wird jedoch vor allem im Zusammenhang mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 17 des Zivilpaktes, Art 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union oder Art 8 Abs 1 EMRK, diskutiert, das auch im Bereich der sexuellen und reproduktiven Autonomie des Einzelnen zu den am meisten diskutierten Menschenrechten gehört. In der Regel handelt es sich dabei um die sogenannte „Abtreibung auf Antrag“ oder aus sozialen oder wirtschaftlichen Gründen, d. h. in Situationen, in denen die intentionelle Beendigung einer Schwangerschaft nicht mit einer unmittelbaren Bedrohung für das Leben oder für die Gesundheit der Frau verbunden ist. Wie in den folgenden Unterkapiteln näher erläutert wird, ist es die Definition des Rechts einer Frau auf Schutz ihres Privat- und Familienlebens durch die Abtreibung, die die meisten rechtlichen Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der Lösung einer Kollision dieses Rechts mit einem anderem Menschenrecht oder mit einem öffentlichen Interesse aufwirft, was übrigens der Art 8 Abs 2 EMRK voraussagt.9 Im europäischen Rechtskontext müssen das „Recht auf Abtreibung“ und sein Umfang daher aus der Auslegung anderer (ausdrücklich verankerter) Menschenrechte abgeleitet werden, was hauptsächlich auf der Grundlage von Einzelfällen geschieht, die vom EGMR behandelt werden. Obwohl in der Europäischen Union die Tendenzen zu beobachten sind, das „Recht auf Abtreibung“ ausdrücklich und eigenständig in der EU-Grundrechtecharta zu verankern, sind sie bisher auch nicht verwirklicht worden.10 9

Konkret wird in Art 8 Abs 2 EMRK festgestellt: „Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ 10 European Parliament, Include the right to abortion in EU Charter of Fundamental Rights, demand MEPs, https://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20220701IPR34349/ include-the-right-to-abortion-in-eu-charter-of-fundamental-rights-demand-meps (abgefragt

30

4.2

4

Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

Die Rechte der Frau vs. der Rechtschutz ihres Kindes

Während der Schwangerschaft entsteht eine einzigartige biologische Beziehung zwischen einer Frau und ihrem ungeborenen Kind, da man im wahrsten Sinne des Wortes von zwei Menschen sprechen kann, die eine zeitlich begrenzte Dualität in Einheit schaffen. Aus diesem Grund können allgemeine ethische oder rechtliche Erwägungen hinsichtlich der Beendigung eines menschlichen Lebens auf dieses Verhältnis nicht angewendet werden. Der Grund basiert auf der Tatsache, dass es hier um eine Situation geht, in der eine Frau als Privatperson unter bestimmten Voraussetzungen selbst über das Leben oder den Tod ihres ungeborenen Kindes entscheidet, ohne dass es sich dabei um einen typischen Fall der Notwehr als einer der Rechtfertigungsgründe handelt, die in der Regel in nationalen Strafgesetzbüchern verankert sind. Andererseits kann es vorkommen, dass das ungeborene Kind mit seiner Existenz und Entwicklung unmittelbar das Leben, die Gesundheit oder die Privatsphäre der Mutter gefährdet, ohne dass dies beabsichtigt ist. Daher stellt sich die Frage, wie solche Fälle nicht nur ethisch, sondern auch rechtlich gelöst werden können.11 Aus menschenrechtlicher Sicht kann man davon ausgehen, dass es zu einer Kollision zwischen zwei Menschenrechten oder zwischen einem Menschenrecht und einem öffentlichen Interesse kommt. Allerdings ist in erster Linie zu klären, ob es überhaupt möglich ist, in Bezug auf das ungeborene Kind davon auszugehen, dass es Träger von Menschenrechten ist. Unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzes sind die oben genannten philosophischen Ansätze und die daraus resultierenden ethischen Überlegungen oder Schlussfolgerungen nicht mehr entscheidend. Im Gegenteil spielt in diesem Kontext eine wesentliche Rolle die Art und Weise, wie internationale Verträge und Verfassungsdokumente einzelner Staaten mit dieser Frage umgehen. Mit anderem Worten geht es darum, ob und in welcher Form das ungeborene Kind geschützt wird. Um den bestimmten Rechtsschutzstandard herauszufinden, muss man die einzelnen Rechtsdokumente analysieren, wofür man nicht nur die sprachliche, sondern auch die systematische, historische und teleologische Auslegung verwenden muss. Die Tatsache, dass die sprachliche Auslegung auf diese Weise nicht ausreicht, bestätigt die Art und Weise, wie das Recht auf Leben in internationalen Verträgen verankert ist. Vor allem kann man auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zeigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Form einer Entschließung

am 6. 8. 2023). 11 Valc, Právo na život.

4.2 Die Rechte der Frau vs. der Rechtschutz ihres Kindes

31

der Generalversammlung angenommen wurde und die in dem Art 2 feststellt: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“12 Obwohl es sich nicht um ein verbindliches Rechtsdokument handelt, spielt es eine wichtige Rolle, weil sein Inhalt in andere und schon verbindliche internationale Menschenrechtsverträge übernommen wurde. Unter anderem geht es um Art 6 Abs 1 des Zivilpaktes, nach dem gilt: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.“ Ebenso ist das Recht auf Leben in Art 2 der EMRK verankert, wenn in dieser Bestimmung geschrieben ist: „Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.“ Die EMRK wird dann auch in der EU-Grundrechtecharta ausdrücklich als einer der Werteansatzpunkte genannt, was sich auch in Art 2 Abs 1 der EU-Grundrechtecharta widerspiegelt, durch den das menschliche Leben auf folgende Weise geschützt wird: „Jede Person hat das Recht auf Leben.“ Das Recht auf Leben wird allgemein als eines der wichtigsten Menschenrechte bezeichnet, da es die biologische Existenz eines Menschen schützt. Ohne eine Garantie seines institutionellen Schutzes wäre es daher sinnlos, über den Schutz anderer Menschenrechte und Werte nachzudenken, da diese sich eher auf die Qualität und Art der Lebensführung des Einzelnen beziehen. Aus diesem Grund ist das Recht auf Leben in allen oben genannten internationalen Verträgen verankert, die für die Vertragsstaaten bindend sind. Allerdings lässt sich aus den betreffenden Bestimmungen nicht eindeutig ableiten, ob der erklärte Schutz des menschlichen Lebens auch für das ungeborene Kind gilt oder nicht. Um die Berechtigten bzw. Träger des Rechts auf Leben zu kennzeichnen, verwenden einige Rechtsdokumente die unterschiedlichen Begriffe oder Formulierungen wie „Jeder…“, „Jeder Mensch…“ oder „Jede Person…“. Man kann sich also fragen, was mit diesen Begriffen gemeint ist, bzw. für wen sie eigentlich gelten. Es sei daran erinnert, dass es aus philosophischer Sicht unterschiedliche Meinungen darüber gibt, ob die Begriffe „Mensch“ und „Person“ synonym verwendet werden können. Es hängt nämlich davon ab, ob man die dualistische These vertretet oder nicht. Hier geht es jedoch vor allem darum, was die Vertragsstaaten mit der

12

Generalversammlung, Resolution der Generalversammlung 217 A (III). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (abgefragt am 6. 8. 2023).

32

4

Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

Formulierung dieser internationalen Verpflichtungen beabsichtigten und welchen Zweck die einzelnen Regulierungen verfolgen sollten.13 Als eines der Argumente für den vollen Schutz des vorgeburtlichen Lebens kann auch die Tatsache dienen, dass es im Rahmen des Art 6. des Zivilpaktes seit Anfang an verboten war, die Todesstrafe gegen schwangere Frauen zu verhängen und zu vollstrecken.14 Die genannte Ausnahme kann als indirekter Schutz des Lebens eines ungeborenen Kindes angesehen werden, auch durch den Schutz der körperlichen Unversehrtheit seiner Mutter.15 Diese Schlussfolgerung wird jedoch nicht vom UN-Menschenrechtsausschuss unterstützt, der sich in seinem Allgemeinen Kommentar Nr. 36 zu Art 6 des Zivilpaktes so ausgedrückt hat, dass eine nationale Regulierung des Zuganges zur Abtreibung nicht so gestaltet sein kann, damit sie das Recht auf Leben oder das Verbot von grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verletzen. Mit anderen Worten: Die staatlichen Maßnahmen müssen den Schutz des Lebens und der Gesundheit der schwangeren Frauen sicherstellen und die Entstehung von erheblichen Schmerzen und Leiden vermeiden. Der UN-Menschenrechtsausschuss verknüpft diese Anforderungen danach auch mit den Fällen, in denen die Schwangerschaft das Ergebnis einer Straftat ist oder in denen der Fötus auf eine mit dem Leben unvereinbare Weise geschädigt wird.16 Dies impliziert, dass ein absoluter Schutz des ungeborenen Kindes gegenüber seiner Mutter den Zweck, auf den der betreffende

13

Valc, Právo na život. Ähnlich wurde eine solche Ausnahme sowohl in Art 12 der Arabischen Charta der Menschenrechte (1994) als auch in Art 4 Abs 5 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (1969) verankert. 15 Natürlich darf nicht übersehen werden, dass seit der Verabschiedung des Zivilpakts eine gewisse Entwicklung im Bereich des Menschenrechtsschutzes stattgefunden hat, die im Wesentlichen auf ein absolutes Verbot der Todesstrafe hinausläuft. Obwohl dieses Ergebnis bisher nur auf der Ebene des Europarats (Zusatzprotokoll Nr. 13 zur EMRK) und der Europäischen Union (Art 2 Abs 2 der EU-Grundrechtecharta) erreicht wurde, ist die gleiche Tendenz auch bei den Vereinten Nationen zu beobachten, was mit der Verabschiedung des zweiten Fakultativprotokolls zum Zivilpakt (1989) zusammenhängt, das jedoch nicht von allen Staaten ratifiziert wurde und zu dem einige Staaten Vorbehalte angemeldet haben. Siehe dazu: United Nations, 12. Second Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights, aiming at the abolition of the death penalty, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TRE ATY&mtdsg_no=IV-12&chapter=4&clang=_en (abgefragt am 6. 8. 2023). 16 Human Rights Committee, General comment No. 36 on article 6 of the International Covenant on Civil and Political Rights, on the right to life. Revised draft prepared by the Rapporteur, https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/HRBodies/CCPR/GCArticle6/ GCArticle6_EN.pdf (abgefragt am 6. 8. 2023). 14

4.2 Die Rechte der Frau vs. der Rechtschutz ihres Kindes

33

Artikel des Zivilpakts abzielen sollte, verfehlen würde. Obwohl bei der Verabschiedung des fraglichen internationalen Vertrags auch die Tendenzen mancher Staaten bestanden, das menschliche Leben von der Empfängnis an zu schützen, wurden sie nicht umgesetzt, weil sie die Durchführung von Abtreibungen verhindert hätten, die in den Vertragsstaaten zu diesem Zeitpunkt bereits legalisiert waren.17 Darüber hinaus wird das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes von einigen Autoren auch aus Art 4 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (weiter auch bezeichnet als „UN-Kinderrechtskonvention“) abgeleitet, in dem es ausdrücklich heißt: „Das Kind genießt die Leistungen der sozialen Sicherheit. Es hat einen Anspruch darauf, gesund aufzuwachsen und sich zu entwickeln; zu diesem Zweck erhalten sowohl das Kind als auch seine Mutter besondere Fürsorge und besonderen Schutz einschließlich einer angemessenen Betreuung vor und nach der Geburt. Das Kind hat ein Recht auf angemessene Ernährung, Unterbringung, Erholung und ärztliche Betreuung.“18 Der Grund basiert auf der Tatsache, dass die Fürsorgepflicht der Vertragsstaaten sich auch auf die vorgeburtliche Zeit erstreckt. Gemäß Art 6 der UN-Kinderrechtskonvention hat jedes Kind das natürliche Recht auf Leben, ohne jegliche Diskriminierung, auch nicht aufgrund des Alters oder des Entwicklungsstandes (Art 2 der UN-Kinderrechtskonvention). Was den Begriff „Kind“ im Sinne dieses Rechtsdokuments betrifft, so wird er in Art 1 der UN-Kinderrechtskonvention definiert, in dem es angegeben ist, dass ein Kind im Prinzip jedes menschliche Wesen unter 18 Jahren ist. Es wird also nur eine obere Altersgrenze festgelegt, ohne dass der Beginn des Schutzes an die Geburt geknüpft wird. Dennoch lässt sich aus der Schlussfolgerung der Arbeitsgruppe ableiten, dass keine Bestimmung UN-Kinderrechtskonvention eine Verpflichtung der Vertragsstaaten zu einem bestimmten Schutzniveau für das ungeborene Kind beinhalten sollte.19

17

InternationalHumanist and Ethical Union, The UN Human Rights Committee´s Proposed General Comment on Article 6 (The Right to life) of Internation Covenant on Civil and Political Rights, https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/HRBodies/CCPR/ Discussion/2015/IHEU.pdf (abgefragt am 6. 8. 2023). 18 Darüber hinaus wird in der Präambel UN-Kinderrechtskonvention ausdrücklich auf die Erklärung der Rechte des Kindes (1959) verwiesen, in der das Erfordernis des Schutzes des Kindes vor und nach der Geburt ausdrücklich verankert ist. 19 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Übereinkommen über die Rechte des Kindes: VN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien, https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93140/78b9572c1bffdda3345d8d393acbbfe8/uebere inkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-data.pdf (abgefragt am 7. 8. 2023).

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4

Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

Die Unklarheit hinsichtlich des rechtlichen Schutzes des ungeborenen Kindes auf internationaler Ebene hat zu einer Vielzahl von Ansätzen auf nationaler Verfassungsebene geführt, darunter auch solche, die den Menschen als Träger des Rechts auf Leben ab dem Zeitpunkt der Empfängnis betrachten. Ein Beispiel dafür ist Art 38 der Verfassung der Republik Polen, in dem es heißt: „Die Republik Polen gewährleistet jedem Menschen rechtlichen Schutz des Lebens.“20,21 Noch konkreter ist das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes in dem achten Verfassungszusatz der irischen Verfassung verankert, mit der ein dritter Absatz zu Art 40 hinzugefügt wurde, nach dem es gilt: „Der Staat erkennt das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes an und garantiert in seinen Gesetzen, unter Berücksichtigung des gleichen Rechts der Mutter auf Leben, dieses Recht zu achten und, soweit möglich, durch seine Gesetze zu schützen und zu verteidigen.“22 Gleichzeitig gibt es auch die Möglichkeit, die unklare Verankerung des Rechts auf Leben in der verfassungsmäßigen Ordnung durch eine Entscheidung des zuständigen Gerichts zugunsten des ungeborenen Kindes festzustellen, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland (Art 2 Abs 2 GG) der Fall war.23 Auf der anderen Seite gibt es auch einen unterschiedlichen nationalen Ansatz, nach dem das Leben des ungeborenen Kindes nur als Verfassungswert und nicht als Grundrecht geschützt ist.24 Ein Beispiel hierfür ist Art 15 Abs 1 der Verfassung der Slowakischen Republik, der besagt: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Das menschliche Leben ist schon vor der Geburt schützenswert.“25,26 20

Es handelt sich um die Übersetzung des Autors. Im Originaltext lautet die Regulierung wie folgt: „Rzeczpospolita Polska zapewnia ka˙zdemu człowiekowi prawn˛a ochron˛e z˙ ycia.“ Siehe dazu: Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997 r. 21 Der Verfassungsgerichtshof der Republik Polen 22. 10. 2020, K 1/20. 22 Es handelt sich um die Übersetzung des Autors. Im Originaltext lautet die Regulierung wie folgt: „The State acknowledges the right to life of the unborn and, with due regard to the equal right to life of the mother, guarantees in its laws to respect, and, as far as practicable, by its laws to defend and vindicate that right.“ Siehe dazu: Eighth Amendment of the Constitution Act, 1983. 23 BVerfGE 25. 2. 1975, 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74, Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 28. 5. 1993, 2 BvF 2/90 und 4, 5/92, Schwangerschaftsabbruch II. 24 Das Verfassungsgericht der Slowakischen Republik 4. 12. 2007, 12/01. 25 Es handelt sich um die Übersetzung des Autors. Im Originaltext lautet die Regulierung wie ˇ folgt: „Každý má právo na život. Ludský život je hodný ochrany už pred narodením.“ Siehe dazu: Ústavný zákon cˇ . 460/1992 Zb., Ústava Slovenskej republiky. 26 Dieselbe Definition des Rechts auf Leben findet sich auch in der tschechischen Rechtsordnung, nämlich in Art 6 Abs 1 der Charta der Grundrechte und Freiheiten, wobei das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik noch keine Gelegenheit hatte, sich verbindlich zum Rechtsstatus des ungeborenen Kindes zu äußern.

4.2 Die Rechte der Frau vs. der Rechtschutz ihres Kindes

35

Man kann also beobachten, dass verschiedene Ansätze vorkommen, die sich mit dem Rechtsschutz des ungeborenen Kindes beschäftigen. Manchmal wird der Embryo oder Fötus als gleichberechtigter Träger des Rechts auf Leben angesehen. In anderen Fällen wird er lediglich als ein verfassungswert betrachtet, der bei der Anwendung der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht die Grundrechte der Frau auf Leben, Gesundheit oder sogar Privatsphäre überwiegen kann. Auf jeden Fall ist es nicht möglich zu dem Schluss zu kommen, dass der Schutz des ungeborenen Kindes auf der Verfassungsebene der einzelnen europäischen Staaten keine Berücksichtigung findet. Unabhängig davon, ob dem ungeborenen Kind Grundrechte zuerkannt werden oder nicht, ist es immer noch ein menschliches Wesen oder ein Mitglied der menschlichen Gattung, für das der umfassende Begriff der Menschenwürde gilt.27 Das Gebot der Achtung der Menschenwürde als universeller Wert und Grundlage aller Menschenrechte kann nicht nur ab dem Zeitpunkt der Geburt oder einem anderen Entwicklungsmoment gelten, denn die Menschenwürde gehört allen Menschen, unabhängig davon, in welchem Entwicklungsstadium sie sich gerade befinden. Auch der EuGH hat sich in diesem Sinne geäußert, allerdings in Bezug auf die spezifische Frage der Nichtpatentierbarkeit biomedizinischer Erfindungen, deren Entwicklung mit der Zerstörung einer befruchteten oder unbefruchteten und entwicklungsfähigen Eizelle zu industriellen oder kommerziellen Zwecken verbunden sein sollte.28

27

Dies stellt nicht in Frage, dass das ungeborene Kind unter bestimmten Voraussetzungen als Träger der Rechtspersönlichkeit im Privatrecht nach dem Vorbild des römischen Rechts (nasciturus iam pro nato habetur quotiens de commodo eius agitur) angesehen werden kann, da es sich bei der Frage der Abtreibung um einen Schutz auf verfassungsrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Ebene handelt. 28 EuGH 18. 10. 2011, C-34/10, Oliver Brüstle/Greenpeace eV.

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4.3

4

Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

Abtreibung und die Margin-of-appreciation-Doktrin

In Bezug auf die praktische Durchführung der sexuellen und reproduktiven Rechte spielt eine wichtige Rolle die Entscheidungspraxis des EGMR, der das Rechtsprechungsorgan des Europarates ist und über das Monopol für die Auslegung der EMRK verfügt. Mit anderen Worten muss er über die Individualbeschwerden entscheiden, die behaupten, dass ein Mitgliedstaat die Menschenrechte oder Grundfreiheiten eines Einzelnen verletzt hat. Im Rahmen des vorliegenden Themas hat der EGMR die Möglichkeit, anhand einzelner Rechtsfälle zu beurteilen, ob die Mitgliedstaaten durch nationale Rechtsvorschriften oder deren Anwendung unzulässig in die bereits erörterten Menschenrechte einer schwangeren Frau eingegriffen haben oder nicht. Angesichts unterschiedlicher ethischer und rechtlicher Auffassungen über die (Nicht-) Legalisierung des Zuganges zur Abtreibung ist dies keine leichte Aufgabe, da es sehr schwierig ist, allgemein gültige Schlussfolgerungen in Bezug auf Menschenrechtsfragen zu formulieren, deren Antworten kulturell bedingt sind und daher in den Mitgliedstaaten oft diametral entgegengesetzt sind. Der EGMR selbst ist sich dessen zweifellos bewusst, denn er ist manchmal sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, eindeutige Rechtsmeinungen zu sehr kontroversen Themen zu formulieren. Trotzdem muss der EGMR in einzelnen Rechtsfällen nicht nur eine Entscheidung treffen, sondern auch auf die von den Verfahrensparteien vorgebrachten Argumente reagieren und eigene Schlussforderungen begründen. Zu diesem Zweck stützt er sich dabei oft auf die so genannte Margin-of-appreciationDoktrin, die nicht ausdrücklich in internationalen Rechtsdokumenten verankert ist. Im Gegenteil wurde sie direkt in der Rechtsprechung des EGMR entwickelt, und zwar gerade im Zusammenhang mit der Behandlung von Fällen, die den internationalen Schutz der Menschenrechte betreffen.29 Ihre Entstehung als spezifische Methode oder Technik der Entscheidungsfindung hängt mit der bereits erwähnten Tatsache zusammen, dass es unter den Mitgliedstaaten des Europarates keinen Konsens über die Möglichkeiten für Einschränkungen bestimmter Menschenrechte gibt. Gleichzeitig sind es die Mitgliedstaaten, die die Basis für den institutionellen Schutz der Menschenrechte gestalten und das Interesse daran haben, dass ihre grundlegenden nationalen Politiken und Werte erhalten bleiben. Aus diesem Grund kann der EGMR nicht einfach eine Position einnehmen, die auf ein Höchstmaß an Schutz der betroffenen Menschenrechte in

29 Legg, The Margin of Appreciation in Interntional Human Rights Law: Deference and Proportionality (2012) 3.

4.3 Abtreibung und die Margin-of-appreciation-Doktrin

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allen Fällen abzielt. Im Gegenteil muss er ein Gleichgewicht zwischen dem universellen Menschenrechtsschutz und der Wahrung der historisch und kulturell bedingten Vielfalt der nationalen Ansätze herstellen. Mit anderen Worten geht es darum, die Margin-of-appreciation-Doktrin zu verwenden, um einen bestimmten Mindestschutzstandard festzulegen und den Mitgliedstaaten einen Spielraum zu überlassen, bei der Regulierung komplizierter ethisch-rechtlicher Fragen eigene politischen, kulturellen und sozialen Besonderheiten zu berücksichtigen.30 Neben diesem positiven Ansatz, der die Margin-of-appreciation-Doktrin sowohl als Ausdruck der erwarteten richterlichen Zurückhaltung als auch als Instrument zur Lösung komplizierter ethischer und rechtlicher Fragen betrachtet, werden auch zwei andere Ansätze unterschieden, die von Natur aus kritisch sind. Der erste Ansatz wird als radikal bezeichnet, weil er dafür plädiert, auf die Anwendung dieser Doktrin gänzlich zu verzichten. Das Argument lautet, dass sie eine Möglichkeit für den EGMR ist, seinen Verzicht auf die Suche nach Antworten auf komplizierte Menschenrechtsfragen zu rechtfertigen, was seine Hauptaufgabe bzw. der Zweck seiner Existenz sein sollte. Gleichzeitig kann die Anwendung der Doktrin das Schutzniveau, auf das Einzelne nach der EMRK Anspruch hat, einschränken. Der zweite Ansatz ist zwar auch kritisch, aber er bezweifelt nicht die Tatsache, dass die Margin-of-appreciation-Doktrin ihren Platz in der Entscheidungspraxis des EGMR haben sollte. Die Kritik liegt darin, dass die Anwendung der Doktrin unvorhersehbar ist, da sie nur kasuistisch, d. h. von Fall zu Fall, erfolgt. Grundsätzlich wird daher die Formulierung von konkreten Grundsätzen oder Kriterien gefordert, die die Anwendung der Doktrin objektiv rechtfertigen würden.31 Auch wenn es hinsichtlich der Margin-of-appreciation-Doktrin unterschiedliche Meinungen gibt, muss davon ausgegangen werden, dass sie in der Rechtsprechung des EGMR verwendet wird. Aufgrund der Natur der Sache ist sie insbesondere im Zusammenhang mit kontroversen gesellschaftlichen Themen anwendbar, zu denen der Zugang zur Abtreibung zweifellos gehört. Sie wurde unter anderem auch im bekannten Urteil des EGMR in der Rechtsache „Vo gegen Frankreich“ verwendet, in dem das Bestehen eines freien Ermessens der Mitgliedstaaten darüber zum Ausdruck gebracht wurde, welchen Schutz sie dem ungeborenen Kind gewähren. Zunächst muss jedoch betont werden, dass es sich im vorliegenden Fall nicht um eine individuelle Beschwerde handelte, die sich 30

Gerards, Margin of Appreciation and Incrementalism in the Case Law of the European Court of Human Rights, Human Rights Law Review 2018, 495 (496). 31 Wi´sniewski, On the Theory of Margin of Appreciation Doctrine, Polish Review of International and European Law 2012, 63 (66).

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Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

gegen die unzulässige Verweigerung des Zuganges zur Abtreibung aufgrund einer restriktiven Gesetzgebung oder des Verzichts des Staates auf deren Durchsetzung richtete. Es ging nämlich um die Beschwerde einer Frau vietnamesischer Herkunft (Frau Thi-Nho Vo), die sich während ihrer Schwangerschaft einer fortlaufenden Untersuchung unterzogen hatte, ohne Interesse an einer Abtreibung zu haben. Die Beendigung der Schwangerschaft wurde durch den Fehler des Arztes verursacht, der die Patientinnen aufgrund einer Namensgleichheit verwechselte. Ohne nähere Untersuchung führte er das Verfahren durch, bei dem der Beschwerdeführerin das intrauterine Organ entfernen sollte, wodurch die Fruchtblase platzte und das Fruchtwasser verloren wurde. Trotz anschließender medizinischer Versorgung kam es bei Frau Vo zu einer Fehlgeburt.32 Anschließend versuchte sie vergeblich, den Arzt vor französischen Gerichten belangen zu lassen, da er ihrer Meinung nach nicht nur die Körperverletzung, sondern auch die fahrlässigen Tötung des ungeborenen Kindes begangen hatte. Dennoch entschied das Kassationsgericht letztlich, dass der Fötus nach französischem Recht nicht als Träger des Rechts auf Leben angesehen werden könne, weshalb es nicht möglich ist, das Vorgehen des Arztes als fahrlässiger Totschlag rechtlich zu qualifizieren. Frau Vo hat darum die Beschwerde beim EGMR eingereicht, in der sie den Verstoß gegen Art 2 der EMRK behauptete, und zwar mit dem Argument, dass jeder Mensch das Recht auf Leben hat, einschließlich des ungeborenen Kindes. Der Staat hat danach die positive Verpflichtung, dieses Recht aktiv zu schützen, auch durch die Verfolgung von Straftaten, die einen Eingriff in das menschliche Leben als eines der wichtigsten rechtlich geschützten Interessen darstellen. Die französische Regierung wies dagegen darauf hin, dass es keinen wissenschaftlichen Konsens darüber gebe, ab wann ein Embryo oder Fötus als menschliches Lebenswesen angesehen werden könne. Gleichzeitig betonte sie, dass die Anerkennung des Rechts auf Leben des ungeborenen Kindes bedeuten würde, dass Abtreibungen, die in fast allen europäischen Ländern unter bestimmten Bedingungen legalisiert sind, nicht durchgeführt werden könnten. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass das ungeborene Kind im französischen Recht auch indirekt (durch den Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Mutter) geschützt wird.33 Der EGMR stellte zunächst fest, dass die Frage des rechtlichen Schutzes oder des Rechtsstatus des ungeborenen Kindes in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht umfassend behandelt wurde. Es ist jedoch erforderlich, entsprechend dem Vorbringen der französischen Regierung die früheren Rechtsauffassungen zu 32 33

EGMR 8. 7. 2004, 53924/00, Vo/Frankreich. EGMR 8. 7. 2004, 53924/00, Vo/Frankreich.

4.3 Abtreibung und die Margin-of-appreciation-Doktrin

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berücksichtigen, die zur Zulässigkeit von Abtreibungen geäußert worden sind, auch wenn sie nicht Gegenstand der vorliegenden Rechtssache sind. Vor allem geht es darum, dass das Leben des ungeborenen Kindes mit dem Leben seiner Mutter eng verbunden ist. Ein absolutes Verbot der Abtreibung würde in vielen Fällen zu einer Bedrohung des Lebens der schwangeren Frau führen, die die Trägerin des Rechts auf Leben ist, zu dessen Schutz sich der Staat verpflichtet hat.34 Auf der anderen Seite hat der EGMR ergänzt, dass es bis heute keinen Konsensus der Mitgliedstaaten gibt, was den Rechtsschutz des ungeborenen Kindes und auch die Legalisierung der Abtreibung aus anderen als gesundheitlichen Gründen betrifft. Mit anderen Worten kann man nicht bezweifeln, dass die Mitgliedstaaten keine Verpflichtung haben, die „Abtreibung auf Anfrage“ zu legalisieren, weil sie unter dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens fällt, das gemäß Art 8 Abs 2 der EMRK sowohl zugunsten eines anderen Menschenrechts als auch zugunsten des öffentlichen Interesses an der Erhaltung des beginnenden menschlichen Lebens eingeschränkt werden kann.35 Darum kann man zu dem Schluss kommen, dass die Mitgliedstaaten in diesem Bereich über einen großen Ermessensspielraum verfügen, obwohl sie keine der betroffenen Rechte oder der öffentlichen Interessen vollständig auslassen können. Im Gegenteil müssen sie sie nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abwägen. Sonst würden die Mitgliedstaaten die Grenze des Ermessensspielraums überschreiten. Im Prinzip kann auch ein nationaler Ansatz im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR legitimiert werden, der die Abtreibung auf eine bloße Anfrage, also ohne das Vorhandensein von Gesundheitshinweisen, verbietet oder nicht legalisiert. Dies geht auch aus der Rechtsprechung des EGMR zur Überprüfung des irischen Abtreibungsrechts hervor, das vor seiner Änderung im Zusammenhang mit dem Ergebnis des nationalen Referendums im Jahr 201836 als eines der strengsten in Europa galt, da es die Abtreibung nur im 34

Daher kann das ungeborene Kind nicht als Träger des Rechts auf Leben angesehen werden, dessen Schutz de facto absolut wäre. Siehe dazu: Die Kommission für Menschenrechte 13. 5. 1980, 8416/78, Paton/Vereinigtes Königreich.; EGMR 10. 4. 2007, 6339/05, Evans/ Vereinigtes Königreich. 35 EGMR 8. 7. 2004, 53924/00, Vo/Frankreich; 12.7.1977, Die Kommission für Menschenrechte 12. 7. 1977, 6959/75, Brüggemann und Scheuten/Deutschland. 36 In dem Referendum sprach sich die Mehrheit dafür aus, den 36. Verfassungszusatz anzunehmen, was zu einer neuen Gesetzgebung führte, die die Abtreibung liberalisierte, d. h. sie darf jetzt in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft auf Antrag (ohne konkrete Gründe) durchgeführt werden. Siehe dazu: Carnegie/Roth, From the Grassroots to the Oireachtas: Abortion Law Reform in the Republic of Ireland, Health and Human Rights Journal 2019, 109 (113).

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Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

Falle einer Bedrohung des Lebens der Frau zuließ.37 Damals vertrat der EGMR die Auffassung, dass die gesetzliche Beschränkung des Zuganges zur Abtreibung und der damit verbundene Eingriff in die betroffenen Menschenrechte der schwangeren Frau zugunsten des Schutzes des ungeborenen Kindes einen gerechten Ausgleich zwischen diesen widerstreitenden Grundsätzen darstellen, wobei er auch die moralische Überzeugung des irischen Volkes berücksichtigte.38 Dazu sollte ergänzt werden, dass irische Frauen die Abtreibung in anderen Staaten unterziehen konnten, ohne bestraft zu werden. Gleichzeitig dürfen sie nicht durch Gesetze oder Maßnahmen staatlicher Behörden daran gehindert werden, einschlägige Informationen über die Abtreibung im Ausland und die damit verbundenen Unterstützung durch den gemeinnützigen Sektor zu erhalten.39,40 Auf jeden Fall ist dies ein Beweis dafür, dass der EGMR den Mitgliedstaaten in der Frage der Abtreibung einen großen Ermessensspielraum lässt.

4.4

Rechtlicher vs. faktischer Zugang zur legalen Abtreibung

Auf einer Seite kann man nicht argumentieren, dass das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art 8 EMRK mit einem positiven Verpflichtung des Staates verbunden ist, die Abtreibungen unter bestimmten Bedingungen zu legalisieren. Auf der anderen Seite muss man auf nationaler Ebene zwischen dem rechtlichen und dem faktischen Zugang zur Abtreibung unterscheiden. Anderes gesagt, es besteht ein Unterschied darin, ob ein Staat die Abtreibung in konkreten Lebenssituationen nicht zulässt oder ob er sie zwar zulässt, aber keine ausreichenden Verfahrens- und sonstigen Garantien bietet, um sie durchzuführen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. In dem ersten Fall kann man einen solchen Ansatz unter Hinweis auf dieRechtsprechung des EGMR rechtfertigen, weil die Möglichkeit, eine eigene Abtreibungsgesetzgebung zu erlassen, die historische, kulturelle und politische Besonderheiten oder Präferenzen widerspiegelt, 37

Gleichzeitig beschränkte sich dieser Grund nicht nur auf Fälle von Risikoschwangerschaften, d. h. auf physiologische Ursachen, sondern auch auf Situationen, in denen die psychische Verfassung der Frau (in Verbindung mit den Umständen der Empfängnis des Kindes) sie in die Gefahr des Selbstmords brachte. Siehe dazu: Oberster Gerichtshof von Irland 5. 3. 1992, [1992] IESC 1; [1992] 1 IR 1, Attorney General/X. und andere. 38 EGMR 16. 12. 2010, 25579/05, A. B. C./Irland. 39 EGMR 29. 10. 1992, 14234/88, Open Door und Dublin Well Woman/Irland. 40 Diese Anforderungen wurden später durch den 13. Verfassungszusatz in der irischen Verfassung verankert.

4.4 Rechtlicher vs. faktischer Zugang zur legalen Abtreibung

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unter den bereits beschriebenen Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten im Sinne der Margin-of-appreciation-Doktrin fällt.41 Tritt jedoch der zweite Fall ein, d. h. der Verzicht des Staates, den Zugang einer schwangeren Frau zu der gesetzlich garantierten Möglichkeit einer rechtzeitigen und sicheren Abtreibung wirksam zu gewährleisten, kann schon eine Verletzung der bestoffenen Menschenrechte angenommen werden. Zu dem gleichen Schluss ist auch der EGMR gekommen, als er sich mit den individuellen Beschwerden beschäftigt, die die polnische Abtreibungsgesetze und ihre Durchsetzbarkeit angegriffen haben. Vom allen geht es um die Rechtsache „Tysiac gegen Polen“. Was den Sachverhalt betrifft, handelte es sich um die Beschwerde einer polnische Frau namens Tysiac, die der Zugang zur Abtreibung verweigert wurde, obwohl sie daran Anspruch haben sollte. Der Grund dafür war, dass die Entbindung in ihrem Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Sehvermögens führen würde, und zwar aufgrund des Drucks und anderer Umstände, die üblicherweise mit der Durchführung der Entbindung verbunden sind. Aus diesem Grund wollte sie ihre Schwangerschaft beenden, was nicht von vornherein gegen das polnische Recht verstößt, da es die Abtreibung aus einer erschöpfenden Liste von Gründen erlaubt, darunter eine ernsthafte Bedrohung für das Leben oder die Gesundheit der Mutter. Zu diesem Zweck reicht jedoch der Verdacht auf Gesundheitsrisiken oder Komplikationen nicht aus, da die betreffende Rechtsvorschrift die Zustimmung von zwei Ärzten verlangt. Das Problem bestand darin, dass Frau Tysiac nur die Zustimmung eines einzigen Arztes erhalten hatte, was nicht ausreichte, um die rechtlichen Voraussetzungen für eine therapeutische Abtreibung zu erfüllen. Obwohl die Frau Tysiac mit diesem Gutachten nicht einverstanden war, verfügte sie nicht über wirksame verfahrensrechtliche Mittel, um eine sofortige Überprüfung des abweichenden Gutachtens des Arztes zu erwirken, was in Anbetracht der laufenden Schwangerschaft und des Zeitfaktors problematisch war. Schließlich wurde sie gezwungen, das Kind zur Welt zu bringen, was sich negativ auf ihr Sehvermögen auswirkte. Der EGMR ist zu dem Schluss gekommen, dass kein Verstoß gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art 3 EMRK vorliegt. Gleichzeitig hat er jedoch bestätigt, dass die Absenz eines effektiven Kontrollund Überprüfungsmechanismus zur Verletzung des Rechts der Beschwerdeführerin auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK führte. Wie bei der Beurteilung der früheren irischen Gesetzgebung wurde auch die 41

Zur breiten Anwendung der Margin-of-appreciation-Doktrin in Bezug auf Fälle, in denen es um Eingriffe in das Privat- und Familienleben geht, äußerte sich der EGMR auch in den folgenden Urteilen: EGMR 26. 5. 1994, 16969/90, Keegan/Irland; EGMR 18. 5. 2006, 55339/00, Ró˙za´nski/Polen.

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Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

polnischen (restriktive) Regulierung der Abtreibung in seiner Gesamtheit nicht unzulässig angesehen.42 Dies war jedoch nicht der einzige Fall, in dem eine Verletzung der Menschenrechte darin zu sehen war, dass die polnische Gesetzgebung zwar spezifische Gründe für eine Abtreibung vorsah, aber diese in der Praxis nur schwierig angewendet werden können. Als Beispiel dafür kann die Rechtsache „R. R. gegen Polen“ dienen, die nicht mit der Beendigung einer Schwangerschaft wegen einer drohenden Gesundheitsschädigung, sondern mit dem Zugang der betroffenen Frau zur Untersuchung auf das Vorhandensein von fetalen Entwicklungsstörungen zusammenhing. Neben der Bedrohung des Lebens und der Gesundheit war in Polen zum fraglichen Zeitpunkt auch die Abtreibung möglich, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit ein schwerer und irreversibler fetaler Defekt oder eine unheilbare Krankheit vorlag, die das Leben des Fötus bedrohte. Das Problem in diesem Fall war jedoch, dass die betreffende Frau wegen des Verfahrens des medizinischen Personals nicht die gesetzlich vorgesehene Untersuchung zur Feststellung von Entwicklungsstörungen des Fötus durchführen konnte, obwohl keine objektiven Gründe (Nichtverfügbarkeit von Diagnosemethoden) vorkamen. Wie in der Rechtssache „Tysiac gegen Polen“ kam der EGMR zu dem Schluss, dass ein solches Verfahren das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung des Privatund Familienlebens verletzte, da sie nicht in der Lage war, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften und anhand der Ergebnisse der genetischen Untersuchung zu entscheiden, ob sie Mutter werden wollte oder nicht. Gleichzeitig musste sie während der bestimmten Schwangerschaftsphasen mit der Unsicherheit und Angst leben, weil sie nicht wusste, ob ihr Kind genetisch behindern wird, was gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gemäß Art 3 EMRK verstoßt.43 Das letzte Beispiel dafür, dass die faktische Verweigerung des Zuganges zur Abtreibung als Verletzung der durch die EMRK geschützten Menschenrechte angesehen werden kann und nicht in den Ermessenspielraum der Mitgliedstaaten des Europarates fällt, ist der Fall „P. und S. gegen Polen“. Es ging um den Fall eines minderjährigen Mädchens, das wegen eines sexuellen Missbrauches schwanger wurde. Aus diesem Grund wollte sie das Kind abtreiben, was nach polnischen Abtreibungsgesetz erlaubt ist, fall man über eine formelle Bestätigung der Staatsanwaltschaft über solche Ursache der Schwangerschaft verfügt. Obwohl das Mädchen diese Bedingung erfüllt hat, wurde ihm der Zugang zu einer Abtreibung erheblich erschwert. Das erste Krankenhaus, das das Mädchen mit seiner 42 43

EGMR 24. 9. 2007, 5410/03, Tysiac/Polen. EGMR 26. 5. 2011, 27617/04, R. R./Polen.

4.4 Rechtlicher vs. faktischer Zugang zur legalen Abtreibung

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Mutter als gesetzlicher Vertreter aufsuchte, riet dem Mädchen davon ab, sich dem Eingriff zu unterziehen, und zwang das Mädchen, die ganze Situation nicht nur mit einem Arzt, sondern auch mit einem Vertreter der katholischen Kirche zu konsultieren. Zum Schluss hat das Krankenhaus die Durführung der Abtreibung abgelehnt. Ähnliche Probleme hat das Mädchen auch in einem anderen Krankenhaus erlebt, das von dem vorherigen Krankenhaus sogar berichtet wurde, dass das Mädchen von ihrer Mutter gezwungen wurde, sich dem Eingriff zu unterziehen. Die gesamte Situation eskalierte so weit, dass den Eltern des Mädchens vorübergehend die elterlichen Rechte entzogen wurden und das Mädchen in einer staatlichen Einrichtung platziert wurde, obwohl diese Gerichtsentscheidung später aufgehoben wurde. Nach einer Beschwerde beim zuständigen Ministerium wurde dem Mädchen schließlich die Abtreibung in einer sehr weit entfernten Klinik ermöglicht. Nach der Meinung des EuGH, der über die Beschwerde sowohl des Mädchens als auch seiner Mutter entschied, haben ein solches Verfahren um die damit verbundene Passivität des polnischen Behörde das Recht des Mädchens auf Schutz des Privat- und Familienlebens verletzt. Darüber hinaus stellten die unwürdige Nötigung, die erzwungenen Konsultationen und die insgesamt unsensible Haltung des medizinischen Personals gegenüber einer Minderjährigen, die nachweislich Opfer einer Vergewaltigung war, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art 3 EMRK dar.44 Daraus lässt sich schließen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, bei der Ausarbeitung von Abtreibungsgesetzen die verschiedenen gegensätzlichen Menschenrechte und öffentlichen Interessen zu berücksichtigen. Es bedeutet, dass es nicht möglich ist, die positiven Verpflichtungen jedes Mitgliedstaates oder besser gesagt jeder Vertragspartei der EMRK zum Schutz des Lebens oder der Gesundheit einer schwangeren Frau zu ignorieren. Mit anderen Worten kann es nicht legitimiert werden, den Zugang zur Abtreibung vollständig zu leugnen. Auf der anderen Seite folgt weder aus den einzelnen Artikeln der EMRK noch aus der Rechtsprechung des EGMR keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die „Abtreibung auf Antrag“ (ohne eine medizinische Indikation) zu legalisieren. Wenn sich ein Staat jedoch dafür entscheidet, die Abtreibung auch unter anderen Bedingungen gesetzlich zu ermöglichen, muss er gleichzeitig gewährleisten, dass die Einzelpersonen über entsprechende Mittel verfügen werden, eine rechtzeitige Abtreibung zu erwirken oder zumindest das Vorgehen der Behörden oder des medizinischen Personals zu überprüfen, die den Zugang zu diesem Gesundheitsdienst verwehren. Andernfalls kann es nicht nur zu einem unzulässigen Eingriff in

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EGMR 30. 12. 2012, 57375/08, P. und S./Polen.

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Menschenrechtliche Aspekte der Abtreibung

das Recht auf Privat- und Familienleben kommen, sondern je nach den Umständen auch zu einem Verstoß gegen das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung.45,46

45 Valc, Právní úprava interrupcí v Polsku a (ne)možnost jejího obcházení cestou potratové turistiky, Právník 2022, 729 (744). 46 Insbesondere im Fall Polens erweist sich die Erfüllung dieser Anforderung als problematisch, selbst nachdem der EGMR die oben genannten Urteile erlassen hat, die nach der Entschließung des Ministerkomitees des Europarats noch nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurden. Siehe dazu: Council of Europe, Interim Resolution CM/ResDH(2021)44 Execution of the judgments of the European Court of Human Rights Tysi˛ac, R.R. and P. and S. against Poland, https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a1 bdc4 (abgefragt am 12. 8. 2023).

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Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen der europäischen Integration

Aus dem vorherigen Kapitel geht es schon hervor, dass man über keine einheitliche Regulierung des Zuganges zur Abtreibung in Europa sprechen kann, weil das Thema so kontrovers und kulturgebunden ist, dass es bis heute nicht erfolgreich war, einen Konsensus einzelner europäischen Staaten über einen konkreten Rechtsrahmen dieser Problematik zu erreichen. Das Fehlen eines solchen Konsenses wurde auch durch die Auslegung des Schutzniveaus der betroffenen Menschenrechte durch die Rechtsprechung des EGMR überwunden, weil er in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend ist. Aus diesem Grund ist es nötig, die nationalen Rechtsordnungen zu analysieren und miteinander zu vergleichen, um herauszufinden, wie die einzelnen europäischen Staaten das schon oben besprochene ethisch-rechtliche Dilemma der Abtreibung lösen, das heißt, ob und wie weit sie die Autonomie des Willen jeder schwangeren Frau durchsetzen, über das Leben des eigenen (ungeborenen) Kindes zu entscheiden. In diesem Zusammenhang werde ich nicht nur auf die Möglichkeit einer Einteilung in restriktive und liberale nationale Ansätze hinweisen, sondern auch auf die innerhalb der Europäischen Union allmählich zunehmende Tendenz zur Stärkung des rechtlichen Schutzes von Frauen und die damit verbundene Lockerung der Bedingungen, unter denen eine Abtreibung durchgeführt werden kann.

5.1

Abtreibung als die nationale Sache

Bevor man sich mit den spezifischen Abtreibungsgesetzen in den einzelnen europäischen Ländern befasst, ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, welche besonderen Umstände einen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der nationalen Gesetze in diesem Rechtsgebiet haben. Allgemein geht es um die schon © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Valc, Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union, BestMasters, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43447-2_5

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5

Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen …

erwähnten kulturellen Faktoren in einem weiten Sinne, die sich jedoch im Laufe der Zeit ändern, was von den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen abhängig ist. Darum ist es nicht möglich daraus auszugehen, dass eine nationale Regulierung, egal ob sie aktuell restriktiv oder liberal konzipiert wird, in dieser Form für immer in Kraft bleiben muss. Neben der bereits erwähnten Förderung der Rechte der Frauen und ihrer allgemeinen Emanzipation in der demokratischen Gesellschaften, die im Laufe des letzten Jahrhunderts allmählich einsetzte, ist sowohl der Einfluss der staatlichen Politik im Bereich der Geburtenkontrolle und Bevölkerungsentwicklung und ihrer ideologischen Hintergründe als auch die Position anderer gesellschaftlicher (nichtstaatlicher) Institutionen hervorzuheben. Was die Rolle der staatlichen Politik und ihrer ideologischen Hintergründe auf die Gestaltung der nationalen Abtreibungsgesetzgebung betrifft, so kann die historische Rolle der Sowjetunion bei die Gestaltung der Rechtsvorschriften in diesem Bereich als gutes Beispiel herangezogen werden, auch in den europäischen Staaten, die zwar nicht ein formeller Bestandteil dieser staatlichen Machtstruktur waren, aber unter ihrem ideologischen, politischen und faktischen Einfluss standen. Dazu gehörten auch die Fragen der Geburtenkontrolle und der Bevölkerungsentwicklung. Dies zeigt sich daran, dass nach der völligen Liberalisierung der Regulierung der Abtreibung in der Sowjetunion im Jahr 1955 die Entkriminalisierung der schwangeren Frauen und die damit verbundene Ausweitung der Abtreibungsgründe in anderen Ländern des so genannten Ostblocks folgten.1 Die Abtreibung war nicht mehr nur ein Mittel, um ernsthafte Bedrohungen für das Leben oder die Gesundheit einer schwangeren Frau zu bekämpfen. Im Gegenteil wurde die Abtreibung auch zu einem gängigen Mittel der Geburtenkontrolle durch die Anwendung von sozialen und wirtschaftlichen Gründen, wenn auch unter der Aufsicht spezieller Kommissionen, deren Besetzung und Entscheidungsfindung von der staatlichen Politik und den bestimmten ideologischen Faktoren beeinflusst wurden.2 In diesem Zusammenhang wurde danach auch die Bedeutung anderer gesellschaftlicher Institutionen unterdrückt. Vor allem geht es um die Katholische Kirche, die seit Jahrhunderten die gesellschaftliche Moral und auf dieser Grundlage 1

Potts, Legal Abortion in Eastern Europe, Eugen Rev. 1967, 232. Ähnlich verhielt es sich in der ehemaligen Tschechoslowakei, wo die betreffenden und ideologisch ausgerichteten Kommissionen bis 1986 tätig waren. Darüber hinaus war ihre Entscheidungsfindung eher kontraproduktiv, da sie den meisten Anträgen stattgaben, gleichzeitig aber die Durchführung der Abtreibung verzögerten und damit de facto die Anwendung sanfterer Methoden (Mini-Abtreibung) ausschlossen. Dazu siehe: Dudová, Interrupce v ˇ socialistickém Ceskoslovensku z foucaultovské perspektivy, Gender and Research 2009, 25 (32). 2

5.1 Abtreibung als die nationale Sache

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die rechtliche Regulierung umstrittener Fragen, einschließlich der Abtreibung, entscheidend mitgestaltet hat. Obwohl die Position der Katholischen Kirche in Bezug auf die Rechtfertigung der Notwendigkeit, das menschliche Leben von der Empfängnis an zu achten, seit dem Aufkommen der Ideen des Humanismus und der Aufklärung im Allgemeinen geschwächt wurde, hat sich ihre dominante Position in manchen europäischen Ländern in gewissem Maße bis heute erhalten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Katholische Kirche in Ländern, in denen der christliche Glaube in der Gesellschaft noch stark vertreten ist, einen bedeutenden Einfluss auf die Herausbildung gesellschaftlicher Überzeugungen und damit auch auf die Gestaltung der politischen Vertretung hat, was sich unmittelbar auch in der Konzeption der Abtreibungsgesetzgebung widerspiegeln kann.3 Aus diesem Grund ist es keine Überraschung, dass in diesen Ländern ein restriktiver Ansatz bei der Regulierung der Abtreibung vorherrscht, weil er der Meinungsposition der Katholischen Kirche entspricht. Wie es bereits angedeutet wurde, ist die heutige Situation in Polen ein typisches Beispiel, obwohl man auch hier unter dem Einfluss politischer und gesellschaftlicher Umstände eine historische Veränderungen restriktiver und liberaler Gesetzgebungsansätze beobachten konnte.4 Es kann also festgestellt werden, dass die aktuellen und geltenden Abtreibungsgesetze in den einzelnen europäischen Staaten, die im folgenden Unterabschnitt näher analysiert werden, nicht völlig dogmatisch aufgefasst werden können. Es kann nämlich jederzeit zu einer grundlegenden Veränderung ihrer Wertorientierung kommen, und zwar in beide Richtungen.5

3

In der Vergangenheit war dies auch in Irland der Fall, einem ebenfalls stark katholisch geprägten Land, obwohl dort schließlich eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts (im Gegenteil zu Polen) erreicht wurde. Siehe dazu: Calkin/Kaminska, Persistence and Change in Morality Policy: The Role of the Catholic Church in the Changing Politics of Abortion in Ireland and Poland, Feminist Review 2020, 86. 4 Nowicka, The Struggle for Abortion Rights in Poland, in Parker-Petchesky-Sember (Hrsg), Sex Politics: Reports From The Front Lines (2007) 167. 5 Während in Irland eine Liberalisierung stattgefunden hat, ist der Trend in Polen derzeit umgekehrt. Dies ist jedoch nicht nur ein europäisches Problem, denn wir dürfen die bereits erwähnte Tatsache nicht vergessen, dass der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten vor kurzem (in der Rechtssache „Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization“) seine Position buchstäblich umgedreht hat, nachdem er jahrzehntelang das „Recht auf Abtreibung“ im einem breitem Sinne auf Bundesebene garantiert hatte.

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5.2

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Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen …

Polarisierung der staatlichen Politik und Gesetzgebung

Im wissenschaftlichen Diskurs hat sich im Prinzip die Unterscheidung zwischen zwei Arten der nationalen Abtreibungsgesetze etabliert. Dabei wird die vereinfachte Bezeichnung der betreffenden Gesetzgebung entweder als restriktiv oder als liberal verwendet. Im europäischen Kontext kann jedoch nicht generell von einem vollständigen Verbot und einer damit verbundenen Kriminalisierung der Abtreibung gesprochen werden, wie dies in der Vergangenheit der Fall war. Als restriktiv kann eher eine gesetzliche Regulierung angesehen werden, die die Durchführung einer Abtreibung nur aus abschließend bestimmten Gründen zulässt, deren Erfüllung nicht nur mit zeitlichen Beschränkungen (Fristen), sondern auch mit weiteren formellen Voraussetzungen einhergeht. Ebenso ist es nicht möglich zu sagen, dass eine liberale Abtreibungsgesetzgebung so gestaltet ist, dass eine Frau ihre Schwangerschaft ohne Einschränkungen medizinisch beenden kann. Ein liberaler Ansatz bedeutet, dass die Reihe von gesetzlichen Gründen für eine Abtreibung breiter ist, weil er sich nicht auf Gründe gesundheitlicher oder eugenischer Natur beschränkt, sondern auch ermöglicht, eine Schwangerschaft aus sozialen und ökonomischen Gründen oder sogar auf einen einfachen Antrag, der in keiner Weise begründet werden muss, zu beenden. Nach dem gleichen Prinzip werden im Folgenden nationale Rechtsvorschriften kategorisiert. Allerdings werden nur ausgewählte Beispiele aus beiden Kategorien näher definiert, während ihre Auswahl mit ihren Besonderheiten oder der Tatsache zusammenhängt, dass sie im realen Leben der Gesellschaft mit einem entgegengesetzten Ansatz konfrontiert sind. Zu diesem Zweck werde ich mich auf die Unterschiede zwischen der tschechischen und der polnischen Abtreibungsgesetzgebung konzentrieren, da diese die Grundlage für eine spätere Analyse des Abtreibungstourismus im Kontext mit dem Rechtsrahmen der Europäischen Union bilden.

5.2.1

Restriktive Ansätze

Im globalen Kontext kann man auch Länder finden, die die Abtreibung im Sinne der medizinischen Beendigung einer Schwangerschaft vollständig verbieten und kriminalisieren. Allerdings handelt es sich dabei um manche Staaten in Afrika,

5.2 Polarisierung der staatlichen Politik und Gesetzgebung

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Lateinamerika, Südostasien und Ozeanien oder in dem Nahen Osten.6 Auch in Europa gibt es danach Staaten, die einen restriktiven Ansatz zur Abtreibung vertreten, obwohl er nicht mit einem absoluten Verbot verbunden sein muss. Auf jeden Fall geht es um eine kleine Gruppe von Staaten, weil die Majorität der nationalen Abtreibungsgesetze eher liberal konzipiert werden. Derzeit gehören zu den Staaten mit einem restriktiven Ansatz Andorra, Liechtenstein, Malta, Monaco und Polen. Als am strengsten kann man danach die Regulierung in Andorra betrachten, weil sie die Abtreibung unter keinen Umständen erlaubt.7 In Malta ist es nur dann möglich, sich dem jeweiligen medizinischen Eingriff zu unterziehen, wenn eine Gefahr für das Leben der Frau besteht.8 In den übrigen Ländern ist die Gesetzgebung etwas milder. Was die Situation in Liechtenstein betrifft, darf eine Schwangerschaft medizinisch beendet werden, wenn ihre Fortsetzung das Leben der Mutter bedroht. Darüber hinaus ist jedoch eine Abtreibung auch dann legal, wenn die Schwangerschaft durch eine Straftat, in der Regel eine Vergewaltigung, herbeigeführt wurde. Eine ähnliche Regelung gibt es auch in Monaco, und zwar mit der Ausnahme, dass die Abtreibung auch bei genetischen Defekten des Fötus erlaubt ist.9 Die polnischen Abtreibungsgesetzgebung kann jedoch als der am meisten diskutierte europäische Ansatz angesehen werden, obwohl sie nicht zu den strengsten gehört. Dies ist zweifellos auf die geografische Ausdehnung und die damit verbundene Bevölkerungszahl (im Vergleich mit den oben genannten Staaten) zurückzuführen, was bedeutet, dass eine große Anzahl schwangerer Frauen 6

Center for Reproductive Rights, The World’s Abortion Laws: The definitive record of the legal status of abortion in countries across the globe, updated in real time, https://reproduct iverights.org/maps/worlds-abortion-laws/ (abgefragt am 13. 8. 2023). 7 Auch San Marino hatte ein ebenso restriktives Abtreibungsgesetz. Allerdings kam es kürzlich nach 150 Jahren zu einem großen Umschwung, als die Abtreibung legalisiert und erheblich liberalisiert wurde. Siehe dazu: International Planned Parenthood Federation, San Marino legalizes abortion care overturning a century-old law: interview with women’s rights advocate, https://europe.ippf.org/stories/san-marino-legalizes-abortion-care-overturning-cen tury-old-law-interview-womens-rights (abgefragt am 13. 8. 2023). 8 Diese Änderung der Abtreibungsgesetzgebung wurde erst vor wenigen Monaten verabschiedet, obwohl sie ursprünglich eine Abtreibung bei ernsthafter Gefahr für die Gesundheit der Frau ermöglichen sollte. Siehe dazu: Amnesty International, Malta: Lives put at risk as parliament waters down bill seeking to partially decriminalize abortion, https://www.amn esty.org/en/latest/news/2023/06/malta-lives-put-at-risk-as-parliament-waters-down-bill-see king-to-partially-decriminalize-abortion/ (abgefragt am 13. 8. 2023). 9 Centrer for Reproductive Rights, European Abortion Laws: A Comparative Overview, https://reproductiverights.org/wp-content/uploads/2020/12/European-abortion-law-a-com parative-review.pdf (abgefragt am 13. 8. 2023).

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Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen …

von jeglichen Beschränkungen des Zuganges zur Abtreibung betroffen ist. Falls man danach nur die moderne Geschichte der Abtreibungsgesetzgebung in Polen berücksichtigt, ist diese seit dem Fall des Kommunismus und dem damit verbundenen Wechsel des politischen Systems restriktiv ausgelegt, auch wenn es im Laufe der Zeit einige Veränderungen gegeben hat. Konkret ist die Regulierung dieser Fragen im sog. Gesetz über die Familienplanung, den Schutz des menschlichen Fötus und die Bedingungen für die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs vom Jahr 1993 (weiter auch bezeichnet als „das polnische Abtreibungsgesetz“) verankert.10 Zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens erlaubte das polnische Abtreibungsgesetz die medizinische Beendigung einer Schwangerschaft aus drei Gründen, die bereits im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des EGMR bemerkt worden sind. Der erste Grund, der immer gültig ist, ist eine reale Bedrohung für das Leben oder die Gesundheit der Frau. Um es zu bestätigen, muss die betroffene Frau über eine zustimmende Stellungnahme eines anderen Arztes verfügen.11 Der zweite Grund, der auch heute noch angewandt wird, ist der Fall, dass die Schwangerschaft das Ergebnis eines Verbrechens ist. Hier verlangt das polnische Abtreibungsgesetz dann die Einhaltung der 12-Wochen-Frist und den Nachweis einer positiven Bescheinigung der Staatsanwaltschaft.12 Der letzte Grund war die Möglichkeit einer Abtreibung unter der Bedingung, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit einer schweren und irreversiblen Missbildung des Fötus oder einer unheilbaren, lebensbedrohlichen Krankheit, diagnostiziert wurde.13 Im Laufe der Zeit gab es zwei wichtige Änderungen des polnischen Abtreibungsgesetzes, von denen die eine zu seiner Liberalisierung und die andere zu seiner weiteren Einschränkung führte. Die erste Änderung erfolgte im Jahr 1996, als eine Gesetzesnovelle verabschiedet wurde, die die Möglichkeit der Abtreibung aus sozialen Gründen einführte. Dies war jedoch nur von kurzer Dauer, da die fraglichen Bestimmungen durch eine Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts auf Vorschlag einer Gruppe von Mitgliedern des Sejm aufgehoben wurden. Kurz gesagt, das Verfassungsgericht kam zu dem Schluss, dass das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes auf dem oben erwähnten Art 38 der Verfassung der Republik Polen beruht, weshalb Abtreibung aus rein sozialen Gründen, 10

Ustawa z dnia 7 stycznia 1993 r. o planowaniu rodziny, ochronie płodu ludzkiego i warunkach dopuszczalno´sci przerywania ci˛az˙ y, Dz. U. 1993 Nr 17 poz. 78. 11 Die Bedingungen werden in den Umsetzungsvorschriften weiter spezifiziert, die u. a. vorsehen, dass eine Stellungnahme zur Einwilligung nicht eingeholt werden muss, wenn das Leben der Frau in unmittelbarer Gefahr ist. Siehe dazu: Valc, Právník 2022, 729 (733). 12 Art. 4a. des polnischen Abtreibungsgesetzes. 13 Dieser Grund wurde jedoch vom polnischen Verfassungsgericht aufgehoben (siehe unten).

5.2 Polarisierung der staatlichen Politik und Gesetzgebung

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die in keiner Weise spezifiziert oder definiert sind, nicht legalisiert werden kann. Obwohl es immer wieder Bestrebungen gab, die Abtreibungsgesetzgebung in die eine oder andere Richtung zu ändern, wurde keine dieser Maßnahme erlassen. Dennoch gab es im Jahr 2020 eine deutliche Verschiebung hin zu einer weiteren Verschärfung der Gesetzgebung in diesem Bereich. Dies wurde jedoch nicht im Sejm entschieden, sondern wiederum durch das maßgebliche Eingreifen des polnischen Verfassungsgerichts, demzufolge die Möglichkeit einer Abtreibung aus genetischen (eugenischen) Gründen nicht als verfassungskonform angesehen werden kann. Ohne die Ambition zu haben, die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts vom 22. 10. 2020, K 1/20, im Detail zu analysieren, sei nur hervorgehoben, dass es wie in seiner früheren Entscheidung die verfassungsrechtliche Verankerung und Bedeutung des Schutzes der Menschenwürde und des Rechts auf Leben des ungeborenen Kindes betont hat. Gleichzeitig wies das polnische Verfassungsgericht unter anderem darauf hin, dass die Definition der Bedingungen für die Anwendung des betroffenen Grundes für eine Abtreibung sehr vage formuliert ist und auf einer bloßen Wahrscheinlichkeit beruht, was unter dem Gesichtspunkt des Menschenrechtsschutzes nicht akzeptiert werden kann.14 Die vorliegende Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts wurde zum Gegenstand heftiger Kritik, nicht nur seitens der fünf Richter, die dagegen eine andere Meinung äußerten, sondern auch seitens der Fachöffentlichkeit und zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich für Frauenrechte im Bereich der Reproduktion einsetzen. Auf der materiellen Seite wurde dem polnischen Verfassungsgericht ein selektives und zielgerichtetes Vorgehen bei der Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen und Wertansatzpunkte vorgeworfen. Im Wesentlichen sollte es dem Schutz des ungeborenen Kindes völlige Priorität eingeräumt, obwohl Art 38 der Verfassung der Republik Polen laut Kritikern nicht ausdrücklich besagt, dass es sich um eine juristische Person und Träger des Rechts auf Leben handelt. Im Gegenteil, das polnische Verfassungsgericht vernachlässigte de facto die Rechte und Interessen der Frauen, die von einer Schwangerschaft und der anschließenden Erziehung ihres Kindes grundlegend betroffen sind. Darüber hinaus führt die Verweigerung des Zuganges zur Abtreibung unter anderem dazu, dass Frauen gezwungen werden, sich diesem medizinischen Eingriff entweder im Ausland oder auf illegale und oft unprofessionelle Weise zu unterziehen.15 Ungeachtet dieser Tatsache wurde auch dem polnischen Verfassungsgericht formelles Fehlverhalten vorgeworfen. Insbesondere wurde auf den ungewöhnlichen Prozess der Personalbesetzung des Gerichts und seiner Leitung, auf die proaktive und 14 15

Der Verfassungsgerichtshof der Republik Polen 28. 5. 1997, K 26/96. Valc, Právník 2022, 729 (738).

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Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen …

politisch motivierte Aufhebung der betroffenen Regulierung und auf die Beteiligung an der Entscheidung der Richter, die zuvor als Mitglieder der Legislative über den thematischen Gesetzentwurf abgestimmt hatten, gezeigt. Darüber hinaus erfolgte die Veröffentlichung der endgültigen Entscheidung mehrere Monate nach ihrem Erlass, ohne dass sachliche Gründe für ein solches Vorgehen angegeben wurden.16 Nach meiner Meinung führten die begründeten Zweifel an der Erfüllung der formalen Bedingungen, die mit der Entscheidungstätigkeit der jeweiligen Justizbehörde verbunden sind, zur Schwächung ihrer Gesamtautorität und auch der sachlichen Argumente, die in der besprochenen Entscheidung verwendet wurden. Im Zusammenhang mit dem Thema dieser Abschlussarbeit ist es jedoch wichtig, dass die Annahme dieser Gerichtsentscheidung den Zugang polnischer Frauen zur Abtreibung weiter einschränkte. Damit wurde Polen das einzige europäische Land in der modernen Geschichte, das seine eigene Abtreibungsgesetzgebung im Vergleich zum vorherigen Rechtsstand noch weiter verschärfte.17 Wie später noch näher erläutert wird, führte dieser Schritt verständlicherweise zu einer weiteren Verstärkung des Abtreibungstourismus und zur damit verbundenen offiziellen Verurteilung dieses Schrittes durch die bestimmten Organe der Europäische Union, die sich zugleich offen für die Wahrung des weit gefassten „Rechts auf Abtreibung“ äußerten.18

5.2.2

Liberale Ansätze

Obwohl in manchen europäischen Staaten ein restriktiver Ansatz bei der Regulierung der Abtreibung anhält oder sich verstärkt, ist in den letzten Jahrzehnten eine

16

Gliszczy´nska-Grabias/Sadurski, The Judgment That Wasn’t (But Which Nearly Brought Poland to a Standstill): ‘Judgment’ of the Polish Constitutional Tribunal of 22 October 2020, K1/20, EuConst 2021, 130 (135). 17 Dazu sollte ergänzt werden, dass es eine Bestrebung zur Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung auch in der Slowakei gab, obwohl sie nicht erfolgreich war. Dabei ging es jedoch nicht darum, einen konkreten Grund für die legale Abtreibung zu beseitigen, sondern vielmehr darum, Bedingungen festzulegen, die den Zugang zur Abtreibung erschweren (z. B. längere Wartezeiten, detailliertere Informationen für Antragsteller etc.). Siehe dazu: Amnesty International, Práva slovenských žen na bezpeˇcnou interrupci v ohrožení, https://www.amn esty.cz/pripad/slovensko-interrupce (abgefragt am 13. 8. 2023). 18 Valc, Právník 2022, 729 (745).

5.2 Polarisierung der staatlichen Politik und Gesetzgebung

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deutlich vorherrschende Tendenz zur Liberalisierung in diesem Bereich zu erkennen.19 Der Grund liegt darin, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme von Polen und Malta die Abtreibung unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur bei Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Mutter oder im Fall des Auftreten einer negativen genetischen Veranlagung auf der Seite des Fötus, sondern auch aus sozialen Gründen oder sogar auf einfachen Antrag, erlauben. Selbstverständlich ist die Abtreibung auch zumindest stillschweigend legalisiert, wenn die Schwangerschaft das Ergebnis eines sexuellen Übergriffs ist, ohne die Notwendigkeit, über eine Bescheinigung der Staatsanwaltschaft zu verfügen oder andere Beweise für entscheidende Tatsachen vorzulegen.20 Dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass der Zugang zur Abtreibung in diesen Staaten ansonsten völlig uneingeschränkt wäre. Sei es aus sozialen Gründen oder anhand der Einreichung eines einfachen Antrags, sind zeitliche oder andere Einschränkungen gesetzt. Was die Zeitfaktoren betrifft, kann man von bestimmten Zeiträumen sprechen, bis wann eine Abtreibung aus den bestimmten Gründen durchgeführt werden kann. Abhängig von der konkreten (nationalen) Gesetzgebung können die einzelnen Fristen für die Abtreibung auf Antrag oder aus sozialen Gründen zwischen zehn und vierundzwanzig Monaten liegen.21 Als eine Art der Beschränkung des Zuganges zur Abtreibung kann man nicht nur gesetzliche Fristen, sondern auch andere verfahrenstechnische Hindernisse betrachten. Typischerweise handelt es sich um eine obligatorische Beratung und eine Wartezeit, die insbesondere dazu dienen sollte, der Frau zu helfen, die Entscheidung über die Beendigung ihrer Schwangerschaft im Lichte der erhaltenen Informationen über den Verlauf, die Risiken und die möglichen Folgen dieses medizinischen Eingriffs zu überdenken. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation solche Maßnahmen als die Einschränkung der Fähigkeit der Frau bezeichnet, eine bewusste Entscheidung zu treffen, wurden sie in mehreren europäischen Staaten festgestellt, darunter z. B. in Belgien, Italien, den Niederlanden, Ungarn, 19

Dies wird auch durch die schon erwähnten Änderungen der Gesetzgebung in Irland und San Marino belegt, die auf der Grundlage der Ergebnisse des Referendums erfolgten. 20 Centrer for Reproductive Rights, European Abortion Laws: A Comparative Overview, https://reproductiverights.org/wp-content/uploads/2020/12/European-abortion-law-a-com parative-review.pdf (abgefragt am 14. 8. 2023). 21 Obwohl dies normalerweise eine gesetzliche Frist von zwölf Wochen ist (z. B. die Slowakei, die Tschechische Republik, Kroatien, Portugal, Litauen, Estland, Slowenien usw.), wird in einigen Ländern eine längere Frist von vierzehn Wochen (Österreich, Spanien, Rumänien, Frankreich)), achtzehn Wochen (Schweden), zwanzig bis zweiundzwanzig Wochen (Niederlande) oder vierundzwanzig Wochen (Großbritannien als ehemaliger Mitgliedstaat der Europäischen Union) festgestellt. Siehe dazu: Marques-Pereira, Abortion in the European Union: Actors, Issues and Discourse (2023) 15.

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Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen …

Deutschland usw. In den beiden letztgenannten Staaten werden diese obligatorischen Beratungen mit einem Arzt nach dem Gesetz so durchgeführt, dass sie Frauen davon abhalten sollen, ihre Schwangerschaft absichtlich zu beenden.22 In diesem Kontext darf nicht vergessen werden, dass nach dem deutschen StGB die Durführung einer Abtreibung generell als Straftat gilt.23 Es sind also nur ausdrückliche Ausnahmen von der Strafbarkeit vorgesehen, zu denen untern anderem auch die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Drei-Tages-Frist zwischen der Beratung und der Durchführung des betreffenden medizinischen Eingriffs gehört.24 Dies erhöht zweifellos den Druck auf die Ärzte und beeinflusst auch die Art und Weise, wie sie die festgestellte Konsultation angehen. Eine liberale Gesetzgebung im eigentlichen Sinne des Wortes kann daher als eine solche angesehen werden, die die oben genannten Verpflichtungen und Maßnahmen nicht vorschreibt. Im Gegenteil sollte es sich um eine Art der nationalen Regulierung handeln, die auch die Abtreibung auf Antrag innerhalb der gesetzlichen Frist zulässt, und zwar ohne besondere Anforderungen, die darauf abzielen würden, schwangere Frauen davon abzuhalten, sich dem Eingriff zu unterziehen. Ein Beispiel für einen solchen gesetzgeberischen Ansatz sind auch die tschechischen Abtreibungsvorschriften, die ich zur folgenden Analyse absichtlich ausgewählt habe, weil sie noch später besprochen werden, und zwar im Kontext mit dem Abtreibungstourismus zwischen der Tschechischen Republik und Polen. Vor allem muss man bemerken, dass die tschechische Regulierung der Abtreibung schon seit dem Jahr 1986 in Kraft ist, ohne in irgendeiner Weise geändert zu werden, worum sie eine Reihe von überholten Bestimmungen enthält.25 Den Rechtsrahmen bildet danach das Gesetz Nr. 66/1986 Slg., über die künstliche Unterbrechung einer Schwangerschaft (weiter auch bezeichnet als „das tschechische Abtreibungsgesetz“)26 . Von besonderer Bedeutung ist § 4 dieses 22 Centrer for Reproductive Rights, European Abortion Laws: A Comparative Overview, https://reproductiverights.org/wp-content/uploads/2020/12/European-abortion-law-a-com parative-review.pdf (abgefragt am 14. 8. 2023). 23 § 218 StGB. 24 § 218a StGB. 25 Insbesondere sieht die bestimmte Regulierung vor, dass Frauen den Antrag auf die Durchführung einer Abtreibung bei dem Arzt an ihrem Wohnort stellen müssen, was nicht mehr der aktuellen Rechtslage entspricht, die das Erfordernis einer ärztlichen Freistellung widerspiegelt. Ebenso werden Abtreibungen nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen, es sei denn, sie hängen mit therapeutischen Gründen zusammen. Siehe dazu: Valc, (Ne)reflektování nových embryologických poznatk˚u cˇ eskou interupˇcní legislativou, in Kyselovská-Chorvát-Kadlubiec-Springinsfeldová-Virzdeková-Drlíˇcková (Hrsg), Cofola 2016: Sborník z konference (2016) 1127. 26 Zákon c ˇ . 66/1986 Sb., o umˇelém pˇrerušení tˇehotenství.

5.2 Polarisierung der staatlichen Politik und Gesetzgebung

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Gesetzes, der besagt, dass eine Frau bis zum Ende der 12. Schwangerschaftswoche eine Abtreibung vornehmen lassen kann, sofern sie dies schriftlich beantragt und keine medizinischen Kontraindikationen vorliegen.27 Die folgende Bestimmung fügt hinzu, dass eine Schwangerschaft nach dem ersten Trimester nur aus medizinischen Gründen abgebrochen werden darf. Es muss sich entweder um eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Frau oder um eine Gefahr für die gesunde Entwicklung des Fötus handeln. Darüber hinaus ist die Abtreibung auch dann möglich, wenn um eine genetisch bedingte Fehlentwicklung des Fötus geht.28 Für Frauen unter 16 Jahren gilt außerdem eine besondere Vorschrift, weil sie für den Eingriff die Zustimmung eines gesetzlichen Vertreters benötigen. Wenn sie zwischen 16 und 18 Jahre alt sind, reicht es aus, wenn ihre gesetzlichen Vertreter informiert werden.29 Außer dem tschechische Abtreibungsgesetz spielt eine wichtige Rolle auch die Verordnung des Gesundheitsministeriums Nr. 66/1986 Slg., zur Durchführung des Gesetzes Nr. 66/1986 Slg. des tschechischen Nationalrats über die künstliche Unterbrechung einer Schwangerschaft (weiter auch bezeichnet als „die tschechische Abtreibungsverordnung“)30 , die im Gesetz festgelegten Gründe konkretisiert. Im Kontext mit der Abtreibung wegen der Gefährdung der Gesundheit stellt die tschechische Abtreibungsverordnung die medizinischen Kontraindikationen auf der Frauenseite fest, die es verhindern, eine Schwangerschaft abzubrechen. Im Grunde handelt es sich nicht nur um eine Liste von Krankheiten und anderen Zuständen, sondern auch um Fälle, in denen seit der letzten Abtreibung nicht mehr als sechs Monate vergangen sind, mit Ausnahme von Frauen, die mindestens zweimal das Kind geboren haben, über 35 Jahre alt sind oder aufgrund einer Straftat schwanger wurden.31 Darüber hinaus ist es nötig, auch die folgende Bestimmung zu bemerken, weil sie die sog. genetische Gründe für eine Abtreibung konkretisiert, wenn sie feststellt, dass in einem solchen Fall die Schwangerschaft nur bis zum Ende der 24. Schwangerschaftswoche beendet werden kann.32 Im Gegenteil gibt es keine zeitliche Begrenzung, bis wann die Frau 27

Dies stellt nicht in Frage, dass jeder Arzt verpflichtet ist, die Patienten über die Art, die Risiken und die erwarteten Auswirkungen eines medizinischen Eingriffs, einschließlich der Abtreibung, qualifiziert aufzuklären, was sich im Institut der informierten Einwilligung widerspiegelt (vgl. auch Art 5 des Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin). 28 § 5 des tschechischen Abtreibungsgesetzes. 29 § 6 des tschechischen Abtreibungsgesetzes. 30 Vyhláška c ˇ ˇ . 75/1986 Sb., kterou se provádí zákon Ceské národní rady cˇ . 66/1986 Sb., ˇ kterou se provádí zákon Ceské národní rady cˇ . 66/1986 Sb., o umˇelém pˇrerušení tˇehotenství. 31 § 1 und § 2 Abs 1 der tschechische Abtreibungsverordnung. 32 § 2 Abs 2 der tschechische Abtreibungsverordnung.

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Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen …

abtreiben kann, falls ihr Leben oder ihre Gesundheit gefährdet wird. Schließlich ist noch hinzuzufügen, dass beide Rechtsvorschriften auch die kontroversen Bestimmungen enthalten, die den Zugang ausländischer Frauen zur Abtreibung einschränken, worauf später im Zusammenhang mit dem Abtreibungstourismus und dem EU-Recht eingegangen wird.33

5.3

Zentrale Liberalisierungsbemühungen

Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es im europäischen Rechtsraum keine einheitliche Regulierung der Abtreibung gibt. Mit anderen Worten wurde kein zwischenstaatlichen Konsensus über Gründe und Bedingungen erreicht, aus denen eine Abtreibung durgeführt werden darf. Auf der anderen Seite ist es möglich neue supranationale Tendenzen zu beobachten, einen breiten Zugang zur Abtreibung zu gewährleisten. In diesem Kontext spielen die wichtigste Rolle der Europarat und die Europäische Union. Während der Europarat eine auf regionaler Ebene tätige Menschenrechtsorganisation ist, ist die Europäische Union eine supranationale Organisation eigener Art, da sie sowohl die Merkmale einer internationalen Organisation als auch die Merkmale eines Staates aufweist.34 Obwohl es sich um zwei verschiedene Organisationen handelt, deren Tätigkeiten und Zuständigkeiten nicht miteinander verwechselt werden dürfen, sind sie in Bezug auf die institutionelle Garantie und den Schutz der Menschenrechte eng miteinander verbunden.35 Es ist kein Zufall, dass das „Recht auf Abtreibung“ sowohl

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Konkret geht es um § 10 des tschechischen Abtreibungsgesetzes und § 10 der tschechischen Abtreibungsverordnung. 34 Die wahre Natur der Europäischen Union als Organisation eigener Art ist jedoch umstritten, auch in Bezug auf den Vergleich mit der klassischen Form der Föderation als politische und staatliche Organisation. Siehe dazu: Magnette, What is the European Union? Nature and Prospects (2017) 1. 35 Dies wird nicht nur durch den ausdrücklichen Verweis auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR in der Präambel der EU-Grundrechtecharta bestätigt, sondern auch durch die langjährigen Bemühungen der Europäischen Union, der EMRK beizutreten, obwohl dieser Schritt eine Reihe von Fragen aufwirft, einschließlich eines möglichen Kompetenzkonflikts zwischen dem EGMR und dem EuGH. Siehe dazu: European Commission, The EU’s accession to the European Convention on Human Rights: Joint statement on behalf of the Council of Europe and the European Commission, https://ec.europa.eu/commission/pre sscorner/detail/en/statement_20_1748 (abgefragt am 15. 8. 2023).

5.3 Zentrale Liberalisierungsbemühungen

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in der EMRK als auch in der EU-Grundrechtecharta ausdrücklich nicht verankert ist, obgleich solche Bemühungen beobachtet werden können.36 Dennoch ist unter diesen Organisationen eine unterschiedliche Stellungnahme zu erkennen, was die offene Bewertung der (Nicht-) Zulässigkeit der polnischen Abtreibungsgesetze betrifft, die eine von Ausnahmen von den ansonsten liberalen Abtreibungsgesetzen der anderen Mitgliedstaaten darstellt.37 In Bezug auf den Europarat geht weder aus der Rechtsprechung des EGMR noch aus den Erklärungen anderer Organe hervor, dass die gesetzliche Möglichkeit, die Abtreibung nur aus therapeutischen Gründen vorzunehmen, gegen die positive Verpflichtung des Staates zum Schutz der in der EMRK verankerten Menschenrechte und Grundfreiheiten verstößt. Falls etwas kritisiert wurde, handelte es ich um die praktische und unberechtigte Verweigerung des Zuganges zur Abtreibung, und zwar in den Fällen, in denen die Durchführung des Eingriffes ausdrücklich legalisiert wird. In die gleiche Richtung schlägt die neuere Kritik des Ministerkomitees des Europarates vom 11. März 2021, das dem polnischen Staat nicht in erster Linie eine restriktive Haltung zur Abtreibung vorwirft, sondern vielmehr, dass er die bestimmten Urteile des EGMR nicht umgesetzt hat, in denen die faktische Nichtdurchsetzbarkeit der polnischen Abtreibungsvorschriften erklärt wurde. Die Forderungen des Ministerkomitees bestehen daher nicht in einer Lockerung der Abtreibungsrechtsvorschriften, sondern in der Einführung eines ausreichend wirksamen Kontrollmechanismus ihrer Durchsetzung.38 Auch aus dem EU-Recht lässt sich nicht ohne weiteres schließen, dass die Anwendung restriktiver Abtreibungsgesetze gegen die Verpflichtungen verstößt, zu denen sich Polen als Mitgliedstaat der Europäischen Union direkt verpflichtet hat.39 Was im Rahmen des Europarates durch die Rechtsprechung des EGMR und die damit verbundene Margin-of-appreciation-Doktrin erreicht wurde, beruht 36

European Parliament, Include the right to abortion in EU Charter of Fundamental Rights, demand MEPs, https://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20220701IPR34349/ include-the-right-to-abortion-in-eu-charter-of-fundamental-rights-demand-meps (abgefragt am 15. 8. 2023). 37 Eine weitere Ausnahme bildet Malta. 38 Council of Europe, Interim Resolution CM/ResDH(2021)44 Execution of the judgments of the European Court of Human Rights Tysi˛ac, R.R. and P. and S. against Poland, https://sea rch.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a1bdc4 (abgefragt am 15. 8. 2023). 39 Absichtlich ignoriere ich jetzt die Tatsache, dass die Verhinderung des Zuganges zur Abtreibung mit Menschenrechtsfragen verbunden ist, auch in Bezug auf das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens (Art 7 der EU-Grundrechtecharta), das jedoch nicht absolut ist und gegen andere Menschenrechte oder öffentliche Interessen abgewogen werden kann.

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Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen …

auf der Ebene der Europäischen Union auf der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips gemäß Art 5 Abs 3 des Vertrags über die Europäische Union (weiter auch bezeichnet als „EUV“), das die Gesetzgebungskompetenz der Europäischen Union zugunsten der Souveränität der Mitgliedstaaten begrenzt.40 Mit anderen Worten kann man zu dem Schluss kommen, dass die rechtliche Regulierung des Zuganges zur Abtreibung grundsätzlich eine nationale Angelegenheit ist, was bedeutet, dass es in diese Richtung keine spezifische Garantie innerhalb der Europäischen Union vorkommt.41 Trotzdem ist es nicht möglich zu bezweifeln, dass das Europäische Parlament der gegenteiligen Ansicht ist. Diese Tatsache kann man vor allem von zwei Entschließungen des Europäischen Parlaments ableiten, die als die Reaktion auf die Veränderungen der polnischen Abtreibungsgesetzgebung durch den Eingriff des polnischen Verfassungsgerichts erlassen wurden. Erstens geht es um die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. 11. 2020 zu der De-factoAbschaffung des Rechts auf Abtreibung in Polen (2020/2876(RSP)), in der am Anfang betont ist, dass die Europäische Union auf der Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte beruht, die in den einheitlichen internationalen Verträgen (einschließlich der EU-Grundrechtecharta) und anderen Rechtsdokumenten verankert sind. Was danach die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen betrifft, sind sie auch nach der Rechtsprechung des EGMR und der Stellungnahmen der zuständigen Organe der Vereinten Nationen mit mehreren Menschenrechten eng verbunden, insbesondere in Bezug auf das Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und das Diskriminierungsverbot. Aus diesem Grund müssen sie auch von allen Mitgliedstaaten garantiert und geschützt werden. Das Europäische Parlament verknüpft danach den allgemeinen Zugang zur Abtreibung ausdrücklich nicht nur mit dem Recht der Frau, die Entscheidung über ihren Körper und ihr Leben zu treffen (das sog. Recht auf freie Wahl), sondern auch mit der Verhütung geschlechtsspezifischer Gewalt.42 Nach Ansicht des Europäischen Parlaments ist Polen seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen, da die weitere Einschränkung des Zuganges zur Abtreibung durch die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts nicht nur den 40

Dadurch bezweifele ich nicht das derzeitige Problem der grenzüberschreitenden (Nicht-) Verfügbarkeit der Abtreibung innerhalb der Europäischen Union, d. h. ohne Diskriminierung von Bürgern anderer Mitgliedstaaten, worauf später eingegangen wird. 41 Marques-Pereira, Abortion in the European Union (2023) 13. 42 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. 11. 2020 zu der De-factoAbschaffung des Rechts auf Abtreibung in Polen (2020/2876(RSP)), 2021/C 425/17, 147.

5.3 Zentrale Liberalisierungsbemühungen

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bestehenden Standard des Menschenrechtsschutzes, sondern auch die faktische Lage der Frauen verschlechtert hat, die in vielen Regionen keinen Zugang zur Prävention und medizinischen Versorgung haben. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Abtreibungen in Polen bisher gerade wegen genetischer Defekte oder unheilbarer fötaler Krankheiten vorgenommen wurden, hat das Eingreifen des polnischen Verfassungsgerichts zu einem faktischen Verbot der Abtreibung in Polen geführt. Infolgedessen sind Zehntausende von Frauen jedes Jahr gezwungen, ungewollte Schwangerschaften entweder auf illegale Weise zu beenden oder in andere Länder zu reisen, in denen die Abtreibungsgesetze liberaler sind. Dies geschah, obwohl die gesellschaftliche Meinung eine Liberalisierung des Zuganges zur Abtreibung befürwortet und seine Einschränkung von breiten Protesten und Demonstrationen begleitet wird. Nach Europäischen Parlament sollte man auch nicht vergessen, dass die Legitimität des polnischen Verfassungsgerichts und seiner Entscheidung aus verschiedenen Gründen erheblich in Frage gestellt worden sei. Darum hat das Europäische Parlament den zuständigen EU-Institutionen empfohlen, nicht nur die Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung und der damit verbundenen Entscheidungspraxis des polnischen Verfassungsgerichts gründlich zu prüfen, sondern auch reale Konsequenzen aus der Verletzung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit zu ziehen. Gleichzeitig brachte er seine offene Unterstützung für diejenigen NGOs und Mitgliedstaaten zum Ausdruck, die polnischen Frauen die Möglichkeit geben, im Ausland abzutreiben.43 Diese Stellungnahme hat das Europäische Parlament auch in seiner Entschließung vom 11. 11. 2021 zum ersten Jahrestag des De-facto-Abtreibungsverbots in Polen (2021/2925(RSP)) geäußert. Im Prinzip hat es die schon formulierten Schlussfolgerunden in Bezug auf die Verletzung der international verankerten Frauenrechte wiederholt. Das Europäische Parlament fügte hinzu, dass die Abtreibung in Polen immer möglich ist, falls das Leben oder die Gesundheit einer Frau bedroht sind. Darüber hinaus werde die Abtreibung auch in Situationen legalisiert, in denen eine Frau infolge einer Vergewaltigung schwanger geworden ist. In der Praxis ist es jedoch problematisch, sich auf diese Gründe zu berufen, da sich Ärzte häufig weigern, eine Schwangerschaft künstlich zu beenden, entweder unter Berufung auf ihr Gewissen oder aus Sorge, die strengen gesetzlichen Auflagen nicht zu erfüllen und sich dem Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen. In diesem Zusammenhang wies das Europäische Parlament unter anderem auf die bekannt gewordenen Fälle von Frauen hin, die starben, 43

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. 11. 2020 zu der De-factoAbschaffung des Rechts auf Abtreibung in Polen (2020/2876(RSP)), 2021/C 425/17, 147.

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Die Regulierung der Abtreibung im Rahmen …

nachdem Ärzte sich geweigert hatten, die Abtreibung rechtzeitig vorzunehmen, weil der Fötus noch Lebenszeichen zeigte, obwohl die rechtlichen Voraussetzungen ansonsten erfüllt waren. Nach Ansicht des Europäischen Parlaments ist dies ein Beispiel dafür, wie die derzeitige Form der polnischen Abtreibungsgesetzgebung in Einzelfällen tragische Folgen haben kann, was nicht nur eine Folge ihrer restriktiven Gestaltung, sondern auch des Machtdrucks ist, der durch die Androhung von Sanktionen auf die Ärzte ausgeübt wird. Das Europäische Parlament hat daher seine Forderung nach Achtung der sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen bekräftigt, die neben der Gewährleistung des Zuganges zur Abtreibung auch die entsprechende Prävention, einschließlich der Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, umfassen sollte. Gleichzeitig forderte das Europäische Parlament die Mitgliedstaaten auf, die sexuellen und reproduktiven Rechte universell, d. h. ohne jegliche Form der Diskriminierung, zu garantieren.44 Von den oben besprochenen Entschließungen kann man ableiten, dass das Europäische Parlament für eine Liberalisierung der polnischen Abtreibungsgesetze plädiert. Seiner Ansicht nach steht die oben beschriebene Beschränkung des Zuganges zur Abtreibung im Widerspruch zur Verpflichtung des Staates zum Schutz des Privat- und Familienlebens. Dies ist eine grundlegende Abweichung von der Rechtsprechung des EGMR und der schon erwähnten vorläufigen Entschließung des Ministerkomitees zu deren ordnungsgemäßer Umsetzung. Im Rahmen des Europarates wurde nicht direkt kritisiert, dass die polnischen Abtreibungsgesetze a priori als restriktiv konzipiert werden. Was der EuGH als problematisch betrachtet hat, ist die Tatsache, dass es keine effektiven Mechanismen gibt, um die polnische Regulierung trotz des Widerwillens der Ärzte oder der zuständigen Behörden und ohne Verzögerung durchzusetzen, falls alle gesetzlichen Bedingungen erfüllt sein sollten. Umgekehrt wurde vom EuGH nie entschieden, dass die Nichtzulassung der Abtreibung auf Antrag oder aus anderen nichtmedizinischen Gründen automatisch eine unzulässige Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens darstellt. Wegen des Fehlens von einem europäischen Konsens habe der Staat grundsätzlich den Ermessensspielraum bei der Abwägung zwischen dem fraglichen Recht und anderen Rechten und öffentlichen Interessen, solange dies gerechtfertigt und nicht unverhältnismäßig oder sogar exzessiv sei.45 Das Vorgehen des Europäischen Parlaments kann daher 44

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. 11. 2021 zum ersten Jahrestag des De-facto-Abtreibungsverbots in Polen (2021/2925(RSP)), 2022/C 205/05, 44. 45 Andererseits kann nicht bestritten werden, dass es auch innerhalb des Europarates seit langem die Tendenz gibt, einen liberalen Ansatz in Bezug auf Abtreibungsgesetze zu fördern, allerdings eher in Form von Empfehlungen als in Form einer klaren Schlussfolgerung zu Menschenrechtsverletzungen und einer damit verbundenen kritischen Bewertung konkreter

5.3 Zentrale Liberalisierungsbemühungen

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als aktivistisch bewertet werden, ohne dass dies zwangsläufig bedeutet, dass es illegitim oder unakzeptabel ist.46 Darüber hinaus beruht es de facto auf der offenen Unterstützung des Abtreibungstourismus zwischen den Mitgliedstaaten, was mit mehreren Fragen verbunden ist, die im folgenden Kapitel auf der Grundlage des EU-Rechts und des Aufeinandertreffens widersprüchlicher nationaler Ansätze erörtert werden.

nationaler Gesetze. Siehe dazu: Parliamentary Assembly (Council of Europe), Resolution 1607 (2008) – Access to safe and legal abortion in Europe, https://pace.coe.int/en/files/ 17638/html (abgefragt am 17. 8. 2023). 46 Das Europäische Parlament aktualisierte daraufhin seinen Standpunkt in einer vor kurzem veröffentlichten Entschließung, die eine Reaktion auf die oben erwähnte Abkehr des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten von seiner früheren Rechtsprechung war, die das „Recht auf Abtreibung“ auf Bundesebene festgelegt hatte. Siehe dazu: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9. Juni 2022 zu weltweiten Bedrohungen des Rechts auf Abtreibung: die mögliche Aufhebung des Rechts auf Abtreibung in den USA durch den Obersten Gerichtshof (2022/2665(RSP)), 2022/C 493/12, 120.

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Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten der Europäischen Union

Die unterschiedlichen Gesetzgebungsansätze in den einzelnen europäischen Ländern führen zu einer Reihe sozialer und rechtlicher Probleme. Dazu gehört insbesondere die Entwicklung des bereits erwähnten Phänomens des Abtreibungstourismus, bei dem Bürgerinnen aus Ländern mit einer restriktiven Gesetzgebung in ein anderes Land mit einer liberalen Gesetzgebung reisen, um dort ihre Schwangerschaft künstlich zu beenden. Wenn man die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Hindernisse auf Seite der betroffenen Frauen ausräumt, muss man sich mit der Frage befassen, ob der Zugang zur Abtreibung in einem anderen Staat nicht nur rechtlich möglich ist, sondern ob es sogar die Verpflichtung des Staates ist, Staatsangehörigen anderer Staaten diesen Zugang zu ermöglichen. Die Antwort auf diese Frage hängt logischerweise nicht nur von nationalen Rechtsvorschriften, sondern auch von internationalen Verpflichtungen ab. Im Rahmen der europäischen Integration ist es vor allem nötig, die Prinzipien des Binnenmarktes und die damit verbundenen Grundfreiheiten zu berücksichtigen, die durch das EU-Primärrecht garantiert werden. Im Kontext mit dem Abtreibungstourismus macht es danach Sinn, sich mit der Natur der Dienstleistungsfreiheit zu beschäftigen und die Frage zu beantworten, ob sie auch in diesem Bereich Anwendung findet oder nicht. Diese Erkenntnisse werde ich danach mit der aktuellen Entwicklung des Abtreibungstourismus aus Polen konfrontieren, insbesondere in Bezug auf die eurokonforme Auslegung der tschechischen Gesetzgebung, die manchen ausländischen Frauen den Zugang zur Abtreibung verwehrt.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Valc, Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union, BestMasters, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43447-2_6

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6.1

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Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit …

Rechtsgarantie des freien Dienstleistungsverkehrs

Zu den Grundpfeilern der Europäischen Union gehört bekanntlich die Gewährleistung der vier Grundfreiheiten, nämlich des freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs.1 Ihre geschichtlichen Ursprünge sind jedoch mit der Schaffung des einheitlichen Binnenmarktes verbunden, die in den 1950er Jahren mit der Verabschiedung des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl aus dem Jahr 1952 (EGKS), des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus dem Jahr 1957 (EWGV) und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft aus dem Jahr 1957 (Euratom) begann. Der gemeinsame Zweck der Verabschiedung dieser Dokumente war die Beseitigung der wirtschaftlichen Schranken zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften, und zwar mit dem Ziel, nicht nur den wirtschaftlichen Wohlstand zu erreichen, sondern auch einen weiteren Weltkrieg in Europa durch die gegenseitige Zusammenarbeit und Abhängigkeit der europäischen Staaten zu verhindern. Die Schaffung und Entwicklung eines gemeinsamen Marktes, der die oben genannten Grundfreiheiten garantiert und auf dem Grundsatz des freien Wettbewerbs beruht, ist neben der damit verbundenen Schaffung einer Zollunion zu einem langfristigen Ziel der europäischen Integration geworden. Ein weiterer wichtiger Schritt in dieser Hinsicht war die Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (1986)2 , mit der der Binnenmarkt bis 1992 vollendet werden sollte, indem die einzelstaatlichen Vorschriften in den betreffenden Bereichen durch mehrere hundert Richtlinien, die auf der Grundlage der einschlägigen Bestimmungen des EWGV3 erlassen wurden, angeglichen wurden.4

1

Dazu ist zu sagen, dass die Grundfreiheiten und die Grundrechte nicht miteinander verwechselt werden dürfen, obwohl beide Kategorien im primären EU-Recht verankert sind. Während es bei den Grundrechten in erster Linie um den Schutz des Einzelnen geht, sind die Grundfreiheiten mit grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Faktoren verbunden. Dies ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass beide Kategorien die Rechtssphäre des Einzelnen betreffen. Siehe dazu: Lorenzmeier, Europarecht – Schnell erfasst (2017) 178. 2 Dieser Akt war eine Fortsetzung des zuvor veröffentlichten Weißbuchs zur Vollendung des Binnenmarktes der Kommission der Europäischen Gemeinschaft (1985). Siehe dazu: Jacques/Beuter, Binnenmarktpolitik, in Weidenfeld/Wessels (Hrsg), Jahrbuch der Europäischen Integration 1985 (1986) 149. 3 In Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit waren die Art 62 und 63 des EWG-Vertrags entscheidend. Auf dieser Grundlage wurde dann auch das Allgemeine Programm des Rates zur Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs (1961) verabschiedet. 4 Militaru, The internal market of the European Union. Fundamental freedoms (2018) 8.

6.1 Rechtsgarantie des freien Dienstleistungsverkehrs

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Aus heutiger Sicht ist der freie Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr auf der Ebene des Primärrechts in einzelnen Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (weiter auch bezeichnet als „AEUV“) verankert.5 Vor allem geht es um Art 56 AEUV, in dem festgestellt ist: „Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten.“6 Darüber hinaus muss man auch Art 57 AUEV berücksichtigen, weil er den Schlüsselbegriff „Dienstleistung“ folgend definiert: „Dienstleistungen im Sinne der Verträge sind Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen.“7 Daraus lässt sich ableiten, dass Dienstleistungen in Bezug auf ihren freien Verkehr gegenüber dem freien Personen-, Waren- und Kapitalverkehr negativ definiert sind.8 Gleichzeitig muss die Dienstleistungsfreiheit von der Niederlassungsfreiheit unterschieden werden, da die Niederlassungsfreiheit nicht im vorübergehenden oder sporadischen Erbringen und Empfangen von Dienstleistungen besteht, sondern in der kontinuierlichen Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat, d. h. nach dem Grundsatz der wirtschaftlichen Integration.9

5

Die einzelnen Aspekte der Freizügigkeit, die in den betreffenden Bestimmungen des EWGV verankert sind, wurden jedoch auch in den Vertrag über die Europäische Union von 1993 (EUV) aufgenommen. 6 Dies schließt die Anwendung der Ausnahme der unterschiedlichen Behandlung von Ausländern zum Schutz der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der Gesundheit im Sinne von Art 52 AEUV nicht aus. Eine solche (nationale) Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs muss jedoch in kohärenter und systematischer Weise ein legitimes Ziel verfolgen, wobei die Anforderungen, die sich aus den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaft ergeben, zu beachten sind. Siehe dazu: EuGH 11. 6. 2015, C-98/14, Berlington Hungary u. a./Állam. 7 Gleichzeitig enthält der Artikel eine beispielhafte Liste von Tätigkeiten, die als Dienstleistungen im Sinne der Vorschrift gelten. Dagegen sind Dienstleistungen als wirtschaftliche Tätigkeiten im weiteren Sinne des Wortes, die mit der Ausübung der öffentlichen Gewalt verbunden sind, generell ausgeschlossen (Art 51 AEUV). 8 Im Kern geht es hier jedoch nicht um einen Vorrang oder eine subsidiäre Anwendung, sondern um den unterschiedlichen Geltungsbereich, und zwar im Kontext mit der Natur jedes Sachverhaltes. Siehe dazu: EuGH 3. 2. 2006, C-452/04, Fidium Finanz/ Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. 9 Lorenzmeier, Europarecht 205.

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Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit …

Hinzuzufügen ist, dass die Dienstleistungsfreiheit sowohl unmittelbare als auch mittelbare Wirkung hat, was bedeutet, dass sie nicht nur gegenüber den Mitgliedstaaten (vertikal), sondern auch gegenüber anderen natürlichen oder juristischen Personen geltend gemacht werden kann. Was den allgemeinen Schutzumfang bei der Ausübung dieser Grundfreiheit betrifft, so ist zwischen persönlichen, sachlichen und räumlichen Aspekten zu unterscheiden. Wenn man mit dem persönlichen Aspekt anfängt, können sich nur EU-Bürger bzw. Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates auf die Dienstleistungsfreiheit berufen, sofern sie nicht in dem gleichen Mitgliedstaat ansässig sind, in dem die Dienstleistung erbracht wird.10 Dies ist darauf zurückzuführen, dass diese Grundfreiheit für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen gilt, d. h. für den Schutz des Binnenmarktes der Europäischen Union.11 Im Gegenteil betrifft sie nicht die wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb des nationalen Marktes eines Mitgliedstaates.12 Hier kommt man bereits zur Begrenzung des sachlichen Aspekts des Schutzbereiches, der nicht nur einen grenzüberschreitenden Charakter der Dienstleistungsfreiheit, sondern auch die schon oben erwähnte Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit erfordert. Eine Dienstleistung ist nämlich mit einer vorübergehenden und sporadischen Tätigkeit verbunden.13 Gemäß Art 57 AEUV muss es sich gleichzeitig um die Dienstleistungen handeln, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden. Im Prinzip kann man diese Folgerung mit der wirtschaftlichen Natur jeder Dienstleistung selbst verbunden. Entscheidend ist, dass die Dienstleistung gegen eine wirtschaftliche Gegenleistung erbracht wird, die auf einer gegenseitigen Vereinbarung zwischen dem

10

Was die Definition der Personen betrifft, die Anspruch auf die Dienstleistungsfreiheit haben, spielt auch Art 54 AEUV (in Bezug auf Art 62 AEUV) eine wichtige Rolle, wenn er feststellt: „Für die Anwendung dieses Kapitels stehen die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, den natürlichen Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.“ 11 Siehe dazu z. B.: EuGH 5. 6. 1997, C-64/96 und C-65/96, Land Nordrhein-Westfalen/ Uecker und Jacquet/Land Nordrhein-Westfalen; EuGH 21. 2. 1999, C-97/98, Jägerskiöld/ Gustafsson. 12 Es geht um sog. reine Inlandssachverhalte. Siehe dazu: Lorenzmeier, Europarecht 178. 13 Dieser Aspekt muss in Bezug auf Dauer, Regelmäßigkeit, Kontinuität usw. bewertet werden. Andererseits lässt sich der Dienstleistungsbegriff zeitlich nicht genau definieren, denn auch ausländische Projekte, deren Umsetzung mehrere Jahre in Anspruch nimmt, können darunter fallen. Siehe dazu: EuGH 30. 11. 1995, C-55/94, Gebhard/Consiglio dell’Ordine degli Avvocati e Procuratori di Milano; EuGH 11. 12. 2003, C-215/01, Schnitzer.

6.1 Rechtsgarantie des freien Dienstleistungsverkehrs

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Erbringer und dem Empfänger beruht.14 Mit anderen Worten sollte die Erbringung einer Dienstleistung im Sinne der entsprechenden Bestimmung des AEUV das Ziel haben, Gewinn zu erzielen. Andererseits bedeutet dies nicht, dass die Einstufung einer Tätigkeit als Dienstleistung von der Erzielung eines Gewinns abhängig ist.15 Für die tatsächliche Ausübung der Dienstleistungsfreiheit bzw. den Schutz des freien Dienstleistungsverkehrs ist das bloße Angebot einer Dienstleistung an potenzielle Empfänger aus einem anderen Mitgliedstaat von Bedeutung, sofern die bereits erörterten Bedingungen erfüllt sind.16 Dazu sollte ergänzt werden, dass die wirtschaftliche Orientierung nur auf der Seite des Leistungserbringers erforderlich ist. Für den Empfänger reicht es aus, dass er die Dienstleistung zu den vereinbarten Bedingungen annehmen will. Auf jeden Fall ist es möglich festzustellen, dass die Dienstleistungsfreiheit nicht nur für Leistungserbringer, sondern auch für Leistungsempfänger gilt, d. h. für Personen, die nicht im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit handeln.17 Es können also unterschiedliche Konstellationen oder Sachverhalte entstehen. Beispielsweise führt ein Leistungserbringer einen bestimmten Auftrag in einem anderen Mitgliedstaat aus. In einem anderen Fall kann sich der Leistungsempfänger in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort die Dienstleistungen eines Leistungserbringers in Anspruch zu nehmen.18 Im Zusammenhang mit Reisen und Tourismus kann danach eine Situation nicht ausgeschlossen werden, in der die Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Heimatland sowohl des Leistungserbringers als auch des Leistungsempfängers erbracht wird.19 Schließlich ist die Entwicklung der modernen Technologien zu berücksichtigen, die es ermöglichen, grenzüberschreitende Dienstleistungen nicht physisch, sondern digital zu erbringen, insbesondere mithilfe des Internets.20 Was danach den räumlichen Aspekt des Schutzbereiches betrifft, ist es nicht möglich zu dem Schluss zu kommen, dass die Dienstleistungsfreiheit ausschließlich auf das Gebiet der Europäischen Union beschränkt ist. Mit anderen Worten:

14

EuGH 27. 9. 1988, 263/86, Belgischer Staat/Humbel und Edel; EuGH 17. 11. 2009, C-169/ 08, Presidente del Consiglio dei Ministri/Sardegna. 15 EuGH 24. 3. 1994, C-275/92, H.M. Customs und Excise/Schindler. 16 Frenz, Handbuch Europarecht. Band 1. Europäische Grundfreiheiten (2012) 934. 17 Das können zum Beispiel Touristen sein. Siehe dazu: Frenz, Handbuch Europarecht 933. 18 EuGH 28. 11. 1998, C-274/96, Bickel und Franz. 19 EuGH 26. 2. 1991, C-154/89, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/ Französische Republik. 20 EuGH 6. 11. 2003, C-243/01, Gambelli u. a.

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Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit …

Der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit kann nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden, nur weil eine gewisse Verbindung zum Hoheitsgebiet eines Drittstaates, d. h. eines Staates, der nicht Mitglied der Europäischen Union ist, besteht. Es kann nämlich passieren, dass eine Dienstleistung zwar in einem Drittstaat erbracht wird, aber beide Vertragsparteien (Leistungserbringer und empfänger) sind in einem Mitgliedstaat ansässig, sofern mindestens eine von ihnen die Unionsbürgerschaft besitzt. Ein weiteres Beispiel ist eine Dienstleistung, die von einem Unionsbürger im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates erbracht wird, während der Empfänger Staatsangehöriger eines Drittlandes ist. Der Schutz des freien Dienstleistungsverkehrs ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn Drittstaatsangehörige an der Erbringung von Dienstleistungen beteiligt sind, sofern sie dies im Namen eines Unionsbürgers tun.21 Bereits zu Beginn dieses Unterkapitels wurde dann unter Bezugnahme auf Art 56 AEUV darauf hingewiesen, dass zur Sicherung dieser Grundfreiheit das Verbot von Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs im Primärrecht verankert ist. Gleichzeitig lässt sich aus der fraglichen Bestimmung ein Gebot der Inländerbehandlung ableiten, was im Prinzip bedeutet, dass die Angehörige der anderen Mitgliedstaaten wie eigene Angehörige behandelt werden müssen.22 Das Verbot gilt dann nicht nur für Maßnahmen, die auf einer offenen Diskriminierung beruhen, sondern auch für solche, die zwar dem Anschein nach neutral sind, aber eine Benachteiligung von Personen aus anderen Mitgliedstaaten zur Folge haben (die sog. verdeckte Diskriminierung).23 Als „Beschränkung“ des freien Dienstleistungsverkehrs kann danach nicht nur ein Verbot oder eine Behinderung angesehen werden, sondern auch eine Maßnahme, die die Dienstleistungen aus einem anderen Mitgliedstaat weniger attraktiv macht. Ebenso kann eine Maßnahme, die de facto zur Beschränkung des Marktzugangs zum Nachteil der Leistungserbringer aus anderen Mitgliedstaaten führt, als unzulässige Beschränkung angesehen werden.24 Dies schließt natürlich die bereits erwähnte Anwendung von Art 52 AEUV nicht aus, der eine solche Maßnahme rechtfertigen

21

In der Regel ist die Grundlage für eine solche Beteiligung ein Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitgeber als Unionsbürger. Siehe dazu: Frenz, Handbuch Europarecht 933. 22 Art 57 Abs 2 AEUV: „Unbeschadet des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Mitgliedstaat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt.“ 23 Frenz, Handbuch Europarecht 935. 24 EuGH 25. 6. 2009, C-356/08, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Republik Österreich.

6.2 Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung

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kann, sofern sie der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit oder dem Gesundheitsschutz dient. In diesem Zusammenhang muss jedoch das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit erfüllt sein, d. h. die Anwendung dieser Ausnahmen darf nur zum notwendigen Schutz wesentlicher Allgemeininteressen erfolgen.25

6.2

Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung

Im vorherigen Unterkapitel wurde die Dienstleistungsfreiheit als eine der Grundfreiheiten des freien Verkehrs innerhalb der Europäischen Union allgemein charakterisiert. Im Kontext mit verschiedenen Arten der wirtschaftlichen Tätigkeit gibt es jedoch Dienstleistungen, die spezifischer Natur sind, was sich auch in der praktischen Anwendung des freien Dienstleistungsverkehrs und in den nationalen Tendenzen zu (nicht) gerechtfertigten Beschränkungen niederschlagen kann. Zu dieser Kategorie gehören auch Gesundheitsdienstleistungen. Vor allem kann man nicht vergessen, dass der medizinische Bereich im Sinne der institutionelle Gesundheitsversorgung durch Krankenhäuser und andere zugelassene Einrichtungen schon traditionell mit erheblichen staatlichen Eingriffen durch öffentliche Regulierung und Kontrolle verbunden ist. Der Grund basiert auf der Tatsache, dass der Gesundheitsschutz bzw. der Zugang zu hochwertiger und rechtzeitiger medizinischer Versorgung ist nicht nur ein Grundrecht des Einzelnen, sondern auch eines der wichtigsten öffentlichen Interessen, die der Staat aktiv schützen muss. Gleichzeitig kann man nicht vergessen, dass die aktuelle Form der institutionellen Gesundheitsversorgung nicht nur Gesundheitseinrichtungen und einzelne Patienten, sondern auch Krankenversicherungen und andere Einrichtungen umfasst.26 Gleichzeitig können Pandemien oder andere gesellschaftliche Situationen auftreten, die zu einer objektiven Begrenzung der verfügbaren Kapazitäten von Gesundheitseinrichtungen und medizinischem Personal, einschließlich 25

EuGH 15. 6. 2006, C-255/04, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/ Französische Republik. 26 Im Allgemeinen war die Entwicklung der Gesundheits- und Sozialsysteme in der Vergangenheit durch die unterschiedlichen wirtschaftlichen und sonstigen Bedingungen in den einzelnen Ländern bedingt, so dass ihre Verwaltung eher als "interne Angelegenheit" betrachtet wurde. Die Mitgliedstaaten haben zwar eine gewisse Autonomie in diesem Bereich, aber sie müssen die Grundprinzipien der Gemeinschaft, einschließlich des freien Verkehrs von (Gesundheits-) Dienstleistungen, beachten. Siehe dazu: Baeten/Palm, Free movement of services in the EU and health care, in Mossialos-Permanand-Baetan-Hervey (Hrsg), Health Systems Governance in Europe: The Role of European Union Law and Policy (2010) 461.; EuGH 16. 5. 2006, C-372/04, Watts.

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Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit …

der für die Gesundheitsversorgung benötigten Materialien oder Ausrüstungen, führen.27 Alle diesen Faktoren können die Bemühungen beeinflussen, den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten zu beschränken, ohne dass dies unter allen Umständen unzulässig wäre. Zunächst ist jedoch zu prüfen, ob Gesundheitsdienstleistungen als Dienstleistungen im Sinne von Art 57 AEUV angesehen werden können, der neben seiner Negativdefinition in Bezug auf den freien Personen-, Waren- und Kapitalverkehr die Voraussetzung enthält, dass es sich um Leistungen handeln muss, „die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden“. Wie schon bemerkt wurde, unterscheiden sich medizinische Leistungen aus der Natur der Sache (in Bezug auf Gesundheitsschutz als öffentliches Interesse)28 von anderen Leistungen wirtschaftlicher Natur. Aus diesem Grund wurde diskutiert, ob man sie als „Dienstleistungen“ betrachten kann, die durch die entsprechende Grundfreiheit des freien Verkehrs geschützt werden. Der EuGH wurde ebenfalls mit dieser Frage konfrontiert. Konkret kann man die Schlussfolgerungen hervorheben, die der EuGH in der Rechtssache „Kohll“ formuliert hat. Er hat festgestellt, dass die Möglichkeit eines EU-Bürgers, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um da die Dienste eines niedergelassenen Zahnarztes gegen Bezahlung in Anspruch zu nehmen, fällt in den Geltungsbereich des freien Dienstleistungsverkehrs, von dem der Gesundheitssektor als Wirtschaftssektor nicht ausgeschlossen werden kann.29 Es muss danach nicht so sein, dass der Patient letztlich die Kosten für die Erbringung einer Gesundheitsdienstleistung trägt. Das kann man auch von dem Urteil des EuGH in der Rechtssache „Europäische Kommission gegen Königreich Spanien“ ableiten: „Was zum einen Dienstleistungen der Gesundheitsversorgung betrifft, fallen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs entgeltliche medizinische Leistungen in den Anwendungsbereich der Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr, und zwar auch dann, wenn die Behandlung in 27

Ein typisches Beispiel ist die jüngste Covid-19-Pandemie, die durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelöst wurde und erhebliche Auswirkungen auf die Schwächung der nationalen Gesundheitssysteme hatte, was insgesamt zur Einführung nationaler Maßnahmen zur Einschränkung der Freizügigkeit führte. 28 Mit anderen Worten ist es mindestens kompliziert festzustellen, dass der Hauptzweck der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen die Gewinnerzielung sein sollte, wie dies normalerweise bei wirtschaftlichen Leistungen (Dienstleistungen) der Fall ist. Natürlich darf der Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Gesundheitsdienstleistern nicht außer Acht gelassen werden. 29 Gleichzeitig schloss der EuGH die Möglichkeit einer Beschränkung nach Art 52 AEUV. Siehe dazu: EuGH 28. 4. 1998, C-158/96, Kohll/Union des caisses de maladie.

6.2 Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung

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einem Krankenhaus erbracht wird […]. Außerdem verliert eine medizinische Leistung nicht deshalb ihren Charakter als Dienstleistung im Sinne von Art. 49 EG, weil der Patient, nachdem er den ausländischen Leistungserbringer für die erhaltene Behandlung bezahlt hat, später die Übernahme der Kosten dieser Behandlung durch einen nationalen Gesundheitsdienst beantragt […].30 Zu demselben Schluss ist der EuGH auch in seinem Urteil in der Rechtssache „Müller-Fauré und van Riet“ gekommen, als er zu dieser Frage angegeben hat, dass es egal ist, von wem und aus welchen Quellen Kosten im Zusammenhang mit der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen übernommen werden. Mit anderen Worten spielt keine Rolle, ob es der Patient ist, der eine solche Dienstleistung direkt oder indirekt (anhand einer Rückerstattung) bezahlt, weil es auch möglich ist, dass die entsprechenden Ansprüche des Leistungserbringers unmittelbar aus öffentlichen Mitteln befriedigt werden.31 Man kann also betonen, dass es nicht möglich ist, die Gesundheitsdienstleistungen vom Schutzbereich des freien Dienstleistungsverkehrs auszunehmen. In diesem Kontext wird im Rahnen der betroffenen Bestimmungen des AEUV den Leistungserbringern gewährleistet, dass sie Gesundheitsdienstleistungen auch in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ohne offene oder verdeckte Formen der Diskriminierung erbringen können. Ebenso wird zugunsten der Leistungsempfänger gewährleistet, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort im Kontext mit der Gesundheitsfürsorge als Patienten aufzutreten.32 Natürlich darf man nicht vergessen, dass in beiden Fällen ein Mitgliedstaat unter bestimmten Voraussetzungen die Dienstleistungsfreiheit beschränken kann, wenn er ein legitimes Ziel in Form des Schutzes der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit unter Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erreichen will (Art 52 AEUV).33 Es gibt jedoch Gesundheitsdienstleistungen, die sich von den anderen Leistungen dieser Art unterscheiden, weil sie sowohl eine rechtliche als auch eine ethische Dimension haben. Vor allem geht es um die Gesundheitsdienstleistungen, die mit der medizinischen (künstlichen) Beendigung eines Menschenlebens zusammenhängen. Zweifellos kann auch die Abtreibung als die künstliche Beendigung einer Schwangerschaft bzw. der Entwicklung eines ungeborenen Kindes in diese Kategorie einbezogen werden. Die Tatsache, dass man die Abtreibung 30

EuGH 15. 6. 2010, C-211/08, Europäische Kommission/Königreich Spanien, Rn. 47. EuGH 13. 5. 2003, C-385/99, Müller-Fauré/ Onderlinge Waarborgmaatschappij OZ Zorgverzekeringen UA und van Riet/Onderlinge Waarborgmaatschappij ZAO Zorgverzekeringen. 32 EuGH 16. 5. 2006, C-372/04, Watts. 33 Baeten/Palm, Free movement of services 478. 31

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Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit …

als eine Art der Gesundheitsdienstleistung betrachten kann, hat auch der EuGH bestätigt, als er in seinem Urteil in der Rechtssache „Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd gegen Stephen Grogan and Others“ festgestellt hat, „da[ss] der Schwangerschaftsabbruch, wie er in mehreren Mitgliedstaaten legal praktiziert wird, eine ärztliche Tätigkeit darstellt, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird und im Rahmen einer freiberuflichen Tätigkeit ausgeübt werden kann.“34 Darum ist der EuGH zu dem Schluss gekommen, „dass der ärztliche Schwangerschaftsabbruch, der im Einklang mit dem Recht des Staates vorgenommen wird, in dem er stattfindet, eine Dienstleistung im Sinne von Artikel 60 EWG-Vertrag darstellt.“35 Auf der anderen Seite hat der EuGH verweigert, moralische Argumente zu berücksichtigen, nach denen die Abtreibung als Dienstleistung nicht betrachtet werden sollte, weil sie im Prinzip unmoralisch ist und zur Zerstörung des Lebens eines menschlichen Wesens führt. Nach der Meinung des EuGH ist es nämlich nicht möglich, eine solche Argumentation zu verwenden, um die Sicht des nationalen Gesetzgebers auf die Abtreibung zu ersetzen, falls er beschließt, diesen medizinischen Eingriff zu legalisieren.36 Darüber hinaus musste sich der EuGH auch mit der Vorabentscheidungsfrage beschäftigen, ob ein Mitgliedstaat (in diesem Fall Irland) die Verbreitung genauer Informationen verbieten darf, die mit der Tätigkeit der bestimmten Kliniken in einem anderen Mitgliedstaat zusammenhängen, in denen Abtreibungen legal vorgenommen werden. Konkret handelte es sich nicht nur um die Verbreitung der Namen und Adressen mehrerer Kliniken, sondern auch um die Erleichterung der Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Dazu sollte ergänzt werden, dass der betroffene medizinische Eingriff nach dem irischen Recht schon immer verboten und kriminalisiert wurde. In diesem Fall wurden die oben genannten Informationen von einer Studentenvereinigung verbreitet, die jedoch mit den Kliniken in einem anderen Mitgliedstaat, in denen Abtreibungen vorgenommen werden, nicht zusammengearbeitet hat. Mit anderen Worten ging es nicht um die Verbreitung der Informationen, die in Verbindung mit der Tätigkeit einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen wirtschaftlichen Entität stehen. Darum kann ein

34

EuGH 4. 2. 1991, C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd/ Stephen Grogan u. a., Rn. 18. 35 EuGH 4. 2. 1991, C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd/ Stephen Grogan u. a. Rn. 21. 36 EuGH 4. 2. 1991, C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd/ Stephen Grogan u. a.

6.3 Das polnische Problem des Abtreibungstourismus

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solches Verbot nicht als eine Art der Beschränkung des freien Dienstleistungsverbot betrachtet werden, weil diese Verbreitung der Informationen vielmehr unter die Meinungs- und Informationsfreiheit fällt.37 Aus der vorliegenden Entscheidung ergibt sich, dass die Erbringung der Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung in einem anderen Mitgliedsstaat nicht ohne weiteres verhindert werden kann, sondern nur unter der Voraussetzung, dass dies im Einklang mit den gesetzlichen Regelungen des jeweiligen Mitgliedsstaates erfolgt. Mit anderen Worten: Es ist zum Beispiel nicht möglich, die Abtreibung ohne medizinische Indikation als Dienstleistung in einem anderen Mitgliedsstaat anzubieten und durchzuführen, sofern sie auch für inländische Leistungserbringer verboten oder sogar strafbar ist.38 Nach der derzeitigen Rechtslage sind die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, die künstliche Beendigung einer Schwangerschaft unter bestimmten Bedingungen zu legalisieren. Dies hindert Bürger dieser Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, sich dem medizinischen Eingriff in einem anderen Mitgliedstaat mit liberalem Rechtsrahmen zu unterziehen. Als Leistungsempfänger können sie sich nämlich auf die Dienstleistungsfreiheit berufen, falls sie sich in einen anderen Mitgliedsstaat begeben möchten, um sich dort gemäß den nationalen Vorschriften der Abtreibung unterzuziehen. Diese Situation führt danach zur Entstehung einer spezifischen Form des Abtreibungstourismus, der jedoch im Vergleich zum klassischen Tourismus negative Konnotationen hat, weil er unter der Last objektiver Umstände und schwieriger Bedingungen verwirklicht wird.

6.3

Das polnische Problem des Abtreibungstourismus

Es ist keine Überraschung, dass das Problem des Abtreibungstourismus im Kontext mit den Staaten diskutiert wird, die einen restriktiven Ansatz zur Abtreibung vertreten, d. h. die künstliche Beendigung einer Schwangerschaft mit Ausnahmen verbieten und sogar kriminalisieren. Falls ich mich absichtlich nur auf das Gebiet 37

EuGH 4. 2. 1991, C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd/ Stephen Grogan u. a. 38 Dies geschieht typischerweise wegen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, wenn die Verfassung und die Gesetze des jeweiligen Staates das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes anerkennen, weshalb die Abtreibung mit Ausnahmen verboten ist. Neuerdings wird dieses Problem auch im Zusammenhang mit der telemedizinischen Bereitstellung von Abtreibungspillen aus Mitgliedstaaten diskutiert, in denen ihre Verwendung legalisiert ist. Siehe dazu: Hervey/Sheldon, Abortion by telemedicine in the European Union, Int J Gynecol Obstet 2019, 125.

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Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit …

der Europäischen Union konzentriere, gibt es eine solche Situation nur in Polen und Malta, weil die irische Gesetzgebung, die in der Vergangenheit auch streng konzipiert wurde, vor ein paar Jahren zurück völlig liberalisiert wurde. In Polen sieht die Entwicklung ganz unterschiedlich aus, als die gesetzlichen Gründe für eine Abtreibung durch die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts noch reduziert wurden, was im Prinzip zum faktischen Verbot der Abtreibung führte. In diesem Kontext ist es logisch, dass polnische Frauen, die die übrigen und selten auftretenden gesetzlichen Gründe nicht erfüllen, drei Möglichkeiten haben. Erstens können sie die Schwangerschaft behalten, auch wenn sie sich sonst anders entscheiden würden. Zweitens verfügen sie über die Möglichkeit, ihre Schwangerschaft unter Verletzung des Gesetzes entweder durch einen chirurgischen und oft nicht fachgerechten Eingriff oder durch die Einnahme der Abtreibungspille zu beenden, was mit vielen gesundheitlichen Risiken verbunden ist. Drittens können sie den freien Dienstleistungsverkehr ausnutzen, um sich in einen anderen Mitgliedstaat mit den liberalen Abtreibungsgesetzen zu begeben, um dort das ungeborene Kind abzutreiben. Statistisch gesagt werden in Polen jedes Jahr nur hundert Abtreibungen vorgenommen. Zehntausende oder fast Hunderttausende Frauen greifen dann auf illegale Abtreibungen zurück. Der Rest reist zu diesem Zweck in einen anderen Staat.39 Was die dritte Lösung betrifft, werden sich betroffene Polinnen in der Regel für einen von Nachbarstaaten Polen entscheiden, der zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gehört. Eine wichtige Rolle spielt dabei nicht nur die geographische Distanz, sondern auch die Tatsache, dass die mit einer Abtreibung verbundenen Kosten nicht in allen Fällen von der Krankenkasse übernommen werden, auch nicht für eigene Staatsbürgerinnen. Auf der anderen Seite kann man nicht vergessen, dass es mehrere Non-Profit-Organisationen gibt, die den polnischen Frauen organisatorisch oder wirtschaftlich helfen, damit sie ihre Schwangerschaft in einem anderen Mitgliedstaat beenden können. Dies hängt auch mit der Zusammenarbeit mit einigen Kliniken zusammen, die für eine "humanitäre" Hilfe für polnische Frauen offen sind.40 Definit ist es möglich auch weitere Faktoren zu unterschieden, die beeinflussen, für welchen Mitgliedstaat sich polnische Frauen in einzelnen Fällen entscheiden. Auf jeden Fall ist die Entwicklung des Abtreibungstourismus nicht nur mit Deutschland, der Slowakei oder 39

Hussein-Cottingham-Nowicka-Kismodi, Abortion in Poland: politics, progression and regression, Reproductive Health Matters 2018, 11. 40 Stuláková/Šafová, Ženy v Polsku se bojí otˇ ehotnˇet. Kv˚uli interrupcím nás jich kontaktuje stále více, ˇríká cˇ lenka iniciativy, https://www.irozhlas.cz/zpravy-svet/ciocia-czesia-katarz yna-byrtek-interrupce-polsko-potratova-turistika-potrat_2211051318_ula (abgefragt am 24. 8. 2023).

6.3 Das polnische Problem des Abtreibungstourismus

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der Tschechischen Republik, sondern auch mit Österreich oder den Niederlanden verbunden.41 Dennoch ist es manchmal notwendig, zwischen der Praxis und den rechtlichen Erwägungen zu unterscheiden. Eine solche Situation kann insbesondere dann eintreten, wenn Abtreibungen zwar tatsächlich und typischerweise in großer Zahl an Bürgerinnen anderer Mitgliedstaaten vorgenommen werden, aber nationale Abtreibungsgesetze stellen für "ausländische Frauen" zusätzliche Beschränkungen oder Bedingungen fest. In der Regel ist eine dauerhafte oder langfristige Aufenthaltserlaubnis erforderlich, was auf die Zeit zurückgeht, als das europäische Territorium noch nicht als Raum ohne Binnengrenzen angesehen werden konnte. Auch in Schweden gab es in der jüngeren Vergangenheit derartige Rechtsvorschriften, die jedoch im Jahr 2005 geändert wurden. Mit anderen Worten wurde diese Beschränkung aufgehoben, und zwar mit der Begründung, dass dies eine Geste des guten Willens gegenüber den polnischen Frauen sein sollte. In der Tschechischen Republik, die sonst einige der liberalsten Abtreibungsgesetze in Europa hat, ist jedoch immer noch eine ähnliche Regulierung gültig, die eine solche Beschränkung des Zuganges zur Abtreibung für alle „ausländische“ Frauen ohne eine dauerhafte oder langfristige Aufenthaltserlaubnis feststellt.42 Trotzdem unterziehen sich jedes Jahr Hunderte bis Tausende von polnischen Frauen in der Tschechischen Republik einer Abtreibung.43 Die fraglichen Rechtsvorschriften stehen daher nicht nur im Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität, sondern je nach Auslegung möglicherweise auch im Widerspruch zum europäischen Recht, wie im nächsten Unterkapitel erläutert wird.

41

Abtreibungstourismus, https://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article12 5656579/Abtreibungstourismus.html (abgefragt am 24. 8. 2023). 42 Fiala, „Abtreibungstourismus in Europa: Unfreiwillige Reisen für eine medizinische Grundversorgung, pro familia magazin 2011, 10 (11). 43 In den offiziellen Statistiken des Instituts für Gesundheitsinformation und Statistik der Tschechischen Republik werden jedoch nur ausländische Frauen mit dauerhaftem und langfristigem Aufenthalt erfasst, was in Bezug auf polnische Frauen (EU-Bürgerinnen) nicht als ˇ Potraty 2022, https://www. aussagekräftig angesehen werden kann. Siehe dazu: UZIS CR, uzis.cz/res/f/008377/potraty2020.pdf (abgefragt am 24. 8. 2023).

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6.4

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Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit …

Das tschechische Abtreibungsrecht und seine europarechtskonforme Auslegung

Das tschechische Abtreibungsgesetz wurde im Jahr 1986 erlassen und seitdem nicht geändert. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass es sich um die Zeit des Sozialismus handelt, als die Tschechoslowakei noch Teil des Ostblocks war, was sich nicht nur in den allgemeinen sozialen Bedingungen, sondern auch in der politischen und rechtlichen Situation widerspiegelte. In Bezug auf die Problematik der Abtreibung hat sich dieser Umstand nicht nur in einem stark zentralisierten Gesundheitssystem, einschließlich der Zuständigkeit spezifischer Überprüfungsinstitutionen, sondern auch in der Einschränkung der Verfügbarkeit des betreffenden Gesundheitsdienstes für Personen aus dem Ausland, manifestiert. Konkret spielt eine wichtige Rolle § 10 des tschechischen Abtreibungsgesetzes, in dem festgestellt wird: „Bei ausländischen Frauen, die sich nur vorübergehend in der Tschechischen Sozialistischen Republik aufhalten, darf die künstliche Unterbrechung einer Schwangerschaft gemäß § 4 nicht vorgenommen werden.“44 Es geht nämlich nur um eine allgemeine Bestimmung, die anhand des § 12 dieser Rechtsvorschrift weiter konkretisiert wird, und zwar durch § 10 Abs 1 der tschechischen Abtreibungsverordnung45 , nach dem es gilt: „Der Aufenthalt von Ausländerinnen, die in Einrichtungen und Organisationen mit Sitz in der Tschechischen Sozialistischen Republik tätig sind, oder von Familienangehörigen der Mitarbeiter dieser Einrichtungen und Organisationen, und der Aufenthalt von Studenten und anderen Ausländerinnen, die eine Aufenthaltserlaubnis für Ausländer nach besonderen Vorschriften oder zwischenstaatlichen Abkommen haben, gelten nicht als vorübergehender Aufenthalt. Die medizinische Einrichtung ist verpflichtet, die Vorlage des entsprechenden Dokuments zu verlangen.“46 44

Es handelt sich um die Übersetzung des Autors. Im Originaltext lautet die Regulierung ˇ wie folgt: „Umˇelé pˇrerušení tˇehotenství podle § 4 se neprovede cizinkám, které se v Ceské socialistické republice zdržují pouze pˇrechodnˇe.“ 45 Hinsichtlich der Rechtsbegriffe, die mit den Aufenthaltsformen verbunden sind, wird auf die damals geltenden gesetzlichen Regulierung im Bereich des Aufenthalts von Ausländern auf dem Gebiet der Tschechoslowakei verwiesen. 46 Es handelt sich um die Übersetzung des Autors. Im Originaltext lautet die Regulierung wie folgt: „Za pˇrechodný pobyt se nepovažuje pobyt cizinek, které pracují v orgánech a organiˇ zacích se sídlem v Ceské socialistické republice, popˇrípadˇe cˇ lenek rodin pracovník˚u tˇechto orgán˚u a organizací, pobyt studujících a jiných cizinek, které mají povolení k pobytu pro cizince podle zvláštních pˇredpis˚u, popˇrípadˇe mezistátních dohod. Zdravotnické zaˇrízení má povinnost požadovat pˇredložení pˇríslušného dokladu.“

6.4 Das tschechische Abtreibungsrecht …

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Aus heutiger Sicht gibt es nicht viele Probleme mit der Auslegung und Anwendung dieser Regulierungen, was den Zugang zur Abtreibung für Drittstaatsangehörige betrifft, weil man die oben begrenzten Voraussetzungen weiter verwenden kann, einschließlich der Anforderung, dass ihre Erfüllung durch eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis (in Bezug auf den Aufenthaltsstatus) und durch andere Dokumente nachgewiesen werden muss. Es stellt sich jedoch die Frage, ob und wie diese Regulierung auf EU-Bürgerinnen angewendet werden kann, vor allem auf polnische Frauen, die aus den oben genannten Gründen eine Abtreibung in anderen EU-Mitgliedstaaten, einschließlich der Tschechischen Republik, vornehmen lassen. Zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung wurde es in den betreffenden Rechtsvorschriften noch nicht zwischen den Begriffen „Ausländer“ und „Unionsbürger“ unterschieden, obwohl es sich aus heutiger Sicht um die ganz unterschiedlichen Begriffe handelt, deren Bedeutung nicht verwechselt werden kann. Auf jeden Fall gibt es im tschechischen rechtlichen und politischen Umfeld seit langem eine Debatte darüber, wie die fraglichen Bestimmungen auszulegen sind. Diese Debatte hat sich danach in letzter Zeit im Zusammenhang mit der Verschärfung der polnischen Abtreibungsgesetze und mit dem damit verbundenen Anstieg des Abtreibungstourismus von Polen in die Tschechische Republik intensiviert. Dabei handelt es sich nicht nur um eine theoretische Frage, sondern um eine Kontroverse darüber, ob es legal ist, die Abtreibung an einer polnischen Frau ohne die erforderliche Aufenthaltserlaubnis (siehe oben) vorzunehmen, d. h. ob es sich nicht um die Straftat im Sinne von § 160 des Gesetzes Nr. 40/2009 Slg., Strafgesetzbuch (weiter auch bezeichnet als „das tschechische Strafgesetzbuch“)47 , handelt, der besagt: „Wer mit Zustimmung einer schwangeren Frau deren Schwangerschaft auf andere als die nach dem Gesetz über die künstliche Unterbrechung einer Schwangerschaft zulässige Weise künstlich beendet, wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren oder mit Tätigkeitsverbot bestraft.“48 Das Problem liegt darin, dass man auf zwei völlig unterschiedliche 47

In den folgenden § 161 und § 162 des tschechischen Strafgesetzbuches wird dann auch die Beihilfe zu einer rechtswidrigen Abtreibung unter Strafe gestellt, was theoretisch auch gemeinnützige Organisationen und andere Einrichtungen betreffen könnte, die die künstliche Beendigung einer Schwangerschaft lediglich vermitteln usw. Dazu sollte ergänzt werden, dass die schwangeren Frauen selbst nicht bestraft werden können (§ 163 des tschechischen Strafgesetzbuches). 48 Es handelt sich um die Übersetzung des Autors. Im Originaltext lautet die Regulierung wie folgt: „Kdo se souhlasem tˇehotné ženy umˇele pˇreruší její tˇehotenství jinak než zp˚usobem pˇrípustným podle zákona o umˇelém pˇrerušení tˇehotenství, bude potrestán odnˇetím svobody na jeden rok až pˇet let nebo zákazem cˇ innosti.“

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Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit …

Rechtsansichten stoßen kann, die beide durch eine Stellungnahme der zuständigen Behörde im Gesundheitsbereich unterstützt werden. Nach der ersten Rechtsansicht muss man den Wortlaut des Gesetzes beachten, der es im Allgemeinen nicht zulässt, diesen medizinischen Eingriff bei ausländischen Frauen ohne eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis durchzuführen. Diese Auffassung vertritt auch die tschechische Ärztekammer als Berufsverband, die eine Erklärung abgab und ihre Mitglieder gewarnt hat, dass sie eine strafrechtliche Verfolgung riskieren, wenn sie sich nicht am Gesetz halten. Die Ärztekammer rät Ärzten daher davon ab, dies zu tun.49 Im Gegenteil haben sich sowohl das Gesundheitsministerium der Tschechischen Republik als auch der tschechische Ombudsmann so geäußert, dass polnische Frauen als Unionsbürgerinnen sich in die Tschechische Republik begeben können, um eine Abtreibung in Übereinstimmung mit der Grundfreiheit des freien Dienstleistungsverkehrs vorzunehmen. Der Grund basiert auf der Tatsache, dass die Abtreibung nach der Rechtsprechung des EUGH als Gesundheitsdienstleistung betrachtet werden muss, was bedeutet, dass es nicht möglich ist, gesetzliche oder sonstige Maßnahmen einzuführen oder anzuwenden, die eine Beschränkung dieser Grundfreiheit zur Folge haben. Andernfalls würde es um eine unzulässige Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gehen.50 Nach Auffassung des zuständigen Ministeriums kann danach das Recht der Patienten auf Zugang zur grenzüberstreitenden Gesundheitsversorgung nicht nur aus dem primären EU-Recht (in Bezug auf die Garantie der Dienstleistungsfreiheit), sondern auch aus der RL 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. 3. 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (weiter auch bezeichnet als „RL 2011/24/EU“), ableiten, die eine diskriminierende Behandlung von Patienten aus anderen Mitgliedstaaten an mehreren Stellen verbietet.51 Obwohl die RL 2011/24/EU in erster Linie durch eine allgemeine Rechtsvorschrift im Sinne des Gesetzes Nr. 372/2011 Slg., über Gesundheitsdienstleistungen, umgesetzt wurde, hat dies zweifellos auch Auswirkungen auf die Auslegung der tschechischen Abtreibungsvorschriften, die sich mit der Abtreibung als eine Art der Gesundheitsdienstleistung beschäftigen.52 Darüber hinaus haben die genannten Behörden betont, dass die 49 Medical Tribune, Nejasný c ˇ eský postoj ztˇežuje situaci polských žen, https://www.tribune. cz/archiv/nejasny-cesky-postoj-ztezuje-situaci-polskych-zen/ (abgefragt am 25. 8. 2023). 50 Art 18 und Art 56 AEUV. 51 Art 4 Abs 3 der RL 2011/24/EU, ABl L 88/56, 45. 52 Ministerstvo zdravotnictví Ceské ˇ republiky, Prohlášení Ministerstva zdravotnictví k otázce provádˇení interrupcí u cizinek, https://www.mzcr.cz/tiskove-centrum-mz/prohlaseni-minist erstva-zdravotnictvi-k-otazce-provadeni-interrupci-u-cizinek/ (abgefragt am 25. 8. 2023); Veˇrejný ochránce práv, Stanovisko Veˇrejného ochránce práv ze dne 19. 8. 2013, sp. zn. 32/

6.4 Das tschechische Abtreibungsrecht …

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Beschränkung des Zuganges zur Abtreibung für polnische Frauen in direktem Widerspruch zum EU-Primärrecht stünde, das die unmittelbare Wirkung53 und den Vorrang vor nationalem Recht hat.54 Mach meiner Meinung muss man mit der Argumentation des Gesundheitsministeriums der Tschechischen Republik und des tschechischen Ombudsmanns zustimmen. Abgesehen von dem Vorrang des Unionrechts sollte dazu ergänzt werden, dass § 10 Abs 1 der tschechischen Abtreibungsverordnung die konkreten Ausnahmen für den Fall vorsieht, wenn ein Aufenthalt nicht als vorübergehend betrachtet wird. Eine dieser Ausnahmen ist das Vorhandensein von zwischenstaatlichen Abkommen, die sich auf diese Fragen auswirken. Es sollte nicht vergessen werden, dass die Mitgliedschaft der Tschechischen Republik in der Europäischen Union55 und die damit verbundenen Verpflichtungen auch mit der Ratifizierung internationaler Abkommen verbunden sind, die im Prinzip ebenfalls zwischenstaatlich sind. Außerdem ist aus konzeptioneller Sicht daran zu erinnern, dass die fraglichen Rechtsvorschriften in der Vergangenheit unter anderen sozialen und politischen Bedingungen erlassen wurden, die bei ihrer heutigen Auslegung zu berücksichtigen sind. Andererseits kann man nicht bezweifeln, dass die Existenz der ganz unterschiedlichen Auslegungen der zuständigen Behörden das Problem der Rechtssicherheit aufwirft. Mit anderen Worten, die Ärzte befinden sich in einer schizophrenen Situation, in der sie nicht zuverlässig wissen können, ob sie rechtswidrig handeln oder nicht, was auch mit der potentiellen Drohung der strafrechtlichen Sanktionen verbunden ist. Auch wenn nach Ansicht der meisten Experten die oben genannten Straftatbestände andere Sachverhalte betreffen56 , sollte durch eine Gesetzesänderung klargestellt werden, dass die Durchführung von Abtreibungen zu Gunsten von Bürgern anderer EU-Mitgliedstaaten nicht nur eine Möglichkeit, sondern im Prinzip eine Verpflichtung ist, die sich aus der EU-Mitgliedschaft ergibt.57 2011/DIS/ZO – Zpráva o šetˇrení Nerovné zacházení ex lege v poskytování zdravotní péˇce z d˚uvodu pohlaví (rodiˇcovství), vˇeku a státní pˇríslušnosti, https://eso.ochrance.cz/Nalezene/ Edit/1520 (abgefragt am 25. 8. 2023). 53 EuGH 5. 2. 1963, C-26/62, Van Gend en Loos/Administratie der Belastingen. 54 Zum Vorrang des EU-Rechts siehe auch: EuGH 15. 7. 1964, C-6/64, Costa/E.N.E.L.; EuGH 17. 12. 1970, C-11/70, Internationale Handelsgesellschaft mbH/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel. 55 Ab 1. 5. 2004. 56 Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn die Schwangerschaft ohne Zustimmung der Frau, nach Ablauf der gesetzlichen Frist oder auf unprofessionelle Weise künstlich beendet wird. Siehe dazu: Šámal, Trestní zákoník. Komentáˇr (2012) 1639. 57 Valc, Právník 2022, 729 (748).

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Abtreibungstourismus im Zusammenhang mit …

Bislang waren die Bemühungen um eine Änderung der betreffenden Rechtsvorschriften jedoch nicht erfolgreich.58 In der Praxis werden trotzdem weiterhin in großem Umfang die Abtreibungen an polnischen Frauen vorgenommen. Es wurden danach keine Fälle medialisiert, in denen Ärzte oder andere Personen, die direkt oder indirekt an der Durchführung dieser medizinischen Eingriffe beteiligt sind, strafrechtlich verfolgt wurden. Gleichzeitig fördern manche (liberal orientierte) politische Subjekte eine staatliche Unterstützung für die betroffenen polnischen Frauen, die nicht nur in Toleranz, sondern auch in einer vollständigen Erstattung der mit der Abtreibung verbundenen Kosten bestehen sollte, selbst in Fällen, in denen sie nicht von der Krankenkasse für tschechische Staatsangehörige abgedeckt sind. In diesem Zusammenhang hat Polen auf diplomatischem Wege bereits seine Besorgnis über die mögliche Störung der gegenseitigen zwischenstaatlichen Beziehungen zum Ausdruck gebracht, wenn der tschechische Staat die Umgehung der polnischen Abtreibungsgesetzgebung, die in seine Souveränität fällt, aktiv unterstützt oder sogar organisiert. Obwohl ein solcher Ansatz im Prinzip durch das EU-Recht und durch die Entschließungen des Europäischen Parlaments unterstützt würde, darf die Bedeutung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu Polen in einer Reihe von Bereichen nicht unterschätzt werden. Aus diesem Grund ist nach wie vor ein eher zurückhaltender Ansatz zu erwarten, der eher aus offiziellen Erklärungen und indirekter Unterstützung für den gemeinnützigen Sektor besteht.59

58

Zur Änderung und Klarstellung dieser Rechtsvorschriften wurde ein Gesetzentwurf mancher Senatoren vorgelegt, der jedoch schließlich zurückgezogen und nicht zur Abstimmung ˇ gestellt wurde. Siehe dazu: Senát Ceské republiky, Senátní tisk cˇ . 58 – Návrh senátního návrhu zákona senátora Václava Lásky a dalších senátor˚u, kterým se mˇení zákon cˇ . 66/1986 Sb., o umˇelém pˇrerušení tˇehotenství, https://www.senat.cz/xqw/xervlet/pssenat/historie?act ion=detail&value=4737 (abgefragt am 26. 8. 2023). 59 Valc, Právník 2022, 729 (750).

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Schluss

Das Ziel dieser Masterarbeit war es, die (menschen-)rechtlichen Aspekte des Zuganges zur Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung innerhalb der Europäischen Union und die damit verbundenen Probleme mit dem Abtreibungstourismus zu analysieren. Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich mich mit der Forschungsfrage beschäftigt, wie der derzeitige Rechtsrahmen für den Zugang zur Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung in der Europäischen Union aussieht und wie sich die Existenz unterschiedlicher legislativer Ansätze der Mitgliedstaaten in dieser Frage auswirkt. Zuerst habe ich mich auf eine komplexe Begriffsbestimmung fokussiert, wobei ich den Unterschied zwischen der spontanen und der künstlichen Beendigung einer Schwangerschaft beschrieben habe. Gleichzeitig habe ich erklärt, dass dem Begriff „Abtreibung“ auch politische oder sogar aktivistische Konnotationen zugeschrieben werden, obwohl es nicht seinem ursprünglichen Gebrauch entspricht. Aus diesem Grund habe ich betont, dass ich diesen Begriff in seiner neutralen Bedeutung verwenden werde, und zwar als eine gemeinsame Bezeichnung für die künstliche Beendigung einer Schwangerschaft und gleichzeitig als Synonym für den Begriff „Schwangerschaftsabbruch“, der im alltäglichen und wissenschaftlichen Diskurs auch häufig vorkommt.1 Außerdem habe ich klargestellt, dass eine Abtreibung derzeit je nach Stadium der Schwangerschaft entweder mit Hilfe von Medikamenten oder chirurgisch durchgeführt werden kann, obwohl beide Methoden mit den bestimmten Risiken verbunden sind. Schließlich habe ich darauf hingewiesen, dass der Begriff „Abtreibung“ auch 1

Dazu habe ich ergänzt, dass es sich im Übrigen um eine Bezeichnung handelt, die in der nationalen Gesetzgebung einiger Länder als Rechtsbegriff verwendet wird. Ich wollte den Begriff jedoch nicht nur in Bezug auf eine bestimmte Rechtsordnung, sondern auch im Zusammenhang mit ethischen und anderen Fragen anwenden.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Valc, Die Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und ihre grenzüberschreitende (Nicht-)Verfügbarkeit innerhalb der Europäischen Union, BestMasters, https://doi.org/10.1007/978-3-658-43447-2_7

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Schluss

im Kontext mit der Art der Abtreibungsgesetzgebung und der damit verbundenen Unterscheidung zwischen dem Term-Modell, dem Indikationsmodell und dem Mischmodell verwendet werden kann, von denen das letzte am weitesten verbreitet ist, da es eine Kombination von gesetzlichen Gründen und Fristen für die Durchführung des Eingriffes vorsieht. Im dritten Kapitel habe ich schon die ethische Seite der Abtreibung berücksichtigt. Konkret habe ich erläutert, dass es in diese Richtung um die Frage geht, wie ein eventueller Interessenkonflikt zwischen dem ungeborenen Kind und seiner Mutter moralisch zu lösen ist. Mit anderen Worten muss man sich damit beschäftigen, ob und wie eine Abtreibung moralisch begründet werden kann. Auf einer Seite ist es möglich zum Vorteil der schwangeren Frau zu argumentierten, dass sie über die Möglichkeit verfügen sollte, über eigenen Körper und eigenes Leben freiwillig zu entscheiden, ohne gezwungen zu sein, das Kind auszutragen und zu gebären. Andererseits werden im wissenschaftlichen Diskurs auch Argumente verwendet, die diese Meinungsposition bezweifeln. Ihr Wesen besteht darin, dass sie das ungeborene Kind als eine moralisch vollwertige Person betrachten, die als Träger des Rechts auf Leben und nicht als bloßer Teil des Körpers der Mutter zu betrachten ist. Es ist also das unterschiedliche Verständnis des moralischen Status des ungeborenen Kindes, das seit jeher zu dem oben erwähnten Meinungskonflikt führt, der aufgrund seiner philosophischen und ethischen Natur auch mit Hilfe neuer Erkenntnisse auf dem Gebiet der Embryogenese nicht eindeutig gelöst werden konnte. Daher habe ich gezeigt, dass die Durchsetzung eines von diesen Ansätzen historisch eher mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammenhing, die auch aufgrund der Ideen der Aufklärung und der anschließenden Emanzipation der Frauen eher in Richtung einer Liberalisierung des Abtreibungsrechts ging. Trotzdem ist die Abtreibung immer ein sehr kontroverses Thema, was auch die Aktivitäten einzelner Pro-Life- und Pro-Choice-Gruppen bestätigen, die oft nicht nur ein sozialer, sondern auch ein politischer Einfluss haben und oft sogar zu aggressiven Äußerungen ihrer Wertvorstellungen greifen. Danach habe ich mich im vierten Kapitel auf die menschenrechtlichen Aspekte der Abtreibung ausgerichtet. Besonders wollte ich die Frage beantworten, ob und wie das „Recht auf Abtreibung“ im internationalen Recht und in Verfassungsordnungen der einzelnen europäischen Staaten verankert ist und wie seine Kollision mit dem Schutz des ungeborenen Kindes in der Rechtsprechung des EGMR aufgelöst wird. Vor allem habe ich klargemacht, dass das „Recht auf Abtreibung“ als ein Teil der umfassenderen Kategorie der sexuellen und reproduktiven Rechte betrachtet wird, die in keinem internationalen Vertrag einheitlich und verbindlich definiert sind, obwohl sie im Rahmen von globalen Konferenzen und in der daraus resultierenden Charta der sexuellen und reproduktiven Rechte definiert

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Schluss

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wurden. Nach der derzeitigen Rechtslage kann man das „Recht auf Abtreibung“ also unmittelbar nur aus dem Art 16 Abs 1 lit e) der Frauenrechtskonvention ableiten, in dem das Recht verankert ist, über den Zeitpunkt und die Zahl der Geburten eigener Kinder zu entscheiden. Ich habe jedoch erklärt, dass der reale Schutz des Einzelnen im Rahmen der Frauenrechtskonvention sehr begrenzt ist. Daher ist das „Recht auf Abtreibung“ in der Praxis eher mit dem Schutz des Rechts auf Leben, des Rechts auf Gesundheit oder des Rechts auf Privatund Familienleben im Sinne der einschlägigen Artikel der EMRK verbunden, die vom EGMR ausgelegt wird. Anhand konkreter Beispiele aus der Rechtsprechung habe ich gezeigt, dass der EGMR sich zurückhält, wenn es darum geht, eindeutige Schlussfolgerungen zum Rechtsstatus des ungeborenen Kindes und zum Geltungsbereich des „Rechts auf Abtreibung“ zu formulieren. Im Gegenteil verwendet er wie im Kontext mit anderen kontroversen Themen die Marginof-appreciation-Doktrin, wodurch er den Mitgliedsstaaten des Europarates einen Ermessensspielraum gibt, damit sie bei der Regulierung der Abtreibung die nationale Kultur und Werteorientierung berücksichtigen können. Obwohl ein vollständiges Verbot von Abtreibungen aufgrund der staatlichen Verpflichtung zum Schutz der Menschenrechte der schwangeren Frauen nicht möglich wäre, lässt sich aus der Rechtsprechung des EGMR nicht auf eine Verpflichtung des Staates schließen, die Abtreibung auf einen einfachen Antrag oder aus nicht gesundheitsbezogenen Gründen zu legalisieren. Mit anderen Worten stellt ein restriktiver Ansatz zur Regulierung der Abtreibung nicht automatisch einen Verstoß gegen Art 8 EMRK dar. Wenn ein Staat jedoch unter bestimmten Voraussetzungen einen breiteren Zugang zur Abtreibung ermöglicht, muss er sicherstellen, dass diese rechtzeitig verfügbar ist, was auch mit dem Vorhandensein eines wirksamen Systems zur Kontrolle und Überprüfung der obligatorischen Gutachten von Ärzten oder Behörden zusammenhängt. Im folgenden Kapitel habe ich dann dargelegt, dass sich das Fehlen eines internationalen Rechtsrahmens und einer klaren Meinungsposition des EGMR in der Existenz ganz unterschiedlicher nationaler Ansätze zur Regulierung der Abtreibung in Europa widerspiegelt. Im Prinzip kann man in diese Richtung entweder restriktive oder liberale Ansätze erkennen. Was die Gruppe von restriktiven Abtreibungsgesetzen betriff, gibt es heutzutage wenige Staaten, die einen solchen Ansatz vertreten. Am strengsten ist die Regulierung in Andorra, wo die Abtreibung unter allen Umständen verboten ist. Der Ansatz in Malta kann danach als der zweitrestriktivste angesehen werden, weil da die Möglichkeit einer Abtreibung nur bei Gefahr für das Leben legalisiert ist. Die übrigen europäischen Staaten, die über eine restriktive Abtreibungsgesetzgebung verfügen, erlauben die Abtreibung auch in anderen (nicht gesundheitsbezogenen) Fällen, und zwar, wenn

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die Frau infolge einer Straftat schwanger wurde (Liechtenstein, Polen) oder auch wenn ein genetischer Defekt, eine Schädigung oder eine unheilbare Erkrankung des Fötus diagnostiziert wird (Monaco). In den übrigen europäischen Ländern ist die gesetzliche Regulierung der Abtreibung liberal, weil sie diesen Eingriff auch auf einen einfachen Antrag oder aus sozialen Gründen ermöglichen, obwohl sie die bestimmten Fristen und weitere Bedingungen feststellen. Auf jeden Fall ist es möglich zu bestätigen, dass die Entwicklung in den einzelnen europäischen Staaten grundsätzlich zu einer Liberalisierung der Abtreibungsgesetze und der damit verbundenen Förderung der sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen führt. Dies zeigt sich nicht nur an der teilweisen Lockerung der sehr restriktiven Gesetzgebung in einigen der oben genannten Staaten, sondern auch an der Situation in Irland, das lange Zeit als das Land mit der restriktivsten Abtreibungsgesetzgebung im europäischen Rechtsraum galt. Durch das Referendum vor einigen Jahren kam es hier jedoch zu einer grundlegenden Gesetzesänderung, als sogar die Abtreibung auf einen einfachen Antrag legalisiert wurde. In diesem Zusammenhang habe ich betont, dass Polen als ein weiteres Land mit einer starken katholischen Tradition und eine große Bevölkerung weiterhin eine Ausnahme von dieser Regel darstellt, da die schon vorher restriktiv konzipierten polnischen Abtreibungsrechtsvorschriften vor einiger Zeit noch verschärft wurden. Durch die umstrittene Intervention des polnischen Verfassungsgerichts wurde einer von gesetzlichen Gründen für die Abtreibung gestrichen, der vereinfach gesagt im Eintritt einer mit hoher Wahrscheinlichkeit schweren Schädigung oder einer unheilbaren Erkrankung des Fötus bestand. Ich wies darauf hin, dass Polen mit diesem Schritt der einzige europäische Staat in der modernen Geschichte geworden ist, der die derzeitige gesetzliche Regulierung der Abtreibung verschärfte. Natürlich blieb diese Änderung der polnischen Abtreibungsgesetze nicht ohne Reaktion. Neben Großdemonstrationen, die auf die Zurückhaltung der Ärzte und den daraus resultierenden Tod einer polnischen Frau reagierten, habe ich insbesondere die Verabschiedung der entsprechenden Entschließungen des Europäischen Parlaments hervorgehoben. Der Grund basiert auf der Tatsache, dass sie schon eine offene Kritik der restriktiven Konzeption der polnischen Abtreibungsgesetzgebung enthalten. Mit anderen Worten weisen sie unter anderem sowohl auf die mangelnde Umsetzung der früheren Entscheidungen des EGMR zur Nichtdurchsetzbarkeit der polnischen Abtreibungsgesetze als auch darauf, dass die polnische Regulierung als solche die Ausübung der sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen in mehrfacher Hinsicht unzulässig einschränkt und damit gegen internationale Verpflichtungen dieses Mitgliedstaates verstößt.

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Darüber hinaus erinnerte das Europäische Parlament daran, dass die Verschärfung der betreffenden Rechtsvorschriften durch das Eingreifen des polnischen Verfassungsgerichts herbeigeführt wurde, dessen Entscheidung aufgrund ihrer Zusammensetzung und anderer verfahrensrechtlicher Umstände nicht mehr als rechtmäßig angesehen werden konnte. Gleichzeitig forderte es eine generelle Liberalisierung der Abtreibungsgesetze und unterstützte die Hilfe anderer Mitgliedstaaten für polnische Frauen bei der Gewährleistung des Zuganges zur Abtreibung durch den Abtreibungstourismus. Mit der damit verbundenen Problematik des Abtreibungstourismus habe ich mich auch im letzten Kapitel beschäftigt, und zwar im Kontext mit der Garantie der Dienstleistungsfreiheit innerhalb der Europäischen Union. Zuerst habe ich mich auf die Verankerung dieser Grundfreiheit im primären Unionsrecht ausgerichtet, um zu zeigen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, den freien Dienstleistungsverkehr nicht zu beschränken, es sei denn, die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder der Schutz der Gesundheit erfordern dies, wobei das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. In diesem Zusammenhang habe ich den Begriff „Dienstleistung“ definiert. Im Einklang mit den bestimmten Artikeln des AEUV und der Rechtsprechung des EuGH habe ich insbesondere hervorgehoben, dass als Dienstleistung im Sinne des primären Unionsrechts nur eine Leistung betrachtet werden kann, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird und nicht unter einer der anderen Grundfreiheiten des freien Verkehrs fällt. Gleichzeitig habe ich betont, dass sich die Dienstleistungsfreiheit von der Niederlassungsfreiheit dadurch unterscheidet, dass sie nicht an eine langfristige oder dauerhafte wirtschaftliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat gebunden ist. Die Dienstleistungsfreiheit kann dann sowohl Leistungserbringer als auch Leistungsempfänger beanspruchen, abgesehen davon, wo sie erbracht wird. Der Schutz gilt jedoch nur für Dienstleistungen, die einen grenzüberschreitenden Charakter haben, also den Binnenmarkt der Europäischen Union betreffen, nicht nur den Binnenmarkt eines Mitgliedsstaates. Trotz der großen Autonomie der Mitgliedsstaaten im Bereich der Gesundheitsfürsorge ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH, dass die oben genannten Verbote und Verpflichtungen auch für die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen gelten, zu denen die Abtreibung gehört, unabhängig davon, aus welchen Quellen die mit ihrer Durchführung verbundenen Kosten übernommen werden. Mit anderen Worten: Es spielt keine Rolle, ob eine solche Leistung direkt vom Patienten bezahlt wird oder ob sie von der Krankenkasse übernommen wird. Auf jeden Fall kann man aus dem Primärrecht und der Rechtsprechung des EuGH ableiten, dass ein Mitgliedsstaat den Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedsstaates den Zugang zur Abtreibung

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Schluss

ohne jegliche Diskriminierung ermöglichen muss, falls die oben begrenzten Ausnahmen im Sinne der öffentliche Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder des Gesundheitsschutzes nicht erfüllt sind. Die Gewährleistung des grenzüberschreitenden Zuganges zur Abtreibung innerhalb der Europäischen Union führt natürlich zur Entwicklung des Abtreibungstourismus, der derzeit von Polen in andere Mitgliedstaaten stattfindet. Zu diesen Staaten gehört auch die Tschechische Republik, die einer von Nachbarstaaten Polens ist. Das Problem liegt jedoch darin, dass die Abtreibung hier durch die immer noch gültige sozialistische Gesetzgebung geregelt ist, die bisher in keiner Weise geändert wurde. Wie ich erklärt habe, enthalten die betroffenen Rechtsvorschriften auch Bestimmungen, die feststellen, dass es mit Ausnahmen verboten ist, eine Abtreibung bei ausländischen Frauen durchzuführen, die sich nur vorübergehend, d. h. ohne eine dauerhafte oder langfristige Aufenthaltserlaubnis, auf dem Gebiet der Tschechischen Republik aufhalten. Auf der nationalen Ebene gibt es darum Diskussion darüber, ob die Durchführung von Abtreibungen an polnischen Frauen, die jedes Jahr in großer Zahl nur zu diesem Zweck in die Tschechische Republik kommen, gesetzeswidrig und sogar strafbar ist oder nicht. Obwohl die Ärztekammer der Tschechischen Republik von einem solchen Verfahren abrät, habe ich im Einklang mit der Stellungnahme anderer Behörden betont, dass man den Vorrang des EU-Rechts berücksichtigen müsse, nach dem der grenzüberschreitende Zugang zur Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung eigener Art garantiert wird. Daher gibt es keine rechtliche Grundlage für die Schlussfolgerung, dass Abtreibungen bei polnischen Frauen nicht durchgeführt werden dürfen und dass Ärzte in solchen Fällen strafrechtlich verfolgt werden sollten, was übrigens in der Praxis nicht der Fall ist. Ein anderes Problem ist die mögliche Störung der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Tschechischen Republik und Polen, falls der Abtreibungstourismus institutionell unterstützt oder sogar organisiert werden sollte, wie manche tschechische Politiker vorgeschlagen haben. In Bezug auf die Forschungsfrage ist es also möglich kurz zusammenzufassen, dass das „Recht auf Abtreibung“ eher von anderen Menschenrechten abgeleitet wird, die nicht nur die körperliche Unversehrtheit der schwangeren Frau, sondern auch ihr Privat- und Familienleben schützen. Aufgrund des Fehlens einer einheitlichen internationalen Regulierung und der zurückhaltenden Vorgehensweise des EGMR verfügen jedoch die europäischen Staaten über die große Autonomie darin, ob und wie sie die Abtreibung aus anderen als gesundheitlichen Gründen legalisieren, da sie das Recht der schwangeren Frauen auf Schutz des Privat- und Familienlebens zugunsten des Schutzes ihres ungeborenen Kindes oder der anderen öffentlichen Interessen einschränken können. Dies gilt auch im Hinblick auf

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Schluss

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das EU-Recht, das ebenfalls keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten verankert, die Regulierung der Abtreibung in einer konkreter Art und Weise zu formulieren. Im Gegenteil dürfen die Mitgliedsstaaten Staatsbürgern anderer Mitgliedsstaaten den Zugang zur Abtreibung nach eigenen Regeln nicht verwehren oder sie in irgendeiner Weise diskriminieren. Die Abtreibung muss nämlich als Dienstleistung im Sinne von Art 56 AEUV betrachtet werden, was bedeutet, dass sie dem allgemeinen Verbot von Beschränkungen des freien Verkehrs innerhalb der Europäischen Union unterliegt. Wenn das nationale Recht in dieser Hinsicht kollidiert, muss das EU-Recht Vorrang haben. Der Abtreibungstourismus kann daher nicht willkürlich verhindert werden, auch wenn er von Natur aus problematisch ist.

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