Dichter und Bürger in der Provinz: Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach [Reprint 2012 ed.] 9783110967302, 9783484365421

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German Pages 331 [336] Year 1998

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Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
Zur Einfuhrung
Zum philosophischen und ästhetisch-theoretischen Kontext der Rokoko-Anakreontik
Geselligkeit und Anakreontik
»Der Mensch bleibt allezeit Mensch...«
Uz und Horaz
»Laßt mein Antlitz heiter seyn«: Uzens Gedicht Das Erdbeben im historisch-epochalen und im Werkkontext
Uz ein Metaphysiker!
Johann Peter Uz und das Ansbachische Gesangbuch von 1781
Ansbach im 18. Jahrhundert
Französische Geschmackskultur am Ansbacher Hof
Die Bibliothek des Johann Peter Uz
Öffentlicher Vortrag
Über Johann Peter Uz – und August von Platen
Anhang
Bibliographie zum Werk des Johann Peter Uz
Text- und Bildanhang
Register
Verzeichnis der Mitarbeiter
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Dichter und Bürger in der Provinz: Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach [Reprint 2012 ed.]
 9783110967302, 9783484365421

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FRÜHE NEUZEIT Band 42

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Dichter und Bürger in der Provinz Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach Herausgegeben von Ernst Rohmer und Theodor Verweyen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Dichter und Bürger in der Provinz : Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach / hrsg. von Ernst Rohmer und Theodor Verweyen. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Frühe Neuzeit ; Bd. 42) ISBN 3-484-36542-0

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch

Vorbemerkung

Der vorliegende Band versammelt die Vorträge einer Tagung, die aus Anlaß des 200. Todestages des Ansbacher Autors Johann Peter Uz stattgefunden hat. Die Referate werden ergänzt durch den nachträglich erbetenen Beitrag von Georg Seiderer. Die Idee zu dieser Tagung kam von Ernst Rohmer, dem dann auch die organisatorische Leitung anvertraut war. Ferner hat er fur die druckreife Einrichtung der Typoskripte Sorge getragen. Für die Tagung vom 13. bis 15. Mai 1996 bot sich aus naheliegenden Gründen die einstige Wirkungsstätte Uzens im Stadthaus von Ansbach an. Ihre Sitzungen waren öffentlich und wurden von Uz-Kennern und Literaturliebhabern, darunter einem Leistungskurs Deutsch des Ansbacher Gymnasium Carolinum, mit lebhaftem Interesse verfolgt. Die Herausgeber haben vielfachen Dank zu sagen. Zuvörderst den Stadtvätern Ansbachs, die in großzügiger Weise den Veranstaltern für die Dauer der Tagung den Ratssaal überließen, sodann dem Amt für Kultur und Touristik der Stadt, das dem Symposion jedwede organisatorische Hilfe angedeihen ließ und, unauffällig, für ein geselliges Ambiente sorgte, weiter der Staatlichen Bibliothek Ansbach und ihren Mitarbeitern, die dem Festvortrag mit einer Uz-Ausstellung in ihrem Lesesaal den angemessenen Rahmen gaben. Besonderer Dank gilt der Stadt Ansbach, der Sparkasse Ansbach und der Dr. Alfred Vinzl-Stiftung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg für ihre bereitwillig gewährte und zum Gelingen der Veranstaltung entscheidend beitragende finanzielle Förderung. Die Aufnahme des Tagungsbandes in die Reihe Frühe Neuzeit haben Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt nachdrücklich empfohlen, Vorlagen für die Abbildungen stellten das Gleimhaus in Halberstadt, die Bayerische Staatsbibliothek, die Staats- und Stadtbibliothek Augsburg und das Stadtarchiv Aalen zur Verfügung; auch ihnen sei gedankt. Erlangen, im September 1997

Theodor Verweyen

Inhalt

Ernst Rohmer Zur Einführung

Theodor Verweyen / Gunther Witting Zum philosophischen und ästhetisch-theoretischen Kontext der Rokoko-Anakreontik (mit einem unbekannten Brief A.G. Baumgartens an J. W.L. Gleim im Anhang)

IX

1

Wolfgang Adam Geselligkeit und Anakreontik

31

Hans-Joachim Kertscher »Der Mensch bleibt allezeit Mensch...« Johann Peter Uz im Freundeskreis Johann Wilhelm Ludwig Gleims

55

Peter Lebrecht Schmidt Uz und Horaz

77

Wilhelm Kühlmann »Laßt mein Antlitz heiter seyn«: Uzens Gedicht Das Erdbeben im historisch-epochalen und im Werkkontext

99

Jürgen Stenzel Uz ein Metaphysiker! Bemerkungen zur philosophischen Lehrdichtung des Johann Peter Uz

133

Walter Sparn Johann Peter Uz und das Ansbachische Gesangbuch von 1781. Beobachtungen zum frömmigkeits- und theologiegeschichtlichen Profil des Autors

157

Georg Seiderer Ansbach im 18. Jahrhundert. Höfische und literarische Kultur einer fränkischen Residenz

189

Titus Heydenreich Französische Geschmackskultur am Ansbacher Hof

215

Emst Rohmer Die Bibliothek des Johann Peter Uz

227

Öffentlicher Vortrag Kurt Wölfel Über Johann Peter Uz - und August von Platen. Zur 200. Wiederkehr ihres Todes- und Geburtstages

249

Anhang Isa Leonhardt Bibliographie zum Werk des Johann Peter Uz

267

Text-und Bildanhang

277

Register

299

Verzeichnis der Mitarbeiter

309

Ernst Rehmer

Zur Einfuhrung

Die Beiträge zu einer Tagung über Johann Peter Uz erscheinen unter einem gegenüber der Tagungsankündigung veränderten Titel. Das mag immer auch den unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen einer Vortragsreihe einerseits, einer Buchpublikation andererseits zuzuschreiben sein. Hier aber hat es vor allem inhaltliche Gründe, die mit den Ergebnissen der Tagung zusammenhängen. Die Planung des Kolloquiums ging zunächst von der Vorstellung aus, das Bekannte zu dem Anakreontiker und philosophischen Dichter Johann Peter Uz zu sichten und in einer Gesamtschau zugänglich zu machen, in der Hoffnung freilich, auf diese Weise eine Plattform zu schaffen, von der aus eine fundierte Auseinandersetzung mit dem gewiß überschaubaren Werk stattfinden könnte. Dazu wurden mit der anakreontischen Poesie und der philosophischen Lehrdichtung wesentliche Werkgruppen gebildet, deren Behandlung aber eingebettet werden sollte in Darstellungen zu den philosophischästhetischen ebenso wie den soziokulturellen Voraussetzungen dieser Dichtung. Von vornherein war klar, daß dieser Zugang nicht würde vollständig sein können ohne Berücksichtigung des bewußten Abschieds des Dichters von seiner Kunst, den er in der Erkenntnis nahm, daß »sonderlich die Dichter einen gewissen Zeitpunkt haben, wo sie zu schreiben aufhören sollen«.1 Uz erkannte diesen Zeitpunkt und blieb seiner Maxime treu. Von da an war er und das zu gleichen Teilen - ein geachteter Jurist und ein Leser aus Passion. Daß der Titel dieser Publikation nun »Dichter und Bürger in der Provinz« lautet, ist auch darauf zurückzufuhren, daß sich im Laufe der Tagung die ursprünglich intendierte biographische Anordnung als zwar praktikabel, aber der Sache letztlich nicht angemessen erwiesen hat. Die Konzeption der Tagung sah vor, die anakreontische Dichtung und ihre philosophisch-ästhetischen und soziokulturellen Voraussetzungen als eine thematische Einheit zu behandeln, der dann die Uzschen Lehrgedichte als >nachanakreontische

1

J.P. Uz zur Ausgabe seiner Werke von 1768. In: Ders.: Sämtliche poetische Werke, hg. von August Sauer. Stuttgart 1890 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Nr. 33-38), S. 392.

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Zur Einfuhrung

Dichtung< kontrastierend gegenüber zu stellen gewesen wären. Die im Vergleich zur Halleschen Studienzeit veränderten sozialen und kulturellen Bedingungen in der markgräflichen Residenzstadt Ansbach wären dann als Katalysatoren zwischen den beiden Polen der Uzschen Dichtung zu betrachten gewesen. Diese Aufspaltung des Werkes erwies sich als unangemessen und dies schon im Blick auf die biographische Faktizität. Erst von Ansbach aus und damit unter den Bedingungen seiner dortigen Existenz >in der Provinz< hat sich Uz um eine Publikation seiner Gedichte gekümmert; sein unentwegtes Bemühen um Besserung und Vervollkommnung erstreckte sich vom Zeitpunkt der Erstveröffentlichung an immer auf alle Teile seines Werkes. Innerhalb dieser zwanzig Jahre der eigenen Produktion, aber auch noch in der Vorbereitung einer Ausgabe letzter Hand bis hin zu seinem Tod, hat sich Uz zu keiner Zeit auch nur von Teilen seiner Dichtung distanziert.2 Die Vorstellung zweier Brüche innerhalb der Biographie Uzens legen freilich die Gesamtdarstellungen zu Leben und Werk nahe. Da ist zum einen die erste Anstellung in Ansbach, die ihm zwar Zeit zum Dichten ließ, ihn aber von der anakreontischen Muse mehr oder weniger entfernte, zum andern der endgültige Rückzug aus der Literatur, weil sich zusätzlich zur beruflichen Inanspruchnahme nun auch die ästhetischen Voraussetzungen verändert hatten. Der lebenslange Junggeselle, der in Briefen an seinen Jugendfreund Gleim über die mangelnden Anregungen in Ansbach klagte, soll einigen seiner Biographen zufolge weitgehend isoliert, mit irdischen Gütern nicht gesegnet und nur »innerlich [...] ein volles und reiches Leben gelebt« haben.3 Allerdings darf man die fehlende öffentliche Anerkennung für den Dichter in seiner Heimatstadt nicht gleichsetzen mit Isolation. Selbst wenn Uz seinem Jugend- und Brieffreund Gleim gegenüber eine solche immer wieder

2

3

Die Edition von A. Sauer enthält in den Abteilungen »Nachlese« und »Nachtrag« insgesamt 14 Texte, die der Autor nicht in seine Werkausgabe aufgenommen hat, weil sie entweder ausschließlich privat adressiert (nach der Zählung Sauers Nr. 109, Nr. 110, Nr. I l l , Nr. 117, Nr. 119) oder durch Uzens Zugehörigkeit zur markgräflichen Beamtenschaft veranlaßt waren (Gelegenheitsgedichte wie Nr. 115, Nr. 120, Auftragsdichtungen wie Nr. 118, geistliche Lieder für das unter seiner Mitarbeit revidierte »Ansbacher Gesangbuch« wie Nr. 114 und 116). So Thomas Stettner: Uz, ein stilles Dichterleben. In: Ders., Aus Ansbachs und Frankens vergangenen Tagen. Ansbach 1928, S. 9-43, S. 10. Diese Auflassung wird seit der biographischen Skizze in Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Historisch-literarisches Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, welche in dem 18. Jahrhundert gestorben sind. Leipzig 1812, S. 117-148, S. 120 immer wieder vertreten. Sie fmdet sich z.B. auch bei Pleickhard Stumpf: Denkwürdige Bayern. Kurze Lebensbeschreibungen verstorbener verdienter Männer, die in dem Ländergebiete des jetzigen Königreiches Bayern geboren oder durch längern Aufenthalt ihm angehörig waren. München 1865, S. 238 oder Franz Brümmer: Deutsches Dichterlexikon. Biographische und bibliographische Mitteilungen über deutsche Dichter aller Zeiten. Unter besonderer Berücksichtigung der Gegenwart für Freunde der Literatur zusammengestellt, Eichstätt u.a. 1877, Bd. 2, S. 447.

Zur Einführung

XI

anklingen ließ, ist es nicht zu leugnen, daß die studentische Geselligkeit ihre Fortsetzung in anderen Formen auch in Ansbach gefunden hat. Das Gespräch über Literatur, das gemeinsame Arbeiten an Dichtung, hat hier ebenso stattgefunden wie in Halle und in den Briefen, die zwischen Ansbach und Halberstadt hin und her gingen. Mit gutem Recht kann man als ein wesentliches Ergebnis der Ansbacher Tagung festhalten, daß Uz die in seiner Studentenzeit in Halle eingeübten Formen literarischer Betätigung sowohl als Dichter als auch als Leser weiter gepflegt hat. In seiner Person verbinden sich in besonders eindringlicher Weise die frühaufklärerische Ästhetik, das daraus abgeleitete Lebensideal und die spezifische Auffassung von den Möglichkeiten der Dichtkunst. Hinzu kommt die fur die Mitte des Jahrhunderts besonders prägende Geselligkeit, die Leitmotive und Ideale aus der antiken Anakreontik und ihren Nachahmungen in den europäischen Literaturen bezog, und der Uz sein Leben lang verpflichtet blieb. Die Dichtung Uzens wie sein Urteil über die Literatur seiner Zeit lassen sich nur vor dem angedeuteten Hintergrund angemessen verstehen. Diesem Sachverhalt wird hier durch eine Folge von Beiträgen Rechnung getragen, die die Bezüglichkeit der verschiedenen Faktoren erkennen lassen. Theodor Verweyen und Gunther Witting stellen den »philosophischen und ästhetisch-theoretischen Kontext der RokokoAnakreontik« dar, Wolfgang Adam thematisiert die Beziehung zwischen »Geselligkeit und Anakreontik« und Hans-Joachim Kertscher untersucht »Johann Peter Uz im Freundeskreis Johann Wilhelm Ludwig Gleims«. Die Fundierung der Anakreontik in der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, wie sie Verweyen und Witting als das grundlegende Bildungserlebnis des Freundeskreises um Gleim, und hier namentlich eben für Johann Peter Uz, schon an anderer Stelle aufgezeigt haben,4 bestätigt sich sowohl im Lebensentwurf als auch im Dichtungskonzept Uzens. Die Prägung durch die Hallenser Aufklärung und die durch sie determinierte Sicht auf die philosophische, vor allem aber die poetologische Diskussion läßt sich am Bestandskatalog der Uzschen Bibliothek detailliert nachweisen. In ihr ist auf der anderen Seite der tiefere Grund für Uzens Rückzug aus der Literatur zu suchen. Denn mögen die Amtsgeschäfte im Laufe der Jahre zugenommen haben, so

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Hier sei verwiesen auf Theodor Verweyen: Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? Zur ästhetik-theoretischen Grundlegung und funktionsgeschichtlichen Rechtfertigung der deutschen Anakreontik. In: GRM N.F. 25 (1975), S. 276-306 sowie ders.: >Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontiksinnlichen Erkenntnisc. In: Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus, hg. von Norbert Hinske. Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 15), S. 209-238. Th. Verweyen, G. Witting: Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, hg. von Th. Verweyen in Zusammenarbeit mit H.-J. Kertscher. Tübingen 1995 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, Bd. 1), S. 101119.

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Zur Einfuhrung

ist doch Uzens ökonomischer Umgang mit der Zeit allenthalben bemerkt worden: der vielbeschäftigte Jurist hätte statt fur eine Horaz-Übersetzung auch Zeit für die eigene literarische Praxis zu finden gewußt.5 So aber ist deutlich, daß Uz für die literarische Entwicklung außerhalb der ästhetischen Vorstellungen der Aufklärung Baumgartenscher Prägung kein Verständnis aufbringen konnte. Andererseits aber ergeben sich schon aus den Bibliotheksbeständen überraschende Verbindungen zu Sozialitäts- und Geselligkeitsvorstellungen, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert in den romanischen Ländern entwickelt und nun zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Mitteleuropa vermehrt rezipiert wurden; in diesen Kontext gehört insbesondere der Dichter Anakreon, der in einer durchaus bewußt vorgenommenen Umdeutung historischer Überlieferung zur Idealfigur für eine ganze Generation von Dichtern wurde. Wolfgang Adam zeigt in seinem Beitrag, wie sich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert das neue Konzept einer aufgeklärten Geselligkeit zu entwickeln beginnt, das für diese spezifische Anakreon-Rezeption die Voraussetzung darstellt. Die Gründe dieser Geselligkeitskultur liegen in der Naturrechtslehre der Frühen Neuzeit; für die Poesie wirksam wurden sie allerdings erst durch die Vermittlung der Moralischen Wochenschriften. So verwundert die Wirkung der anakreontischen Poesie auf den zeitgenössischen Leser nicht. Adams Frage danach, in welcher Beziehung aber Literatur und Leben zueinander stehen, inwieweit also die Lebenspraxis bestimmt war durch in der Dichtung propagierte Ideale, zeigt die Schwierigkeiten und Grenzen der Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung in dieser Hinsicht auf. Denn das Mißliche ist, daß die Umsetzung der in der Poesie geäußerten Vorstellungen in eine Lebenspraxis sich nur in den seltensten Fällen angemessen rekonstruieren läßt. Die überlieferten Briefwechsel aus dem Freundeskreis um Gleim, die Hans-Joachim Kertscher im Hinblick auf die Einbettung Uzens in diesen Zirkel ehemaliger Hallescher Studenten untersucht hat, sind ein Weg, auf dem sich solche Netze von Beziehungen bis auf den heutigen Tag dokumentieren. Wie zuverlässig - und in welcher Hinsicht zuverlässig - sie allerdings über die Realität informieren, wird genau zu prüfen sein. So sind die ästhetischen

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J. F. Degen berichtet davon, daß Uz seinen Tag sorgfältig geteilt habe in die Zeit des Aktenstudiums am Vormittag und die Zeit der Lektüre am Nachmittag; vgl. [Johann Friedrich] Degen: Beyträge zu Uzens Leben. In: Der Neue Teutsche Merkur vom Jahre 1797, hg. von Christoph Martin Wieland. Zweyter Band. 6. Stück. Junius 1797, S. 109123, S. 113. Zu den Implikationen der sich seit den Studienjahren in Halle immer deutlicher zeigenden Wendung Uzens zu Horaz jetzt Wolfram Mauser: Horaz in Halle: Johann Peter Uz und die Halleschen Dichterkreise. In: Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694-1806). Hg. von Günter Jerouschek und Arno Sames. Hanau Halle 1994, S. 78-86.

Zur Einführung

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Urteile und die stilistischen Hinweise, die in vielen Briefen zwischen Halberstadt und Ansbach gegeben werden, ein nicht weiter in Frage stehendes Material für den Literarhistoriker. Ob das in gleicher Weise auch für die in ihnen thematisierte anakreontische Lebenshaltung und dort insbesondere das propagierte Freundschaftsideal gilt, ist dagegen zu bezweifeln. Gerade in der Beziehung zwischen Uz und Gleim scheint es - vor allem angesichts der sonst geübten Praxis im Kreis um Gleim - für die Korrespondenten nur mehr ein Topos zu sein, die Ausschließlichkeit und Herausgehobenheit der allein durch Briefe aufrechterhaltenen Beziehung zu betonen. Sich bietende Gelegenheiten zum Besuch jedenfalls wurden von Uz nicht genutzt. Dies einzuräumen bedeutet freilich zugleich, die in hundert Jahren seit der Ausgabe der Uzschen Werke durch August Sauer, seiner Briefe an den Römhilder Freund Grötzner durch Henneberger und seines Briefwechsels mit Gleim durch Carl Schüddekopf geleistete literaturwissenschaftliche Arbeit mit einem Fragezeichen zu versehen. Das in den meisten Arbeiten zumindest den Ausgangspunkt bildende lokalhistorische und damit immer auch gleich biographische Interesse hat sich zu gerne auf die überlieferten Briefdokumente als Ausdruck unmittelbarer Wirklichkeitsaussage verlassen und in den Gedichten nach Spuren geglückter oder mißglückter Lebens- wie Liebespraxis gesucht. Das geschah unbeeindruckt von der Warnung der Zeitzeugen, Uz habe über seine persönlichen Umstände kaum Auskunft gegeben. Das Ergebnis ist ein von Dichter- bzw. Dichtungsvorstellungen des 19. Jahrhunderts geprägtes Bild, das der wirklichen Situation Uzens wohl in den wenigsten Bereichen gerecht wird. Es ist deshalb angebracht, einige biographische Fakten an dieser Stelle ins Bewußtsein zu rücken: Johann Peter Uz ist am 3. Oktober 1720 als Sohn des Goldschmieds Friedrich Carl Gottlob6 Friedrich August Uz in Ansbach zur Welt gekommen. Der Vater freilich arbeitete nicht in seinem erlernten Beruf, sondern war Inspektor des fürstlichen Laboratoriums und Aufseher über die neu angelegte Lederfabrik in Flachslanden.7 Nach dem frühen Tod des Vaters sorgte die Mutter Elisabeth, geb. Reisenleiter, die ebenfalls einer Ansbacher Goldarbeiter-Familie entstammte, für eine gründliche Ausbildung. Johann

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Bei Wolfram Mauser wird Uzens Vater bereits als ein »erfolgreicher Goldschmied« (wie Anm. 5, S. 81) bezeichnet; das freilich kann wiederum nur aus der Grundannahme der Biographen geschlossen werden, Uz habe »einiges väterliche Vermögen« (Hirsching, wie Anm. 3, S. 120) geerbt und davon seinen Lebensunterhalt bestreiten können. Über die Aufgaben des Laboratoriums und die Tätigkeit der Brüder Johann Caspar Uz und Friedrich August Uz in ihm informiert Silvia Glaser: Georg Christian Oswald (16921733) und die Frühzeit der Ansbacher Fayencemanufaktur. In: Keramik-Freunde der Schweiz. Mitteilungsblatt Nr. 107 (1993), S. 3-81, hierbes. S. 14-16.

XIV

Zur Einfiìhrung

Peter Uz besuchte das örtliche Gymnasium bis 1739* und studierte dann in Halle vier Jahre vor allem die Rechte im Hinblick auf eine Anstellung als Jurist.' Von Leipzig, wo er sein Studium fortsetzen wollte, rief ihn im August 1743 der »gemeßene Befehl« (wohl der Mutter) zurück nach Ansbach. Gleim gegenüber deutete er an, sie habe befürchtet, ihm könne ein ähnliches Schicksal widerfahren wie Johann Christian Günther.'0 Aus seinem Briefwechsel ist weiter bekannt, daß er schließlich in seiner Geburtsstadt ein Häuschen bewohnte," zunächst noch zusammen mit seiner Mutter und zwei Schwestern, später dann nur mehr mit seiner Schwester Esther Sophia, die ihn um wenige Monate überlebte. Im Jahr 1790 erschien im Fränkischen Archiv - ungewöhnlich genug schon zu Lebzeiten, aber begründet mit dem Hinweis, daß Uz sein Dichten unwiderruflich beendet habe - ein biographischer Abriß, der sich auf Auskünfte des Dichters selbst stützt. Der Biograph fuhrt Klage darüber, daß die ihm zugänglichen Nachrichten sehr spärlich seien.12 Aber auch das, was man erfährt, ist nicht frei von einem Darstellungsinteresse Uzens. So macht der Autor aus dem für die Farbenherstellung an der markgräflichen Fayence-Manufaktur zuständigen Vater den Goldschmied, der er seiner Ausbildung nach war. Daß die tatsächlichen Aufgaben eher alchemistische Züge trugen, das unterdrückte der durch die Schule der Aufklärung gegangene Sohn lieber. Diesem ersten, deutlich belegbaren Versuch, den Blick auf die eigene Familie und die Umstände, in denen sie lebte, zu dissimulieren, gesellen sich weitere hinzu. Dem Nekrolog Schlichtegrolls, dem man auch sonst Zuverlässigkeit wird attestieren können, ist zu entnehmen, daß Uz einen Bruder

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Das Gymnasium in Ansbach war 1737 aus der seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Lateinschule errichtet worden. Es ist wahrscheinlich, daß Uz vorher diese Lateinschule besucht hat. Zum Besuch der Lateinschule und zum Studium waren nicht zwingend ein hinterlassenes Vermögen des Vaters nötig. In Ansbach gab es mit dem Alumneum eine Stiftung, die Kindern aus weniger vermögenden Familien und insbesondere Waisen den Besuch höherer Schulen und der Universität ermöglichen konnte. Ziel war die Gewinnung von Theologen- und Juristennachwuchs. Dabei wurde den Studenten der Besuch einer bestimmten Hochschule, an der ein schneller Studienerfolg zu erwarten war, zur Auflage gemacht; vgl. Hermann Schreibmüller: Das Ansbacher Gymnasium 1528-1928. Ansbach 1928, S. 32ff. u. J. M. Fuchs: Einige Notizen zur Schul-Geschichte von Heilsbronn und Ansbach. Bekannt gemacht bei der Säcular=Feyer des Ansbacher Gymnasiums am 12. Juni 1837. Ansbach 1837, S. 44ff. u. Beylage C: Stiftungsurkunde von Markgraf Georg Friedrich vom 19.7.1581. Uz an Gleim am 21.8.1743. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, hg. von Carl Schüddekopf. Tübingen 1899 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 218), Nr. 12,S.43. Es dürfte sich um das Elternhaus seiner Mutter Elisabeth (geb. Reisenleiter) handeln, da er Gleim bittet, Briefe an den »HE. Goldarbeiter Reisenleiter« zu adressieren; vgl. Uz an Gleim am 21.8.1743, in: Briefwechsel, wie Anm. 10, Nr. 12, S. 45. Fränkisches Archiv, 2. Bd., 1790, S. 244-272, S. 244.

Zur Einführung

XV

hatte, der eine Ausbildung zum Maler erhielt; da Schlichtegroll dieses Faktum in die Nähe der auch sonst feststellbaren Neigung zur bildenden Kunst in der engeren und weiteren Familie rückt, dürfte dieser Bruder die Ausbildung zum Hofmaler erhalten haben.' 3 Nachdem Uz in den Briefen an Gleim doch immerhin über das Zusammenleben mit seinen Verwandten und insbesondere über das Ableben seiner Mutter und der einen Schwester berichtet,"1 ist es auffallig, daß er vom Bruder an keiner Stelle spricht.15 Das Mitgeteilte über die Familie und ihre Lebensumstände beschränkt sich somit auf das, was zum unmittelbaren Alltag gehörte und sich deshalb vor dem fernen, aber um das Wohlergehen besorgten Freund nicht gut verheimlichen ließ. Die Ehelosigkeit des Dichters ist der Bereich der persönlichen Umstände Uzens, der zeitgenössische wie spätere Biographen immer wieder zu Fragen veranlaßt hat; sie wurde angesichts der anakreontischen Verse für merkwürdig befunden und forderte Erklärungen heraus. Trotz des Mangels an biographischen Fakten sind die anakreontischen Lieder auf verschiedene Adressatinnen bezogen worden. Aber bis zum reiferen Alter hin scheint doch zuzutreffen, was Uz an Gleim anläßlich dessen bevorstehender Hochzeit im Jahr 1753 über das ungleich verteilte Liebesglück schrieb, daß nämlich er, »der ich in Unschuld dahin wandele, und mein Herz nicht an den Mann bringen kann, welches gewiß nicht anakreontisch lieben würde«,16 dem »Libertiner« sein Glück neide. Im Rückblick allerdings hat Uz dann auf entsprechende Nachfragen später finanzielle Gründe dafür angegeben, daß er, der die Liebe und die Frauen besungen habe, sich nicht verehelicht habe. Schlichtegroll berichtet, sein »Cölibat« sei dadurch herbeygefuhrt, daß er in seinen jungem Jahren noch keine hinlängliche Einnahme zu einem eigenen Hauswesen hatte. »Ich lasse mich keinen Hagestolz nennen,« antwortete er in solchen Gesprächen seinen Freunden; »ich hätte sehr gern geheirathet; aber da ich heirathen wollte, konnte ich noch keine Frau ernähren, und da ich dieß gekonnt hätte, war ich zu alt.«17

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Das Faktum wird von Erich Petzet: Johann Peter Uz. Zum hundertsten Todestage des Dichters. Ansbach 1896, S. 3, wohl gestützt auf Friedrich Schlichtegroll: Nekrolog auf das Jahr 1796. Enthaltend Nachrichten von dem Leben merkwürdiger in diesem Jahr verstorbener Deutschen, 7. Jahrgang, 1. Band. Gotha 1799, S. 65-153, hier S. 67 ohne weitere Angaben mitgeteilt. Uz an Gleim am 10.1.1780, in: Briefwechsel, wie Anm. 10, Nr. 154, S. 413. Dem Taufregister der Pfarrei St. Johannis in Ansbach nach hatte Uz vier Schwestern und zwei Brüder (Abschrift im Stadtarchiv Ansbach). Da Schlichtegroll, wie Anm. 13, S. 67 die Ausbildung erwähnt, muß einer der Brüder zumindest das Erwachsenenalter erreicht haben. Uz an Gleim am 22.4.1753, in: Briefwechsel, wie Anm. 10, Nr. 63, S. 237. Schlichtegroll, wie Anm. 13, S. 90.

XVI

Zur Einführung

Auch das hat einige Biographen dazu veranlaßt, Uz als mittellosen Poeten zu charakterisieren, der erst spät und unter Verzicht auf seine poetische Existenz zu einer Anstellung als Jurist gekommen sei. Dem liegt ein Mißverständnis hinsichtlich der Amtsbezeichnungen zugrunde, mit dem schon Uz selbst gelegentlich konfrontiert war. So fordert er Grötzner im Juni 1779 auf: In den Brief-Auffschriften an mich laßen Sie den Rathstitel immer weg; ich bin unter diesem Nahmen hier nicht bekannt, sondern unter dem Namen des Kaiserlichen Landgerichts=Aßeßors. Die Räthe dieses Gerichts, welches die höchste Instanz in beyden Fürstenthümem ist, heißen, wie bey andern Kaiserlichen Gerichten, bloß Aßeßores. Aber weil sie zugleich das Burggräfliche Raths=Collegium constituiren, welche die Jura Burggraviatus gegen Nürnberg verfechten muß, so ist der Raths=Titel zuerst meines Wißens in die Musen-Almanache und hernach weiter gekommen, weil man ihn vermuthlich für edler hielt.

Ahnliches gilt bereits für die 1748 erfolgte Anstellung zum Sekretär des Justizrats-Kollegiums. Es hat sich die Auffassung eingebürgert, Uz habe von da an bis zu seiner Ernennung zum Landgerichtsassessor im Jahr 1763 ohne Einkommen allein aus ererbtem Vermögen gelebt." Das erscheint schon deshalb kaum glaublich, als die Teuerungen dieser Jahre in Ansbach trotz markgräflicher Maßnahmen zur angemessenen Versorgung der Residenzstadt20 besonders zu spüren waren, fehlte es doch aus den unterschiedlichsten Gründen an einer kontinuerlichen und mengenmäßig ausreichenden Versorgung der Stadt mit Getreide. Erst 1771 wurde in Reaktion auf die vorausgegangene Teuerung eine Schrannenverwaltung eingerichtet. Geldvermögen allein wäre also schnell entwertet gewesen. Der biographische Abriß im

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Uz an Grötzner am 22.6.1779, in: Briefe von Johann Peter Uz an einen Freund, aus den Jahren 1753-82, hg. von August Henneberger. Leipzig 1866, S. 131f.; auch an anderer Stelle des Briefwechsels mit Grötzner charakterisiert er seine berufliche Stellung. In einem in der Ausgabe Hennebergers fehlendem Brief-Abschnitt heißt es: »Die Stelle ist eine von den ansehnlichsten in hiesiger Stadt, und verbessert meine Umstände merklich« (mitgeteilt in: Schlichtegroll, wie Anm. 13, S. 122). Ähnlich auch an Gleim am 24.12.1763, in: Briefwechsel, wie Anm. 10, Nr. 110, S. 344. Neben den in Anm. 3 genannten Biographen hier für Literaturgeschichtsschreibung besonders folgenreich die Darstellung bei Erich Petzet: Johann Peter Uz. Zum hundertsten Todestage des Dichters. Ansbach 1896, S. 13. Erst mit dem Bau der Stadterweiterung in der >Neuen Auslage< wurde eine der wachsenden Bevölkerung gerecht werdende Getreideschranne errichtet, die es erlaubte, durch Vorratshaltung Preissteigerungen aufzufangen. Herms Bahl: Ansbach. Strukturanalyse einer Residenz vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Verfassung, Verwaltung, Bevölkerung und Wirtschaft. Ansbach 1974 (Mittelfränkische Studien, Bd. 1), S. 323ff. weist allerdings daraufhin, daß auch dieses Instrument nicht effektiv genutzt wurde, da die Schranne dazu diente, maximale Erlöse zur Deckung von Defiziten im Haushalt des Hofes zu erzielen.

Zur Einfiihrung

XVII

Fränkischen Archiv und der Nekrolog Schlichtegrolls enthalten zu Uzens Einkommen auch etwas widersprüchliche Angaben. Ersterer spricht davon, Uz habe die Stelle »zwölf Jahre ohne Besoldung«21 inne gehabt, letzterer sagt, er habe sie »ohne Pension«22 bekleidet. Nach Zedlers Universal-Lexikon ist die »Pension« ein »Gnaden=Geld, welches einer empfängt, als eine Belohnung seiner Dienste, oder aus Gunst zu seinem Unterhalte, ohne dagegen zu einem Verdienst verbunden zu seyn«.23 Der Hinweis auf die ausbleibende Pension dürfte also durchaus noch im Zusammenhang mit der Vorstellung einer öffentlichen Anerkennung für poetische Leistungen stehen, wie sie aus dem Kreis um Gleim herum öfters zum Ausdruck gebracht wurde.24 Angesichts der fehlenden Einkommensangaben ist wohl am aussagekräftigsten für Uzens wirtschaftliche und soziale Stellung die Bibliotheksordnung der Ansbacher Schloßbibliothek; in ihr werden vom Sekretär 3 fl., vom Rat an einem der Kollegien 6 fl. Beitrag gefordert. In die Gruppe des Sekretärs sind aber auch der Dekan und die Professores des Gymnasiums eingeordnet; mit dem Assessor sind der Obrist und die Oberamtmänner eingruppiert, was doch einiges über das Sozialprestige des Sekretärs und dann des Rates am Justizrats-Kollegium und Assessors am kaiserlichen Landgericht aussagt.25 Solche korrigierenden Feststellungen zu den Stereotypen in der Uz-Biographik zielen nun nicht dahin, einen neuen biographisch motivierten Blick auf seine Dichtung einzufordern. Schon Carl Schüddekopf hat im Hinblick auf Uzens Briefwechsel mit Gleim davon gesprochen, er sei »litterarhistorisch mehr als psychologisch interessant«, denn er ist »für den rapiden wandel der geistigen interessen im achtzehnten jahrhundert ungemein bezeichnend, obwol oder gerade weil beide freunde auf einem früh gefassten stand21 22

Fränkisches Archiv, 2. Bd, 1790, S. 244-272, S. 250. Schlichtegroll, wie Anm. 13, S. 72. Art. »Pension«. In: Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 27: Pe-Ph. Nachdr. der Ausg. Leipzig Halle 1741. Graz 1961, Sp. 278. Am deutlichsten wird diese Vorstellung in den Begleittexten zu den »Scherzhaften Liedern« Gleims geäußert; das Beispiel des Anakreon, der wegen seiner literarischen Verdienste von Hipparchus nach Athen gerufen worden sei, soll auch für die Anakreontiker des 18. Jahrhunderts gelten, denn »sie schreiben nur, ihren Witz zu zeigen, und solten sie auch dadurch ihre Tugend in Verdacht setzen« (Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Versuch in Scherzhaften Liedern und Lieder. Nach den Erstausgaben v. 1744/45 u. 1749 mit den Körteschen Fassungen im Anhang krit. hg. von Alfred Anger. Tübingen 1964 (Neudrucke deutscher Literaturwerke. N.F. 13), S. 70f.; vgl. dazu E. Rohmer: Der >Personalcharakter< in der Lyrik Johann Wilhelm Ludwig Gleims. Untersuchungen zum Dichtungsverständnis an einem Beispiel aus den >Liedem fiir das VolkAufklärung in der Provinze Weltoffene Gelehrsamkeit und eingeschränkte Wirksamkeit sind hier kein Widerspruch, sind vielmehr komplementär aufeinander beziehbar. Dieses Fortwirken ästhetischer und philosophischer Prinzipien sowie der von ihnen beeinflußten Auffassung angemessener Lebenspraxis von der frühen Aufklärung bis nahe an die Wende zum 19. Jahrhundert begründet aber auch die tiefe Geschiedenheit zum zweiten Dichter, den man in Ansbach als einen Sohn der Stadt feiert. Kurt Wölfel hat in einem sehr anregenden öffentlichen Festvortrag im Rahmen der Tagung die beiden Ansbacher Dichter Johann Peter Uz und August Graf von Platen - das Todesjahr des einen ist das Geburtsjahr des anderen - einander gegenübergestellt. Beiden gemeinsam ist der absolute Wille zur Kunst. Während bei Platen dieser Kunstwille krisenhafte Züge annehmen muß, weil er den ästhetischen Auffassungen des 19. Jahrhunderts gemäß eine Einheit von Dichtung und Person erfordert, bleiben Uzens Auffassungen vom Zusammenhang zwischen Kunst und Leben noch weitgehend von spezifischen Auffassungen der Antike im 18. Jahrhundert geprägt. Sie machen die Existenz in der Provinz, so schmerzlich die Distanz der markgräflichen Residenzstadt zu den kulturellen Zentren der Zeit zuwei-

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August Henneberger: Vorwort. In: Briefe von Johann Peter Uz an einen Freund, wie Anm. 38, unpag.

XXIV

Zur Einführung

len gewesen sein muß, möglich und halten den Dichter zugleich in einem ästhetischen Raum, dem von seinem Anspruch her jede provinzielle Enge per se fehlen mußte.

Theodor Verweyen / Gunther Witting

Zum philosophischen und ästhetisch-theoretischen Kontext der Rokoko-Anakreontik (mit einem unbekannten Brief A. G. Baumgartens an J. W. L. Gleim im Anhang) Heinz-Dieter Weber in memoriam Daß zwischen der deutschen Rokoko-Anakreontik und den kunst- und literaturtheoretischen Konzepten der Zeit im folgenden ein engerer Zusammenhang behauptet werden soll, dürfte wohl immer noch auf erhebliche literaturgeschichtliche Skepsis stoßen. Und dieses Unbehagen hat Gründe - Gründe, die zunächst einmal in der Literaturgeschichtsschreibung der letzten beiden Jahrhunderte zu suchen sind. Erinnert sei hier lediglich an die Epochenmonographie Hermann Hettners der Jahre 1856 bis 1870, in der den Gedichten der Hallenser Anakreontiker Gleim, Uz, Götz und Rudnick eine nachhaltig wirksame Bewertung widerfuhr: »Nichtigkeiten« seien jene »tändelnden Kleinigkeiten, welche unter Anakreons Namen auf uns gekommen sind«, »eine neue Form und Einkleidung der witzelnden Spielereien der petite poesie der Franzosen« sei da zur Mode geworden, und es »wäre ein nutzloses Beginnen, dieses geckenhafte Schöntun mit anakreontischen Empfindungen auf tiefere kulturgeschichtliche Grundlagen zurückfuhren zu wollen«.1 Indes ist es, wie schon angedeutet, keineswegs nur die Literarhistorie, die mit solchen Charakterisierungen aufwartete. Auch die zeitgenössische Literatur- und Kunstkritik war mit eilfertigen Urteilen rasch zur Hand: »gewisse Lieder, welche vor einiger Zeit herauskamen, und jetzo« - so Lessings Beobachtung in der Berlinischen Privilegirten Zeitung von 1751 über den durchschlagenden Erfolg des Gleimschen Gedichtbuches - »in eben so vieler Gedächtniß als Händen sind«,2 handelten sich den Vorwurf des Minderwertigen und vor allem Belanglosen ein. Dafür wieder nur ein Beispiel: »Anakreontische Gedichte sind gemeiniglich sehr nahe beim Läppischen«, heißt es bei Kant, obwohl noch vom »esprit des bagatelles«, vom »Geist der Kleinigkeiten« afFiziert, bereits 1764 in der bezeichnenderweise von H. Hettner wiederholt zitierten Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen

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Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Textrevision von Gotthard Erler, Bd. 1. Berlin (Ost) 1961, S. 401^104. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann u. Franz Muncker, Bd. 4. Stuttgart 1889, S. 324.

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und Erhabenen in Bezug auf die »tändelnden« Werke des Witzes und der Musa iocosa.3 Freilich, zum Verdikt der literarhistorischen Darstellung und der literarischen Tageskritik kommt nun noch die Selbsteinschätzung der Anakreontiker hinzu: Lessing versammelt seine ersten lyrischen Produkte unter dem Titel Kleinigkeiten (1751); Claudius gibt seinem Bändchen die Überschrift Tändeleyen und Erzählungen (1763); Karl Christian Reckert nennt seine Hervorbringungen Kleinigkeiten (1765) und Scherze (1766); Gerstenberg zieht für sein Büchlein wiederum Tändeleyen (1759) vor; Weiße entschuldigt sich mit Witz und Ironie dafür, seine Scherzhaften Lieder (1758) wären lediglich »Tändeleyen«; Christian Nikolaus Naumann verspricht Scherzhafte Lieder nach dem Muster des Anakreon (1743); Johann Friedrich Löwen versucht es mit dem Titel Zärtliche Lieder und anakreontische Scherze (1751); Johann Georg Peter Müller mit Sammlung scherzhafter Versuche (1752);4 Uz versichert seinem »Hochgeehrteste[n] Herr[n] und Freund« - es ist Gleim im Juni 1744, von seinen »Kleinigkeiten« hätte »noch keine die benöthigte Reife bekommen«, und wiederholt etwa im folgenden Jahr sein Bedenken, »überschicke Ihnen einige meiner poetischen Kleinigkeiten, ob ich gleich mich bescheide, daß nicht viel daran ist«;5 Gleims Briefnotiz aus dieser Zeit schließlich, über Hagedorns Horaz-Adaption Der Schwätzer, gibt den Blick frei auf einen antiken Bezugstext von besonderer rezeptionsgeschichtlicher Autorität,6 auf Horaz' Satire »Ibam forte via sacra« (1,9): ihr zweiter Vers »nescio quid meditans nugarum, totus in Ulis« (»ein Verslein mag's gewesen sein, das ich im Kopfe hatte«7) - lieferte der Anakreontik mit »nugae« den

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6

Immanuel Kant: Werke in 6 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 1. Darmstadt 1960, S. 834. Vgl. Hettner, wie Anm. 1, bes. S. 405. Vgl. Friedrich Ausfeld: Die deutsche anakreontische Dichtung des 18. Jahrhunderts. Ihre Beziehungen zur französischen und zur antiken Lyrik. Materialien und Studien. Straßburg 1907, S. 33ff.; Alfred Anger: Literarisches Rokoko. Stuttgart 21968 (Slg. Metzler, Bd. 25), S. 18; Matti Schüsseler: Unbeschwert aufgeklärt. Scherzhafte Literatur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1990, S. 36. Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, hg. von Carl Schüddekopf. Tübingen 1899 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 218), Brief Nr. 16 (Uz an Gleim am 1.6.1744), S. 68 bzw. Brief Nr. 19 (Uz an Gleim am 27.6.1745), S. 77. Ebd., Brief Nr. 17 (Gleim an Uz am 6.10.1744), S. 71. Horaz: Sämtliche Werke, lat. u. deutsch, hg. von Hans Färber. München 1960, S. 56/57. Hagedorn adaptiert den Gedichtanfang wie folgt: »Jüngst, da ich mich, wie sonst, den Grillen überlasse, / Gerat ich ungefähr in die Mariengasse« - Friedrich von Hagedorn: Gedichte, hg. von Alfred Anger. Stuttgart 1968 (Reclams UB 1321-23), S. 146. Vgl. dazu Wolfgang J. Pietsch: Friedrich von Hagedorn und Horaz. Untersuchungen zur HorazRezeption in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Hildesheim u.a. 1988, S. 167— 173. Die anonym erschienene Prosaübersetzung von Junkheim, Uz und Hirsch, Die Werke des Horaz. Neue verbesserte Auflage. Anspach 1785, Bd. 2: Satyren und Briefe, S. 69-76: »Satyre IX. Auf einen Schwätzer« hat hier: »Jüngst gieng ich, meiner Gewohn-

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programmatischen Ausdruck, den bezeichnenderweise vor Horaz schon Catull, ein weiterer antiker Hausautor des Anakreontikers Gleim, im vierten Vers des Eröffiiungsgedichtes seiner Po/yweira-Sammlung als Programmwort für seine kleinen Hervorbringungen, seine »Spielereien«, einführte. 8 Somit beschränkt sich die deutsche Rokoko-Anakreontik ihrem eigenen Selbstverständnis nach in Thematik, Formumfang und Formenkanon aufs Kleine, Scherzhaft-Unernste, Unambitionierte, Beiläufig-Unmaßgebliche. Nicht erst die Literaturgeschichtsschreibung und die zeitgenössische Kritik also, die deutschen Anakreontiker selber nannten ihre »kleinzeiligten Gedichte«' »Tändeleien«, »Possen«, »Grillen«, »Scherze«, »Kleinigkeiten«, »Dingerchen«, »Spielereien«, kurzum »nugae«. Es liegt daher nun allerdings auch die Annahme allzu nahe, ihr poetisches Programm und Konzept könnte sich aus einer dezidierten Theorieferne, womöglich gar Theoriefeindschaft bestimmen. Dafür scheint in der Tat beispielsweise folgendes Indiz zu sprechen. Als Gleim im Brief vom 22. November 1746 an Uz den Gedanken eines literarischen »Denckmahls« für den früh verstorbenen Rudnick entwikkelte: »Sie würden eine artem poeticam schreiben, der HE. v. Kleist würde die Wercke der Natur malen; Ramler, würde nicht wißen, was er thun wolte, aber wir wolten ihn nöthigen, bey der horazischen Ode zu bleiben«, da nahm der so aufgeforderte Uz zwar die Projektskizze auf, verschloß sich aber dem speziellen Anliegen: »Ich will auch einmal etwas unternehmen, aber keine Poetik: hierzu hab ich nicht Critik genug«10 - dabei bezeichnet »Critik« hier nicht nur allgemein »die Kunst des Urteilens und Beurteilens«, sondern mehr noch im Verständnis der Epoche das enge theoretische Bündnis, das Philosophie und Kunstkritik jetzt einzugehen begannen." Somit verstärkt sich fürs erste gegenüber der Rokoko-Anakreontik tatsächlich der Verdacht der Theorieferne.

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heit nach, durch die heilige Strasse, und ich weis nicht, was ich gerade ñir Possen im Kopf hatte, in die ich ganz vertieft war«. Vgl. Catullus: Sämtliche Gedichte, lat. u. deutsch, hg. u. komm, von G. P. Goold, neu übers, von Carl Fischer, Nachw. von Bernhard Kytzler. München 1987 (dtv 2187), S. 8f: »Cornell, tibi: namque tu solebas / meas esse aliquid putare nugas [...]« - »Ja, Cornelius, dir, der du von meinen / Spielereien schon was zu halten pflegtest [...]«. Catull und Horaz nennt Gleim gern in einem Atemzug, so in den Briefen an Uz am 4.6.1747 und 4.5.1766 (Briefwechsel, wie Anm. 2, Nr. 37, S. 167 und Nr. 124, S. 369), ferner Catull in anderer Paarung mit Anakreon am 29.8.1751 (Nr. 60, S. 231). Briefwechsel, wie Anm. 2, Brief Nr. 29 (Gleim an Uz am 22.11.1746), S. 135. Ebd., Brief Nr. 29 (Gleim an Uz am 22.11.1746), S. 138 bzw. Brief Nr. 32 (Uz an Gleim am 19.1.1747), S. 154. Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. 3 Aufl., unveränderter Nachdr. der 2. Aufl. Frankfurt/M. 1973 (stw 36), S. 196200; Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1973, S. 368ff.

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4 I.

Umso bemerkenswerter mutet nun aber die Bibliothek eines Repräsentanten der deutschen Anakreontik, die des Johann Peter Uz, an. Es ist (jedenfalls auch) eine »Privatbibliothek« in dem von Wolfgang Adam definierten Sinne,12 auf die wir hier nur unter einem bestimmten Aspekt eingehen. Seitdem die germanistische Literarhistorie, angeregt nicht zuletzt durch die Konstanzer Grundlegung der Rezeptionsforschung, in den letzten Jahrzehnten zunehmend fur die »Sichtung und Auswertung des privaten Buchbesitzes vergangener Epochen« geöffnet wurde, sind dem Forschungsbericht W. Adams zufolge beeindruckende Ergebnisse erzielt worden, die vor allem aufgrund organisations- und institutionsgeschichtlicher, sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Orientierungen zustande gekommen sind.13 Mag nun zwischenzeitlich auch die Perspektive hinzugewonnen worden sein, die Bibliotheksgeschichte und historische Leserforschung als »Teil der Literaturgeschichte« zu integrieren, so ist doch die Forschungslage gerade »im Bereich der Dichter- und Schriftstellerbibliotheken« noch immer nicht zufriedenstellend14 - und zwar vor allem dort nicht, wo Fragen nach den literaturinternen Zusammenhängen wie beispielsweise der Relation von literarischer Praxis und theoretischer Begründung bzw. Motivierung in den Vordergrund treten. Letzterer gilt nun unser Interesse. Im übrigen erschweren zusätzliche Probleme die folgenden Beschreibungen, da sich Uz' Bibliothek selber nicht erhalten hat, wohl aber - glücklicherweise - das aus Anlaß ihres Verkaufs angelegte Bestandsverzeichnis.15 Dieses enthält unter den zwölf nach thematischen Gesichtspunkten geordneten Buchgruppen in der vierten Sparte, »Theorie und Geschichte der schoenen Wissenschaften« überschrieben, 210 numerierte Eintragungen, die sich nach Auflösung der Bandeinheiten auf 250 Titel erhöhen. Und die zehnte Sparte - »Philosophie nebst Einschluß der Arznei Wissenschaft« - hat 456 durchgezählte Angaben bzw. 488 aufschlüsselbare Titel, wobei der weite Philosophiebegriff nach den begriffsgeschichtlichen Analysen Friedrich Kambartels im Feld von »Wissenschaft«, »Philosophie«, »Theorie«, »Historie« und »Poesie« durchaus noch der des ganzen 18. Jahrhunderts ist und somit auch die Aufnahme natur-, medizin- und staatskundlicher Schriften

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Wolfgang Adam: Privatbibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Fortschrittsbericht (1975-1988). In: IASL 15 (1990), S. 123-173, S. 125. Zur Bibliothek Uzens siehe auch den Beitrag von Ernst Rohmer in diesem Band. Ebd., S. 123ÍT. Ebd., S. 125 bzw. S. 151f. Uzischer Katalog (Regierungsbibliothek Ansbach, Sign.: Ms. hist. 553; Kopie UB Erlangen, Sign.: Ms. hist. 553°).

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sowie Arbeiten zur schöngeistigen Literatur ebenso wie etwa zur Gartenkunst oder philosophischen Geschichte in diese Buchgruppe motiviert." Wirkt bereits der Umfang der philosophischen, theoretischen und theorienahen Literatur angesichts des skizzierten Selbstverständnisses der Anakreontiker erstaunlich, so gilt das erst recht für die Kontinuität des hier sichtbar werdenden spezifischen Interesses. Noch 1795 gehen nach Ausweis des Kataloges in die erstgenannte Sparte der Bibliothek u.a. ein: Herders Briefe zur Beförderung der Humanität von 1793-95 (1.-6. Sammlung),17 Johann Christoph Adelungs Handbuch Über den Deutschen Styl in der dreibändigen Ausgabe von 1795 und Johannes Gottfried Dyks Nachträge zu Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste von 1792-95 (1.—4. Band).18 Aus den Jahren 1794 bis 1796 finden in die andere Abteilung noch folgende, ausgewählte, Titel Eingang: Georg Friedrich Daniel Goeß' Systematische Darstellung der Kantischen Vernunftkritik von 1794 (Erscheinungsort Nürnberg) und dessen Grundriß der Logik von 1795 (erschienen in Ansbach) sowie etwa auch Friedrich Heinrich Jacobis philosophischen Roman Woldemar in der Königsberger Ausgabe von 1796.1' Umfang so gut wie Kontinuität des Bucherwerbs schon allein für die beiden genannten Bereiche könnten Indikatoren einer höchst intensiven Beschäftigung des Autors mit der Allgemeinen Philosophie, Kunstphilosophie und Literaturtheorie der Zeit sein. Uz' Bibliothek erscheint tatsächlich wie ein Spiegel der Geschichte der Rhetorik, Poetik und Ästhetik einschließlich ihrer verzweigten Fundierungszusammenhänge im Aufklärungsjahrhundert. Sie auch nur halbwegs angemessen beschreiben zu wollen, hieße einer allzu verlockenden Versuchung erliegen, zumal keineswegs der Blick nur auf deutsche Philosophen und Theoretiker gerichtet bleibt. Bezeichnenderweise eröffnet eine lateinische Ausgabe der weit ins 18. Jahrhundert ausstrahlenden Opera omnia Bacons von 1694 die »Philosophie«-Abteilung;20 John Lockes Essay Concerning Human Understanding in einer deutschen Übersetzung von 1757 und An Essay on the History of Civil Society (1767) von Adam Ferguson, dem Hauptvertreter der schottischen Aufklärung, in der wiederholt

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Friedrich Kambartel: Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus. Frankfurt/M. 1968, S. 61-86. Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 60, Nr. 116-117 (vgl. Karl Goedeke: Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. 3., neu bearb. Aufl. Vierter Band. Erste Abteilung. Dresden 1916, S. 732, Nr. 88. Im weiteren benutzen wir die Abkürzung: Goedeke IV/1 mit Angabe der Seite und Nummer). 18 Ebd., fol. 63, Nr. 154-155 bzw. Nr. 166-169. " Ebd., fol. 209, Nr. 44 bzw. 45; zu G.F.D. Goeß vgl. Günther Schuhmann: Ansbacher Bibliotheken vom Mittelalter bis 1806. Kallmünz/Opf. 1961, S. 154-156; fol. 225, Nr. 406 (vgl. Goedeke IV/1, S. 693, Nr. 5). 20 Ebd., fol. 203, Nr. 1 (in Folio); vgl. Kambartel, wie Anm. 16, S. 62ff.

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aufgelegten deutschen Übersetzung von 1768 sind im Katalog nachweisbar;21 Henry Homes 1774 und 1775 ins Deutsche übertragene Sketches of the History of Man (1774) sind ebenso vertreten wie eine vierbändige deutsche Ausgabe von David Humes Vermischten Schriften (Hamburg 1754-1756) oder auch Shaftesburys Philosophische Werke in der dreiteiligen Übersetzung Ludwig Christoph Heinrich Höltys von 1776 und Richard Hurds Politische und moralische Dialoge in Höltys Übertragung von 1775.22 Und diese Titel bilden, wie noch zu zeigen ist, nur einen außerordentlich kleinen Ausschnitt aus der im Katalog faßbaren aktuellen englischen Philosophie. Demgegenüber sind Theoretiker und Philosophen der Romania in solchem Ausmaß nicht enthalten; gleichwohl könnte es sich auch hier um eine signifikante Selektion des Autors handeln. So gehört die 1659 erschienene Institutio logicae, et philosophiae Epicuri syntagma des Geistlichen, Philosophen, Mathematikers und Naturwissenschaftlers Pierre Gassendi mit seiner gemäßigt skeptischen, modern empiristisch anmutenden und gegen den scholastisch geprägten Aristotelismus gerichteten Haltung zu den interessanten Katalogtiteln;23 ähnlich verhält es sich mit der von Uz nachweislich verarbeiteten, verschiedentlich als »Lieblingsbuch« Leibniz', Wolffs u.a. apostrophierten Schrift Ars semper gaudendi des spanischen Jesuiten Alphonsus A. de Sarasa in der Kölner Ausgabe von 1676.24 Zu Montaignes Werk der Essais in einer Ausgabe von 1669 und Montesquieus De l'esprit des lois in einer neuen Edition von 177025 kommt noch Rousseaus vielbändiges Werk von 1782 mit dem Emile, den Mémoires, La nouvelle Héloïse und etwa den Traités sur la Musique26 hinzu, während man beispielsweise Descartes' Philosophie vergeblich sucht. Daß der Bibliothekskatalog immer wieder auch auf eine lebhafte Teilnahme an den aktuellen philosophischen Debatten zu verweisen scheint, legen etwa die folgenden Eintragungen nahe: Leibniz' Essais de théodicée e sur la bonté de Dieu [...] in der Amsterdamer Ausgabe von 172027 und, in der 7. Sparte mit dem Bestandstitel »Romane - Satyren«, der Candide par Voltaire in einer Londoner Ausgabe von 17592" sowie Chri-

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Ebd., fol. 203, Nr. 2 (in Quarto) bzw. fol. 211, Nr. 84. Ebd., fol. 211, Nr. 87-88; fol. 212, Nr. 98-101; fol. 213, Nr. 117-119; fol. 213, Nr. 127-128. Ebd., fol. 205, Nr. 3 (in Quarto); vgl. Art. »Gassendi (Gassend), Pierre«. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. von Jürgen Mittelstraß, Bd. 1. Mannheim u.a. 1980, S. 706-708. Ebd., fol. 204, Nr. 11; vgl. fol. 214, Nr. 140: »Die Kunst stets froelich zu seyn, aus dem Saraßo verfaßet von [Chr. E. v.] Windheim Heimst. 1755.« 25 Ebd., fol. 226, Nr. 5-7 (in Duodecimo) bzw. fol. 213, Nr. 113-116. 26 Ebd., fol. 222, Nr. 325-335. 27 Ebd., fol. 209, Nr. 60. 2 ' Ebd., fol. 115, Nr. 61-62. 22

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stian Ziegras Sammlung der Streitschriften über die Lehre von der besten Welt (Rostock) aus dem Candide-Jehr 1759.29 Diese Vermutung findet eine interessante Bestätigung nun auch auf den Feldern der deutschen Philosophie, Religionsphilosophie und Theologie: Zunächst einmal mit jenem 1766 in dritter Auflage erschienenen und für die Religionsdebatte und Aufklärungstheologie grundlegenden Werk Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion des vom englischen Deismus beeinflußten Hermann Samuel Reimarus;30 dann auch mit den in den Umkreis des sog. »Fragmentenstreits« gehörenden Schriften, die in diesem Fall in der elften Abteilung des Kataloges unter dem Titel »Religion und Theologische Wissenschaften« notiert sind.31 Von besonders auffalligem Umfang aber ist die Dokumentation der im sog. »Pantheismusstreit« zwischen Moses Mendelssohn und Friedrich Heinrich Jacobi kulminierenden öffentlichen Auseinandersetzung um Grundfragen der Aufklärung, die sich im Anschluß an Johann Kaspar Lavaters taktloser »Zueignungsschrift an M. Mendelssohn« von 1769 mit zunehmender Schärfe entwickelt hatte.32 Daß Uz' Bibliothek auch einen Faszikel mit »Axiomata«, Repliken und Dupliken im GoezeLessing-Streit enthielt, mutet insoweit geradezu selbstverständlich an.33 Anderes muß hier übergangen werden, damit noch auf vier bemerkenswerte Titelgruppen in der 10. Katalogabteilung aufmerksam gemacht werden kann. Die erste Gruppe wird von zweisprachigen Ausgaben und deutschen Übersetzungen antiker Autoren gebildet. Aus ihr ragen in Übertragungen verschiedener Übersetzer Piatos Dialoge sowie Xenophons politische und memorabilische Arbeiten sowie ökonomische Lehrschriften heraus. Bei beiden Autoren läßt sich mit ziemlicher Gewißheit eine frühe Phase des Erwerbs (in den späten dreißiger Jahren, also zur Pennälerzeit Uz') von einer relativ späten Phase (der späten 60er, 70er und 80er Jahre entsprechend der Entwicklung des deutschen Interesses an der griechischen Antike) unterscheiden." Eine zweite Titelgruppe machen die vielen Moralischen Wochenschriften aus, die im englischen und deutschen Idiom angezeigt sind: vom Spectator und Patrioten als frühesten Datierungsansätzen im Katalog (nämlich 1737) bis zum Kenner (1775) und Spiegel (1782).35 Avancierten auch die moral 29 30 31 32

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Ebd., fol. 209, Nr. 58. Ebd., fol. 210, Nr. 75. Ebd., fol. 240, Nr. 106 (Semler); fol. 241, Nr. 120-121 (Döderlein) u.a. Ebd., fol. 238, Nr. 97 (Faszikel mit Streitschriften); ferner fol. 223, Nr. 368-371 sowie fol. 224, Nr. 372; zudem fol. 211, Nr. 89-91. Ebd., fol. 240, Nr. 107. Zu Plato vgl. ebenda, fol. 204, Nr. 4-5 bzw. fol. 206, Nr. 9-12. Zu Xenophon vgl. fol. 204, Nr. 6-7 bzw. fol. 207, Nr. 13, 17-18. Ebd., fol. 215, Nr. 165-187; vgl. fol. 220, Nr. 276-299 u.a.

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weeklies von England aus »zum populärsten Sprachrohr der Aufklärung« in Deutschland," so ist doch der aufklärungsphilosophische Beitrag der sog. »Popularphilosophie« keineswegs weniger gering zu veranschlagen. Es dürfte bezeichnend sein, daß der Katalog der Uzischen Bibliothek - nach zeitraubenden Aufschlüsselungen der vielfach vagen Eintragungen - eine Fülle von den popularphilosophischen Grundgedanken verpflichteten Arbeiten ausweist, aus der die Schriften Christian Garves noch einmal hervorragen. Es sind seine Übersetzung sowie Kommentierungen und »Abhandlungen« zu Ciceros De officiis und die Philosophischen Betrachtungen über die thierische Schöpfimg. Aus dem Englischen,37 ferner seine Beiträge in der Zeitschrift mit dem sprechenden Titel Der Philosoph, für die Welt (1775-77) von Johann Jakob Engel38 und die Übertragung der Grundsätze der Moralphilosophie (1772) von Adam Ferguson;39 hinzu kommen das Schreiben an Herrn Friedrich Nicolai (von 1786) und die Schrift Ueber den Charakter der Bauern (von 1786);40 schließlich gehörten auch die Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik (von 1788) und der erste Teil seiner Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben (von 1792) zum Bestand.41 Man ist beinahe versucht, auf ein besonderes Interesse des älteren Uz an Garve als jenem »populären Philosophen« zu schließen, der - wie Kurt Wölfel in einem Porträt des Autors mit einem Wort von Garve selber charakterisiert - »ein Prediger des allgemeinen Menschensinnes«, des sensus communis sein will.42 Von Garve aus, der in Frankfurt/Oder bei Alexander Gottlieb Baumgarten über Naturrecht und Logik gehört hat und dann ein Studium vor allem der Philosophie und Mathematik in Halle u.a. bei Georg Friedrich Meier fortsetzte, ist der Übergang zur vierten Titelgruppe leicht getan. Sie umfaßt Schriften der genannten Philosophen und Christian Wolffs, als dessen »Anhänger« sie gelten. Zwei Hauptwerke des fuhrenden Kopfes der deutschen Frühaufklärung - die vierteilige Ausgabe der Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften von 1735 und Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes von 173843 - könnten Erwerbungen aus der

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Helga Brandes: Art. »Wochenschriften, Moralische«. In: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, hg. von Werner Schneiders. München 1995, S. 443-445. Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 208, Nr. 35 und fol. 210, Nr. 78. Ebd., fol. 214, Nr. 133. Ebd., fol. 214, Nr. 143. Ebd., fol. 224, Nr. 389. Ebd., fol. 224, Nr. 390 bzw. Nr. 392.

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Christian Garve: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Im Faksimiledruck hg. von Kurt Wölfel, 2 Bde. Stuttgart 1974 (Deutsche Neudrucke: Reihe Texte des 18. Jahrhunderts), Bd. 2, S. 35*ff. Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 217, Nr. 229 bzw. fol. 208, Nr. 41.

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Hallenser Studienzeit sein, in der Uz in die Form der mathematischen Deduktion und Demonstration eingeführt worden ist. Auf jeden Fall trifft das für Baumgartens Metaphysica in der Hallenser Ausgabe von 1739 zu;44 demgegenüber kann deren Übersetzung von G.F. Meier erst nach 1757 in Uz' Bibliothek eingegangen sein.4' Zu den frühen Erwerbungen gehören auch die pseudonym publizierten Philosophischen Brieffe von Aletheophilns, die in Frankfurt/Oder und Leipzig 1741 erschienen sind und Baumgarten zum Autor haben.46 Zwei Aspekte schließen sich an diese letzte Titelgruppe an, deren Bedeutung übrigens nicht mit ihrem, vergleichsweise kleinen, Umfang verwechselt werden darf. Im Rahmen der Metaphysica - der erste Aspekt entwirft Baumgarten auf der Grundlage der Schulphilosophie eine »Psychologia empirica«, der er eine besondere Stellung gegenüber der »Psychologia rationalise einräumt und in der dem »unteren Erkenntnisvermögen« größeres Gewicht als dem »obern« zugewiesen wird. »Schon darin zeigt sich«, so Hans Rudolf Schweizer, »die Tendenz Baumgartens, dem Gebiet der sinnlichen Erkenntnis< Raum zu verschaffen und diese gegen die Dominanz der Rationalität zur Geltung zu bringen«.47 Die empirische Psychologie Baumgartens ist »gewissermaßen der Heimatort der Ästhetik«.48 In den der Publikationsform der Moralischen Wochenschrift nahestehenden Philosophischen Brieffen wiederum - der zweite Aspekt - propagiert der systematisch strenge Baumgarten in der Art der »populären Philosophie« die »Aesthetik« als eigenständige Erkenntnisdisziplin: Er, der fiktive Schreiber dieser Briefe, stelle sich die »Logik« (im engeren Sinne) »als eine Wißenschafft der Erkenntnis des Verstandes oder der deutlichen Einsicht vor und behält, die Gesetze der sinnlichen und lebhafften Erkenntnis, wenn sie auch nicht bis zur Deutlichkeit, in genauester Bedeutung, aufsteigen sollte, zu einer besondern Wißenschafft zurück. Diese letztere nennt er die Aesthetik«.49 Solche Sätze konnte, nein mußte der in Vorlesungen der »Weltweisheit« und in den klei44

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Ebd., fol. 209, Nr. 52. Vgl. dazu Th. Verweyen, G. Witting: Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, hg. von Th. Verweyen in Zusammenarbeit mit H.-J. Kertscher. Tübingen 1995 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, Bd. 1), S. 101-119, S. 107f. Ebd., fol. 209, Nr. 56-57. Ebd., fol. 205, Nr. 19. Uz war sich über die Autorschaft Baumgartens völlig im klaren, wie das Postscriptum des Briefes an Gleim vom 1.6.1744 belegt.

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Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Übers, u. hg. von Hans Rudolf Schweizer, lat.-dt. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek, Bd. 351), S.XIff. Reinhard Brandt in einer Rezension der Auswahlausgabe von H. R. Schweizer in: Aufklärung 1 (1986), H. 1: Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit, hg. von Norbert Hinske, S. 106. [A. G. Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus. Frankfurth und Leipzig, 1741, 2. Schreiben, S. 5-8, S. 6f. (Exemplar: LB Coburg, Β II 5/la). Vgl. die Auswahlausgabe von H. R. Schweizer, wie Anm. 47, S. 57-72, S. 69.

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nen literarischen Zirkeln in und um Halle sich herumtreibende Student beider Rechte (vom Sommersemester 1739 bis zum Sommersemester 1743) gelesen haben. Auf diesen prägenden Einfluß der Philosophie Baumgartens kommen wir später noch einmal zurück.

Π. Sollte Uz die weitreichenden so gut wie innovativen Zusammenhänge gesehen haben: wie steht es dann um die vierte Abteilung des Kataloges, überschrieben mit »Theorie und Geschichte der schoenen Wissenschaften«? Sie kann, wie schon angedeutet, durchaus als ein Spiegel der Rhetorik-, Poetikund Ästhetik-Geschichte des 18. Jahrhunderts gelten, ist deskriptiv hier gar nicht ausschöpfbar und widerlegt die nicht zuletzt rezeptionsgeschichtlich verfestigte Auffassung von der Rokoko-Anakreontik als einer theoriefernen Gruppierung der deutschen Literaturgeschichte. So zeigt der Katalog der Uzschen Bibliothek zunächst einmal Grundtexte der antiken Literaturtheorie an: solche der Rhetorik mit Ciceros De oratore, Quintilians Institutio oratoria, den Fragmenten De dicendi generibus des Hermogenes - übrigens allesamt in lateinischer Sprache - und der deutschen Übersetzung des pseudo-longinischen Traktats Περί ûxpovç (Vom Hohen) von Johann Georg Schlosser aus dem Jahr 1781;50 zu diesen kommt hinzu Bernard Lamys La rhétorique ou l'art de parler von 1737, deren Wirksamkeit in der deutschen Frühaufklärung erst neuerdings angedeutet wird.51 Eine zweite Theorie-Tradition, die sich aus der Antike begründet, ist - natürlich für Uz, von seinen Freunden »unser deutscher Horaz« genannt" - mit Horaz präsent, und zwar im Urtext mit Ausgaben wie denen von 1749, 1752 und 177853 und in deutschen Versionen mit Johann Joachim Eschenburgs Übertragung der Episteln an die Pisonen, und an den Augustus mit Commentar und Anm. v. [Richard] Hurd aus dem Jahre 177254 oder auch mit Wielands zweiteiliger Übersetzung der Briefe mit Erläuterungen von 1782," wobei

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Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 53, Nr. 1-4 (in Octavo). Zu Cicero vgl. auch in der Sparte »Redner und Epistolographen« die Leipziger Ausgabe der »Opera omnia« von 1737-1739 ebd., fol. 66, Nr. 1-6 (in Octavo). Ebd., fol. 64, Nr. 1. Vgl. Rudolf Behrens: Problematische Rhetorik. Studien zur französischen Theoriebildung der Affektrhetorik zwischen Cartesianismus und Frühaufklärung. München 1982 (Reihe Rhetorik, Bd. 2), S. 115-160: Die Rhetorik des Bernard Lamy. " Vgl. Briefwechsel, wie Anm. 5, S. 528. " Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 75, Nr. 43-44, 45, 46. " Ebd., fol. 54, Nr. 25. 55 Ebd., fol. 75, Nr. 47.

Zum philosophischen und ästhetisch-theoretischen Kontext

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diese späteren Adaptionen in offenkundigem Zusammenhang mit der eigenen Horaz-Übertragung stehen." Eingebettet ist die Horaz-Rezeption in die - ihr wohl vorausgehende breite Aufnahme der zeitgenössischen kunsttheoretischen Reflexion der Romania; dazu nur folgende Titel: die Réflexions sur la critique von A. Houdart de La Motte aus dem Jahr 1716," Dominique Bouhours' La manière de bien penser von 1729," die dreibändigen Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture von Jean Baptiste Dubos in der Ausgabe von 1733" sowie die Oeuvres des Rémond de Saint-Mard von 1750, auf die sich Uz übrigens in einer früheren Ausgabe nachweislich mehrfach bezieht.60 Diese Textreihe könnte leicht den Eindruck erwecken, Uz habe sich schon früh - mit Ernst Cassirer gesprochen - auf den Weg zu einer »ästhetischen >Denklehrenationalhistorische< Darstellung L'istoria della volgar poesia des Giovanni Mario Crescimbeni aus dem Jahre 1698" sowie die >komparatistische< Arbeit Paragone della Poesia tragica d'Italia con quella di Francia des Pietro dei Conti di Calepio aus dem Jahre 173267 hinzuzunehmen sind. Letztere hat Johann Jakob Bodmer herausgegeben. Wesentliche Anregungen dürften dabei für Uz von den Zürchern Bodmer und Breitinger ausgegangen sein; Bodmer hat mit Conti einen

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Ebd., fol. 75, Nr. 49-50; es handelt sich um die in Anm. 7 angeführte Ausgabe. Ebd., fol. 64, Nr. 3. Ebd., fol. 64, Nr. 2. Ebd., fol. 53, Nr. 13-15. Ebd., fol. 64, Nr. 5-9. Vgl. Verweyen, Witting, Zur Rezeption, wie Anm. 44, S. 116f.: Es ist die Arbeit »Réflexions sur la Poesien in der Ausgabe von 1734. Cassirer, wie Anm. 11, S. 368-482: Die Grundprobleme der Ästhetik, S. 400ff. Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972 (Studia Leibnitiana Supplementa IX), S. 37-39. Cassirer, wie Anm. 11, S. 405. Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 52, Nr. 3-4. Ebd., fol. 53, Nr. 16. Ebd., fol. 52, Nr. 5. Ebd., fol. 60, Nr. 119.

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ausführlichen, später auswahlweise publizierten Briefwechsel gefuhrt und besaß Muratoris Poetik, die er im übrigen intensiv nutzte, in der zweiten Auflage." Bodmers und Breitingers wichtigste kritisch-ästhetische Schriften selber sind ebenfalls und nahezu vollständig im Katalog verzeichnet - und zwar durchweg in den jeweils frühesten Ausgaben zwischen 1736 und 1749;" zudem ist auf jeden Fall schon die zitierende und thematische Bezugnahme Uz' auf Bodmers Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter von 1741 nachgewiesen.70 Demgegenüber ist - bemerkenswerterweise - ihr großer Kontrahent der ersten Hälfte des Aufklärungsjahrhunderts etwa mit seinem poetologischen Hauptwerk, dem Versuch einer critischen Dichtkunst, im Katalog nicht vertreten. Gleichwohl ist Gottsched präsent - in den polemischen Abhandlungen seiner Gegner: beispielsweise in Jakob Immanuel Pyras zweiteiligem Erweis, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe von 1743/44" und in Georg Friedrich Meiers Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst von 1747.72 Wollte man von hier aus auf Affinität Uz' mit den Schweizern schließen, ließe sich bestätigend etwa eine briefliche Bemerkung gegenüber Gleim aus dem Jahre 1783 anfuhren: Er [Bodmer] hat mich für seinen Feind gehalten, und als einen solchen behandelt. Aber das war ich niemals. Sie müssen sich von unsern ersten Zeiten her erinnern, daß ich ihn als meinen Lehrer in der Dichtkunst verehrt habe. Aber seine Dichtart wollte mir nicht behagen.

Die im letzten Satz zum Vorschein kommende poetische Differenz könnte ein Grund dafür sein, daß die erste der vier Hauptschriften Bodmers und Breitingers, die Critische Abhandlung von dem Wunderbaren von 1740, im

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Vgl. Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 56, Nr. 51; dazu Wolfgang Bender: J. J. Bodmer und J. J. Breitinger. Stuttgart 1973 (Sammlung Metzler, Bd. 113), S. 79-85. Ferner Uzischer Katalog, fol. 52, Nr. 3-4; dazu: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Faks.druck von 1740, hg. von W. Bender. Stuttgart 1966, S. 16*. Ebd., fol. 56, Nr. 49: Breitingers »Critische Dichtkunst« in der Ausgabe von 1740; Nr. 50: Bodmers »Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemähide Der Dichter« von 1741; Nr. 51: Bodmers »Brief-Wechsel Von der Natur Des Poetischen Geschmackes« von 1736; Nr. 52: »Neue Critische Briefe« von Bodmer und Breitinger aus dem Jahre 1749; Nr. 53-54: von denselben die »Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften« von 1741-1744. Vgl. Verweyen, Witting, Zur Rezeption, wie Anm. 44, S. 503f. Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 56, Nr. 56. Ebd., fol. 56, Nr. 57. Meier widmet die Schrift Bodmer und Breitinger. Briefwechsel, wie Anm. 5, Brief Nr. 160 (Uz an Gleim am 18.6.1783), S. 422. Zur poetischen Differenz zwischen Bodmer und Uz vgl. die ironische Publikation Bodmers über Johann Georg Jacobis »kleine Manier«: »Von den Grazien des Kleinen. In der Schweiz. MDCCLXIX.«, abgedruckt in: Ausfeld, wie Anm. 4, S. 145-162.

Zum philosophischen

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Kontext

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Katalog fehlt. Sie ist ja eine Verteidigungsschrift von Miltons Epos Paradise lost und kommt literarischen Vorstellungen vom Erhabenen sehr nahe. Demgegenüber ist die Kritik an der Theorie des Erhabenen im Katalog durchaus präsent: zum Beispiel mit der Abhandlung Anti-Longin oder die Kunst in der Poesie zu kriechen - eine Übertragung des Pope und Swift zugeschriebenen satirischen Essays The Art of Sinking in Poetry von 1727,74 die Johann Joachim Schwabe auf Geheiß Gottscheds 1734 vorlegte. Was dann den Fluchtpunkt für Uz' eigene poetische Praxis bildet, ist aus diesem Teil des Kataloges allein nicht zu entscheiden, auch wenn er A.G. Baumgartens zweibändige Aesthetica von 1750-1758 und G.F. Meiers Auszug aus den Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften von 1757 aufführt.75 Immerhin deutet sich im Katalog mit den Arbeiten von Charles Batteux in der Übersetzung von Johann Adolf Schlegel (Einschränkung der schönen Künste auf Einen einzigen Grundsatz, 1751) und Karl Wilhelm Ramler (Einleitung in die schönen Wissenschaften, 41774)76 ein weiteres konkurrierendes Theorieangebot an, das nicht zuletzt des Postulates der Naturnachahmung wegen in Deutschland von nachhaltiger Wirkung war. Werfen wir noch einen flüchtigen Blick auf jene Eintragungen im Bereich der Theorie, für die keinesfalls mehr ein unmittelbarer Zusammenhang mit der literarischen Praxis des Autors vorausgesetzt werden kann. In einem Brief nämlich verband am 7. September 1763 Uz sein gewiß nicht ganz ungebrochenes Lob auf seinen Adressaten Gleim mit einer poetischen Selbsteinschätzung: Wie glücklich sind Sie, daß Sie noch so reitzend, so fröhlich singen können! Von mir ist die fröhliche Muse gewichen. Meine Muse ist entweder ernsthaft, oder, welches öfter geschieht, singt gar nicht.77

Und nur etwas mehr als ein Jahr später lautete es noch definitiver: Jetzt hängt meine Leyer an der Wand. In Jahr und Tag habe ich sie nicht in die Hand ge78 nommen.

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Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 55, Nr. 31. Dazu: The Art of Sinking in Poetry. Martinas Scriblerus ' »Peri Bathous«, with Bibliographical Notes on »The Last Volume« of the Swift-Pope »Miscellanies« by R.H. Griffith and E.L. Steeves, hg. von Edna Leake Steeves. New York 1968, bes. S. XXIII-XLIII. Ebd., S. LXIV zur Genrefrage etwa: »[...] >Peri Bathonsi is, in a definite sense, an >ars poetica< - to be read in reverse«. Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 56, Nr. 60-61 bzw. Nr. 62. Ebd., fol. 53, Nr. 10 bzw. Nr. 8-9. Briefwechsel, wie Anm. 5, Brief Nr. 108, S. 342. Ebd., Brief Nr. 120 (Uz an Gleim am 30.1.1765), S. 362.

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Umso erstaunlicher ist nun, daß es trotz dieses poetischen Verzichts eine andauernde Wahrnehmung der »critischen« Selbstbestimmungen der Kunst und Literatur der Zeit durch Uz gegeben zu haben scheint - und zwar von 1765 an bis in die letzten Lebensjahre. An diesem Prozeß der »critischen« und poetologischen Selbstbestimmung sind zunächst einmal die im Katalog reichlich vertretenen Baumgarten- und Meier-Schüler Christian Garve und Karl Friedrich Flögel sowie der von Uz sehr geschätzte Johann Joachim Eschenburg als übersetzende Vermittler aus dem Englischen maßgeblich beteiligt: Garve mit den Grundsätzen der Kritik von Henry Home (1772) und dem Versuch über das Genie von Alexander Gerard (1776), Flögel mit der Übertragung des Versuchs über den Geschmack vom selben Autor (1766) und Eschenburg mit den Betrachtungen über die Verwandtschaft der Poesie und Musik von Daniel Webb (1771) einer Schrift übrigens, die am Prozeß der Auflösung des Horazischen ut pictura />oejis-Prinzips im 18. Jahrhundert nicht unwesentlich beteiligt war; schließlich nochmals Garve mit der Untersuchung über den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen von Edmund Burke (1773).79 Nimmt man nun noch Gottscheds Übertragung der Conjectures on Original Composition von Edward Young aus dem Jahre 1760 hinzu, ebenso Saverio Betinellis Dell'entusiasmo delle belle arti von 177880 und ergänzt sie beispielsweise durch die Katalogeinträge der Eschenburgschen Übersetzung Versuch über Shakespeares Genie [...] in Vergleichung mit den dramatischen Dichtern der Griechen und Franzosen aus dem Englischen von 177181 oder der 1773 von Herder publizierten »fliegenden Blätter« Von deutscher Art und Kunst82 mit seinen Aufsätzen Über Oßian und die Lieder alter Völker und Shakespeare sowie Goethes Essay Von deutscher Baukunst - dann dürfte trotz aller Bedenken wegen des hier exerzierten name-dropping auf Anhieb deutlich geworden sein, daß Uz' Bibliothek auch jene literaturkritischen, poetologischen und ästhetisch-theoretischen Schriften enthalten hat, die den als revolutionär empfundenen Umbruch und Normenwandel des Ästhetischen in der sog. »Genieperiode« paradigmatisch anzeigen können. Wir brechen an dieser Stelle diese ersten - ohnehin vorläufigen - Analysen ab.

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Uzischer Katalog, wie Anm. 15, fol. 54, Nr. 22-23, 27, 26, 24, 28 in der Reihenfolge der Titelnennungen. Auf E. Burkes Arbeit folgt Kants Abhandlung »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« in der Ausgabe Riga 1777 (Uzischer Katalog, fol. 54, Nr. 29). Siehe auch Anm. 3 unseres Beitrages. Ebd., fol. 54, Nr. 20 bzw. fol. 55, Nr. 30. Ebd., fol. 60, Nr. 125. Ebd., fol. 61, Nr. 137.

Zum philosophischen und ästhetisch-theoretischen Kontext

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m. Nun, es wäre zweifellos der Einwand berechtigt, daß nicht alles, was da in einer »Privatbibliothek« gestanden hat, auch gelesen worden, sei. Allerdings: im Falle des Uzschen Kataloges läge es gewiß nahe, alle gedruckten und ungedruckten Briefwechsel des Autors - und von ihnen gibt es einige und überaus reichhaltige - auf Lektürespuren hin zu untersuchen und mit den rund 5000 Einträgen zu vergleichen. Dazu nur ein Beispiel. Uz äußert am 17. Juni 1771 gegenüber Gleim sein literarisches Einvernehmen mit Wieland: Endlich habe ich den neüen Amadis gelesen mit dem Vergnügen, mit welchem ich alle Sachen von Wieland verschlinge. Er ist voll Geist und launigter Satire. [...] Ich gehöre unter seine Verehrer und gar nicht unter seine Feinde. Der alte Zwist ist längst vergeßen [.·.]."

Worüber hier miteinander kommuniziert wird, ist zugleich im Katalog angezeigt: in der dritten Unterabteilung der sechsten Katalog-Sparte - »Dichter. Deutsche« - enthält die Titelgruppe 91-99 in Octavo mit Werken Wielands auch das »comische Gedicht in 18 Gesängen« Der neue Amadis aus dem Erscheinungsjahr 1771,84 Gleim repliziert am 25. April 1772: Und dann, mein Bester, lesen sie, so bald sie können, meines Wielands, goldenen Spiegel, von welchem die zween ersten Theile schon zu lesen sind. Meinen Wieland, darf ich ihn nennen, denn er liebt meinen Uz, und wenn er von unsern Dichtem diejenigen großen Männer nennen will, die der simplen schönen Natur getreu geblieben sind, dann, mein bester Freund, nennt er Hagedorn und Uz. Erst in seinem letzten Briefe, rief er; im Zorn über einige neuere Dichter, die von jener simpeln Natur sich entfernen, rief er aus: O Hagedom! o Uz! Wo seyd ihr?"

Daß Uz der Lektüreempfehlung nicht sofort folgen konnte, geht aus seinem Antwortbrief hervor; sehr wohl weist dann aber die Katalog-Abteilung »Romane - Satyren« die vierteilige Erstausgabe jenes Elemente der Utopie- und Fürstenspiegel-Tradition verbindenden Romans Der goldne Spiegel von 1772 als ehemaligen Besitz Uz' aus:'6 Da ich Herrn Wieland unendlich hochschätze, so muß es für mich sehr wichtig seyn, daß er eine so gute Meinung von mir hat, als Sie mir schmeichlen. Seinen goldenen Spiegel

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Briefwechsel, wie Anm. 5, Brief Nr. 143, S. 399. Uzischer Katalog, fol. 97, Nr. 98. Briefwechsel, Brief Nr. 144, S. 399. Vgl. dazu in den Anm. S. 516f. den Auszug aus Wielands Brief an Gleim vom 18.4.1772. Uzischer Katalog, fol. 121, Nr. 203-204.

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erwarten wir in Anspach mit Ungeduld von der Meße [in Leipzig] [...]. Er bleibt in seiner Schreibart der schönen Natur getreü, und kann freylich das bey unsem Dichtern einreißende unnatürliche Wesen nicht änderst, als mit Unwillen, bemerken. Ich kann nicht glauben, daß er den Misbrauch des Barden-Geschmacks, der unserer Poesie drohet, bilIlige. 87

In solchen Äußerungen wird nun auch der innere Zusammenhang Uzscher Lektüren theoretischer so gut wie primärliterarischer Texte sichtbar. Im Horizont eines literarischen Prozesses, der sich auf die dann im Juni 1783 so apostrophierte »anarchische Periode« zubewegt,'8 nimmt Uz Zuflucht zur Kunst etwa eines Horaz, den er mit seinen Freunden verstärkt zu übersetzen und ab 1773 in deutscher Prosa zu publizieren beginnt, und eben eines auch an Horazischer Kunst sich orientierenden Wieland - oder anders, mit den Worten Uz' selber gesagt: er nimmt Zuflucht zu einer Kunst, die im Gegensatz zu einer ihm als immer hybrider erscheinenden Kunst und Literatur noch »eine Spur von der Alten edlen Einfalt« zeigt, »mit welcher der gute Geschmack in Griechenland, Rom und Frankreich stets vergesellschaftet gewe89 sen«.

IV. Ein Buch verdient wohl noch eine etwas eingehendere Betrachtung - und zwar ist dies Alexander Gottlieb Baumgartens 1735 in Halle erschienene Abhandlung Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Auf der uns erhalten gebliebenen Bücherliste wird dieses Werk zwar nicht genannt; daß es gleichwohl einst in Uz' Besitz war, kann man aus der Schlußpassage seines ersten Briefes an Johann Wilhelm Ludwig Gleim (datiert vom 31. September 1741) erfahren: »Ehe ich schließe« - so heißt es darinmuß ich Sie bitten, die Gütigkeit zu haben, und mir zu meiner Baumgartischen Dissertation und den Rudnickischen Briefen, die ich Ihnen ehemals geliehen, zu verhelfen. Wie ich sie bei Kleinewegen abholen lassen wollte, ließ er mir sagen, er hätte von Herrn Gleim von solchen Sachen nichts bekommen.90

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Briefwechsel, Brief Nr. 145 (Uz an Gleim am 23.5.1772), S. 400. Ebd., Brief Nr. 160 (Uz an Gleim am 18.6.1783), S. 423. Ebd., Brief Nr. 58 (Uz an Gleim am 26.6.1751), S. 224: beispielsweise gegen die Adepten Youngs und die Nachahmungen seiner »Nachtgedanken« gerichtet. Ebd., Brief Nr. 2 (Uz an Gleim am 31.9.1741), S. 5.

Zum philosophischen und cisthetisch-theoretischen Kontext

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Gleim, der Halle im vorausgehenden Monat überstürzt verlassen hatte, reagiert auf diesen Brief mit der verwunderten Frage, ob er ihm die Disputation nicht am Abend vor seiner Abreise zugestellt hätte" - eine Frage, die Uz sogleich befürchten läßt, daß er sich mit dem Verlust der Untersuchung Baumgartens und der Briefe des gemeinsamen früh verstorbenen Freundes wohl endgültig abfinden müsse. Und so beklagt er in seinem Antwortbrief zwar diesen möglichen Verlust der liebgewordenen Gegenstände, versichert Gleim aber zugleich, daß er deswegen seine Freundschaft zu ihm keineswegs aufkündigen werde.' 2 Eingeleitet wird mit diesen Briefen eine über ein halbes Jahrhundert währende Korrespondenz, die nicht zuletzt dadurch literarhistorisches Interesse verdient, daß sie einen wichtigen Abschnitt in der Geschichte der deutschen Dichtung kommentierend begleitet. Doch auch auf das verschollen geglaubte Buch kommt Gleim in einer Nachschrift zu einem Brief vom 1. Mai 1745 erstmals wieder zurück: Ich habe unter den von Halle erhaltenen Sachen die Baumgart.[ensche] Disp.[utation] de nonnullis ad poema pertin. [entibus] mit s. [eligen?] Rudnicks Anmerckungen, wie auch einige von den Briefen, so sie mit ihm gewechselt, wiedergefunden. Soll ich sie überschicken?93

Uz geht erst ein Jahr später und nach einer weiteren Erinnerung Gleims auf die Anfrage ein, indem er vorschlägt, die Disputation zu deponieren und zu warten, bis sich eine bessere Gelegenheit zum Zurücksenden ergäbe oder bis er sie selber hole.94 Freilich hat weder Gleim das Buch später zur Post gebracht, noch hat Uz - ohnehin alles andere als reiselustig - je den Freund besucht. Zum Glück - möchte man heute sagen: denn im Gegensatz zu den Büchern, über deren Verbleib nach dem Verkauf an ein Erlanger Antiquariat uns nichts mehr bekannt ist, fuhrt der Weg zu ihm direkt in das Literaturmuseum des Gleimhauses zu Halberstadt! Wie beschwerlich der Weg dorthin vor noch nicht gar zu langer Zeit gleichwohl war und welche Schritte wir im einzelnen unternehmen mußten, um von den ersten vagen Vermutungen bis zu ihrer endgültigen Bestätigung zu gelangen, haben wir schon in einer anderen Arbeit95 dargelegt und wollen wir hier nicht wiederholen. Auf ein Problem möchten wir jedoch kurz eingehen: es stellte sich nämlich im Verlauf der Recherchen heraus, daß es im Gleimhaus auch noch ein zweites Exemplar der Habilitationsschrift Baum-

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Ebd., Brief Nr. 3 (Gleim an Uz am 20.10.1741), S. 8. Ebd., Brief Nr. 6 (Uz an Gleim am 19.5.1742), S. 19. Ebd., Brief Nr. 18 (Gleim an Uzam 1.5.1745), S.75f. Ebd., Brief Nr. 28 (Uz an Gleim am 10.9.1746), S. 126. Vgl. Verweyen, Witting, Zur Rezeption, wie Anm. 44, S. 101-120.

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gartens gibt, wobei beide Bücher umfangreiche Glossierungen enthalten. Welches also hatte Uz einstmals besessen? Nun, Handschriftenvergleiche mit Briefen Gleims und Uz' lassen eindeutig erkennen, daß es sich bei dem unter der Signatur »919b« erfaßten Buch um das Uz abhanden gekommene Eigentum handelt, und daß ein erheblicher Teil der Notate aus seiner Feder stammt. Freilich weist das Exemplar noch weitere, in einer anderen Schrift ausgeführte Annotationen auf. Dies können eigentlich nur die Anmerkungen von Rudnicks Hand sein, auf die Gleim in der von uns zitierten Briefstelle explizit hinweist." Demgegenüber muß das zweite Exemplar - auch das zeigen die Handschriftenvergleiche - Gleim selbst besessen haben. Mehr noch: eine Reihe sicherer Indizien erlaubt sogar die Annahme, daß Gleim die Annotationen Rudnicks und - im geringeren Ausmaß - auch die von Uz in der Form einer Abschrift für sich übernommen hat. Dafür sprechen jedenfalls nicht allein der flüssigere, einheitlichere Schriftduktus, sondern auch die gegenüber dem ersten Exemplar nur geringfügigen Veränderungen, bei denen es sich zudem ausschließlich um Übersetzungen und Paraphrasen einzelner Thesen Baumgartens handelt. Doch wie ist Uz überhaupt in den Besitz des Werkes gekommen? Eine Möglichkeit bestünde darin, daß Rudnick, stets von Schulden geplagt, es ihm verkauft hätte, um seine finanzielle Not ein wenig zu lindern - aber das bleibt natürlich eine Vermutung! Weniger spekulativ dürfte die Antwort auf die Frage ausfallen, zu welcher Zeit und aus welchem Anlaß die Glossierungen entstanden sind. Aufgrund eines umfänglicheren Zitats aus Bodmers Schrift Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemähide Der Dichter7 kann gefolgert werden, daß zumindest Uz' Eintragungen nicht vor Anfang 1741, dem Erscheinungsdatum der Schrift, erfolgt sein können. Aber auch nicht nach dem August desselben Jahres, da in diesem Monat Gleim Halle »beschleunigt« verließ. Demgegenüber besteht für die Annotationen von Rudnicks Hand die - für uns allerdings wenig wahrscheinliche - Möglichkeit, daß sie in den vorhergehenden Semestern vorgenommen wurden. Berücksichtigt man weiterhin, daß eine längere Eintragung von Rudnick deutliche Merkmale einer zitierten dozierenden und kommentierenden Rede aufweisen, die sich zwar eng am Bezugstext orientiert, aber zur Verdeutlichung schon Argumente von anderen Stellen der Schrift aufgreift, so spricht vieles dafür, daß die Anmerkungen in Uz' Exemplar auf ein Kolleg über die Meditationes zurückgehen. Schließlich läßt u.a. die an dieser Stelle auftauchende, auf den Autor der

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Ebd., S. 106f. Ebd., S. 108f.

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Schrift bezogene Eintragung: »der Herr Verfaßer fángt seine kleine Abhandlung mit der Erklärung der Worte an«, zumindest vermuten, daß nicht Baumgarten selber das Kolleg hielt, wohl aber Georg Friedrich Meier der Veranstalter gewesen sein könnte. Denn daß die Hallenser Studienfreunde Meier gehört haben, der sich 1739 habilitiert hatte und ab 1740 der Nachfolger seines Lehrers Baumgarten war, geht beispielsweise aus einem Brief von Uz an Gleim hervor, in dessen Postskript es u.a. heißt: Ich habe einige Schriften HE. Mayers wider Gottscheden gelesen. Was für ein muthiger Kunstrichter ist aus ihm geworden! Sie werden sich noch wohl der Zeit erinnern, da wir ihn, in Halle, nicht so muthig, sondern auf dem Catheder zitternd und bebend gekannt haben.

Wir haben die besondere Geschichte dieses Buches aus Uz' Besitz ganz bewußt etwas ausfuhrlicher nachgezeichnet. Denn es bietet durch die darin enthaltenen Annotationen eine sichere empirische Basis für die Annahme, daß die Anakreontiker in Halle sich mit den gerade entstandenen ästhetischen Schriften Baumgartens auch inhaltlich intensiv auseinandergesetzt haben die Beziehungen zwischen Philosophie und Literatur hier also noch enger waren, als man aufgrund verschiedener Briefstellen bislang annehmen konnte. Zumindest auf den ersten Blick kann eine derartige Verbindung keineswegs als selbstverständlich angesehen werden, mehr noch: sie müßte sogar überraschen. Denn Baumgartens Schrift ist natürlich keineswegs nur eine Theorie der Dichtung und schon gar nicht eine Poetik der Anakreontik! Baumgarten entwickelt sein Konzept einer neuen Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis vielmehr im Kontext und mit dem Instrumentarium der Schulphilosophie Leibniz-Wolffscher Provenienz - womit allein schon ein recht deutlicher Gegensatz zu jener Theorieferne markiert sein sollte, die man den Anakreontikern zuweilen nachgesagt hat. Berücksichtigt man ferner den spröden, lakonischen Stil, wie er nicht nur für die Meditationes charakteristisch ist, scheint die Baumgartensche Ästhetik als Bestätigung oder gar Wegweiser für einen von der Poesie erfüllten Jüngling wenig tauglich zu sein. Und doch muß seine Philosophie eine derartige Wirkung gehabt haben! In einem Brief an Gleim vom 1. Juni 1744 äußert sich Uz zu dem Gedanken, Rudnick ein literarisches Denkmal zu errichten. Und er empfiehlt dabei Rudnicks Arbeit Der heutige Gegenstand meiner Einbildungskraft, die einen bemerkenswerten Plot enthalte: Man sehe einen »Anfänger in der Poesie«, der zunächst »von einem Fehler [...] in einen andern verfällt; allerhand Lehrer

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Briefwechsel, wie Anm. 5, Brief Nr. 40 (Uz an Gleim am 30.7.1747), S. 181f.

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bekömmt, die ihm aber wenig nutzen, biß endlich die Philosophie ihm die Augen öfiiet, und ihn zu einem guten Poeten macht«." Kein Zweifel: hier geht es nicht nur um einen entscheidenden Abschnitt in der Biographie des toten Freundes; vielmehr werden damit zugleich auch eigene Erfahrungen thematisiert. Sucht man nach den Gründen für diesen Einfluß der Baumgartenschen Philosophie - und nur sie kann hier gemeint sein -, so gelangt man unweigerlich zu jener Aufwertung der Sinnlichkeit, die das innovative Kernstück seiner systematischen Ästhetik bildet. Die Betonung darf hier durchaus auf dem Wort >systematisch< liegen: die neue Wissenschaft soll kein dunkles Reden über einen dunklen Gegenstand sein, sondern Wissenschaft, Analyse mit Begriffsdistinktionen und Begründungsverpflichtungen. »So entfaltet sich« wie Ernst Cassirer schreibt - »die Ästhetik aus der Logik; aber eben diese Entfaltung deckt zugleich die immanente Schranke der traditionellen Schullogik auf«.100 Diese bestand u.a. darin, daß man zwar zugestand, daß die sinnlich gegebenen Merkmale eines Gegenstandes wichtige Funktionen in der Lebenswelt erfüllen, indem sie das Unterscheiden und Wiedererkennen ermöglichen. Wissenschaftliche Erkenntnis war damit aber noch nicht gewonnen. Sie sollte erst dann vorliegen, wenn es gelang, die Mannigfaltigkeit des Gegebenen gemäß dem Satz vom Grunde zu zerlegen bis hin zu seinen einfachsten Elementen. »Der Weg der deutlichen Erkenntnisadäquaten< Begreifens nicht erreicht.10'

Damit aber gehen Mannigfaltigkeit, Komplexität und Merkmalsreichtum eines Gegenstandes verloren. Mehr noch: sie werden degradiert, solange das, was in den Sinnen gegeben ist, lediglich als Voraussetzung, aber nicht als Inhalt von Erkenntnis verstanden wird. Demgegenüber betont Baumgarten die Legitimität unterschiedlicher Erkenntnisinteressen: So, wie es für die wissenschaftliche Erkenntnis ein legitimes Ziel ist, den Gegenstand nach

" Ebd., Brief Nr. 16 (Uz an Gleim am 1.6.1744), S.67. Cassirer, wie Anm. 11, S. 454. - Zur Bedeutung der Ästhetik Baumgartens über den systematischen Rahmen hinaus vgl. jetzt auch die rezeptionsgeschichtliche Studie von Hans Reiss: Die Einbürgerung der Ästhetik in der deutschen Sprache des achtzehnten Jahrhunderts oder Baumgarten und seine Wirkung. In: Jb. d. deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 109-138. "" Cassirer, wie Anm. 11, S. 459f.

Zum philosophischen und ästhetisch-theoretischen Kontext

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mathematisch-physikalischen Begriffen zu analysieren, so ist es ein ebenso legitimes Ziel, ihn in seiner vollen Phänomenalität zur Anschauung zu bringen. Neben die Verstandeserkenntnis tritt die »cognitio sensitiva«, also - wie man unbedenklich im Sinne Baumgartens sagen kann - die sinnliche Erkenntnis. Sie folgt nicht der Abstraktion wie die Verstandeserkenntnis und operiert nicht mit Begriffsdistinktionen; ihre Vorstellungen sind zwar klar, insofern sie Unterscheidbarkeit und Wiedererkennbarkeit erlauben, sie sind aber »confus« in dem (und nur in dem) Sinne, daß sie sich einer zergliedernden Begriffsanalyse entziehen. Positiv bewirkt der Verzicht auf die Abstraktion, daß - wie wir eben schon angedeutet haben - in der sinnlichen Erkenntnis der Gegenstand in seiner ganzen Fülle prägnant vorgestellt wird. Im Rahmen der »gnoseologia inferior« bekommt die Ästhetik als Wissenschaft eine Funktion zugewiesen, wie sie die Logik für die Verstandeserkenntnis schon immer innehatte: Soll letztere zum richtigen Denken führen, so ist es Aufgabe der Ästhetik, das schöne Erkennen zu befördern. Insofern ist Baumgartens Konzept nicht einfach im Sinne einer Formalästhetik zu verstehen, bei der es nur auf Komplexität und Strukturen ankäme. Ursula Franke hat zu recht auf den »metaphysischen Grund« hingewiesen, den man bei seiner Ästhetik stets mitbedenken muß: Die »sinnfällige Übereinstimmung aller Komponenten«, die Baumgarten »für eine ästhetische Repräsentation von Schönem verlangt«, hat ihren Grund in der (mit Leibniz) vorausgesetzten »Vollkommenheit einer Welt«.102 Allein hierdurch kann die ästhetische Repräsentation den Rang einer Erkenntnis gewinnen;103 und dementsprechend wird schon in den Meditationes das Gedicht nicht einfach als »sinnliche Rede«, sondern als »vollkommene sensitive Rede« (»oratio sensitiva perfecta«) definiert.104 Die metaphysischen Voraussetzungen der Baumgartenschen Ästhetik könnten nun allerdings auch den Geltungsbereich der schon von Cassirer beobachteten »Emanzipation der Sinnlichkeit«105 einschränken und eine Verbindung zu den »Tändeleien« der Anakreontiker erheblich erschweren. Denkbar wäre ja immerhin, daß jenes Konzept als Antwort auf eine erkenntnistheoretische Problematik strikt im System der Philosophie zu situieren ist und nicht unmittelbar auf eine umfassende Lebenspraxis übertragen werden darf, die -

102 103 104

Franke: Kunst als Erkenntnis, wie Anm. 62, S. 79. Ebd., S. 89. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Übers, u. mit e. Einl. hg. von Heinz Paetzold, lat.-deutsch. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek, Bd. 352), S. 10/11: § 9. Cassirer, wie Anm. 11, S. 475.

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wie E. Cassirer schreibt - »das Recht der Sinne und der sinnlichen Leidenschaft«106 umfaßt. Gegen diese Annahme spricht nun aber eine ganze Reihe von Gründen!107 1745 veröffentlicht Gleim in seinem Bändchen Versuch in Scherzhaften Liedern. Zweeter Theil auch ein Lobgedicht auf Alexander Gottlieb Baumgarten, das - würde eine solche Beschränkung auf den erkenntnistheoretischen Aspekt zutreffen - nur als unangemessene Despektierlichkeit, wenn nicht gar als Travestie verstanden werden müßte. Völlig ungeniert wird hier nämlich der Zwang zur Tugendliebe mit dem Zwang zu einer sehr irdisch verstandenen Liebe kontaminiert.'011 Gewiß, betrachtet man das Gedicht außerhalb seines spezifischen Kontextes, könnte man hier noch immer von einer durch die Gattung des scherzhaften Liedes gleichsam erzwungenen Wendung oder von einem gewollten Mißverständnis des einer jüngeren Generation angehörenden Poeten ausgehen. Schon allein einige Teile des aufgefundenen Kommentars zu den Meditationes lassen solche Deutungen aber als höchst fragwürdig erscheinen und stützen nachhaltig die Vermutung, daß auch für Baumgarten selber die Emanzipation der Sinnlichkeit tatsächlich mehr war als nur ein erkenntnistheoretisches Problem.109 Der starke Einfluß der Philosophie Baumgartens auf die Poeten um Uz und Gleim mag nun allerdings auch einige Kritiker in ihrem Vorwurf bestär-

' M Ebd., S. 475. Für eine ausführlichere Erörterung sei hier auf die folgenden Untersuchungen von Th. Verweyen verwiesen: Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? Zur ästhetik-theoretischen Grundlegung und funktionsgeschichtlichen Rechtfertigung der deutschen Anakreontik. In: GRM N.F. 25 (1975), S. 276-306 sowie: >Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der AnakreontikGeselligkeitAnakreontikPhantasie/Einbildungskraft< sind Gesichtspunkte angedeutet, die geradezu als epochenspezifisch zu bezeichnen sind. Denn so erfrischend Gleims Luftschiff-Einfall ist, aufs Ganze ist sein - wie auch seines Ansbacher Freundes - lyrisches und epistolarisches Werk Teil eines soziokulturellen Phänomens, das seit den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Deutschland immer wirkungsmächtiger wird, und dessen aufregende ästhetische und politische Dimensionen erst die Forschung der letzten Jahre gesehen hat. Ich meine damit die Aufwertung der Geselligkeit als kulturprägenden und identitätsstiftenden Faktor, der auch im Bereich der Literatur gravierende Veränderungen mitveranlaßte. Um die Intensität des Wandels erfassen zu können, ist es zunächst notwendig, die Situation vor dem zäsuralen Einschnitt 1730/40 zu skizzieren und auf diesem Hintergrund die Neuansätze, Erweiterungen und Modifikationen zu konturieren. Damit bin ich bei der Gliederung meines Vortrags. In einem ersten Arbeitsschritt ist in Abhebung von den SozialitätsVorstellungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts das neue Konzept der aufgeklärten Geselligkeit zu beschreiben. Diese vor allem von der Naturrechtslehre entwickelten Konzepte schlagen voll durch im Bereich der Poesie; die Normen und Ideale des geselligen Lebens werden diskutiert und propagiert in den Moralischen Wochenschriften. Es ist dabei auffallend, daß von der Figur des Anakreon fur die Generation der um 1720 geborenen Autoren eine unglaubliche Faszination ausgeht. Den Gründen und Folgen dieser Anakreon-Euphorie widmet sich der zweite Teil. Der dritte Abschnitt fragt nach den Auswirkungen der als konstitutiv erkannten Relation zwischen Geselligkeit und Anakreontik. Konkret: Was bedeutet die Forderung, daß die Schriftsteller mit ihren Lesern »eine Art von Geselligkeit« zu errichten hätten, und in welcher Weise verwirklichen anakreontische Autoren das Ideal des »geselligen Schreibens«?6 5

Gleim, Sämmtl. Werke, Bd. I, S. 308. Zum Ideal des »geselligen Schreibens« vgl. Der Gesellige. Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Neu hg.

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Im vierten Abschnitt geht es um den zentralen Aspekt der Verschränkung von Literatur und Leben. Man hat in der Forschung zu Recht gesehen, daß der Liebestaumel und die Kußdelirien nicht naiv auf autobiographische Erlebnisse bezogen werden dürfen.7 Im Zeichen des Anakreon werden Wunschvorstellungen durchgespielt, Lebensglück scheint nur in poetischen Bildern denkbar zu sein. Daß hiermit der Kern der poetischen Existenz dieser Autoren berührt wird, soll am Beispiel der imaginierten Geselligkeit nachgewiesen werden, die Uz und Gleim in ihrem Briefwechsel inszenieren.

I. Das Phänomen der Geselligkeit hat in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse der Forschung fast aller Disziplinen gefunden.8 In der Geschichtswissenschaft haben vor allem Richard van Dülmen und Paul Münch mit quellenmäßig imponierend abgesicherten Untersuchungen gezeigt, in welchem Maße die frühneuzeitliche Lebenswelt geprägt war von der Geselligkeit, lat. socialitas, frz. sociabilité.' Ein Wort zur Terminologie: Während die lateinische Vokabel cum grano salis mit dem deutschen Begriff wiedergegeben werden kann, besteht keine Deckungsgleichheit zwischen >sociabilité< und >GeselligkeitMiteinanderauskommens< verkündet. Mit den Substantiven >Liebe< und >Wein< werden die dominierenden Themen dieser Dichtart angesprochen, die gleichzeitig für eine bestimmte Lebensart steht.34 Diese Lebensart zeichnet sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Fähigkeit zum entspannten, ausgelassenen Scherz aus; denn um diese Komponente haben die zeitgenössischen Autoren das antike Muster erweitert. Mit dem Wort >Scherz< wird ein Kardinalbegriff in die Debatte geworfen.35 In adjektivischer Form erscheint die Vokabel wohlkalkuliert im Titel von Gleims programmatischer Lyriksammlung, und Georg Friedrich Meier hat dem Phänomen 1744 eine eigene Abhandlung gewidmet. Meier bestimmt hier ganz in der Nachfolge von Baumgartens Gedichtdefinition den Scherz als »eine sinnliche Vorstellung und Rede«, und weist ihm ausdrücklich das

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Der Gesellige, Bd. I, Theil 2, S. 519. Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Versuch in Scherzhaften Liedern und Lieder. Nach den Erstausgaben von 1744/45 und 1749 mit den Körteschen Fassungen im Anhang kritisch hg. von Alfred Anger. Tübingen 1964 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N.F., Bd. 13), S. 5. Zu diesem Gedicht vgl. Klaus Bohnen: Der »Blumengarten« als »Quell von unserm Wissen«. Johann Wilhelm Ludwig Gleims Gedicht »Anakreon«. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 2: Aufklärung und Sturm und Drang, hg. von Karl Richter. Stuttgart 1983 (ReclamsUB 7891), S. 113-123. Vgl. Mauser, Anakreon als Therapie, wie Anm. 23, S. 112. Wolfram Mauser: Georg Friedrich Meiers Apologie des geselligen Lachens. In: Verweyen, Dichtungstheorien, wie Anm. 28, S. 120-132.

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»Feld der Aesthetik« zu.36 Wolfram Mauser hat kürzlich anschaulich demonstriert, daß Meier den Scherz über bisherige Konsenspositionen seiner purgierend-didaktischen Wirkung hinausgehend als ästhetische Kategorie auffaßt, die kraft ihrer sinnlichen Energie der Poesie selbst den lange verschlossenen Bereich des Dunklen eröffnet.37 Neben dem ästhetischen Aspekt wird durch die Verknüpfung von Sinnlichkeit und Scherz noch die weitere Dimension der Lebenseinrichtung angesprochen. Denn so harmlos für den heutigen Leser auf den ersten Blick das naive Singen vom Rausch und erotischen Tändeln auch scheinen mag, für bestimmte Zeitgenossen Meiers und Langes war es eine Provokation. Aus diesem Grund liefert Lange, bevor er die Charakteristika des lyrischen Genres vorstellt, eine ausführliche Apologie der anakreontischen Dichtung. Mit den »finstere[n] Köpfe[n]«, die scherzhafte Trink- und Liebeslieder als sündhaft und unchristlich diffamieren, spielt der Verfasser auf die Herrnhuter 38

an. Der Theologe, der an deren Stelle ausdrücklich betont: »Die Offenbarung stehet mit der aufgeklärten Vernunft nicht im Streit«,39 operiert in seiner Verteidigung geschickt mit theologischen und naturrechtlichen Argumenten. Unmißverständlich stellt Lange klar, daß für die Herausgeber der Wochenschrift nur die Freude statthaft ist, »als die mit Verstand und Tugend wohl bestehen ι 40 kan«. Mit einem raffinierten Einfall nimmt er den allzu bigotten Kritikern den Wind aus den Segeln. Gott selbst hat doch dem Menschen die Liebe geschenkt, die Gabe, die - wie Meier an anderer Stelle so treffend skizziert den Menschen trennt vom Barbaren und ihn erst gesellig macht.41 Wie die Liebe ist auch das zweite Skandalon, der Wein, Teil der Schöpfung. Gott hätte die Reben nicht wachsen lassen, wenn er dem Menschen nicht den kontrollierten Genuß des Naturproduktes gestattet hätte. Die Betonung liegt dabei auf der Einhaltung des rechten Maßes. Anakreon wird zum Weisen stilisiert, der dem Epitheton, mit dem ihn Piaton auszeichnet,42 alle Ehre macht.

36

Georg Friedrich Meier: Gedancken von Schertzen (1744). Mit Einleitung, Zeittafel u. Bibliographie hg. von Klaus Bohnen. Kopenhagen 1977 (Text und Kontext, Sonderreihe, Bd. 3), S. 10.

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38 39 40 41

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Mauser, Georg Friedrich Meiers Apologie, wie Anm. 35, S. 123. Der Gesellige, Bd. I, Theil 2, S. 519. Der Gesellige, Bd. I, Theil 1, S. 251. Der Gesellige, Bd. I, Theil 2, S. 520. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften, I. Teil, Halle 1748, §. 22. Hinweis bei Verweyen, Emanzipation der Sinnlichkeit?, wie Anm. 18, S. 295. Piaton, Phaidros 235c; Plato: Opera. Ed. Ioannes Burnet. Repr. Oxford 1979, Tom. II, S. 234.

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Das Leitbild des Geselligen verliert sich nicht in viehischer Trunksucht oder libidinöser Ausschweifung, es bewegt sich sicher im Bereich der erlaubten Mitteldinge. Die anakreontische Dichtung ist nur - und hier folge ich Theodor Verweyen - bezogen auf den Normhorizont der pietistischen Verdikte über die Adiaphora zu verstehen und angemessen zu würdigen.43 Nach dieser ausführlichen Verteidigung anakreontischer Themata liefert Lange eine konzise Beschreibung der Gattung, die neben Bekanntem - Situierung in der mittleren Stillage, größere inhaltliche Freiheit für moderne Dichter - einen neuen Aspekt akzentuiert, welcher der gewachsenen Bedeutung der Frau in der bürgerlich-aufgeklärten Gesellschaft Rechnung trägt. Denn die relativ einfache reimlose Bauform und ungekünstelte Sprache der anakreontischen Gedichte erleichtere den »Frauenzimmern« den Zugang zur Dichtung, ja sie könnten sich sogar in der Nachfolge des ionischen Sängers als Poetinnen versuchen: Dichten wird als ein geselliger Zeitvertreib gesehen, an dem auch die weiblichen Mitglieder der Zirkel teilnehmen dürfen. Das Idealbild der geselligen Frau, das Männer für diese entwerfen, ist dabei nicht die Gelehrte, sondern das durch sein graziöses Auftreten gewinnende »Frauenzimmer«, das auf Grund einer sorgfältigen Erziehung auch im bürgerlichen Milieu in der Lage ist, sich klug über Literatur zu unterhalten, und selbst an poetischen Spielen partizipieren kann. Anakreon, der von Kritias als Betörer der Frauen - als γυναικών ήπερόπευμα - gefeierte Sänger,44 als Helfer auf dem Weg zur weiblichen Emanzipation, dies ist eine zeitgebundene Rezeptionsvariante, die ohne Vorbild in der Antike ist. Zur Rezeption des Dichters und seiner Werke ist auch hier zu sagen, daß diese selektiv verfahrt und unbewußt/bewußt gesteuert wird von den Intentionen der Anakreon-Verehrer. Bedenkliche Charaktereigenschaften oder gar Seiten der Sexualität, die dem eigenen Sittenkodex widersprechen, werden schlicht ausgeblendet. So wird das Motiv des ερως- παιδικός~ übergangen, und auch Senecas ironische Frage, ob Anakreon mehr der Sinnenlust oder der Trunksucht ergeben gewesen sei - »libidinosior Anacreon an ebriosior vixerit«45 - paßt ebensowenig wie Ciceros Reduktion seiner Werke allein auf das Thema Liebe - mam Anacreontis quidem tota poesis est amatoria«6 - in das präferierte Bild des Weisen. Hier hält man sich im 18. Jahrhundert lieber

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Verweyen, Emanzipation der Sinnlichkeit?, wie Anm. 18, S. 301. Das Gedicht des Kritias ist abgedruckt in: Anthologia Lyrica Graeca. Ed. Ernestus Diehl. Vol. I, Leipzig 1925, S. 84-85, S. 85. Seneca, Ep. 88, 37; L. Annaeus Seneca: Ad Lucilium Epistulae Morales. An Lucilius Briefe über Ethik 70-124 (125). Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1984 (Philosophische Schriften 4), S. 320. Cicero, Tuse. IV, 71; Marcus Tullius Cicero: Tusculanae Disputationes. Gespräche in Tusculum. Lateinisch-deutsch mit ausfuhrlichen Anmerkungen neu hg. von Olof Gigon. 2. verb. Aufl., München 1970, S. 304.

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an die wohlwollende Zeichnung, die Platon und Aulus Gellius47 geboten haben. Zur historischen Gestalt des Anakreon4' - soweit sie über die fragmentarische Überlieferung überhaupt rekonstruiert werden kann - gehört als Lebenskonstante die gesuchte und gefundene Nähe der Mächtigen. Nach der Vertreibung aus Ionien wird Anakreon zum Vertrauten des Polykrates in Samos.45 Nach der Ermordung des Tyrannen läßt ihn der Sohn des Peisistratos, Hipparchos, mit einem Fünfzigruderer im Triumph nach Athen führen, hier findet er die Freundschaft des Alleinherrschers und verkehrt mit reichen athenischen Bürgern wie Kritias. Im Grunde wechselt er nur von einem antiken kulturellen Zentrum zum anderen. Sowohl in Samos als auch in Athen ist seine Lyrik fest eingebunden in die dort herrschende Symposionskultur. Nach der Ermordung des Hipparchos existieren kaum zuverlässige Quellen über das weitere Leben des Anakreon, nach einer Überlieferung soll er erneut den Schutz eines Hofes, diesmal des thessalischen gefunden haben. Es ist, wenn ich es richtig sehe, bisher von der Forschung noch nicht angemessen gewürdigt worden, daß gerade die Hofhähe und der Genuß des Mäzenatentums großer Herren von den modernen anakreontischen Dichtern als besonders attraktiv und nachahmenswert betrachtet wurde: Denn in der Vorrede zum zweiten Teil des Versuchs in Scherzhaften Liedern findet sich ein enthusiastisches Lob des Hofdichters Anakreon. Gleim behält die Fiktion des Gesprächs seiner Geliebten mit dem Leser bei50 und läßt seine Doris eine Lebensgeschichte des Anakreon geben, die die Fakten weitgehend nach der Biographie referiert, die Madame Dacier ihrer fur die Wirkungsgeschichte so einflußreichen Anakreon-Ausgabe vorangestellt hat.51 47

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Aulus Gellius, Noctes Atticae 19, 9, 5; Aulus Gellius: Noctes Atticae. Recensuit Carolus Hosius. Ed. Stereotypa ed. prions (1903). Stuttgart 1982, Vol. II, S. 272. Die Deutung der Anakreon-Statue (römische Marmorkopie eines griechischen Originals, Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptothek) ist umstritten. Vgl. Paul Zanker: Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst. München 1995, S. 29ff (Anakreon als Vorbild gezügelter Festfreude). Dagegen Nikolaus Himmelmann: Vom süßen Leben unter den letzten Tyrannen. Gezügelte Festfreude oder zügellose Trunkenheit? Zu einer neuen Deutung der Statue des Anakreon. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 25.9.1996, Geisteswissenschaften. Vgl. die einschlägigen Artikel in der RE I, Sp. 2035-2050 (Crusius); Kleiner Pauly I, Sp. 328-330 (Karl Preisendanz); Lexikon der Alten Welt, Sp. 149f. (E.-M. Voigt); Kindlers Literaturlexikon I, S. 405f. (Egidius Schmalzriedt).

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Herodot III, 121; Herodot: Historien. Griechisch-deutsch, hg. von Josef Felix. München 1963,1, S. 468. Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern, wie Anm. 33, S. 61 ff. (»Mein Leser«). Les poésies d'Anacreon et de Sappho, Traduites de Grec en François, Avec des Remarques. Par Madame Dacier. Nouvelle Edition aumentée des Notes Latines [...], Amsterdam 1699 (Exemplar: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sig.: Lg 118). Zur Verbreitung dieser Ausgabe vgl. Herbert Zeman: Die deutsche anakreontische Dichtung. Stuttgart 1972, S. 89.

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Auf diese Weise erfahren deutsche Leser der Gleimschen Liedersammlung, daß Anakreon ein vom Glück Begünstigter war, da er das Wohlwollen »zweier Prinzen« - in dieser Titulatur erscheinen die beiden Tyrannen Polykrates und Hipparchos - genossen habe." Die beiden autokratischen Herrscher werden zu aufgeklärten, verantwortungsvollen Fürsten erhoben. Gleim folgt hier fast wörtlich Madame Dacier, die Hipparchos als »un des plus vertueux Prince de son siècle« bezeichnet," und verweist ferner auf das respektvolle Urteil der Geschichtsschreiber. Offensichtlich spielt er auf die Würdigung des Hipparchos im VI. Buch des Peleponnesischen Krieges durch Thukydides an, einen für seine Objektivität bekannten Autor.54 Nach dieser Aufwertung des Hipparchos zum vorbildlichen Souverän hat die Rolle des Hofpoeten, der den Ruhm des tugendhaften Herrschers in seinen Liedern verkündet, nichts moralisch Anstößiges mehr, und nun stimmt die Formel: »Das Lob des Fürsten von Athen ist das Lob des Anakreon«." Die über solch komplizierte Operation suggerierte Integrität des Fürsten wird nun gleich argumentativ zur Entlastung des Anakreon eingesetzt, bei dem einige - unstatthafter Weise - aus seinen frivolen Liedtexten auf einen lockeren Lebenswandel schließen wollen. Die Antwort auf die Frage: »Können die Lieblinge ruhmwürdiger Prinzen lasterhaft seyn«, ist eindeutig und dient zum Ausgangspunkt, Anakreon als »artigsten Hofmann« zu zeichnen,56 der nicht nur auf Grund seiner Dichtung, sondern auch wegen seiner Klugheit von den Herrschern so geschätzt wird, daß sie ihn selbst in politicis um Rat fragen und ihn auf Samos als »Minister« fungieren lassen. Das geht auf Herodot ΙΠ, 121 zurück!" Dieses hier entworfene Bild widerspricht der topischen Hofkritik, wie sie unzählige Male in den modernen anakreontischen Gedichten auftaucht, es paßt nicht zu den häufigen anakreontischen Bekenntnissen zur Freiheit und Autonomie des Individuums und steht in seltsamem Widerspruch zu den unverkennbar demokratischen Ansätzen der Geselligkeitskonzeptionen des 18. Jahrhunderts. Ohne Zweifel hat die französische Vorlage aus der Phase und dem Geist des Ancien Regime diese Sicht des höfischen Anakreon geprägt, indem aber Gleim ohne Distanzierungssignale die Einschätzungen und Wertungen der Madame Dacier seiner Doris in den Mund legt, übernimmt er wenigstens teilweise auch deren Position. 52

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Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern, wie Anm. 33, S. 69. Les poésies d'Anacreon. La vie d'Anacreon, wie Anm. 51, unpag. Thukydides, VI, 54, 5; Thukydides: Historiae. Ed. Henricus Stuart Jones. Johannes Enoch Powell, Oxford, Repr. 1979, S. 101. Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern, wie Anm. 33, S. 70. Ebd.; dem entspricht bei Madame Dacier die Bezeichnung »ce galant homme«; wie Anm. 51, unpag. Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern, wie Anm. 33, S. 70. Vgl. Anm. 49.

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Wenn wir Gedankenlosigkeit bei einem Autor dieses Formats ausschließen und berücksichtigen, welch hoher Stellenwert den Vorreden in solchen Musterlyriksammlungen zukommt, so ist nach den Gründen für diese Adaption zu fragen. Verbirgt sich dahinter eine nicht offen artikulierte Sehnsucht des bürgerlichen Autors nach gesellschaftlicher Anerkennung, hier genau nach einer mäzenatenhaften Unterstützung durch den Berliner Hof? Bis zum Antritt seiner Stelle in Halberstadt klagt Gleim immer wieder über die materielle Unsicherheit seiner Existenz," und der glühende Bewunderer Friedrichs Π. hat es als schmerzlich empfunden, wie gering der preußische König die deutsche Poesie geachtet hat. So läßt er in einem Dialog zwischen Muse und Poet 1764 den Dichter klagen: Ich gräme mich, weil Friedrich nicht 59 Die deutsche Muse liebt.

Während der Phase des Siebenjährigen Krieges hat Gleim mit seinen Preußischen Kriegsliedern in einer Weise Partei genommen, die in ihrem - sicher literarisierten - martialischen Ton so gar nicht zu der serenen Rokokodichtung im Geiste Anakreons passen will. Erneut muß ich hier eine Überlegung von Wolfram Mauser aufgreifen, der daran erinnert, daß viele Autoren mit dem Regierungsantritt Friedrichs Π. große Hoffnungen auf Veränderung und Verbesserung der eigenen Situation als deutsche Dichter setzten. Im Bannkreis eines Herrschers, dem man aufklärerische Reformen zutraute, mußte es nicht unzeitgemäß erscheinen, das eigene Feld zu bestellen. So gesehen ist die Wende zu patriotischer Kriegsdichtung, die eine Reihe von Dichtern 1756 vornahm, keineswegs überraschend.

In diesen größeren Zusammenhang ist wohl auch die Stellungnahme Gleims einzuordnen: Mit einer minimalen Veränderung gibt der Satz aus der Vorrede - »Das Lob des Fürsten von Athen ist auch das Lob des Anakreon«61 eine Wunschvision Gleims wieder: »Das Lob des Königs von Berlin ist auch das Lob des deutschen Anakreon.«

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Gleim an Uz am 6.8.1747, Briefivechsel, wie Anm. 1, Nr. 41, S. 183; Nr.51, S. 212. Gleim, Gespräche mit der deutschen Muse. In: Sämmtl. Werke, wie Anm. 4, Bd. VI, S. 219. Mauser, Anakreon als Therapie?, wie Anm. 23, S. 115. Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern, wie Anm. 33, S. 70. Vgl. Gleim am 6.8.1747 an Uz: »Unser König wäre in der That wehrt, von einem Anakreon besungen zu werden, wenn er nur ihnen 2000 R. pension gäbe, und mir halb soviel.« In: Briefwechsel, wie Anm. 1, Nr. 41, S. 183.

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m. Die Frage, welche Vorzüge eigentlich ein moderner Dichter aufzuweisen habe, daß man ihn mit dem ehrenden Titel »Anakreon unsrer Zeiten«62 schmücke, führt zu den Besonderheiten der deutschen anakreontischen Dichtung während der Rokoko-Periode. Schon Carl Leo Cholevius hat im Rahmen seiner noch heute lesenswerten Darstellung Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen 1854 gesehen, daß die Anakreon-Begeisterung der Generation um Hagedorn und Gleim viel mehr war als eine der üblichen, immer wieder sporadisch auftauchenden Imitationswellen seit der Frühen Neuzeit. Noch nie wurde einem antiken Dichter ein so exponierter Einfluß auf alle Lebensbereiche »weit über das eigentliche Kunstgebiet hinaus« eingeräumt." Unter Berufung auf Anakreon und Horaz erfolgt eine Stilisierung, die in der poetischen Phantasie Lebensmöglichkeiten erprobt, die im Alltag nur schwer oder gar nicht umzusetzen sind. Die letzte Strophe aus dem Gedicht Uzens von 1747 Der Weise auf dem Lande spricht die drei präferierten Themen· und Spielfelder an: 1. das Ideal eines gemäßigten Epikureismus, dessen Vertreter sich jedes selbstgerechten Prunkens mit »stoisch aufgeblähter]« Haltung64 enthält; 2. der Kult der Freundschaft; 3. das erotische Gedankenspiel: Mir gnüget ein zufriednes Herze Und was ich hab und haben muß, Und, kann es seyn, bei freyem Scherze, Ein kluger Freund und reiner Kuß: Dieß kleine Feld und diese Schafe, Wo, frey von Unruh und Verdruß, Ich singe, scherze, küsse, schlafe.

Fast die gleichen Muster - nur ohne die bukolische Einkleidung und angereichert mit autobiographischen Details - finden sich in Gleims verifiziertem Lebensrückblick, den er mehr als dreißig Jahre später 1783 formuliert:

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Uz an Gleim am 16.3.1747. In: Briefwechsel, Nr. 34, S. 158. Carl Leo Cholevius: Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen, I. Teil. Leipzig 1854, S. 469. Johann Peter Uz: Der wahre Muth. In: Sämtliche poetische Werke, hg. von August Sauer. Stuttgart 1890 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Nr. 33-38), S. 145-148, S. 146. Uz, Der Weise auf dem Lande. An Heim von Kleist, ebd., S. 47-52, S. 51 f.

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46 Bleib' ungeschrieben? Nein! Mein Lebenslauf hienieden? Hier ist er! kurz und gut: Ich lebte gern in Frieden, Und liebte meinen Gott und meinen Friederich, Und meinen Kleist und Uz und alle meine Freunde [...].

Auch bei Gleim verbinden sich anakreontische Leitgedanken und Motivketten mühelos mit der Szenerie der Schäferwelt. Zu erinnern ist nur an das Lamprecht und Uz gewidmete Gedicht Ich will, ich muß ein Schäfer werden, in dem die beiden Freunde als Tyrsis und Damon angesprochen werden." Das Leben der Schäfer wird, traditionellen Deutungsschemata folgend, als Periode des Goldenen Zeitalters verklärt, in dem der Mensch noch nicht von Ehrgeiz und Herrschsucht getrieben wird und in arkadischer Gleichheit Freiheit und Ungebundenheit genießt. »Schäferwelt« und »Bürgerwelt« - beide Bezeichnungen von Gleim für Gedichtüberschriften verwendet - meinen Kontrastsphären.68 Während im Reich der Hirten noch die undeformierten »naturgemäße[n] Triebe«6' den Menschen lenken, wird in der Bürgerwelt, dem Hobbesschen Gesellschaftsmodell folgend, die Furcht zum Movens für tugendhaftes Verhalten. Diese Gedanken, verknüpft mit der topischen Hofund Stadtkritik, kommen bei allen anakreontischen Dichtern vor; am prägnantesten hat Hagedorn die Sehnsucht nach dem entschwundenen Urzustand beschrieben: Im Stande der Natur, als, zu des Menschen Ruhm, Noch keine Herrschaft war, kein Rang, kein Eigenthum, Da wollte die Vernunft, und selbst die Triebe wollten, Daß wir gesellig seyn, daß wir gefallen sollten.™

In der Verbindung mit der naturrechtlichen Geselligkeitskonzeption bekommt die anakreontische Dichtung in Deutschland eine neue Qualität, die sich bis in die Schreibprozesse nachweisen läßt. Im Zeichen der Geselligkeit werden die Relationen zum Publikum sowie die Verbindungen zwischen den Schriftstellern selbst neu definiert. Der Autor sucht das vertrauliche Gespräch mit seinen Lesern. Die Verständigung

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Gleim, An meine Freunde, am 2. April 1787. In: Sämmtl. Werke, wie Anm. 4, Bd. V, S. 266. Gleim, An Lamprecht und Uz, ebd., Bd. I, S. 173. Gleim, Die Schäferwelt, 1743. Die Bürgerwelt, 1744, ebd., Bd. III, S. 5ff., S. 1 Iff. Gleim, Die Schäferwelt, ebd., Bd. III, S. 10. Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche Werke. Hamburg 1771, Teil I, S. 40. Hinweis bei Mauser, Geselligkeit, wie Anm. 27, S. 6. Vgl. Der Gesellige, Bd. I, Theil 2, S. 715: »Alle vernünftige und tugendhafte Leute sind überzeugt, daß die Geselligkeit nicht nur eine wahre Tugend sey, sondern auch als natürlicher Trieb der Menschen angesehen werden müsse«.

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läuft über eine gemeinsame Sprache. In der anakreontischen Dichtung mit ihrem ausgefallenen Vokabular und der Vorliebe fur mythologische Vergleiche, die auf einen gemeinsamen Bildungshorizont zielen, finden Autor und Leser das von den Zeitgenossen so gewünschte »Lexicon der geselligen Wörter«.71 Die Vorreden der Gedichtsammlungen sind durchzogen von Appellen zum sympathetischen Empfinden und von suggestiven Formulierungen, die den Konsens zwischen Autor und Rezipienten herstellen sollen. Der Adressat wird als Konversationspartner ernstgenommen. Getreu der Maxime aus dem 159. Stück des Geselligen »[errichtet] ein Schriftsteller mit seinen Lesern eine Art von Geselligkeit«.72 Nicht nur auf der Rezipientenseite, auch im Bereich des kreativen Schaffens gibt es tiefgreifende Veränderungen. Der Freundschaftskult zwischen den Autoren beschränkt sich nämlich nicht auf gemeinsame Unternehmungen, wie Kahnfahrten und Landpartien oder Pokulieren, begleitet von Gesang und Rezitation, er kulminiert in dem neuen Ideal des »geselligen Schreibens«. Die Art und Weise, wie Lange und Meier die Redaktion ihrer Moralischen Wochenschriften beschreiben, charakterisiert auch das gemeinsame Dichten und Übersetzen von Gleim, Uz und Götz.73 Der eine las die Arbeit des andern durch, und keine Liebe zu der eigenen Erfindung hinderte uns, unsere Entwürfe zu verbessern: jeder sähe das Blat des andern für sein eigenes an, also fand keine Tadelsucht statt; und sein eigenes Blat gieng durch die Musterung eines andern, also verblendete uns die Eigenliebe nicht.74

So ist die 1746 erschienene Oden-Übersetzung Anakreons »in reimlose Verse« das gemeinschaftliche Werk von Uz und Götz. Die Übertragung entstand während der halleschen Studienzeit in Uzens Stube, und die Zusammenarbeit war so kongenial, daß die Anteile beider Autoren kaum zu bestimmen sind.75 Noch intensiver war der Austausch zwischen Gleim und Uz, der über den Briefwechsel dokumentiert ist. Die poetische Kooperation erstreckte sich auf mehrere Gebiete. Gleim, der am literarischen Markt bereits arrivierte Autor, besorgte den Druck von Uzens Gedichten und verfaßte die Vorrede der ersten Auflage. Bis in das kleinste Detail diskutierten die beiden Schriftsteller die dichterischen Versuche des andern. Diese produktive Kritik war getragen vom Geist der »aufrichtigen Freundschaft« und frei von verletzendem

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Der Gesellige, Bd. II, Theil 3, S. 121. Der Gesellige, Bd. III, Theil 5, S. 107. Zeman, Hagedom, Gleim, Uz und Götz, wie Anm. 2, S. 141. Der Gesellige, Bd. III, Theil 6, Vorrede, unpag. Uz an Gleim am 30.7.1747. In: Briefwechsel, wie Anm. 1, Nr. 40, S. 180.

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kunstrichterlichem Ton, wenn es auch zu gelegentlichen Verstimmungen kam.76 Obwohl Uz aufs Ganze gesehen der mehr Empfangende ist, hält auch er mit seinen Bemerkungen nicht hinter dem Berg. Dies läuft meist nach dem Schema ab, daß er Gleim zunächst als unnachahmlichen deutschen Anakreon lobt, um ihm dann im nächsten Satz mundartliche Versehen oder unglückliche Formulierungen aufzuzählen.77 Das Verfahren der offenen, gegenseitigen Korrektur praktizieren beide Autoren besonders bei der Debatte um delikate erotische Stellen. So ändert Uz nach der Intervention Gleims allzu deutliche Verse über das Eheglück aus dem Gedicht Der MorgenAuch Gleims vorsichtiger Kommentar zu der Marot-Übersetzung Die Eigenschaften einer Geliebten: Die kleine Ode ist ungemein artig. Ich finde nichts daran zu verbeßem, aber wohl etwas zu erinnern. Dauerhaft sey die Brunette, Wenn im Bette Lieb und Jugend auf sie dringt, ist das Bild nicht ein bisgen zu deutlich?

fuhrt zu nachdenklichen Reaktionen bei Uz. 7 ' Unübersehbar ist das Bemühen beider Autoren - auch Gleim erkundigt sich bei Uz, ob anstößige Textstellen so stehen bleiben können80 - , die Akzeptanz der Leser nicht übermäßig zu strapazieren. Es geht dabei vor allem um die Rücksicht auf die weiblichen Rezipienten. Immer wieder fragt Gleim seinen Ansbacher Freund, ob er solche Verse wirklich auch einem Mädchen zeigen könne. Und Uzens Antwort: Lieber zwanzig schlechte Gedanken und matte Ausdrücke, als den geringsten Schein der Zweydeütigkeit oder etwas, so wider die guten Sitten und den Wohlstand laüft!81

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Vgl. Uz an Gleim am 19.3.1742, ebd. Nr. 6, S. 20; Gleim an Uz. Juni 1742, Nr. 7, S. 23; Uz an Gleim am 17.2.1744, Nr. 13, S. 47: »Alle Verbesserungen oder Critiquen nun, sie mögen nun von Ihnen oder von Ihren schönen und galanten Freiinden herrühren, schreiben Sie zusammen auf ein Blat Papier, und übersenden mirs; so will ich meine Stücke darnach verbessern, und Ihnen eine verbesserte edition derselben übersenden«. Solche Kritik im Geist der »aufrichtigen Freundschaft« zeichnet auch die Zusammenarbeit zwischen Lange und Meier aus. Vgl. Anm. 74. Vgl. z.B. Uz an Gleim am 29.9.1747, ebd., Nr. 43, S. 188ff Vgl. auch Uz an Gleim am 16.3.1747, ebd., Nr. 34, S. 159. Uz an Gleim am 20.11.1747, ebd., Nr. 45, S. 195. Gleim an Uz am 21.2.1747, ebd., Nr. 33, S. 157. Gleim an Uz am 12.8.1745, ebd., Nr. 20, S. 81ff. Uz an Gleim am 20.11.1747, ebd., Nr. 45, S. 195.

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dokumentiert, daß die anakreontischen Dichter den gerade erkämpften Platz der Sinnlichkeit in ihrer Lyrik nicht durch frivole Formulierungen gefährden wollen.

IV. In diesem Kontext stellt sich nun die spannende Frage nach dem eigentlichen Stellenwert solch erotischer Wunschvorstellungen vom unentwegten Küssen, voyeurhaften Belauschen der Geliebten im Bad oder dem Lob des morgendlichen ludus veneris. Uz hat einmal zu verstehen gegeben, daß er seine Gedichte »nach den principiis der Schäfermoral«82 verfaßt habe. Das Bekenntnis zeigt die Einsicht in den Scheincharakter dieser erotischen »Tändeleyen«. Es ist nun höchst aufschlußreich zu beobachten, was geschieht, wenn die Schäferwelt verlassen und die imaginierten Formen der Zärtlichkeit der Lebenspraxis begegnen. Beide Autoren haben diese Erfahrung zu machen, sie reagieren höchst unterschiedlich, aber bei beiden wird das Verhalten gesteuert durch von der Literatur vorgeprägte Muster. Zunächst bleibt festzuhalten, daß Uzens kokett gemeinte Bemerkung zu Gleim: »Denn wie könnte ein Mädchen, das Empfindung hat, dem Anakreon unsrer Zeiten widerstehen?«,83 in der Realität in ganz anderer Weise beantwortet wird, als es die rhetorische Frageform nahelegt. Denn wider Erwarten kommt die von Gleim so emphatisch angekündigte Vermählung mit Sophia Mayer, der jüngsten Tochter eines Blankenburger Bergrates, nicht zustande, und das ganze Unternehmen endet für den deutschen Anakreon mit einer herben Enttäuschung. Zwei Briefe an Uz, der eine vom 5. April und der andere vom 22. Juli des Jahres 1753, belegen den dramatischen Umschwung der Ereignisse.84 Sowohl für die Beschreibung des höchsten Glücksgefühls als auch der tiefen Depression greift Gleim zu poetischen Vorbildern. Die Gestalt der realen Sophia Mayer steht in Konkurrenz zu literarischen Projektionen. Nicht nur, daß der verliebte Poet sie, dem Vorbild Klopstock folgend, als »Fanny« anspricht, er bekennt auch treuherzig, daß Sophia an Schönheit die Brünette überträfe, deren aufreizendes Bild Uz in der Nachfolge Marots gezeichnet habe. Das höchste Lob des Anakreontikers ist die Feststellung, daß seine Braut »beßer« sei, als das »Mädchen, das meine Ein-

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Uz an Gleim am 1.6.1744, ebd., Nr. 16, S. 69. Uz an Gleim am 16.3.1747, ebd., Nr. 34, S. 158. Ebd., Nr. 62, S. 234ff.; Nr. 64, S. 238ff.

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bildungsKraft mir erschaffen hat«.85 Eine größere Steigerung ist für einen Menschen nicht denkbar, der sich Glück nur in literarischen Fiktionen vorstellen kann. Drei Monate später triumphiert erneut die Wirklichkeit über die Einbildungskraft. Gleim, der von seiner unglücklichen Liebe nur in der Form erzählpoetologischer Terminologie sprechen kann, bereitet seinen Freund mit folgenden Worten auf den »unwahrscheinlichsten Roman« vor: Vielleicht lesen sie alsdenn einen Brief, an deßen Ende Sie sagen werden: In der That das ist ein ganz guter Roman, aber der Poet hat die Warscheinlichkeit übertrieben - Und dann werde ich ihnen antworten: Wenn die Geschichte gleich nicht möglich ist, so ist sie doch wahr.

Mißverständnisse mit dem zukünftigen Schwiegervater führen zu Irritationen, die schließlich die Form von Intrigen annehmen und zur Auflösung der Verlobung führen. Für Gleim ist dies ein schmerzhafter Weg der Desillusionierung, nach und nach sieht er ein, daß »seine Sophia nicht eben ein so göttliches Mädchen sey«, und der Roman dieser unglücklichen Liebe endet mit dem für einen anakreontischen Dichter ernüchternden Resümee: Denn ich bin in der That kein so guter Mädchenkenner, als meine Lieder mich dencken laflen.

Zur gleichen Zeit, als Gleim diese bittere Erfahrung machen mußte, ist auch sein Freund in erotischen Turbulenzen und ruft Chaulieu und Anakreon als Nothelfer an: Chaulieu dem, bekränzt mit Rosen, Alle Grazien liebkosen, Du, Lyäens weiser Sohn, Fröhliger Anakreon! Die ihr nur mit Amom lachtet, Rettet euern armen Freund, Der den Gott gering geachtet Nun von ihm getäuschet scheint."

Uz schreibt diese Verse in Erinnerung an den mehr als einjährigen Aufenthalt im Amt Römhild in der Nähe Meiningens, wo er die Gastfreundschaft des Hofrats Johann Peter Grötzner genoß und fast täglichen Umgang mit

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Ebd., Nr. 62, S. 234. Ebd., Nr. 64, S. 239. Ebd., Nr. 64, S. 240 bzw. S. 242. Uz, An Grötzner. In: Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 64, S. 397-400, S. 399f.

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dessen Schwester hatte. 8 ' Uz verliebt sich in das Mädchen, das er nach bewährter Schäferweise Climene nennt. Wie sein Freund erlebt er die verwirrende Phase der Vermischung von Literatur und Leben. Alle verfügbaren Dokumente lassen erkennen, daß der verliebte Anakreontiker den an Gleim geschriebenen Satz - »Ich singe von Liebe und Mädgen, da ich doch von dem einen so wenig Wissenschaft habe, als von dem andern«90 - eindrucksvoll bestätigt. Erst am Abend vor der Abreise, am 3. Oktober 1753, überreicht er der Geliebten ein Gedicht, in dem er dezent um Küsse bittet, und im nächsten Jahr wiederholt er in einem - einem Brief aus Ansbach beigelegten - Gedicht diesen Wunsch, nun eingekleidet in eine poetische Erzählung, die er selbst als »eine von den Phantasieen« bezeichnet, »zu denen Sie mich so oft bringen«: Jüngst schlief die liebste Schöne, Die artige Climene, Nach deren Mund ein Bienchen flog, Und wie von Blumen sog. Von seinen trunknen Bissen Ward sie dem Schlaf entrissen; Von ihrem Mund erdrückt, Das kleine Thier erstickt. Es murmelt halb entseelt: »Mein Tod ist schön gewählt! Ich lebt' auf manchem Rosenstrauch; Auf Rosen sterb' ich auch.« Sein Auge war gebrochen, Sobald es dieß gesprochen. Ich seufzt' und rief ihm zu: 91 Ach! stürb' ich einst wie du!

Der in der Motivik der Liebeslyrik aller Epochen versierte Autor läßt - ähnlich wie in Tassos Aminta - die Biene die Freuden genießen, die der verliebte Schäfer für sich selbst wünscht.' 2 Ersehnt wird ein wahrhaft »anakreontischer Tod«,' 3 ein Hinscheiden im Augenblick des höchsten sinnlichen Genusses.

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Vgl. den Kommentar Sauers, ebd., S. 397 und Schüddekopfs in: Briefwechsel, wie Anm. 1, S. 482. Uz an Gleim am 17.2.1744. In: Briefwechsel, wie Anm. 1, Nr. 13, S. 46. Uz an Fräulein Grötzner. In: Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 64, S. 400-402, S. 402. Torquato Tasso, Aminta, I, 2, S. 443ff. Torquato Tasso, Aminta. Favola boschereccia. Italienisch/Deutsch. Übers, von Otto von Taube, Frankfurt/M. 1962, S. 40ff. Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern, wie Anm. 33, S. 72.

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Für seine Geliebte kommentiert nun der Dichter die Schlußzeilen des Gedichts: Ich seufzt' und rief ihm zu: 94 Ach! stürb' ich einst wie du!

in dem Begleitschreiben mit einem Satz, der jeden Anhänger der Lyriktheorie Käte Hamburgers entzücken muß: »Dieser Ich bin ich«." Das Bekenntnis, das eine Identität zwischen Lyrischem Ich und Autor-Ich konstatiert, zeigt, daß sich in der Rokokolyrik durchaus das von Karl Richter vermißte »Pathos des Existenziellen« finden läßt.96 Uz bleibt bis zu seinem Tode ohne eheliche Bindung, er bildet - dies sind seine eigenen Worte - mit seiner Schwester eine »unverheyrathete Familie«.'7 Uz fuhrt ein zurückgezogenes Leben in Ansbach. Er leidet unter dem Mangel an Geselligkeit. Die abgelegene Residenzstadt erscheint ihm als »Wüste«, und bitter spricht er von dem »Elend der kleinen Städte«, die weder ein gesellschaftliches noch literarisches Leben haben: denn beides gehört zusammen und beeinflußt sich gegenseitig.'8 Uz vermißt ein verständiges Publikum, das stimulierend oder auch kritisch auf seine Dichtungen reagiert. Wenn er sein Leben in Ansbach mit dem Gleims im »glückseligen Berlin« vergleicht," erkennt er in seiner Analyse scharf, wie sehr seine Existenz als Dichter abhängig ist von den Formen der Geselligkeit: Ihre muntern und politen Gesellschafften geben Ihnen zu den artigsten Einfallen Gelegenheit und gewöhnen Sie zu einer gewißen ungekünstelten Art zu denken und sich auszudrücken, die eine Muse niehmals erreichen wird, wenn Sie ihr selbst überlaßen ist und keine Críticos zum Umgange hat.™

Für Uz besteht eine direkte Relation zwischen dem Niveau einer Gesellschaft und der Qualität von Dichtung. In dem Maße, wie sich die Berliner Kreise in ihrer Weitläufigkeit von den biederen hallischen Zirkeln unterscheiden, übertrifft die in der preußischen Metropole entstandene neue Lyrik Gleims an Eleganz und Grazie die früheren Versuche, die in die hallische Lebensphase zu datieren sind.

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Uz. In: Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 64, S. 402. Ebd., S. 402. Richter, Geselligkeit und Gesellschaft, wie Anm. 7, S. 248. 97 Uz an Gleim am 30.1.1765. In: Briefwechsel, wie Anm. 1, Nr. 120, S. 361. " Uz an Gleim am 17.2.1744, ebd., Nr. 13, S. 47f.; Nr. 21, S. 87. 99 Uz an Gleim am 6.4.1743, ebd., Nr. 10, S. 38f.; Nr. 16, S. 66 u.ö. 100 Uz an Gleim am 15.9.1746, ebd., Nr. 21, S. 88. 95

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Die Briefe seines Freundes entschädigen Uz für den Mangel an geselligem Umgang. Und auch Gleim gesteht, daß er ohne die Briefe längst zum Misanthropen geworden wäre.101 Die Korrespondenz mit Gleim ist lebenswichtig fur den Dichter und den Menschen Uz. In einem der ersten Schreiben aus Ansbach beschwört er Gleim geradezu, den Briefwechsel nie abzubrechen, denn er werde sein »angenehmster Zeitvertreib« in der Provinz sein.102 Über mehr als ein halbes Jahrhundert halten die Freunde in ihren Briefen diese imaginierte Geselligkeit fest, sie lebt von Ritualen und Inszenierungen. Sie informieren sich gegenseitig über die Technik der Gefühlsevokation. Wenn Gleim seinem Ansbacher Freund nahe sein will, nimmt er sich ein Buch von Uz mit in die Halberstädter Laube und liest es zusammen mit den Gedichten des Horaz.103 Das gleiche Verfahren wendet Uz an. Als Gleim ihm ein Exemplar seines gedruckten Briefwechsels mit Johann Georg Jacobi schenkt, liest er immer wieder in diesem Buch. Die intensive Lektüre überwindet Raum und Zeit: Uz fühlt sich in Gleims Gesellschaft und hört den Freund scherzen und tändeln.104 Das Denken in poetischen Fiktionen erreicht einen solchen Grad, daß sich Gleim das erhoffte Wiedersehen und eine anschließende gemeinsame Tour nur im Medium der dafür prädestinierten Gattung, der Reisebeschreibung, vorstellen kann. Er schwärmt dem Freund vor, welch anmutiger Text entstünde, wenn sie beide nach dem Vorbild des Voyage au Provence et Languedoc von Bachaumont und Chapelle ihre Route von Ansbach nach Berlin bzw. umgekehrt beschreiben würden.105 Diese Reise kam trotz mehrfacher Anläufe nie zustande, es blieb beim >armchair travellingi und bei dem gemeinsamen Ausmalen der geselligen Treffen in der Phantasie. Diese mit Hilfe der Einbildungskraft vorgestellten Szenen werden dann dem Partner in den Briefen mitgeteilt.106 Für Uz, den isolierter Lebenden, nehmen diese Schreiben einen exzeptionellen Rang ein: Am Ende seines Lebens, als er das Konvolut der Gleim-Briefe zur sicheren Aufbewahrung nach Halberstadt schickte, markierte er selbst die Bedeutung: Und diese Briefe machten einen beträchtlichen Theil meines irdischen Vergnügens!107

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Gleim an Uz zwischen Anfang 1750 und Mitte Mai 1751, ebd., Nr. 57, S. 220. Uz an Gleim am 21.8.1743, ebd., Nr. 12, S. 44. Uz an Gleim am 16.8.1757, ebd., Nr. 76, S. 281f. Uz an Gleim am 11.9.1769, ebd., Nr. 137, S. 386. Gleim an Uz am 16.8.1758, ebd., Nr. 79, S. 291. Vgl. auch Gleim an Uz am 22.11.1746, ebd., Nr. 29, S. 143. Gleim an Uz am 24.9.1762, ebd., Nr. 100, S. 332; Nr. 101, S. 333; Nr. 105, S. 336. Uz an Gleim im März 1795, ebd., Nr. 177, S. 440. Für Gleim sind Uzens Briefe ein »Denckmal unsrer Freundschaft«. Gleim an Uz am 22.5.1795, ebd., Nr. 178, S. 441.

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Das kulturhistorisch so wertvolle Dokument ist in dieser Ausführlichkeit nur vorhanden, weil sich die beiden Freunde nicht mehr getroffen haben und sich alles schrieben, was ihnen auf dem Herzen lag. Unter diesem Aspekt ist es für den Literarhistoriker nur zu begrüßen, daß das Gleimsche Luftschiff noch nicht erfunden war.

Hans-Joachim Kertscher

»Der Mensch bleibt allezeit Mensch...«1 Johann Peter Uz im Freundeskreis Johann Wilhelm Ludwig Gleims

Im Juni 1743 erschien in den Leipziger Belustigungen anonym ein Gedicht Uz' mit dem Titel Lobgesang des Frühlings.2 Uz machte Gleim in einem Brief vom 17. Februar 1744 darauf aufmerksam, daß er den Lobgesang bereits im September 1742 nach Leipzig geschickt habe und - da das Gedicht nicht erschien - zwischenzeitlich den Eindruck hätte, daß die Herausgeber der Belustigungen, »nach ihrem zärtlichen Geschmacke«, das Gedicht für zu schwach empfunden hätten, um es dem Publikum vorzustellen, was ihm, Uz, letztlich »einigermassen lieb war«.3 Eigentlich habe er den Text nur deshalb veröffentlichen wollen, um durch Rezensionen »einige Urtheile über das darinn gebrauchte Sylbenmaaß zu vernehmen«.4 Die Innovation hinsichtlich der Silbenmaße bestand darin, daß Uz durch eine »Vermischung von Jamben und [...] reinen Dacktylen« einen »Wohlklang«5 erzielen wollte, der, nach Uz' Meinung, durch mechanische Übertragung lateinischer Versmaße ins Deutsche nicht zustande kommen könne. Kurzum: Das Gedicht erschien schließlich im Juni 1743, die erhofften Rezensionen blieben freilich vorerst aus. Nicht so die Reaktionen der Freunde: Gleim und Ewald Christian v. Kleist, die Uz' Verfasserschaft sofort vermutet hatten, empfanden nur einen Makel: daß das Gedicht in schlechter Nachbarschaft stünde. Deshalb separierten sie den Text. Gleim ließ ihn einzeln binden, Kleist gesellte ihn zu »Rosts Erzählungen«.6 Zudem betonte Gleim, daß er das »Sylbenmaaß« als »unvergleichlich« empfände, wie er überhaupt die »Vollkommenheiten« Uz' hoch und sich glücklich schätze, »einen so vollkomnen Freund«' zu haben.

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Uz an Gleim am 12.3.1756. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, hg. u. eri. von Carl Schüddekopf. Tübingen 1899 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 218), Nr. 70, S. 263. Vgl. Belustigungen des Verstandes und des Witzes auf das Jahr 1743. Brachmonat, S. 485-489. Vgl. Briefwechsel, wie Anm. 1, S. 453: »Anmerkungen« zu Brief Nr. 13. Uz an Gleim am 17.2.1744, Briefwechsel, Nr. 13, S. 48. Ebd., S. 47. Ebd. Vgl. Gleim an Uz am 29.3.1744, Briefwechsel, Nr. 15, S. 58. Ebd., S. 60.

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Der hallesche Kommilitone und Mitstreiter in der sog. Zweiten Halleschen Dichterschule, Johann Nikolaus Götz, teilte Uz ebenfalls seine Bewunderung mit: Als ich noch zu Embden war, habe ich die Probe ihres neuen Sylbenmaases in den L.[eipziger] Belustigungen gefunden, und Ihre Hartnäckigkeit bewundert, womit Sie ein so bilderreiches Gedichte mit einem so hohen Grade der Schönheit zu Stande gebracht haben, so groser Schwierigkeiten ohngeachtet, darzu Sie ihr eigner Vorsatz, keine unreine Dactylen hineinzubringen, gezwungen hat.8

Uz allerdings stand seinem Text weitaus kritischer gegenüber. Offenbar noch vor der Drucklegung empfand er »die große Schwäche«' und machte sich an eine Überarbeitung, die er seinem »besten Freünde«,10 Gleim also, dedizierte. Dennoch trug er »Bedenken, die verbesserte Edition dieses Stückes [dem Brief an Gleim] beyzufügen«," was Gleim sehr bedauerte: »Ich hätte so gern daraus gesehen, ob es noch möglich sey, denselben [den Lobgesang] zu verbeßern«.12 Die erste Fassung des Gedichts besteht aus 18 vierversigen Strophen, die regelmäßig gebaut sind. Drei jambischen Vierhebern folgt jeweils am Ende der Strophe ein jambischer Sechsheber. Durch Sternchen voneinander getrennt schließen sich jene 20 Strophen an, in denen Uz besagte Innovation am Versmaß vornimmt. Erich Schmidt charakterisiert das Versmaß Uzens in folgender Weise: »Bei Uz ist der fluss gehemmt, wir werden seinen hexameter richtiger als einen verkappten alexandriner auffassen, wo den dritten und sechsten iambus anapaesten vertreten, die sich leicht verwischen lassen«.13 Die unterschiedliche Versgestaltung geht einher mit unterschiedlichen inhaltlichen Intentionen des Verfassers. Im ersten Teil wendet sich die dichterische Muse »ins dicke Kriegsgedränge«'4 und stimmt sich geradezu furchtsam »auf kriegrische Gesänge« (Str. 3) zum Ruhme Brandenburgs ein. Doch dies ist ihre Sache nicht. Phöbus entführt die Furchtsame ins »sonnenreiche Land«, in dem »der Wahrheit Faust den sanften Zepter führet« (Str. 5), in die Gefilde der Philosophie also, in denen Christian Wolff sich müht, »die

' Götz an Uz am 13.5.1747. In: Briefe von und an Johann Nikolaus Götz. Nach den Originalen hg. von Carl Schüddekopf. Wolfenbüttel 1893, Nr. 4, S. 14. ' Uz an Gleim am 17.2.1744, Briefwechsel, wie Anm. 1, Nr. 13, S. 48. 10 Ebd. " Ebd. 12 Gleim an Uz am 29.3.1744, ebd., Nr. 15, S.60. 13 Erich Schmidt: Salomon Gessners rhythmische Prosa. In: ZfdA 21 (1877), S. 303-306, S. 305f. Vorbildhaft wurde dieses Versmaß für Ewald Christian v. Kleists >FrühlingDie Lust, den Alten nachzustreben. Produktive Rezeption der Antike in der Dichtung Friedrich von Hagedorns. St. Ingbert 1990 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 25), hier S. 68ff. Zur Horaz-Rezeption im deutschen 18. Jh. allgemein vgl. etwa Pietsch, S. Iff. und jetzt Ernst A. Schmidt: Horaz und die Erneuerung der deutschen Lyrik im 18. Jahrhundert. In: Zeitgenosse Horaz. Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden, hg. von Helmut Krasser und E. A. Schmidt. Tübingen 1996, S. 255-310; Mauser, wie Anm. 9, S. 81ff., zum historischen Kontext insbesondere S. 82f. und S. 85f.

Uz und Horaz

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1. Zunächst also die Vorbemerkungen, und zwar zu >Uz als AnakreontikerBuch< - anders als unter den Produktionsbedingungen des antiken Papyrusbuches - seit der Einfuhrung des Buchdrucks eine durchaus gewillkürte, den Präferenzen des Autors entspringende Festlegung darstellt. Der fast gleichbleibende Umfang von 17, 15, 15 und 16 Gedichten für jene vier ersten Bücher geht in seiner Ebenmäßigkeit über Horaz hinaus, der mit 38, 20, 30 und 15, im Schnitt etwa 26 Gedichte, also mehr bietet. Es darf vermutet werden, daß Uz die Zahl von Horaz' viertem Odenbuch zum Modul seiner Werkeinheiten gewählt hat, und es ist bedauerlich, daß die modernen Ausgaben, etwa die sonst ganz vorzügliche von Sauer, mit einer

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Nachgewiesen ist eine Generation davor: Ungebundene Ubersetzungen der Gedichte des Q. Horatius Flaccus. Nebst den nöthigsten Anmerkungen und vorgängiger Lebensbeschreibung des Schriftstellers von Friedrich Groschuff, 2 Bde. Cassel 1749. " Bd. 2, wie Anm. 1, S. III-XXVIII.

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durchlaufenden Zählung aller Gedichte über die Bücher hinweg diese Ebenmässigkeit der Planung nicht mehr direkt nachempfinden lassen. Allerdings hat Uz mit dieser zunächst nur quantitativen Imitatio in Kauf genommen, die Zeit- und Altersgrenze zu überspielen, die zwischen Horaz' Oden 1-3 einer- und 4 andererseits liegt. Horaz mußte sich auf den Druck der Venus berufen, um die Wiederaufnahme von Lyrik, im Kern als Liebeslyrik definiert, überhaupt legitimieren zu können (4,1,1 ff.): Intermissa, Venus, diu rursus bella moves? Parce precor, precor. Non sum, qualis eram bonae sub regno Cinarae. Desine, dulcium mater saeva Cupidinum

[...]. Was hier der als biographische Wahrscheinlichkeit definierten literarischen Konvention zuwiderläuft - ein Senior hat weder zu lieben noch entsprechend zu dichten - , wird von Uz dann in der Weise berücksichtigt und weitergeführt, daß er 1768 in Buch 5 mit weiteren 16 weltlichen Oden, die von Horazischer Lebensweisheit geprägt sind, und in Buch 6 gar mit 17 geistlichen Oden sich von Liebeslyrik immer erkennbarer und bewußter entfernt, ja jetzt vor Amor sogar warnt (5,67,19ff.): Kommt er ohne Pfeil und Bogen, Wie die Unschuld selbst, geflogen: Seht ihm ins Gesicht. Seht ihr ihn, bey Scherz und Spielen, Nach dem Busen lüstern schielen, Das ist Amor, traut ihm nicht.

Wenn Stemplinger" die konventionelle v/ia-veria-Spannung auf Uz in der Weise überträgt, daß »der steife Justizrat Uz [...] in seinen Liedern als gefahrlicher Don Juan (erscheint) und war ein hochehrbarer, sittenstrenger Mann«, so tut er einerseits der ersten Sammlung zuviel Ehre oder Unehre an und übersieht andererseits, daß unser Dichter diese mit 29 Jahren der Öffentlichkeit übergeben hat, als von einem steifen Justizrat, was Uzens professionelle Position angeht, nun wirklich noch nicht die Rede sein kann. Uz hat vielmehr, wie es scheint, in seiner Weise die mit Liebeslyrik und ihrer biographisch-literarischen verisimilitudo seit der Antike gegebenen Konventionen in der Entwicklung seiner Lyrik durchaus berücksichtigt, so daß das

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1921, wie Anm. 7, S. 23, vgl. auch S. 64.

Uz und Horaz

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Horazische uns in ihr als Ausprägung des biographisch Wahrscheinlichen und somit literarisch Legitimen entgegentritt. Gehen wir noch etwas ins Einzelne, um diese horazische Prägung nicht nur an Makrostruktur und Buchzahl festzumachen, sondern auch am textlichen Detail zu verifizieren, so fällt zunächst auf, daß die beiden Schlußgedichte von Buch 1 mit auf Erkennbarkeit angelegten horazischen Reminiszenzen eingeleitet werden. In dem vorletzten Gedicht über den innerdeutschen (schlesischen) Krieg und seine Folgen (Nr. 16) - entstanden 1746, aber erst 1755 aufgenommen - entspricht der Beginn Wie lang zerfleischt mit schwerer Hand Germanien sein Eingeweide? Besiegt ein unbesiegtes Land Sich selbst und seinen Ruhm, zu schlauer Feinde Freude?

dem Anfang der horazischen Bürgerkriegsepode 7: Quo quo scelesti ruitis? aut cur dexteris aptantur enses conditi?

wobei die Apostrophe - Germanien statt scelesti - gedämpft, andererseits aber die Vorstellung aptantur enses zu »zerfleischt« eine Stufe weiter gefuhrt erscheint; auch in der »schlauen Feinde Freude« klingt die Reihe der äußeren Gegner nach (Karthago, die Britannier und Parther, epod. 7,5ff.), mit denen Rom es eigentlich zu tun hatte bzw. hätte. Daß Fluß und Land von deutschem Blut, von faulen Leichen voll sind (l,16,5ff.), entwickelt ein Motiv eines weiteren horazischen Bürgerkriegsgedichtes (2,l,29ff.: »Quis non Latino sanguine pinguior / campus sepulcris impia proelia / testatur?«) und Uzens Schlußstrophe Doch mein Gesang wagt allzuviel! O Muse! fleuch zu diesen Zeiten Alkäens kriegrisch Saitenspiel, Das die Tyrannen schalt, und scherz auf sanftem Saiten (V. 45ff.)

schaut auf das Einhaltgebieten der entsprechenden horazischen Schlußstrophe zurück (V. 37ff.: »sed ne relictis, Musa procax iocis / Ceae retractes muñera neniae/ [...] / quaere modos leviore plectro«). Noch horazischer ist der Anfang der poetologischen Schlußode 1,17, die nach einer Reminiszenz an Horaz 3,25,lf. (»Quo me, Bacche, rapis tui/plenum« = »Wohin, wohin reißt mich die strenge Wut« = furor) V. 2ff. den Vergleich mit Horaz 2,20 herausfordert.

Peter Lebrecht Schmidt

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Seht, auf der Ode kühnen Flügeln Entweich ich [...] diesen stillen Hügeln. Ich fliehe nun der Sterblichen Revier

entspricht dort V. Iff.: ferar /pinna... / urbis relinquam,

d.h. das Grundkonzept des über die Welt sich erhebenden, den Äther durchfliegenden Dichters wird rezipiert und transformiert. Dabei kann der Spätere offenbar die präzise Transformierung des Dichters in einen Schwan wie auch die geographische Genauigkeit des Vorbilds nicht gebrauchen; auch auf das mon omnis moriar« (3,30,6) = mon ego f.. J obibo«. (2,20,6f.), also auf das Motiv von Nachruhm als Nachleben kommt es jetzt nicht an, sondern auf eine Himmelfahrt, die den Dichter zu neuen Zielen fuhrt, »[w]o keine Muse ging« (V. 16). Schon jetzt sei daraufhingewiesen, und andere Fälle werden sich unseren Beispielen beigesellen lassen, daß Uz hiermit eine Praxis imitiert, die sein Vorbild selbst in der Adaptation griechischer Vorbilder praktiziert hatte. Auch dort also, jedenfalls wo wir es überprüfen können, wird das Thema der Vorlage durch ein Zitat angerührt und angerissen, dann aber selbständig weiter verfolgt. Umgekehrt scheinen die beiden ersten Gedichte bei Uz, das Frühlingslied und seine Einleitung, außer der formalen Analogie einer poetologischen Markierung des Anfangs mit Horaz 1,1 (»Maecenas atavis«) kaum etwas zu tun zu haben. Vielmehr stammt das Motiv, daß Apoll den Dichter davor rettet, seine Muse mit kriegerischen Gesängen zu befassen, aus dem Anfang von Horaz 4,15: »Phoebus volentemproelia me loqui / victas et urbis increpuit lyra« (»Doch Phöbus riß sie [d.h. des Dichters Muse] aus dem Brand«, 1,1,17). Es scheint aber beachtenswert, daß Uz seinen Anfang noch präziser, wenn auch in anderer Weise, mit einem antikisierenden Gedicht heraushebt. Das auf die Rede Apollos folgende zweite Gedicht, der berühmte, 1742 entstandene und 1743 erschienene Lobgesang des Frühlings,37 ist bekanntlich als einzige der Uzischen Oden nicht in Reimen, sondern in einer metrisch schwer zu bestimmenden, reimlosen und silbenzählenden Versgestalt gehalten: Ich will, vom Weine berauscht, die Lust der Erde besingen, Ich will die Zierde der Auen erhöhn,

37

Vgl. Erich Petzet: Das Uzische Frühlingsmetrum. In: Zschr. f. vgl. Litt.gesch. N.F. 10 (1896), S. 293-299.

Uz und Horaz

89

Den Frühling, welcher anitzt, durch Florens Hände bekränzet, Siegprangend unsre Gefilde beherrscht.

Der Erfolg dieses Experiments stellte sich sofort, etwa in Plagiaten, ein: »Die zwote Ode: der Frühling«, so Gleim in der Vorrede von 1749, »welche nach den eigenen Regeln der lateinischen Prosodie abgefaßt ist, hat sich, seit dem sie anderwärts bekannt gemacht worden, durch ihren Wohlklang dergestalt empfolen, daß es verschiedenen gefallen hat, desselben Sylbenmasses sich zu bedienen«.38 Uz selbst definiert das Gedicht als eine Abfolge von Jamben und Anapästen. 3 ' Wir selber würden indes, was er als Anapäste definiert, wohl eher als - auch durch Zäsur abgehobene - Choriamben ( - Λ Λ - ) verstehen wollen, also (teils mit Auftakt oder Abtakt) »vom Weine berauscht«, »Erde besingen«, »welcher anitzt«, »Hände bekränzet«, »säumet ihr noch« etc. Mit diesem rhythmischen Kernelement der klassischen, von Horaz normierten griechischen Metrik ging Uz sozusagen täglich um, und es mag sein, daß er die ihn interessierenden Elemente nur falsch analysiert, aber richtig durchgespürt und jedenfalls überzeugend appliziert hat. Hinzuweisen wäre auch auf das epodische Schema, das Horaz in Epode 12 als Kombination von längeren und kürzeren daktylischen Versen variiert, und die Epoden hat Uz, wie wir bereits feststellen konnten, gemeinsam mit den Oden rezipiert und verarbeitet. Das Experiment des Frühlingsgedichts, das Uz dann nicht weiter verfolgt hat, weist zum Zeitpunkt der Erstpublikation 1743 unter dem Einfluß Gottscheds auf die mit den Hallenser Freunden gemeinsam gefertigte, reim- und strophenlose Anakreon-Übersetzung von 1746 voraus. Auch an diesem Punkt also hätte sich Uz mit der Rückkehr zum Reim 1749ff. von seinen anakreontischen Anfängen abgewandt und damit jetzt Schule gemacht, wie es ihm zuvor mit seiner Frühlingsode gelungen war. Man mag diese Entscheidung durchaus bedauern, da er - so Petzet - »in seiner Verskunst das antike Quantitätsprinzip mit peinlicher Sorgfalt beobachtete und so eine Sauberkeit des Metrums erreichte wie kaum ein anderer zu seiner Zeit«.40 »Es ist wahr«, so schreibt Uz selbst Oktober 1751 an Gleim, die wenigsten Ohren empfinden die nach lateinischen Regeln eingerichtete Sylbenlänge. Allein die Regeln gründen sich auf die Natur des Wohlklanges, und sind gar nicht willkührlich. Es sind, würde vielleicht ein Römer sagen, die deütschen Ohren in der Schuld,

38 39

Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 16, S. 5f., zu dem Gedicht selbst S. Ulf. Uz an Gleim am 17.2.1744, wie Anm. 33, Nr. 13, S.47. Wie Anm. 8, S. 294f.; auf den Zusammenhang von Uzens Vorliebe für Horaz mit dem Interesse an metrischen Fragen weist hin Schuppenhauer, wie Anm. 4, S. 294ff.

Peter Lebrecht

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Schmidt

daß sie den Unterscheid der lateinischen Sylbenlänge auch im Deutschen nicht bemerken;41

»in der Schuld« ist übrigens eine Anspielung auf Horaz, epist. 1,14,13. Jedenfalls bleibt Uz seinem antiken Vorbild allgemein insofern nahe, als er an der strophischen Einteilung mit vier bzw. mit sechs Versen und mehr festhält, wobei die Vierzahl insbesondere für die Gedichte charakteristisch ist, die sich auch thematisch und in Anspielungen auf Horaz beziehen, also zumal 1,1. 2. 11. 16. 17. 2,19. 22. 26. 27. 30, die längeren Strophen, also Sechs-Zehnzeiler, die anakreontische Tradition andeuten. Gehen wir das erste Buch noch rasch nach anderen horazischen Elementen durch, so ist festzuhalten, daß Uz, wie gesagt, sich bereits hier »in der höhern Ode versucht« hat, wie es Gleims Einleitung als Möglichkeit von Uzens poetischer Zukunft prophezeit hatte. Das auf Frieden gestimmte Frühlingslied und die vorletzte Ode Das bedrängte Deutschland (16) bilden den Rahmen vor dem poetologischen Abschluß, und der von ihnen eingeschlossene Kernbereich läßt zwei Blöcke im Zeichen von Chloe, Venus und Frühling erkennen, Nr. 3-10 und 12-15. Chloe, bei Horaz die Adressatin von Ode 1,23, in 3,9 die Alternative zu Lydia und Abschiedsmotiv in 3,26, taucht in Uzens späteren Büchern nicht mehr auf und zeigt auch im ersten noch weniger individuelle Kontur als etwa Horazens Damen wie Chloe, Glycera oder Lalage. Die Erotik wird von Uz ganz topisch und abstrakt aufgefaßt und dargeboten, weder autobiographisch individualisiert noch, wie bei Horaz, in die Situation hinein komprimiert. Andererseits läßt der gnomische Beginn des die beiden anakreontisch-horazischen Blöcke trennenden 11. Gedichtes Die Zufriedenheit an ähnliche Horaz-Anfange denken: Ein Geist, der sich zu keiner Zeit In feiger Ungedult verlieret, Und stets die Weisheit hört [...],

erinnert an Integer vitae scelerisque purus non eget Mauris iaculis

[...] (1,22), oder an

41

Uz an Gleim am 29.10.1751, wie Anm. 33, Nr. 61, S. 233.

Uz und Horaz

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Iustum et tenacem propositi virum non civium ardor prava iubentium [...] (3,3).

Schließlich ist zu den Titeln der Gedichte, die teils das Thema angeben (.Lobgesang des Frühlings; Ein Traum·, Der Morgen), teils den Adressaten (An Chloen; An Amor), daran zu erinnern, daß man bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein Horaz mit den spätantiken Überschriften las, die ebenfalls vorab Adressaten und Thema gaben, also etwa zu 1,1 Ad Maecenatem bzw. De vario hominum scribit officio Wir ergänzen einige Beobachtungen zu Uzens späteren Büchern, die das am Beispiel von Buch 1 Festgestellte veranschaulichend bekräftigen mögen. Relativ selten hat sich Uz von der horazischen Prägnanz und Präzision dazu verführen lassen, einzelne Pointen, Concetti und gelungene Junkturen isoliert zu übernehmen. So wird etwa das horazische »magnas inter opes inops« (3,16,28) bei Uz 4,54,57ff. entfaltet: Sein Reichthum wird ihm zum Verdrusse, [··•]

Er hungert, arm, in vollem Ueberflusse, Hat alles und genießet nichts.

Horaz 4,9,25ff. vixere fortes ante Agamemnona multi; sed omnes inlacrimabiles urgentur ignotique longa nocte, careni quia vate sacro

kehrt bei Uz 4,55,77ff. wieder: Doch Dunkelheit und kalte Schatten Begraben ungepriesnen Muth, Den Völker einst bewundert hatten, Der nun vergessen ruht.

Auch die Technik des angerissenen und selbständig weiter verfolgten Anfangs ist etwa noch in 2,32,Iff. faßbar: Ich sah, ihr Enkel, glaubt! mit heiligem Erstaunen; Ich sah den Gott Silen! Er zechte mit den Faunen, Und lehrte die bezechte Schaar,

42

Dazu Peter Lebrecht Schmidt: Horaz. In: RAC 16 (1994), Sp.498f.

Peter Lebrecht

92

Schmidt

entspricht Horaz 2,19, Iff., Bacchum in remotis carmina rupibus vidi docentem, crédité posteri, Nymphasque discentis et auris capripedum Satyrorum acutas.

Auch in der poetologischen, mehrfach horazisch geprägten Ode Tempe (3,34) erinnert der Anfang »Täuscht mich der süsse Wahn?« (V. 7) an die Musenode Horaz 3,4,5f.: »auditis? an me ludit amabilis / insania?« Man vergleiche schließlich 4,51,1 ff. Ihr holden Musen! wer, an eurer Brust erzogen, Den Weg zum grünen Pindus weis, Wird nicht [...]

mit Horaz 4,3,Iff. Quem tu Melpomene, semel nascentem placido lumine videris, illum non [...].

Komplizierter horazisch durchwirkt sind etwa folgende Fälle: In der Einleitungsode von Buch 2 (Nr. 18) entwickelt Uz aus der Zurückweisung der beunruhigenden Lebensformen, die Horaz ebenfalls in einem Einleitungsgedicht (3,1) mit der Genügsamkeit kontrastiert hatte, das Lob des Weisen auf dem Lande, wobei auch die horazische Satire 2,6 mitspielen mag: Seit, fern vom Trotze reicher Thoren, Ich hier in Freyheit athmen kann. Hier kann ich ohne Mißgunst leben, Wenn manchen ungerechten Mann Die Fittige des Glückes heben. (2,18,1 Off.)

verweist auf V. 45ff. cur invidendispostibus... ... moliar atrium? cur valle permutem Sabina divitias operosiores

bzw. V. 17f. destrictus ensis cui super impia cervice pendei...

Uz und Horaz

93

bei Horaz 3,1. »Wer will, mag stolz nach Würden trachten« (V. 15) nimmt den politischen Ehrgeiz von Horaz, V. lOff. auf und »[v]erliebt in mühsamen Gewinn« (V. 18) kehrt zu den divitiae operosiores von Horaz, V. 48 zurück; V. 57f. Dem Reichthum, bleicher Sorgen Kinde, Schleicht stets die bleiche Sorge nach

verarbeitet Horaz, V. 37ff. ... sed Timor et Minae scandunt eodem quo dominus ... ... et post equitem sedet atra cura.

Der »sanfte Schlaf verschmäht Paläste« (V. 61) ist eine Umkehr von V. 20f., daß ungerechter und somit gefährdeter Reichtum den Schlaf nicht herbeiführt; V. 36f. schließlich (»wo [...] / Die Qvelle zwischen Blumen schwätzt«) ergänzt ein idyllisches Motiv aus Horaz 3,13 »(O fans Bandusiae), ... unde loquaces / lymphae desiliunt tuae« (V. 15f.). Die Ode 2,22 bezieht sich auf Horaz 2,11, wo einem Freund die Mahnung zuteil wird, vor lauter Sorge über den Zustand des Reiches nicht die Zeit der Jugend, der Liebe und des Festes verstreichen zu lassen. So nimmt sich dies bei Uz aus: Mit finstrer Stime stehn wir da, Und ordnen das Geschick der Staaten, Und wissen, was bey Sorr geschah, Und wissen Oesterreich zu rathen. Indeß wird nicht daran gedacht, Daß itzo Zeit zu küssen wäre [...].

Das mahnend-distanzierende »Du« des horazischen Anfangs, das erst in der zweiten Hälfte durch ein den Dichter einbeziehendes »wir« aufgenommen wird (V. 13ff.: »cur non ... potamus«), wird bei Uz, der sich weniger als Moralist gibt, von vornherein zum »wir« (»stehn wir da«). Auch im Umfang (24 Verse) und in der symmetrischen Zweiteilung hält sich Uz an das Vorbild, ersetzt aber seine Festszene durch einen erotisch konnotierten locus amoenus, der mit horazischen Motiven spielt (V. 13ff.): »Ich will zu jenen Büschen gehn« entspricht V. 13ff.: »cur non sub alta vel platano vel hac / pinu iacentes [...] potamus uneti?«, dann züchtiger »[d]a hoff ich, Lesbien zu sehn« als Horaz (V. 21 f.) v>quis devium scortum eliciet domo / Lyden?«

94

Peter Lebrecht Schmidt

Uzens Gedicht 4,52 (Die Trinker) ist vom Ende her nach dem Anfang von Horaz 1,27 derart gearbeitet, daß das Motiv des maßvollen Trinkens in einen anderen Kontext transponiert erscheint. Uz kommt es beim Trinken auf die richtige Gesellschaft an; mit Narren schmeckt auch der beste Moselwein ekelhaft gemein, während unter klugen Freunden auch Wasser - wie bei der Hochzeit zu Kana - zum Burgunderwein wird. Nach dieser paradoxen Antithese setzt das Gedicht gleichsam neu und Horaz näher ein (V. 9ff.): »Doch Freunde! seht, wir haben Wein« = sodales (V. 7); Geschrei (Horaz, V. 7) beim Trinken paßt zu den Skythen (V. 12ff.), wobei Bacchus (V. 14) wie bei Horaz, V. 3 (verecundus = »still« bei Uz) evoziert wird und die Thraker (Horaz, V. 2) bei Uz (V. 15) zunächst durch die Skythen ersetzt sind, die Horaz als übermässige Zecher nicht kennt; sie werden als »Thrazisches Gestade« (V. 20) nachgeholt, nachdem V. 17ff. das »pugnare« von Horaz, V. 2 ausmalt: »Wie droht manch fliegend Felsenstück! / Seh ich die wüthende Mänade?« (V. 17f.). Auch 4,56 (An die Deutschen) könnte noch genauer mit Horaz 3,6 verglichen werden, so etwa Strophe 5, die Horazens Mahnung an die »matura virgo« (Str. 6) auf die männliche Jugend überträgt. Kein Wunder, daß die sogenannten Römeroden den politischen Oden Uzens die meisten Anregungen vermittelt haben. Schließlich ist nach dem einleitenden Einzelzitat als thematischer Vorgabe und der in mehrfachen Anklängen sich manifestierenden Parallelführung des horazischen Sujets auf einen dritten Rezeptionstyp hier nur kurz hinzuweisen, der ein horazisches Thema im Titel auf den Begriff bringt, den Gedanken dann aber ganz frei führt und nur im Umfang bisweilen noch auf die Anregung verweist: vgl. etwa 1,13 (Die Wünsche), das wie Horaz 1,31 20 Verse umfaßt, und 2,26 (Einladung zum Vergnügen), das, wie sein Prägestempel, das berühmte »aequam memento rebus in arduis / servare mentem« (2,3) in 28 Versen gibt. Noch freier ist Der Winter (3,46) nach »vides, ut alta stet nive candidum« (1,9) gestaltet. Es scheint bezeichnend, daß diese relativ textferne Verarbeitung am Gegenüber der bekanntesten Vorbilder stattfindet und den Leser somit zur Rezeption gleichsam in weiter Textspannung herausfordert. 3. Wir brechen hier ab. Eine zusammenfassende und genauere Untersuchung, die immer noch aussteht, müßte sich von den relativ textnahen Verarbeitungsmodi ausgehend die philosophische Gedankenlyrik unseres Ansbachers insgesamt vornehmen, die der horazischen Lebensweisheit teils auch textferner, aber in den Motiven nicht weniger präzise nachgeht. Immerhin hat Herder unter den deutschen Horatianern Uz neben Ramler, Klopstock und Lange

Uz und. Horaz

95

vor allem w e g e n seines »Tons der Philosophischen Ode«, w e g e n seines »Philosophischen Odengeistes« 43 gepriesen. Ein erstes Fazit der uzischen Horazrezeption in den ersten vier Büchern seiner Oden m a g vorläufig v o n einigen repräsentativen Urteilen germanistischer Standardarbeiten und Spezialstudien ausgehen und ihre Positionen in einen fingierten Dialog mit unserem Autor einbringen. D a würde etwa zuerst Karl Viëtor auftreten und zu U z folgendennassen sprechen: Bist du nicht glücklich darüber, mein Lieber, wie ich dich in meiner Geschichte der deutschen Ode gewürdigt habe, habe ich doch konzediert, daß die Ode bei dir einen »reicheren, kühneren und höher gestimmten Ausdruck erhielt«, daß du dir zwar »deine Muster bei Horaz gesucht hast«, daß es »aber deine leichte Hand nicht nötig hatte, fremdem Vorbild ängstlich zu folgen«. So hat z.B. die Schlußode deines zweiten Buches »eine erstaunliche und für die Epoche durchaus neue Leichtigkeit und Lebendigkeit«/4 U n d U z könnte etwa antworten: Lieber Viëtor, für deine freundliche Kurzcharakteristik meiner Oden bin ich dir zwar dankbar, aber ich fürchte, du hast mich mit den falschen Begriffen und in der falschen Richtung gelobt und damit mißverstanden. Zwar ist richtig, daß ich vermieden habe, dem horazischen Vorbild im Wortlaut zu nahe zu kommen, was bei einem derart eminent zitierbaren Autor nicht immer ganz einfach ist. Etwas geärgert hat mich, daß du meine Kunst so kurz als >rhetorisch< abgetan hast, und die Formulierung »leichte Hand«, übrigens ein Adjektiv, für das du eine besondere Vorliebe zu haben scheinst, könnte verdekken, daß ich mir mit den einzelnen Formulierungen weidlich Mühe gegeben, noch und noch gebessert, auch mit Freunden immer wieder korrespondiert habe, wie du unschwer dem Apparat der dir sicher bekannten Ausgabe von Sauer entnehmen kannst. Oder sollte mit dem, was nach dir Paradigmenwechsel heißen wird, die Lizenz verbunden sein, bleibende Forschungsleistungen älterer, aber nicht notwendigerweise damit auch vergangener Wissenschaftsperioden einfach zu vergessen? Von Sauer jedenfalls fühle ich mich besser verstanden, wenn er zu meiner Erstausgabe von 1749 schreibt (S. IX): >Selten wurde ein Erstlingswerk so sorgfältig vorbereitet wie dieses; jahrelang, wie man sieht, wurde an den Gedichten gefeilt und gesiebt; jede Zeile, jedes Wort mehrmals erwogen ...Lissabon< als Paradigma etablierter, nun z u m Teil fragwürdig erscheinender Theoreme, mithin als Demonstrationsobjekt offener oder latenter Kontroversen und Problemlagen in Erscheinung. Nicht der unmittelbare Erfahrungsgehalt, nicht die genaue Faktizität oder der spontane Erklärungsanstoß der spezifischen Katastrophe steuerten die Explikationsmuster des Lissabon-Schrifttums, sondern der darin beanspruchte Evidenzcharakter der Ereignisse, d.h. ihr Überzeugungs-

und Wirkungspotential

in systematischen

Aussagezu-

sammenhängen und in der Spannung v o n Sprecher- und Autorenwissen einerseits und Wissen des Hörers bzw. Lesers andererseits. D i e s gilt für die kaum zu zählenden Autoren, deren N a m e n heute nichts mehr bedeuten, gilt gleichermaßen für die oft herangezogenen >Chefkommentatoren< der Katastrophe: also für Goethe, Kant, Voltaire und Rousseau. 1 4 Deren

11

12

14

Vgl. zu Christian Gottlieb Lieberkühn (von ihm anonym »Die Lissabonner«, Breslau 1758) Cornelia Mönch: Abschrecken oder Mitleiden. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert. Versuch einer Typologie. Tübingen 1993, S. 143-147. Das Stück wurde in Breslau am 29.1.1757 zum ersten Mal aufgeführt. Einzelanalysen des in sich heterogenen Predigtschrifttums liegen nicht vor. Zitate und Ausschnitte bieten Kemmerer und (mit einem Titel) Breidert (wie Anm. 9 und 10). Ich gedenke, darauf und auf andere Bestände in einer künftigen Gesamtdarstellung einzugehen; vgl. vorläufig Anm. 27. Dazu gehören nicht nur die bekannten Werke und Äußerungen Kants, Voltaires und Rousseaus, sondern auch z. T. dickleibige Traktate wie Johann Rudolph Anton Piderit: Freye Betrachtungen über das neuliche Erdbeben zu Lissabon und andern Oertern welches zugleich nach den notwendigsten Umständen beschrieben wird. Marburg 1756. Zusammenfassend dazu, ohne größeren literaturgeschichtlichen Anspruch, Harald Weinrich: Literaturgeschichte eines Weltereignisses: Das Erdbeben von Lissabon. In: Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Stuttgart u.a. 1971, S. 64-76; ders.: Voltaire, Hiob und das Erdbeben von Lissabon. In: Aufsätze zur Portugiesischen Kulturgeschichte 4 (1964), hg. von Hans Flasche. Münster 1966 (Portugiesische Forschungen der Görresgesellschaft, Erste Reihe, 4. Band), S. 96-104; Uwe Steiner: Voltaire oder der Optimismus. Zu einigen philosophischen und poetischen Aspekten von Voltaires Gedicht über das Erdbeben von Lissabon. Mit einer Neuübersetzung von Voltaires >Poème sur le désastre de Lissbonnegeistliche< Angelegenheit war, also der Theologie in Form der praktischen Seelsorge zufiel und sich mit Anliegen der christlichen Apologetik überschnitt. b) Indem der Weg verfolgt wird, der von der Nachricht binnen kurzem zum publizistischen Bericht oder zum poetischen, geistlichen und philosophischen Werk führte, ergibt sich, wie angedeutet, ein funktionsanalytisch aufschlußreiches Spektrum literarischer Kanäle, Schreibmuster und Gattungen, das in seinem Querschnittscharakter das > literarische Leben< zu einem genau abgrenzbaren Zeitraum repräsentiert. Die diachrone Perspektive der Literaturgeschichte wird so, wie schon öfter gefordert, in einen präzisen - weil thematisch zentrierbaren - synchronen Beobachtungszeitraum überfuhrt. Damit werden im Rahmen eines limitierten Textcorpus Gesichtspunkte der Rezeptions- und Traditionsgeschichte verknüpft mit der Frage nach der Kongruenz und Differenz literarischer Teil->Systeme< innerhalb der Schriftkultur des 18. Jahrhunderts. Es zeigt sich, daß der typologische Querschnitt durch zeitlich kongruente, jedoch final und funktional differenzierte literarische Artikulationsmuster auf nichts anderes verweist als auf Konstanz und Wandel, Aneignung und Abbau, Stabilität und Instabilität vorgängiger Selbstverständlichkeiten, damit auf die Komplexität des geschichtlichen Prozesses selbst. c) Gegenüber kurrenten Reduktionsformen sind synchrone Lagerungen und diachrone geschichtliche Prozesse als Differenzierung und Pluralisierung von Diskursen und Thematisierungsinteressen zu beschreiben und zu verstehen. Die so in den Vordergrund tretende Darstellungsrichtung löst teilweise Verständnismodelle auf, in denen Geschichte als bloße Folge von Verabschiedungen des Vergangenen erscheint. Für den Komplex Erdbeben von Lissabon< erscheint diese veränderte Sichtweise besonders dringlich. Denn in Anlehnung vor allem an Goethe und Voltaire stand in der kaum berücksichtigend Thomas Downing Kendrick: The Lisbon Earthquake. London 1956; ferner neben den erwähnten Titeln von Kemmerer (wie Anm. 10) und Breidert (wie Anm. 9) nun die einführende Darstellung von Horst Günther: Das Erbeben von Lissabon erschüttert die Meinungen und setzt das Denken in Bewegung. Berlin 1994 (Wagenbachs Taschenbuch 235); speziell zu Voltaire s. Theodore Besterman: Voltaire et le désastre de Lisbonne: ou, La mort de l'optimisme. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century. Ed. Th. Besterman. Bd. 2. Genf 1956, S. 7-24; zur deutschen Rezeption noch lesenswert Heinrich August Korff: Voltaire im Deutschland des XVIII. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe. 2 Halbbde. Heidelberg 1917 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Heft X/XI), Bd. 1, S. 207-235; ferner Corrado Rosso: Kant, Voltaire, optimisme et tremblement de terre. In: Voltaire und Deutschland. Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der Französischen Aufklärung. Internationales Kolloquium der Universität Mannheim zum 200. Todestag Voltaires, hg. von Peter Brockmeier u.a. Stuttgart 1979, S. 373-383.

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Wilhelm Kühlmann

vergleichsweise spärlichen - Forschung" bisher nur ein Gesichtspunkt zur Debatte: der einer markanten Revision des »aufklärerischen Optimismus«. Mit gewissem Recht: Denn in der Tat bot die Lissaboner Katastrophe Anschauungsmaterial für die Diskussion eines Welt-, Gottes- und Menschenbildes, das seit Leibniz' Essais de Théodicée (1710) und Popes Essay on Man (1733/34) vielen überzeugend kodifiziert erschien. Insofern traf es sich mit gleichsam historischer Prognostik, daß ausgerechnet im Jahre 1755 von der Berliner Akademie der Wissenschaften Popes »System« zur »Preisfrage« ausgeschrieben wurde, wozu dann namhafte Autoren wie Gottsched, Lessing und Mendelssohn scharfsinnige Beiträge einreichten.16 Das Lissaboner Beben war also dazu geeignet, im Feld der philosophischen Meinungen Positionen zu beglaubigen oder in Frage zu stellen, denen bereits öffentliche Bedeutung zugesprochen war. In der Signatur eines moralisch indifferenten, ja alle Gesetzlichkeit, Perfektion und normative Zuverlässigkeit auflösenden Naturgeschehens schien der Nerv von Überzeugungen getroffen, die sich gerade erst in Kategorien des Naturgesetzlichen, des Natürlich-Vernünftigen und Natürlich-Moralischen von älteren theologischen Axiomen und Begründungsstrategien distanziert hatten. Die Ausstrahlung der diesbezüglichen, mit dem Theodizee-Problem stichwortartig zu rekapitulierenden Diskussion ist unbestreitbar, trifft jedoch keineswegs die ganze Bandbreite des Katastrophen-Diskurses. Zu wenig wurde bisher bedacht, daß die Naturkatastrophe in ihren Folgen zugleich eine Ausnahmesituation des menschlichen Miteinanders darstellte, in dem jenseits kultureller und zivilisatorischer Überformungen die Frage nach der Reichweite moralischer und anthropologischer Maximen, Sinnforderungen oder Postulate zu überprüfen war. Es verdient Aufmerksamkeit, daß ebenfalls etwa zeitgleich mit den Lissaboner Ereignissen in Leipzig Francis Hutchesons Sittenlehre der Vernunft erschien, von Lessing übersetzt, und damit das

15

»Spärlich« nenne ich die in Anm. 14 genannte Forschung in der Hinsicht, daß nur die Dissertation von Kemmerer (wie Anm. 10) einen einigermaßen hinreichenden Eindruck von der Breite und Tiefe der deutschen Lissabonpublizistik ermöglicht. Das Buch von Breidert (wie Anm. 9) enttäuscht, insofern es großenteils Bekanntes abdruckt (z.B. die Aufsätze von Kant), enthält jedoch eine nützliche Bibliographie. Vgl. Peter Michelsen: Ist alles gut? Pope, Mendelssohn und Lessing. In: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Würzburg 1990, S. 43-69; eine zusammenfassende Darstellung der deutschen Pope-Rezeption des 18. Jahrhunderts konnte ich bisher nicht finden; die Literatur ist (unter Einschluß der Übersetzungen) zusammengestellt im Vorspann der Edition: Alexander Pope. Vom Menschen. Essay on Man. Englisch-deutsch, hg. von Wolfgang Breidert. Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek, Bd. 454).

»Laßt mein Antlitz heiter seyn«

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Programm der natürlichen Sittlichkeit - wie etwa gleichzeitig bei Geliert" ebenso nachdrücklich verkündet wurde wie (mutatis mutandis) in Rousseaus Discours sur l'origine et les fondemens de l'inégalité parmi les hommes (1755)." Die von der Naturkatastrophe betroffene Sozietät oder Mentalität aber sah sich auf dem Wege empfindsamer >Codierung< von Tugendpostulaten mit ihrem eigenen vorzivilisatorischen Potential konfrontiert, und in dieser Herausforderung lag einer der Antriebe für die Ausdifferenzierung von Diskursen abseits der Theodizee-Problematik, lag auch ein wichtiger Anstoß, das Unerhörte der Katastrophe mit literarischer Phantasie zu gestalten und zu problematisieren. Nicht der naturkundliche oder naturphilosophische, auch nicht der theologische Diskurs allein bestimmte die literarische Bewältigung des Lissaboner Geschehens, sondern auch der anthropologische und moralische Diskurs - und dies in jeweils zu beobachtender Interferenz und textbzw. gattungsgebundener Disposition. Diese vorläufigen Thesen und Beobachtungen, die beim Studium fast uferlos scheinenden Quellenmaterials gewonnen wurden (hier unmöglich auszubreiten oder auch nur bibliographisch zu erfassen), möchte ich in meinem Vortrag anhand eines formal qualifizierten Textcorpus erproben und illustrieren: anhand ausgewählter Versdichtungen in der Spannweite zwischen populärer Tagespublizistik, frommer Odendichtung und eben dem philosophischen Gedicht Uzens. Die sich zwischen Voltaire und Rousseau eröffnende Kontroverse wird dabei ebenso ausgespart wie angrenzende Textsorten (Lehrepik, Publizistik, geistliche Literatur usw.). Beigegeben ist ein

17

Vgl. die posthume Ausgabe: C. F. Gellerts Moralische Vorlesungen. 2 Bde, hg. von Johann Adolf Schlegeln und Gottlieb Leberecht Heyern. Leipzig 1770, hiemach zitiert; Neuausgabe: Moralische Vorlesungen. Moralische Charaktere, hg. von Sybille Späth. Berlin New York 1992 (Gesammelte Schriften, Bd. VI). Zur Wirkung Hutchesons und Rousseaus im Kontext s. Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980, spez. S. 25-33; das anthropologische und moralistische Interesse äußerte sich beiläufig auch in Kants Aufsatz über die »Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigen Vorfalle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Teil der Erde erschüttert hat« (hier nach dem Abdruck bei Breidert, wie Anm. 9, S. 108-136, spez. S. 111): »Alles, was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muß man zusammennehmen, um das Entsetzen sich einigermaßen vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie her einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Furcht des Todes, die Verzweiflung wegen des völligen Verlusts aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Mut niederschlagen. Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können. Allein ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen. Ich beschreibe hier nur die Arbeit der Natur, die merkwürdigen natürlichen Umstände, die die schreckliche Begebenheit begleitet haben, und die Ursachen derselben.« Möglicherweise wurde von diesem Passus gerade Kleist inspiriert.

Wilhelm

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Kühlmann

Anhang (TA mit bibliographischen Nachweisen), der (neben den zitierten Texten) die behandelten Exempel z u m Abdruck bringt (mit beigefügter Zeilenzählung) und auch einen ersten Eindruck v o n den zahlreichen Flugblättern und Kupferstichen vermittelt, die bald nach der Katastrophe auf den Markt geworfen wurden.

Π. Johann Peter U z ' Gedicht Das Erdbeben

(TA 7) erschien zuerst 1768 in der

erweiterten Neuausgabe seiner »poetischen Werke«." Indem Titel und Text den bestimmten Hinweis auf Lissabon ganz aussparen und U z das Faktum der Katastrophe summarisch nur am Anfang konstatiert, deutet sich ein v o m gegebenen Anlaß distanzierter Standpunkt der Reflexion an. Offenkundig war es nicht das ferne Unglücksgeschehen, sondern das später v o n Goethe so trefflich apostrophierte publizistische Stimmengewirr, 20 das U z zur Feder greifen ließ. Erst nach der Fülle erster Veröffentlichungen setzte der Dichter

"

20

Wie die anderen Werke Uzens hier zitiert nach: Sämtliche poetische Werke von J. P. Uz, hg. von August Sauer. Stuttgart 1890 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Nr. 33-38). Die berühmte Passage aus »Dichtung und Wahrheit« (1. Buch) stellt eine weitgehend noch uneingelöste Aufforderung an den Literaturwissenschaftler dar (hier nach Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz. München 91977, Bd. Di: Autobiographische Schriften I, S. 30: »[...] um desto größer war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch verbreiteten. Hieraufließen es die Gottesfurchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. So vieles zusammen richtete die Aufmerksamkeit der Welt eine Zeitlang auf diesen Punkt [...]«. Die Spannweite autobiographischer Darstellungsstrategien wird illustriert durch Casanovas Bemerkungen (am Ende seiner Flucht aus den Bleikammern von Venedig): »Lorenzo kam gerade mit zweien seiner Leute aus meinem Kerker, als ich sah, wie der ungeheure Balken zwar nicht schwankte, aber sich nach der rechten Seite hin drehte und kurz darauf mit einer entgegengesetzten, langsamen, ruckweisen Bewegung wieder in die alte Lage zurückkehrte; da ich zu gleicher Zeit fühlte, wie ich meinen Stand verlor, war ich überzeugt, daß es ein Erdbebenstoß gewesen war, und die verblüfften Büttel meinten das auch. Da mich freudige Gefühle über dieses Phänomen bewegten, äußerte ich kein Wort. Vier oder fünf Sekunden später wiederholte sich die Bewegung, und nun konnte ich mich des Rufes nicht enthalten: >Un' altra, un' altra, gran Dio, ma più fortes (Noch einer, noch einer, lieber Gott, aber stärker)! Die Büttel erschraken darüber, da sie es als Frevel eines verzweifelten Narren und Lästerers ansahen. Sie flohen schreckerfüllt. Als ich später darüber nachdachte, wurde mir klar, daß ich den Einsturz des Dogenpalastes als Mittel zur Wiedergewinnung meiner Freiheit zu den möglichen Ereignissen zählte; der niederbrechende Palazzo hätte mich ohne den geringsten Schaden gesund, heil und frei auf das gute Pflaster des Markusplatzes werfen sollen. So verrückt begann ich zu werden. Der Stoß kam von dem gleichen Erdbeben, das in diesen Tagen Lissabon zerstörte«. Zitiert nach: Giacomo Casanova. Geschichte meines Lebens, hg. von Erich Loos. Bd. IV. Berlin 1965, S.240.

»Laßt mein Antlitz heiter seyn«

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an zu einer lyrisch-polemischen Selbstverständigung, in der gerade das verworfen wird, was in dem auf Lissabon bezogenen Schrifttum zumeist im Mittelpunkt stand: die Aufforderung zur religiösen Revision legitimer Glücksansprüche und einer in moralisch-autonomer Selbstgewißheit definierten Existenz. Faktur und Gedankenwelt der Uzschen Verse gewinnen ihr durchaus markantes Profil, stellvertretend für seine philosophische Lyrik überhaupt, im Kontrast zu thematisch analogen, intentional jedoch weit entfernten Gedichten, die zum Vergleich reizen. Dabei ist zu beachten, daß im Gegensatz zu Uzens zunächst nicht publizierter, also im privaten Raum verharrender Dichtung das überwiegende Quantum vergleichbarer Zeugnisse im mittelbaren oder direkten publizistischen Verbund mit der aktuellen Berichterstattung stand, diese teilweise vertrat oder explizit poetisch rekapitulierte. Uzens Erdbeben-Gedicht erweist sich (besonders im zweiten Teil) als sprecherbezogen, nicht wie die thematisch analoge Versproduktion als adressatenbezogen. Versucht man, einen Überblick über die einschlägigen Bestände zu gewinnen, können untereinander und von Uz' Poem unterschieden werden: a) Gedichte, die in Zeitungen und Zeitschriften neben oder nach einer Serie von Korrespondentenberichten erschienen bzw. zumindest erkennbar darauf anspielten und das dort Referierte noch einmal nach Maßgabe rhetorischer Evidenz vergegenwärtigten;21 b) Einzeldrucke, die im Verband mit rasch hergestellten Kupferstichen (s. TA Nr. 1 und 2), also als Text-Bild-Kombination, auf den Markt geworfen wurden und visuelle Anschauung mit appellativen Kommentaren unterlegten; hier vertreten (TA Nr. 3) durch ein höchst dilettantisches Machwerk, das vielleicht als frühe poetische Fingerübung des blutjungen Christian Friedrich Daniel Schubart (1739 - 1791) anzusprechen ist; c) Einzeldrucke in der mentalen und formalen Tradition des als Texttypus weit in die Vergangenheit zurückweisenden >ZeitungsliedesRömerode< (carm. 3,3,7) bildet das verborgene Fazit der Uzschen Verse, und wenn Ramler von »wir« spricht, mag man mit Fug darüber meditieren, für wen denn außer für sich selbst Uz in seinen Versen das Sensationsthema des Tages aufgreift. Schon die merkwürdige, auch sonst von Uz gelegentlich verwendete Strophenform fallt auf: vier Verse, kreuzweise gereimt in wechselnder Kadenz, zusammengesetzt aus je zwei Verspaaren, die den jambischen Alexandriner (Trimeter) mit einem Vierheber (Dimeter) verkoppeln. Also eine Strophe, die Horazens geläufigstes Epodenmaß zur Strophe formt und damit vielleicht den polemischen Gehalt signalisiert, den gleich die erste Strophe unmißverständlich andeutet. Uz vermeidet es hier, wider »Trübsal« und die von Ramler bekundete Lissabon-»Melancholie« jenen Glauben an die göttliche Weltordnung anklingen zu lassen, wie sie sein einige Zeit vorher entstandenes Lehrgedicht über die

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In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, hg. u. eri. von Carl Schüddekopf. 2 Bde. (Bd. 3 nicht ersch.). Tübingen 1906-07 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 242, Bd. 244), Bd. 2, Nr. 275, S. 228; zum Lissabon-Geschehen ist von Uz, wenn ich recht notiert habe, im gedruckten Briefwechsel nur eine Äußerung überliefert: »Wir haben den 9. Nov. [1755] gegen 3 Uhr einige Stöße von einem Erdbeben gehabt, die aber nicht so fürchterlich und verderblich gewesen, als zu Lissabon und Lima. Denn die Erdbeben scheinen nur den reichen Städten gefahrlich zu seyn. Hat Römhild nichts empfunden?» In: Briefe von Johann Peter Uz an einen Freund aus den Jahren 1753-82, hg. von August Henneberger. Leipzig 1866, S. 68 (Brief vom 18.12.1755).

Wilhelm Kühlmann

124 Leibnizsche Theodicee

feierlich bekräftigt hatte." A u c h philosophisch m o -

dernisierte Formen des geistlichen Lieds bleiben außer Betracht. Gleim, der Freund, stimmte sich darin auf den alten Wir-Ton des Gemeindegesangs ein, als er Nach dem Erdbeben

zu Lissabon

auf seine Art Gottes Zuverlässigkeit

verkündete: 54 Nach dem Erdbeben zu Lissabon. Lasst den Staub erbeben, Gott ist unser Hort! Aus dem Tod' in's Leben Gehn wir alle fort! Auf der Wesen Leiter In die Ewigkeit, Gehn wir täglich weiter Zur Vollkommenheit. Furcht und Schrecken tödten; Weg das Angstgeschrei; Denn in allen Nöthen Steht der Herr uns bei! Erde! hör, ich singe, daß es wiederhall' In Satumus Ringe: »Gott ist überall!« Erde! hör, ich singe: »Der dich beben laesst, »Der hält alle Dinge, »Staub und Sonne fest!« »Der die Erde beben »Und im Gleichgewicht »Lässt die Sonne schweben »Der verlässt uns nicht!«

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Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 19, S. 135-145; dazu Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974 (Germanistische Abhandlungen, Bd. 43), S. 32ff. U.Ö.; die Literatur zur philosophischen und literarischen Problemgeschichte ist uferlos; verwiesen sei hier nur auf Thomas P. Saine: Von der Kopernikanischen bis zur Französischen Revolution. Die Auseinandersetzung der deutschen Frühaufklärung mit der neuen Zeit. Berlin 1987. J. W. L. Gleim: Sämmtliche Werke. Erste Originalausgabe aus des Dichters Handschriften durch Wilhelm Körte. Halberstadt 1811. Leipzig 1841, Repr. Hildesheim, New York 1971; hier Bd. 7, Halberstadt 1813, S. 183-185.

>Laßt mein Antlitz heiter seyn«

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»Der durch Sturm und Winde »Mit Geschöpfen spricht, »Brausend und gelinde, »Der verlässt uns nicht!« »Alles, Tod und Leben, »Ist durch Gottes Wort! » L a s s t den S t a u b e r b e b e n ! » G o t t ist u n s e r H o r t ! «

Wie Uz wehrt sich auch Gleim gegen »Furcht«, »Schrecken« und »Angstgeschrei«. Irdische Vervollkommnung, Grundpostulat der Wolffschen Philosophie," geht hier in Jenseitshoffiiungen über. Selbst die erschütterte »Erde« kann besungen werden, weil noch jene vor allem im Zeichen Newtons proklamierte kosmische Harmonie Überzeugungskraft besaß, die es zum Beispiel Brockes erlaubt, das Thema >Erdbeben< ganz ohne Glaubensanfechtungen in geophysikalischen Betrachtungen zu entfalten." Gewiß, als Dichter verfugte auch Uz durchaus über die Register geistlicher Bußgedanken, doch sein Poem über Die Strafgerichte Gotteswohl später entstanden, läßt das malum physicum der Natur fast ganz in jenem malum morale aufgehen, das sich dem Betrachter auch in den Erfahrungen des Siebenjährigen Krieges darbot. Aussagen, die in unserem Gedicht lebensweltliche Relevanz annehmen, bedürfen offensichtlich nicht des theologischen Beistands, konstituieren sich abseits frommer Rückbesinnung. Hier rückt wie in weiten Teilen des Uzschen Œuvres Moralisches, rückt die Verbindlichkeit von Tugendhaltungen, die Konsequenz sittlicher Entscheidungen, rücken einige wenige Maximen der Lebensführung in den Mittelpunkt. Sie tragen das Gepräge sittlicher Autonomie und Ataraxie, wie sie - als >Handlungstheorie< durchaus elitär -

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So etwa in Chr. Wolff: Vernünfftige Gedancken, wie Anm. 47, S. 42: »Weil das Gesetze der Natur unsere und anderer Menschen Vollkommenheit, so wohl was den inneren, als den äussern Zustand betrifft, erfordert (§ 19); so ist die Tugend eine Fertigkeit sich und andere Menschen, ingleichen seinen und anderer Menschen äusserlichen Zustand so vollkommen zu machen als möglich ist.« Vgl. die Beschreibung des Erdbebens als Ensemble physikalischer Phänomene in B.H. Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Nachdruck der Ausg. Hamburg 1738. Mit einem Nachwort von Dietrich Bode. Stuttgart 1965 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des achtzehnten Jahrhunderts), S. 572-575 unter dem Titel »Die Erde« (S. 565-589). Gedankenfiguren hermetischer Naturspekulationen verbinden sich hier mit der auch sonst dominierenden, sozusagen klassischen Erdbebentheorie in der Deszendenz von Aristoteles (Meteorologie 2,7f.), Seneca (Naturales Quaestiones 6,3ff.) und Athanasius Kircher SJ (Mundus subterraneus 1665 u.ö.!). Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 19, S. 197-199. Hier neben dem Erdbeben und dem Krieg auch die »Gräuel« gesellschaftlicher Mißstände (Unterdrückung der »Armen« usw.) herausgestellt.

Wilhelm

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in der antiken Lebensphilosophie formuliert waren, die nicht nach den Zehn Geboten als >theonomer Sollensethik< fragte, sondern nach den Bedingungen und sittlichen Implikationen des individuellen Glücks.58 Unter den Dichtern war es vor allem Horaz, den Uz feierte, weil er in der philosophischen Poesie des römischen Klassikers immer von neuem jene ratio vivendi bedacht fand, die sich auf Deutsch mit Wissenschaft zu leben übersetzen ließ. Und wie in vielen Gedichten des Horaz wurden hier Freude, Weisheit und Glück durchaus vor dunklen Hintergründen rehabilitiert, auch mit dem Eingeständnis, daß sich die Welt nicht den eigenen Plänen fügt: Wir leben niemals heut! wir schieben auf, zu leben, Bis einst ein günstiges Geschick Uns ein geträumtes Glück Nach Vorschrift unsers Plans und Eigensinns gegeben. So stark herrscht überall der Thorheit alter Glaube, Als könnten wir uns nicht erfreun, Nicht weis' und glücklich seyn 59 In einem ieden Stand, im Purpur und im Staube!

Horaz vertrat für Uz wie Hagedorn und wie für manchen in Geschäften verwickelten >Weltmann< einen literarischen Individualismus, der die stoizistische Vergewaltigung natürlicher Bedürfnisse abgestreift hatte, epikureische >Lust< nach Maßgabe menschenfreundlichen Reflexion favorisierte,60 den

"

Vgl. »An das Glück« (ebd., S. 52-54), »Die Glückseligkeit« (ebd., S. 111-113); es ist wichtig, sich den außerordentlichen axiomatischen Abstand antiker und traditioneller christlicher Ethik vor Augen zu halten; zum antiken und modernen Eudämonismus s. etwa Hans Reiner: Die philosophische Ethik. Ihre Fragen und Lehren in Geschichte und Gegenwart. Heidelberg 1964, bes. S. 46-58. " Auszug aus: »Die Wissenschaft zu leben« (Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 19, S. 93-94, S. 94). 60 Die Verteidigung Epikurs gegen gängige Vorwürfe: Exemplarisch in dem »Versuch über die Kunst stets fröhlich zu seyn« (ebd., S. 215-278, S. 243): »Doch diese schwere Kunst, mit Klugheit aufzuhören, / Recht zu genießen, Freund, wird Epicur uns lehren. / Wie gut, wie bös' er sey, mag unentschieden seyn: / Die Wissenschaft der Lust gesteht ihm ieder ein« (Zweiter Brief, V. 193-196). Zur Horaz-Rezeption bei Uz s. den Beitrag von P.L. Schmidt in diesem Band. Ich spare den Komplex aus, erinnere nur an das auch für Uz materialmäßig wichtige Werk von Wolfgang J. Pietsch: Friedrich von Hagedorn und Horaz. Untersuchungen zur Horaz-Rezeption in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Hildesheim u.a. 1988 (Studien zur vergleichenden Literaturwissenschaft, Bd. 2), an den hier einschlägigen Aufsatz von Wolfram Mauser: Horaz in Halle. Johann Peter Uz und die Halleschen Dichterkreise. In: Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens [1694-1806], hg. von Günter Jerouschek u.a. Hanau u.a. 1994, S. 76-86, und meinen kleinen Essay: Die Vernunft der Musen. Ein Vorausblick auf den zweitausendsten Todestag des Dichters Horaz (zuerst in der FAZ). In: W. Kühlmann: Literarische Miniaturen, hg. von Hermann

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Sinn der privaten Existenz auszusprechen wagte und mit poetischer Eleganz auch Heilmittel gegen die Melancholie bot, die sich beim Anblick Lissabons einstellte. Nirgendwo in seinem Werk war Uz wohl so ganz bei sich, so mit sich als Denker, Dichter und Leser im reinen wie in der Assimilation Horazischer Glücksphilosophie: Besuchest du noch oft die angenehmen Musen, Im Dir bekannten Lorbeer=Hayn? Ihr Lied beruhigt unsem Busen, Und schläfert schwarze Sorgen ein. Wer wollte sie, die lächelnd lehren, Nicht wenigstens so gern, als trockne Weisen, hören? Wolf lehrt nicht kräftiger, als Flaccus, sich erfreun, Und nie nach buntem Schein, nach nichts unruhig streben, Herr über die Begierden seyn, Bey keinem Spiel des Glücks erstaunen oder beben, Genießen, was es uns gegeben, Mit einem Worte, glücklich leben."

So verwundert es nicht, daß literarisches Hantieren mit Angst und Schrecken in der Optik des Lissabon-Gedichtes zu einem Stimmengewirr gehörte, in dem Uz Ärgeres entdeckt als in der Unglücksnachricht (s. V. 3ff.). Christliche Zerknirschung, die fundamentalen anthropologischen und kosmologischen Prämissen des Uzschen Denkens entgegensteht, also die erste Welle der geistlichen Lissabon-Literatur, verrät demgemäß psycho-physische Defekte: krankhafte Melancholie und vemunftlose »Schwärmerei«. Sie gedeihen in einer Nacht des Geistes, in welcher der »Uhu« ausfliegt, um seine Erweckungsrufe ertönen zu lassen.62 Indem Uz nach und nach den Text auf die Opposition von Hell und Dunkel, Nacht und Tag polarisiert, zielt er auf dogmatische Gehalte der Bußpredigten, jenen Gehalt des »Aberglaubens«, von dem er - so andernorts - das wahre Christentum gereinigt haben möchte." Kritik des »Schwärmertums« und Streit gegen den Aberglauben

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Wiegand. Heidelberg 1996, S. 7-16; zu Uz jetzt auch Ernst A. Schmidt: Horaz und die Erneuerung der deutschen Lyrik im 18. Jahrhundert, wie Anm. 43. Aus: »An Herrn Professor Kipping in Helmstädt«. In: Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 19, S. 385-388, S. 387 (V. 76-89). Parodistisch werden hier die potentielle geistliche Applikation der Vogelallegorie und das Bewertungsschema der geistlichen Tagzeiten berufen, wie wir sie z. B. aus Grimmelshausens bekanntem Gedicht »Komm, Trost der Nacht« kennen; in älterer Andachtsliteratur ist gerade die Nacht die »Zeit zum lieben Gebet«: so ausfuhrlich bei Georg Ph. Harsdörfler: Nathan und Jotham, das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte. 2 Bde. Nürnberg 1659. Nachdruck, hg. von Guillaume van Gemert. Frankfurt/M. 1991 (Texte der Frühen Neuzeit, Bd. 4), hier Bd. I, S. 77 (»Die Gebetsstunden deß Nachts«). Gegen den Aberglauben drastisch das Gedicht »Palinodie« (Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 19, S. 131f.); vgl. auch S. 103-105, S. 104: »Die wahre Grösse« (der Weise, der Wahrheit lehrt, »wann Aberglaube schrecket«; V. 41-44).

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signieren den rationalistischen Fundus des Uzschen Denkens und berufen verbreitete Diskurse aufklärerischer Revisionsanstrengungen.64 Zugleich geht es im Anflug sarkastischen Humors um die Wirkungslosigkeit der nur momentane Erregungen ausnutzenden Literatur (Str. 3). Lasterhafte »Wollust« (V. 9), also ein falscher, von mäßigender und steuernder Ratio unbeeinflußter, besinnungsloser Affekthabitus" läßt sich zwar erschrecken, verfehlt jedoch die fraglose Koinzidenz von Glück und Sittlichkeit (V. 35!). Raufseysen legte es darauf an, den Wucherer, Repräsentanten des »Geizes«, als Satansopfer unter Lissabons Trümmern zu begraben (s.o.). Uz stellt gelassen fest, daß er »morgen wieder« (V. 12) sein Handwerk treibt. Uzens Vertrauen in die Kraft der Ratio kommt in der gedanklichen Bewegung des Gedichtes selbst zum Ausdruck. Denn dessen erste Hälfte, die den Schreibanstoß erkennen läßt, mündet in eine historisch abstrahierende Bilanz (Str. 4), welche mit Degout Verfasser und Liebhaber der Bußrufe mit dem Vorwurf mangelnder psychischer Stabilität belegt. Zugrunde liegt, pejorativ gefärbt, ein Funktionsverhältnis von Ich-Reaktionen und Zeitumständen (V. 13): die Beobachtung historischer Gesetzmäßigkeit. Im Einzugsbereich antiker levitas erscheint hier der »leichte Pöbel« (V. 14) wie auch sonst bei Uz" nicht durch soziale Markierungen ausgegrenzt, sondern durch eine bestimmte Art des vernünftigen Lebens und die rangmäßig differenzierte Fähigkeit, sich dieser >Lebensart< bewußt zu sein. Der Umgang mit Quälendem und Widrigem, das die Botschaft der »Freude«67 zu entkräften droht, setzt die Aktivierung von

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Christliche »Schwärmer« fand Uz im jungen Wieland und in dessen Züricher Mentoren, die Uz und die Anakreontiker 1751 wegen ihrer angeblichen Unsittlichkeit angriffen: s. Sämtliche poetische Werke, S. 328f., 390 u.ö.; ausfuhrlich dazu auch in den Briefen; zum Begriff des >Schwärmers< und seiner ideologischen Aufladung s. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, bes. S. 143-225; Uz bewegt sich auf jener »Mittelstraße« zwischen »Atheisterey und Aberglaube«, wie sie Martin Pott in seinem wichtigen Buch: Aufklärung und Aberglaube, wie Anm. 51, als zentrales Theorem frühaufklärerischer Kritik untersucht (bes. S. 153-192); wichtige Studien auch in: Die Aufklärung und die Schwärmer, hg. von Norbert Hinske. Hamburg 1988 (Aufklärung, Jg. 3, H. 1). Abgrenzung von wahrer und falscher Lust, gleichzeitig die moderate, reflektierte Steuerung glücksverheißender Empfindungen und >Triebe< durchziehen Uzens Werk, nach der Empfehlung (Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 19, S. 245, V. 265): »Lernt unter Lust und Lust noch feiner unterscheiden!« Die vernünftige Lebenskalkulation nach Maßgabe der Klugheit läuft darauf hinaus (ebd., S. 244, V. 225): »Drum lernt mit eurer Lust bey Zeiten hauszuhalten!« Die lateinische Semantik vieler Begriffe scheint in dieser Junktur besonders deutlich durch. )Levitasinconstantia< verbunden, tritt auf als »levitas popularis«; Uz entsprechend etwa auch Livius 24,31,14: »nam vana aut levi aura mobile volgus«. Über die von Hagedorn über Uz bis zu Schiller reichende Tradition einschlägiger Gedichte »An die Freude« (s. zu Uz: Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 19, S. 101-103

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Widerstand voraus: Widerstand gegen das, was - hier metaphorisch (V. 15f.) ausgedrückt - die auf Dauer angelegte Identität des Ich mit dem Selbstentwurf moralischer Autonomie zerstört. Uzens Ethik versteht sich als Haltungsethik, die sich in seinem Gesamtwerk nicht fraglos aus bloßen Verstandesurteilen ableiten läßt, sondern fast immer dialektisch aus der Negation verfehlter Lebenspraxis bestimmt wird. Diese und jene Formulierung klingt stoizistisch, doch wo auch immer Uz das Leitbild des Weisen ausmalen wollte, nahm er Abstand von einem Rigorismus, dem das »Herz« nichts bedeutet.68 Freilich hat in diesem Gedicht wie in der stoizistischen Tradition, und im latenten Piatonismus des Christian Wolff, Tugend immer mit Erkenntnis und mit Wissen um Wahrheit zu tun, steht demgemäß der »Thorheit« (V. 23) gegenüber. Falsche Lust als »Wollust« (V. 9) wird im Sinne rechter »Lust« (V. 21) korrigiert: Lust, die in die moralische Rechenschaft des Lebens integriert ist, die deshalb der Reflexion bedarf und die sich so als »heller Schein« (V. 22), als seelische >AufklärungFreiheit< und >Geselligkeit< (interdependente sozialpsychologische Begriffe), bestärken sie die Beobachtungen Wolfram Mausers: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750. In: Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert, hg. von Karl Eibl. Hamburg 1990 (Aufklärung, Jg. 4, H. 1), S. 6-36; dazu auch die Arbeiten von Wolfgang Martens, bes.: Geselligkeit im »Geselligen« (1748-50). In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Festschrift für Wolfram Mauser zum 65. Geburtstag, hg. von Ortrud Gutjahr u.a. Würzburg 1993, S. 173-185. Cicero, Tusc. 5,66; Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Lateinisch-deutsch mit ausfuhrlichen Anmerkungen neu hg. von Olof Gigon. 5. durchgesehene Aufl., München und Zürich 1984 (Sammlung Tusculum).

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de, sei nur am Rande vermerkt.73 Indem Uz Motive der gerade von Horaz gepflegten sympotischen Lyrik (V. 27: »Saitenspiel und Wein«) aufgreift, indem im Kreis der wissenden Leser gewiß auch die berühmten Oden nachklangen, in denen Horaz ausdrücklich den Musen Leitung und Schutz seines Lebens verdanken wollte,74 wird auch der Horazische Schluß des Gedichtes vorbereitet. Freilich ist zu beachten, daß diese Lissabon entgegengesetzte, »Freude« (V. 27) suchende und für Freude empfangliche Lebensführung nicht als faktisch gepriesen, sondern im Modus des Wünschens und Wollens (»O laßt [...], V. 25) beschworen wird. Dies gilt auch für die Korrespondenz von geselliger Emotionalität, poetischer »Lust« und dem Wohllaut, der in der Natur ertönt (Str. 8). Die Nachtigall singt hier nicht wie im 17. Jahrhundert 7 ' zum Lob Gottes, sich selbst verzehrend, sondern gehört zeichenhaft zum >amoenen< Ambiente dichterischer Selbstbesinnung. In ihr erscheint nicht das Tremendum des rächenden Gottes, sondern - durchaus anthropozentrisch - der »göttliche Gedanke« (V. 34), der die Stirn76 des Dichters auszeichnet. Die eudämonistische Entdeckung des Tugendglücks, die seelisches - hier eine beachtenswerte Korrektur - Leben (V. 35) im Modus des Genießens einbezieht, schließt postulativ (»Es müss«, V. 33) - im hyperbolisch geradezu hochgetriebenen Gegensatz zu der in Lissabon ansichtigen Vernichtung - die Gewißheit ein: »Impavidum ferient ruinae«. Ramler hatte den Vers zitiert. Uz legt ihn am Schluß seines Gedichts situationsbezogen und im Horizont der ihn überzeugenden philosophischen Anthropologie aus.77 Damit nahm er eindeutig Partei im Feld kontroverser Positionen und ihrer axiomatischen Diskurse. 73

Vgl. W. Kühlmann: »Amor liberalise. Ästhetischer Lebensentwurf und Christianisierung der neulateinischen Anakreontik in der Ära des europäischen Späthumanismus. In: Das Ende der Renaissance: Europäische Kultur um 1600, hg. von August Buck und Tibor Klaniczay. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Bd. 6), S. 165-186. Bes. Horaz, carm. 2,7; 2,13; 3,4; 4,3; wegweisend selbstverständlich carm. 2,3; Quintus Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch-deutsch. Nach Kayser, Nordenflycht und Burger hg. von Hans Färber. Neuausgabe, München 1960 (Tusculum-Bücherei). Zur kontrastiven Topik und Semantik der geistlichen Nachtigall s. zum Vergleich etwa Alois M. Haas: Geistlicher Zeitvertreib. Friedrich Spees Echogedichte. In: Deutsche Barocklyrik. Gedichtinterpretationen von Spee bis Haller, hg. von Martin Bircher und Alois M. Haas. Bern/München 1973, S. 11—48. Uz variiert positiv jene »obducta frons«, die auch Horaz bei einem Unwetter im Kreis der Freunde aufheitern will: epod. 13,1-5. Die Metonymie »Stirn« als Signum von Freiheit und Denkfähigkeit, die, freilich von Gott gegeben, auf religiös fundierte menschliche Würde und »Unsterblichkeit« ausgerichtet sind, bei Uz z.B. auch Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 19, S. 274, V. 237: »Doch wenn mit heitrer Stirn, die Glanz des Himmels krönet [...]«. Hinweise auf die zitathafte Integration des Horaz-Verses bei Albrecht von Haller (in der Ode »Die Tugend«), Hagedorn (in »Der Weise«) und bei Geliert bietet Erich Petzet: Studien zu Johann Peter Uz. Diss. phil. München. Berlin 1893, S. 26.

Jürgen Stemel

Uz ein Metaphysiker! Bemerkungen zur philosophischen Lehrdichtung des Johann Peter Uz

»Was macht Saul unter den Propheten?« Lessing und Mendelssohn fragen das 1755 in jener berühmten Abhandlung, der ich meine Überschrift abgestohlen habe Was macht Saul unter den Propheten? Was macht ein Dichter unter den Metaphysikern? Doch ein Dichter braucht nicht alle Zeit ein Dichter zu seyn. Ich sehe keinen Widerspruch, daß er nicht auch ein Philosoph seyn könne. Ebenderselbe, welcher in dem Frühlinge seines Lebens unter Liebesgöttern und Grazien, unter Musen und Faunen, mit dem Thyrsus in der Hand, herum geschwärmt; eben derselbe kann sich ja leicht in dem reifen Herbste seiner Jahre, in den philosophischen Mantel einhüllen, und jugendlichen Scherz mit männlichem Ernst abwechseln lassen. Diese Veränderung ist der Art, wie sich die Kräfte unsrer Seelen entwickeln, gemäß genug.1

Einem solchen biologisch-anthropologischen Zweiphasenmodell scheint sich die Gattungsgeschichte des Werkes von Uz (im Unterschied etwa zu demjenigen Lessings) bequem einzufügen: Aus dem studentischen Asyl im Reiche Baumgartens, der Ästhetik, der phantasierten Sinnlichkeit wird Uz in die mütterliche Bürgerwelt der Provinzresidenz zurückkommandiert. Eine zeitlang, bis in die Römhilder Jahre 1752/53 etwa, läßt sich die scherzende Muse bei Laune halten; aber dann legt sich allmählich Aktenstaub auf Arkadien, und die Berufswelt zerstört zunehmend das jugendliche Paradies (auch wenn auf dem nämlichen Tischchen, das vormittags »die Lasten juristischer Folianten und Actenbündel« bedecken, nachmittags noch »das Schönste und selbst Neuste aus dem Gebiet der schönen Wissenschaften« ausgebreitet wird2). An den Freund Johann Peter Grötzner in Römhild schreibt Uz am 3. August 1754, er habe Bacchus und Amor »gänzlich abgesagt«:

'

Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vennehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker, Bd. 6. Stuttgart 1890, S. 413. Friedrich Schlichtegroll: Nekrolog auf das Jahr 1796. Enthaltend Nachrichten von dem Leben merkwürdiger in diesem Jahr verstorbener Deutschen, 7. Jahrgang, 1. Band. Gotha 1799, S. 65-153, S. 143.

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Ich sage mich los von der muthwilligen Dichtkunst, und überlasse sie Leßingen und Ihnen, da ich hingegen der moralischen Muse, der emsthaften Uranie aufwarten will. Diese wird meinem Charakter anständiger seyn. Ich weis ohnehin nicht, wie ich in den unverdienten Credit gekommen, als ob ich Leichtfertigkeiten geschrieben. [...] Nein! diesen Ruhm des Muthwillens laße ich nicht auf mich kommen, und ich will meine grauen Haare mit Ehren in die Grube bringen.

Der Entnervte gibt endlich die lyrische Produktion ganz auf, stoppelt als Greis von 40 Jahren noch ein langatmiges philosophisches Lehrgedicht zusammen und entsagt schließlich erst privat, dann öffentlich der Poesie: Freund, einem Armen Recht zu sprechen Und, wenn die Unschuld weint, an Frevlern sie zu rächen, Ist göttlicher, als ein Gedicht! Anspach 1767, im October

endet so die Epistel An Herrn Kreiß-Steuer-Einnehmer Weiße? »Jahre und Geschäfte, die sich mit einem genauen Umgang der Musen nicht vertragen wollen, scheinen mich diesem Vergnügen je mehr und mehr zu entreißen.«' An Honoratiorenabenden hält er durch die Horazübersetzung mühsam Verbindung mit den Jugendidealen, um endlich auf fürstlichen Befehl noch an einem Ansbacher Gesangbuch zu basteln, bevor er aus dem Zeitlichen in die Ewigkeit abgerufen wird. Anreichern läßt sich diese Skizze (die absichtlich ins leicht Karikaturenhafte entglitten ist) durch Spekulationen, ob enttäuschte Liebe, die Begegnung mit der bösen Welt politischer Zänkereien absolutistischer Duodezfürsten, neuentdeckte Vorbilder, die Entdeckung des eigenen, zuvor verkannten Wesens, der Druck einer prüden Umwelt (auf die die eigene Prüderie mit sensibelster Nachgiebigkeit reagiert) oder eben einfach schwindende Vitalität die >Wende< von anmutiger Sinnlichkeit zu trockener Didaktik verursacht haben. Noch nicht die vielgerühmte Lehrode Theodicee von 1753, aber das philosophische Lehrgedicht von 1760 jedenfalls rückt nach diesem Schema in den Bereich resignativer, altersschwacher Dürre und moralischer Timidität. Wie hat Uz 1744 geschrieben?:

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Briefe von Johann Peter Uz an einen Freund aus den Jahren 1753-82, hg. von August Henneberger. Leipzig 1866, S. 39. Zu »der ernsthaften Uranie« vgl. Klopstocks Ode »Die Braut« (1749: »Ode auf die G. und H. Verbindung«); in: Klopstocks Oden, hg. von Franz Muncker und Jaro Pawel, Bd. I. Stuttgart 1889, S. 79-81. Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke, hg. von August Sauer. Stuttgart 1890 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Nr. 33-38), S. 388-391, S. 391, V. 83-85. Ebd., S. 392.

Uz ein

Metaphysiker!

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Herrsche, Gott der Fröhlichkeit! Herrsche, denn es kommt die Zeit, Die uns trübe Stirnen machet.

Einem solchen Lebenslauf in absteigender Linie hat Newell E. Warde7 die teleologische These entgegengestellt, die Anakreontik sei im Lebens- und Bildungsplan des Dichters von vornherein nur der erste, möglichst bald zu übersteigende gradus ad Parnassum und die Theodicee das Ziel eines bewußten Aufstiegs gewesen. Die Gründe scheinen sich einigermaßen hören zu lassen, etwa der Hinweis auf die letzte Strophe des 1754" erstmals gedruckten Gedichts Tempe. Uranie, »die moralische Muse«, schwingt sich dort ins Weltall (da ist natürlich vor allem an Haller zu denken); dann aber: O göttlich hoher Flug! Mein Flügel ist nicht stark genug, Sich dir auf Neutons Pfad, o Muse! nachzuschwingen. Ich will im niedern Busche singen, Wo Erato sich kühlt 9 Und Amorn lockt, mit Amom spielt.

Freilich ist denn doch sehr zweifelhaft, ob das als autobiographische Konfession der Unzulänglichkeit zu lesen ist, und jedenfalls bleibt das Lehrgedicht von 1760, der Versuch über die Kunst stets fröhlich zu seyn,m bei Warde gänzlich außer Betracht; wir können seiner Landkarte nicht entnehmen, ob Uz mit ihm ein Hochplateau erklommen hat, oder gar einen Gipfel über dem Gipfel - oder in die Mühen der Ebene herabgesunken ist, von poetischer Anschaulichkeit zu didaktischer Versmacherei. Kehren wir zunächst noch einmal in die Hallenser Studentenjahre zurück, wo Uz ja nicht nur 1740 die triumphale Rückkehr Christian Wolffs erlebte, sondern 1742 auch in dessen Kolleg über Hugo Grotius »mithielt«.11 Just zu dieser Zeit arbeitete Uz an seinem Lobgesang des Frühlings, der dann im

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Frühlingslust, ebd., S. 30f., S. 31. Johann Peter Uz and German Anacreonticism: The Emancipation of the Aesthetic. Frankfurt/M. u.a. 1978 (Europäische Hochschulschriften, Bd. 239). 8 Der Druck war am 9. Oktober 1754 abgeschlossen (Uz an Grötzner am 10.10.1754, in: Briefe von J.P. Uz, wie Anm. 3, S. 41), das Titelblatt trägt die Jahreszahl 1755. Ich beziehe mich im folgenden immer auf das tatsächliche Erscheinungsdatum 1754. 9 Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 4, S. 84-86, Str. 11. Versuch über die Kunst stets fröhlich zu seyn von J. P. Uz. >Crede mihi, res severa est verum Gaudium. SENECALyrischen Muse< zur >DichtkunstHowto boofo erwarten; schon das Seneca-Motto »Crede mihi, res severa est verum Gaudium« läßt erkennen, daß unser Lehrgedicht mit einem psychologischen Ratgeber kaum mehr zu tun hat als Uzens TheodiceeSchon die 1754 erschienenen Gedichte Die Freude (V. 30) und Empfindungen An einem Frühlings-Morgen (V. 59) hatten von dauerndem bzw. beständigem Vergnügen gesprochen. Uz weist in seiner Vorrede sogleich auf das Vorbild fur den Titel (nur zu geringen Teilen fur das Gedicht selber) hin: die Ars semper gaudendi des Jesuiten Alphonsus Antonius de Sarasa. 1618 von spanischen Eltern zu Niewpoort in Flandern geboren, hatte dieser den ersten Teil seines lateinischen Werks 1664 in Antwerpen veröffentlicht, wo er 1667 gestorben ist. Vollständig kamen die umfangreichen Traktate erst 1676 in Köln heraus,77 und diese Kölner Ausgabe hat Uz besessen,78 leider wissen wir nicht, seit wann. Der spätere Sarasa-Übersetzer von Windheim teilt uns mit, Leibniz und Wolff hätten die »schönsten und besten Urtheile von diesem Buche« gefällt.7' Unmittelbar nach dem Tode von Barthold Heinrich Brockes kam 1747 dessen Schwanen-Gesang heraus.80 Auf seinem Totenbett hatte sich Brockes noch an eine erweiternde Übertragung des 15. Traktats gemacht. Im Vorbericht des Herausgebers heißt es: »Der Herr Brockes hat von

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Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 4, S. 149f. Herbert Zeman: Friedrich von Hagedom, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Peter Uz, Johann Nikolaus Götz. In: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts, hg. von Benno von Wiese. Berlin 1977, S. 135-161, zitiert zustimmend Albert Köster (1925): »Das Lachen galt geradezu als körperliches Gesundungsmittel; Dr. Hirzel begründete die Heilkraft sogar in einer gelehrten Abhandlung, und Uz besang 1760 nach Sarasas spanischem Vorbild die >Kunst, stets fröhlich zu seinFreude< (ήδονη), was erst über das lat. >voluptas< zu >Wollust< werden konnte. Briefe, die neueste Literatur betreffend, wie Anm. 31, S. 272. Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 4, S. 213-278, 3. Brief, V. 141-144.

Jürgen Stemel

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Dabei bekennt sich Uz zu dem Eklektizismus, den Lessing und Mendelssohn dem philosophischen Dichter zugebilligt hatten. Er habe, schreibt er in seiner Vorrede, »als Dichter« Epikur von seiner vorteilhaften Seite genommen; als »ein Lehrer der Kunst stets fröhlich zu seyn« sei er ferner »berechtiget gewesen, die Tugend bloß als eine Mutter des reinesten Vergnügens anzupreisen. Diese liebenswürdige Seite ist ihr ebenso wesentlich, als vortheilhaft«.88 Die höheren Gründe der Weltweisen für die Pflicht zur Tugend habe er dagegen billig voraussetzen können. Schon das zeigt, daß Uzens Eklektizismus nicht der des philosophischen Dichters schlechthin ist, sondern der des >anakreontischen< Dichters; Uz unternimmt eine Rechtfertigung seines Lebenswerks.8' Mitten im 2. Brief verurteilt der Dichter die niederen Freuden. Schon werden die jungen Scherze und Amor unruhig und setzen zur Verteidigung an. Der Dichter: Besang ich sie [die Scherze und Freuden] nicht selbst? und bin ich nun ihr Feind? O nein! als Mensch gesinnt, such ich durch meine Lehren Die Menschheit zu erhöhn, nicht mürrisch zu zerstören. Ein zärtliches Gefühl entehrt nicht unsre Brust: 90 Der uns die Sinne giebt, verbeut nicht ihre Lust.

Darüberhinaus aber konvergiert die poetische Lizenz des Eklektizismus aufs beste mit dem Bedürfnis einer Laienphilosophie, deren Ziel nichts anderes als die bürgerliche Glückseligkeit ist; so wählt man aus und funktionalisiert, was dieses Ziel fördert; das Ziel ist vor dem Weg. Der Inhalt" (man erinnert sich: »an einem Lehrgedichte gemeiniglich das langweiligste«) ist hier nur zu streifen, zumal Uz ihn selber ja in seinen Inhaltsangaben zusammengefaßt hat. Am kürzesten in der Vorrede: zuerst die wahre Freude bestimmen, alsdann die reinen Quellen derselben bekannt machen, und hernach erst die Hindernisse des glückseligen Zustandes eines dauerhaften Vergnügens aus dem Wege räumen [...].'2

In dieser Reihenfolge also kurz: 1. Die wahre Freude: »Vergnügen ist das Wesen der Glückseligkeit, die entstehet, wenn wir alle unsere natürliche Begierden mit Vergnügen erfüllet sehen, und von allem Schmerz befreyet sind«.93 (Epikurs >WollustBuch der Seelegemeinnützig-ökonomischen AufklärungVetter< in Römhild schrieb.4' Standen bisher der Aufbau von Uzens Bibliothek sowie der Zugang zum Buchmarkt von dem von Uz selbst häufiger als eine von aller Kultur ferne Stadt eingeschätzten Ansbach aus im Mittelpunkt, so ist im abschließenden

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Uzischer Katalog, wie Anm. 7, fol. 5, Nr. 51. Schuhmann, Ansbacher Bibliotheken, wie Anm. 11, S. 202. Uz an Grötzner am 17.9.1759. In: Briefe an einen Freund, wie Anm. 31, S. 95. Vgl. Schuhmann, Ansbacher Bibliotheken, wie Anm. 11, S. 202.

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Uz an Grötzner am 14.6.1758. In: Briefe an einen Freund, wie Anm. 31, S. 84. ' Ebd., S. 84.

Die Bibliothek des Johann Peter Uz

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Teil noch einmal der bereits angedeuteten Frage nachzugehen, ob der Katalog mit den tatsächlichen Lektüren Uzens übereinstimmt. Dabei legen alle diesbezüglichen Selbstzeugnisse wie die Einschätzungen der Zeitzeugen nahe, daß Uz die Bestände seiner Bibliothek wirklich benutzt hat. Die Frage muß hier also weniger einschränkend als vielmehr ausweitend lauten, ob Uz die Texte, die er lesen wollte, auch selbst besitzen mußte, ob also seine eigene Bibliothek sein einziges Buchreservoir gewesen ist. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß nicht alle Texte, deren Kenntnis man fur Uz annehmen muß, weil sie für seine Dichtung eine Rolle spielen oder im Zusammenhang seiner Korrespondenz erwähnt wurden, auch in seinem Bücherverzeichnis genannt sind. Abgesehen davon, daß Uz nach Degens Mitteilungen sehr bereitwillig war, Bücher zu verleihen und damit andere an seinen Schätzen teilhaben zu lassen,'0 was immer auch zu einem Schwund fuhren mußte und gewisse Fehlbestände erklären kann, ist wahrscheinlich, daß Uz wiederum selbst auch Nutzer der zur Verfugung stehenden Bibliotheken in Ansbach war. Das war zum einen die Schloßbibliothek, die öffentlich zugänglich war, zum andern die Bibliothek des Gymnasiums, zu der Uz spätestens als Mitglied des Scholarchats Zutritt gehabt hat. Mit einem Dekret hatte die Vormundschaftsregentin Christiane Charlotte im Jahr 1720 die fürstliche Hausbibliothek zu einer öffentlichen Bibliothek bestimmt und ihr einen festen Etat von 200 Gulden zugewiesen. Zusätzlich wurde jedes Mitglied des Hofes zur Zahlung eines Beitrages verpflichtet, wodurch der Bibliothek weitere 350 bis 400 Gulden jährlich zuflössen; der zur Verfügung stehende Betrag war damit sogar etwas höher als der Etat der Weimarer Bibliothek in dieser Zeit." Die Gebührenordnung für die Beiträge der Hofbediensteten ist auch im Hinblick auf Uzens Stellung innerhalb des sozialen Gefüges der Residenzstadt interessant. Er hatte als Sekretär 3 Gulden zu entrichten, soviel wie auch der Rektor des Gymnasiums. Als Rat am Burggräflichen Ratskollegium und Assessor am Burggräflichen Gericht betrug der Beitrag dann 6 Gulden. Diese Gebührenordnung ist auch deshalb interessant, weil sie es erlaubt, Uz in das soziale Gefuge der Residenzstadt einzuordnen." Das Ergebnis dieses Rangvergleiches verbietet es jedenfalls, 50

Degen, Beyträge. In: Neuer Teutscher Merkur, wie Anm. 2, S. 118. Der Etat betrug dort 400 Taler. Veranschlagt man den fränkischen Gulden mit 5/6 Talern, dann sind das ca. 480 Gulden; vgl. Siegfried Seifert: »Niemand wird läugnen, daß ein Real-Catalog das Fundament einer jeden Bibliotheks-Anstalt sey«. Bemerkungen zum historischen Realkatalog der Weimarer Bibliothek. In: Historische Bestände der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu Weimar. Beiträge zu ihrer Geschichte und Erschließung. Mit Bibliographie. Hg. von Konrad Kratzsch und S. Seifert. München u.a. 1992 (Literatur und Archiv, Bd. 6), S. 55-92, S. 57. Nach der Tabelle bei Schuhmann, Ansbacher Bibliotheken, wie Anm. 11, S. 102 ist Uz damit in der gleichen Gruppe wie ein Oberamtmann oder Obrist. Darüber besteht nur noch eine Gruppe, die der Minister, Geheimen Räte etc.

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Ernst Rohmer

Uz - wie durchaus geschehen - als einen mittellosen, armen Poeten à la Spitzweg aufzufassen." Der Ausbau der Schloßbibliothek zu einem Mittel höfischer Repräsentation wurde vergleichsweise energisch betrieben. Interessante Bestände vor allem der Klöster und Stadtkirchen aus dem gesamten Territorium wurden nach Ansbach befohlen, Bücher aus Nachlässen oder dem Buchhandel angekauft und die Katalogisierung der Bestände in Angriff genommen. Zu einem der beiden Hofbibliothekare ernannte man im Jahr 1732 Gottlieb Paul Christ, einen Bruder des Leipziger Professors Johann Friedrich Christ, der als Begründer der Archäologie gilt, vor allem aber eine bedeutende Rolle für die deutsche Anakreon-Rezeption gespielt hat." Anders als seine Vorgänger ging Christ daran, planmäßig einen Ausbau der Bibliothek durch Ergänzungskäufe und Neuerscheinungen zu betreiben." Mit diesem Hofbibliothekar pflegte Uz vertrauten Umgang; mehrfach sind Gedichte Uzens an Christ gerichtet. Christ, der zweimal Gelegenheit gehabt hatte, England zu bereisen, soll in Uz auch das Interesse an der englischen Literatur geweckt haben. In dem Christ zugeeigneten poetischen Brief aus dem Jahr 1754, der die Anglophilie Christs anklingen läßt, nimmt Uz freilich noch eine sehr distanzierte Haltung zur Dichtung der Briten ein, die ihm »von einem göttlichen Feuer begeistert« zu sein schien, was dazu führe, daß ihre »Schönheiten ungemein« seien, »ihre Fehler nicht minder«.56 Bei der ihnen gemeinsamen Liebe zu den Büchern und dem intensiven Austauch darüber war er gewiß aus erster Hand über Anschaffungen in der Schloßbibliothek informiert und hatte keine Schwierigkeiten, an die von ihm gewünschte Literatur zu gelangen. Ein schönes poetisches Zeugnis dieser gemeinsamen Liebe zur Literatur ist der versifizierte Brief Uzens, in dem der Verfasser einen knappen Durchgang durch die deutsche Literatur seit Martin Opitz unternimmt. Das Werk spielt in seiner Mischung aus Versen und vermittelnden Prosapassagen auf Formtraditionen der Schäferdichtung an; es dürfte zu Beginn der Bekanntschaft zwischen Uz und Christ entstanden sein, denn der Dichter läßt darin anklingen, daß sein Adressat über Dritte - es wird wohl Christs Bruder in Leipzig gewesen sein - von dem Ansehen unterrichtet worden sei, in dem seine Poesie außerhalb Ansbachs stehe. Verse, die Christ auf Grund dieser Information verfaßt hat, lassen Uz nun - wie er vorgibt - in Träume-

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Das Mißverständnis hält sich in den Biographien Uzens seit Schlichtegrolls »Nekrolog« hartnäckig; vgl. dazu E. Rohmer: Einfuhrung, in diesem Band. Dazu Herbert Zeman: Die deutsche anakreontische Dichtung. Ein Versuch zur Erfassung ihrer ästhetischen und literarhistorischen Erscheinungsformen im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1972 (Germanistische Abhandlungen, Bd. 38), S. 89-96; Christ unternahm vor allem einen ersten Versuch der (Prosa-)Übersetzung der Anakreonteen ins Deutsche. Schuhmann, Ansbacher Bibliotheken, wie Aran. 11, S. 129. Sämtliche poetische Werke, wie Anm. 30, S. 367.

Die Bibliothek des Johann Peter Uz

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reien versinken, bei deren Gelegenheit ihn die Muse auf den Parnaß fuhrt. Diese spricht ihn an: Ich selbst will dich durch dieses Heiligthum begleiten: ich will dir die Vornehmsten deines Volkes zeigen, die, nebst andern, auf dem von Opitz gebahnten Wege beharret, und sich eine Stelle bey den Lieblingen der Musen erworben haben. Sieh! Opitz steht voran: Sein Geist kennt keine Schranken: Natur ist, was er denkt, und was er schreibt, Gedanken. Er sang, unsterblicher Gesang! Beseelt von einem sanften Feuer, Noch rauh, doch männlich schön, in seine neue Leyer: Da dessen flüchtig Lied, der bis zum Tigris drang, Oft kühner, öfter schwach erklang. Wie richtig sprach, wie edel dachte Der weise Hofmann an der Spree, Um den, in Blumbergs weichem Klee, Ein wohlgezogner Satyr lachte! Sieh einen Menschenfreund, um reicher Elbe Strand, Von reger Phantasie entbrannt, Sein irdisches Vergnügen mahlen, Wo doch der übereilten Hand Manch schwacher Zug entwischt, oft falsche Farben prahlen."

Steht diese poetische Selbstvergewisserung über Gemeinsamkeiten des literarischen Geschmacks hinsichtlich der Literatur von Opitz bis Brockes am Beginn der Beziehung, so ist der an Christ gerichtete 3. Brief des Versuchs über die Kunst stets fröhlich zu seyn nicht zuletzt auch ein Dokument für die enge Verbindung zwischen diesen beiden gelehrten Lesern.58 Was der Freund fur Uzens Zugang zu den Büchern der Schloßbibliothek bedeutete, kann man aus dem noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts ungebrochenen Nachruhm Christs erschließen. Heinrich Christoph Büttner hob in seiner 1807 publizierten Geschichte der Ansbachischen Schloßbibliothek und des Münzkabinets hervor, Christ sei ein wandelnder Katalog seiner Bibliothek gewesen.59 Während die Schloßbibliothek vor allem wegen der historischen Literatur und vielleicht noch wegen der Werke französischer Dichter für Uz von Bedeutung war, hat er in der Bibliothek des Gymnasiums die Texte der antiken Autoren benutzen können. Die dortige Büchersammlung war aus den Nachlässen ehemaliger Lehrer entstanden und umfaßte 1771 circa 800 Bände, darunter vor allem Ausgaben der für den Latein- und Griechisch-Unterricht

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Ebd., S. 362-373: An Herrn Hofrath C*, S. 365f. Ebd., S. 247ff., vgl. v.a. V. llf.: »gelehrter Ch*, mein Lehrer und mein Freund, / Der eine Weisheit liebt, die nicht bloß Weisheit scheint«. Vgl. Schuhmann, Ansbacher Bibliotheken, wie Anm. 11, S. 129.

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Ernst Rohmer

wichtigen Schriftsteller. In diesem eben genannten Jahr 1771 wurde die Aufsicht über das Gymnasium vom Konsistorium auf das neu gegründete Scholarchat übertragen. Dem Gremium gehörten fünf Scholarchen an, von denen allerdings nur Uz und der geheime Assistenzrat Johann Friedrich Lösch gesundheitlich in der Lage waren, ihre Aufgaben zu erfüllen. Lösch nutzte seine Stellung am Hof, um in Bettelbriefen an alle nur erdenklichen Adressaten um die Überlassung von Büchern zu bitten, so daß die Bibliothek vierzehn Jahre später 3000 Bände umfaßte.60 Die Beziehungen Uzens zu Lösch waren nicht nur beruflicher Art. Auch hier, wie bei Christ, führte das gemeinsame Interesse an Büchern zur Freundschaft, die Uz seinem Studienfreund Gleim gegenüber auch andeutete." Wie sehr Uz dem Gymnasium und seiner Bibliothek verbunden war, kommt durch nichts besser zum Ausdruck als durch die Absicht, daß Teile der eigenen Büchersammlung dieser Einrichtung übergeben werden sollten.

Zusammenfassend ist festzustellen: Die Bibliothek des Johann Peter Uz ist in der Gestalt, wie sie uns durch den Nachlaßkatalog überliefert ist - ein repräsentatives Beispiel weniger für den Buchbesitz eines Dichters als vielmehr den eines in ästhetischen und speziell poetologischen Fragen ungemein interessierten und engagierten Juristen. Dies läßt sich aus ihrem inhaltlichen Aufbau und den ermittelbaren Zeiträumen ihres Wachstums ableiten. Der zeitliche Abstand, der damit zwischen Uzens eigenem poetischen Wirken und dem zielstrebigen Aufbau seiner Bibliothek besteht, mindert den Wert des überlieferten Kataloges für die literaturgeschichtliche Forschung nicht, liegen doch rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen inzwischen im Blickfeld gerade auch der Forschung zur Aufklärung. Der Aufklärer Uz als Leser und Teilhaber an dem literarischen Gespräch der Zeit, auch fern von den Zentren der Aufklärung, kann an seinem Buchbesitz hervorragend untersucht werden. Dazu müssen freilich ergänzend alle feststellbaren Anspielungen in Uzens eigenem literarischen Werk auf ihm bekannte Dichtung wie auch alle Äußerungen Uzens aus seinen Briefwechseln herangezogen werden, die Hinweise auf Lektüren enthalten. Denn es gehört zu den Eigenheiten der Lesezirkel jener Zeit, daß man sich gegenseitig zu den gewünschten Büchern verhalf und die bestehenden öffentlichen Einrichtungen nutzte. Die von Uz bedichtete, und allem Anschein nach auch gelebte, Distanz zur höfischen

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Ebd., S. 168f. Uz an Gleim am 24.11.1764. In: Briefwechsel, wie Anm. 8, Nr. 117, S. 355.

Die Bibliothek des Johann Peter Uz

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Welt ist nicht gleichzusetzen mit einem Verzicht auf die Nutzung der sich durch sie bietenden Chancen auf Teilhabe an dem literarischen Gespräch der Zeit.

Kurt Wölfel

Über Johann Peter Uz - und August von Platen Zur 200. Wiederkehr ihres Todes- und Geburtstages1

Widersprüchliches, so scheint es, ist durchaus nicht darauf aus, sich zu fliehen; es zeigt sich eher von geselliger Art, denn gar nicht selten kommen sie, das Widersprechende und das Widersprochene, Hand in Hand, als wären sie ein einträchtiges Paar, einher. Jedermann weiß, oder spricht davon, daß unsere Zeit ein verkümmertes Geschichtsbewußtsein habe; aber zugleich ist der Brauch, Gedenktage und Jubiläen zu feiern, also Vergangenes zu erinnern, geradezu institutionell geworden. Sehen wir von dem Kompensationstheorem ab, das neuerdings eine Art von diensthabender Erklärung für die gemeinsam auftretenden, aber nicht recht zusammenpassenden Dinge ist, dann scheint es sich bei diesen Gedenktagsfeiern vor allem um ein Phänomen zu handeln, das man als Magie der runden Zahl bezeichnen kann. Wollten wir versuchen, uns bis zu dem eigenartigen Grund zurückzutragen, aus dem diese Magie ihre Wirkmächtigkeit gewinnt, wir kämen wohl weit in die Tiefe menschlicher Geschichte und Kultur, bis zu den mythischen Kulten und ihren Riten, die sich aus früher Himmels-, d.h. Sternenkunde und Zahlenmagie speisten. Davon ist in unserer profanisierten Welt wenig mehr übriggeblieben, aber doch die genannte »runde Zahl«, in deren Rundheit, formalisiert und unkenntlich geworden, das ehemals mythisch-sakrale Wesen der Sache sich noch birgt, verbirgt. Damit sie aber keine bloße, leere Formalität sei, gesellt sich zur Zahl eine Gesinnung: sie will das zu erinnernde Vergangene würdigen als etwas, das, auf welche Weise auch immer, mit der eigenen Gegenwart noch verbunden ist - vergangen, aber nicht verschwunden. Eine Zahl von besonderer Rundheit ist es, die uns hier zusammengeführt hat und diese Rede veranlaßt: vor zweihundert Jahren, 1796, ist in dieser Stadt Ansbach ein Dichter gestorben und ein anderer geboren. Der Verstorbene, Johann Peter Uz, lebte sein 76 Jahre währendes Leben fast nur in seinem Geburtsort, hier liegt er begraben. Der Neugeborene, August Graf von Platen, verließ schon als Zehnjähriger Vaterhaus und -Stadt und kehrte nur als Besucher dahin zurück. Sein Grab liegt in weiter Ferne, in Syrakus auf Sizilien, wo er, nur 39 Jahre alt, starb.

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Öffentlicher Vortrag, gehalten am 13. Mai 1996 in Ansbach.

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Kurt Wölfel

Im Altertum stritten sich sieben Städte um die Ehre, welche von ihnen sich die Vaterstadt Homers nennen dürfe. Uz und Platen sind zwar keine Homere, aber dafür ist das Recht der Stadt Ansbach, sie ihre Söhne zu nennen, unbestreitbar; und daß Ansbach sich das zur Ehre rechnet, ist ebenso recht und billig wie es billig und recht ist, daß die Stadt damit, daß wir der beiden Dichter hier gedenken, ihnen Ehre erweist. Die Art und Weise, wie das geschehen kann, ist die, davon zu sprechen, wer und was sie gewesen sind. Es liegt nahe, mit der Frage zu beginnen, wie sich ihr Dichtertum und ihr poetisches Werk - und nicht nur ihre Biographie - mit der Stadt Ansbach verbinde. Von vielen Autoren sind wir, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, gewohnt, daß sich Ort und Landschaft, wo sie geboren wurden und gelebt haben, in ihren Dichtungen wiederfinden, ja daß sie so unscheidbar zusammengehören wie der Boden und was auf ihm wächst. So ist die Welt, sind die Menschen in Storms Novellen gebildet aus dem Lebensstoff, in dem der Dichter selbst zuhause war, und Gleiches kann man von Stifter, Keller, Raabe, Fontane und anderen sagen - nicht nur von Erzählern, auch von Lyrikern. In den Dichtungen Platens sucht man dergleichen vergebens, nicht einmal der Name der Stadt Ansbach kommt darin vor, falls ich ihn nicht übersehen habe. Das mag freilich damit zusammenhängen, daß Platen zwar ein Ansbacher Kind, nicht aber ein Bürger der Stadt gewesen ist; wie steht es aber mit Uz, dessen Biographie vollauf berechtigt, ihn einen Ansbacher Dichter zu nennen? In einem Brief an den Freund Grötzner (vom 5. Juni 1754) steht der Satz: »Werden Sie nicht auch bald anfangen, Ihre Gedichte drucken zu lassen...? Sie sind diese Verherrlichung Ihrer Vaterstadt schuldig.« Das läßt, beziehen wir es zurück auf ihn selbst, darauf schließen, seine eigenen Gedichte hätten mit seiner Vaterstadt und ihrer Verherrlichung durchaus zu tun. Aber ein solcher Schluß wäre ein Mißverständnis. Uz meint mit solcher Verherrlichung nicht etwas Thematisches, nicht, daß im Gedicht die Vaterstadt besungen werde, sondern das pure Faktum, daß der Poet sich mit der Veröffentlichung seiner Gedichte hervortue und damit den Ort, dessen Sohn und Bewohner er ist, zugleich bekannt mache. Die Vaterstadt partizipierte am Ansehen, eventuell gar am Ruhm, den der Dichter erwirbt. Einer Überlieferung nach erfuhr der Markgraf Alexander von Ansbach-Bayreuth bei einem Besuch in Rom und beim Papst von diesem Papst, daß es in seiner Residenzstadt den Dichter Uz gebe. Dem Markgraf selbst war das eine Neuigkeit; dem Papst aber stellte sich die Verbindung mit der Stadt Ansbach anscheinend vorzüglich über den Dichternamen her: Uz hatte etwas zur »Verherrlichung seiner Vaterstadt« beigetragen.

Über Johann Peter Uz - und August von Platen

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Daß er seinem Landesherrn unbekannt war, hatte nicht nur seinen Grund darin, daß er in dessen juristischem Dienst nur langsam und unspektakulär zu höherer Würde aufstieg; auch als Dichter hielt er sich vom markgräflichen Hof fern. Die zu seiner Zeit so obligatorischen Gelegenheitsgedichte zu höfisch-fürstlichen Anlässen spielen in seinem poetischen Werk keine Rolle. Er hatte dazu eine dezidierte Meinung: »Meine Muse ist nicht gewohnt, sich vor Durchlauchtigen Ohren hören zu laßen; so weit gehet ihr Ehrgeiz nicht.« »Wohin haben Sie gedacht, wenn Sie mich in Würden und Ehren und gar bey den Thronen der Fürsten suchen? Wenn Sie mich einmal verlieren, so bitte ich Sie, mich an einem andern Orte zu suchen, als da, wo ich niemals seyn werde.« Und noch einmal: »Wie kommen Sie auf den Gedanken, von mir ein Gedicht auf eine Huldigung zu erwarten? Ich bin von jeher allen Arbeiten dieser Art gram gewesen« (an Grötzner, 10. Okt. 1754, 18. Dez. 1755, 17. Juli 1765). Was er als Untertan sein mußte, Fürstendiener, scheute er als Dichter aufs entschiedenste; und ist in seinen Briefen und Gedichten von politischen Gesinnungen und Meinungen die Rede, dann betreffen diese kaum das Fürstentum Ansbach, und schon gar nicht haben sie die Verherrlichung von dessen Herrschern im Sinn. Bedenkt man, wie der bis 1757 regierende Markgraf Carl Wilhelm Friedrich geartet war, der unter dem Titel des »wilden Markgrafen« in die Geschichte einging, ist das nicht verwunderlich; denn dieser vorletzte der Ansbacher Fürsten schien mit allen seinen besten Kräften dazu beitragen zu wollen, seinen Untertanen den künftigen Verkauf des Landes an Preußen schmackhaft sein zu lassen. Er habe, um seinem Hobby, der Falkenjagd, nachzugehen, das größte Falknerkorps, das sich jemals ein deutscher Fürst leistete, in Dienst genommen, 1751 seien es 51 Personen gewesen, und bei seinem Tod sechs Jahre später waren es dann 2,3 Millionen Reichstaler, die er als Schulden hinterließ, berichten die Historiker. Wenn sie dazu noch mitteilen, daß er »zu Unmäßigkeit und Ausschweifung in Venere et Baccho« geneigt habe, bringt das in Uzens horazische Odendichtung eine pikante Aktualität für seine Mitbürger; denn dort gehört zu den wiederkehrenden Motiven die Verachtung dessen, der den fröhlichen Genuß des Weines bis zu dem treibt, was man >sich sinnlos besaufen< nennt - einen Zustand, in den der Markgraf oft genug geriet und in welchem er für seine Umgebung überhaupt keine Freude mehr war, sollte er das als Nüchterner je gewesen sein. Sucht man sie nicht in solchen Momenten, dann ist die Beziehung der Uzschen Poesie zu Ansbach als einer politischen Größe inexistent; und mit dem Ort und seiner Landschaft als Uzens Heimat ist es nicht anders. Das gehört zur Signatur seiner Gedichte, daß die Bilder und Bildgefüge, aus denen sich die lyrische Welt baut, nicht aus dem konkreten Erfahrungsraum stammen, in

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dem der Dichter >zuhause< ist, sondern aus dem Vorrat poetischer Überlieferung. Davon soll weitläufiger die Rede sein. Uz gehört zu jener - heute, da Dichten meist Beruf geworden ist, mit dem der Poet sein Leben fristet, seltenen - Sorte von Dichtern, die nicht erst auf dem Sterbebett die Feder aus der Hand legen, sondern bereits in ihrer Lebensmitte das Gedichteschreiben für beendet erachten. In seinen Briefen aus den sechziger Jahren kehrt diese Erklärung mehrfach wieder, und sie hat, insgesamt betrachtet, d.h. von Ausnahmen abgesehen, Gültigkeit. Sein dichterisches Schaffen, das er in seinen Hallenser Studienjahren nach 1740 in der Freundschaft mit Gleim und Götz begonnen hatte, fällt also in die zwei Jahrzehnte bis nach 1760. Es ist ein Zeitraum, dem in unseren Literaturgeschichten von jeher eine nur relative Bedeutung zugeschrieben worden ist - relativ im Vergleich mit den danach kommenden Zeiten. Die literarische Produktion dieser beiden Jahrzehnte bildet nur eine Art >Vorgeschichte< - in dem Sinn, in dem man etwa von einem Vorgebirge spricht: was dahinter kommt, ist erst das eigentliche und wahrhafte Gebirge. Zwar beginnen in diesen Jahrzehnten bereits auch die Autoren zu schreiben, die später den Ehrennamen >Vorklassiker< verliehen bekommen und mit deren Werken man unseren nationalen Literaturkanon zu eröffnen pflegte: Klopstock, Lessing, Wieland. Sie sind aber doch ein wenig jünger als die Schar der Poeten, die als die besonderen Repräsentanten der Dichtung jener Jahrzehnte angesehen werden: Haller, Hagedorn, Geliert, Gleim, Ewald von Kleist, Zachariä, Rabener u.a. Zu ihnen zählt - und man darf sagen, zählte sich auch selbst - Johann Peter Uz. Für das 18. Jahrhundert, soweit es diesseits jener Schwelle urteilte, die man die Literaturrevolution des sogenannten Sturm und Drang nennt, waren sie die >klassischen< Dichter Deutschlands, und selbst Herder hat sie noch am Ende des Jahrhunderts, freilich zum Ärger, Spott und Hohn der Weimarer Klassiker, als solche gerühmt. Diese Autoren haben, bei aller Unterschiedenheit, ein Gemeinsames: sie sind auf eine unverkennbar andere Weise als die danach folgenden Dichtergenerationen >historisch< geworden. Was heißt das? Natürlich spielt zunächst einmal eine gewisse Altertümlichkeit der Sprache mit herein: jene Momente semantischer oder syntaktischer Bildung und Fügung, die uns heute irgendwie >zurückgeblieben*, ja unbeholfen vorkommen mögen - obwohl gerade in ihren Werken das geschieht, was ein englischer Gelehrter The emergence of German as a literary language nannte, womit er den Aufstieg des Deutschen zu einer Literatursprache meinte, die mit den anderen großen europäischen Literatursprachen gleichen Rang behaupten durfte. - Zum anderen sind auch die Inhalte der poetischen Werke dieser Autoren, die Motive, Themen, Anschauungen, Gesinnungen, weithin von der Art, daß sie uns nicht mehr, jedenfalls nicht mehr unmittelbar, ansprechen. Es scheint in ihnen d i e Stim-

Über Johann Peter Uz - und August von Platen

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me nicht vernehmbar zu werden, die uns provoziert und in die Lage versetzt, in jene Auseinandersetzung oder Übereinstimmung zu gelangen, die wir von literarischen Texten erwarten; oder, aus umgekehrter Perspektive gesprochen, w i r bringen es nicht fertig, sie auf uns so zu beziehen, daß wir sagen könnten, das geht auch uns noch an. Was ihnen zu fehlen scheint, läßt sich mit dem Begriff bezeichnen, mit dem am Ende des 18. Jahrhunderts Friedrich Schlegel, der große Theoretiker romantischer Literatur, die moderne Dichtung Europas glaubte geschichtsphilosophisch markieren zu können: diese stehe, schreibt er, unter der Herrschaft des »Interessanten«, und stelle sich damit in den Gegensatz zur Dichtung der Antike, deren Signatur das Schöne gewesen sei. Interessant: das ist eine Kunstübung, in der sich eine originelle Individualität in ihrer Eigentümlichkeit vergegenwärtigt, eine die bis zu »exzentrischen Sonderbarkeiten« charakteristisch ist. Shakespeares Hamlet ist für Schlegel der Inbegriff einer solchen Dichtung, die »nie objektiv, sondern durchgängig manieriert« sei; wobei Manier heißt, »eine individuelle Richtung des Geistes und eine individuelle Stimmung der Sinnlichkeit« in der künstlerischen Darstellung. Es ist bezeichnend, daß Uz und dem genannten Autorenkreis sogar das Wort »interessant« als ästhetische Kategorie noch gänzlich unbekannt war. Tatsächlich ist ihnen die Vorstellung fremd, was einem Gedicht seine spezifische, poetische Qualität verleihe, sei, daß der Dichter auf seine subjektive und charakteristische Weise sich als diese besondere Individualität darstellt. Die wirkende Eigenschaft, die sie für ihre Gedichte in Anspruch nehmen, trägt bei ihnen den Namen »Reiz«, ein Begriff, der nicht mit »Interessantheit« verschwistert ist, sondern mit »Schönem«. Das aber hat seinen Grund nicht in der Subjektivität künstlerischer Einbildungskraft, sondern gilt als ein Objektives, das zur Welt als der Schöpfung Gottes gehört und damit auch als ein Allgemeines zum Menschen, der als Geschöpf in der göttlichen Welt seinen Platz hat. Dieser Begriff »Reiz« provoziert, gerade weil er uns nicht fremd zu sein scheint, die Frage, warum, wenn auch das »Interessante« mangle, wir heutigen Leser nicht auf dieses Reizende reagierten, das jene Autoren ihren Gedichten zu geben bestrebt waren. Offenbar vermögen wir ohne besondere Mühe auf ästhetische Reize zu antworten, wenn sie uns in Werken der anderen Künste jener vergangenen Epoche entgegenkommen, deren >Spracheaußer unserer Welt< sind als die der Dichtungen der genannten Autoren. Baukunst, Malerei, Musik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehen und hören wir, ohne zu fragen, was wir mit ihnen anfangen sollen. Wir haben für sie offenbar ein >OrganLektüre< ihres intellektuellen Gehaltes zugänglich zu machen, wir täten uns weit schwerer mit ihrem Genuß, den wir uns einfach schon dadurch bereiten, daß wir uns an das Sinnfállige-Sinnliche ihres Erscheinens halten, ohne den Weg über die Reflexion auf ihre Geistigkeit, ihre bedeutenden Sinnbezüge, zu nehmen. Im sprachlichen Kunstwerk hingegen macht sich der Sinngehalt der Zeichen so vordringlich geltend, daß darüber deren Sinnlichkeit von uns kaum mehr aufgenommen wird; umso weniger, da unsere Lektüre stumm zu sein pflegt, Poesie uns zur Schrift geworden ist. Unser Ohr bleibt dabei unbeschäftigt, nur das Auge ist tätig (und überdies in ästhetischer Neutralität^ sofern das gedruckte Buch nicht als ästhetischer Gegenstand sich darbietet). Damit aber wird dem Gedicht gerade das entzogen, was seine besondere ästhetische Valenz ausmacht: es ist Lyrik, also ein Wort-Ton-Gebilde; lyrisch, d.h. daß da ursprünglich mündlicher, genauer: Gesangsvortrag war, von der Lyra, der Leier, begleitet. In dieser Weise lebt das Gedicht bis heute nur mehr in der Gestalt des vertonten Liedes, und es ist bezeichnend, daß schon vor mehr als 100 Jahren der Herausgeber der kritischen Ausgabe von Uzens Werken schreiben konnte bzw. schreiben mußte, Uz lebe »wenigstens in einem Gedichte ... bis auf die Gegenwart fort«, nämlich in Schuberts Vertonung von Gott im Ungewitter. Durch die Abstraktion des Wortes vom Ton, durch die daraus resultierende Unbeteiligtheit des Ohres an der ästhetischen Erfahrung, haben wir verlernt, den Reiz, die Reize zu empfinden, die Uz und seine Zeitgenossen im lyrischen Gedicht suchten und fanden. Wenn Uz über die Jahre hin von Auflage zu Auflage seiner Gedichte an ihnen arbeitet, um sie zu vervollkommnen, dann geht es ihm dabei weit weniger um >Inhaltliches