Dialektik für Anfänger 9783495820346, 9783495489802


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German Pages [231] Year 2020

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Inhalt
Vorwort
I Wir und die Griechen
1 Der Hof des Heraklit
1.1 Einführungsfragen
1.2 Die Philosophie ist ein großes Puzzle
1.3 Kritik der postmodernen Vernunft
1.4 Die Kugel des Parmenides
1.5 Der Hof des Heraklit
2 Das Spiel der Gegensätze
2.1 Die Naturphilosophie der Vorsokratiker
2.2 Die Sophisten
2.3 Sokrates, der letzte Sophist
3 Das Höhlengleichnis
3.1 Platon und das Spiel der Gegensätze
3.2 Die Welt der Ideen und die Welt der Dinge
3.3 Der Sternenmythos
3.4 Das Höhlengleichnis
4 Die Betrachtung der Welt
4.1 Der Übergang von der Dialektik zur Analytik
4.2 Logik und Sprache
4.2.1 Die Analyse der Aussage
4.2.2 Die positive Aussage
4.2.3 Die negative Aussage
4.2.4 Das logische Quadrat
4.2.5 Der Syllogismus
4.2.6 Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch
4.3 Die Metaphysik
4.3.1 Substanz – Wesen und Zufall
4.3.2 Substanz – Form und Materie
4.3.3 Metaphysik des Wissens
4.4 Ethik und Politik
4.5 Die analytische Weltanschauung
5 Die Erklärung der Welt
5.1 Erklären ist Entfalten
5.2 Die ungeschriebene Lehre Platons
5.3 Die zwei Ersten Prinzipien
5.4 Das Mysterium der Dreifaltigkeit
5.5 Woher kommt die bestimmte Vielfalt?
5.6 Die Achillesferse
5.7 Der Scheideweg
5.8 Die Große Frage
II Was ist Dialektik?
1 Das logische Quadrat
1.1 Die große Verwirrung
1.2 Zwei Sprachen mit unterschiedlichem Satzbau
1.3 Die vier Ecken
1.4 Das analytische Konstrukt von konträren und kontradiktorischen Gegensätzen
1.5 Das dialektische Konstrukt der konträren Gegensätze
1.6 Die Dialektik des Konkreten
1.7 Analytik und Dialektik, zwei Denkweisen
2 Die Synthese der Gegensätze
2.1 Der Raum, in dem Dialektik geschieht
2.2 Gegensatz und Einklang
2.3 Meister und Lehrling
2.4 Der Dialog Der Sophist von Plato
2.5 Hegel – Das Sein als das Nichts
3 Die drei Prinzipien
3.1 Die notwendige Übersetzung
3.2 Das Identitätsprinzip
3.2.1 Einfache Identität
3.2.2 Iterative Identität
3.2.3 Reflexive Identität
3.3 Das Prinzip der Differenz
3.3.1 Kontradiktorischer Gegensatz
3.3.2 Konträrer Gegensatz
3.4 Das Kohärenzprinzip
3.4.1 Der allgemeine Sinn
3.4.2 Die Auflösung des einen Pols
4 Sein, Nichts, Werden
4.1 These – Alles ist Sein
4.2 Die Antithese – Alles ist Nichts
4.3 Synthese – Alles ist Werden
5 Dialektik und Antinomie
5.1 Die Logik der antinomischen Struktur
5.2 Die antinomische Struktur und die Dialektik
III Ein Systemprojekt
1 Dialektik und Natur
1.1 Philosophie als Systemprojekt
1.2 Die dreigeteilte Struktur des Systemprojekts
1.3 Dialektik und Evolution
1.3.1 Logik und Natur – Dieselben Prinzipien
1.3.2 Die einfache Identität in der Logik und das Einzelwesen in der Natur
1.3.3 Die iterative Identität in der Logik und die Iteration, die Replikation und die Reproduktion in der Natur
1.3.4 Die reflexive Identität in der Logik und die Art in der Natur
1.3.5 Die Differenz von konträren Polen in der Logik und die Emergenz des Neuen, die Mutation durch Zufall, in der Natur
1.3.6 Kohärenz, die Auflösung eines der Gegensatzpole, in der Logik und die natürliche Auslese in der Natur
1.3.7 Die entsprechenden Unterscheidungen in der Logik und die Anpassung in der Natur
1.3.8 Die Geschichte der Dialektik in der Logik und die Geschichte der Evolution in der Natur
2 Ethik
2.1 Die antike Familie
2.2 Die Ethik der Tugenden
2.3 Der Kategorische Imperativ
2.4 Die Ethik des Diskurses
2.5 Die drei großen Fragen
2.6 Der Übergang von beschreibenden zu normativen Aussagen
2.7 Das erste Prinzip des Sein-Sollens
2.8 Der Übergang vom Universalen zum Partikularen und umgekehrt
2.9 Belohnung und Strafe
2.10 Der Staat und die Politik
3 Gerechtigkeit und Staat
3.1 Was ist Gerechtigkeit?
3.2 Identität, Gleichberechtigung und Gleichheit
3.3 Gerechtigkeit und Menschenrechte
3.4 Die Einrichtung und Verfassung des Staates
3.5 Die Demokratie als einzige Regierungsform
3.6 Die Parlamentsvertretung
3.7 Der gemeinsam erarbeitete Haushaltsplan
4 Der Sinn der Geschichte
4.1 Die Kraft des Schicksals
4.2 Die logische Notwendigkeitslehre
4.3 Die philosophische Notwendigkeitslehre
4.4 Die Zwei-Welten-Theorie von Kant
4.5 Die Eule der Minerva und die absolute Vernunft
4.6 Der Historische Materialismus
4.7 Wir und die Eule der Minerva
5 Das Absolute
5.1 Gibt es Gott?
5.2 Der transzendente Gott der neu-aristotelischen Tradition
5.3 Der Gott der neuplatonischen Tradition
5.4 Ist Gott der Schöpfer der Welt?
5.5 Der Kreis der Kreise
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Dialektik für Anfänger
 9783495820346, 9783495489802

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Carlos Cirne-Lima

Dialektik für Anfänger VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820346

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B

Carlos Cirne-Lima Dialektik für Anfänger

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Autor: Carlos Cirne-Lima wurde 1931 in Porto Alegre, Rio Grande do Sul, Brasilien, geboren. Er studierte im Berchmanskolleg in Pullach bei München Philosophie, dann Theologie und Philosophie am Philosophischen Institut der Theologischen Fakultät in Innsbruck, wo er 1959 in Philosophie promovierte, und war Gastprofessor in Wien. Wieder nach Brasilien zurückgekehrt, erhielt er schon bald unter der Militärdiktatur Lehrverbot und arbeitete zwölf Jahre lang als Betriebswirt in Großfirmen. Ab 1980 lehrte er Philosophie an der Bundesuniversität in Porto Alegre UFRGS sowie an den Hochschulen PUCRS in Porto Alegre und Unisinos in São Leopoldo.

https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Carlos Cirne-Lima

Dialektik für Anfänger Aus dem Portugiesischen von Erica Ziegler

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Titel der brasilianischen Originalausgabe: Dialética para principiantes, Porto Alegre: Edipucrs 1996. © Carlos Cirne-Lima

Für die deutschsprachige Ausgabe: © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48980-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82034-6

https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Für Maria Und für meine Studenten

https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I Wir und die Griechen 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Der Hof des Heraklit . . . . . . . . Einführungsfragen . . . . . . . . . Die Philosophie ist ein großes Puzzle Kritik der postmodernen Vernunft . Die Kugel des Parmenides . . . . . Der Hof des Heraklit . . . . . . . .

2 2.1 2.2 2.3

Das Spiel der Gegensätze . . . . . . . . Die Naturphilosophie der Vorsokratiker Die Sophisten . . . . . . . . . . . . . Sokrates, der letzte Sophist . . . . . .

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Das Höhlengleichnis . . . . . . . . . . . Platon und das Spiel der Gegensätze . . . Die Welt der Ideen und die Welt der Dinge Der Sternenmythos . . . . . . . . . . . Das Höhlengleichnis . . . . . . . . . . .

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Die Betrachtung der Welt . . . . . . . . . . Der Übergang von der Dialektik zur Analytik Logik und Sprache . . . . . . . . . . . . . . Die Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . Ethik und Politik . . . . . . . . . . . . . . . Die analytische Weltanschauung . . . . . . .

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15 15 15 18 21 23

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28 28 34 38

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40 40 44 47 49

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51 51 52 64 69 73

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7 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Inhalt

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8

Die Erklärung der Welt . . . . . . . . Erklären ist Entfalten . . . . . . . . Die ungeschriebene Lehre Platons . . Die zwei Ersten Prinzipien . . . . . . Das Mysterium der Dreifaltigkeit . . Woher kommt die bestimmte Vielfalt? Die Achillesferse . . . . . . . . . . . Der Scheideweg . . . . . . . . . . . Die Große Frage . . . . . . . . . . .

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Das logische Quadrat . . . . . . . . . . . . . . . . . Die große Verwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Sprachen mit unterschiedlichem Satzbau . . . . Die vier Ecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das analytische Konstrukt von konträren und kontradiktorischen Gegensätzen . . . . . . . . . . . 1.5 Das dialektische Konstrukt der konträren Gegensätze 1.6 Die Dialektik des Konkreten . . . . . . . . . . . . . 1.7 Analytik und Dialektik, zwei Denkweisen . . . . . .

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107 109 112 113

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Die Synthese der Gegensätze . . . . . Der Raum, in dem Dialektik geschieht Gegensatz und Einklang . . . . . . . Meister und Lehrling . . . . . . . . Der Dialog Der Sophist von Platon . Hegel – Das Sein als das Nichts . . .

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116 116 117 118 120 122

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Die drei Prinzipien . . . . . Die notwendige Übersetzung Das Identitätsprinzip . . . . Das Prinzip der Differenz . Das Kohärenzprinzip . . .

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II Was ist Dialektik? 1 1.1 1.2 1.3 1.4

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8 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Inhalt

4 4.1 4.2 4.3

Sein, Nichts, Werden . . . . . . These – Alles ist Sein . . . . . Die Antithese – Alles ist Nichts Synthese – Alles ist Werden . .

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5 Dialektik und Antinomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Logik der antinomischen Struktur . . . . . . . . . . 5.2 Die antinomische Struktur und die Dialektik . . . . . .

141 141 146

III Ein Systemprojekt 1 1.1 1.2 1.3

Dialektik und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie als Systemprojekt . . . . . . . . . . . Die dreigeteilte Struktur des Systemprojekts . . . Dialektik und Evolution . . . . . . . . . . . . . .

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Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die antike Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ethik der Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . Der Kategorische Imperativ . . . . . . . . . . . . . Die Ethik des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . Die drei großen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . Der Übergang von beschreibenden zu normativen Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Das erste Prinzip des Sein-Sollens . . . . . . . . . . 2.8 Der Übergang vom Universalen zum Partikularen und umgekehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9 Belohnung und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10 Der Staat und die Politik . . . . . . . . . . . . . . .

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170 170 172 174 176 178

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Gerechtigkeit und Staat . . . . . . . . . . . Was ist Gerechtigkeit? . . . . . . . . . . . Identität, Gleichberechtigung und Gleichheit Gerechtigkeit und Menschenrechte . . . . Die Einrichtung und Verfassung des Staates Die Demokratie als einzige Regierungsform

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. . 179 . . 180 . . 182 . . 184 . . 186 . . . . . .

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187 187 189 192 194 196 9

https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Inhalt

3.6 Die Parlamentsvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Der gemeinsam erarbeitete Haushaltsplan . . . . . . . .

199 200

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7

Der Sinn der Geschichte . . . . . . . . . . . . Die Kraft des Schicksals . . . . . . . . . . . . Die logische Notwendigkeitslehre . . . . . . . Die philosophische Notwendigkeitslehre . . . . Die Zwei-Welten-Theorie von Kant . . . . . . Die Eule der Minerva und die absolute Vernunft Der Historische Materialismus . . . . . . . . Wir und die Eule der Minerva . . . . . . . . .

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202 202 204 206 211 212 213 214

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Das Absolute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der transzendente Gott der neu-aristotelischen Tradition . Der Gott der neuplatonischen Tradition . . . . . . . . . Ist Gott der Schöpfer der Welt? . . . . . . . . . . . . . Der Kreis der Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217 217 220 225 228 229

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10 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

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Vorwort

Ich habe diese Dialektik für Anfänger im Gedanken an meine Studenten geschrieben. Für sie habe ich dies geschrieben. Es ist ein Text für Anfänger, Dialectica Ingredientibus, wie Abaelard sagen würde. Für junge Menschen mit offenem Antlitz und strahlendem Blick, die aufmerksam, nüchtern, lernbegierig sind, und die sehr wohl wissen, daß sie nichts wissen. Und eben deshalb lernen wollen. Für solche Menschen habe ich dieses Buch geschrieben, ihnen widme ich es. Und das ist nicht mehr als recht und billig. Denn es war mit ihnen, mit den Fragen, den Diskussionen und in den Gesprächen mit ihnen, daß diese Dialektik entstand, gewachsen ist und sich gefestigt hat. Ich bin beileibe kein Autodidakt und will auch meine Meister nicht kränken. Nichts dergleichen, ich halte alle meine Lehrer hoch in Ehren. Ich schulde ihnen viel. Und doch habe ich im Laufe vieler Jahre mit meinen Studenten das gelernt, was ich ihnen jetzt, in diesem Buch, zurückgebe. Anfänger ist derjenige, der nichts oder fast nichts weiß. Anfänger ist derjenige, der merkt, daß er nichts weiß. Und deshalb will er lernen, will er die Worte verstehen, will er den Sinn der Sätze erfassen, den Aufbau der Argumentation verfolgen. Für diese Anfänger habe ich geschrieben. Ich habe in einfachem und direktem Stil geschrieben, eine anspruchslose Philosophie, ohne Fisimatenten, ohne Finessen, ohne akademischen Muff und ohne Vorführungen irgendeiner Wissenschaftsakrobatik. Die hier aufgezeigten Ideen sind sehr alt. Sicher gibt es Neuigkeiten, denn wer sich mit Philosophie befaßt und in Streit gerät mit den Ideen, mit den eigentlichen Ideen, entdeckt dauernd irgendeine Neuigkeit. Wenn wir den Ideenreichtum, den wir von der Überlieferung geerbt haben, weiterreichen, belebt er sich neu und wächst weiter. Diese Arbeit ist aus der großen philosophischen Tradition entstanden. Möge sie die Leser zu den Meisterdenkern der Tradition zurückführen – das ist meine Hoffnung. Übrigens, ihr, meine Leser, ihr seid doch nichts-wissende Anfänger, nicht wahr? Habt ihr gemerkt, daß ihr, wenn ihr nichts wißt 11 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Vorwort

und behauptet, nichts zu wissen, vom Nicht-Wissen ins Wissen katapultiert werdet? Denn, wie Sokrates sagt, ist der Weise derjenige, der weiß, daß er nichts weiß. Das ist der Philosoph. So, und nun, was gilt schließlich? Seid ihr Anfänger oder Weise? Ist diese Dialektik etwas für Anfänger oder für Weise? Das müßt ihr schon selber herausfinden. Schaut empor, beobachtet den Flug der Eule der Minerva, laßt euch nicht zu sehr vom thrakischen Gelächter beeindrucken: findet es einfach heraus. Porto Alegre, 01. 06. 96

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I Wir und die Griechen

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1 Der Hof des Heraklit

1.1 Einführungsfragen Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist der Sinn der Welt und unseres Lebens? Hatte das All einen Anfang? Wird es ein Ende haben? Gibt es Gesetze, die den Ablauf des Alls regeln? Gelten diese Gesetze auch für uns? Dürfen wir diese Gesetze übertreten? Was passiert, wenn wir ungehorsam sind? Gibt es Belohnung und Strafe? Gibt es das wirklich, oder sollte es das geben? Geschieht dies schon während dieses Lebens oder erst in einer Existenz nach dem Tod? Kann man, ohne in eine Kontradiktion zu geraten, an ein ewiges Leben, an eine Existenz nach dem Tod, denken? Kann es eine Zeit geben, nachdem jegliche Zeit zu Ende ist? Kann es ein Danach, selbst nach dem letzten und endgültigen Danach, geben? Was sind wir, letztendlich? Seit der Antike sind das diejenigen Fragen, die jeder Mensch sich immer wieder stellt, sobald er erwachsen wird. Das sind jene Fragen die, seit den Vorsokratikern, die Philosophen beschäftigen. Philosophie ist der ständig frustrierte und immer wieder neu aufgenommene Versuch, diesen Fragen eine rationale Antwort zu geben. Und genau das werden wir jetzt, in diesem Text, in interaktiver Form beginnen. Eine endgültige und abschließende Antwort, die vollständig all diese Fragen erledigen könnte, gibt es nicht. Und mehr noch, eine solche vollständige und endgültige Antwort ist, wie wir sehen werden, in der Philosophie unmöglich. Aber so, wie man viele Fragen stellen kann, können und müssen auch viele Antworten gegeben werden.

1.2 Die Philosophie ist ein großes Puzzle Die Philosophie ist die Wissenschaft der ersten Prinzipien, jener allgemeingültigen Prinzipien, die sowohl das Sein als auch das Denken regeln. Heutzutage wird Philosophie oft als eine Wissenschaft der 15 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Hof des Heraklit

endgültigen rationalen Begründungen angesehen, d. h. als die rationale Grundlage aller anderen Wissenschaften. So ist das große Thema der Philosophie, wenn man eine Metapher aus der Architektur verwenden will, die Frage der letztendlichen Grundlegung. In diesem Sinn sprach – bereits in der Antike – Aristoteles von einer Ersten Philosophie. Diese Erste Philosophie handelt von den ersten Prinzipien des Alls – Sein und Denken –, Prinzipien, die die rationale Grundlage aller anderen Wissenschaften bilden, wie Logik, Physik, Astronomie, Biologie, Ethik, Politik, Ästhetik usw., welche früher zu jener großen und überlagernden Wissenschaft gehörten, die sich Philosophie nannte. Ich habe nichts gegen die Auffassung von Philosophie als einer Wissenschaft der letztendlichen Grundlegung. Das ist sie ja auch. Aber diese Metapher zeigt auf nur einen der harten Kerne des großen Ganzen dessen, was eigentlich die Philosophie ausmacht. Es ist so, wie wenn jemand auf einen nackten Knochen zeigen würde. Das Bild der Grundlegung ist da etwas zu simpel. Um zu beschreiben, was Philosophie sei, gefällt mir persönlich eine andere Metapher besser, und zwar die eines Puzzles. Philosophie ist ein großesPuzzle. Beim Puzzle muß man jedes Teil zu den anderen fügen, so daß die Ränder jedes einzelnen Teils zu denen der Nachbarteile passen und dadurch ein zusammenhängendes Ganzes bilden, ohne Löcher und Risse, bis alle Teile korrekt gesetzt wurden und ein fertiges, zusammenhängendes und sinnvolles Bild sichtbar wird. Falls Teile übrigbleiben, wurde das Spiel nicht zu Ende gespielt. Falls Teile fehlen, ist das Spiel unvollständig und das endgültige Bild bleibt lückenhaft. Bei großen Puzzles kann es leicht passieren, daß man Stücke des großen engültigen Bildes zusammenbekommt, jedes Stück mit seinen eigenen Figuren, aber ohne eine vollständige Zusammensetzung. Wenn man bis zum Ende durchspielt und dem Puzzle keine Teile fehlen, werden alle Teile entsprechend eingefügt, es werden weder Teile fehlen noch übrigbleiben, und das vollständige Bild wird deutlich und sichtbar. Heutzutage ist die Beschäftigung mit der Philosophie einem großen Puzzle ähnlich. Wissenschaften wie die Physik, die Chemie, die Astronomie, die Biologie, die Archäologie, die Geschichte, die Psychologie, die Soziologie usw. sind Teilbereiche des großen Puzzles, das sich Philosophie nennt, der universalsten Wissenschaft. Jede dieser einzelnen Wissenschaften setzt ihr eigenes Teilbild zusammen, d. h. jede befaßt sich jeweils mit ein paar Figuren. Keine bedenkt und 16 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Philosophie ist ein großes Puzzle

übernimmt die vollständige Zusammensetzung des großen Mosaiks, welches die Philosophie darstellt, die Vernunft, der Sinn des Alls. Sicher, die einzelnen Wissenschaften arbeiten mit bei der Konstruktion des großen Puzzles, aber jede ist auf ein kleines Teilstück begrenzt. Philosophie zu betreiben heißt, das Spiel bis zum Ende zu spielen, d. h. alle Teile zusammenzusetzen, damit man das ganze Bild sehen kann. Und hier erscheint der erste Unterschied zwischen dem erwähnten Spiel und der Philosophie. In der Philosophie verfügen wir nicht über alle Teile. Das All ist noch im Werden, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Viele Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, was sie darstellen, sind erst noch im Kommen. Der Philosoph verfügt nicht über alle Teile – die Zukunft ist noch nicht da – und so bleibt das endgültige Mosaik immer unvollständig. Trotzdem ist es nötig, das Spiel mittels aller verfügbaren Teile zusammenzusetzen, nicht zuletzt mittels des eigenen Spielers. Jeder von uns, die wir die konkreten Spieler sind, muß ins endgültige Mosaik springen, welches die Philosophie ist, der umfassende Sinn des Alls, in dem wir leben, der letzte Sinn unseres Lebens; dann wird die Philosophie existentiell. Aber genauso wie die Geschichte und die Evolution noch nicht beendet sind, wird das Bild im Mosaik, obwohl umfassend, immer große Lücken aufweisen. Das bedeutet, die Philosophie als ein globales Wissenssystem ist und wird immer ein unvollkommenes Projekt bleiben, solange die Zeit der Geschichte abläuft. Die große Wissenschaft wird nie vollständig und abgeschlossen sein, die Philosophie wird stets nur Liebe zur Weisheit sein und bleiben. Man kann nicht so tun, als ob es die einzelnen Wissenschaften nicht gäbe. Man kann nicht so tun, wie einige Philosophen es heutzutage machen, als sei Philosophie nur Sprachphilosophie oder Wissenstheorie. Das ist auch wichtig, das ist auch Teil der Philosophie. Aber Philosophie ist mehr als nur eine Theorie über Meta-Sprachen; Philosophie ist die Große Wissenschaft, die in sich alle – ich wiederhole – a l l e einzelnen Wissenschaften enthält, mit ihren Theorien und ihren noch offenen Fragen. Da kommt die Frage auf: ist so etwas denn noch möglich? Wäre es möglich, heute, in unserem Jahrhundert, mit der unglaublichen und noch nicht dagewesenen Entwicklung der einzelnen Wissenschaften, eine »Große Synthese« vorzunehmen? Freilich ist es nötig, und eben auch möglich. Denn so wie sich die einzelnen Wissenschaften entwickelt haben, haben sich auch die Mittel vervielfältigt, über die der Philosoph verfügt, um da17 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Hof des Heraklit

mit immer wieder zu versuchen, die Grundstruktur der großen einheitlichen Theorie aufzubauen. Es ist zwar etwas beschämend, aber wir müssen zugeben, daß viele Philosophen heute die Idee der Großen Synthese beiseite gelassen haben und sich mit lückenhaften Subsystemen zufriedengeben; das aber heißt, daß sie keine echte Philosophie mehr betreiben. Man darf sich trotzdem freuen, wenn man sieht, daß die Physiker weiterhin auf der Suche nach der großen synthetischen Theorie sind, worin die aktuell bearbeiteten Subsysteme eingebunden werden könnten. Nur daß die Große Synthese mehr ist als der Einklang der allgemeinen Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik. Die programmatische Aufgabe der Philosophie ist noch breiter gefaßt als die der Physik des beginnenden 21. Jahrhunderts. Die Biologie, die Psychologie, die Soziologie, die Geschichte usw. müssen ebenso in diese synthetische Theorie aufgenommen werden, welche sich Philosophie nennt, denn wir wollen herausfinden, welche Gesetze gültig sind für alles und jedes. Diese große Aufgabe nannte sich früher explicatio mundi. Philosophie zu betreiben war schon immer, und ist es weiterhin, die Erklärung dieser Welt zu betreiben. Wir werden noch oft auf dieses Wort zurückkommen, denn damit wird wirklich alles ausgesagt, was die Philosophie sich vornehmen kann und muß.

1.3 Kritik der postmodernen Vernunft Nach dem intellektuellen Kollaps des Hegelschen Systems in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts und nach dem politischen Kollaps des Marxismus, der eine Art linken Hegelianismus darstellt, im Jahr 1989, als die Berliner Mauer fiel und gleich danach die Sowjetunion aufgelöst wurde, scheint die Philosophie in eine Sackgasse geraten zu sein. Statt der Großen Synthese haben wir nur mehr eine festgefahrene Situation. Die Vernunft, welche ehrgeizig war und dauernd nach der Großen Synthese forschte, die einheitliche, einzigartige und absolut umfassende Vernunft, wurde mit Hammerschlägen zerstört. Die Vernunft, einheitlich, einzigartig und großgeschrieben, ist für tot erklärt worden. Die Vernunft ist tot, ein Hoch den vielen kleinen Vernünften, den Vernünften der vielen unterschiedlichen Perspektiven, so Nietzsche, den Vernünften der verschiedenen Horizonte, wie Heidegger das will, den Vernünften der vielen Sprachspiele, wie Wittgenstein es behauptet. Die Vernunft, einheitlich und einzig18 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Kritik der postmodernen Vernunft

artig, ist tot, ein Hoch den vielen Vernünften mit ihren Relativismen. Dies war die These des postmodernen Denkens. Der positive Aspekt dieser Auflösung der Vernunft, die von der Aufklärung verfochten wurde, ist der, daß wir in unserem Jahrhundert bescheidener, verständnisvoller, offener für andere Kulturen geworden sind, toleranter dem Fremden gegenüber, aufmerksamer für das Andere. Das Individuelle, auch die einzelnen Wissenschaften, entwickeln sich enorm. Sogar die Logik, welche bisher einheitlich, einzigartig, in der Einzahl und großgeschrieben war, d. h. die aristotelische Logik und die der Meisterdenker des Mittelalters, verwandelt sich. Heutzutage haben wir neben der aristotelischen Logik, welche kleingeschrieben wird, viele andere Logiken. Heutzutage reden wir von Logiken, welche in der Vielzahl und kleingeschrieben werden. Das, was der Logik zugestoßen ist, ist ebenso mit der Vernunft im Ganzen passiert. Statt der einen Vernunft haben wir heute die verschiedenen Vernünfte, in der Vielzahl und kleingeschrieben. Die postmoderne Vernunft stellt ein Subsystem neben ein anderes Subsystem, und dieses neben ein anderes, und wiederum dieses neben das nächste, immer wieder eines neben das andere, ohne eine höhere und breitere Einheit, die sie umfassen könnte; die Lücken zwischen den verschiedenen Subsystemen bleiben leer. Die postmoderne Vernunft verneint die Existenz von Prinzipien oder Gesetzen, die absolut allgemeingültig zu sein hätten, die die verschiedenen Subsysteme verbinden würden, d. h. die jederzeit, in allen Bereichen, in allen Lücken und für alle Dinge gültig sein müßten. Mehr noch, sie behauptet, daß es – strenggenommen – gar keine Aussage gebe, die allgemeingültig sei. Nun, wer solches behauptet, widerspricht sich selbst bereits bei der Aussage. Solch eine Behauptung ist eine Kontradiktion in sich selbst, sie führt eine logische Implosion herbei. – Gehen wir zu einem anderen, einfacheren Beispiel über. Nehmen wir die Aussage Es gibt keine wahrhaftige Aussage. Wer das behauptet, sagt implizit Es gibt keine Aussage, die wahrhaftig ist, außer gerade dieser, die ich jetzt aufstelle. So verneint die implizit ausgesprochene Ausnahme die Allgemeingültigkeit dessen, was vordem behauptet wurde: es stimmt nicht, daß alle Aussagen falsch seien, da ja zumindest diese, die gerade aufgestellt wurde, als wahrhaftig aufgestellt wurde. So geschieht es auch mit der postmodernen Aussage Es gibt keine Aussage, die alle Subsysteme durchläuft; indem wir dies sagen und gar behaupten, sagen wir damit aus, daß wenigstens diese Aussage für alle Sub19 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

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systeme gültig sei. Dasselbe geschieht im Klassenraum, wenn der Lehrer sich über die Unruhe beklagt und Hänschen sagt Herr Lehrer, es redet doch aber niemand. Indem Hänschen spricht und dies sagt, widerlegt er ja genau das, was er gerade gesagt hat. Deshalb ist die postmoderne Vernunft zwar angebracht, solange sie das Andere achtet und die Vielfalt schätzt; als Ersatz für die allgemeingültige Vernunft ist sie jedoch völlig unangebracht. Sie kann nicht verallgemeinert werden; wenn das geschähe, würde sie sich selbst zerstören. Das ist der Grund, weshalb es eine postmoderne Philosophie in dem Sinne nicht gibt und auch nie geben wird. Wer Philosophie in der Art postmoderner Vernunft betreiben will, indem er Subsysteme nebeneinander setzt, ohne jemals eine Theorie, so minimal sie auch sei, aufzustellen, ist dem Mißerfolg des Selbstwiderspruchs ausgeliefert. Mein Freund Habermas möge mir verzeihen, aber es klappt nicht: es implodiert einfach. Damit ist bewiesen, daß man zu einer einheitlichen, einzigartigen und absolut allgemeingültigen Vernunft zurückkommen kann. Sie kann aus wenigen Regeln und Prinzipien bestehen; vielleicht besteht sie ja nur aus einem einzigen Prinzip, aber es gibt eine solche Vernunft. Wer dies verneint, geht dabei drauf und gerät in Selbstwiderspruch. Die Erklärung der Welt mag minimalistisch sein. Aber sie ist möglich. Der eher negative Aspekt der postmodernen Vernunft ist der Unrat, der sich in den Lücken zwischen den diversen Subsystemen anhäuft. Dahinein, in diese leeren Zwischenräume nämlich, fegen wir die Kontradiktionen und die unerledigten Probleme. Zwischen dem einen und dem anderen Subsystem staut sich der Unrat der Vernunft. Die einzelnen Theorien, kaum wie Subsysteme artikuliert, erlauben es, daß zwischen dem einen und dem anderen Subsystem die größten Absurditäten aufkommen und sich breit machen. Die Kontradiktionen wurden nicht geklärt, nur weggefegt. Und das reicht nicht aus. Man muß sowohl die Vielfältigkeit als auch die Einheit bedenken. Ohne Einheit gerät, wie wir sahen, die Vielfältigkeit in Kontradiktion. Vielfältigkeit in der Einheit, Einheit in der Vielfältigkeit, man muß beide gleichermaßen legitimen und notwendigen Pole zusammenbringen. Es wird nötig, sowohl Parmenides als auch Heraklit neu zu denken.

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Die Kugel des Parmenides

1.4 Die Kugel des Parmenides Parmenides, einer der großen Denker der vorsokratischen Philosophie, war gewissermaßen der Vorgänger der postmodernen Vernunft. Er stellt zwei große Subsysteme gegeneinander auf: das reale, wirkliche Sein und die doxa, der bloße Schein. Parmenides sagt, daß die wirklich reale Wirklichkeit nur das unbewegliche Sein ist, reine Ruhe ohne jegliche Bewegung. Dieses unbewegliche und unveränderliche Sein wird von der Kugel symbolisiert, die kein Ende hat, wo man mit dem Finger darüberfährt, ohne je an einen Anfang oder Ende zu kommen. Und die Dinge dieser Welt, die in Bewegung sind, die sich bewegen, die entstehen und wieder vergehen, nun, diese Dinge, behauptet Parmenides, sind keine wirklich reale Wirklichkeit, sie sind eine doxa, bloßer Schein, worunter gar kein wirkliches Wesen ist. Der Schein trügt. Auf der einen Seite das Subsystem des wirklichen, realen Seins, auf der anderen Seite das Subsystem des Scheins. Aber Parmenides ist kein Postmoderner. Er war radikaler, er opferte allen Schein, die vielfältigen Dinge dieser Welt, in der wir leben, auf dem Opfertisch einer überzogenen Rationalität, eines einheitlichen, einzigartigen, unbeweglichen, unveränderlichen, nie abschließenden Logos. Was ist, sagt Parmenides, das ist. Was nicht ist, das ist nicht. Und was nicht ist, ist nichts, bedeutet nichts und tut nichts. Das Nicht-Sein gibt es nicht, es kann nicht einmal gedacht werden. Bewegung ist immer der Übergang vom Sein zum Nicht-Sein, d. h. die Vergängnis. Oder dann ist es der Übergang vom Nicht-Sein zum Sein, d. h. die Geburt. Nun, da es das Nicht-Sein nicht gibt, weil es nichts ist, gibt es keinen Übergang zum Nicht-Sein. Es gibt gleichsam keinen Übergang, der vom Nicht-Sein ausginge; vom Nicht-Sein kann nichts kommen. Das bedeutet, es gibt weder Vergängnis noch Geburt. Vergehen und Geboren-werden sind Illusionen, bloßer Schein. Denn der Logik nach ist das Nicht-Sein ja nicht nichts. Und alles, was das Nicht-Sein bestimmt, wird als nicht-seiend bestimmt, d. h. es ist nichts, es ist reine Illusion. Also, argumentiert Parmenides, gibt es keine Bewegung. Und wenn wir denken, daß sich etwas bewegt, handelt es sich um eine Illusion. Um darzustellen, was er für die logische Unmöglichkeit der Bewegung hält, bringt Zenon von Eleas, Schüler des Parmenides, zuerst das Beispiel des Rennens zwischen Achilles und der Schildkröte dar und dann noch das Beispiel des unbeweglichen Pfeils. Achilles schlägt einer Schildkröte ein Wettrennen vor. Da Achilles ein großer Held 21 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

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und vortrefflicher Läufer ist, bittet die Schildkröte um zehn Meter Vorsprung. Achilles stimmt zu, und das Rennen beginnt. Merkt auf, behauptet Zenon, wie die Bewegung etwas Kontradiktives ist, merkt auf, daß Achilles nicht gewinnen kann. Man braucht nur nachzudenken. Denn bevor er die Entfernung durchläuft, die ihn von der Schildkröte trennt, muß Achilles die Hälfte dieser Entfernung durchlaufen. Und bevor er diese Hälfte durchläuft, muß er wiederum die Hälfte dieser Hälfte durchlaufen. Und bevor er die Hälfte dieser Hälfte durchläuft, muß er die Hälfte dieser Hälfte durchlaufen. Und immer so weiter. Da jede Menge unendlich teilbar ist und es immer wieder eine neue Hälfte der Hälfte gibt, kommt man zu dem Schluß, daß Achilles nicht einen Schritt vorwärtskommt, seinen Vorteil nicht einholen kann und somit das Rennen gegen die Schildkröte verliert. Warum? Weil die Bewegung, so Zenon, kontradiktiv ist, sie kann nicht zu Ende gedacht werden, ohne daß eine unlösbare Kontradiktion entsteht. – Derselbe Gedankengang wird auf den Pfeil angewandt, der vom Schützen auf ein beliebiges Ziel abgeschossen wird. Der Pfeil, da er die unendlichen Hälften der Hälfte durchmessen muß, steht still. Der unbewegliche Pfeil und das Rennen des Achilles mit der Schildkröte, meint Zenon, beweisen die These des Parmenides, daß Bewegung unmöglich sei, und daß wir uns deshalb nur an das einheitliche, einzigartige, unendliche und bewegungslose Sein halten dürften, das, was das Sein wirklich sei. Das ist die Kugel des Parmenides. Parmenides, der große Denker des einheitlichen, einzigartigen, unendlichen und bewegungslosen Seins, ist trotz dieses großen Irrtums der intellektuelle Mentor aller wahren Philosophie, denn er ist es gewesen, der zuerst so ernsthaft die Einheit von Vernunft und Sein durchdacht hat. Alles ist das Eine. Das All und das Eine, hen kai pan, sind Anfang und Ende aller Philosophie, aller Wissenschaft, die man als die Große Synthese begreifen möchte. Sein für alle sichtbarer Irrtum war es, nicht auf die gleiche Weise den Moment der Vielfalt und der Bewegung ernstgenommen zu haben. Er schaffte es nicht, das Nicht-Sein als etwas zu denken, das gewissermaßen doch ist. Parmenides hat das All und das Eine, es fehlt ihm jene Bewegung, die in allem fließt. Es fehlt Heraklit.

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Der Hof des Heraklit

1.5 Der Hof des Heraklit Nach Heraklit fließt alles, panta rei, alles befindet sich in ständigem Fluß, alles ist Bewegung. Die wirklich reale Wirklichkeit ist nicht die unbewegliche und unveränderliche, grenzenlose Kugel der Eleaten, sondern die Bewegung, die ohne je zu enden immer wieder beginnt. Es gibt weder Anfang noch Ende, hier stimmt Heraklit mit Parmenides überein, aber nicht, weil es keine Bewegung gäbe, sondern weil alles in ständiger Veränderung ist. Was für die Eleaten doxa war, bloßer Schein und Illusion, wird jetzt zur tatsächlichen, realen Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist nicht nur Sein, sie ist ebensowenig nur Nicht-Sein. Die wirklich reale Wirklichkeit ist eine Spannung, die Sein und Nicht-Sein verbindet und in Einklang bringt. Hier erscheint zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie die Dialektik. Sein und Nicht-Sein, These und Antithese, werden auf einer höheren Ebene mittels einer Synthese in Einklang gebracht. Sein und Nicht-Sein, welche sich auf den ersten Blick widersprechen und ausschließen, bilden in der wirklich realen Wirklichkeit eine synthetische Einheit, welche das Sein in Bewegung vorstellt, das Im-Kommen-Sein. Im Werden gibt es ein Element, das Sein, aber außerdem gibt es ein anderes, genauso wesentliches Element, das Nicht-Sein. Sein und Nicht-Sein, gut vermischt, widersprechen sich nicht mehr und schließen sich nicht länger aus, sondern werden zu einem Stoff und verschmelzen, um eine neue Wirklichkeit zu bilden. So haben wir bereits bei Heraklit die Grundrisse der Dialektik. In einem ersten Moment sind da zwei entgegengesetzte Pole, die sich gegenseitig ausschließen. These und Antithese widersprechen sich, eine schließt jeweils die andere aus. In diesem ersten Moment beseitigt und vernichtet ein Pol den anderen, sie sind gegenseitig ausschließend. Nur daß es nicht dabei bleibt. Es gibt eine Bewegung, es gibt eine Entwicklung, es gibt einen Fortschritt. Und dann, in dieser zweiten Phase, werden die Pole in Einklang gebracht und vereinigen sich, um dann auf einer höheren Ebene eine neue Einheit zu bilden. Heraklit bedient sich des Musikinstruments der alten Griechen, der Leier, als Beispiel. Die Leier besteht aus einem Bogen und den Saiten. Wer eine Leier bauen will, nimmt ein geeignetes Stück Holz und biegt es, bis es zum Bogen wird. Nur daß der Bogen, sobald er losgelassen wird, seine gerade Form wiedergewinnt. Um den Bogen gekrümmt zu halten, muß man ihn mit einer oder mit verschiedenen 23 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

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Saiten festigen. Der Bogen und die Saite stehen in dieser ersten Phase in Spannung gegeneinander. Der Bogen will die Saite zerreißen, die Saite will den Bogen krümmen. Dieser in der ersten Phase der Dialektik existierende Gegensatz bringt, wenn überhaupt und zum rechten Zeitpunkt dosiert, etwas völlig Neues, etwas Wunderbares hervor: die Musik. Die Spannung in der ersten Phase, der Bogen gegen die Saite, die Saite gegen den Bogen, macht jener Synthese Platz, welche die Musik – gleichwohl großgeschrieben – ist. Die Musik, eine der neun Göttinen, die die Künste regieren und inspirieren. In der ersten Phase gibt es ausschließende Gegensätzlichkeit und Konflikt, in der zweiten Phase ein synthetisierender Einklang, der etwas Neues hervorbringt, das höher, komplexer, edler ist. Eines der schönsten Beispiele von Dialektik, sehr bekannt in der Antike, aber heutzutage selten erwähnt, ist die Bewegung von fílesis, antifílesis und filía, d. h. die dialektische Bewegung, die aus einer anfänglichen Liebe hervorgeht, welche vorstellig wird und fragt, die dann zu einer Liebe kommt, die die Frage bejaht, bis hin zur Liebe, die, liebend, sich erwidert weiß. Diese Liebe, jetzt synthetisch geworden, gehört nicht mehr nur dem einen oder dem andern der Liebenden, sondern sie ist zu beider Einheit geworden. Die Griechen nannten dies filía, Freundschaft. Die Liebe hat einen Anfang. Einer muß beginnen. Der Anfang geschieht im Alleingang und ist immer riskant. Man weiß von vornherein nicht, wie der oder die andere reagieren und antworten wird. Dieser einseitige und riskante Akt nennt sich auf Griechisch fílesis. Paris liebt Helena. Paris liebt und weiß, daß er liebt; Helena bemerkt die Aufforderung, kann sich jedoch noch nicht entscheiden. – Der oder die andere kann sowohl mit Ja als auch mit Nein antworten. Das ist anfangs offen und unbestimmt. Wenn jedoch der oder die andere mit Ja antwortet, haben wir eine antifílesis, welche auch ein einseitiger, wenn auch nicht mehr riskanter Akt ist, denn es ist jetzt keine Frage und keine Aufforderung mehr, sondern eine Antwort und die Annahme einer bereits getätigten Aufforderung. Helena beschließt, Paris’ Liebe anzunehmen und erwidert sie. Diese erwiderte Liebe ist die antifílesis. Fílesis und antifílesis sind beides einseitige Handlungen; fílesis enthält ein Risiko, antifílesis jedoch nicht. Es handelt sich um zwei unabhängige, vollständige und abgeschlossene Handlungen, voneinander unterschiedlich und gegensätzlich; die eine ist These, die andere Antithese. Aber wenn sich beide kreuzen und – auf einer anderen Ebene – in einer einzigen, komplexeren, höheren 24 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

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und edleren Wirklichkeit verschmelzen, dann haben wir filía. In der filía verschmelzen beide anfangs unterschiedliche und entgegengesetzte Pole, der fragende und der antwortende, sie vermischen sich und bilden etwas Neues. In der filía sind die individuellen Lieben nicht mehr einseitig, sie verwandeln sich in etwas Einzigartiges, Bilaterales, wo es nicht mehr darauf ankommt, wer fragt und wer antwortet, denn beide anfänglichen Lieben sind jetzt nicht mehr individuell, das Ich und das Du, sondern sie vereinigen sich, um etwas Neues zu bilden, das Wir. Paris und Helena verlieren sich anfangs, als sie sich verlieben. Denn der Sinn der Existenz eines jeden befindet sich ab jetzt im anderen. Der andere ist es, der den Sinn des Lebens erfüllt, der andere ist es, der geliebte Mensch, der zum Sinn des Alls geworden ist. Paris ist völlig in Helena verliebt. Paris ist der, der sich zuerst verliert: wer liebt, verliert sich ständig. Aber sowie Helena Paris’ Liebe erwidert, beschreibt der Sinn des Alls einen vollständigen Kreis und kehrt zu Paris zurück, welcher, nun tief bereichert, sich wieder voller Sinn und Leben weiß. Nur daß dieses neue Leben und dieser neue Sinn des Alls keine einseitige Handlung seinerseits sind, sondern eine gemeinsame, eine bilaterale Handlung, ein Akt, in dem das Ich durch das Du vermittelt wurde, um ein Wir zu bilden. Deshalb ist die Freundschaftsliebe, filía, so stark und so kostbar. Deshalb haben Griechen und Trojaner über so viele Jahre hinweg Krieg geführt. Deshalb, einzig aus Freundschaftsliebe, führen die Völkerhirten Achilles, Odysseus und Agamemnon die Griechen mit ihren krummen Schiffen in den endlosen Krieg. Nur deshalb kämpfen die Trojaner, von Paris angeführt, bis zum Tod. Allein wegen einer Frau, sagt Homer in der Ilias. Allein wegen der filía, welche über die Einzelmenschen hinauswächst und zur höchsten und stärksten Synthese wird. Liebe wird hier zu Geschichte. Die Geschichte von Griechen und Trojanern, die Ilias und die Odyssee, der Beginn unserer Zivilisation. These und Antithese sind, in einer ersten Phase, entgegengesetzte Pole, die sich abstoßen und sich ausschließen. In einer zweiten Phase vereinen sich beide in einer Synthese, die etwas Höheres und Edleres ist. In der Synthese, so wird Hegel sehr viel später sagen, sind die anfänglichen Pole überwunden und werden darin aufgehoben. Einerseits sind sie überwunden worden, weil sie einige ihrer Eigenschaften verloren haben. Im Beispiel der Freundschaftsliebe werden Eigenschaften wie Einseitigkeit und Risiko überwunden und verschwinden so. Andererseits jedoch werden die Pole in der Synthese 25 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

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aufbewahrt, denn der positive Kern, der schon in ihnen steckte, bleibt erhalten. Wenn die Liebe nicht mehr eine einseitige Handlung ist, wird sie zu noch mehr Liebe, sie ist jetzt eine höhere und edlere Liebe. These, Antithese und Synthese bilden das, was die griechischen Philosophen als das Spiel der Gegensätze bezeichnen. Dies ist der Anfang und die Wurzel der Dialektik. Heraklit, der Vater der Dialektik, sagt, daß wir nicht zweimal in denselben Fluß steigen können. Der Fluß ist nicht derselbe, wir sind nicht dieselben. Alles ist in Bewegung, ist die Bewegung, welche die wirklich reale Wirklichkeit ist. Die Wirklichkeit, lehrt er, baut sich dialektisch aus dem Spiel der Gegensätze auf. Im Anfang ist alles Kampf und Krieg, denn die Gegensätze stehen sich gegenüber und schließen sich aus: Pólemos patér pánton, der Krieg ist der Vater aller Dinge. Aber danach gibt es oft eine vermittelnde Synthese, die etwas Neues entstehen läßt, etwas Komplexeres, das höher und edler ist. Aus dem Spiel der Gegensätze ergibt sich nicht immer etwas Positives. Oft kommt es nur zu Tod und Zerstörung. In diesen Fällen wirken die entgegengesetzten Pole nur als zerstörende Kräfte. Der erste löst den zweiten auf, oder umgekehrt, oder sie lösen sich gegenseitig auf. Da gibt es keine Synthese, da wird keine Dialektik geübt. Man merkt sofort, daß die Synthese zur großen Frage für das Verständnis des Alls geworden ist. Wann und warum gibt es eine Synthese? Daß es Synthesen im All gibt, ist eindeutig. Man braucht ja nur den Kosmos zu betrachten. Aber die Frage ist: warum gibt es manchmal eine Synthese und manchmal nicht? Wer dies herausfindet, wird die Antwort auf die Frage zur Harmonie im All, welches ein geordneter Kosmos ist, herausfinden. Die Zentralfrage aller Philosophie, der Wissenschaft der »Großen Synthese«, ist: warum schließen sich die Gegensätze manchmal aus, warum versöhnen sie sich manchmal? In der Zeit zwischen Parmenides und Heraklit öffnet sich jener Raum, in dem seither Philosophie gemacht wird. Indem Parmenides sagt, daß alles das Eine ist, liefert er das Element des umfassenden, allumfassenden Logos. Indem Heraklit sagt, daß alles fließt und eine Bewegung der entgegengesetzten Pole ist, liefert er das Element der Dialektik. Hen kai pan und panta rei: Eins und Alles und alles fließt sind seitdem die Leitmotive einer jeden Philosophie. Deshalb muß genau in der Mitte eines Hofes, der symbolisch für unsere westliche Philosophie dastehen soll, eine Steinkugel zu sehen sein, eine Kugel, die auf die Seins-Einheit des Parmenides hinweist. Aber, so wie die 26 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

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Philosophie des Parmenides durch jene des Heraklit analysiert und korrigiert werden muß, ist es auch nötig, daß sich diese Kugel in einer ewigen Fließbewegung befinde. Wasser muß aus ihr strömen wie aus einer Quelle, damit die Kugel, umgeben von diesem Wasserfluß, zum Symbol werde der Großen Synthese zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen Totalität und Dialektik.

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2 Das Spiel der Gegensätze

2.1 Die Naturphilosophie der Vorsokratiker In unserer Kultur waren es die vorsokratischen Philosophen, die zuerst ein rationales Bild der Welt skizzierten, indem sie beschrieben, wie sich die Natur bildet, woraus sie besteht, welchen Platz der Mensch in ihr einnimmt. Vor diesen ersten Rationalitätsbaumeistern gab es nur den Mythos. Der Mythos ist eine erste, noch unkritische Form des Philosophierens, d. h. man beginnt, die Welt als ein Ganzes zu denken, das All in seiner Ganzheit zu denken. Unter den Griechen gewinnt der Mythos die Rolle einer Genealogie. Am Anfang, ganz am Anfang, so erzählen die alten Griechen, gibt es nur das Chaos. Das Chaos ist der Anfang von allem und der erste der Götter, Vater und Ursprung aller Dinge. Aus dem Gott Chaos entstehen also noch andere Götter in einer genealogischen Reihe, indem immer ein Gott des nächsten Vater ist, bis wir zu den aktuellen Göttern gelangen, welche heutzutage den Olymp bewohnen, eine Gruppe von Göttern, die von Zeus angeführt werden. Auch in der jüdisch-christlichen Tradition nimmt der Mythos eine genealogische Grundform an. Im Anfang, so die Bibel der Juden und Christen, war nur Gott. Bevor er die Dinge schuf, war Gott nur er selbst, er war allein. Dann, am ersten Tag, schafft Gott, der Vater aller Dinge, das Licht, und er nennt dieses Licht Tag, und das Dunkel nennt er Nacht. Am zweiten Tag macht Gott die Himmelswölbung und trennt die Wasser, und so gibt es dann die Wasser unter der Himmelswölbung, die Meere und Flüsse, und die Wasser über der Himmelswölbung, die später herunterkommen als Regen. Am dritten Tag trennt Gott die Erde vom Meer, so daß dadurch der Boden erscheint, das Grün, die Pflanzen und die Obstbäume. Am vierten Tag schafft Gott Vater die Lichter an der Himmelswölbung, ein großes, die Sonne, und ein kleineres, den Mond, und so wird der Tag von der Nacht getrennt. Er schafft auch die kleinen Lichter an der Himmelswölbung, die Sterne. Am fünften Tag schafft Gott, der Schöpfer, die Tiere, die in 28 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Naturphilosophie der Vorsokratiker

den Wassern leben, die Fische, sowie jene, die auf dem Land leben, das Vieh und die Kriechtiere, und auch jene fliegenden, die Vögel, jedes einzelne nach seiner Art. Gott segnet sie dann und heißt sie, sich zu mehren. Am sechsten Tag schafft Gott den Menschen nach seinem Abbild und Ähnlichkeit, damit er walte über die Fische im Meer, über die Vögel am Himmel, über das Vieh und alle Kriechtiere, und auf diese Weise die Erde beherrsche. Dann hört Gott auf, schaut auf seine Schöpfung und sieht, daß alles wohlgeraten ist. Und am siebten Tag, so der biblische Mythos, ruht Gott von seiner Schöpfung aus. Von diesem ersten Anfang aus ist die ganze Bibel eine genealogische Geschichte, eine Geschichte der Patriarchen und ihrer Völker, besonders im Hinblick auf das jüdische Volk. Sowohl der Mythos der Griechen als auch der Mythos der Juden und Christen erzählen die Ursprungsgeschichte des Alls von ihrem Anfang bis zur geschichtlichen Zeitenfolge. Die vergangene Zeit wird wie eine Geschichte zusammengefaßt, welche einen Anfang hat und bis in die Gegenwart führt, und damit gibt sie den Dingen einen Sinn und ebenso unserem Leben. Diese geschichtliche Zusammenfassung der vergangenen Zeit, die immer Wertschätzungen enthält – das Gute und das Schöne –, bildet den Hintergrund für die Gegenwart. Eine derart zusammengebaute Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart erfüllt auch den jetzigen Alltag mit ethischen und ästhetischen Werten, so daß man die zukünftige Zeit planen kann. Herodot zum einen und die jüdisch-christliche Genesis zum anderen sind Geschichten des Uranfangs der Welt und der geschichtlichen Folge der Generationen. Beide Mythen haben großen poetischen Wert und wirken wie strukturierende Archetypen einer bestimmten Weltanschauung. Im jüdisch-christlichen Mythos gibt es eine Struktur, die einerseits einen Ursprung, den alles schaffenden Gott, aufzeigt, und andererseits die geschaffenen Dinge, die Geschöpfe, welche später in eine genealogische Folge kommen, dagegenstellt. Gott, Ursprung aller Dinge, wird da auch in genealogischer Form als Schöpfer und Vater aller Dinge gedacht. Deshalb ist Er letztens für alles verantwortlich und schafft sogar auf krummen Wegen das Gute. Im griechischen Mythos gibt es eine Gedankenversetzung. Im griechischen Denken wird der Ursprung nicht als ein wirksames, dem Ablauf des Alls äußerliches Prinzip, sondern als ein innerer Ursprung, ein internes Prinzip der Selbstbestimmung angesehen, der das All von innen nach außen formt. Der Urgott ist Chaos. Der Gott Chaos ist, wie der Name besagt, völlig unbestimmt; in ihm gibt es keine abgegrenzten 29 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Spiel der Gegensätze

oder auch nur umrissenen Dinge. Aber gerade aus diesem Chaos heraus, aus diesem Gott Chaos heraus, kommt allmählich das wohlgeordnete All hervor. Das Chaos ordnet sich, formt sich und bildet, aus sich heraus, seine Bestimmungen. Indem es sich selbst bestimmt, gibt sich das Chaos Form und Bild. Von da aus entstehen die anderen Götter und, in deren Folge, auch die Menschen. Die vorsokratischen Philosophen kennen den Mythos und schätzen seine wilde Schönheit und seine pädagogische Bedeutung. Aber man muß rational denken und argumentieren. Das ist Philosophie, und deshalb und dafür gibt es die Philosophen. Das bedeutet, der Entstehungsprozeß des Alls muß mit jener Genauigkeit und objektiven Kühle analysiert und beschrieben werden, die die Wissenschaft kennzeichnen. In der Geometrie finden die ersten Denker ihre Lust an der wissenschaftlichen Objektivität. Die Naturphilosophie sollte so genau, so objektiv und so überzeugend sein wie die Geometrie. Die Vorsokratiker haben es wohl versucht, aber sie sind nicht bis dahin gekommen. Thales von Milet dachte, der Ursprung und der Anfang – die arkhé – aller Dinge sei das Wasser. Die Dinge bestehen und unterscheiden sich voneinander durch ihren Feuchtigkeitsgrad. So ist der Gott Okeanos der Vater aller Dinge. Anaximander, auch aus Milet und wahrscheinlich ein Schüler von Thales, sagt, daß der Uranfang ein völlig ungenaues, grenzenloses und unbestimmtes Wesen sei, das ápeiron, und daß dieses Wesen allmählich von Bestimmungen gekennzeichnet wird, die es mehr und mehr eingrenzen, bis es die bestimmten Dinge bildet, die wir in der wahrnehmbaren Welt erkennen. Dieses erste, unbestimmte Sein, das ápeiron, umschließt und grenzt alle Dinge ein, es regiert und herrscht über alles. Anaximenes aus Milet, Schüler des Anaximander, nimmt die Lehre seines Meisters über das unendliche Wesen, welches den Anfang aller Dinge darstellt, an, aber nicht in dieser abstrakten Form, sondern er definiert es gleichsam als Luft: die Luft, sagt er, ist der Anfang aller Dinge. – Wir bemerken hier, in der Naturphilosophie der ionischen Philosophen, eine erste und primitive Form des Spiels der Gegensätze. Das erste Prinzip steht im Gegensatz zu den differenzierten Dingen, die aus ihm entstehen und dadurch erklärbar werden. Philosophie ist hier schon zu einer explicatio mundi geworden, zu einer Erklärung der Welt; die Welt wird als ein Ablauf dargestellt, der aus einem einzigen Anfang entsteht und sich nach bestimmten Regeln entwickelt. Es ist noch nicht die aktuelle Lehre der Physik über den Big Bang, aber doch ihr erster Anfang. 30 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Naturphilosophie der Vorsokratiker

Pythagoras und die Pythagoräer gehen einen Schritt weiter und entdecken die Zahl als Anfang aller Dinge. Hier beginnt, um nie mehr zu enden, die Mathematisierung der Welt. Die von den Zahlen unter sich festgelegten Beziehungen bilden die Regeln, die den Ablauf der Erklärung der Welt bestimmen. Das All entwickelt sich, von einem Uranfang aus, nach numerischen Regeln und Proportionen, die diesen Ablauf bestimmen und den Dingen ihre Form geben. Jede Zahl besitzt ihren eigenen Sinn und gibt den Dingen eine bestimmte Form. Die Zahl 10 wird als die perfekte Zahl erachtet und steht als gleichseitiges Dreieck da, in dem jede Seite aus vier Zahlen gebildet wird; in der Mitte des so gezeichneten Dreiecks ist ein einziger Punkt, jener Mittelpunkt, der die Zahl 10 vervollständigt. Die sogenannte Zahlenmystik der pythagoräischen Philosophen, die später Platon und die ganze neuplatonische Schule beeinflussen wird, ist die Wiege der aktuellen Gleichungen in der Physik. Parallel zur Zahlenlehre entwickeln die pythagoräischen Philosophen dann noch das Spiel der Gegensätze. Schon die Zahlen haben unter sich eine Beziehung des Gegenteils. Das Eine widersetzt sich dem Anderen, welches also das Zweite genannt wird. Aus diesem ersten Gegensatz entstehen die Zahlen 1 und 2. Aber es muß eine Synthese geben, man muß sowohl die 1 wie die 2 als eine neue Menge denken, und da entsteht die 3. Die These ist die 1, die Antithese ist die 2, die Synthese ist die 3. Deshalb, so die Pythagoräer, sind die ungeraden Zahlen die perfekteren: in ihnen denkt man sich, außer der Opposition beider gegensätzlicher Pole, auch ihre Synthese. Das aus zehn Punkten gebildete Dreieck, oder die 10 in Dreiecksform, ist die Vollkommenheit an sich. Wenn wir einmal bei der 10 angelangt sind, wird alles zur reinen Wiederholung. Auf die Art entsteht, um nie mehr aus unserer Zivilisation zu verschwinden, das Dezimalsystem des Zählens und Rechnens. Zu dieser Zahlenmystik kommt noch die Liste der zehn Gegensatzpaare – der Elementarsubstanzen –, welche, je nachdem wie sie miteinander kombiniert werden, allen Dingen ihre Form geben: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Begrenzt Ungerade Eins Rechts Männlich Ruhig

Unbegrenzt Gerade Vielfach Links Weiblich Beweglich 31 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Spiel der Gegensätze

7. 8. 9. 10.

Gerade Licht Gut Quadrat

Gekrümmt Finsternis Böse Rechteck

Das Spiel der Gegensätze zeigt sich hier wie eine Basistabelle der Gegensätze. Nach den pythagoräischen Philosophen kann derjenige, der mit diesen zehn Gegensatzpaaren, welche wie die Konstruktionselemente der existierenden Wesen sind, zu spielen lernt, die interne Struktur aller Dinge zusammenstellen. Dies ist die erste, noch grobe und primitive Form dessen, was wir heute in der Chemie als Periodensystem der Elemente bezeichnen. In der aktuellen Chemie werden die Atome nach dem Atommodell von Niels und Rutherford gedacht. Ein Elektron kreist um einen Atomkern, die positive und die negative Elektrizität kommen zum Gleichgewicht, und auf die Art haben wir ein stabiles Molekül, haben wir Wasserstoff. Wenn statt einem zwei Elektronen in der Umlaufbahn sind, handelt es sich bereits um das zweite Element des Periodensystems usw., bis wir beim Element 118 angelangt sind, das nur im Labor entstehen kann. Heutzutage sind sich die Chemiker meistens dessen nicht gewahr, aber sie sind direkte Nachkommen der pythagoräischen Philosophen. Im gleichen Sinn seiner Vorgänger, immer mittels des Spiels der Gegensätze, ist Empedokles der erste, der eindeutig das von Parmenides und Zenon von Elea gestellte Problem lösen will. Es wird ihm klar, daß es das Nicht-Sein nicht gibt und es nicht einmal gedacht werden kann. Er nimmt diese anfänglicheVoraussetzung aus dem Argument der Eleaten an, nicht aber deren Folgerung. Man kann nicht daraus folgern, so behauptet er, daß die Bewegung undenkbar sei, daß sie kontradiktiv sei und gerade deshalb unmöglich und also nicht vorhanden. Im Gegenteil, die Bewegung existiert, nur ist sie nicht der Übergang vom Sein zum Nicht-Sein oder umgekehrt, sondern sie besteht aus Mischungen und Auflösungen von vier Grundsubstanzen, die ewig und unzerstörbar sind: Wasser, Erde, Luft und Feuer. Die Grundelemente sind nicht zehn Gegensatzpaare, sondern zwei. Die Bestimmungen der Dinge ändern sich je nach Zusammensetzung dieser vier Elemente in ihnen. Die Dosierung von flüssig und fest, von Feuer und Luft, die Proportion, in der sich diese Elemente vermischen, ist das, was den Dingen Form und Bild verleiht. Anaxagoras von Klazomenei akzeptiert ebenso die Voraussetzung, daß das Nicht-Sein nicht existieren kann, und denkt die Welt 32 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Naturphilosophie der Vorsokratiker

weiterhin als eine Abwechslung von Zusammensetzung und Auflösung der Grundelemente. Im Gegensatz zu Empedokles meint Anaxagoras, es sei nicht möglich, nur aus den vier Elementen die wirkliche Vielfalt der Dinge aufzubauen. Er postuliert dazu die Existenz von spermata, Samen. Dieses Wort an sich, das ja schon im Griechischen den männlichen Samen meint, zeigt die biologische Tendenz dieser Philosophie. Die Spermata seien zahlenmäßig unendlich, von unendlicher Vielfalt, jedes in sich selbst teilbar, ohne dadurch ihre keimende und bestimmende Kraft zu verlieren. Diese anfängliche Spermamasse sei der Rohstoff der Welt. Die Bestimmungen der Dinge werden sodann von einer ordnenden Intelligenz, dem nous, produziert, der diese Spermata auf geordenete Weise vermischt. Das Bild des schaffenden Gottes erscheint hier nicht als eine äußerliche, sondern innere Ursache, die, vom Innern des Chaos ausgehend, dieses ordnend gestaltet. Von den Spermata des Anaxagoras kommen wir nun zu den Atomen von Leukip und Demokrit, den ersten Atomisten. Ihrer Auffassung nach, die ebenso das Prinzip anerkennt, daß es das Nicht-Sein nicht geben kann, sind diese Uranfänge aller Dinge qualitativ gleich, a-tome, d. h. sie sind unteilbar. Tomein bedeutet zerteilen, ein Atom ist etwas Unteilbares, was nicht mehr zerlegt werden kann, weil es ein Urelement ist. Die untereinander undifferenzierten Atome bilden anfangs eine formlose Masse. Diese unzählbaren Atome befinden sich anfangs in freiem Fall. Der Zufall – man erkenne hier wiederum den Gott Chaos – bringt während des freien Falls in diesen senkrechten Linien kleine Verschiebungen auf der einen und der anderen Seite hervor. Diese kleinen Verschiebungen verdicken, mehr oder minder, die Konzentrierung der Atome. Diese Variationen der Verdichtung bilden den Kern der Erklärung der Welt. Jedes Ding ist, was es ist, wegen der Änderung der Atomkonzentrierung. Die Atome und der Zufall bilden die beiden Elemente, die die Natur der Dinge erklären. Die Atome werden wir im Atommodell der modernen Physik wiederfinden. Nur daß sie sich nicht in freiem Fall befinden, sondern in Kreisbewegungen. Die Elektronen kreisen in einer Umlaufbahn um einen Kern. Wenn man die Zahl der kreisenden Elektronen erhöht, erhöht sich auch das spezifische Gewicht der Elemente, des Wasserstoffs, Element Nr. 1, bis zum Element Nr. 118. Den Zufall werden wir in der Physik in der Unschärferelation von Heisenberg wiederfinden und besonders auch in der Zufallsmutation der modernen Biologie. 33 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Spiel der Gegensätze

2.2 Die Sophisten »Sophist« ist ursprünglich ein Begriff für weise, sofía bedeutet Weisheit; deshalb bedeutet Philosophie etymologisch Liebe zur Weisheit. Der Begriff »Sophist« sowie das Wort »Sophismus« bekamen erst später, nach der Polemik mit Platon und Aristoteles, einen abwertenden Sinn. Die Sophisten sind es, die zuerst Heraklits Spiel der Gegensätze von der Ebene der Naturphilosophie auf die Ebene der sozialen Beziehungen übertragen. Die Sophisten beschäftigen sich nicht so sehr mit der Natur wie mit dem Leben des Volkes in den Städten; sie interessieren sich für das demos, das Volk, und für die Polis. Das ist die Zeit, in der in Griechenland die alte Aristokratie langsam, aber unausweichlich in Dekadenz gerät, und zusehends die Macht des Volkes aufkommt. Das Volk ist es, das Handel betreibt, das von einer Stadt zur andern reist, das die engen Grenzen der alten Welt durchbricht und, durch die Reisen und die Reisenden, neue Horizonte öffnet und neue Werte und Tugenden einführt. Die Polis ist nicht mehr die isolierte Stadt mit ihrer eigenen Verfassung und ihren traditionellen Tugenden, sie entdeckt sich als eine Stadt unter vielen anderen. Jetzt erscheint etwas Neues, es wird intellektuell und politisch nötig, neu zu diskutieren und zu definieren, was Tugend ist, was gut, was schlecht. Es ist nicht mehr selbstverständlich, daß eine bestimmte Handlungsweise tugendhaft ist, nur weil sie in der Tradition gründet. Die Kraft der Beharrlichkeit, die die Tradition besitzt, dient nicht mehr als einzige Quelle der Legitimation der Tugenden. Als neue Horizonte erscheinen, kommen ebenso neue Fragen auf darüber, was das Gute ist und was das Böse. Die Tugend muß neu diskutiert und definiert werden. Was, schließlich, ist Tugend? Was ist korrekt? Was ist moralisch falsch? Das waren die von den neuen Zeiten aufgeworfenen Fragen, die sich aufdrängenden Fragen. Die ersten Antworten kamen von den Sophisten. Die Sophisten waren seinerzeit sehr wichtige Denker. Protagoras, Gorgias und Prodikos waren Menschen, welche versuchten, die Probleme ihrer Zeit kritisch zu überdenken. Die große – positive – Eigenschaft der Sophisten war die spätere Konzipierung des Spiels der Gegensätze als eine methodische Denkund Handlungsweise; so erscheint, mit immer größerer Deutlichkeit, die Dialektik. Das Spiel der Gegensätze, in das Netz der sozialen Beziehungen übertragen, bedeutet, daß jeder Mensch nur einer der entgegengesetzten Pole ist. Um einen Pol zu verstehen, um zu wissen, was ein Pol in Wirklichkeit ist und was er bedeutet, muß man diesen 34 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Sophisten

ersten Pol immer in Bezug auf seine Opposition zum zweiten Pol denken. Denn, wenn es um das Spiel der Gegensätze geht, kann jeder Pol nur in sich verstanden werden, wenn und solange er in Bezug auf sein Gegenüber gedacht ist. Jeder Mensch in seinen sozialen Beziehungen ist nur ein Pol, ein Teil. Um diesen ersten Menschen zu verstehen, muß man ihn in seiner Oppositionsbeziehung zum anderen Menschen, der sein Gegenüber ist, sehen. Die Fílesis versteht man nur richtig in Beziehung zur antifílesis; mehr noch, beide entgegengesetzten Pole können nur korrekt und vollkommen verstanden werden, wenn sie in der größeren und höheren Einheit in Einklang kommen, in der filía, in welcher beide überwunden und aufgehoben sind. Die menschlichen Beziehungen werden auf diese Weise im Licht des Spiels der Gegensätze betrachtet. Das gilt besonders für zwei Bereiche der menschlichen Beziehungen, die Rechtswissenschaft und die Politik. In der Rechtswissenschaft verwebt sich das Spiel der Gegensätze als eine der ältesten und wichtigsten Regeln jedwelcher Form von Gerechtigkeit: Man höre immer auch die andere Seite – Audiatur et altera pars. Derjenige, der vor Gericht Gerechtigkeit erlangen will, stellt immer eine der Parteien dar. Er ist nur ein einzelnes Teil eines größeren Ganzen. Damit Gerechtigkeit werde, muß immer auch die andere Seite angehört werden. Diese andere Seite, der andere Pol im Spiel der Gegensätze, muß nicht immer Recht haben. Es kann sein, daß nur die erste Partei Recht hat, möglicherweise hat nur die andere Partei Recht, vielleicht haben beide Parteien etwas Recht, d. h. beide sind vielleicht teils im Recht, teils im Unrecht. Auf jeden Fall muß man immer auch die andere Seite hören, damit es Gerechtigkeit gebe. Die erste Partei, der erste Pol des Gegensatzes, ist immer nur »Teil« im wörtlichen Sinne, ein Fragment eines größeren Ganzen. Die Gerechtigkeit fordert, daß das Recht jeder Partei im breiteren Kontext der synthetischen Position – d. h. dieses größeren und edleren Allgemeinen, in dem jeder Teil nur ein Fragment ist, ein konstitutives Element einer größeren Einheit – gewogen und beurteilt werde. Genau das, und nur das, ist Gerechtigkeit. Gerechtigkeit also, das, was wir Recht nennen, ist die ständige und systematische Ausübung des Spiels der Gegensätze. Auch mit dem Strafrecht ist es so; hierbei ist eine der Parteien immer das Volk. Bis heute enthalten die Strafprozesse in den Ländern angelsächsischer Tradition den Hinweis auf »das Volk gegen A. Smith« (»the people versus A. Smith«). Deshalb sprechen die Juristen bis heute von der Notwendigkeit des »Kontradiktorischen«. 35 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Spiel der Gegensätze

Der Begriff »kontradiktorisch« bedeutet hier den dialektischen Kontext, den wir aus der Antike übernommen haben, den Grundsatz, die andere Partei anzuhören, denn Gerechtigkeit ist immer der Prozeß der Synthesenbildung, niemals die These oder die Antithese allein, eine ohne die andere. Die Partei im Rechtssystem ist immer ein Teil, ein Fragment, das sein Gegenpart fordert, seinen Gegensatz, damit Gerechtigkeit geschehe. Bis heute. Die Juristen heutzutage übersehen oft: sie sind dialektisch, wir alle sind dialektisch. So wichtig wie im Rechtswesen ist die Funktion des Spiels der Gegensätze in der Politik, besonders bei den Volksversammlungen der Bürger, die sich in einer Demokratie bilden. Bevor ein Beschluß durch politisches Einvernehmen gefällt wird, gibt es Diskussionen und Debatten. Dabei gibt es oft eine Polarisierung, manchmal sogar einen Riß durch das Ganze. Die Auffassung und die Absichten der einen Gruppe von Bürgern weichen von der Auffassung und den Absichten der anderen Gruppe von Bürgern ab. So bilden sich zwei Gruppen mit unterschiedlichen Meinungen und Absichten. Die Einheit zerbricht in zwei Teile, und dadurch entstehen die politischen Parteien. Die politische Partei versteht und rechtfertigt sich nur als Gegensatz zu ihrer Gegenpartei. Beide Gruppen müssen debattieren und miteinander reden, denn die Identität der einen wird von der Identität der anderen bestimmt. So wird Politik gemacht. Es kann passieren, daß die eine Gruppe hundertprozentig Recht hat und die andere Gruppe davon überzeugen kann; es kann auch sein, daß jede Gruppe nur teilweise Recht hat und daß, falls es von beiden Seiten Zugeständnisse gibt, ein allgemeiner Wille entsteht. Da wäre der allgemeine Wille jene höhere und edlere Einheit, jene synthetische Einstellung, in der – und nur in der – die Parteien, die ja nur Teilstücke sind, ihren Sinn und ihre Rechtfertigung haben. Andererseits erkennt man sofort, daß es Politik nur gibt, wenn es zwei Parteien gibt. Das Einparteiensystem ist ein politisches Monster, das gilt sowohl für die despotischen Regimes der alten Griechen wie für die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Noch einmal haben wir hier das alte Spiel der Gegensätze. Die Sophisten waren sicher nicht die Erfinder von Recht und Politik, aber sie waren die ersten Philosophen in unserer Kultur, die theoretisch das Spiel der Gegensätze als ein aufbauendes und wesentliches Element der sozialen Beziehungen gedacht haben. Das muß ihnen anerkannt werden. Darin haben sie es gut getroffen. Dessen ungeachtet machten sie doch einige schwere Fehler und trieben einen solchen Unsinn, daß die Geschichte ihnen bis heute 36 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Sophisten

nicht vergibt. Bis heute stehen die Sophisten im Verruf, und das Wort »Sophismus« klingt extrem negativ. Dies alles, weil sie einen großen theoretischen Fehler begingen, den wir heute genauer präzisieren können: statt zu sagen, daß sowohl die These als auch die Antithese falsch sind, und daß die Synthese – und nur die Synthese – die ganze Wahrheit ist, haben die Sophisten ein paar Mal die Zeichen umgedreht und behauptet, sowohl These als auch Antithese seien gleich wahr. Wir wollen das schematisieren. Die wahre und korrekte Dialektik behauptet, daß jedes Teil eben nur ein Teil sei, d. h., daß sowohl These wie Antithese falsch, da lückenhaft, seien. Die Sophisten sagen manchmal: sowohl These als auch Antithese sind gleich wahr. Die Folgen dieses logischen Irrtums sind unglaublich und politisch extrem gefährlich. Denn falls sowohl These als auch Antithese wahr sind, kann man die eine so gut wie die andere verfechten. Die Sophisten, jetzt im negativen Wortsinn, begannen also, das eine Teil wie das andere zu verfechten, als ob beide Recht hätten. Gerechtigkeit gibt es dann keine mehr. Der Sinn für Recht und Korrektheit wird zu Staub, und es macht sich die sophistische Mentalität breit, daß jede Auffassung gut sei, wenn man nur genügend geschickt vorgeht beim Argumentieren. Die Sophisten im schlechten Sinn verteidigen jeden Menschen, jede Seite, jede Partei, als ob sie allein die vollständige Wahrheit wäre. Und es kommt noch schlimmer: die Sophisten tun dies, weil sie dafür bezahlt werden, weil sie Bezahlung fordern und bekommen. Die Bezahlung in bar, gefordert und angenommen, damit eine Partei, eine Seite, vorgestellt werde, als sei sie ein Ganzes – dies ist der große Fehler und die große Schuld der Sophisten. Sokrates, Platon, Aristoteles – niemand hat ihnen je verziehen. Mit Recht. Nachdem sie die Dialektik neu aufgenommen und geschaffen haben, gingen die Sophisten andere Wege. Sie vergaßen, daß ein Teil immer und ausschließlich ein Teil ist und daß dieses Teil nur mit seinem entsprechenden Gegenstück ein größeres Ganzes bildet. So wunderbar es auch ist: wenn man das Spiel der Gegensätze verzerrt und umkehrt, wird es zur schlechtesten Sache.

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Das Spiel der Gegensätze

2.3 Sokrates, der letzte Sophist Sokrates ist oft als der letzte Sophist bezeichnet worden. Es stimmt, wenn wir den Begriff »Sophist« als positiv verstehen. Sokrates war der große Denker der Dialektik, der große Verteidiger, in moralischen und politischen Dingen, des Spiels der Gegensätze, die sich ergänzen und sich zusammenschließen, um ein größeres Ganzes zu bilden. Sokrates ist die große Stimme, die sich in Athen erhebt, um die von den Sophisten vorgenommene Verzerrung der Dialektik zu kritisieren. Es ist nicht möglich, sowohl die These als auch die Antithese zu verfechten, als wären beide wahr. Das stimmt nicht, es ist genau das Gegenteil. Beide Ansichten sind falsch. Wahr ist nur die Synthese, die aus beiden hervorkommt. Also besteht die Tugend nicht darin, These oder Antithese zu verfechten, als ob jede die ganze Wahrheit wäre, sondern darin, sowohl These als auch Antithese als irrig bzw. – was dasselbe ist – als lediglich partielle Elemente eines größeren Ganzen zu entlarven. Nur das größere Ganze, nur die Synthese ist das Wahre. Die Sophisten argumentierten abwechselnd für These und Antithese. In vielen konkreten Fällen, im politischen Leben, argumentierte derselbe Sophist, von der einen Gruppe bezahlt, zuerst für die Wahrheit der These, und dann, von der anderen Gruppe bezahlt, für die Wahrheit der Antithese. Wenn er dann mit seinem eingeheimsten Geld abging, hinterließ er der Verwirrung und der Widersprüchlichkeit ausgelieferte Bürger. Dagegen erhebt sich Sokrates’ Stimme. Das Spiel der Gegensätze muß korrekt gespielt werden. Das Teil ist eben nur Teil, es ist nicht das Ganze. Das heißt, man muß so argumentieren, daß man zuerst den Fehler, d. h. die Einseitigkeit der These aufzeigt, dann den Fehler der Antithese, welche auch einseitig ist, damit dann erst, aus dem Einklang beider, die Wahrheit des größeren und höheren Ganzen hervorkomme. Sokrates ist ein Denker der Moral und der Politik. Wie die Sophisten beschäftigt auch er sich mit dem Spiel der Gegensätze in den sozialen Beziehungen, aber, anders als die Sophisten, stellt er die Form und die korrekte Struktur des Spiels der Gegensätze wieder her. Es stimmt nicht, daß sowohl These wie Antithese wahr sind; korrekt ist, daß beide meistens einseitig sind und deshalb falsch. Deshalb muß man immer auch die andere Seite hören. Nur so entdeckt und schafft man Wahrheit. Zu wissen, wie man die andere Seite anhört, bedeutet im praktischen Leben, einen Dialog aufzubauen, einen Dialog von 38 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Sokrates, der letzte Sophist

Mensch zu Mensch. Das, so sagt Sokrates, heißt es, Politik in einer Stadt von denkenden und freien Bürgern zu treiben. Mehr noch, nur auf diese Art erwirbt man das wahre Wissen und entdeckt, welche der antiken Tugenden nicht einfach dumme Überlieferung ist, sondern ein moralisch korrektes Verhalten, d. h. eine moralische Tugend. Philosophieren bedeutet für Sokrates, zu wissen, wie man Dialoge anknüpft. Sokrates meint, die Tugend, welche stets das Ergebnis des Spiels zwischen These und Antithese ist, finde man nur im realen Dialog, der sich an den Straßenecken und auf dem öffentlichen Platz entwikkelt. Sokrates hört, Sokrates fragt, Sokrates antwortet. Sokrates spürt die innere Stimme des Gewissens auf, welche er, indem er sie personifiziert, als daimon bezeichnet, der gute Dämon, der gute Geist. Sokrates schreibt nicht. Wir haben von ihm nicht einen einzigen schriftlichen Text. Denn, wenn es wichtig ist, konkret zu reden im Dialog von Mensch zu Mensch, wozu dann schreiben? Als Platon, Schüler und Anhänger Sokrates’, in der Akademie lehrt und schreibt, gilt weiterhin die Regel, daß – selbst wenn man schreibt – die literarische Form, philosophische Themen zu behandeln, immer der Dialog ist. Von daher Platons Dialoge. Sokrates, der Mensch des ethischen und politischen Dialogs, wurde, wie wir wissen, von seinen Mitbürgern zum Tode verurteilt. Er habe durch seine Dialoge schwere Missetaten an den Göttern der Stadt Athen verübt, sich sittlich vergangen und die Jugend verführt. Der große Denker des »Ich weiß, daß ich nichts weiß«, der große Meister des Dialogs in Ethik und Politik, stirbt noch während eines Dialogs. Der Dialog »Apologie des Sokrates«, in welchem Platon die Geschehnisse und Ideen beschreibt, die die Verurteilung und den Tod Sokrates’ begleiten, gilt als eines der Meisterwerke unserer Zivilisation.

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3 Das Höhlengleichnis

3.1 Platon und das Spiel der Gegensätze Im Spiel der Gegensätze können, selbst wenn das logische Schema auf die Ebene der sozialen Beziehungen übertragen wird, drei Dinge passieren. Erstens kann es sein, daß der erste Pol wahr ist; dann wäre der zweite Pol falsch und muß aufgegeben werden. Zweitens kann es sein, daß der zweite Pol der wahre ist, und dann muß der erste aufgegeben werden. Aber es kann auch sein, daß beide Pole falsch sind, und dann muß man, Stück für Stück, die nur partiellen Wahrheiten herausfinden, die sich in den Gegensatzpolen befinden, um durch deren Verbindung und Einklang die wahre Einheit einer höheren Synthese zu schaffen. – Es gibt es nie, daß sowohl These wie Antithese wahr sind, denn es ist logisch unmöglich, daß beide Pole wahr sind. Dies war der logische Fehler, den die Sophisten machten, dies war die logisch-systematische Grundlage der moralischen und politischen Fehler, die sie begingen. Das Spiel der Gegensätze wird bei Platon zur Vollkommenheit ausgebaut. Vollkommen ist das, was bis zum Ende geführt wird, das, was komplett und fertig wird, woran nichts fehlt und nichts übrigbleibt. Vollkommenheit ist das, wohin Platon uns den Weg zeigt, wenn er Philosophie betreibt. Weder davor noch danach zeigte ein Mensch auf ein solch hohes Ziel. – Wie das? Ist es nicht genau umgekehrt? Denn alle Welt weiß doch, daß Platon ein Philosoph der aporíai ist, d. h. der Sackgassen. In seinen Dialogen skizziert Platon die These, zeichnet er die Antithese, aber eine Synthese, die sich sehen lassen könnte, arbeitet er selten aus. Wieso sollte man Platon also als synthetischen Denker bezeichnen, der das Spiel der Gegensätze zur Vollkommenheit bringt, wenn er nie, oder fast nie, auf die Synthese deutet? Ohne Synthese zerfällt die Dialektik, und These und Antithese stellen sich gegeneinander auf, beide negativ und ihrer Fehler bewußt, ohne daß man je zu einem Ergebnis kommt. Das wissen wir schon und haben es durch die von den Sophisten begangenen Fehler 40 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Platon und das Spiel der Gegensätze

erkannt. Und stimmt es etwa nicht, daß die Dialoge von Platon fast immer aporetisch sind, ohne eine abschließende Synthese? Das stimmt durchaus. Bei Platon gibt es zwei Lehren, die sich ergänzen und vervollständigen: die exoterische und die esoterische Lehre. Die exoterische Lehre – die Vorsilbe »ex« zeigt es – ist für die Außenstehenden gedacht, sie wurde für die Anfänger gemacht und erklärt und für jene, die von auswärts kommen und ohne die notwendigen Voraussetzungen noch nicht in der Lage sind, den harten Kern der Lehre zu verstehen. Die exoterische Lehre ist leichter, didaktischer, als Einführung gedacht. In ihr bleibt das Spiel der Gegensätze tatsächlich fast immer offen, ohne eine abschließende Synthese. Platon stellt hier eine These auf; er diskutiert sie, debattiert, untersucht sie aus verschiedenen Blickwinkeln und weist sie schließlich zurück. Die These wird immer als falsch aufgezeigt. Dann kommt die Antithese, welche ebenso untersucht und diskutiert wird, um endlich unweigerlich zurückgewiesen zu werden. Nun haben wir eine falsche These und eine ebenso falsche Antithese, beide unbrauchbar, in Händen. Das ist die aporía, das ist die Sackgasse. Die Dialoge von Platon sind fast alle – außer einigen im Alter verfaßten Dialogen – aporetisch, d. h., sie enden in einer Sackgasse. Die Dialektik, das Spiel der Gegensätze, wird hier nicht zu Ende geführt. Es fehlt immer die Synthese, so wie übrigens heutzutage bei den Philosophen der Frankfurter Schule: die Dialektik wird da zu einer negativen Dialektik, zu einer Dialektik ohne Synthese. Aber das, werden wir sagen, ist keine gute Dialektik. Richtig. Und Platon, Schüler des heraklitischen Philosophen Kratilos sowie von Sokrates, wußte das sehr gut. Wiewohl er auch wußte, daß man Dialektik nicht mittels eines Zauberwortes betreibt, im Nu, in einem Augenblick, sondern in einem langen, ernsthaften, mühsamen und oft schmerzlichen Prozeß, in dem die zwischen These und Antithese bestehenden Gegensätze zu überwinden sind. Dialektik ist Erziehung und geschieht wie diese in einem langsamen Lern- und Reifungsprozeß. Das Kind wird nicht an einem Tag zum Manne, der Baum wächst nicht in einer Woche, und so erfordert auch die Dialektik Zeit, Einsatz und Arbeit. Die Gegensätze müssen ernsthaft bearbeitet werden; wenn dies nicht geschieht, wird die Synthese oberflächlich und leer. Deshalb wird die Dialektik für Anfänger und für Außenstehende nicht sofort in ihrer Ganzheit dargelegt und erklärt, sie erscheint in der Form der exoterischen Lehre. In der exoterischen Lehre werden 41 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Höhlengleichnis

die Gegensätze in all ihrem Ernst aufgezeigt, jeder mit seinem entsprechenden Gegenpart, aber am Ende läßt Platon seine Hörer und Leser doch in der Schwebe. In der Tat gibt es da keine klar formulierte, ausgesprochene oder aufgeschriebene Synthese, der Leser selbst muß versuchen, von allein die richtigen Puzzleteile zu finden, er muß selber versuchen, die Teile zusammenzubekommen und das intellektuelle Risiko dieser Aufgabe zu übernehmen. Diese etwas formlose Masse von gegensätzlichen Oppositionen ohne Synthese, von Oppositionen ohne Einklang, muß eine ganze Weile gären, damit daraus dann die großen synthetischen Ideen entstehen. Wenn diese großen Synthesen erst einmal aufkommen und erblühen, bilden sie eine esoterische Lehre, eine Lehre, die die Eingeweihten unter sich diskutieren, eine, welche die Anfänger weder aufnehmen noch verstehen können. Denn die abschließenden Synthesen sind derart einfach und strahlend, daß, wer sie direkt sucht, ohne zuerst den langen Reifungsprozeß der entgegengesetzten Pole zu durchlaufen, geblendet dasteht und nichts mehr sieht. Das ist so, wie wenn man direkt in die Sonne schaut. Der Anfänger, wenn er direkt zu den großen Synthesen der esoterischen Lehre schaut, wird so geblendet, daß er vermeint, überhaupt nichts zu erkennen. Deswegen muß die harte Arbeit des Spiels mit den Gegensätzen im Voraus geleistet werden. Deshalb erscheint Platons Lehre dem Anfänger als ein dualistisches Philosophiesystem, ein Spiel der Gegensätze, in dem sich diese Konträren nie vereinen. Wer nur von der exoterischen Lehre hört und liest, ohne jemals zur abschließenden Synthese der esoterischen Lehre zu gelangen, kommt zu dem Schluß, daß Platon die Welt der Ideen und die Welt der realen Dinge wie zwei nebeneinander existierende Seinssphären betrachtet, eine neben der anderen, eine außer der anderen, eine im Gegensatz zur anderen. Die Welt der Dinge und die Welt der Ideen sind in dem Fall zwei entgegengesetzte Pole, einer gegen den anderen, ohne daß zwischen beiden – auf den ersten Blick – wahrer Einklang bestünde. Es gibt bei Platon einen vollkommenen Einklang, nur daß er in Klarheit und Vollständigkeit erst in der esoterischen Lehre zu sehen sein wird, in der sogenannten nichtaufgeschriebenen Lehre. Die exoterische Lehre ist so gesehen eine streng dualistische Philosophie, in welcher die entgegengesetzten Pole nie zu völligem Einklang kommen. Materielle Welt einerseits, geistige Ideenwelt andererseits, stehen voreinander als entgegengesetzte und sich ausschließende Pole. Materie und Geist verbinden sich nie in angemessener Harmonie. Der Geist widersetzt sich der Materie, die 42 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Platon und das Spiel der Gegensätze

Ideen widersetzen sich den Dingen. Der harte Dualismus, die Oppositionen ohne synthetischen Einklang, die Dialektik ohne Synthese, dies ist die intellektuelle Achse der exoterischen Lehre. Viele Autoren studieren und erwähnen nur diese exoterische Lehre, wenn sie von Platon reden. Das ist nur eine erste Annäherung auf dem steilen Weg zum philosophischen Wissen, aber oft wird sie – fälschlicherweise – als die Philosophie von Platon schlechthin dargestellt. Platon wird da heftigst verrissen. Statt ihn als den Denker der Großen Synthese zu verstehen, hält man ihn für einen neuen Sophisten, der die entgegengesetzten Pole aufnimmt, ohne sie zu vereinigen und ohne sie in Einklang zu bringen, so daß sie dastehen wie zwei entgegengesetzte Prinzipien, streitbar und unnachgiebig. Seit der Antike nennt man so etwas mittels Dichotomien arbeiten. Zweiteilen, die entgegengesetzten Pole erweitern, den einen gegen den andern aufhetzen, einen den andern zerstören lassen oder, besser noch, beide Pole sich umkreisen lassen wie zwei Krieger in tödlichem Kampf, das ist die Dialektik ohne Synthese. Der wahre Platon ist ein Denker der Großen Synthese, der Dialektik in ihrem umfassenden Sinn von Vereinigung und Einklang der Gegensätze, aber jener Platon, den man meistens in den Büchern studiert, und – schlimm genug – jener Platon eines großen Teils der akademischen Tradition, ist nur der Platon der exoterischen Lehre, der Platon der Gegensätze ohne Synthese, der dualistische Platon. Und das ist ja eine intellektuelle Katastrophe, denn das wird Dichotomien hervorrufen, in denen die entgegengesetzten Pole nie mehr vereinigt werden. Entgegengesetzte Pole, die in einer vollkommenen Dialektik zu ihrer angemessenen Synthese geführt werden, sind wunderbar, denn das sind Momente, die nach vorn zeigen und führen. In einer negativen Dialektik ohne Synthese werden die dichotomischen Pole zu unlösbaren Problemen. Leider ist das in unserer philosophischen Tradition schon allzuoft passiert. Die Welt der Dinge und die Welt der Ideen, Materie und Geist, der große Gegensatz zwischen zwei Polen, die vereint und im Einklang sein sollten, wird zu einem dichotomischen Problem ohne Lösung, welches in unsere Kultur und Erziehung durch die späteren Philosophen eindringt und eine breite Spur theoretischer Irrtümer und schwerer ethischer Fehlentwicklungen hinterläßt. Bedenken wir einmal die – Platon zugeschriebene – falsche Idee, die in unsere christliche Tradition eingedrungen ist, daß der Geist gut sei, das Fleisch jedoch, und besonders der Sex, ein moralisches Übel. Die augustinische Lehre, welche später von der erdrückenden Mehrheit 43 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Höhlengleichnis

der christlichen Denker übernommen wurde und bis in unser Jahrhundert hineinreicht, besagt, daß die sexuelle Begierde, die Lust, also das, was wir heute Geilheit nennen, etwas Böses an sich ist, daß sie die eigentliche Ursünde darstellt. Da es Sünde ist, handelt es sich immer um etwas moralisch Negatives, um etwas, das eine Schuld darstellt und dessen wir uns schämen müssen. Hier ist ein ganz konkretes Beispiel, wie ein anfangs scheinbar belangloses Mißverständnis zu schwerwiegenden Fehlern am Schluß führen kann. Wenn die exoterische Lehre für die esoterische Lehre genommen wird, die negative Dialektik für die echte, jene Dialektik der Großen Synthese, geschehen immense intellektuelle und kulturelle Katastrophen. Die Lust wird dann zur Sünde, der Körper wird erniedrigt, der Mensch verliert seine synthetische Einheit, welche Körper und Seele ist, und wird zu einem völlig lächerlichen Wesen. In dieser Dialektik ohne Synthese wird der Mensch zur Karikatur, ein Schweine reitender Engel. Dazu kommt es, wenn man nicht die angemessene Synthese macht. Deshalb müssen wir dieses erste Wortpaar der platonischen Philosophie aufmerksam studieren, die Welt der Ideen und die Welt der Dinge, indem wir alles vorsichtig von beiden Seiten untersuchen. Zuerst einmal als zwei entgegengesetzte Pole, die sich scheinbar ausschließen, und dann als zwei Elemente, die sich vereinigen, verschmelzen und auf die Art zu einer edleren und höheren Einheit werden. Wir Menschen sind weder auf Schweinen reitende Engel noch Zentauren, sondern Menschen in einer synthetischen Einheit, in der die anfangs gegensätzlichen Pole, Körper und Seele, sich als solche auflösen und zu einer neuen, vollkommenen und abgeschlossenen Wirklichkeit werden.

3.2 Die Welt der Ideen und die Welt der Dinge Die Sophisten plädierten für beide Pole, indem sie sie gleichermaßen verfochten und oft für beide gleichzeitig argumentierten: argumentare in utramque partem. Sokrates, der letzte Sophist, lehrt uns, daß es so nicht geht: zwei gegensätzliche Pole können nicht gleichzeitig wahr sein. Sokrates lehrt uns, zu fragen und die Antworten zu finden, die Synthese zwischen These und Antithese herauszufinden. Diese Synthese besteht nicht in der Kraft des Stärkeren, wie der Sophist Gorgias meinte, sondern in der Tugend. Was ist Tugend? Sokrates sagte, daß er es nicht wisse, und riet zum Dialog. 44 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Welt der Ideen und die Welt der Dinge

Dies ist immer noch das Hauptthema und das große Problem für Platon. Was ist Tugend denn eigentlich? Wenn es nicht die rohe, alles entscheidende Kraft des stärkeren Pols ist, worin besteht also die Tugend? Die Antwort auf diese Frage ist der Beginn aller Philosophie Platons: Tugend ist das, was sein soll. Die wirklich existierende Welt, wie sie für uns sichtbar ist, stimmt nicht immer mit dem überein, was sein soll. Das Sein-Sollen ist das zu erlangende Ideal, das Sein-Sollen ist die Idee. So entsteht die platonische Idee. Die – ungerechte – Verurteilung und der Tod Sokrates’ haben Platon deutlich gezeigt, daß »die wirkliche Welt« nicht immer mit »der Idealwelt, wie sie sein sollte« übereinstimmt. Die Sophisten dachten, daß die Tugend, das Sein-Sollen, etwas Schwebendes wäre, etwas Relatives, etwa, das sich je nach den Umständen veränderte, und daß es keine allgemeingültigen Prinzipien gäbe. Platon akzpetiert diesen Relativismus nicht. Es gibt ethische Prinzipien, die immer und für alle gelten, und diese Prinzipien sind allgemeingültig, weil sie, noch bevor die Menschen sie in ihren politischen Verwaltungsbezirken übernommen hatten, allgemeine Prinzipien der Weltordnung sind. Das All ist im Kosmos; kósmos bedeutet das, was geordnet ist. Platon erarbeitet eine praktische Philosophie, die Ethik und die Politik, auf der Basis von Prinzipien, die der Mensch annehmen muß, weil es Ordnungsprinzipien des ganzen kosmischen Alls sind. Die Ethik von Platon basiert auf einer Ontologie, auf einer allgemeinen Seinslehre, auf einer Lehre über die Ordnung im All. Wie können wir wissen, ob eine bestimmte Regel nicht einfach die Erfindung irgendeines tyrannischen Herrschers ist oder, etwas milder gesagt, eine reine, von Menschen aufgestellte Konvention? Konventionen, selbst wenn sie gut und nützlich sind, sind kontingent, d. h. sie können so, auf die eine Art sein, aber auch anders. Wie kann man wissen, ob eine bestimmte Regel oder ein bestimmtes Prinzip mehr ist als reine Konvention, also eine unanzweifelbare Regel, eine nicht zu verneinende Regel, die weder verändert noch verwandelt werden darf, die so ist und so sein muß, jetzt und immerdar, überall auf der Welt? Ist es möglich, solche Grundprinzipien der Weltordnung zu finden und ans Licht zu bringen? Platon lächelt und beweist, daß es geht. Im Dialog Menon wird ein analphabeter Sklave zu Sokrates gebracht, welcher mit Freunden über die Existenz oder Nicht-Existenz der allgemeinen Seinsprinzipien des Alls und von allem Wissen spricht. Einige bezweifelten, daß sich solche Prinzipien herausfinden und er45 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Höhlengleichnis

arbeiten ließen. Wo wären sie denn schließlich aufgeschrieben? Wo, in welchem Buch, auf welchem Denkmal wären sie aufgeschrieben? Sokrates, stets Hauptfigur bei Platon, antwortet: »Die ersten Prinzipien befinden sich im Innersten des Seins und deshalb auch im Innersten unserer Seele. Wollt ihr es sehen? Dieser Sklave hat nie etwas gelernt, er kann weder lesen noch schreiben und hat nie Geometrie gelernt. Wenn er nie Geometrie gelernt hat, kennt er nicht Pythagoras’ Lehrsatz. Also gut, ich werde mit ihm einen Dialog haben, ich werde Fragen stellen – nur Fragen – und ihn antworten lassen.« Sokrates beginnt also mit den Fragen, auf sanfte Art, indem er in den Sand zeichnet und die Figuren bildet. »Und wenn ich hier diese Linie zeichne, was passiert dann? Und wenn ich dort noch so eine Linie zeichne?« Und so, Schritt für Schritt, wobei Sokrates immer nur fragt, kommt der Sklave weiter, er entdeckt die Zusammenhänge und kann jetzt den großen Lehrsatz der Geometrie formulieren. Wie hat der Sklave das geschafft? Wie weiß er das? Platon antwortet: »Er wußte es, schon immer wußte er es, er mußte einfach das auffrischen, was er schon wußte und nur vergessen hatte. Dieses Wissen war angeboren, es befand sich in der Seele des Sklaven. Und es befand sich dort, weil es ein Prinzip ist, das in jedem Wesen steckt, in jedem Ding, weil es ein Prinzip der eigenen Weltordnung ist. Diese Prinzipien der Weltordnung, die in jedem Ding stecken, sind allgemeingültig und stets gegenwärtig. Sie ordnen das All von innen nach außen, sie bringen es dazu, daß die Dinge der Welt keine ungeordnete und chaotische Masse von Geschehnissen sind, sondern ein kosmisches, d. h. ein wohlgeordnetes All.« Die Idee, sagt Platon, die gemäß der Lehre von der ontologischen Teilhabe im Innern von jedem Ding existiert, ist das sie bestimmende und deren Entwicklung steuernde Ordnungsprinzip. In einem Entenei gibt es solch ein Ordnungsprinzip, welches dazu führt, daß aus diesem Ei immer nur Enten kommen. Aus einem Hühnerei kommen immer nur Hühner. So ist es mit allen Dingen. Dieses alles formende Prinzip nennt Platon die »Form«. Die Form bestimmt, was das Ding ist und wie es sich entwickeln wird. Die vielen Enten, die es gibt, haben alle dieselbe Entenform. Die vielen Hühner haben alle dieselbe Hühnerform. Eine einzige Form, ein einziger Grundriß wird in verschiedenen Individuen verwirklicht. Die Form ist wie die vom Projektplaner gestaltete Zeichnung; das eine ist der Entwurf eines Motors, der Grundriß, das andere sind die tausend einzelnen Motoren, die nach dem Entwurf gebaut wer46 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Sternenmythos

den. Einerseits haben wir da die Vielfältigkeit der Individuen, die in der Welt der Dinge existiert, andererseits die Einheit der Form. Jedes Ding hat seine bestimmte und spezifische Form. Ente ist Ente, Huhn ist Huhn und Mensch ist Mensch. Da kommt die Frage auf: wo sind die Formen? Wo gibt es die Formen? Wo können wir sie sehen? Wenn die Formen so wichtig sind, wenn sie die bildenden Kräfte der Welt sind, wo kann man sie finden? Wie kann man sie erkennen? Wie kann ich wissen, daß das, was ich gerade kennenlerne, eine echte Form ist und keine Täuschung? Platon antwortet hier, in der exoterischen Lehre für Anfänger, mit einem Mythos.

3.3 Der Sternenmythos Formen gibt es seit jeher, denn sie sind die ordnenden Kräfte der Ordnung des Kosmos. Bevor es den Kosmos gab, sind sie also schon da und gelten. Deshalb auch besitzen sie Allgemeingültigkeit. Die geordneten Dinge des kosmischen Alls kommen später. Zuerst, bevor die Dinge existierten, bevor die Dinge unserer Welt ihre Existenz begonnen hatten, gab es bereits die Formen. Wird dieser unser Kosmos etwa nicht von ihnen regiert und bestimmt? Also existieren sie schon lange vordem. Sie bilden eine ganze Welt, die nur aus Formen besteht. Diese Welt nennt Platon die Ideenwelt und verortet sie auf einem fiktiven Stern. In dieser Ideenwelt, welche seit jeher auf diesem Stern existiert und getrennt ist von der Welt der Dinge, befinden sich auch die individuellen Seelen aller Menschen, die noch geboren werden. Die Seelen schauen die Ideen und kennen also die spezifischen Bestimmungen von jedem Ding, sie wissen alles von allem. Wenn der Mensch hier auf der Welt der Dinge geboren wird, wird seine Seele, die schon immer auf dem Stern lebte, in der Ideenwelt, in das Gefängnis des Körpers geworfen. Diese heftige Verschiebung bringt die Seele dazu, alles, oder fast alles, zu vergessen, was sie auf dem Stern gesehen hatte. Aber wenn der Mensch sich entwickelt und wächst, wenn er die Dinge der Welt auffindet, wenn er auf sie stößt, erinnert er sich der Idee, die er auf dem Stern gesehen hatte während der Vorexistenz seiner Seele, und bei der Erinnerung erkennt er. Erkennen ist immer eine Erinnerung, eine anámnesis, kennen heißt, sich an die universale Idee einer Sache zu erinnern, um dann angesichts dieser einzelnen Sache sagen zu können: Aha! Das ist ein Mensch, das erfüllt eine menschliche Form, jenes ist eine Ente, darin 47 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Höhlengleichnis

konkretisiert sich die Form einer Ente. Das erklärt, warum die Ideen immer umfassend sind, obwohl die Dinge immer individuell sind. Die Ideen sind aus einer anderen Welt. Und höchst seltsamerweise sagt unsere Sprache das Individuelle immer in umfassender Form aus. Denn die Namen stellen in der Sprache Formen dar, und Formen sind immer umfassend. Obwohl wir in dieser Welt der einzelnen Dinge leben, besitzt unsere Sprache, der logos, den Charakter einer umfassenden Idee. Somit haben wir eine wundervolle Erklärung der Welt. Die Dinge der Welt sind, was sie sind, sie werden so und nicht anders bestimmt, weil sie an der ursprünglichen Form teilhaben, die auf dem Stern existiert, in der Ideenwelt. Dies ist die Seinslehre der Teilhabe. So wie der einzelne Motor am skizzierten Entwurf eines idealen Motors teilhat, so haben die Dinge an einer bestimmten Idee teil und sind deshalb so, wie sie sind. Auf dieser Ontologie, d. h. auf dieser Seinslehre, baut Platon dann seine Erkenntnistheorie auf. Kennen ist die Handlung, mittels der die Seele sich jetzt dessen erinnert, was sie bereits gesehen hatte während ihrer Präexistenz auf dem Stern, in der Ideenwelt. Das Wissen ist korrekt und die Wissenschaft allgemeingültig, sagt Platon, weil es sich auf Ideen stützt, die die Formen des Alls bilden. Aber wie kann ich wissen, wenn ich auf ein Ding stoße, daß ich mich tatsächlich an seine Form erinnere? Gibt es dabei keine Fehler? Illusionen? Natürlich gibt es sie. Deshalb muß jeder Philosoph reden, diskutieren, hinterfragen und jede Frage untersuchen, um sicher zu sein, daß er genau die Idee der Sache gefunden hat. Nichts mehr und nichts weniger. Und Platon fragt dann, immer im Mythos für Anfänger, in seiner Exoterischen Lehre: gibt es eine Idee für jedes Ding? Es stimmt, daß es die Idee von Mensch gibt, sagt er im Dialog der Sophist, und auch die Idee vom Guten, von der Gerechtigkeit. Aber muß es denn eine Idee von Schlamm geben? Muß der Schlamm, etwas so Einfaches und Niedriges, eine ihm eigene Idee haben? Platon läßt die Frage offen. Schließlich können solche Fragen nicht im Zusammenhang mit dem Sternenmythos beantwortet werden, sie können erst in der esoterischen Lehre zufriedenstellend bearbeitet werden, mit jenen, die schon mehr kennen als nur die ersten Prinzipien.

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Das Höhlengleichnis

3.4 Das Höhlengleichnis Im siebten Buch der Politeia finden wir den wichtigsten und bekanntesten Mythos von Platon, das Höhlengleichnis. Nirgendwo anders wird die Lehre Platons so gut dargestellt. Stellen wir uns Menschen vor, die in einer Höhle wohnen. Von Geburt an sind sie darin gefangen, an Füßen und Hals angekettet, so daß die Augen immer nur in die Tiefe der Höhle gerichtet sind. Sie können stets nur diese Wand im Hintergrund sehen. Hinter den angeketteten Gefangenen, in ihrem Rücken, gibt es am Eingang der Höhle eine etwa mannshohe Mauer. Hinter dieser Mauer gehen Leute hin und her und tragen Figuren, die höher sind als die Mauer, auf ihren Schultern. Noch weiter hinten, ganz am Eingang der Höhle, brennt ein großes Feuer. Das Feuer gibt Licht, das Licht beleuchtet die Szene und wirft die Schatten der Figuren über die Mauer hinweg bis an die Wand am Ende der Höhle. Die Gefangenen sehen nur die von den Figuren geworfenen Schatten. Sie hören auch das Echo von Stimmen – von den Menschen, die die Figuren hinter der Mauer umhertragen – und denken, daß dieses Echo die eigene Stimme der Figuren sei. Was die Gefangenen sehen, ist nur dieses Schatten- und Echospiel. Sie sind von Geburt an dort angekettet und denken, daß die Welt dies und nichts anderes sei. Das ist nunmal die Welt, sagen sie, und eben nur das. Stellen wir uns jetzt vor, daß einer der Gefangenen sich von seinen Ketten befreien kann. Als er zum Eingang schaut, sieht er sofort die Mauer und merkt, daß die in der Tiefe der Höhle projizierten Schatten nur das sind, eben Schatten. Er merkt auch, daß die Figuren nur Figuren sind. Er springt über die Mauer und geht hinaus; da sieht er die Menschen, die die Figuren umhertragen, hört ihre Stimmen, sieht das Feuer, sieht den Eingang der Höhle und dort draußen das Licht. Als er aus der Höhle herauskommt und versucht, in die Sonne zu schauen, wird er geblendet. Er wirft den Blick nieder, senkt den Kopf, kommt wieder zu sich. Wenn dieser Mensch jetzt in die Höhle zurückkehrt, um seine Kameraden zu befreien, wird er w i s s e n . Er weiß, daß die Schatten nur Schatten sind. Er weiß, daß es Schatten sind, aber nicht nur das, sondern die Schatten einer reinen Farce. Die wirklich reale Wirklichkeit ist die Wirklichkeit von Licht und Sonne, die Wirklichkeit der Dinge selbst im Sonnenlicht. Alles andere ist Schatten und Illusionen. Wenn der Mensch sich der Ketten entledigt, die ihn gefesselt hielten, sieht er sich frei und erkennend, er sieht 49 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Höhlengleichnis

dann die wirklich reale Wirklichkeit, die leuchtende Wirklichkeit der Ideen. Er wird nie wieder die Wirklichkeit mit dem Schatten einer Farce der Wirklichkeit verwechseln. Wer das Licht gesehen hat, weiß es. Da haben wir Platon »im Ganzkörperformat«. Da haben wir eine ganze Ontologie der Teilhabe, eine Erkenntnistheorie, eine Ethik, eine Pädagogik, eine Politik. Aber da haben wir, vor allem und immer wieder, den Mythos, der die zwei entgegengesetzten Pole in ihrer Gegensätzlichkeit aufzeigt, hart gegeneinander angehend, ohne uns zu einer wahrhaft synthetischen Einstellung zu führen. Wo ist denn nun der vereinigende Einklang zwischen der Ideenwelt und der Welt der Dinge? Zwischen universeller Form und individuellem Ding? Zwischen der notwendigen Form und dem kontingenten Ding? In den Mythen der exoterischen Lehre gibt uns Platon keine Antwort. Es fehlt immer die Synthese. Diese wird erst vorgestellt und diskutiert, wenn die Anfänger intellektuell herangereift sind, wenn die Anfänger keine Anfänger mehr sind und zu Eingeweihten werden. Für die Eingeweihten, ja – für diese gibt es Antwort. Platon dachte, daß diese Lehre nicht aufgeschrieben werden sollte, da sie so wichtig und so schwierig sei. Deshalb gibt es den Dialog – nie von Platon selbst aufgeschrieben, aber mit sehr gut bewiesener Existenz – Über das Gute, worin die esoterische Lehre dargestellt wird. Bevor wir uns jedoch der nicht-aufgeschriebenen Lehre Platons zuwenden, betrachten wir einmal die Weltanschauung von Aristoteles, um angemessen vergleichen zu können. Aristoteles war lange Jahre hindurch Schüler von Platon, und doch hat niemand Platon so hart kritisiert, hat niemand ein von ihm derart abweichendes philosophisches Projekt entworfen, ist niemand so wenig platonisch wie er. Nachdem wir die Philosophie des Aristoteles thematisiert haben, kehren wir also zur esoterischen Lehre Platons zurück, zur Lehre für die Eingeweihten.

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4 Die Betrachtung der Welt

4.1 Der Übergang von der Dialektik zur Analytik Bis Aristoteles befaßt sich die ganze Philosophie mit dem Spiel der Gegensätze. Die verschiedenen Gegensatzpaare sind die Elemente, von welchen aus sich die Dinge konstruieren lassen. Im Dialog Der Sophist sagt Platon, daß die Dialektik die Methode der Philosophie an sich ist. Wer Dialektik gelernt hat und das Spiel der Gegensätze beherrscht, denkt Platon, der kann das große Mosaik vom Sinn des Lebens zusammensetzen, kann die Welt erklären, besitzt die »Große Synthese«. Wenn Aristoteles seinen Studenten und Lesern ein synoptisches Panorama der Geschichte der Philosophie, von den vorsokratischen Philosophen bis hin zu sich selbst, darlegt, erwähnt er immer das Spiel der Gegensätze als den methodischen Kern, um den sich die verschiedenen Anschauungen strukturieren. Er selbst verläßt jedoch das Spiel der Gegensätze und schlägt einen völlig anderen Weg ein: den der Analytik. Die Analytik, von Aristoteles entdeckt und breit ausgearbeitet, wird zu einer Methode und zu einer Weltanschauung, die unser abendländisches Denken entscheidend beeinflussen werden. Alles, was wir denken und sind, entsteht aus zwei Dimensionen: aus der Dialektik und der Analytik. Von Heraklit und Platon haben wir die Dimension der Dialektik. Von Parmenides und Aristoteles haben wir die Analytik. Beide Dimensionen durchziehen die ganze Geschichte der Philosophie und all unsere Kultur und begleiten uns bis heute. Das platonische Projekt wird weitergereicht von Plotin, Proklos und, teilweise, vom Hl. Augustinus in der Antike; von Johannes Scotus Eriugena, von der Schule von Chartres und so viel anderen neuplatonischen Denkern im Mittelalter; von Nikolaus Cusanus, Ficino, Giordano Bruno in der Renaissance; von Spinoza, Schelling, Hegel und Karl Marx in der Neuzeit. Lamarck, Charles Darwin und fast alle großen Biologen heutzutage, wie Richard Dawkins und Stephen Jay Gould, die aktuellen Physiker mit ihrer Theorie des Big 51 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Betrachtung der Welt

Bang, mit den schwarzen Löchern, wie Stephen Hawking – sie alle sind neuplatonische Denker. Meistens merken sie das gar nicht, sie wissen es nicht, aber sie sind eindeutig Denker der platonischen Schule. Das Projekt, das sie aufbauen und in dem sie ihre Theorien entwerfen, ist das platonische Projekt der Großen Synthese mittels der Dialektik. Das aristotelische Projekt der Analytik führt im Mittelalter über Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus und Willem von Ockham; in der Neuzeit führt es über Descartes, Leibniz, Kant, Frege, Wittgenstein und in die Analytische Philosophie unserer Tage. In der Fortsetzung und späterer Strukturierung des aristotelischen Projekts, der analytischen Methode folgend, kamen die Logik, die Mathematik, die Physik in Aufschwung. In dieser analytischen Tradition von Aristoteles befinden sich alle aktuellen Logiker, ein großer Teil der Physiker. Galilei, Kopernikus, Newton und Einstein sind Denker im analytischen Stil. Aber was hat die Analytik denn so Gewaltiges und Interessantes an sich, daß sie während so langer Zeit so viele Früchte bringt? Was ist Analytik? Die ganze Analytik stützt sich auf zwei Dinge, welche von Aristoteles entdeckt und bearbeitet wurden: die Untersuchung der Aussage und das syllogistische System der Argumentation. Ein großer Teil unserer Kultur und unserer Technologie basiert darauf. Auf der Grundlage seiner analytischen Logik entwickelt Aristoteles, wie später zu sehen sein wird, eine Seinslehre, eine Ethik und eine Politik, eine ganze philosophische Weltanschauung, die von ihrem extrem statischen Charakter gekennzeichnet ist. Er tendiert viel eher zu Parmenides als zu Heraklit.

4.2 Logik und Sprache 4.2.1 Die Analyse der Aussage Der Mensch spricht in Sätzen, die – in unseren Sprachen – stets aus Subjekt und Prädikat bestehen. Sokrates ist gerecht ist solch ein Satz. Dies ist eine vollständige und wohlgeformte Aussage; sie ist weder eine Frage noch ein Imperativ oder eine Aufforderung, sondern ein Aussagesatz. Sie sagt aus, daß etwas so ist und nicht anders. Sokrates ist das logische Subjekt dieser Aussage, das Prädikat ist dann ist gerecht. Sokrates läuft ist ebenso eine wohlgeformte Aussage; da haben wir klar und deutlich je das Subjekt und das Prädikat. Alle Menschen 52 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Logik und Sprache

sind sterblich und Einige Brasilianer sind Gauchos sind ebenso wohlgeformte Aussagen; die beiden letztgenannten zeigen bereits die aristotelischen Mengenangaben alle und einige auf. Wenn die Aussagen wohlgeformt sind, besitzen sie immer Subjekt und Prädikat; in der aktuellen Logik und Mathematik spricht man von Argument und Funktion. Ist die Aussage unvollständig oder nicht wohlgeformt, versteht man sie nicht, man weiß nicht, was gesagt werden soll, es ist nicht möglich, zu sagen, ob diese Aussage wahr ist oder falsch. Eine abgeschnittene, unvollständige Aussage hat nur das Subjekt, ohne Prädikat: Sokrates. Sokrates was? Sprich weiter! Beende den Satz! Ohne Prädikat ist diese Aussage schlecht geformt und hat keinen Sinn. Dasselbe passiert mit dem Prädikat. Wenn ich nur sage ist gerecht, hat das keinen Sinn, und gleich wird gefragt: von wem redest du? Wer ist gerecht? Wer ist das Subjekt dieser Aussage? Dies ist die Grundstruktur der Aussage, so wie sie von Aristoteles untersucht wird. Freilich gibt es Anredeformen wie Hallo Sokrates sowie Aussagen, in denen das logische Subjekt zwar nicht ausgesprochen, aber doch vorausgesetzt wird. Das ist dann das verborgene Subjekt. Dann gibt es noch die eine oder andere ganz seltsame Aussage, wie (es) regnet, (es) schneit, die angeblich ohne Subjekt sind, 1 die bisher Aussagen ohne Subjekt genannt werden. Aber lassen wir diese Ausnahme beiseite, denn in anderen indogermanischen Sprachen enthält derselbe Ausdruck notwendigerweise ein logisches Subjekt: it rains, es regnet, il pleut.

4.2.2 Die positive Aussage Aussagen können positiv oder negativ sein. In der positiven Aussage nehmen wir ein bestimmtes Subjekt – entweder ein einzelnes (Sokrates) oder dann ein partikulares (einige Brasilianer) oder umfassendes (alle Brasilianer) – und fügen es in ein größeres Ganzes ein, in das Prädikat. So sieht das aus, nach dem Mathematiker Euler:

Im Portugiesischen kommen die Ausdrücke chove (es regnet) und neva (es schneit) ohne Personalpronomen aus. (Anm. d. Übers.)

1

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Die Betrachtung der Welt

Das einzelne logische Subjekt, dieser Sokrates da, steht innerhalb eines größeren Ganzen, dem Prädikat ist gerecht. Die kleinere Menge, welche das logische Subjekt darstellt, steht innerhalb einer größeren Menge, des Prädikats.

Das logische Subjekt alle Brasilianer ist eine kleinere Menge, welche in einer größeren Menge eingebunden ist, die alles Sterbliche darstellt. Alle Brasilianer sind sterblich, aber nicht alle Sterblichen sind Brasilianer. Es gibt Menschen anderer Länder, es gibt auch Tiere und Pflanzen, die in der Menge der sterblichen Dinge eingebunden sind. Deshalb ist das logische Subjekt alle Brasilianer völlig in der größeren Menge der sind sterblich eingebunden. – In der Aussage Einige Brasilianer sind Gauchos wird die Sache etwas komplizierter: nicht alle Brasilianer sind Gauchos, und nicht alle Gauchos sind Brasilianer, denn es gibt auch Gauchos in Uruguay und Argentinien. Deshalb sieht die Graphik jetzt etwas anders aus:

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Logik und Sprache

Das ist jetzt nicht wie vorhin, als eine Menge völlig in einer anderen, größeren eingebettet war. Hier ist die Menge einige Brasilianer zwar teilweise in der Menge sind Gauchos eingebettet, befindet sich aber gleichzeitig außerhalb. Die Graphik läßt es leicht erkennen. Die beiden Mengen befinden sich in teilweiser Überlappung.

4.2.3 Die negative Aussage In der negativen Aussage enthält das Prädikat nicht das Subjekt in sich, sondern es befindet sich im Gegensatz zu ihm. Weder ist das Subjekt im Prädikat eingebettet noch das Prädikat im Subjekt. Jedes steht außerhalb des anderen.

Die Menge des Subjekts steht auf der einen Seite, die des Prädikats auf der anderen, wie im Spiel der Gegensätze der Dialektik. Aber hier, in der Analytischen Logik, sucht man nicht nach der Synthese, hier gibt es keinen Einklang, hier gibt es keine Bewegung. Ein Pol schließt den anderen aus. Fertig. Die einzige Unterscheidung, die Aristoteles im Nachhinein in seiner Analyse aufzeigt, ist, wie man im logischen Quadrat sehen wird, die Differenzierung zwischen Gegensätzen, die konträr zueinander stehen, und Gegensätzen, die kontradiktorisch sind. Diese extrem wichtige Differenzierung wird das Schlachtfeld sein, auf dem sich Analytiker und Dialektiker während mehr als 2300 Jahren bekriegen werden.

4.2.4 Das logische Quadrat Die Denker des Mittelalters erläuterten die Gesetze der Schlußfolgerung von Aristoteles mittels der geometrischen Figur des Vierecks. Das logische Quadrat wurde später gezeichnet, aber die Grundideen und die Gesetze, die es regeln, wurden alle – fast alle – von Aristoteles entdeckt. Gesetze der Schlußfolgerung werden logische Regeln ge55 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Betrachtung der Welt

nannt und erlauben, im logischen Quadrat, den logischen Durchgang von einer Ecke zur anderen. Enthält die eine Menge die andere? Oder schließt sie sie aus? Oder ist sie neutral und kann sowohl ausschließen als auch enthalten? Impliziert die Wahrheit einer gegebenen Aussage die Falschheit der ihr entgegengesetzten Aussage? Und was wiederum impliziert die Falschheit?

Es gibt verschiedene Arten von Gegensätzen. Der Gegensatz zwischen A und O und zwischen E und I nennt sich kontradiktorischer Gegensatz. Der Gegensatz zwischen den kontradiktorischen Aussagen durchkreuzt das logische Quadrat. Der Gegensatz zwischen A und E nennt sich konträrer Gegensatz; beide Aussagen sind universell, die eine ist bejahend, die andere ist verneinend. Der subkonträre Gegensatz ist der zwischen I und O, von zwei partikularen Aussagen, einer bejahenden und einer verneinenden. Der Gegensatz zwischen A und I, links im logischen Quadrat, und zwischen E und O rechts davon nennt sich Subalternation. Für jede Art von Gegensatz gibt es andere Regeln der Schlußfolgerung. Aristoteles hat sie alle entdeckt und beschrieben. Kann man aus der Wahrheit einer Aussage A die Unwahrheit der Aussage O, welche ihr kontradiktorisch gegenübersteht, schließen? Ja, immer, antwortet Aristoteles, aus der Wahrheit in A kommt logischerweise die Unwahrheit in O zutage. Und der Übergang von A zu E? Und von A zu I? Für jede Art von Gegensatz gibt es spezifische Regeln. Aristoteles hat die Regeln des logischen Quadrats aufgestellt, indem er konsequent dieselbe Methode anwandte, die er gebraucht hatte, um die innere Struktur der Aussage zu untersuchen, d.h. indem er fragte, ob eine Aussage die andere ein- oder ausschließt. Nehmen wir irgendein Beispiel, um damit die vier Aussagen des logischen Quadrats zu bilden, und machen wir die entsprechenden Diagramme von Euler. Der 56 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Logik und Sprache

Übergang von A zu I ist einfach. Wenn es wahr ist, daß alle Menschen sterblich sind, dann ist es auch wahr, daß einige Menschen sterblich sind. Die größere Menge enthält hier selbstverständlich die kleinere. Die Wahrheit von A impliziert immer die Wahrheit von I. Der Übergang von E zu O ist genauso offenbar. Denn das Ganze enthält immer seinen Teil. Die Wahrheit von E impliziert immer die Wahrheit von O. Der umgekehrte Weg ist jedoch nicht mehr möglich, denn die Wahrheit einer Aussage I oder O sagt nichts über die Unwahrheit in den entsprechenden Aussagen A und E aus. Es stimmt, daß einige Menschen böse sind, aber das bedeutet nicht, daß alle Menschen böse sind. All dies sowie die anderen logischen Gedankengänge, welche sich an den weiteren Seiten des logischen Quadrats entlangziehen oder es von innen durchkreuzen, werden wir später im Detail untersuchen, wenn wir zur Diskussion über »was ist Dialektik« zurückkehren, denn genau hier geraten Analytiker und Dialektiker in Konflikt. Der Unterschied zwischen dem Gegensatz von konträren und dem Gegensatz von kontraditktorischen Aussagen ist einfach zu verstehen, aber so einfach er auch ist, gerade hier stolpern alle. Sie stolpern und fallen, wie wir wissen. Thales von Milet schaute zu den Sternen auf und, derart zerstreut, fiel er in ein Loch. Und die Sklavin Thrakia lachte ihn aus. Thrakia lacht bis heute über Analytiker und Dialektiker, welche auch noch im 20. Jahrhundert sich verheddern, stolpern und fallen. Thrakia lacht, weil sie sich untereinander nicht verstehen. Weil sie den Unterschied zwischen konträr und kontradiktorisch nicht kennen. Weil sie nicht mehr wissen, wie man das Spiel der Gegensätze spielt.

4.2.5 Der Syllogismus Der Syllogismus, die zweite große Entdeckung von Aristoteles, besteht in der logischen Verbindung von zwei Aussagen die, untereinander verlinkt, zu einer dritten Aussage führen. Wenn die beiden ersten Aussagen, die Prämissen, wahr sind, dann wird die aus ihnen resultierende Aussage, die Konklusion, immer und notgedrungen auch wahr sein. Ein Beispiel: Prämisse Nr. 1 Prämisse Nr. 2 Konklusion

Alle Menschen sind sterblich. Nun, alle Brasilianer sind Menschen. Also sind alle Brasilianer sterblich. 57 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Betrachtung der Welt

In diesem logischen Konstrukt gibt es eine Verbindung zwischen der ersten und der zweiten Aussage. Das Subjekt der ersten Prämisse ist das Prädikat der zweiten Prämisse: Mensch. Dieses logische Konstrukt, welches beiden Prämissen zugrundeliegt und der ersten als Subjekt und der zweiten als Prädikat dient, kommt nicht wieder vor in der Aussage, welche die Konklusion ist. Es ist etwas Dazwischenliegendes, eine Art gemeinsamer Nenner, der das Subjekt der zweiten Prämisse mit dem Prädikat der ersten verbindet und so als Vermittler dient, damit diejenige Aussage erscheine, die als das Ergebnis dastehen soll. Das nennt sich Mittelbegriff. Das klassische Schema zeigt dies deutlich. M ist hier der Mittelbegriff: M-P S-M S-P In der ersten Prämisse ist der Mittelbegriff das Subjekt der Aussage, in der zweiten ist er das Prädikat. In der Konklusion erscheint als Prädikationssubjekt das, was Subjekt der zweiten Prämisse war, und als Prädikat der Prädikation das, was das Prädikat der ersten Aussage war. Das Eulersche Diagramm zeigt instinktiv, besser als mit Worten, diesen logischen Zusammenhang der Eingliederung. Da erkennt man, daß der Syllogismus nur eine spätere Ausarbeitung der Methode von Einschluß und Ausschluß ist, die wir bereits in der Aussagestruktur erkannt hatten.

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Logik und Sprache

Hier ist klar erkennbar, was der Mittelbegriff ist und wie er funktioniert. Zwischen dem Subjekt und dem Prädikat des Ergebnisses wird so vermittelt, daß die größere Menge eine kleinere enthält, welche ihrerseits eine noch kleinere enthält. Von diesem Grundmodell aus entwickelt Aristoteles seine Lehre vom Syllogismus und errechnet genau, welche syllogistischen Formen logisch gültig sind und welche nicht. Dieses syllogistische System wurde von Aristoteles so gut konstruiert, daß dieser erste Entwurf zum endgültigen wurde. Die aristotelische Lehre vom Syllogismus behält selbstverständlich seine Gültigkeit, und noch heute bildet sie das Rückgrat der ganzen Logik. Erst durch Frege wird die Logik einen neuen Impuls bekommen, eine neue Grundlegung und eine Erweiterung. Je nach Lage des Mittelbegriffs gibt es vier Grundformen des Syllogismus: 1. Figur M–P S–M

2. Figur P–M S–M

3. Figur M–P M–S

4. Figur P–M M–S

S–P

S–P

S–P

S–P

Die Syllogismen erhielten Namen in der Antike und im Mittelalter; natürlich bedeuteten diese Namen etwas Wichtiges. Der erste Syllogismus der ersten Figur heißt Barbara. Die drei As dieses Namens – Barbara enthält dreimal den Buchstaben A – deuten darauf hin, daß beide Prämissen und auch die Konklusion im logischen Quadrat Aussagen A, d.h. allgemein bejahende Aussagen sind. Der zweite Syllogismus heißt Celarent. Die erste Prämisse hier ist E, eine allgemein verneinende Aussage; die zweite Prämisse ist A, eine allgemein bejahende Aussage; die Schlußfolgerung ist E, eine allgemein verneinende Aussage. Der dritte Syllogismus heißt Darii. Die erste Prämisse hier ist A, eine allgemein bejahende Aussage; die zweite Prämisse und das Ergebnis sind I, partikular bejahende Aussagen. Der vierte Syllogismus ist Ferio. Die größere Prämisse hier ist eine Aussage E, universell verneinend; die kleinere Prämisse ist I, eine partikular bejahende Aussage, und die Konklusion ist O, partikular verneinend. – Die Namen der Syllogismen sind: Erste Figur: Barbara, Celarent, Darii, Ferio. Zweite Figur: Cesare, Camesters, Festino, Baroco. Dritte

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Die Betrachtung der Welt

Figur: Darapti, Felapton, Disamis, Datisi, Bocardo, Ferison. Vierte Figur: Bamalip, Calemes, Dimatis, Fesapo, Fresison. Durch die reine Buchstabenmenge gäbe es eine viel größere Zahl von Syllogismen. Aber nur die oben aufgeführten Syllogismen sind logisch gültig, d.h. nur diese funktionieren immer, auf daß aus der Wahrheit der Prämissen die Wahrheit der Konklusion erfolge. Alle anderen Kombinationen sind ungültig. Zum Beispiel ist ein Syllogismus mit der Folge A – I – A in der ersten Figur ungültig. Gültig ist der Syllogismus Barbara, A – A – A, und Darii, A – I – I; ein Syllogismus A – I – A ist nicht gültig. Warum? Wie weiß man das? Wenn man versucht, das Eulersche Diagramm von einem ungültigen Syllogismus zu erstellen, kommt nichts dabei heraus. Es wird unmöglich, solch ein Diagramm zu bilden, denn die Folge von Maß und Inhalt kommt durcheinander. Das Diagramm kann einfach nicht konstruiert werden. Anders gesagt, wenn man es bauen will, merkt man sofort, daß es nicht klappt. Nehmen wir als Beispiel einen Syllogismus A – I – A, der in der ersten Figur ungültig ist: Alle Brasilianer sprechen Portugiesisch. Nun, einige Gauchos sind Brasilianer. Also sprechen alle Gauchos Portugiesisch. Die größere Prämisse ist wahr, die kleinere ebenso. Aber das Ergebnis ist falsch, denn einige Gauchos, nämlich die aus Uruguay und Argentinien, sprechen kein Portugiesisch. Wo steckt der Fehler? In der unkorrekten logischen Form, wie man es im entsprechenden Eulerschen Diagramm sehen kann:

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Logik und Sprache

Die Menge alle Gauchos ist nur teilweise in der Menge alle Brasilianer enthalten. Das korrekte Ergebnis wäre eine Aussage I (Einige Gauchos sprechen Portugiesisch) und nicht eine allgemeine Aussage A (Alle Gauchos sprechen Portugiesisch). Im Mittelalter hat man deshalb verschiedene Regeln zur Konstruktion von Syllogismen festgelegt. Die wichtigste besagt: das Ergebnis folgt stets dem schlechteren Teil. D. h. falls es in den Prämissen eine verneinende oder partikulare Aussage gibt, wird die Schlußfolgerung ebenso verneinend oder partikular sein müssen. Im vorherigen Beispiel ist die zweite Prämisse partikular, und deshalb wird das Ergebnis ebenso partikular sein müssen. Eine allgemeine Schlußfolgerung hiervon ableiten zu wollen, wenn es eine partikulare Prämisse gibt, ist unkorrekt. Deshalb bringt das Ergebnis hier nichts und ist falsch: es gibt Gauchos, die kein Portugiesisch sprechen.

4.2.6 Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch Die zentralen Ideen Aristoteles’, nämlich die Lehre von der Prädikation und das System der Syllogismen, führten ihn zu einem Standpunkt, welcher der Dialektik Platons und dem Spiel der Gegensätze der alten Denker völlig entgegengesetzt ist. Das Spiel von These, Antithese und Synthese klappt einfach nicht. Gleichzeitig die Wahrheit einer These und diejenige ihrer Antithese behaupten zu wollen, ist für Aristoteles reiner Unsinn. Wer etwas behauptet und gleichzeitig und unter den gleichen Umständen das Gegenteil behauptet, redet Unsinn. Dialektik bekommt bei Aristoteles einen anderen Sinn; sie ist nicht mehr ein korrektes und sehr wichtiges Verfahren wie bei Platon, sondern jener Unsinn, den die Sophisten betrieben. Hier liegt der tief abwertende Sinn des Begriffs Sophist. Denn wer etwas sagt und es gleichzeitig verneint, sagt ja gar nichts, der treibt nur Unsinn. Und was wird nun aus dem alten Meister Platon mit seiner Dialektik? Wenn Dialektik Unsinn ist, wird Platon zum Dummkopf? Aristoteles sagt so etwas nicht, Aristoteles windet sich heraus. Natürlich wird er seinen alten und geehrten Meister Platon nicht offen angreifen. Aber eine aufmerksame Lektüre des Buches Gamma (IV) der Metaphysik verdeutlicht, wie Aristoteles sich mehr und mehr von Platon und dem Spiel der Gegensätze distanziert. Da wird nicht mehr mit Thesen und Antithesen herumgespielt. Da kommt nichts mehr heraus. Nichts Rationales ergibt sich daraus. Wenn das eine 61 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Betrachtung der Welt

wahr ist, ist das andere immer falsch, oder umgekehrt. Gleichzeitig sowohl These wie Antithese auffangen zu wollen, ist reiner Unsinn. Dies ist der bedeutendste und härteste Einwand von Aristoteles gegen Platon, dies ist der Einwand der Analytischen Philosophen gegen die Dialektischen Philosophen. So war es in der Antike, so ist es bis heute. Das ist das Hauptthema dieses Buches. Ist Dialektik Unsinn? Gegen Platon und die Dialektiker erhebt und formuliert Aristoteles das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs. Das Prinzip sagt: es ist unmöglich, dasselbe Prädikat unter denselben Umständen und zur selben Zeit für dasselbe Subjekt auszusagen und nicht auszusagen. Wer etwas aussagt und es gleichzeitig und unter denselben Umständen abspricht, sagt überhaupt nichts aus. Da kommt dann nur Blödsinn heraus. Die Rose kann nicht zur selben Zeit und unter denselben Umständen rot und grün, d. h. nicht-rot sein. Natürlich kann es passieren, daß die Rose zuerst grün ist und dann rot wird; das ist möglich, denn es handelt sich um zwei verschiedene Momente. Es kann auch passieren, daß die Rose zugleich rot und grün ist. Aber dann muß man unterschiedliche Aspekte berücksichtigen. Die Blütenblätter der Rose sind rot, der Stängel aber ist grün. Es sind unterschiedliche Aspekte. Aber Sein und Nicht-Sein unter denselben Umständen, das ist unmöglich. Hier erkennen wir wieder die bedeutendste These des alten Parmenides: das Sein ist, das Nicht-Sein ist nicht. Aristoteles behandelt das Thema auf subtilere Art, indem er Seinsaspekte einführt. Aber auch unter diesen gilt wieder einmal, die Regel: was ist, kann nicht unter denselben Umständen nicht sein. Deshalb kann man unter denselben Umständen nicht ein Prädikat für dasselbe Subjekt gleichwohl behaupten wie verneinen. Der Hauptgedanke des Parmenides, im Nachhinein bei Aristoteles differenziert, beherrscht einmal wieder das philosophische Denken, ausgenommen das Alles fließt von Heraklit. Der statische Charakter der Philosophie von Aristoteles kommt langsam zum Vorschein. Die Kugel des Parmenides erglänzt wieder. Aristoteles und, noch eindeutiger, die aristotelischen Philosophen des Mittelalters fügen dem Satz vom Widerspruch eine praktische Regel der Kunst des korrekten Denkens und Diskutierens hinzu. Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch ist immer gültig. Richtig. Aber wenn man faktisch zwei Aussagen hat, die dasselbe Subjekt, aber gegensätzliche Prädikate aufweisen, und beide scheinen wahr zu sein, was macht man dann? Für diese Fälle gibt es eine Verfahrensregel: entsprechend zu unterscheiden. Sokrates ist kleiner als 1,50 m 62 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Logik und Sprache

sei die eine Aussage, die andere Aussage hingegen Sokrates ist größer als 1,50 m.Wir haben da zwei Aussagen mit demselben Subjekt, Sokrates, die jedoch in ihren Prädikaten gegensätzliche und ausschließende Dinge behaupten. Aber wir haben gute Gründe, sowohl die eine wie die andere zu verfechten. Was ist zu tun? Wiederum die Dialektik verteidigen? Keinesfalls. In diesen Fällen gebietet die Analytik, die entsprechenden Unterscheidungen im logischen Subjekt der Prädikation vorzunehmen. Logisches Hauptsubjekt: Sokrates Dem Hauptsubjekt hinzugefügte Aspekte: 1. im Sitzen ist er kleiner als 1,50 m 2. im Stehen ist er größer als 1,50 m Die gegensätzlichen Prädikate werden nach den entsprechenden Unterscheidungen demselben Subjekt zugeschrieben, Sokrates, aber unter verschiedenen Aspekten (sitzend, stehend). Obwohl die Person Sokrates dieselbe ist, besitzt der stehende Sokrates eine Eigenschaft, die der sitzende Sokrates nicht haben kann. Das ist sehr gut möglich. Es entsteht da ein doppeltes Subjekt. Das erste, Sokrates, ist das anfängliche logische Subjekt. Mit der Einführung späterer logischer Aspekte (sitzend und stehend) schafft man eine Erweiterung und Verdoppelung des Subjekts. Das logische Subjekt, welches einheitlich und einfach war, wird durch die Verdoppelung zu einem zweifachen Subjekt, welches dann die anfangs sich ausschließenden Prädikate in Einklang bringt. Daraus ergibt sich eine praktische Verfahrensregel: wenn Prädikationen mit zwei gegensätzlichen Prädikaten und ein und demselben Subjekt auftreten, und wenn die Wahrheit der einen nicht die der anderen ausschließt, dann muß man sorgfältig prüfen, bis man in diesem einzelnen Subjekt zwei logische Aspekte findet, mittels denen man konträre Aussagen machen kann, ohne das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs anzugreifen. Wenn es gegensätzliche Prädikate gibt, hebt faktisch also entweder das eine das andere auf, oder es handelt sich um ein logisches Subjekt, das zwei unterschiedliche Aspekte enthält. Keine Dialektik, kein Spiel der Gegensätze. Entweder hebt ein Gegensatz den anderen auf, oder es handelt sich um ein Subjekt mit zwei unterschiedlichen Aspekten. Das ist Aristoteles, das ist Analytik.

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Die Betrachtung der Welt

4.3 Die Metaphysik 4.3.1 Substanz – Wesen und Zufall Metaphysik war der Name, den Andronikos von Rhodos, welcher die Werke von Aristoteles ordnete, den nach der Physik kommenden Büchern gab. Der Begriff tà metà tà physikà bedeutet: was nach der Physik kommt. Der Etymologie nach gibt es also nichts Spektakuläres oder Tiefgreifendes in diesem Wort. Der Ausdruck metà tà physikà, der nichts Wichtiges meinte, wurde zum Kern einer ganzen philosophischen Betrachtungsweise des Alls. Denn in diesen Büchern, in jenen, die nach der Physik kommen, skizziert Aristoteles seine Erklärung der Welt. So wie die Sprache die Gesetze einer Grammatik befolgt, welche logisch ist, so befolgt auch das kosmische All, die Welt der Dinge, eine Grammatik und ist deshalb perfekt geordnet. Auf der einen Seite haben wir die Sprache mit ihren genauen und klaren Gesetzen – siehe die Regeln zur Aussage und das Syllogismensystem –, auf der anderen Seite haben wir einen ebenso von Gesetzen geordneten Kosmos. Die große These des Aristoteles ist die, daß die Grammatik der Sprache auch dieselbe Grammatik der Welt ist. Dieselben Gesetze, die den Zusammenhang der logischen Rede regeln, regeln ebenso den Ablauf der Dinge und die Beziehungen zwischen den Dingen. Die großen Gesetze der Logik sind auch die großen Gesetze der Ontologie. Aristoteles sagt, daß die Dinge dieselbe Struktur wie die wohlgeformte Aussage besitzen. In der Aussage haben wir das Subjekt und das Prädikat. Das logische Subjekt, sub-jectum, hypo-keimenon, welches der prädikativen Aussage zugrundeliegt, ist wesentlich für die Aussage; ohne solches weiß man nicht, wovon geredet wird. Ebenso muß den Dingen ein harter Kern zugrundeliegen. Dem logischen Subjekt der Sprache, der Stütze des prädikativen Zusammenhangs, entspricht in den Dingen die Substanz, welche das ist, was dem Ding selbst zugrundeliegt und ihm eine Stütze gibt. Dem logischen Unterbau, sub-jectum, entspricht in den Dingen die Substanz, substantia. In ihrer Grundlage, in ihrem harten Kern, sind die Dinge vor allem Substanzen, auf Griechisch ousia. Über diesem harten Kern, der die tieferliegende Substanz ist, können andere Bestimmungen existieren. Diese werden Zufälle/Akzidentien genannt. Sie fallen den Dingen zu, oder besser: sie fallen den Dingen manchmal zu und manchmal auch nicht. Diese späteren Bestimmungen sind nicht-notwendige Bestimmungen, deswegen als zufällig/akzidentiell bezeich64 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Metaphysik

net. Sie existieren über dem Substrat der Substanz, welches ihnen von unten her Halt gibt. Was ist Substanz? Was ist Zufall? In der logischen Struktur gibt es gewisse Prädikate, die notwendigerweise vom Subjekt gefordert werden, es gibt andere Prädikate, die möglich sind. So erfordert das logische Subjekt Dreieck immer und notgedrungen das Prädikat hat drei Seiten und drei Winkel. Die Verknüpfung zwischen diesem Subjekt und diesem Prädikat ist notwendig. Es ist unmöglich, »Dreieck« ohne die Eigenschaft der drei Seiten und drei Winkel zu denken oder zu sagen. Diesen notwendigen Prädikaten entspricht das Wesen der Dinge. Der logischen Struktur entspricht eine ontologische Struktur. Das Wesen ist, nach Aristoteles, die von ihren notwendigen Eigenschaften bestimmte Substanz. Den möglichen Prädikaten, den nicht-notwendigen Prädikaten, entsprechen in Bezug auf die Dinge die Akzidentien. Akzidentiell ist eine Eigenschaft, die die Substanz sowohl besitzen kann als auch nicht. Das Dreieck kann blau oder rot sein. Die Farbe ist zufällig. Es handelt sich hier um ein logisches Prädikat und eine ontologische Eigenschaft, die nicht notwendig sind. Die in der Natur vorkommenden Veränderungen betreffen manchmal die eigenste Substanz. Ein Lebewesen wird geboren und später stirbt es. Geboren werden und sterben sind Verwandlungen, die die eigenste Substanz der Dinge betreffen. Aristoteles spricht, in der ihm eigenen Begrifflichkeit, von Erzeugung und Verwesung. Es gibt viele andere Veränderungen, die einfach zufällig sind. Das Tier, das jetzt wach ist, ist dasselbe Tier, welches später schlafen wird. Wach-Sein und Schlafend-Sein bezeichnen Akzidentien, d. h. nichtwesentliche Beziehungen. – Die Farbe ist bei den geometrischen Figuren immer etwas Akzidentielles.

4.3.2 Substanz – Form und Materie Das Wesen der Dinge ist anders als die Akzidentien. Das Wesen ist nötig, damit ein Ding sein kann, was es ist, die Akzidentien sind nicht notwendig. Soweit, so gut. Aber bedeutet das, daß Substanz und Wesen einfach dasselbe sind? Sollte die den Akzidentien zugrundeliegende und sie stützende Substanz dasselbe sein wie das Wesen, welches für das So-Sein der Dinge notwendig ist? Nein, antwortet Aristoteles. Die Substanz enthält in sich zwei gründende Elemente: eines ist das Wesen, welches als Form fungiert, das andere ist die 65 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Betrachtung der Welt

Materie. Hier also, im Kern der aristotelischen Seinslehre, steckt eine begriffliche Verbindung, die auf die platonische Formentheorie zurückgeht. Aristoteles, Schüler von Platon, hatte die dialektische Methode seines Meisters völlig aufgegeben, nicht aber die Formentheorie. Hier haben wir sie wieder. Die Substanz besteht aus Form und Materie. Die Form ist der maßgebende Faktor, der Umriß und Bestimmung verleiht; Materie ist das, worin sich die Form erfüllt. In diesem Zusammenhang erläutert Aristoteles die vier Ursachen. Jedes Ding hat immer vier Ursachen, die Wirk- und die Zweckursache liegen äußerlich des verursachten Dings, die Form- und die Materialursache sind intern. Nehmen wir eine Statue zu Ehren Apollons. Der Bildhauer ist hier die Wirkursache; die Ehrung Apollons, der Zweck, zu dem die Statue gereichte, ist die Zweck- oder Zielursache; beide Ursachen befinden sich äußerlich der eigentlichen Statue. Der Marmor ist die materielle Ursache, die Form des Apollon ist die formale Ursache der Statue. Form und Materie sind Elemente, die bei der Zusammensetzung der Statue des Apollon mitwirken, sie bleiben in ihr. Die Statue ist die in der Form erfüllte Materie. Ohne die Form ist die Materie etwas Unbestimmtes; der noch formlose Marmor ist nicht die Statue des Apollon. Die reine Form, ohne die Materie, ist nur eine Idee in den Vorstellungen des Bildhauers und der Menschen. Eine Idee? Genau, da ist sie wieder, die Theorie der Ideen, die Formentheorie von Platon. Die Idee des Apollon ist die formale Ursache, die Idealform, welche durch das Behauen im Marmor Stofflichkeit erhält und zu einer Statue zu Ehren Apollons wird. Form und Materie vereint, die Form des Apollon zusammen mit dem Marmor, bilden sie gemeinsam die Substanz. Fast jede Substanz besteht aus Form und Materie. Und die Akzidentien? Akzidentiell bei der Statue des Apollon ist die Tatsache, daß sie aus Marmor ist, daß sie diese oder jene Färbung aufweist; erinnern wir uns, daß die Griechen die Statuen, die wir heute in den Museen bewundern, nur mit der ihnen eigenen Farbe tönten. Fassen wir zusammen. Das Seiende, d. h. das konkrete Ding, worauf wir deuten, ist etwas aus Substanz und Zufall Bestehendes. Zufall ist das, was nicht notwendig ist, was einfach vorkommt. Substanz ist das den Vorkommnissen zugrundeliegende Sein. Das Wasser, das manchmal flüssig ist, verdampft manchmal und wird zu Gas, dann und wann wird es fest wie Eis, das Wasser selbst ist die Substanz. Die Zustände flüssig, fest und gasförmig sind Zufälle/Akzidentien des Wassers. Die Substanz dagegen besteht aus Wesen und 66 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Metaphysik

Materie. Das Wesen ist die formale Ursache, die die spezifische Art des Wasser-Seins bestimmt. Die Materie ist jener Stoff, von dem aus und in dem die Form eine konkrete Bestimmung erfährt. Aber was schließlich ist die Materie? Materie ist das Unbestimmte, das Leere, sagt Aristoteles. Die Materie an sich und von sich aus besitzt keine Bestimmung, sie ist formlos, träge, reine passive Möglichkeit, daß man etwas in ihr und aus ihr heraus machen könne. So ist die Materie etwas Unaussagbares. Alles kommt ihr von der Form zu, das modelierende Prinzip, das sie bestimmt und ihr Aussehen und Umrisse verleiht. In der Substanz ist das Wesen die formale Ursache; die Materie, die reine Fähigkeit, ist die materielle Ursache. Hier, in diesem harten Kern seiner Metaphysik, ist Aristoteles weiterhin ein neuplatonischer Philosoph. Hier gründet auch die aristotelische Theorie von Ursprung und Struktur des Wissens, die Metaphysik des Wissens.

4.3.3 Metaphysik des Wissens Die Dinge in dieser konkreten Welt, in der wir leben, wirken auf unsere Sinne, und diese erstellen, von den aufgenommenen Eindrükken ausgehend, ein spürbares Bild, welches in uns zeigt, wie ein Ding ist. Dieses spürbare Bild ist jedoch etwas mit dem Körper Verschmolzenes, etwas Körperhaftes, das von Raum und Zeit bestimmt wird und von Konstruktion und Zerfall bedroht ist. Das von den Sinnen gelieferte Bild verändert sich, je nachdem wie die Dinge auftauchen oder verschwinden. Dagegen ist das von einem inneren Sinn, der Vorstellungskraft, gelieferte Bild unabhängiger, innerlicher. Das Bild aus der Vorstellungskraft – ein besser ausgearbeitetes Produkt des Erkenntnisprozesses –, zeigt die Dinge selbst in deren Abwesenheit auf, wenn sie keine Einwirkung auf die äußeren Sinne haben. Die Vorstellungskraft ist ein mächtiger innerer Sinn. Alles geht durch sie hindurch. Aber sie ist bisher nur spürbar, sie ist kein Verstehensansatz. Die Vorstellungskraft stellt die Dinge vor, re-präsentiert, macht sie wieder gegenwärtig, obwohl sie abwesend sind, wie ein Zeichen, das, indem es Zeichen ist, auf ein reales Ding, welches es selber nicht ist, hinweist. Das von den äußeren und inneren Sinnen erzeugte und erarbeitete Bild ist immer nur ein spürbares Zeichen. Aber wie kommen wir zur gedanklichen Erarbeitung, zum Konzept? Wenn das Empfinden noch körperhaft ist, von Raum und Zeit durch67 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Betrachtung der Welt

flutet, wie kommt man von ihm zum allgemeinen Konzept, welches jenseits von Raum und Zeit liegt? Die Dinge sind individuell, ausgedehnt in Raum und Zeit. Das Konzept ist universal, unausgedeht, außer Zeit und Raum. Wie können die individuellen, ausgedehnten, raumzeitlichen, zufälligen Dinge, die auf unsere Sinne einwirken, universale Begriffe hervorbringen, die begrenzt, notwendig in ihren Zusammenhängen sind? Wie setzt man von der Welt der Dinge in die Welt der Ideen über? Die Dinge können von sich aus diesen Übergang nicht machen, lehrt Aristoteles. Was die Konzepte aufbaut, ist das eigene Erkenntnisvermögen als aktive Funktion, als tätige Vernunft. Es gibt im Menschen, in allen Menschen, eine mächtige, tätige Vernunft. Dieser nous wendet sich zum von den äußeren und inneren Sinnen erstellten Bild und beleuchtet es mit seinem Licht. Im Licht der tätigen Vernunft, sagt Aristoteles, erscheint dann die Form, die im spürbaren Bild war und natürlich auch im Ding selbst. Da haben wir wieder Platons Ideenlehre, jetzt im harten Kern von Aristoteles’ Metaphysik des Wissens. In seinem tiefsten Innern ist Aristoteles weiterhin ein Schüler Platons. Der begriffliche Kern des Höhlengleichnisses erscheint hier nüchterner, prosaischer, mit weniger Bildern. Aber es ist die platonische Idee, die hier wieder aufkommt. Die Form, die dem Ding Aussehen und Umriß verleiht – gleichsam ein vitales Prinzip in jedem Ding –, ist dieselbe implizite Form in dem von den Sinnen wiedergegebenen spürbaren Bild. Aber nur im Lichte der tätigen Vernunft bekommt diese Form wieder Sichtbarkeit und wird vor sich selbst durchsichtig. Im Ding ist die Form ausgedehnt, räumlich-zeitlich und kontingent; dies ist ihr materielles Wesen. Aber im Lichte der tätigen Vernunft trennt sich die Form von der Materie, welche sie individualisiert und einengt, und wird wieder zur reinen Form, eine Form ohne Materie, eine notwendige, unausgedehnte Form, außer Raum und Zeit, eine intelligible Form. Die Dreiecke in der materiellen Welt der Dinge sind kontingent, sie sind räumlich-zeitlich, unterschiedlich groß und haben verschiedene Farben. Aber der Begriff des Dreiecks, dieser ist notwendig in seinen Zusammenhängen, er ist unausgedehnt und abstrakt, nicht mehr räumlich-zeitlich bedingt, und erlaubt eine gleichzeitige Vorstellung der unterschiedlichsten Dimensionen. Wenn die in den Dingen existierende Form im Lichte der tätigen Vernunft unsere Sinne durchdringt, verwandelt sie sich und nimmt ihre wahren Eigenschaften an. Formen sind Ideen, sie sind notwendig, sie sind unausgedehnt und außer Raum und Zeit. Das 68 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Ethik und Politik

Dreieck, die Dreiecksform, ist ewig und allgemeingültig in allen Zeiten und an allen Orten. Diese ewige Form ist es, die ans Licht kommt, wenn die Vernunft handelt. Wir erkennen wohl, aber was eigentlich erkennt, ist die tätige Vernunft in uns. Hier sehen wir die universalen und ewigen Formen der individuellen und kontingenten Dinge. Solange die Form in der Materie war, stellte sie nur eine Potenz dar. Sie konnte gedacht werden, sie konnte vor sich selbst durchsichtig sein. Sie hätte es sein können, war es eigentlich aber nicht. Dieses Sein-Können nennt Aristoteles Potentialität. Die Formen in den einzelnen Dingen, die es auf unserer sublunaren Welt gibt, sind voll Materialität. Deshalb sind sie nicht vor sich selbst durchsichtig. Ein Tisch weiß nicht, daß er ein Tisch ist, eine Katze besitzt keinen Begriff davon, was eine Katze ist. Aber wenn die Form vom Menschen im Lichte der tätigen Vernunft gedacht wird, befreit sie sich von der Materie und wird wieder zu sich selbst; sie wird dann durchsichtig, verständlich, und man weiß, wie sie in Wahrheit ist, wie etwas Universales mit seinen notwendigen Zusammenhängen, außer Raum und Zeit. In den leblosen Dingen und in den Tieren unserer sublunaren Welt ist die Form in Potentialität, sie schlummert nur. Im Lichte der tätigen Vernunft ist die Form aktualisiert; sie wird wieder Aktualität ihrer selbst, sie wird durchsichtig und ihrer selbst bewußt. Akt und Potenz, das Sein und das Sein-Können sind da verflochten. Die tätige Vernunft ist der Akt, der die Form aktualisiert, welche potentiell innerhalb des Dings an sich und des von den Sinnen erstellten Bildes schlummerte. Aristoteles entwickelte fachlichere Begriffe, aber man merkt hier, daß er weiterhin die Formentheorie von Platon bedenkt und verficht. Aber Aristoteles sagt, die Formen seien in den Dingen, Platon hätte gesagt, daß die Formen auf dem Stern existieren, in einer abgesonderten Welt. Das wäre dann der große Unterschied zwischen Aristoteles und Platon. Nonsens. Wer ist etwa noch immer nicht dahintergekommen, daß der Stern nur die mythologische Form ist, die Platon benutzt hat, um genau dasselbe zu erzählen? Aristoteles und Platon unterscheiden sich auf vielerlei Weise. Aber nicht hierbei.

4.4 Ethik und Politik Die beschreibenden Aussagen bezeichnen die Dinge, wie sie wirklich sind. Dieser Tisch hat ein zerbrochenes Bein ist eine beschreibende 69 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Betrachtung der Welt

Aussage. Aber der Tisch sollte nicht so dastehen, das Bein dürfte nicht zerbrochen sein. Dieses Sein-Sollen, hier auf das zerbrochene Tischbein bezogen, ist etwas rein Funktionelles. Damit der Tisch seine Funktion als Tisch erfülle, muß er fest stehen, was voraussetzt, daß das Bein nicht zerbrochen sein darf. Bei den Gebrauchsgegenständen wird das Sein-Sollen von der Funktionsfähigkeit bestimmt. Welcher Maßstab des Sein-Sollens gilt bei den Beziehungen von einem Menschen zu den anderen Menschen? Wie s o l l t e meine Beziehung zu anderen Menschen aussehen? Aristoteles behauptet, daß hier ein völlig neues Gebiet anfängt. Bisher bewegten wir uns auf dem Gebiet der theoretischen Vernunft, d. h. derjenigen Aussagen, die entweder notwendig oder möglich sind, die aber nur das aussagen, was tatsächlich ist, und das, was momentan wirklich so ist und nicht anders. Jetzt gehen wir zu einem neuen Gebiet über, dem Gebiet der Ethik, d. h. des Sein-Sollens. Die Dinge besitzen Zusammenhänge, die wesentlich und notwendig sind. Sie besitzen auch andere, die reiner Zufall sind, die geschehen können oder auch nicht. Das ist der Bereich der Kontingenz: etwas kann so, aber auch anders sein. In diesem Reich der Kontingenz voller Alternativen ortet Aristoteles die Ethik, das Reich des SeinSollens. Es gibt Situationen, in denen der Mensch, im Bezug auf einen anderen, auf die eine oder andere Art handeln kann. Manchmal gibt es Dutzende von Handlungsweisen. Nun, da haben wir das Reich des Sein-Sollens. Wenn der Mensch im Bezug zu anderen Menschen verschiedene Alternativen in seiner freien Handlungsweise hat, sollte er die ethische Alternative wählen. Was ist Ethik? Was ist eine ethische Handlungsweise? Jene – lehrt Aristoteles –, die mit der Tugend zusammengeht. Aber was ist Tugend? Bereits Platon diskutierte das gründlichst. Tugend ist eine Gepflogenheit, Tugend kommt von weit her, Tugend kommt von der lokalen Tradition. Tugendhaft sein heißt, den Regeln des Landes zu gehorchen, in dem man sich befindet. – Ist Tugend also reiner Konservatismus? Die Tradition ist sehr wichtig, meint Aristoteles, aber nicht entscheidend. Entscheidend für die Ethik, der oberste Maßstab, ist die »gerade« Vernunft, der rechte logos, der orthos logos. In der Geometrie ist eine Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. In der Architektur spricht man vom rechten Winkel, den man zeichnet und erhält, wenn man eine Schnur oder einen Faden über Eck legt oder spannt. Dem Faden nachgehend erhält man den Bauplan von Böden, Wänden und Decken. Orthos ist der logos, recht 70 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Ethik und Politik

ist die Vernunft, die der Grammatik des praktischen logos gehorcht. Aristoteles führt hier die Idee von der praktischen Vernunft als etwas von der theoretischen Vernunft Verschiedenes und Entgegengesetztes ein. Die praktische Vernunft – Ethik und Politik – gehorcht nicht denselben Regeln der theoretischen Vernunft. Die Regeln der praktischen Vernunft sind flexibler, weniger genau. Es handelt sich um eine andere Art von logos. Wie soll man dann, im Zweifelsfall, die rechte Vernunft finden? Ein guter und praktischer Maßstab, sagt Aristoteles, ist der Mittelweg. Die Goldene Regel, wie sie in der Tradition genannt wird, besagt, daß wir nicht die Extreme wählen sollen, weil sie ethisch falsch sind, sondern auf dem Mittelweg bleiben. Feigheit und Übermut sind ethisch falsche Extrempole. Die Tugend bleibt in der Mitte. Die Tugend bleibt beim Mut, der auf halbem Wege zwischen Übermut und Feigheit liegt. Wenn es Streit gibt, soll man weggehen, nicht so langsam, daß es nach Frechheit aussieht, aber auch nicht so schnell, daß es nach Feigheit aussieht. Wer stets auf dem Mittelweg bleibt, wird glücklich. Das Glück, eudaimonia, ist die Krönung des tugendhaften Lebens. Aristoteles weiß sehr gut, daß die Regel des Mittelwegs, des mesotes, nur eine Hilfsregel ist, denn der Mittelweg befindet sich nicht immer genau in der Mitte. So wird ein letztgültiger und entscheidender Maßstab erforderlich. Der philosophische Maßstab des Sein-Sollens besteht in der rechten Vernunft. Hier wird in Aristoteles’ Ethik die Aufspaltung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft vorweggenommen, die wir in den Klassikern des Mittelalters wiederfinden, bei Kant und in fast allen aktuellen Ethiken. Das Reich der theoretischen Vernunft stimmt nicht mit dem Reich der praktischen Vernunft überein. Die Prinzipien der ersten stimmen nicht mit den Prinzipien der zweiten überein. Die Grammatik der theoretischen Vernunft ist nicht dieselbe der praktischen Vernunft. Dieser Irrtum – ich halte dies für einen großen Irrtum –, welcher nicht bei Platon zu finden ist und so auch nicht bei den neuplatonischen Philosophen, verursachte und wird weiterhin unzählige Übel verursachen. Zwei entgegengesetzte Pole zu trennen ohne den kleinsten Versuch, sie auf einer höheren Ebene in Einklang zu bringen, ist typisch für die Analytik. Die Dialektik, das Spiel der Gegensätze, gebietet, daß man in solchen Situationen weiterhin nach einer Synthese sucht, nach einer Versöhnung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Beide Vernünfte sind ineinander verwoben, also muß es einige Prinzipien geben, die beide gemeinsam 71 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Betrachtung der Welt

haben. Aber danach sucht Aristoteles nicht, das wird von der Analytik, infolge der Trägheit ihrer eigenen Gedanken, beiseite gelassen. Für den Dialektiker bleibt die große Frage, selbst nach Aristoteles und Kant, weiterhin offen: wie sind diese Vernünfte miteinander verknüpft? Welche Prinzipien haben sie gemeinsam? Menschen leben miteinander, Menschen brauchen einander. Nur die Wildtiere brauchen niemanden und leben allein. Deshalb organisieren sich die Menschen in Staaten. Der innerhalb der Struktur eines Staates lebende Mensch ist ein Bürger. Die bedeutendste Tugend des Bürgers ist die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist die rechte Vernunft, die besagt, wie die vielen Menschen, unter sich gleichgestellt als Bürger desselben Staates, miteinander umgehen sollen. Auf gleicher Ebene. Deshalb ist das gerechte Gesetz jenes, das für alle gleichermaßen gilt. Wenn es nicht für alle gleichermaßen gilt, dann ist es kein Gesetz mehr, sondern ein Privileg (privi-legio, privates Gesetz), wird man im Mittelalter sagen. – Daß Aristoteles in diesem Zusammenhang vergessen hat, daß die zu seiner Zeit existierenden Sklaven gar keine solchen sein dürften, zeigt, wie selbst die größten unter den großen Denkern blind sein können. – Es gibt verschiedene Formen, den Staat zu regieren, aber sie alle müssen das Allgemeinwohl anstreben, das Wohl aller Bürger. Selbst wenn es nur einen einzigen Herrscher gibt – Monarchie –, so herrscht er doch im Namen und für das Allgemeinwohl jeden Bürgers. Deshalb muß der König selbst als Einzelperson im Plural reden. Wenn er redet, reden alle Bürger, wenn er entscheidet, entscheiden alle mit. Dasselbe gilt, wenn einige wenige regieren – Aristokratie –, oder wenn die öffentlichen Volksversammlungen regieren – Politeia. Wenn der Regierende das Allgemeinwohl vernachlässigt und nur für das Wohl einiger weniger regiert, so daß er gegen das Wohl anderer angeht, dann verkommt die Regierung. Wenn die Regierung eines einzigen Herrschers verkommt, wird sie zum Despotismus. Wenn die Regierung einiger wenigen verkommt, wird sie zur Oligarchie. Wenn die Regierung der vielen, in den Volksversammlungen vertretenen Bürgern verkommt, wird sie zur Demokratie. Demokratie hat bei Aristoteles, wie wir sehen, einen stark abwertenden Sinn. Was wir heute Demokratie nennen – die einzige ethische Form, zu regieren und regiert zu werden –, heißt bei Aristoteles Politeia. Aber Aristoteles ist sich dessen nicht bewußt, daß dies die einzige ethische Form ist, den Staat zu strukturieren. Das werden wir erst in der Neuzeit herausfinden.

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Die analytische Weltanschauung

4.5 Die analytische Weltanschauung Aristoteles, hervorragender Beobachter der Dinge, wußte bereits, daß die Erde, auf der wir leben, rund ist. Im Traktat Über den Himmel schreibt er, daß die Mondfinsternisse von der Erdposition verursacht werden. In ihrer Bewegung stellt die Erde sich zwischen Sonne und Mond, und auf diese Weise kommt die Finsternis zustande. Da der von der Sonne auf den Mond geworfene Schatten immer rund ist, muß man daraus schließen, daß die Erde rund ist. Falls die Erde ein Diskus wäre, wie die meisten Denker aus jener Zeit sich das vorstellten, könnte der auf den Mond geworfene Schatten der Erde nicht rund sein. Nach der Auffassung aus jener Zeit jedoch dachte Aristoteles, daß die Erde feststünde, daß die Erde ein unbeweglicher Punkt mitten im All wäre. Die Sonne, der Mond, die Planeten und die Sterne kreisen um einen Mittelpunkt, die Erde. Diese Idee wird später von Ptolomäus entwickelt, der im 2. Jahrhundert das All beschreibt, indem er das aristotelische Kosmosmodell verbessert. Die Sonne, der Mond, die Planeten und die Fixsterne kreisen in acht Umlaufbahnen um die Erde. Die Fixsterne bilden die höchste und letzte Sphäre, dann kommen die Umlaufbahnen, ordnungsgemäß Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, und dann, nach der Venus, Merkur und der Mond. Der Mond bildet die erste Sphäre, die am tiefsten gelegene, die der Erde am nächsten ist. Vom Mond abwärts haben wir die sublunare Welt, diese, in der wir leben. In der Welt über der Mondumlaufbahn gibt es keine Einzelbewegungen: die einzige Bewegung ist das Kreisen der eigenen Sphären. Deshalb sind die Sterne zwischen ihnen feststehend. Die Sterne, die Planeten, die Sonne und der Mond bilden eine Welt, die sich zwar bewegt, in ihrer ewigen und unveränderlichen Umlaufbahn, aber dort gibt es weder Erzeugung noch Verwesung, es gibt weder Verwandlungen noch zufällige Bewegungen. Dort gibt es weder Zufall noch Kontingenz. In der Sternenwelt geschieht alles in absolut regelmäßigen Zeitabläufen, der Tag, die Nacht, der Monat, die Jahreszeiten. Diese unveränderliche Welt, in der das einzige Geräusch die Musik der himmlischen Sphären ist, ist fast so statisch wie die Kugel des Parmenides. Auf der sublunaren Welt jedoch sind die Formen mit der Materie verschmolzen. In dieser unserer konkreten Welt werden die Formen, nachdem sie mit der Materie substantiell vermischt werden, räumlich-zeitlich ausgedehnt, dem Generationenverlauf und der Ver73 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Betrachtung der Welt

wesung überlassen. Pflanzen, Tiere und Menschen werden geboren, leben und vergehen. Dieser Raum der Bewegung, voller Zufälle und Kontingenzen – ein Raum, der dem Menschen Wahlfreiheit gestattet –, ist kein totales Chaos, weil er immer wieder von den Formen geordnet wird. Die Formen, Prinzipien der Ordnung und der Bestimmung, sind in sich ewig. Der Mensch ist Mensch, weil er die Form des Mensch-Seins besitzt. Der Hund ist Hund, weil er die Form eines Hundes besitzt, und so ist es mit Katzen, Fischen, Pflanzen und mit allen Dingen. Auf dieser unserer sublunaren Welt ist alles Bleibende, alles Bestehende, alles Stabile so, wie es ist, weil die ewigen Formen allem ihre Stabilität verleihen. Der Rest ist Zufall, erscheint und verschwindet, kommt auf und vergeht. In diesem Geflecht zufälliger Geschehnisse hat sowohl der Einzelne wie die Menschengruppe in der Polis oft mehr als eine Handlungsmöglichkeit. In diesem von der Kontingenz geschaffenen Raum vollzieht sich die freie Wahl, die Entscheidung aus dem freien Willen heraus. Falls der Mensch die korrekte Alternative wählt, ist seine Tat ethisch gut. Falls nicht, ist sie böse. Aber auch auf unserer sublunaren Welt sind Zusammenhänge nötig, und deshalb kann es möglicherweise eine Wissenschaft geben, die diese notwendigen Zusammenhänge kennt. Sowohl die notwendigen Zusammenhänge in den Dingen als auch die theoretische Wissenschaft dieser notwendigen Zusammenhänge basieren auf der Formentheorie und lassen sich von dort aus erklären. Das geozentrische Modell des Aristoteles wurde bis zu Kopernikus im 16. Jahrhundert angenommen und von allen als die Erklärung des kosmischen Alls verwendet. Im Jahr 1514 stellt Kopernikus ein komplexeres, aber viel genaueres Modell vor: die Sonne ist der Mittelpunkt des Systems, um sie herum kreisen die Planeten, darunter auch die Erde. Das Modell des Kopernikus erklärt etwas, das die geozentrische Theorie nicht zu erklären vermochte, nämlich, warum die Planeten manchmal rückwärts kreisen. Die geozentrische Theorie, während sovieler Jahrhunderte verfochten, kollabiert nun und wird aufgegeben, weil sie ein von allen Wissenschaftlern des Sternenhimmels beobachtetes Phänomen nicht erklären kann. Das sonnenzentrierte Modell des Kopernikus, später von Kepler und Galilei ausgearbeitet, ist eine Theorie, die alle Geschehnisse zufriedenstellend erklären kann, auch die scheinbar seltsamen Bewegungen einiger Planeten, und die genaue Voraussagen erlaubt. Erst später, 1687, wird Newton mittels sehr einfacher Prinzipien erklären, wie dieses ganze All funktioniert: durch das Gesetz der Schwerkraft. Auf 74 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die analytische Weltanschauung

die Art geht das analytische Denken, das mit Aristoteles und den griechischen Geometern begonnen hatte, von Newton über Kopernikus, Kepler und Galilei und führt bis in die Neuzeit, zur Physik und zur heutigen Kosmologie, zu Hubble und Einstein. Diese Weltanschauung von Aristoteles ist auch die Weltanschauung der großen Denker des Mittelalters. Nur daß diese, gemäß der biblischen Tradition des Christentums, das All nicht als etwas Ewiges ansehen, wie Aristoteles es tat, sondern als Schöpfung Gottes. Im Anfang ist Gott, der Allmächtige, Anfang und Ende von allem. Gott erschafft die Lebewesen. Die geschaffenen Wesen sind Geschöpfe von Gott. Das ganze All, Erde, Sonne, Mond und Sterne sind Geschöpfe von Gott. Gott erschafft die Himmelskörper – und hier wird das aristotelische Modell übernommen – als etwas Festes, als etwas, das sich in ganz regelmäßigen Umlaufbahnen bewegt. Indem sie dem Schöpfergott seinen Platz zusichern, verfechten die aristotelischen Denker des christlichen Mittelalters fast vollständig das aristotelische Modell. Als Kopernikus und Galilei das sonnenzentrierte Modell vorstellen, stellen sich die katholischen Denker extrem dagegen. Galilei wird von der katholischen Kirche verurteilt, weil er die himmlische Ordnung durcheinandergebracht hat. Aber kaum jemand ist sich bewußt, daß beide Modelle im Grunde dieselbe aristotelische Struktur besitzen, die statische Weltanschauung von Aristoteles und der analytischen Methode. Selbst Newton und sogar Einstein sind immer noch aristotelische Denker, die die analytische Methode verwenden, ohne sich klarzuwerden, daß es noch ein anderes, äußerst wichtiges und fruchtbares Modell gibt, welches enorme Erklärkraft besitzt, und zwar das platonische Modell der Erklärung der Welt. Bis heute denkt ein großer Teil der Philosophen und der Physiker das All weiterhin als eine große Uhr, ganz im Stil von Aristoteles und der Analytik. Diejenigen, die an Gott glauben, behaupten, daß es ganz im Anfang den Großen Baumeister oder den Großen Uhrmacher gegeben hat, der alles bis ins letzte Detail geplant und ausgeführt hat. Die anderen, die ohne Gott, die sogenannten Atheisten, sagen, daß man gar keinen Baumeister braucht, daß alles das Werk einiger großer Gesetze ist – welche noch nicht alle entdeckt worden sind –, die alles bestimmen, alles regieren, alles erklären, bis zum letzten Detail. Man weiß, daß Einstein bis zu seinemTod unermüdlich das gesucht hat, was er die Weltformel nannte. Eine einfache Formel, wie die der Energie, in der und durch die alles, das ganze All, erklärt würde. Es ist nur so, daß die zeitgenössischen Physiker, besonders seit 75 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Betrachtung der Welt

Heisenberg, den Zufall und die Kontingenz ernster nehmen. Einstein dachte in diesem Aspekt weiterhin auf die alte Weise; er meinte, es gäbe keine Zufälle in der Natur. Es gibt, dachte er, keinen Zufall in den Vorgängen der Natur. Es gibt nur die Tatsache, daß wir oft noch nicht die Gesetze kennen, die bestimmte Geschehnisse regeln. Da sprechen wir dann von Zufall. Wir sollten nicht von Zufall sprechen; es gibt in Wirklichkeit keinen Zufall, sondern eher ein Wissensdefizit. Wenn wir tiefergehende Untersuchungen anstellen, werden wir die Gesetze herausfinden, die das scheinbar zufällige Geschehen regeln, und das, was reiner Zufall zu sein schien, wird verschwinden und sich als ein völlig von bestimmten Gesetzen geregelter Ablauf zeigen. Von der schon bekannten Diskussion wurde dies auf eine religiöse Vorstellung übertragen. Man fragte sich, ob Gott mit Würfeln spielt, ob Gott sich des Zufalls als Instrument seines Schöpfungsaktes bedient. Hier ist die Frage keine Glaubenssache, man will nicht herausfinden, ob es Gott gibt oder nicht, sondern ob es in der Natur den Zufall geben kann oder nicht. Einstein dachte, daß es in der Natur keinen Zufall gibt. Einstein dachte, daß Gott nicht mit Würfeln spielt. Ich denke, daß Einstein im Irrtum war, und Heisenberg stattdessen richtig lag. Gott spielt mit Würfeln. In dieser Diskussion des 20. Jahrhunderts handelt es sich nicht mehr um einen Schöpfergott, der mit Würfeln spielt oder auch nicht, sondern um eine Natur, in der es Kontingenz und Zufall gibt oder auch nicht. Eine Natur, die mit Würfeln spielt? Einstein und viele anderen verneinen dies, Heisenberg und viele andere behaupten es. Ich meine, ja, es gibt im Ablauf der Dinge Kontingenz und Zufall. Ich meine, wenn es diese Kontingenz nicht gäbe, hätte man keinen Raum für unabhängige Entschlüsse, für den freien Willen, für die moralische Verantwortung, für Gerechtigkeit, für politische Demokratie, für Geschichtlichkeit. Ich glaube, daß all diese Dinge miteinander verknüpft sind. Wer den Zufall und die Kontingenz im Kern der Logik und der Ontologie nicht erkennt, wird später nicht von Freiheit, freier Wahl, Demokratie und wahrer Geschichtlichkeit reden können. Hier liegt meiner Auffassung nach eines der Zentralprobleme der Philosophie der letzten hundertundfünfzig Jahre. Nach dem Kollaps des Systems von Spinoza und des Deutschen Idealismus, nach dem Kollaps des theoretischen Systems von Hegel und des praktisch-politischen Systems von Karl Marx und Lenin, was bleibt uns denn noch zu tun? Wo lag der Fehler? Nietzsche, Heidegger, der zweite Wittgenstein, Popper werden uns antworten: es hat die Geschicht76 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die analytische Weltanschauung

lichkeit gefehlt, die Kontingenz, der Zufall. Das philosophische System mußte endlich zugeben, daß es innerhalb der Dinge und in den Beziehungen zwischen den Dingen Kontingenz und Zufall gibt. Deshalb hat man in unserem Jahrhundert derart die konkrete Existenz des Einzelnen betont (Kierkegaard, Sartre), die Horizonte der Zeit (Heidegger, Gadamer), die vielgestaltigen Sprachspiele (Wittgenstein, Analytische Philosophie). Diese Betonung ist korrekt. Gott, d. h. die Natur spielt mit Würfeln. Das wußte Platon übrigens schon. Das ist übrigens eines der zentralen Punkte der nicht-aufgeschriebenen Lehre von Platon. Ein wichtiges Element dessen, was wir in unserer Tradition die Erklärung der Welt nennen.

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5 Die Erklärung der Welt

5.1 Erklären ist Entfalten Plica bedeutet auf Latein Falte. Ex-plicare bedeutet entfalten, d. h. die Falten öffnen. Explizieren, d. h. ein Ding erklären, bedeutet, die Entfaltung einer bestimmten Sache diskursiv wiederzugeben, sowohl im Geist wie in der Rede. Das Ding selbst entsteht immer aus einem Prozeß der Entfaltung. Der große und dicht belaubte Baum kommt aus einem kleinen Samen hervor. Viele Tiere kommen aus einem Ei hervor. In diesem Ei befindet sich alles, dort ist bereits in seinem Grundriß genau das programmiert, was dann daraus entstehen soll. Aus dem Inneren dieses Eis entwickelt und ent-faltet sich alles. Gleichsam wie beim japanischen Origami, diesem Falt- und Entfaltspiel, ist in jenem Urei alles sorgfältig zusammengefaltet. Nur daß dann, wenn das Ei sich öffnet, Falten erscheinen, mehr und mehr Falten, und noch mehr davon, bis die jetzige Figur ausgeformt ist. So, genau so – denken die neuplatonischen Philosophen – ist es mit dem All. Alles steckt im Urei des Alls. Alles ist bereits dort drinnen. Von dort heraus entfaltet sich erstmal alles. Falte um Falte, plica um plica. Eine Erklärung der Dinge abzugeben heißt, gedanklich diesen Entfaltungsprozeß nachzuvollziehen. Eine große und endgültige Erklärung erfordert diese Entfaltung bereits vom ersten Anfang an, vom Urei an. Das ist eine explicatio ab ovo, eine Erklärung vom Urei an. Das ist Philosophie. Daß es im All Dinge gibt, welche diese Struktur besitzen, wird heutzutage nicht mehr angezweifelt. Die Biologie der Griechen kannte bereits das Phänomen der Entwicklung von einem Ei aus, die aktuelle Biologie erweiterte und vertiefte dieses Wissen nur. Die aktuellen Biologen stellen sich die Welt der Lebewesen wie einen großen Evolutionsprozeß vor, in dem sich alles von einem ersten Lebewesen aus entwickelt, das extrem einfach in seiner Struktur ist. Es gibt im Anfang so etwas wie ein Ei, eine erste lebendige Zelle. Diese Zelle besitzt ein Zentrum, einen Kern. Dieser Kern, der anfangs einzigartig ist, 78 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Erklären ist Entfalten

entfaltet sich im Lauf der Evolution und verdoppelt sich. Dieselbe Zelle hat jetzt zwei Kerne. Dann entsteht eine Trennwand, die Anfangszelle verdoppelt sich, und jeder Kern verbleibt mit seiner Zelle. Aus der Urzelle haben sich auf die Art zwei Zellen entwickelt. Also haben wir jetzt nicht mehr nur eine, sondern zwei Zellen. Auch diese beiden Zellen entwickeln sich daraufhin durch bipolare Verdoppelung ihrer Kerne, und somit sind es bereits vier. Und so immer weiter, bis die Zellstoffe gebildet wurden. Die aktuellen Biologen zweifeln nicht im Geringsten an diesem ersten Entwicklungsprozeß von einem ersten Lebewesen aus. In der Neuzeit von Lamarck und Darwin wiederentdeckt und neu formuliert, ist die Evolutionstheorie, mittlerweile von allen akzeptiert und verfochten, wissenschaftlich bewiesen. Nur daß die Biologen sich dessen nicht bewußt sind, daß das alles neuplatonische Philosophie ist. Die Neuplatoniker sagten genau dasselbe; sie sprachen jedoch nicht nur von der Evolution der Lebewesen, sondern des ganzen Alls. Die neuplatonischen Philosophen lehrten, daß alles in einem Urei anfängt und von da aus, mittels Entfaltungen, konstruiert wird. Im Anfang gibt es ein erstes Wesen, welches das Einheitliche ist, alles, was existiert. Im Anfang ist alles eins. Dann tritt ein bipolarer Gegensatz auf: innerhalb des Einen, was im Anfang das Ganze ist, erscheinen zwei sich entgegenstellende Pole. Wenn dann ein Pol den andern nicht auflöst, und wenn die Pole sich nicht gegenseitig zerstören, haben wir folgende ontologische Struktur: ein einheitliches Wesen, welches das Ganze ist, innerhalb dessen dann zwei entgegengesetzte Pole erscheinen. Im Eins-Sein erscheint die Vielfalt, d. h. zwei entgegengesetzte Pole. Wenn diese Pole ein eigenes Wesen annehmen, wenn eine Trennwand zwischen ihnen erscheint, dann haben wir zwei Wesen, jedes ein Einzel-Sein. Beide zusammen bilden das Ganze. Wenn jedes von ihnen wiederum in einen Entfaltungsprozeß gerät, haben wir dann vier Wesen. Und so weiter. Der von den Neuplatonikern gedachte ontologische Entfaltungsverlauf ist das Leitbild, von welchem aus die Biologen ihre Theorien entwickeln. Nur daß die Biologen das meistens nicht wissen, sie ahnen nicht, woher sie ihre Theorien haben. Sie waren neuplatonische Philosophen und wußten es nicht. Sie waren glücklich und wußten es nicht. Die Neuplatoniker, die die Erklärung der Welt verfechten, gehen noch weiter. Diese Theorie gilt nicht nur für die Evolution der Lebewesen, sie gilt für das ganze All. Wer das All verstehen und erklären will, muß den Entfaltungsprozeß intellektuell wiedergeben, Falte um Falte, vom 79 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Erklärung der Welt

Urei an. Das ist ex-plicatio. Nur das ist eine wahre Erklärung der Welt.

5.2 Die ungeschriebene Lehre Platons Für das allgemeine Publikum schrieb Platon verständliche, leicht zu lesende Dialoge, von so schönen und reichhaltigen Mythen erleuchtet, daß sie bis heute guter Stoff sind für alle, die Philosophie lernen wollen. Aber diese Dialoge haben kaum je einen klaren Abschluß. Außer in einigen im Alter geschriebenen Dialogen kommt Platon nicht zu eindeutigen und wohl definierten Ergebnissen. Zuerst werden die dafürhaltenden Argumente aufgeführt und diskutiert, dann werden wiederum die Gegenargumente diskutiert und beurteilt. Schon gut, wir wissen, daß es um These und Antithese geht. Es ist eben das Spiel der Gegensätze. Nur daß Platon kaum einmal seine Leser zu jener Synthese führt, in der beide Pole überwunden und aufgehoben sind. In diesen Dialogen findet man nicht die Einigung der entgegengesetzten Pole, die die wahre dialektische Synthese ausmacht. Platon, ein Verfechter der negativen Dialektik? Keinesfalls. Platon dachte, daß die endgültige Synthese, vor allem die Große Synthese, von den Anfängern und Außenstehenden nicht begriffen würde, da diese abseits des lebendigen und persönlichen Dialogs wären, in dem Fragen und Antworten von Angesicht zu Angesicht gestellt werden, mit allen Überraschungen, aber auch mit aller Tiefe, die der lebendige Dialog bietet und erlaubt. Schriftlich, in den für die Anfänger festgehaltenen Dialogen, stellt Platon nur den anfänglichen Moment der Dialektik dar, wenn die entgegengesetzten Pole noch gegeneinander aufgestellt sind. Den Eingeweihten, denen, die beginnen zu verstehen, bietet Platon im lebendigen Dialog die Route mitsamt der Schatzkarte. Die Große Synthese ist die Dialektik. Dialektik bedeutet hier zwei ineinander verkettete Dinge, die aber nicht völlig identisch sind. Dialektik bedeutet vor allem die Methode von These, Antithese und Synthese; es handelt sich um das Spiel der Gegensätze. Dialektik bedeutet zweitens die Auffassung, daß sowohl die Welt der Dinge als auch die Welt der Sprache sich von einem Uranfang aus, Falte um Falte, entwickeln. Einige neuplatonische Denker haben beide bildenden Elemente der Dialektik völlig assimiliert, und zwar sowohl die dreigeteilte 80 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die ungeschriebene Lehre Platons

Methode als auch den Entwicklungsprozeß aller Dinge vom Einen aus Plotin, Proklos, Nikolaus Cusanus und Hegel seien hier erwähnt. Die dreigeteilten Strukturen und der Evolutionsprozeß durchlaufen wie eine Wirbelsäule die philosophischen Systeme der zitierten Autoren. Deshalb nennt sich das Buch von Plotin Enneade. Der Name Enneade bedeutet neun, und neun Teile hat das Buch. Ein neuplatonisches System baut stets auf drei Teile, die der These, Antithese und Synthese entsprechen. Da jedes dieser Teile sich wiederum dreiteilt, haben wir dann neun Teile. Daher Plotins Enneade, ein aus neun Teilen bestehendes Buch. Dies ist die Systemstruktur bei Proklos und Hegel. Bei einigen anderen neuplatonischen Denkern wiederum verschwindet gleichsam die dialektische Methode mit ihrem Dreiklang, sie entfernt sich aus dem bewußt methodischen Denken und hinterläßt auf der ersten Ebene nur den Entwicklungsprozeß aller Dinge von einem einzigen Anfang her. Das ist der Fall bei Spinoza. Wenn man recht genau schaut und die Autoren vorsichtig untersucht, sieht man, daß sie trotz dieser Abwandlung allesamt zutiefst neuplatonisch sind. Genau wie die philosophischen Wurzeln von Lamarck, Erasmus und Charles Darwin, von Herbert Spencer und praktisch allen modernen Biologen neuplatonisch sind. Unter den modernen Biologen muß man z. B. die phantastische Arbeit von Richard Dawkins, Professor in Oxford, hervorheben. Unter den Philosophen vertraten Spinoza, Fichte, Schelling und Hegel in der Neuzeit noch am besten die neuplatonische Tradition. Unter den Dichtern sei Goethe erwähnt. In einem Gedicht von bezaubernder Einfachheit schlägt Goethe vor, daß wir uns Gott nicht als ein außerweltliches Wesen vorstellen sollen, das von außen her die Umlaufbahnen der Dinge manipuliert, sondern als etwas, das im All selbst ist und von innen heraus alles bewegt. Das, genau das ist Dialektik, das ist die Erklärung der Welt. Im Dialog Der Sophist zeigt Platon deutlich, daß er kein Verfechter der negativen Dialektik ist, der Dialektik ohne Synthese. Er fragt in diesem Dialog, welches die obersten Gattungen sind. Natürlich handelt es sich um die entgegengesetzten Pole, um ein Spiel der Gegensätze. Die zwei Gegensatzpaare, die als die obersten und verständlichsten auftauchen, sind Ruhe – Bewegung und dasselbe – das Andere. Besteht das All also aus diesen vier Elementen? Nein, sagt Platon. Das All ist zuerst einmal Sein, Synthese von Ruhe und Bewegung, Synthese auch von Selbigkeit und Andersheit. – Ruhe ist nicht Bewegung. Richtig. Und Bewegung ist nicht Ruhe. Auch richtig. Aber ist Ruhe nicht Sein? Wenn es so wäre, dann gäbe es sie nicht; 81 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Erklärung der Welt

also ist Ruhe Sein. Ist Bewegung etwa nicht Sein? Klar ist sie das. Also verbinden sich Ruhe und Bewegung, obwohl sich gegenseitig ausschließende Pole, These und Antithese, als Sein auf einer höheren und edleren Ebene. Dasselbe geschieht mit Selbigkeit und Andersheit. Beide schließen sich gegenseitig aus, aber beide sind Sein. Sein ist die Synthese der zwei Gegensatzpaare, welche die Konstruktion des Alls beherrschen. Das synthetische Sein ist die Einheit, die alles ist und in welcher die entgegengesetzten Pole sich entfalten. Im Sein stehen sich Ruhe und Bewegung, Selbigkeit und Andersheit gegenüber. Das Sein ist Synthese, es ist die Große Synthese. Und dieses Sein ist nicht nur das einheitliche, das ganze Sein, Hen kai Pan, es ist das Gute. Die ungeschriebene Lehre Platons wurde von seinen Studenten in Form eines Dialogs Über das Gute, Peri tou Agathou, zusammengetragen. Dieser Dialog, von Platon selbst nie niedergeschrieben, wurde von seinen Studenten auf die Schriftrollen gebannt. Es ist in unserem Jahrhundert das Verdienst der Tübinger Schule, und neuerdings fortgeführt von der Mailänder Schule, der esoterischen Lehre diese Bedeutung gegeben zu haben und in ihren Grundzügen den Inhalt dessen, was Platons zentrales Werk darstellt, das zentralste überhaupt, zu rekonstruieren. Denn hier wird verständlich, was die Dialoge andeuten, aber nicht klar aussagen, hiervon wird die ganze neuplatonische Tradition abgeleitet: der triadische Prozeß und die Vorstellung von einer universalen Evolution.

5.3 Die zwei Ersten Prinzipien Platon leitet alles, den ganzen Entfaltungsprozeß des Alls, von zwei Ersten Prinzipien ab, dem Prinzip der Einheit und dem Prinzip der Dualität oder Pluralität. Das Erste Prinzip sagt, daß alles Eins sei, es sagt, daß alles mit der Einheit begonnen habe. Das Sein ist Eins. Das Sein ist das, was es ist, an erster Stelle ist es das Eine. Das Sein ist das Eine; im Anfang gibt es nur das Eine und dieses ist das Ganze, dieses ist Alles. Das Eins-Sein ist das Ganze. Das Eine und das Ganze, hen kai pan. Und woher kommt dann die Vielfalt der Dinge? Leben wir in einer Welt der vielfältigen Dinge? Die Vielfalt beginnt mit der Dualität. Die Zwei ist der Anfang der Vielfalt. Das Eine besitzt von jeher den Samen der Vielfalt in sich: aoristos dyas, die unbestimmte Vielfalt. Das Eins-Sein ist nicht nur das Einheitliche, denn von jeher ist es in sich auch das Andere. Es ist bipolar. Diese Grundverschiedenheit 82 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Mysterium der Dreifaltigkeit

lebt von jeher in ihm. Es gibt einen Pol, das ist er selbst, das Eins-Sein, aber es gibt immer auch den anderen Pol, das Andere-Sein. Das Selbe und das Andere, das erste Gegensatzpaar, ist von Anfang an im Sein. Deshalb gibt es eine Triade. Die These ist das anfängliche Eins-Sein, die Antithese ist das Andere-Sein, welches sich von jeher dem ersten Pol entgegensetzt, die Synthese ist das Sein, das sowohl Eins als auch das Andere ist. Das Ganz-Sein, Synthese, enthält in sich zwei entgegengesetzte Pole. Das Erste Prinzip, das Prinzip der Identität, gibt dem All seine Einheit und ist die Quelle aller Ordnung. Das zweite Prinzip, das Prinzip der Vielfalt, ist die Quelle der Vielfalt, ist das Chaos, woraus die Vielfalt der Dinge entsteht. Später werde ich in dieser Arbeit den zwei Prinzipien Platons ein drittes hinzufügen. Um die Reihenfolge und die Verflochtenheit der Prinzipien besser zu erklären, unterteile ich das Einheitsprinzip Platons in zwei Prinzipien, das Identitätsprinzip, das dem Vielfaltsprinzip vorangeht, und eines, das ihm folgt und die entstandene Vielfalt ordnen wird. Dieses dritte Prinzip werde ich als Kohärenzprinzip bezeichnen.

5.4 Das Mysterium der Dreifaltigkeit Die platonische und neuplatonische Triade der Dialektik vertieft sich in der christlichen Tradition und gibt dem, was die ersten christlichen Denker als das wichtigste und höchste Mysterium der Religion bezeichnen, nämlich der Heiligen Dreifaltigkeit, eine intellektuelle Struktur. Im Anfang ist nur Gott. Es gibt nur einen Gott, aber dieser Gott ist gleichzeitig dreieinig. Er ist einzig und dreieinig zugleich. Gott ist Gottvater, Gott Sohn und Heiliger Geist. Am Anfang der trinitarischen Hervorbringung ist der Gott-Eine. Aus diesem GottEinen kommt der Sohn hervor, gleichsam ein Anderer. Vater und Sohn stehen sich gegenüber wie entgegengesetzte Pole. Der Vater ist nicht der Sohn, und ebenso umgekehrt. Aber wenn Vater und Sohn sich liebend wiedertreffen, kommen beide in Einklang in einer höheren Synthese, die dann Heiliger Geist genannt wird. Dieser ewige Prozeß der Hervorbringung nennt sich Heilige Dreifaltigkeit. Gott, der nur einer ist, entfaltet sich in sich selbst in drei Personen. Der Gott-Eine ist auch der Gott-Dreieine. Dieser Hauptkern der christlichen Lehre ist, wie wir erkennen, ganz klar neuplatonisch. Aber auf dieselbe Art wie die modernen Biologen sind sich die christlichen Denker oft nicht ihrer Wurzeln be83 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Erklärung der Welt

wußt. Bis zum 12. Jahrhundert war das Christentum immer eine reichhaltige und produktive Variante der neuplatonischen Lehre. Erst mit Albertus Magnus und Thomas von Aquin wird das Abendland wieder das aristotelische System und seine statische Auffassung von der Welt lesen und studieren. Vom 12. Jahrhundert an teilen sich die christlichen Denker in Aristoteliker und Neuplatoniker auf, mit zunehmend klarerem Vorteil für erstere. Im 19. Jahrhundert wird der Aristotelismus in seiner thomistischen Version zur offiziellen Philosophie des Katholizismus erhoben, wodurch das neuplatonische Denken fast in Vergessenheit gerät. Als dann im 20. Jahrhundert ein Philosoph und Theologe wie Teilhard de Chardin erscheint und wieder einmal, jetzt in neuer Fassung, die neuplatonische Lehre vorschlägt, ist niemand in der intellektuellen Welt des Katholizismus fähig, richtig zu beurteilen und zu beschreiben, was eigentlich los ist. Man versteht nichts vom dem, was er sagen will, man kann seinen intelellektuellen Ansatz in keinen Zusammenhang bringen, man kann ihn nicht mehr in die alte Tradition einbinden.

5.5 Woher kommt die bestimmte Vielfalt? Die Erklärung der Welt ist in ihren ersten Schritten leicht verständlich. Im Anfang ist das Eins-Sein. Aus diesem erscheint dann das Andere-Sein, welches sich vom Eins-Sein unterscheidet und sich ihm entgegensetzt als ein Anderer. Aber sowohl das Eins-Sein als auch das Andere-Sein sind das Sein. Das Sein ist die höchste Einheit, in der das Eins-Sein und das Andere-Sein in Einklang kommen. Bis hierher ist alles in Ordnung und alles klar. Aber dieses erste Eins-Sein und dieses erste Andere-Sein sind sich gleich. Eines spiegelt das andere wieder. Und beide sind im Einklang im Ganz-Sein, welches das eine wie das andere enthält. Bis hierher geht es um die Bewegung der Hervorbringung, die man früher Dreieinigkeit nannte. Es handelt sich um die dem Uranfang innewohnende Bewegung. Der Uranfang ist dreieinig. Soweit, so gut. Diese erste Unterscheidung zwischen zwei Polen ist eine unbestimmte Dualität, aoristos dyas. Die Pole sind in dieser ersten Entfaltung immer noch genau gleich. Der eine spiegelt den andern wieder, der eine ist nur das Andere seines Gegenübers. Diese Art des Andersseins ist die noch unbestimmte Dualität. Die entgegengesetzten Pole weisen noch keine anderen Eigenschaften auf, d. h. keiner hat eigene 84 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Woher kommt die bestimmte Vielfalt?

Eigenschaften und Bestimmungen. Aber die Dinge auf unserer Welt haben ihnen eigene, voneinander unterschiedliche Bestimmungen. Woher kommt diese bestimmte Vielfalt? Was ist die Wurzel, was das Prinzip der anderen Bestimmungen? Woher kommt die Vielfalt? Wir kommen hier an einen Scheideweg. Hier gliedert sich die neuplatonische Lehre in zwei Richtungen auf. Die erste Richtung behauptet, daß all die Vielfalt, die wir heute erleben, bereits im Urei gänzlich vorprogrammiert ist. Von jeher in ihrer Struktur und bis in ihre kleinsten Details vorprogrammiert, sind alle Formen implizit im Uranfang enthalten, im Urei. So wie der ganze Vogel im Ei vorprogrammiert ist, so sind die Formen des ganzen Alls völlig im ersten Eins-Sein vorprogrammiert. Die Erklärung der Welt entfaltet sich so, wie sie es tut, weil diese ganze Evolution im Urei impliziert ist. Explizieren ist Entfalten. Man entfaltet nur das, was zuvor gefaltet wurde. Implizieren bedeutet, die Falten zu machen und sie ins Urei zu legen, wie bei einem japanischen Origami. Die ganze existierende Vielfalt, die infolge der Evolution entfaltet wird, ist von jeher im Urei impliziert. Explizierbar ist nur das Implizierte. Alles, in allen Einzelheiten. Von dieser Verknüpfung zwischen explicatio und implicatio leiten sich zwei Folgen ab, die von grundlegender Wichtigkeit für die Geschichte der Philosophie geworden sind und, meiner Auffassung nach, diese erste Dimension des Neuplatonismus zu Irrtümern verleitet haben: die Notwendigkeitslehre der Evolution in der Seinslehre und der begriffliche Apriorismus des Systemprojekts. Die Lehre von der Notwendigkeit des Evolutionsprozesses ist ein logisches Ergebnis dieser starren Denkweise; man kann nur das entfalten, was bereits von Anfang an schön eingefaltet im Urei lag. Es kommt hier nicht darauf an, ob es ein Schöpfergott war, der die Implizierung vorgenommen hat, der alles schön gefaltet hineingelegt hat, oder ob die Formen von sich aus bereits von jeher schön gefaltet da drin lagen. In beiden Fällen unterliegt der Entwicklungsprozeß einer strengen Notwendigkeit: man kann nur das entfalten, was bereits vorprogrammiert war. Im Ablauf einer der Notwendigkeitslehre unterworfenen Evolution geschieht nur das, was vorbestimmt ist. Da gibt es weder Chaos noch Zufall. Das beste Beispiel eines solchen neuplatonischen Systems ist Spinoza. Bei Spinoza gibt es einfach keinen Zufall. Alles geschieht notgedrungen als logisches Ergebnis der anfänglichen Vorbestimmung. Solch ein System, das keine Zufälle erlaubt, läßt keinen Raum offen für Alternativen, die auf gleicher Ebene möglich wären. So gibt 85 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Erklärung der Welt

es keine Entscheidungsfreiheit, d. h. keinen freien Willen. Da es keinen freien Willen gibt, gibt es auch keine Verantwortung. Ohne Freiheit und Verantwortung gibt es weder Ethik noch Politik. Noch viel weniger Demokratie. Die zweite, extrem negative Auswirkung davon ist, daß die Denker, die dieses starre Modell von explicatio und implicatio befolgen, die ganze Vielfalt der Dinge dieser Welt von einem logischen Uranfang ableiten wollen. Denn, wenn alle Dinge ontologisch von einem ontologischen Uranfang abgeleitet werden, dann muß logischerweise die Philosophie, a priori, in Form einer strengen Deduktion alle die Erklärung der Welt bildenden Aussagen rekonstruieren. Alles a priori abzuleiten wird dann zum – selbstverständlich irrigen – Zwangsdenken dieser Denker. Unter denen, die eine solche Weltanschauung heutzutage verfechten, befinden sich Dieter Wandschneider und Vittorio Hösle. Die eine Richtung, jene der neuplatonischen Philosophen mit ihrer Notwendigkeitslehre, erklärt die Vielfalt also mittels einer Vorbestimmung, mittels der implicatio. Die zweite Richtung, jene der freiheitlichen Neuplatoniker, der ich mich anschließe, liefert eine andere Erklärung und führt das Chaosprinzip ein, das Prinzip der Differenz, oder, in aktueller Sprache, die Emergenz des Neuen. Das Erste Prinzip, das Identitätsprinzip, sagt nur A. Es wiederholt A, indem es dauernd A, A, A, A usw. sagt. Außerdem sagt es, daß A = A. Aber in all diesem kommen wir nicht von A weg. Es geht darum, zu etwas zu kommen, was nicht A selbst sei. Und nun? Ist das nicht schon erreicht, wenn wir »Nicht-A« sagen? Gut, man kann Nicht-A durch die Voranstellung der Verneinung konstruieren. Aber damit haben wir immer noch nicht die bestimmte Vielfalt. Wie gelangen wir also nicht zu einer unbestimmten Alterität Nicht-A, sondern zu einer bestimmten Alterität wie B, C oder D usw.? Das ist das Problem. Diese Frage kann nicht nur mittels des Identitätsprinzips gelöst werden, denn dieses verbleibt nur bei A, in seinen Wiederholungen und seiner reflexiven Identität. Sie kann ebensowenig nur durch die Voranstellung der Verneinung gelöst werden, denn diese liefert uns keinen Anderen, der in sich bestimmt wäre. Wie also tritt die bestimmte Vielfalt auf? Woher kommt sie? Sie erscheint aus sich heraus, sie formt sich selbst, plötzlich ist sie da und wird sichtbar. Es handelt sich da um die Emergenz des Neuen, wie die Biologen sich heutzutage in der Systemtheorie ausdrücken. Es kommt hervor, erscheint, ohne je vorbestimmt gewesen zu sein. Die bestimmte Alterität, der Andere, entfaltet sich zwar in einer explicatio, aber sie lag noch nicht bereits 86 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Woher kommt die bestimmte Vielfalt?

schön gefaltet darinnen, sie war nicht impliziert. Die neue Falte ist nicht nur die Entfaltung einer bereits gefalteten und hineingelegten Falte, sondern die Faltung einer neuen Falte. Das Eine macht in seinem Evolutionsprozeß Falten, die es vorher nicht gab. Die von den Ersten Prinzipien durchgeführte Vorprogrammierung bestimmt nur die groben Umrisse des Evolutionsprozesses, nicht jedoch seine Einzelheiten. Dies ist das Prinzip der Differenz, dies ist das Chaos, das aus sich heraus die Variationen schafft. Deshalb heißt es Chaos. Weil die auftretenden und sichtbar werdenden Variationen nicht voraussehbar sind, man kann sie nicht von irgendwoher ableiten. Aber führt dies nicht zum totalen Chaos? Zur logischen Anarchie? Zur Zerstörung der Wissenschaft? Nein, tut es nicht. Denn sobald sie erscheinen, diese Variationen, ohne vorprogrammiert worden zu sein, tritt das dritte Prinzip auf, das Kohärenzprinzip. Dieses stellt die Ordnung wieder her. Wenn gegen einen Pol A ein Pol B auftritt, können drei Dinge passieren. Entweder schaltet A B aus. Oder B schaltet A aus. Oder A und B zeigen sich vereinbar und kommen miteinander in Kohärenz. In diesem Fall werden A und B zu konstituierenden Elementen eines größeren Ganzen. Und dann erscheinen C, D, F usw., immer wieder unter der Regie des Kohärenzprinzips, welches die Ordnung in der Evolution des Alls und der Entfaltung der Dinge wiederherstellt. Platon hatte zwei Prinzipien, das Prinzip der Einheit, to on, und das Prinzip der unbestimmten Vielfalt, aoristos dyas. In dieser Auslegung habe ich Platons erstes Prinzip in zwei weitere aufgeteilt, und zwar in das Identitäts- und in das Kohärenzprinzip, um besser erklären zu können, wie das Chaos, welches infolge des Prinzips der Vielfalt erscheint, nicht ein zu chaotisches Chaos ist, sondern ein Chaos, welches von einem Ordnungsprinzip her geordnet wird, vom Kohärenzprinzip. Das Wichtigste in dieser meiner Auslegung ist die Rolle, die dem Chaos zukommt als Herausbilder des Neuen. Das Neue, das Andere-Sein, die bestimmte Andersheit, ist nicht programmiert, ist nicht a priori ableitbar von irgendetwas. Es handelt sich anfangs um ein Chaos, es handelt sich anfangs um ein Prinzip der Differenz, welches ein Prinzip des Chaos ist. Nur daß die Variationen, sobald sie aufgetreten sind, sofort geregelt werden vom Kohärenzprinzip. Diese zweite, freiheitliche Richtung der neuplatonischen Lehre bietet eine Erklärung der Welt, die ein chaotisches Moment enthält. Deshalb enthält sie Kontingenz, Freiheit und Geschichtlichkeit. Es gibt Raum für vielerlei Variationen, es gibt Raum für die Kontingenz der Dinge und für verschiedene Alternativen, es gibt Raum für Frei87 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Erklärung der Welt

heit und Verantwortung. In diesem vorgeschlagenen Modell bleibt das Philosophiesystem offen für diejenige Geschichte, die es erlaubt, dem Ursprung der Dinge nachzugehen, als ginge man rückwärts und sagte, wie und wann diese Variationen geschehen sind. Aber es setzt nicht voraus, daß all diese Variationen vorprogrammiert und deshalb notwendige Momente in der Entfaltung der Natur sind. In diesem Entwurf enthält die Natur Chaos, Zufälle und Variationen, die anders hätten sein können. Der Zufall, obwohl nicht das wichtigste Element, ist unabdingbar für die evolutive Entwicklung des Alls. Die Natur hat also eine Geschichte, die auf eine bestimmte Art verlaufen ist, die aber auch hätte anders verlaufen können. Deshalb heißt sie Naturgeschichte. Die Geschichte, welche die Menschen betrifft, wird zur Geschichte der freien Menschen.

5.6 Die Achillesferse Eine Göttin bot dem Krieger Achilles einen Balsam an, der ihm Schutz geben und ihn unverwundbar gegen die Waffen der Feinde machen würde. Die mit dem wundersamen Balsam eingeriebene Haut würde undurchdringlich. Als Achilles jedoch den Balsam einrieb, hatte er an der Ferse des linken Fußes ein Blatt haften. An jener Stelle, wo das Blatt angehaftet war, konnte der Balsam nicht wirken. Dies ist die Achillesferse, an dieser Stelle war Achilles verwundbar. Und genau an dieser Stelle wurde er verwundet und starb. Die Philosophiesysteme haben auch ihre Achillesferse. Die neuplatonischen Systeme, die Philosophie der Explicatio Mundi, haben als Achillesferse die Frage der Notwendigkeitslehre und den Anspruch, alles a priori ableiten zu wollen. Bereits in der Antike erhoben die christlichen Denker, die griechischen und lateinischen Kirchenväter, Einspruch gegen die neuplatonischen Philosophen, daß ein solches System die Kontingenz der Welt ausschalten würde und damit auch den freien Willen und die moralische Verantwortung. Der Hl. Augustinus, ein Neuplatoniker, verbrachte sein ganzes Leben damit, die Vorherbestimmung mit dem freien Willen in Einklang zu bringen. Er hat es nicht geschafft. Johannes Scotus Eriugena, am Anfang des Mittelalters, versucht es noch einmal. Nikolaus Cusanus, in der Renaissance, versucht es ebenso. Spinoza, begeisterter Denker der Ethik und der Politischen Philosophie, ergibt sich der strengen Notwendigkeitslehre und wird zu ihrem erklärten Verfechter. Nach Spi88 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Achillesferse

noza gibt es einfach keine Kontingenz. Schelling und Hegel, vom Gedanken der Freiheit durchdrungen, versuchen es noch einmal. Hegel will die Kontingenz zurückbringen, und zwar innerhalb der Logik. Er behauptet – und das ist einzigartig in der ganzen Philosophiegeschichte –, daß die absolute Notwendigkeit zugleich die absolute Kontingenz sei. Aber er bekommt diese Idee nicht gut bis zu Ende gedacht und verliert sich, meiner Meinung nach, in Unklarheiten. Bei Hegel weiß man nie, ob die Notwendigkeit wirklich notwendig ist, oder ob sie zufällig ist. Im Grunde, im Grunde, denke ich, zeigt Hegel eine starke Tendenz zur neuplatonischen Notwendigkeitslehre auf. Unter den aktuellen Denkern verfällt Vittorio Hösle der Notwendigkeitslehre, obwohl er ihr widerstehen möchte. Und warum nicht? Nein, warum eigentlich? Indem die Notwendigkeitslehre die Existenz von Kontingenz im Verlauf der Evolution der Welt verneint, schaltet sie die Kontingenz der Dinge aus. Die Dinge sind so und nicht anders, einfach weil sie so sein müssen. Die Welt ist ein von absolut strengen Gesetzen völlig vorbestimmter Prozeß. Wenn wir momentan noch nicht alle Gesetze kennen, dann deshalb, weil es Lücken in unserem subjektiven Wissen gibt. Die von den Physikern gemessene Ungenauigkeit, der von den Biologen erwähnte Zufall, dies alles ist im Grunde nur eine Wissenslücke. In dem Moment, da wir die physischen Gesetze herausfinden, die wir heute noch nicht kennen, werden wir den Ablauf des Alls berechnen können. Zurückrechnen und genau alles beschreiben, was geschehen ist. Und vorausrechnen, um sagen zu können, was alles in der Zukunft geschehen wird. Natürlich erlaubt ein solches System weder die Existenz von Alternativen unter den Dingen noch den freien Willen der Menschen noch Demokratie im Staat. Denn, wenn alles von jeher vorbestimmt ist, bleibt uns nur übrig, uns dem Schicksal und seiner unabänderlichen Macht zu ergeben. – Also sollten wir nicht all diese Dinge, die scheinbar nur Illusionen sind, hinter uns lassen und uns tatsächlich der Schicksalsmacht ausliefern? Das Argument für eine nicht-notwendige Auffassung der Welt besteht letztlich im Prinzip, daß die einfachste Theorie die korrekteste ist. Die neuplatonische Theorie, die wir weiter oben als freiheitlich bezeichnet haben, führt von Anfang an das Prinzip der Differenz, das Chaos, ein. Sie ist konsequent und erklärt alle Dinge, ohne weitere Theorien zu benötigen. Sie erlaubt und erklärt die Kontingenz in den Dingen, in der Philosophie. Sie erlaubt den Gebrauch der Wahrscheinlichkeitsrechnung als die einzige angebrachte Methode, um be89 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Erklärung der Welt

stimmte Bereiche der Natur zu verstehen: in der Physik die Unbestimmtheitsrelation bei Heisenberg, in der Biologie die Relevanz des Zufalls für die Entstehung von Mutationen, der freie Wille und die Verantwortung in Philosophie, Politik und im Rechtswesen. – Im Gegensatz dazu erlaubt die Notwendigkeitskonzeption nicht, irgendetwas davon zu erklären, außer mittels schrecklich komplizierter Hypothesen, die der Haupttheorie angefügt werden müssen. Hinzu kommt die Frage nach der Beweislast. Wer hat denn die Beweislast? Derjenige, der die Kontingenz in bestimmten Dingen akzeptiert? Oder derjenige, der die totale Unabänderlichkeit von allem akzeptiert? Die Beweislast fällt meiner Meinung nach auf denjenigen, der voraussetzt, ohne es beweisen zu können, daß alle Dinge in allen Aspekten unabänderlich sind. Eine solche Aussage als umfassendes Prinzip aufzustellen, ist mehr als gewagt. Man braucht nur ein einziges Beispiel von Kontingenz, um den Irrtum eines solchen Prinzips aufzuzeigen. Und da wird es nötig, immer neue, ergänzende Hypothesen aufzustellen: Es geht hier nicht um etwas wahrhaft Zufälliges, die Bestimmung ist darin verborgen usw. – Deshalb bleibe ich mit der einfacheren Theorie, die besser der Wirklichkeit entspricht, die keiner weiteren Hypothesen bedarf. Ich bevorzuge die neuplatonische Dimension, die ich weiter oben als freiheitlich bezeichnet hatte. Die Welt erklären, ja gerne, aber immer das Zufallselement einberechnend.

5.7 Der Scheideweg Ganz am Anfang der Klassischen Philosophie gibt es einen bedeutsamen Scheideweg. Mit Platon und Aristoteles verzweigt sich die Philosophie in zwei große Richtungen, die Erklärung der Welt und die Untersuchung der Welt, Neuplatonismus und Aristotelismus. Von Platon her kommen Plotin, Proklos, der Hl. Augustinus, Johannes Scotus Eriugena, die Denker des Mittelalters bis ins 12. Jahrhundert, Nikolaus Cusanus, Giordano Bruno, Ficino, Spinoza, Fichte, Schelling, Hegel, Karl Marx. Von Aristoteles her kommen Theophrast, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Wilhelm von Ockham, Descartes, Kant, Frege, Bertrand Russell, Wittgenstein, Apel, Habermas und die ganze aktuelle Analytische Philosophie. Innerhalb des neuplatonischen Denkens gibt es eine zweite große Gabelung. Ist das System der Erklärung der Welt an die Notwen90 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Große Frage

digkeit gebunden, oder enthält es Kontingenz? Plotin und Proklos neigen stark zur Notwendigkeitslehre, Spinoza ist ein ausgesprochener Verfechter der Notwendigkeit. Hegel will die Kontingenz einbeziehen, er will die Kontingenz irgendwie retten und sie zurück ins System eingliedern, aber meiner Meinung nach gelingt ihm das nicht, und er verliert sich, was dieses Problem angeht, in Doppeldeutigkeiten. Karl Marx neigt stark zur Notwendigkeitslehre; deshalb ist der Stalinismus, so wie ich es sehe, nicht nur irgendein Zufall, sondern eine logische Folgerung des Systems. Heutzutage tendieren Wandschneider und Hösle zur Notwendigkeitslehre. Hans Jonas verficht eine Erklärung der Welt mit Kontingenz und Freiheit, wie auch ich sie vorschlage. Diese Erklärung der Welt, mit Zufall und Kontingenz, trifft auf überraschende Art mit der Allgemeinen Evolutionstheorie zusammen, welche von den Biologen Stephen Jay Gould und Richard Dawkins vorgestellt wird.

5.8 Die Große Frage Die Große Frage, die wichtigste Frage in der Modernen Philosophie, wurde gestellt, als der späte Schelling in seinen Münchner Vorlesungen über Gegenwärtige Philosophie das System seines Freundes Hegel anfocht, weil ihm die Kontingenz fehlte. Hegels Irrtum hatte Ursprung und Geschichte, es war derselbe Irrtum von Spinoza, Proklos und Plotin: es fehlt die Kontingenz im System. Seither besteht die Aufgabe genau darin: wie bringt man die Kontingenz zurück in das System der Erklärung der Welt? Das ist die eine der Hauptfragen dieses Werkes. Erinnern wir uns, daß diese Aufgabe bereits der junge Hegel sich gestellt hatte: wie bringt man Kants freies Ich mit der notwendigen Substanz von Spinoza zusammen? Diese Frage bezieht sich, wie man sieht, auf die Gabelung zwischen zwei Richtungen innerhalb des neuplatonischen Denkens. Die zweite Frage bezieht sich auf den Scheideweg zwischen Platonismus und Aristotelismus. Sie hat mit der ersten zu tun, ist mit ihr aber nicht identisch. Wie bringt man das Spiel der Gegensätze mit dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch in Einklang? Wie kann man die Kontradiktion als konstruktives, und nicht als destruktives Instrument anwenden? Ist so etwas möglich? Wie kann man mit These und Antithese jonglieren, ohne Unsinn zu treiben?

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II Was ist Dialektik?

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1 Das logische Quadrat

1.1 Die große Verwirrung Dialektiker und Analytiker sprechen miteinander, aber sie verstehen sich nicht. Sie verstehen sich wirklich nicht. Aristoteles behauptete, indem er Platon kritisierte, daß die Dialektik nicht die Methode der Philosophie wäre, sondern nur eine gedankliche Übung, um den Verstand zu schärfen. Eine Art intellektuelles Aerobic, würden wir heute sagen. Im Mittelalter übernehmen Albertus Magnus und Thomas von Aquin eine ähnlich negative Haltung gegenüber der Dialektik. Aber erst nach Spinoza, Schelling und Hegel werden die Kritiken heftiger. Indem er die bereits von Aristoteles aufgestellte große Frage wieder aufnimmt, fragt Friedrich Adolf Trendelenburg unbarmherzig: verneint die Dialektik den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch? Wie kann man etwas sagen und gleichzeitig widerrufen? Das Gesagte ist die These, das Dagegengesagte die Antithese. Wenn die eine wahr ist, muß die andere falsch sein. Wie kann man behaupten, daß beide wahr seien? Oder eben, daß beide falsch seien? Die alte logische Regel besagt: wenn das eine kontradiktorische Element wahr ist, muß das andere falsch sein, und umgekehrt. Wie also treibt man Dialektik? In unserem Jahrhundert zeigte sich Karl Popper, auf derselben Frage beharrend, nicht weniger hart: wer behauptet, sowohl P als auch N seien wahr, redet Unsinn. Und er sagt weiter: Von dieser Annahme aus kann man dann jedweden Unsinn ableiten. Was heißen soll, daß die ganze Dialektik ein großer Unsinn ist. Angesichts dieser Einwände zeigten sich die Dialektiker des 20. Jahrhunderts vor Perplexität beinahe sprachlos. Dieter Henrich, einer der bedeutendsten Forscher der Dialektik heute, schreibt 1976, daß niemand genau wisse, was Dialektik sei. Dieter Wandschneider wiederholt dies im Jahre 1995. Das heißt nicht, daß niemand daran arbeiten oder über das Thema schreiben würde. Ganz im Gegenteil. Es gibt Hunderte von Schriften, die sich daran machen, den von den Griechen an uns vererbten gordischen Knoten durchzuschlagen. Als 95 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das logische Quadrat

der brasilianische Mathematiker und Philosoph Newton C. da Costa die Parakonsistenten Logiken formalisierte, tat er einen großen Schritt in die richtige Richtung und lehrte uns, daß es verschiedene Formen der Verneinung gibt. Robert Heiß, Arend Kulenkampff, Thomas Kesselring und Dieter Wandschneider versuchten, die Dialektik von der Struktur der logischen und semantischen Antinomien her wiederaufzubauen. Auch hier kam man vorwärts, einige Punkte wurden geklärt, aber meiner Auffassung nach wurde die Verwirrung in anderen Aspekten noch schlimmer. Was ist denn schließlich Dialektik? Negiert man in der Dialektik das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs? Öffnen sich nun die Türen für jedweden Unsinn? Nein, keinesfalls. Im Versuch, die Dialektik zu retten, kann man nicht die Rationalität der Rede verneinen. Aber was ist dann los? Es gibt eine riesige Verwirrung, eine seit Jahrhunderten andauernde Verwirrung. Sie muß endlich geklärt werden mit der Frage: Was ist Dialektik?

1.2 Zwei Sprachen mit unterschiedlichem Satzbau Wenn Menschen miteinander reden und sich, trotz allen guten Willens, nicht verständigen können, sprechen sie unterschiedliche Sprachen. Reden, ohne sich zu verständigen, ist entweder ein Problem absolut bösen Willens, oder es ist eine Frage unterschiedlicher Sprachen. Ein Brasilianer und ein Chinese, obwohl beide guten Willens, verständigen sich nicht, solange sie nicht eine ihnen beiden gemeinsame Sprache finden. Für uns Brasilianer ist das, was der Chinese da sagt, wirklich Chinesisch, d. h. wir verstehen nichts. Wenn wir Brasilianer nichts verstehen, sagen wir: Das ist Chinesisch. Die Chinesen gebrauchen wahrscheinlich einen ähnlichen Ausdruck, wenn sie nicht verstehen, was der andere sagt. Nichtsdestotrotz, wenn es Kommunikationswillen und -bereitschaft gibt, braucht man den Dialog nicht aufzugeben. Man muß eben einen Dolmetscher ausfindig machen oder eine Sprache verwenden, die beide Gesprächspartner verstehen. Dialektiker und Analytiker verstehen sich nicht, weil sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Die von den Analytikern gebrauchte Sprache besteht, wie bereits Aristoteles lehrte, aus wohlgeformten Aussagen. Die Aussage ist syntaktisch wohlgeformt, wenn sie Subjekt und Prädikat enthält: Sokrates ist gerecht. In dieser Aussage ist das Prädikat gerecht dem Subjekt Sokrates zugewiesen. Sokrates ist 96 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Zwei Sprachen mit unterschiedlichem Satzbau

das logische Subjekt, ist gerecht ist das Prädikat. – Ohne das Prädikat zu sagen, sagt man nichts aus. Sokrates, sagt jemand; Sokrates was? fragen wir. Das allein dastehende logische Subjekt Sokrates sagt nichts aus. Damit die Aussage Sinn hat, muß es außer dem logischen Prädikat ein logisches Subjekt geben. Denn ohne das Subjekt weiß man nicht, von wem die Rede ist. Wenn jemand das logische Prädikat ist gerecht sagt, fragen wir sofort: von wem redest du? Subjekt und Prädikat, Argument und Funktion, sagen heute die Mathematiker, sind beide unbedingt notwendig, damit die Aussage Sinn hat. Es gibt Aussagen, in denen das Subjekt unsichtbar ist. Damit eine solche Aussage Sinn hat, muß sich der Hörer bzw. Leser das unsichtbare logische Subjekt selber ausdenken. Meistens wurde das logische Subjekt kurz vorher ausgesagt, wie im Beispiel: Pedro und Ana gingen spazieren. Nach einer Weile setzten (sie) 2 sich. Die Aussage Nach einer Weile setzten (sie) sich – Depois de um tempo sentaram hat Sinn und ist sofort verständlich, weil das Subjekt im vorangehenden Satz erwähnt wurde. So ist es auch in den Fällen, in denen das logische Subjekt nicht ausgesagt wird. Es muß ein logisches Subjekt geben, sonst hat die Aussage keinen Sinn, sie ist unvollständig. – Es gibt einige wenige Ausdrücke im Portugiesischen, die wir heutzutage Aussagen ohne Subjekt nennen. Nach der Logik von Aristoteles kann es dies aber nicht geben. Kann es etwa doch? Das von den Grammatikern angeführte Beispiel hierfür ist: (es) regnet und (es) schneit 3. Wer regnet? Wer schneit? Auf Portugiesisch gibt es tatsächlich kein sichtbares Subjekt. Aber wenn wir ins Englische überwechseln, it rains, oder ins Französische, il pleut, oder ins Deutsche, es regnet, ist das Subjekt immer etwas Männliches oder Neutrales, unbestimmt und in der dritten Person singular. Nun, in diesen Ausdrücken gibt es ein Subjekt und, obwohl unbestimmt, ist es ein großes und neutrales Es, dritte Person singular. Wer ist dieses Es? Die Natur? Wahrscheinlich. Diese Ausnahmen, obwohl selten, zeigen, daß es in der artikulierten Sprache angeblich subjektlose Aussagen gibt. Wenn wir zur Körpersprache überwechseln (body language), wird das, was in der artikulierten Sprache Ausnahme war, zur allgemeinen Regel. In den Körpersprachen gibt es kaum klar ausgedrückte Subjekte. Und jetzt, was tun? Sind wir verloren? Im Portugiesischen wird hier die konjugierte Verbform ohne Personalpronomen verwendet: sentaram. (Anm. d. Übers.) 3 Vgl. Anm. 1. 2

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Das logische Quadrat

In unserer Alltagssprache muß die Aussage immer ein Subjekt und ein Prädikat haben, eines unabhängig und getrennt vom anderen. Dies nennen wir artikulierte Sprache. Aber die erwähnten Beispiele zeigen, daß das Subjekt nicht immer sichtbar ist. Selbst wenn man genau hinsieht, findet man das Subjekt nicht. Oder, dasselbe nochmal trockener gesagt, manchmal gibt es kein Subjekt, die Aussage ist subjektlos. Nachdem dies festgestellt wurde, muß man die Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß es Sprachen gibt, die einen anderen Satzbau haben, einen Satzbau, der anders ist als jener unserer gebräuchlichen artikulierten Sprache. Und nun, wie verständigt man sich? Man muß von einer Sprache in die andere übersetzen. Unterschiedlicher Satzbau: genau das passiert mit der Dialektik. Die Dialektiker verwenden eine Sprache mit eigenem Satzbau. Die Ideen von Platon oder die Begriffe 4 von Hegel bestehen nicht aus Subjekt und Prädikat. Einförmigkeit und Anderssein, Ruhe und Bewegung bei Platon, Sein, Nichts, Werden bei Hegel, was sind sie? Es sind Prädikate, freilich. Aber von wem oder wovon reden Platon und Hegel? Die Ideen widersprechen sich manchmal, manchmal ziehen sie sich an, sie vertragen sich. Aber dennoch, von wem oder wovon redet Platon? Von wem behauptet Hegel, daß er Sein, Nichts und Werden sei? In der Enzyklopädie Wissenschaft der Logik liefert Hegel uns einen Hinweis. Sein, Nichts, Werden usw., d. h. die Kategorien der Logik, sind immer Prädikate. Aber Prädikate wovon? Von wem wird geredet? Hegel antwortet: Falls jemand Schwierigkeiten hat zu denken, ohne daß das Subjekt und das Prädikat der Aussage ausgesprochen sind, denke man als Subjekt der Aussagen Das Absolute. Das ist es, genau das empfiehlt uns Hegel. Er war sich dessen bewußt, daß es für die meisten von uns schwierig wäre, ohne ein ausgesprochenes logisches Subjekt zu denken, und deshalb gibt er uns einen praktischen Rat, wie wir vorgehen sollen, um die Sprache der Dialektik zu verstehen. Er heißt uns, das Absolute zu denken als ein logisches Subjekt, worüber alles gesagt wird. Sein, Nichts, Werden, Da-Sein, Dasselbe, das Andere usw. sind Kategoriebestimmungen, die dem Absoluten zugesprochen werden. Um die Aussagen zu vervollständigen, die in der Dialektik von Hegel ohne logisches Subjekt sind, muß man denken, sagen und schreiben:

4

Im Original Deutsch, Anm. d. Übers.

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Zwei Sprachen mit unterschiedlichem Satzbau

These: Das Absolute ist Sein Antithese: Das Absolute ist Nichts Synthese: Das Absolute ist Werden Und so weiter mit allen Kategorien der Logik und mit den Figurationen in seiner Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Aber wovon redet Hegel? Was ist dieses Absolute? Das Absolute ist Gott, bevor er die Welt schuf, antwortet Hegel. Aber Gott dahin zu plazieren, ganz an den Anfang des Systems, ist das nicht eine unangemessene Vorannahme? Kommt Gott dabei nicht wie aus der Pistole geschossen? Zu plötzlich, zu schnell? Wie aus der Pistole, das sind Hegels Worte. Er weiß sehr gut, daß man Gott nicht so ohne weiteres an den Anfang des Systems plazieren kann, ohne kritische Vorsorge, ohne Vorbereitung, ohne Beweis. Aber warum tut er es? Weil es sich hier, ganz am Anfang, nicht um Gott selbst handelt; dieser wird erst am Ende der Logik erscheinen als die letzte Kategorie, die Absolute Idee und – am Ende des Systems – als das Absolute Wissen. Aber was für ein Gott ist das, der bereits am Anfang als logisches Subjekt aller Aussagen erscheint? Dieses anfängliche Absolute wird Schritt für Schritt sorgfältig erklärt, im Kapitel ohne Numerierung, das die Wissenschaft der Logik eröffnet und den bezeichnenden Titel Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden? trägt. Der Anfang einer Philosophie, die sich kritisch geben will, kann keine unangemessenen Annahmen enthalten. Das kritische Denken muß all seine Annahmen aufzeigen und rechtfertigen. Deshalb beginnt Descartes mit dem allgemeinen Zweifel, indem er jedwede Aussage oder jedwedes Prinzip in Frage stellt. Aber die Tatsache, daß man alles in Frage stellt, der Zweifel an sich, nun, dieser ist unzweifelhaft. Je mehr man zweifelt, umso stärker und bewußter wird dieses Zweifeln. Dies ist der kritische Anfang, der von niemandem verneint werden kann, dies, sagt Descartes, ist der Uranfang, von welchem aus die ganze Philosophie ihre methodische Rechtfertigung erhalten wird. Descartes beginnt seine Philosophie von dem umfassenden Zweifel aus, ein Zweifel, der sich selbst nicht anzweifeln kann und der uns zwingt, zuzugeben: wir zweifeln, wir denken nach, also existieren wir. Dies ist das Cogito, ergo sum von Descartes. Kant, ebenso ein kritischer Philosoph, geht aus von einigen wenigen synthetischen Urteilen a priori, die wahr sind. Dies ist der Anfang, den niemand anzweifeln kann. Von hier aus fragt Kant nach den notwendigen Bedingungen für diese Voraussetzung. Die Kartierung dieser notwendigen Bedingun99 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das logische Quadrat

gen a priori ist das, was Kant als transzendental bezeichnet; hier gründet die Gewissheit. Das ist die Struktur von Kants drei Kritiken. Hegel weiß also aus der Tradition, daß man in der kritischen Philosophie nichts ohne die angemessene Rechtfertigung voraussetzen darf. Und er setzt nichts Bestimmtes voraus; er setzt keine bestimmte Aussage oder Prinzip voraus.Wenn er das System beginnt, setzt er nichts voraus. Aber, indem er nichts Bestimmtes voraussetzt, setzt er auf unbestimmte Art alle Dinge voraus; er setzt alles auf unbestimmte Art voraus. Dies Alles, dies Alle Dinge, dargestellt als die große unbestimmte Voraussetzung, ist das logische Subjekt der dialektischen Aussage. Anstelle des »Absoluten« können wir setzen Alles ist Sein, Alles ist Nichts, Alles ist Werden. Oder: Alle Dinge sind Sein, Alle Dinge sind Nichts, Alle Dinge sind Werden. Das Absolute, Gott, Alles, Alle Dinge sind die Begriffe, die wir gebrauchen, um jenes »Große Unbestimmte« zu bezeichnen. Sie sind jener Korb, in den wir alle Dinge, alle Worte, alle Aussagen, alles Bestimmte hineinlegen. Den Anfang macht man, indem man geistig eine große Trennlinie zeichnet und links von ihr alle bestimmten Dinge einträgt. Rechts von der Trennlinie gibt es anfangs nichts. Der Raum ist leer. Dahin kommen alle Dinge, die während der Konstruktion des philosophischen Systems in die linke Seite eingetragen wurden. Philosophie zu betreiben heißt, rechts einzutragen, was links vorausgesetzt wurde. Nur daß man bei dieser Neueintragung der vorausgesetzten Dinge jedes Teil dieses Puzzles einzeln untersuchen muß, um zu rechtfertigen, warum es hierher und nicht woanders hin soll. Also gut, neu eintragen, in der richtigen Ordnung. Was ist denn die richtige Ordnung? Diejenige Ordnung, die jedem Teil, welches wir rechts neu eintragen, inneliegt, die Ordnung der Dinge selbst, die vom Kohärenzprinzip erforderte Ordnung. Wenn wir dieser Kohärenzordnung nicht gehorchen, was passiert dann? Da die Gegensätze unvereinbar sind, schaltet der eine den anderen aus. Die Teile müssen sich einfügen, d. h. sie müssen unmittelbar und mittelbar mit ihrem Umfeld zusammenhängen, ja im Grunde mit dem ganzen Bild. So entsteht rechts von der geistigen Trennlinie das Große Mosaik vom Sinn der Welt. Was ist nun eigentlich das logische Subjekt der dialektischen Aussage, das implizite, aber nie ausgeprochene Subjekt? Es ist immer das Absolute, Gott, Alles, Alle Dinge, jene Ganzheit, die links als real vorausgesetzt wird, damit man sie als philosophisches System rechts neu eintragen kann. 100 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die vier Ecken

Aber da dies alles nur impliziert oder in Kleinstbuchstaben im Anhang zu lesen ist, reden und reden die Dialektiker, ohne jemals klar auszusprechen, wovon sie eigentlich reden. Und da verstehen die Analytiker nichts mehr. Die eine Sprache gebraucht stets das verborgene Subjekt, die andere fordert, das Subjekt solle ausgesprochen werden. Von daher die große Verwirrung. Diese Verwirrung wird noch spezieller und dichter, wenn es sich um Gegensätze und Widersprüche handelt. Gegensätze und Kontradiktionen sind ganz unterschiedliche Dinge und gehorchen ganz anderen Regeln. Aristoteles und die Analytiker wissen das sehr gut. Aber die Dialektiker, die kein ausgesprochenes Subjekt in der Aussage haben, veranstalten ein großes Durcheinander. Sie sprechen von Kontradiktion, wollen aber vom konträren Gegensatz sprechen. Sie sprechen von kontradiktorischen Positionen, meinen aber konträre. Reden die Dialektiker Unsinn? Ja und nein. Die Früheren, wie z. B. Platon, machten keinen Unsinn, denn nur seit Aristoteles begann man, zwischen kontradiktorischen und konträren Gegensätzen zu unterscheiden. Aber die späteren Dialektiker hätten merken müssen, daß sie diese Begriffe in einem anderen als dem von Aristoteles definierten Sinn verwendeten. Die Dialektiker hätten merken müssen, daß sie dieselben Begriffe wie die Analytiker verwendeten – und dies immer noch tun –, aber in einem anderen Sinn. Daher die Verwirrung. Deshalb müssen wir uns jetzt mit dem logischen Quadrat beschäftigen und genau klären, worin das dialektische Spiel der Gegensätze besteht, und mit dem Finger auf den genauen Ort zeigen, wo dieses stattfindet. Wer das nicht tut, ist dazu verurteilt, Unsinn zu sagen.

1.3 Die vier Ecken Die von Aristoteles entdeckten und formulierten Gesetze der Schlußfolgerung wurden im logischen Quadrat versinnbildlicht. Hier wird der Unterschied zwischen konträren und kontradiktorischen Gegensätzen erklärt. Da die Dialektiker nicht dieselbe Begrifflichkeit wie die Analytiker haben, weil sie die von Aristoteles gemachten Unterschiede nicht recht verstehen oder erst gar nicht ernst nehmen, beginnt genau hier die große Verwirrung zwischen Dialektikern und Analytikern.

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Das logische Quadrat

Das logische Quadrat hat vier jeweils von einem Buchstaben gekennzeichnete Ecken, und zwar A, E, I und O. A und E stehen oben und stehen für universelle Aussagen. A ist eine universell bejahende Aussage, E ist eine universell verneinende Aussage. I und O stehen unten und stellen partikulare Aussagen dar, wobei I partikular bejahend und O partikular verneinend ist. A, E, I und O sind die Vokale von affirmo (lat. ich bejahe) und nego (lat. ich verneine). Das logische Subjekt wird hier später von den Begriffen Alle, Keiner und Einige bestimmt. Diese späteren Bestimmungen des logischen Subjekts nennen sich Quantifikator, denn es geschieht da eine Quantifizierung des Subjekts. In der Aussage Alle Menschen sind sterblich wird das logische Subjekt die Menschen im Nachhinein vom universellen Quantifikator Alle bestimmt. Einige ist der partikular bejahende Quantifikator, Einige nicht ist der partikular verneinende Quantifikator, und Keiner ist der universell verneinende Quantifikator. Eine Aussage ist vom Typ A, wenn sie positiv ist und einen universellen Quantifikator besitzt: Alle Menschen sind sterblich. Eine Aussage ist vom Typ I, wenn sie positiv ist und einen partikularen Quantifikator hat: Einige Menschen sind Brasilianer. Eine Aussage ist vom Typ E, wenn sie negativ ist und einen universellen Quantifikator hat: Kein Mensch ist unsterblich. Eine Aussage ist O, wenn sie negativ ist und einen partikularen Quantifikator besitzt: Einige Menschen sind nicht ehrlich. Diese Aussagen bilden, wie wir wissen, die vier Ecken des logischen Quadrats. Machen wir einmal die Konstruktion der vier Aussagen im selben Beispiel, mit demselben Subjekt und demselben Prädikat. Nehmen wir als Beispiel die Aussage vom Typ A Alle Menschen sind sterblich. Von da aus können wir die anderen drei Aussagen, entsprechend den drei weiteren Ecken des Quadrats, bilden, da wir ja bereits 102 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die vier Ecken

Subjekt und Prädikat haben. Die Aussage E ist dann universell und verneinend: Kein Mensch ist sterblich. Die Aussage I ist partikular bejahend: Einige Menschen sind sterblich. Die Aussage O ist partikular verneinend: Einige Menschen sind nicht sterblich. Die logischen Regeln, die den Übergang von einer Ecke zur anderen erlauben – und in einigen Fällen erlauben sie das nicht –, nennen sich Gesetze der Schlußfolgerung. So ist beispielsweise, wenn Aussage A wahr ist, die entsprechende Aussage O immer falsch. Das ist wichtig. Es gibt, in einigen Fällen, logisch gültige Einwürfe; das sind die Gesetze der Schlußfolgerung. Aber diese Gesetze sind anders, je nach dem durchlaufenen Weg im logischen Quadrat. Es ist keine Regel, die man immer anwenden könnte. Und hier muß man dann mit Aristoteles die verschiedenen Wege innerhalb des logischen Quadrats unterscheiden oder, fachlicher ausgedrückt, die verschiedenen Gegensatzformen. Jeder der vier Buchstaben steht im Gegensatz zu allen andern. Aber jede Gegensatzform hat einen besonderen Namen und gehorcht eigenen Regeln. Der Gegensatz zwischen A und O sowie der Gegensatz zwischen I und E nennen sich kontradiktorische Gegensätze. Die Regel von den Kontradiktionen besagt: Wenn der eine Satz des kontradiktorischen Gegensatzpaares wahr ist, dann ist der andere falsch. Und umgekehrt, wenn der eine falsch ist, so ist der andere wahr. – Bei unserem Beispiel ist die Aussage A wahr: Alle Menschen sind sterblich, also ist nach der Regel von den Kontradiktionen die Aussage O falsch: Einige Menschen sind nicht sterblich. Und so ist es. Machen wir ein umgekehrtes Beispiel. Nehmen wir die Aussage O als wahr, Einige Gauchos sind nicht Brasilianer – es gibt Gauchos in Argentinien und Uruguay –, dann schließt man daraus den Fehler der Aussage A Alle Gauchos sind Brasilianer. Die Regel ist eindeutig und funktioniert in den vier möglichen Richtungen: Von der Wahrheit der einen Aussage leitet man den Fehler der anderen, kontradiktorischen Aussage ab und umgekehrt. Die Kontradiktionen werden folgendermaßen ausgedrückt:

103 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das logische Quadrat

Der konträre Gegensatz ist derjenige zwischen den Aussagen vom Typ A und vom Typ E, d. h. zwischen universell positiven und universell negativen Aussagen. Diese bilden einen konträren Gegensatz. Die Regel von der Schlußfolgerung über die konträren Aussagen ist anders als die Regel von den Kontradiktionen. Die Regel hier ist nicht mehr so einfach, sie funktioniert nicht in den vier Richtungen, sondern nur in zwei. Die Regel lautet: wenn die eine Aussage des konträren Gegensatzpaares wahr ist, dann ist die andere immer falsch. D. h. wenn man bei der einen Aussage beginnt, von der man weiß, daß sie wahr ist, dann kann man die Falschheit der konträren Gegenaussage ableiten. Aber das klappt nicht umgekehrt: wenn man weiß, daß die eine Aussage des konträren Gegensatzpaares falsch ist, kann man daraus nichts über die konträre Gegenaussage schließen. Diese kann sowohl falsch als auch wahr sein; beide Hypothesen sind möglich. Beispiel: es ist wahr: Alle Menschen sind sterblich, also ist falsch: Kein Mensch ist sterblich. Von der Wahrheit von A leitet man korrekt die Falschheit von E ab. Es gilt auch umgekehrt, von der Wahrheit von E kann man die Unwahrheit von A ableiten. Aber man kann keine Rückschlüsse ziehen, wenn man von der Unwahrheit von A oder E aus beginnt. Wenn A falsch ist, kann nichts über E gesagt werden. Die Aussage E kann in dem Fall sowohl wahr als auch falsch sein. Die Konträren werden folgendermaßen ausgedrückt:

104 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die vier Ecken

Es kann also passieren, daß sowohl A als auch E falsche Aussagen sind. Kein Problem. Die Unwahrheit beider Aussagen ist sehr gut möglich, da es sich um konträre Gegensätze handelt. Wenn es allerdings um kontradiktorische Gegensätze geht, ist das unmöglich. Genau hier ist die Stelle, an der sich Dialektiker und Analytiker im Durcheinander verlieren. Da die Dialektiker kein ausdrückliches Subjekt verwenden, und auf die Art ebensowenig einen ausdrücklichen Quantifikator, wissen sie nie genau, ob sie von konträren oder von kontradiktorischen Aussagen reden. Die These ist falsch, die Antithese ebenso, kommen wir zur Synthese, sagen sie. Verhalten sich These und Antithese konträr oder kontradiktorisch zueiander? Die Dialektiker, mit ihrem verborgenen Subjekt und Quantifikator, können es nicht sagen und bringen alles durcheinander. Sie reden oft von kontradiktorischen Aussagen und von der Kontradiktion zwischen These und Antithese, aber sie meinen eigentlich die konträre. Denn, wenn These und Antithese Kontradiktionen wären, müßte die eine ja wahr und die andere falsch sein. Und somit könnte es nie vorkommen, daß beide, These und Antithese, falsch wären, wie es in der Dialektik des Spiels der Gegensätze behauptet wird. Aber wenn These und Antithese konträr zueinander stehen, im technischen Gebrauch des Begriffs, dann ist alles in Ordnung, dann ist es sehr gut möglich, daß beide falsch sind. Hier ist es, genau hier und nur hier, daß man Dialektik betreibt. Der genaue und einzige Ort, mit dem Finger aufgezeigt wie versprochen, ist dieser: das Spiel der Gegensätze geschieht immer zwischen konträren Aussagen, welche beide falsch sind, zwischen A und E. Hier ist es, genau hier, wo der Hund begraben liegt. Wenn man nicht versteht, daß es immer um konträre Positionen geht und niemals um Kontradiktionen, wird die Dialektik zum baren Unsinn. Eigentlich ist alles gesagt worden, was wirklich wichtig ist, um 105 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das logische Quadrat

die bestehende Verwirrung zwischen Dialektikern und Analytikern zu beheben. Aber wo wir schon beim logischen Quadrat sind, wollen wir noch kurz die beiden restlichen Gegensatzformen erwähnen, den subkonträren Gegensatz und den Gegensatz der Subalternation. Der subkonträre Gegensatz ist derjenige zwischen den Aussagen I und O, die eine positiv, die andere negativ, aber beide partikular: Einige Gauchos sind Brasilianer und Einige Gauchos sind nicht Brasilianer. Die Regel des subkonträren Gegensatzes besagt: wenn man weiß, daß die eine Aussage des Gegensatzpaares falsch ist, dann folgert man daraus, daß die andere wahr ist. Aber umgekehrt funktioniert das nicht. Von der Wahrheit der einen subkonträren Aussage aus kann nichts über die andere abgeleitet werden. Im gegebenen Beispiel ist es wahr: Einige Gauchos sind Brasilianer, und deshalb kann nichts über die Wahrheit oder Unwahrheit von O abgeleitet werden. O kann sowohl wahr als auch falsch sein. In diesem Beispiel ist die Aussage O zufälligerweise auch wahr, denn es gibt Gauchos in Uruguay und in Argentinien. Aber das ist eben nur zufällig, und nicht logisch.

Der Subalternationsgegensatz ist der zwischen A und I einerseits und der zwischen E und O andererseits. Die Regel besagt: aus der Wahrheit von A und E kann man die Wahrheit von I und O entsprechend ableiten. Aber von der Falschheit der Aussagen A und E kann man nichts über I und O ableiten. Ausgehend von der Falschheit von I und O kann man die Falschheit von A und E ableiten. Aber aus der Wahrheit von I und O leitet man nichts über A und E ab. Dies basiert auf dem allgemeinen Prinzip der Inklusion. Die Mengen I und O sind notwendigerweise in A und E einbegriffen. Die subalternen Aussagen gehorchen folgenden Regeln der Schlußfolgerung: 106 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das analytische Konstrukt von konträren und kontradiktorischen Gegensätzen

1.4 Das analytische Konstrukt von konträren und kontradiktorischen Gegensätzen Wenn man die analytische Sprache spricht, ist es einfach, zwischen konträren und kontradiktorischen Gegensätzen zu unterscheiden. Um die Kontradiktion einer umfassenden positiven Aussage zu bilden, d. h. um die entsprechende Aussage O zu formulieren, muß man zwei Schritte unternehmen. Erstens, eine Verneinung hinzufügen, und dann den Quantifikator verändern. Auf diese Weise, von der Aussage Alle Menschen sind sterblich ausgehend, bildet man die kontradiktorische Aussage, welche negativ und partikular ist: Einige Menschen sind nicht sterblich. Aber um die konträre Aussage zu formulieren, muß man nur einen Schritt unternehmen: eine Verneinung hinzufügen. Denn der Quantifikator ist derselbe. Alle Menschen sind sterblich ist die Aussage A, Kein Mensch ist sterblich ist die Aussage E. Man sieht sofort, daß der analytische Philosoph, der gelernt hat und genau weiß, was konträr und was kontradiktorisch ist, sich nicht verirrt. Man braucht nur die Aussagen zu untersuchen, um festzustellen, ob außer der Verneinung auch der Quantifikator verändert wurde. Falls der Quantifikator nicht verändert wurde, falls er weiterhin in beiden Aussagen universell ist, handelt es sich um einen konträren Gegensatz. Falls er verändert wurde, wenn er jetzt partikular ist, handelt es sich um einen kontradiktorischen Gegensatz. Einfach und genau. 107 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das logische Quadrat

Nur daß die Dialektiker normalerweise nicht das ausgesprochene Subjekt gebrauchen. Das logische Subjekt im von der Dialektik gebrauchten Satzbau ist fast immer verborgen. Und deshalb bleibt der Quantifikator auch verborgen. Deshalb sind sich die Dialektiker nie ganz sicher, wenn sie von zwei entgegengesetzten Polen sprechen, ob diese nun konträr sind oder kontradiktorisch. Überhaupt ist die Begrifflichkeit der Dialektiker hier anders als die Begrifflichkeit der Analytiker. Erstere reden von Kontradiktion und meinen das, was letztere als konträren Gegensatz bezeichnen. Die Dialektiker reden von kontradiktorischen Aussagen, meinen jedoch konträre. Daher kommt die Verwirrung zwischen Analytikern und Dialektikern. Sie verwenden Sprachen mit unterschiedlichen syntaktischen Strukturen und gebrauchen zudem andere Begrifflichkeiten. Natürlich meinen die Dialektiker nicht Kontradiktion, sondern konträre Entgegengesetzheit. Natürlich ist das Spiel der Gegensätze das Spiel konträrer, nicht kontradiktorischer Aussagen. Dialektiker sind keine Idioten. Platon, Cusanus und Hegel sind nicht so dumm, daß sie etwas aussagen und dasselbe gleichzeitig und unter denselben Umständen bestreiten. Sie verneinen nicht das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs; niemand kann es verneinen, ohne die Rationalität der Argumentation aufzugeben. Wenn die Dialektiker vom Spiel der Gegensätze reden und sagen, daß sowohl These als auch Antithese falsch sind und daß wir deshalb zur Synthese kommen, handelt es sich immer um konträre Pole, nicht um Kontradiktionen. Wenn es um kontradiktorische Pole ginge, wobei die These falsch wäre, dann wäre die Antithese wahr. Oder umgekehrt. Wenn der eine Gegensatzpol falsch ist, muß der andere immer wahr sein. Das sagt die Dialektik aber nicht. Die Dialektik sagt, daß beide entgegengesetzen Aussagen falsch sind, sowohl These wie Antithese. Man braucht nur das logische Quadrat zu untersuchen, und schon merkt man, daß der einzige Raum, wo diese Art negativen Gegensatzes, d. h. der Gegensatz zwischen falscher These und ebenso falscher Antithese, vorkommen kann, jener ist vom Gegensatz zwischen konträren Aussagen. Dieser – und nur dieser – ist der Raum, in dem man Dialektik treibt. Wer dieses nicht merkt, ist verloren und wird auf die Nase fallen. Und die Sklavin Thrakia wird in Gelächter ausbrechen.

108 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das dialektische Konstrukt der konträren Gegensätze

1.5 Das dialektische Konstrukt der konträren Gegensätze Die Dialektiker arbeiten stets mit konträren Gegensätzen, Kontradiktionen erwähnen sie nicht einmal. Deshalb fragen sie auch gar nicht, wie man einen kontradiktorischen Gegensatz konstruiert. Das ist eine Erfindung von Aristoteles und Sache der Analytiker. Der analytische Philosoph formuliert mit erstaunlicher Leichtigkeit gegensätzliche Aussagen, sowohl kontradiktorische als auch konträre. Hier aber interessiert uns, wie man konträre Aussagen konstruiert. Um die entsprechende konträre Aussage zu formulieren, genügt es, von irgendeiner Aussage vom Typ A ausgehend, die Verneinung einzufügen, ohne den Quantifikator zu verändern. Die Aussage ist weiterhin umfassend, wird jetzt aber negativ. Wie man sieht, kann das durch logisch-formale Manipulation geschehen. Man braucht nur die Verneinung voranzusetzen. Die Dialektiker allerdings tun sich schwer mit der Formulierung des entgegengesetzten Pols, denn sie verfügen bei dem von ihnen gebrauchten Satzbau weder über ein explizites Subjekt noch über einen solchen Quantifikator. Den Analytikern reicht das Kommando: die Verneinung davorsetzen, ohne den Quantifikator zu verändern. Für die Dialektiker ist die Konstruktion des Gegenteils viel komplizierter und kann, auf die Art, zu Mißverständnissen führen. Um diese heikle und sehr wichtige Frage zu erörtern, nehmen wir als Beispiel den konträren Gegensatz, der das Hauptthema des ersten Kapitels der Phänomenologie des Geistes bildet, den Gegensatz zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Objektivität und Subjektivität. Die anfängliche These sagt, die Wahrheit der sinnlichen Gewißheit liegt im Objekt. Diese anfängliche These wird, wie immer in der Dialektik der Gegensätze, als falsch erwiesen. Hegel beweist dies, indem er zeigt, daß ohne das Subjekt, d. h. ohne das Ich, welches fühlt und wahrnimmt, die Aussagen ihre Wahrheit einbüßen. Man schaut, beobachtet und schreibt an die Tafel Jetzt ist es Tag. Bei diesem Satz an der Tafel handelt es sich um eine objektive Aussage; als sie niedergeschrieben wurde, wurde sie völlig objektiviert. Aber eine solche objektive Aussage, gerade weil sie nur objektiv ist, büßt gar zu bald ihre Wahrheit ein. Es vergehen einige Stunden und schon ist es nicht mehr Tag, sondern Nacht. Hegel macht hier so etwas wie ein sachliches Experiment. Gleichsam wie ein Chemiker in seinem Labor handhabt der Dialektiker die Ideen und die Worte. Und er stellt fest, daß die Aussage, von ihrem rein objektiven Charakter aus betrachtet, nicht wahr ist, sondern falsch. So wird die Falschheit dieser These 109 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das logische Quadrat

erwiesen, und der Dialektiker fliegt explosionsartig aus ihr hinaus. In der Falschheit kann man nicht leben. Wohin geht man also? Zur Antithese, natürlich. Und, nachdem die Falschheit der Antithese nachgewiesen wurde, kommt man zur Synthese. Hier interessiert uns eine spezifische Frage: welches ist der antithetische Pol zur Objektivität? Die Subjektivität, logisch. Die Wahrheit der sinnlichen Gewißheit liegt im Subjekt ist die entsprechende Antithese zur These Die Wahrheit der sinnlichen Gewißheit liegt im Objekt. Nun ja, gut, das ist klar, aber eigentlich doch nicht so eindeutig. Über diese Klarheit muß man jetzt einmal nachdenken. Ist das Gegenteil von Objekt denn Subjekt? Ist das Gegenteil von Objektivität die Subjektivität? Sicher, das ist richtig so. Aber es ist nicht so einfach, wie wir es im instinktiven Denken abwickeln. Nehmen wir den Begriff Objekt und setzen wir ihm die Verneinung voran; daraus entsteht der Begriff des Nicht-Objekts. Ist das Nicht-Objekt dasselbe wie das Subjekt? Sicherlich nicht. Das Nicht-Objekt, die völlige Verneinung des Objekts, enthält alle existierenden und möglichen Dinge, soweit sie nicht Objekt sind. Der Begriff von Nicht-Objekt, zusammengenommen mit dem Begriff von Objekt, umfaßt die Ganzheit der existierenden und möglichen Dinge. Die Menge der zwei Begriffe Objekt und Nicht-Objekt ist somit die Ganzheit des Alls. Unter den Begriff von Nicht-Objekt fallen ebenso, neben so vielen anderen Dingen, die Konzepte von Subjekt, Subjektivität, Intersubjektivität. Der Begriff von Subjekt ist zwar im Begriff von Nicht-Objekt enthalten, stellt aber nur einen kleinen Teil von ihm dar. Der Begriff von Nicht-Objekt ist viel umfassender als der Begriff von Subjekt. Subjekt ist eine ganz spezifische Form von Gegensatz zum Objekt. NichtObjekt ist ein allgemeiner Gegensatz zum Begriff von Objekt. Ein etwas konkreteres Beispiel dürfte das Verständnis dieses für mich sehr wichtigen Aspektes erleichtern. Nehmen wir als thetischen Begriff weiß und fragen wir: was ist das Gegenteil von weiß? Sofort kommt die Antwort: schwarz. In Brasilien, in der Kultur, in der wir leben, ist das Gegenteil von weiß tatsächlich schwarz. In Brasilien, das ein Land von Sklavenhaltern und Sklaven war, wo der Handel mit schwarzen Sklaven aus Afrika üblich war, ist das Gegenteil von weiß tatsächlich schwarz. Aber was ist das Gegenteil von weiß in Tokio oder Shanghai? Ich weiß es nicht, denke aber, daß es gelb sein könnte. Was ist der springende Punkt? Weiß und schwarz sind entgegengesetzte Pole auf konträre Art, sicher, aber sie setzen voraus und erlauben andere Gestaltungen der Entgegengesetztheit. Das Weiß läßt 110 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das dialektische Konstrukt der konträren Gegensätze

außer dem Schwarz noch andere konträre Begriffe zu. Wenn wir weiß und schwarz summieren, haben wir nicht die Ganzheit der existenten und möglichen Dinge, sondern nur zwei entgegengesetzte Pole, die nicht die Existenz eines tertium quid ausschließen. Es kann andere konträre Begriffspaare geben, wie weiß und gelb. Hier erwächst der Gegensatz konträrer Begriffe aus Sprache und Geschichte, beide konkret und kontingent. In der dialektischen Philosophie ist der Gegensatz zwischen konträren Aussagen immer so. Deswegen werden Kontingenz und Geschichte in die Dialektik miteinbezogen. Dies ist das methodische Tor, durch welches die Kontingenz und die Geschichtlichkeit bis zum Kern der dialektischen Methode an sich und, auf die Art, bis hin zum System vordringen. Das ist der Mechanismus, durch den der entgegengesetzte Pol ausgemacht wird. In der Dialektik wird das Gegenteil nicht a priori mittels der einfachen Voranstellung der Verneinung konstruiert. In der Analytik kann man das machen, weil es dort das ausgesprochene Subjekt und den Quantifikator gibt. Da die Dialektiker diese nicht haben, müssen sie in Sprache und Geschichte nachforschen, welches der semantisch entgegengesetzte Pol zur gegebenen These sei. Die Antithese in der Analytik kann mittels logisch-formaler Manipulation der Verneinung, mittels des Satzbaus, formuliert werden, in der Dialektik aber nicht. Und hier, genau hier, in der Bildung der Antithese, nimmt die Dialektik ihren Charakter von Kontingenz und Geschichtlichkeit an. Sie wird zu einer Dialektik des Konkreten, zu einer Dialektik der Geschichte. Platon ahnte dies, Augustinus und Cusanus wußten das, für Hegel ist Dialektik stets Philosophie der Geschichte gewesen. Sie haben Schritt gehalten mit dem Dreiertakt und mächtige Philosophiesysteme konstruiert, weil sie nicht versucht haben, aus der Dialektik eine logischformale Methode zu machen, die auf eine a priori Weise behandelt würde. Dies ist, meiner Meinung nach, der größte Irrtum der Dialektiker im 20. Jahrhundert. Die Erzeugung des entgegengesetzten Pols, die Entdeckung oder die Bildung des antithetischen Begriffs, geschieht nicht a priori, indem man einfach die Verneinung davorsetzt, sondern durch einen Begriff, der sich a posteriori in Sprache und Geschichte findet und in einem ganz spezifischen konträren Gegensatz artikuliert ist. Weiß ist das Gegenteil von Schwarz, Subjekt ist das Gegenteil von Objekt. Nicht-Weiß und Nicht-Objekt sind viel umfassendere Begriffe; in ihnen ist der Gegensatz der entgegengesetzen Pole nicht spezifisch, sondern unbestimmt. Die das Gegensatzpaar bildende Verneinung, sagt Hegel mit vollem Recht, ist eine bestimm111 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das logische Quadrat

te, und nicht irgendeine unbestimmte, oberflächliche und allgemeine Verneinung. Eine solche funktioniert in der Dialektik nicht. Um festzustellen, daß die unbestimmte Verneinung nicht funktioniert, brauchen wir nur einen aktuellen Fall aufzugreifen. Nehmen wir als These die Serben. Was ist das Gegenteil? Wenn wir NichtSerben sagen, werden wir eine riesige, unförmige Menge von Nationalitäten und Völkergruppen haben, in der sogar wir mitgerechnet werden, wir Brasilianer, die Argentinier, die Uruguayer usw. Was haben wir mit den Serben zu tun? Nichts, oder fast gar nichts. Wenn wir also Nicht-Serbe als Gegensatz zu Serbe setzen, passiert nichts; da kommt kein Funke heraus, da erscheint keine Dialektik. Aber wenn wir statt der unbestimmten Verneinung als Gegensatz die Bosnier nehmen, sprühen die Funken sofort. Serben und Bosnier stehen zueinander im konträren Gegensatz durch die spezifische und bestimmte Verneinung. Und die Dialektik kommt in Bewegung und setzt sich in Szene. Entweder schaltet ein Pol den anderen aus, oder umgekehrt. Oder man muß dann eine Synthese bilden.

1.6 Die Dialektik des Konkreten Diese Auffassung von Dialektik, die eine Dialektik des Konkreten ist, welche die konträren Gegensatzpaare in Sprache und Geschichte sucht und findet, hat einen großen Vorteil und, so wie es scheint, einen Nachteil. Der große Vorteil ist, daß hier deutlich wird, woher die kontingenten und geschichtlichen Inhalte kommen, die innerhalb der dialektischen Systeme zu finden sind: Sie kommen von der syntaktischen Struktur der Dialektik, welche die gegensätzlichen Konzepte semantisch und nicht syntaktisch aufbaut. Die konträren Terme, d. h. die Antithesen, sind keine kontradiktorischen Begriffe (Sein und Nicht-Sein, Serbe und Nicht-Serbe), sondern es sind konträre Begriffe (Sein und Nichts, Serbe und Bosnier). Die Summe von zwei kontradiktorischen Begriffen, Serbe und Nicht-Serbe, umfaßt die Ganzheit der existierenden und möglichen Dinge des Alls, wie z. B. Farben, Götter, Geschmacksrichtungen, Melodien usw. Die Summe von zwei konträren Begriffen umfaßt nicht die Ganzheit der existierenden und möglichen Dinge; hier gilt immer: tertium datur. Diese konträren Begriffe, Ergebnisse der bestimmten Verneinung, kommen von der Sprache und der Geschichte, sie sind kontigent und haben diese Eigenschaft in ihrer Gegensatzstruktur. Der große Vorteil einer 112 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Analytik und Dialektik, zwei Denkweisen

solchen Dialektik des Konkreten ist der, daß sie die Existenz von Kontingenz und Geschichtlichkeit der Dinge und der Menschen zugesteht. Es gibt Kontingenz, es gibt Situationen und Dinge, die so und genausogut anders sein können. Es gibt, im kontingenten Lauf der Dinge, Alternativen. Dies ist der Raum des freien Willens und der moralischen Verantwortung. So steht die Geschichte offen. Es gibt Kontingenz, es gibt also wahre Geschichtlichkeit. Das große Thema bei Schelling, Nietzsche und Heidegger gegen die Notwendigkeitslehre der Systeme von Spinoza und Hegel wurde hier in die Struktur der dialektischen Methode selbst einverleibt. Wir haben nun eine Dialektik des Konkreten. Das ist der großeVorteil. Der Nachteil ist, meiner Meinung nach, nur ein scheinbarer. Von der oben vorgestellten und begründeten Auffassung von Dialektik leitet sich als logische Konsequenz ab, daß das System nicht ausschließlich und vorwiegend a priori arbeiten kann. Da man die konträren Begriffe nicht mittels der reinen Voranstellung einer Verneinung formulieren kann, heißt das, daß die dialektische Methode weder deduktiv noch a priori ist. Für einige Denker, wie Wandschneider, Hösle, Schmied-Kowarzik und andere, scheint dies ein großer Nachteil zu sein. Die Philosophie verliert an Genauigkeit. Der Anspruch des Systems wird ziemlich dünn. Das stimmt. Durch diese Methode ist das System immer nur ein Systemprojekt, ein offenes, ständig in Konstruktion begriffenes System, ein System, das anderen Systemen erlaubt und sie sogar auffordert, mit ihm zu koexistieren. Es ist nicht so, daß es keine allgemeinen Prinzipien gäbe; eindeutig gibt es sie. Aber nur den harten Kern des Systems haben alle Horizonte und alle Zeiten gemeinsam. Nur der harte Kern besitzt den Anspruch auf die einzige Wahrheit. Die anderen Sichtweisen (Nietzsche), die anderen Horizonte (Heidegger) werden geachtet und kommen als periphere Elemente in Systemprojekten vor, die immer konkret, kontingent und geschichtlich sind. Der Nachteil, also daß der Anspruch aufgegeben werden muß, das ganze System a priori herzuleiten, ist kein Nach-, sondern ein Vorteil. Das ist meine Meinung.

1.7 Analytik und Dialektik, zwei Denkweisen Analytik und Dialektik sind Sprachen mit unterschiedlichem Satzbau, und sie produzieren Philosophien mit unterschiedlichen Eigenschaften. Jetzt kann man bereits anhand des methodischen Problems 113 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das logische Quadrat

erkennen, wie jede dieser Philosophien ein spezifisches und leicht erkennbares Profil aufwirft. Wenn wir Hegels Logik nehmen und sie nach den zwei Methoden darstellen, werden die Unterschiede zwischen den Profilen sichtbar. In der analytischen Sprache sähe die Rekonstruktion folgendermaßen aus: die These heißt Das Absolute ist das Sein, die Antithese dazu Das Absolute ist das Nichts. Da beide falsch sind, muß man – so sagt der analytische Philosoph – die entsprechenden Unterscheidungen machen. Die These klingt dann so: Das Absolute ist das Sein, insofern es entsteht und im Werden ist. Die Antithese: Das Absolute ist das Nichts, insofern es verschwindet und nicht mehr ist. Die entsprechenden Unterscheidungen wurden gemacht, was falsch war, wurde korrigiert. Wie eigentlich? Nicht indem eine Synthese geschaffen worden wäre, so wie die Dialektiker das tun, sondern indem man entsprechende Unterscheidungen schuf, indem man die unterschiedlichen Aspekte des logischen Subjekts der Aussage entfaltete. In solchen Fällen gibt es keine Synthese. Die Situation von falscher These und ebensolcher Antithese wurde durch die Einführung zweier Aspekte im logischen Subjekt überwunden. Die Verdopplung des Subjekts überwindet also das, was die Dialektiker Kontradiktion nennen. Nur daß die Analytiker von jetzt an, statt eines einzigen Subjekts – das Absolute – zwei davon haben werden. Innerhalb der nächsten Schritte dieses Systems wird dieses Subjekt ständig verdoppelt. Das Profil einer solchen Philosophie sieht dann so aus:

Die Analytik zerteilt und trennt. Die logischen Subjekte vermehren sich und, wenn wir nicht genau darauf achten, verliert sich diese Philosophie in der postmodernen Fragmentation der Vernunft. In der 114 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Analytik und Dialektik, zwei Denkweisen

Dialektik dagegen ist das Subjekt immer dasselbe. Das immer gleiche, immer verborgene und implizite, ist das Absolute. Was sich verändert, sind die Prädikate, die im Nachhinein das Subjekt bestimmen. Das Profil der Dialektik sieht so aus:

Beide Methoden haben spezifische Nachteile. Die Analytik läuft Gefahr, die Einheit des Subjekts des Systems zu verlieren und am Ende nur Oberflächlichkeiten von sich zu geben. Das kommt manchmal bei gewissen Vertretern der aktuellen analytischen Philosophie vor. Die Dialektik läuft Gefahr, das einzige logische Subjekt in etwas Totalitäres zu verwandeln. Das ist z. B. in der Dialektik von Lenin und im Stalinismus passiert. – Der spezifische Vorteil der Analytik ist die Klarheit. Da in ihr das logische Subjekt und die diversen Aspekte des Subjekts immer detailliert aufgeführt werden, gewinnt sie dadurch an Klarheit. Der spezifische Vorteil der Dialektik ist, daß sie immer mit dem Absoluten zu tun hat, mit der Ganzheit. Unter diesem Aspekt ist die dialektische Philosophie eher eine Philosophie, ein System. Wichtig ist es heute, denke ich mal, zu merken, daß beide Methoden, wenn sie korrekt angewandt werden, sich nicht ausschließen, sondern ergänzen.

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2 Die Synthese der Gegensätze

2.1 Der Raum, in dem Dialektik geschieht Im vorherigen Kapitel wurde der Unterschied zwischen dem kontradiktorischen und dem konträren Gegensatz diskutiert. Das logische Quadrat, in dem dieser Unterschied eindeutig sichtbar wird, wurde detailliert untersucht. Ich habe, wie versprochen, mit dem Finger auf die exakte, die einzige Stelle, gezeigt, an der es Dialektik geben kann: zwischen einer thetischen Aussage A und einer antithetischen Aussage E. Nur dort ist es möglich, daß sowohl die eine wie die andere, ihr entgegengesetzte Aussage falsch sind. Nur da haben wir Raum für die Dialektik. Dialektik ist das Spiel der Gegensätze, sicher, aber immer von konträren Gegensatzpaaren, niemals von kontradiktorischen. Nach den Einwürfen von Trendelenburg und Popper verdient jeder, der das noch verwechselt, das Gelächter der Sklavin Thrakia. Während dies feststeht, müssen wir zugeben, daß wir noch nicht wissen, was Dialektik ist. Wir wissen nur, daß es Raum für die Dialektik gibt, wo es sich um konträre Begriffe handelt. Im logischen Raum einer Aussage A und einer Aussage E ist es möglich, daß sowohl These wie Antithese falsch sind. Das widerstrebt der Logik keinesfalls. Schon gut, werden die Analytiker sagen. These und Antithese können, wenn sie konträr sind, beide falsch sein. Dem ist nichts entgegenzusetzen, bis hierher. Aber weiter? Wie bewegt sich die Dialektik? Wie funktioniert sie? Was bewegt sie? Wohin bringt sie uns? Was lehrt sie uns? Nun, durch diese Fragen verlassen wir unsere vornehmlich defensive Stellung, welche fast immer den Einwürfen der Analytiker gerecht wurde, und kommen zu unserem Hauptthema zurück, das jetzt aufgezeigt und in seinen positiven Aspekten diskutiert werden muß.

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Gegensatz und Einklang

2.2 Gegensatz und Einklang Bei Platon und in den neuplatonischen Philosophien haben die Ideen ein Eigenleben. Man braucht nur achtzugeben und zu beobachten. Sie sind sich manchmal entgegengesetzt, manchmal lösen sie sich auf, manchmal ziehen sie sich an und treffen dann zusammen und bilden eine höhere Idee. Die Ideen bestehen nicht aus Subjekt und Prädikat, aber trotzdem sagen und enthalten sie die Wahrheit. Überhaupt ist in ihnen, und nur in ihnen, die Wahrheit enthalten. Um zu wissen, was die Wahrheit ist, muß man in Dialog treten, so wie Sokrates es tat und lehrte, an den Straßenecken und auf dem Marktplatz. Im Dialog erscheinen auf natürliche Weise These und Antithese, das Gesagte und das Entgegengesagte. Im konkreten und realen Dialog auf den Straßen und an den Ecken, wenn jemand etwas sagt und eine Meinung kundtut, erfolgt bald die Antwort. Diese Antwort kann positiv sein, dann stimmen beide überein und sind im Einvernehmen. Die anfangs vom ersten Sprecher vorgeschlagene These wurde vom zweiten Sprecher des Dialogs gebilligt. Alles wunderbar. Die Anfangsthese, die nur einem gehörte, wurde von jemand anderem angenommen und gebilligt und wird nun zu einer These auf breiter und allgemeinerer Basis. Dieser Anfang ist gültig und wichtig, aber hier handelt es sich noch nicht um die Dialektik an sich. Der Dialog hat begonnen, sicher, doch es gibt bisher nur eine These. Die Antithese tritt auf, wenn der zweite Sprecher der Auffassung des ersten widerspricht, wenn der zweite Sprecher die These nicht annimmt und die Antithese darbringt, welche eine sich der These querstellende Auffassung ist. Wir kennen das, im praktischen Leben kommt so etwas oft vor. Beim Recht und in der Politik nennt sich das Seite und Partei. Zwei Bürger verteidigen konträre Interessen, und wenn sie sich mißverstehen, gibt es einen Konflikt und sie streiten. Wenn sie vor den Richter treten, sind es jetzt Streitparteien auf der Suche nach einer einzigen, höheren und gerechteren Lösung, die beide befriedigen soll. Wenn es in der Politik kein Einvernehmen, sondern Risse gibt, gliedert sich die Einheit der Volksversammlung und es bilden sich einander widersprechende Gruppen. Aus solchen Rissen entstehen die Parteien, die Teile jenes größeren Ganzen, das es geben muß und zu dem man kommen will, das Einvernehmen. Die Politik erwartet und fordert, daß ein allgemeiner überparteilicher Wille gebildet werde, der Richter läßt die Gerechtigkeit walten, indem er die Parteien zu jener Ordnung ruft, die über den rein indivi117 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Synthese der Gegensätze

duellen Interessen steht, die Dialektik sucht die umfassendere Wahrheit, welche, über die Einseitigkeit von These und Antithese hinaus, höher, inhaltsreicher, edler und, auf die Art, wahrer ist. Denn die Wahrheit ist das Ganze. Hen kai pan. Die Vereinigung der entgegengesetzten Pole auf einer höheren und edleren Ebene nannten die Griechen Einheit der Gegensätze. Nikolaus Cusanus nennt dies die Versöhnung der Gegensätze und verwendet damit einen aus Bibel und christlicher Theologie stammenden Begriff. So wie das jüdische Volk, nachdem es seine Sünden bereut, zu Jahweh, dem wahren Gott, zurückkehrt und sich mit ihm versöhnt, so geschieht auch in der Dialektik eine Versöhnung zwischen den Polen, die anfangs im Gegensatz stehen, einer gegen den andern. Hegel gebraucht hier das Wort Aufheben. Aufheben besitzt einen dreifachen Sinn. Aufheben bedeutet zuerst einmal auflösen, rückgängig machen, z. B. Die Sitzung wird aufgehoben. Aufheben bedeutet zweitens aufbewahren, z. B. Ich habe dein Essen im Kühlschrank aufgehoben. Aufheben bedeutet drittens vom Boden hochheben und höher verlegen, z. B. Er hebt das Taschentuch vom Boden auf und legt es auf den Tisch. Die drei Bedeutungen von Aufheben – überwinden, aufbewahren und emporheben – kommen in der Synthesenbildung vor. Die erste Bedeutung: der Gegensatz der Pole ist überwunden und aufgehoben. In der Synthese schließen sich die Pole nicht mehr aus; die ausschließende Eigenschaft zwischen These und Antithese ist jetzt aufgelöst und verschwindet. Die zweite Bedeutung: trotz dieser Auflösung wurden die Pole erhalten und sind in allem aufgehoben, was sie an Positivem hatten. Die dritte Bedeutung: in der Einheit der Synthese kommt man auf eine höhere Stufe, es gibt da einen Aufstieg zu einer höheren Ebene.

2.3 Meister und Lehrling Da im vorherigen Kapitel bereits die Dialektik von Philesis, Antiphilesis und Philia vorgestellt wurde, die Dialektik, die konstruiert ist wie Freundschaftsliebe, nehmen wir hier ein anderes klassisches Beispiel zur Hilfe: die dialektische Beziehung zwischen Meister und Lehrling. Meister und Lehrling sind anfangs die entgegengesetzten Pole einer Beziehung. Diese Beziehung ist zuerst einmal eine ausschließende Beziehung von Verneinung und Gegensatz. Der Meister weiß, 118 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Meister und Lehrling

der Lehrling weiß nicht. Die Beziehung ist asymmetrisch, und der Meister weiß das, der Lehrling ist sich dessen voll bewußt. Und gerade deshalb geht der Lehrling zum Meister. Er geht lernen, weil er weiß, daß er nicht weiß. Und er weiß, daß der Meister weiß. In diesem ersten Schritt gibt es also Gegensatz, Verneinung und Ausschließung. Wer Meister ist, ist kein Lehrling, wer Lehrling ist, ist kein Meister. Eines schließt das andere aus. Nach diesem ersten Treffen von zwei entgegengesetzten Polen beginnt nun, in einem zweiten Moment, der Lernprozeß. Der Meister erklärt, der Lehrling nimmt das Erklärte auf, wiederholt die Erklärung, und dann kann er jederzeit alleine das wiederholen und nachmachen, was er gelernt hat. Im Lernprozeß präsentiert der Meister eine Idee, die anfangs nur in ihm existiert. Im Lehrling gibt es diese Idee nicht, er hat sie noch nicht gehört und gelernt. Aber nachdem der Meister sie ausgesprochen und erklärt hat, nimmt der Lehrling sie auf und hat sie jetzt auch in sich. Die Idee, die anfangs nur eine war, ist jetzt ein- und dieselbe Idee in zwei Menschen, im Meister und im Lehrling. Dieselbe Idee, obschon weiterhin einzig, ist sowohl im Meister wie im Lehrling. Was diese Idee betrifft, sind Meister und Lehrling eins geworden. Obwohl es zwei verschiedene Menschen sind, haben Meister und Lehrling dieselbe Idee, sie teilen dieselbe Idee. Die Idee aber, von beiden geteilt, bleibt weiterhin eine einzige Idee. An diesem Punkt, unter diesem Aspekt, sind Meister und Lehrling genau gleich. Der eine weiß, was der andere weiß. Sie wissen dasselbe. Sie teilen dieselbe Idee, welche die eine ist, aber in zwei verschiedenen Polen existiert. Meister und Lehrling sind sich hier gleich und verschmelzen in einer höheren und edleren Einheit. Wenn im Verlauf des Lehrens und Lernens der Meister, alles gelehrt hat, was er wußte, und der Lehrling alles gelernt hat, was er sollte, ist der Lernprozeß beendet. Die Beziehung von Meister und Lehrling, die anfangs asymmetrisch war, ist jetzt symmetrisch, und der Meister erklärt öffentlich, daß der Lehrling kein solcher mehr, sondern ab jetzt auch Meister ist. Da haben wir, in diesem Beispiel der Dialektik von Meister und Lehrling, die drei Momente. Wir haben zuerst einmal die Überwindung des Gegensatzes als eines ausschließenden; die Asymmetrie der Beziehung wurde überwunden und aufgehoben, es gibt sie nicht mehr. Dann haben wir zweitens die Aufbewahrung und Erhaltung von allem Positiven, d. h. des Wissens, das nur im Meister war und jetzt auch im Lehrling ist. Und wir haben, drittens, die Einigung bei119 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Synthese der Gegensätze

der auf einer höheren Ebene, denn es ist dasselbe Wissen des Meisters, das aus dem Lehrling einen Meister gemacht hat. Am Ende dieses Prozesses gibt es eine Symmetrie, die anfangs fehlte. Das ist Dialektik. Die Wahrheit und das Wesen des Meister-Seins, etwas wesentlich Positives und Edles, besteht im Lehren. Meister ist nur, wer lehrt. Lehren bedeutet einerseits, Lehrlinge zu haben, aber andererseits bedeutet es auch, zu wollen, daß der Lehrling kein solcher mehr sei und auch Meister werde. Meister zu sein, ist eine einerseits positive Wirklichkeit, denn der Meister besitzt das Wissen. Andererseits ist, Meister zu sein, eine negative und selbstzerstörende Wirklichkeit, denn der Meister will ja, daß der Lehrling lerne und auch Meister werde. Am Ende des Prozesses ist der Meister also kein Lehrlingsmeister mehr, sondern einer unter anderen Meistern. Die anfängliche Negativität der entgegengesetzten Pole wurde überwunden, aber die ganze in ihnen enthaltene Positivität wurde auf höherer und edlerer Ebene aufgehoben. Aufheben, überwinden und aufbewahren. Es ist nicht die Analytik, sondern die Dialektik, die die intersubjektiven Beziehungen angemessen aufnimmt und begreift. Für die Analytik sind die sozialen Beziehungen meistens nur Zufälle, die zwischen Substanzen vorkommen. Jede Substanz ist und existiert in sich und für sich selbst. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden folglich nur als sich ergebender Zufall gedacht. Der Mensch ist erst einmal Substanz, rein zufällig wird er gesellschaftlich. In der Dialektik, im Gegenteil, ist der Mensch ein Verbindungspunkt im großen Netz der sozialen Beziehungen. In der Dialektik ist der einzelne Mensch als solcher nur ein Element eines größeren Ganzen, welches das Netz der sozialen Beziehungen bildet. In der Dialektik ist der Mensch wie ein Knoten im Fischernetz: er existiert als Verknüpfung von Fäden, die das Netzbild durchziehen und bilden. Es handelt sich um zwei Auffassungen des Menschen und seiner Sozialfähigkeit.

2.4 Der Dialog Der Sophist von Platon Im Dialog Der Sophist behandelt Platon die fünf größten Gattungen. Die größten Gattungen sind jene, die die Spitze der Pyramide bilden, unterhalb derer sich die Ideen einordnen. Alle Ideen, in ihren Zusammenhängen von Gegensatz und Anziehung, gruppieren sich in Pyramidenform. Die Spitze dieser Pyramide der Weltordnung wird von 120 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Dialog Der Sophist von Platon

zwei Gegensatzpaaren gebildet, Ruhe und Bewegung, derselbe und der Andere, und von der Idee des Seins, welche gleichsam als finale Synthese über allem schwebt. Zur Idee des Seins fließt alles hin und von ihr aus besitzt alles seine Einheit. Ruhe ist nicht Bewegung. Was ruht, ist nicht in Bewegung und umgekehrt. Die Pole schließen sich hier aus. – Derselbe ist nicht der Andere. Auch nicht umgekehrt. Auch hier sind die Pole ausschließend. Aber Ruhe – Bewegung und Selbigkeit – Anderssein können gegenseitig ausgesagt werden. Wir können sagen, daß die Ruhe sich selbst ist. Sie ist sich selbst, sie ist dieselbe. Dann ist die Bewegung das Andere, ein Anderes als die Ruhe. Wir können die Pole auch umstellen und sagen: die Bewegung ist sich selbst. Dann ist die Ruhe das Andere. – Ruhe und Bewegung, Selbigkeit und Anderssein können gegenseitig Prädikate sein. Aber man kann weder sagen, daß Ruhe Bewegung sei, noch daß dasselbe das Andere sei. Aber Ruhe ist Sein, und Bewegung ist auch Sein. Wenn sie nicht Sein wären, würden sie nicht existieren, wären sie nichts. Sowohl die Ruhe ist Sein als auch die Bewegung. Wenngleich sie entgegengesetzte und ausschließende Pole sind, im Sein sind sowohl die Ruhe wie die Bewegung vereint. Beide haben Teil an der Idee des Seins. Im Sein ist der Gegensatz nicht mehr ausschließend, und die Gegensätze verbinden sich wieder zu einer Einheit. Derselbe ist Sein, der Andere ist auch Sein. Selbigkeit und Anderssein, anfänglich ausschließende Pole, vereinen sich im Sein, an dem sie teilhaben. Beide sind das Sein. Das Sein ist die höchste Gattung. Ins Sein fließt alles, aus der Einheit des Seins kommt alles. Das All ist dann eine Entfaltung, eine explicatio – plica um plica, Falte um Falte – dieses Seins, das im Anfang ist. Die Vielfalt der Dinge kommt bei Platon aus der Einheit des Seins. In anderen Schriften sagt Platon, daß diese höchste Gattung, das Sein, sich auch das Eine und das Gute nennt. Da haben wir das EinsSein der neuplatonischen Philosophen und das Höchste Gut der Ungeschriebenen Lehre. Von daher leitet sich ab und kommt der ganze Rest. Die einzige Frage kam vorhin schon an anderer Stelle auf: ist dieser Ablauf total bestimmungsgeprägt oder enthält er irgendeine Kontingenz oder Zufall? Die neuplatonischen Notwendigkeitsdenker ziehen die erste Alternative vor, ich bleibe bei der zweiten, welche in dieser Arbeit vorgestellt und verfochten wird.

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Die Synthese der Gegensätze

2.5 Hegel – Das Sein als das Nichts Hegel lernte Dialektik bei Platon und den neuplatonischen Philosophen, bei Plotin und Proklos. Aber er geht einen Schritt weiter, wenn er über Platon hinausgeht und eindeutig die Vielfalt in den Kern der Einheit einbindet. Das Sein in sich enthält bereits das Selbst und das Andere. Das Sein ist sowohl das Selbst als auch das Andere. Identität und Alterität sind von jeher im Sein enthalten. Das Sein ist jenes Sein, das gleichzeitig in Ruhe und in Bewegung ist, wenn auch unter verschiedenartigen Aspekten. Bei Hegel wird das Sein eindeutig und explizit als Prozeß gedacht. Das Universum stellt einen Entfaltungsprozeß des Seins dar, das philosophische System ist ein Ablauf geistiger Rekonstruktion der im Sein geschehenen Entfaltungen. Dies ist die Auffassung aller neuplatonischen Denker. Plotin, Proklos, Cusanus, Spinoza, Schelling und Hegel denken genauso. Die einzige große Frage, die offen bleibt, ist diejenige nach der Vorhandenheit oder Nicht-Vorhandenheit von Kontingenz im Kern des Prozesses. Gibt es Kontingenz? Gibt es Zufall? Würfelt Gott? Spinoza sagt nein. Hegel ist sich nicht sicher. Ich denke, daß es Kontingenz gibt, daß Gott mit Würfeln spielt, und ich denke auch, daß dies der Raum für Alternativen von gleichwertigen Möglichkeiten ist, ein Raum, der Freiheit, moralische Verantwortung und politische Demokratie erlaubt. Dialektik, sicher, aber Dialektik mit Kontingenz. Kontingenz und Geschichtlichkeit sind, nach Schelling, nach Kierkegaard, nach Nietzsche, nach Heidegger, nach Gadamer, unerläßliche Elemente für jeden Gedanken, der als kritisch gelten will. Wer dies nicht bedenkt, fällt ins Loch der Notwendigkeitslehre. Und die Sklavin Thrakia fällt ins Gelächter mit ein.

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3 Die drei Prinzipien

3.1 Die notwendige Übersetzung Für die analytischen Philosophen ist die klassische Auslegung der dreifachen Bewegung von These, Antithese und Synthese, so wie von Platon, Cusanus und Hegel vorgenommen und wie von mir im vorherigen Kapitel wiedergegeben, etwas so Unverständliches wie Chinesisch. Es ist reines Chinesisch. Man begreift ja nichts, sagen sie. Und es kommt noch schlimmer, fügen sie hinzu. Denn alles deutet darauf hin, daß das Prinzip der ausgeschlossenen Kontradiktion, Eckstein im Bau der rationalen Rede, hier verunglimpft wird. Wie können denn These und Antithese gleichzeitig falsch sein? Wie kann es sein, daß sowohl Dictum wie Contradictum falsch sein sollen? Heißt das nicht, gegen den Satz vom Widerspruch zu handeln? Ist das nicht bejahen und gleichzeitig verneinen? Ist das nicht Unsinn? Dies sind die klassischen Fragen, die bereits von Aristoteles im Buch Gamma der Metaphysik formuliert und in der Tradition von sovielen anderen wiederholt wurden, wie z. B. von Thomas von Aquin im Mittelalter, von Trendelenburg im 19. Jahrhundert, von Karl Popper im 20. Jahrhundert, und heute von der ganzen Analytischen Philosophie. Die Antwort auf diese Fragen wurde im Prinzip schon gegeben. Es handelt sich um zwei Sprachen mit unterschiedlichem Satzbau. Deshalb verstehen sich Analytiker und Dialektiker nicht. Wir haben bereits im vorherigen Kapitel gesehen, daß die von den Dialektikern gebrauchte Sprache weder ein logisches Subjekt noch einen expliziten Quantifikator hat, was sie schwer verständlich macht. Wir sahen auch, daß, wenn die Dialektiker Kontradiktion sagen, sie das meinen, was die Analytiker Widersprüchlichkeit nennen; wenn die Dialektiker vom Kontradiktorischen reden, wollen sie Konträres sagen. Das erzeugt Verwirrung und somit Unverständnis. Deshalb müssen wir das, was die Dialektiker sagen wollen, Schritt für Schritt in die von den Analytikern gebrauchte Sprache übersetzen. Unter diesem Gesichtspunkt stellen wir wiederum die Grundfrage: Welches sind die 123 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die drei Prinzipien

logischen Prinzipien, die den Gedankengang der Dialektiker leiten? Wir antworten: es sind dieselben logischen Prinzipien, die auch das analytische Denken bestimmen. Und zwar: das Prinzip der Identität, das Prinzip der Differenz und das Kohärenzprinzip, welches man auch Prinzip der ausgeschlossenen Kontradiktion nennt. Diese drei Prinzipien, dieselben drei Prinzipien, bestimmen sowohl die logische Dialektik als auch die logische Analytik.

3.2 Das Identitätsprinzip Das Identitätsprinzip sagt: A ist A. Dieses Prinzip ist derart grundlegend und einfach, daß wir meistens gar nicht merken, daß wir es gebrauchen. Stillschweigend wird es stets als wahr vorausgesetzt. Sei es in der Alltags- oder in der wissenschaftlichen Sprache, wir setzen ständig das Identitätsprinzip voraus. Es enthält drei untergeordnete Prinzipien.

3.2.1 Einfache Identität Die Einfache Identität kann nicht im Nachhinein erklärt werden. Wenn man A sagt oder schreibt, oder irgendetwas anderes, sagt man eine Einfache Identität aus. Dieses A hebt sich aus dem Hintergrund und seinem Umfeld hervor, aus dem ihn umgebenden Bereich, und deutet auf etwas Bestimmtes. A, die einfache Identität, deutet auf etwas Bestimmtes und sagt etwas Bestimmtes. Aber das, was gesagt wird, ist nicht bis zum Schluß gesagt. Wir haben bisher noch keine vollständige und endgültige Prädikation. Das könnten wir auch gar nicht, denn wir haben nur das erste A, die einfache Identität. Da wir noch kein voneinander unterschiedenes Subjekt und Prädikat haben, können wir noch keine vollständige und endgültige Prädikation machen. Aber wir haben den ersten Anfang, A, die einfache Identität.

3.2.2 Iterative Identität Die Iterative Identität kommt vor, wenn das erste A wiederholt wird und zu A und A wird. Oder es wiederholt sich ein drittes Mal, ein viertes Mal usw., und wird dann zu A, A, A, A … usw. Solange die 124 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Prinzip der Differenz

Wiederholung rein iterativ ist, d. h., solange sich nur A wiederholt, immer dasselbe, erscheint nichts Neues. Diese iterative Identität ist die erste und einfachste Form von Vielfalt. Aber sie ist noch eine Vielfalt von stets derselben Sache. Nur A wiederholt sich. Man beachte jedoch, daß hier die Bewegung beginnt.

3.2.3 Reflexive Identität Die Reflexive Identität beginnt, wenn wir sagen, daß A gleich A ist, daß das erste A dasselbe ist wie das zweite, wenn wir sagen, daß sie identisch sind. Nur hier erreicht die Identität ihre Reife und Vollständigkeit. Erst jetzt können wir eine erste Prädikation formulieren, denn erst jetzt können wir Subjekt und Prädikat unterscheiden. Das logische Subjekt dieser ersten Prädikation ist das erste A, das Prädikat ist das zweite A. Auf diese Art erscheint die Tautologie, Ursprung aller späteren Prädikationen: A = A. Die verschiedenen Logiken der Identität, die wir heute kennen, basieren alle auf der Reflexiven Identität, auf der großen Tautologie des Anfangs.

3.3 Das Prinzip der Differenz Die Differenz im strengen Sinn, d. h. die Alterität, beginnt, wenn dem A oder der Reihe A, A, A … usw. etwas hinzugefügt wird, das nicht nur die Wiederholung von A ist. Differenz, in diesem allgemeinen Sinn, ist alles, was nicht A ist, d. h. das Nicht-A. Dieses andere Etwas, das Nicht-A, kann in zwei Gegensatzformen zu sich selbst stehen, im kontradiktiven oder im konträren Gegensatz.

3.3.1 Kontradiktorischer Gegensatz Wenn wir im Gegensatz zu A rein und einfach ein Nicht-A setzen, dann haben wir einen kontradiktorischen Gegensatz. A und Nicht-A sind kontradiktorische Begriffe. Alles, was existiert und möglich ist, gehört entweder der Menge A oder der Menge Nicht-A an. Die Summe beider Konzepte umfaßt die Ganzheit der existierenden und möglichen Dinge. Die Konstruktion kontradiktorischer Begriffe geschieht mittels der einfachen Voranstellung der Negation. 125 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die drei Prinzipien

3.3.2 Konträrer Gegensatz Wenn wir im Gegensatz zu A, statt eines viel zu weitläufigen Begriffes wie Nicht-A, einen etwas spezifischeren und bestimmteren Begriff setzen, dann haben wir einen konträren Begriff. Der konträre Begriff zu A ist nicht der, den man mittels einer unbestimmten Verneinung wie Nicht-A erhält, sondern jener, den man mittels einer bestimmten Verneinung erhält, wie z. B. B, C, D usw. Solche Begriffe sind zwar anders als A, aber sie sind nicht unbestimmt und weitläufig wie Nicht-A. Sie deuten auf spezifische Dinge, die eben B, C, D usw. sind. Die Summe beider konträren Begriffe, wie A und B, umfaßt nicht die Ganzheit der existierenden und möglichen Dinge. Für diese Fälle gilt: datur tertium, wie C, D usw. Im Gegensatz zu den kontradiktiven Begriffen können diese konträren Begriffe nicht a priori, im logisch-formalen Stil, konstruiert werden. Diese Begriffe werden aus Sprache und Geschichte entnommen. Vom logisch-formalen Gesichtspunkt her ist dieses Konträre etwas erstes, ursprüngliches, etwas, das man nicht mittels logischer Manipulation von A ableiten kann. Einfache Identität, Iteration und Reflexive Identität können nicht erklären, was B ist und woher dieses B auftritt. B ist hier ein konträrer Begriff, eine bestimmte, nicht deduktiv ableitbare Verneinung. Das Konträre ist plötzlich, ohne einen vorliegenden Grund, gegenwärtig und erscheint in Sprache und Erfahrung. Das bedeutet, daß eben dieses Konträre etwas Zufälliges ist. Es ist so, könnte aber auch anders sein. Kontingenz und Zufall kommen hier, einen offenen Raum schaffend, in die logische Struktur der Sprache. Das bedeutet einerseits eine Bereicherung, andererseits eine Gefahr für die Rationalität der Rede. Immer wenn man einem A etwas wie ein B hinzufügt, bildet sich eine Situation, die nicht nur mit Identität zu tun hat. In solchen Fällen muß man untersuchen, ob A und B nebeneinander existieren können. Passen sie zusammen? Paßt sich einer dem andern an? Das wird vom dritten Prinzip bestimmt, vom Kohärenzprinzip.

3.4 Das Kohärenzprinzip Das Kohärenzprinzip, auch Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs genannt, besagt, daß man den Widerspruch vermeiden soll. Das Prinzip sagt nicht, daß die Kontradiktion unmöglich ist, es sagt 126 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Kohärenzprinzip

nur, daß es sie nicht geben darf, daß man sie vermeiden soll. Der modale Operator ist hier schwächer als der klassische, er ist deontisch. Im Anfang aller Logiken gibt es kein Es ist unmöglich, sondern ein Man darf nicht. Das wird uns übrigens später erlauben, die kritische Grundlage des Ersten Prinzips einer Allgemeinen Ethik zu setzen. Hier, in der Logik, besagt dieses normative Prinzip drei Dinge:

3.4.1 Der allgemeine Sinn Das Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs besagt erstens, daß Widersprüche vermieden werden sollen; zweitens besagt es, daß, falls es tatsächlich Widersprüche gibt, diese bearbeitet und überwunden werden müssen. Dies ist der allgemeine, umfassend gültige Sinn des Prinzips des ausgeschlossenen Widerspruchs. Hier gibt es keine Ausnahmen. Wer solches verneint, verneint die eigene Rationalität der Rede. Wer dasselbe Prädikat desselben Subjekts unter denselben Umständen zuspricht und abspricht, redet Unsinn. Solcher Unsinn passiert manchmal bei dem, was wir im Alltag reden, und auch in der Wissenschaft. Das sollte jedoch nicht vorkommen. Niemals, auf keinen Fall. Aber manchmal passiert es. Wenn jemand das vom Satz vom Widerspruch ausgesprochene Verbot ignoriert und sich wirklich widerspricht, folgt die Strafe auf dem Fuße. Ein Individuum, das sich beim Reden selbst widerspricht, sagt gar nichts mehr. Es verläßt die rationale Rede, fällt aus dem Rahmen der Vernunft und muß von nun an wie eine Pflanze schweigen. Aristoteles ist da völlig im Recht. Aristoteles hat aber nicht Recht, wenn er, im Buch Gamma, den klassischen modalen Operator Es ist unmöglich verwendet, um das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs zu formulieren. Es ist wohl nicht unmöglich, man soll aber nicht dasselbe Prädikat desselben Subjekts unter denselben Umständen prädizieren. Außerhalb der logisch-formalen Systeme, welche frei sind von Kontradiktionen, ist die Kontradiktion nicht logisch unmöglich, sondern rational unangemessen. Die Kontradiktion ist unangemessen, sie ist unpassend, es sollte sie nicht geben, es ist einfach Unsinn. Dies ist der umfassende und universale Sinn – so lautet die Definition – von Rationalität. Rational ist jede Rede, die sich der Kontradiktionen entledigen will. Aber wenn in der konkret existierenden Rede de facto Kontradiktionen vorkommen, was macht man dann? Was tun? Wenn es immer noch Kontradiktionen gibt, heißt das, daß die rationale Rede noch nicht vollständig ge127 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die drei Prinzipien

führt wurde; die Rationalität der Rede befindet sich noch in Konstruktion. Damit in diesen Fällen die Rationalität vollständig in der Rede installiert wird, muß man, ganz der großen aristotelischen Tradition gemäß, zwei Unterprinzipien anwenden, die implizit im Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch enthalten sind. Um die gegebene Kontradiktion zu überwinden, muß man das eine oder das andere anwenden. Nach der Tradition sollte man versuchen, das erste Unterprinzip anzuwenden. Erst wenn dieses nicht hilft, nimmt man das zweite.

3.4.2 Die Auflösung des einen Pols Das erste Unterprinzip des Prinzips des ausgeschlossenen Widerspruchs besagt, daß in vielen Fällen das Gesagte und das Dagegengesagte sich so gegenüberstehen, daß das eine wahr und das andere unwahr ist. Hier fordert die Rationalität der Rede, daß man den wahren Pol bewahre und den unwahren verwerfe. Dieses Unterpinzip besitzt keine universale Gültigkeit und ist nicht immer anwendbar. Die Auflösung des einen Pols durch den anderen geschieht manchmal, aber nicht immer, nicht notgedrungen. Wenn eine solche Auflösung geschieht, dann beginnt die Analytik ihren Marsch. Da wurzelt alles, was wir Analytik nennen. Aber wann geschieht die Auflösung des einen Pols? In welchen Fällen? Die Antwort darauf gibt uns die Tradition durch die Regeln des logischen Quadrats. a) Gesagtes und Dagegengesagtes können sich in einem kontradiktorischen Gegensatz befinden. Für diese Fälle gilt die Regel, daß zwei kontradiktorische Aussagen nicht gleichzeitig wahr und unwahr sein können. Wenn die eine wahr ist, ist die andere, die im Gegensatz dazu steht, immer unwahr. Und umgekehrt, wenn die eine unwahr ist, dann ist die andere wahr. Hier löst ein Pol den anderen völlig auf, wie man sieht. Eine der Aussagen bleibt als die rationale bestehen, die andere implodiert und muß aus der Rede geworfen werden. b) Gesagtes und Dagegengesagtes können sich in einem konträren Gegensatz befinden. Für diese Fälle gibt es zwei Regeln. Die erste Regel sagt: beim konträren Gegensatz ist, wenn eine Aussage wahr ist, die andere immer falsch. Hier löst ein Pol den anderen auf und schaltet ihn völlig aus wie bei den kontradiktorischen Gegensätzen. Die zweite Regel sagt: aus der Falschheit einer Aussage kann man nicht die Wahrheit der entsprechenden konträren Aussage ableiten. 128 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Kohärenzprinzip

Wenn die erste Aussage also falsch ist, kann die zweite Aussage sowohl wahr als auch falsch sein. Deswegen sagt man in der Tradition: Zwei konträre Aussagen können nicht gleichzeitig wahr sein, aber beide können sehr wohl falsch sein. Es ist unmöglich, daß beide wahr sind, aber es ist sehr wohl möglich, daß beide falsch sind. Das kann passieren, es passiert auch manchmal. Was kann man machen, falls beide Aussagen falsch sind? Sollen wir in dem Fall beide Aussagen verwerfen? Nein, so etwas soll man nicht tun. Beide Aussagen zu verwerfen hilft gar nichts, das bringt uns nicht weiter. Und wir müssen weitergehen. Das zweite Unterprinzip des Prinzips der ausgeschlossenen Kontradiktion zeigt uns, auf welche Art. Und hier, genau hier, wurzelt die Dialektik. c) Die entsprechenden Unterscheidungen zu machen gebietet uns dieses zweite Unterprinzip, welches implizit im Satz vom Widerspruch enthalten ist und detailliert von den griechischen und lateinischen Kommentatoren Aristoteles’ formuliert wurde. Es handelt sich um eine Anweisung. So wie jedes Haushaltsgerät oder jedes Medikament eine Gebrauchsanweisung hat, so gibt es auch Anweisungen bezüglich des Gebrauchs der Vernunft. Es handelt sich hier um eine dieser Anweisungen zum Gebrauch der Vernunft in Anbetracht von ganz spezifischen Schwierigkeiten. Falls während des Aufbaus der Rede eine Kontradiktion auftaucht, dann versucht man, das erste Unterprinzip anzuwenden. Wenn das möglich ist, dann wird der eine Pol der Gegensätze aufgelöst. Wenn man das nicht erreicht, wenn das nicht möglich ist, weil beide Pole falsch sind, dann muß man die entsprechenden Unterscheidungen im logischen Subjekt machen. Wenn wir die entsprechenden Unterscheidungen im logischen Subjekt der Prädikation machen, vermeiden wir, daß dasselbe Prädikat demselben Subjekt unter denselben Umständen zugesprochen und abgesprochen wird. Das kann man nicht machen. Indem man unterschiedene Aspekte ausarbeitet – was unabdingbar ist, um den Widerspruch zu überwinden –, wird das logische Subjekt der Prädikation verdoppelt. Im Mittelalter nannte man dies propositio explicativa, manchmal auch propositio reduplicativa. In dem Fall wird nicht dasselbe Attribut demselben Subjekt unter denselben Umständen sowohl zu- als auch abgesprochen, wohl aber unter verschiedenartigen Aspekten. Dieses zweite Unterprinzip des Prinzips des ausgeschlossenen Widerspruchs, das – wie das erste – keine umfassende Gültigkeit besitzt und nicht von jeher umsetzbar ist, bildet die Basis der Dialektik. Das ist es, was im folgenden gezeigt werden muß. 129 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die drei Prinzipien

Davor sollte man jedoch ein klassisches Beispiel aus der traditionellen Logik und Ontologie erwähnen und, Schritt für Schritt, entfalten. Alle Tische, die es gibt, sind einerseits existierend. Solange sie existieren, können sie nicht nicht-existieren. Andererseits jedoch sind diese Tische zufällige Wesen, und als solche können sie sowohl existieren wie eben auch nicht. Somit erscheinen das Gesagte und das Gegengesagte, These und Antithese: These:

Die zufällig existierenden Tische können nicht nichtexistieren. Antithese: Die zufällig existierenden Tische können eventuell nicht existieren. In der These wird die Unmöglichkeit der Nicht-Existenz behauptet, in der Antithese aber die Möglichkeit dieser Nicht-Existenz. In der These wird die Notwendigkeit behauptet, in der Antithese die Kontingenz. Zwischen Gesagtem und Gegengesagtem gibt es einen konträren Gegensatz und beide Aussagen, einfach so genommen, wie sie dastehen, sind falsch. Was tun? Die entsprechenden Unterscheidungen machen, so lehrt es die Tradition. Und auf diese Art werden zwei unterschiedliche Aspekte geschaffen, was den gesunden Menschenverstand wiederherstellt: Subjekt: die zufällig existierenden Tische Verdoppeltes Subjekt 1: solange es sie wirklich gibt Prädikat: können nicht nicht-existieren Subjekt: die zufällig existierenden Tische Verdoppeltes Subjekt 2: solange sie zufällig sind Prädikat: können eventuell nicht-existieren Es wurden die entsprechenden Unterscheidungen vorgenommen. Das logische Subjekt der Aussage wurde durch zwei propositiones explicativae, die ihm angefügt wurden, verdoppelt. Das ursprüngliche Subjekt wurde beibehalten (die zufällig existierenden Tische), aber durch die erklärenden Aussagen wurde es verdoppelt, und das logische Subjekt, welches eins war, wurde zu einem doppelten Subjekt. Auf die Art wird von nun an nicht mehr von demselben Subjekt und unter denselben Umständen sowohl die notwendige als auch die nicht-notwendige, d. h. die kontigente Existenz ausgesagt. Durch die 130 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Kohärenzprinzip

Verdoppelung des logischen Subjekts wurden zwei neue Aspekte geschaffen, die den vordem existierenden Widerspruch aufarbeiten und überwinden, so daß die konträren Pole auf einer höheren Ebene vereinigt werden. Allen zufälligerweise existierenden Tischen kommen sowohl Notwendigkeit als auch Kontingenz zu, nur unter verschiedenartigen Aspekten. Durch die durchgeführten Unterscheidungen wurde die zwischen zwei konträren Aussagen existierende Kontradiktion diskursiv bearbeitet und auf diese Weise überwunden. Dieser modus procedendi ist in der ganzen Tradition bekannt und, wie man weiß, wird er oft gebraucht. Nur daß wir uns meistens nicht bewußt sind, daß genau hier, an diesem Punkt, Analytik und Dialektik sich verknüpfen. Die Analytik unternimmt die entsprechenden Unterscheidungen und denkt, teils mit Recht, daß auf die Art alles richtig und korrekt geworden ist. Aber die Analytik betont da nicht die Einheit des logischen Ursubjekts, sondern die Duplizität der beiden neugeschaffenen Aspekte, d. h. die Dualität, die durch die Verdoppelung des Subjekts erzeugt wurde. Die Dialektik dagegen betont die Einheit des logischen Subjekts. Sie unterstreicht auch, wie die Analytik, die Dualität der konträren Pole, thematisiert aber nicht die Schaffung der zwei neuen Aspekte, die dem logischen Ursubjekt hinzugefügt wurden. Auf die Art übersieht die Analytik die Ureinheit und betrachtet das Subjekt nur als ein doppeltes, d. h. als zwei logische Subjekte. Umgekehrt thematisiert die Dialektik nicht die spezifische Art, wie die konträren Pole in der Synthese koexistieren, ohne daß es zu einer Implosion kommt. In den letzten hundert Jahren ist die Analytik, unter diesem Gesichtspunkt, noch mehr verarmt, denn sie setzt als logisches Subjekt etwas voraus, das bis ins letzte Detail determiniert ist. Die logische Analytik merkt heutzutage nicht, daß das logische Subjekt im Aufbau der argumentativen Rede oft eben nicht vollständig determiniert ist und insofern eine spätere Bestimmung braucht, eben durch die Schaffung neuer Aspekte, die ihm hinzugefügt werden und den Begriff präzisieren. Dieses logische Subjekt, welches im Prozeß seiner Schaffung betrachtet wird, war im Mittelalter evident, heute ist es leider unbekannt. Dadurch hat sich auch das Verbindungsglied zwischen Analytik und Dialektik verloren.

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4 Sein, Nichts, Werden

4.1 These – Alles ist Sein Im Anfang von allem ist das Sein. Das war so bei Parmenides und Heraklit, das ist so bei Platon, Aristoteles, Plotin und Proklos. Und das ist immer noch so bei Hegel. Das Studienobjekt der Philosophie war immer schon das Sein. Was ist das Sein? Das ist die Frage. Alles, was ist, sei es wirklich oder nur möglich, ist Sein. Alle Dinge, die es gibt, sind Sein, das ist klar. Aber auch die nur möglichen Dinge sind Sein. Möglichkeiten, falls sie als solche existieren, sind auch Sein: sie sind möglich. Also kommt man zu dem Schluß, daß alles Sein ist. Oder, wenn man die große Kunst der Majuskelschrift gebraucht: Alles ist Sein. Dies ist die erste These aller großen dialektischen Systeme. Und diese These, so wie sie dasteht, ist falsch, wie wir gleich sehen werden. Statt Alles ist Sein zu sagen, könnten wir auch Alle Dinge sind Sein sagen, oder Das Absolute ist Sein. Diese letzte Formel wird von Hegel aufgezeigt und in einem Anhang am Anfang der Logik der Enzyklopädie empfohlen. Aber in der Polemik gegen seinen Freund Schelling empfiehlt Hegel selbst, im Vorwort zur Phänomenologie, das Absolute nicht an den Anfang des Systems zu setzen, ohne daß dies angemessen vermittelt werde, d. h. ohne überzeugende Erklärungen und Begründungen. Das Absolute kann nicht plötzlich im System erscheinen, unvermittelt, wie aus der Pistole geschossen. Wer hat nun schließlich Recht, der Hegel aus der Phänomenologie oder jener aus der Enzyklopädie? Wir wollen als erstes den Kontext, in dem die Frage erscheint, erinnern: es handelt sich darum, das logische Subjekt der Prädikation zu thematisieren, welches für die Dialektiker immer verborgen ist, immer nur vorausgesetzt, ohne daß gesagt wird, von wem oder was man redet. Damit wir uns mit den Analytikern verständigen, damit sie verstehen, von wem und was wir Dialektiker reden, muß man deutlich und explizit das logische Subjekt der Prädikation und seinen 132 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

These – Alles ist Sein

entsprechenden Quantifikator vorstellen. Ohne diese Vorsichtsmaßnahme kehren wir zum Stadium der Verwirrung zurück, in welchem Analytiker und Dialektiker jeweils ihre eigene Sprache sprechen, ohne sich jedoch gegenseitig zu verstehen. Jeder sagt etwas anderes, und sein Gegenüber versteht nur Bla-bla. Wenn die Griechen die Sprache des anderen nicht verstanden, nannten sie ihn einen Barbaren, genau so, Bar-bar. Barbar kommt von Bla-bla und bedeutet genau das. Und die Sklavin Thrakia fällt ins Gelächter mit ein, beim Anblick der Verwirrung zwischen Analytikern und Dialektikern. Weil die Philosophen weiterhin in Löcher fallen. Um nicht in ein Loch zu fallen, beachte man: das logische Subjekt und sein entsprechender Quantifikator müssen ausgesprochen werden. Das Absolute ist Sein, Alles ist Sein. Aber was ist das Absolute? Was ist Alles? In diesen ersten Schritten der Dialektik bedeutet das Absolute noch nicht Gott. Der Begriff ist noch so weit und leer, daß man in ihm kaum eine Ahnung erkennt von jenem Absoluten, dem wirklich Absoluten, der am Ende des Systems als Gott auftreten wird. Es handelt sich zwar schon um dasselbe Absolute. Im Anfang ist es unbestimmt und leer, am Ende ist es bestimmt und überreich. Aber das alles, was wir vorwegnehmen, wissen wir noch nicht, wenn wir die ersten Schritte gehen. Deswegen ist es besser, zu sagen – was dasselbe ist – Alles ist Sein oder Alle Dinge sind Sein. Woher haben wir dieses logische Subjekt? Wie rechtfertigen wir es? Ganz einfach. Der Anfang eines kritischen Systems muß seit Descartes seine Voraussetzungen genau rechtfertigen. Das beste wäre wirklich, gar keine Voraussetzungen aufzustellen. Aber wie argumentiert man dann, wenn man keine Voraussetzungen hat? Wie führt man einen Beweis, ohne mindestens zwei Prämissen aufzustellen? Aristoteles hatte diese Frage bereits formuliert. Die Argumentationen hängen logischerweise von früheren Argumentationen ab, und diese von noch früheren und so weiter. Da man nicht bis ins Unendliche zurück kann, sagt Aristoteles, muß man in der Kette der Argumentationen irgendwo einen Anfang machen, muß man irgendeinen Anfang voraussetzen. Dieser logische Anfang, dieser Anfang in der Reihe der Argumentationen, wird von ihm das Prinzip genannt. Prinzip meint zwei Dinge. Prinzip ist Anfang. Prinzip ist ebenso Regel. Nach Aristoteles ist die Antwort auf die Frage nach dem ersten logischen Anfang, daß diese ersten Anfänge, die auch erste Prinzipien sind, weder eine Rechtfertigung haben noch eine brauchen. Der Stagirit zitiert als Erstes Prinzip, als den harten Kern der sogenannten 133 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Sein, Nichts, Werden

Ersten Philosophie, das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs. Da dieses das Erste Prinzip ist, muß es nicht bewiesen werden, es ist evident. Es genügt, mit dem inneren Auge zu schauen, und seine Wahrheit springt hervor. Evidenz kommt von videre (sehen). Und das Sehen kann etwas sehr Subjektives sein, denn – wie wir wissen – es gibt Illusionen. Lange vor Descartes wußte Aristoteles das bereits. Und zwar sehr gut. Im Buch Gamma der Metaphysik unternimmt er deshalb sieben Versuche, den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch zu rechtfertigen, das Erste Prinzip, welches gar keine Rechtfertigung bräuchte. Das Hauptargument ist im Grunde ein einziges. Der radikale Skeptiker, der das Prinzip der ausgeschlossenen Kontradiktion verneint, aber, nachdem er es verneint hat, weiterhin redet, argumentiert und irgendwelche Dinge behauptet, dieser Skeptiker setzt genau das voraus, was er vorhin verneint hatte, indem er weiterredet und argumentiert. In dieser darauffolgenden Rede erscheint genau das Verneinte wieder wie Phönix aus der Asche. Das einzige, was der radikale Skeptiker konsequent durchziehen kann, ist, völlig zu verstummen. Das gänzliche Schweigen ist die einzige Alternative für den, der das Grundprinzip jeder Rede verneint. Wer das Prinzip der ausgeschlossenen Kontradiktion verneint, verstummt und wird auf die Stufe der Pflanze herabgesetzt. Der eigene Sprechakt, durch den der Satz vom Widerspruch verneint wird, setzt diesen wiederum, indem er ihn verneint, voraus. Die aktuelle Philosophie hat auf herrliche Weise diese ersten Formen der Argumentation wiederaufgenommen. Ehre gebührt Robert Heiß, John Langshaw Austin und Karl-Otto Apel dafür, daß sie diese subtilen, aber höchst wichtigen Formen zu argumentieren wiederentdeckt haben, besonders diejenigen des sogenannten performativen Widerspruchs. Ein einfaches Beispiel: Hänschen steht vorm Kühlschrank und nascht von den Marmeladen der Familie. Die Mutter hört von weitem ein verdächtiges Geräusch und fragt: Ist da jemand? Hänschen antwortet schnell: Nein, nein, hier ist niemand. Der eigene Sprechakt verneint hier den ausgesagten Inhalt. Das ist ein performativer Widerspruch. Der Sprechakt stellt einen Inhalt vor – Hier ist niemand –, der von der Existenz der Rede selbst verneint wird. Noch ein Beispiel performativer Kontradiktion: auf einem Blatt Papier liest man den Satz Hier steht nichts geschrieben. Der in der Aussage ausgedrückte Inhalt wird dementiert durch die Existenz der auf dem Blatt aufgeschriebenen Buchstaben. Bei Aristoteles wird das 134 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

These – Alles ist Sein

Prinzip der ausgeschlossenen Kontradiktion durch eine solche performative Kontradiktion gerechtfertigt. Wer dieses verneint und dennoch weiterredet, setzt durch seine Sprechakte genau das wieder in Szene, was verneint worden war. Dieser subtile, aber sehr eindrückliche Beweis steht bereits im Buch Gamma der Metaphysik. Eine nicht ganz gleiche, aber doch sehr ähnliche Art von Argumentation ist die Widerlegung des Radikalen Skeptizismus. Wenn jemand sagt und behauptet: Es gibt keine wahre Aussage, gerät er in Selbstwiderspruch und widerlegt sich selbst. Indem er diese universal-negative Aussage ausspricht und als wahr ausgibt, stellt er zumindest genau die Aussage als wahr hin, die er ausspricht. Das heißt, er müßte sagen: Es gibt keine wahre Aussage, außer genau dieser. Aber wenn genau diese Aussage wahr ist, dann gibt es doch mindestens eine wahre Aussage, und dann ist es falsch, daß es keine wahre Aussage gibt. Und was hat dies alles mit der ersten These des dialektischen Systems Alle Dinge sind Sein zu tun? Damit diese Aussage als eine These des Spiels der Gegensätze funktionieren kann, muß sie als falsch aufgezeigt werden. Wie macht man das? Wie zeigt man die Falschheit dieser These auf? Die Falschheit einer These ist nicht einfach gegeben, sie kann nicht ohne eine kritische Rechtfertigung zugegeben werden. Und da eben stellt sich die Frage auf: wie kann man ganz am Anfang bereits die Falschheit der These rechtfertigen? Und, zurück zur vorherigen Frage, welche noch nicht beantwortet wurde: wie rechtfertigt man den Gebrauch dieses logischen Subjekts Alle Dinge? Da kommen subtilere Formen der Argumentation ins Spiel. Die sonst gebrauchten, syntaktischen Mechanismen der Argumentation stehen hier noch nicht zur Verfügung, um das Argument zu strukturieren. Wir haben auch noch keine Voraussetzungen, die wir als wahr annehmen könnten. Also wie kann man denn argumentieren? Da müssen wir tiefer greifen und uns auf der Ebene der Semantik und der Pragmatik bewegen. Die Semantik rechtfertigt für uns den Gebrauch von Alle Dinge als logisches Subjekt der Prädikation, die Pragmatik zeigt uns den in der These enthaltenen Widerspruch und damit ihre Falschheit. Semantik ist die Lehre der Zeichen. Worauf deutet ein Zeichen? Was bedeutet ein Zeichen? Was ist die Bedeutung von Alle Dinge? Wir dürfen natürlich voraussetzen, daß wir wissen, was die Dinge sind, das was uns umgibt, das was wirklich und möglich ist in der Welt, in der wir leben. So weit, so gut. Dinge sind Dinge, irgend135 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Sein, Nichts, Werden

welche Dinge, in einem ganz weiten und allgemeinen Sinn. Aber was meint Alle? Was bedeutet der universale Quantifikator? Setzen wir eigentlich nicht von Anfang an einen unangemessenen Begriff von Ganzheit voraus? Heidegger erhebt diesen Einwand gegen die großen Dialektiker der Tradition, besonders gegen Hegel. Schafft man nicht gerade durch diese von Anfang an vorausgesetzte Ganzheit den intellektuellen und politischen Totalitarismus der Dialektiker herbei, besonders unter den Hegelianern? Hockt darin etwa nicht, implizit und noch nicht ganz herausgearbeitet, der politische Totalitarismus des Stalinismus? Stalin sieht sich als Nachfolger Lenins, welcher sich als Nachfolger Karl Marx’ wähnt, und dieser wiederum von Hegel. Ist der Totalitarismus in der politischen Philosophie nicht von Anfang an in dieser Logik eingebaut, in diesen ersten Schritten des Systems? Nein, die in diesem ersten Anfang erscheinende Ganzheit im logischen Subjekt Alle Dinge ist etwas völlig Eindeutiges, das Schritt für Schritt gerechtfertigt werden kann und muß. Diese Rechtfertigung kann freilich nicht syntaktisch sein. Sie ist semantisch. Was bedeutet Alle Dinge? Wohin zeigt man, wenn man so etwas sagt? – Da ein System, das sich selbst kritisch wähnt, nichts voraussetzen kann, fangen wir halt an, ohne irgendetwas vorauszusetzen, absolut nichts. Indem wir das auf die Art sagen, setzen wir nichts Bestimmtes voraus. Wir setzen keine Stühle voraus, keine Tische, Computer, Götter usw. Aber indem wir sagen, daß wir nichts voraussetzen, zeigen wir auf einen leeren Raum, in dem es tatsächlich nichts Bestimmtes gibt, in dem jedoch Platz wofür auch immer ist. Wer einen weiten Begriff benutzt, wer auf nichts Bestimmtes deutet, wer weder etwas Bestimmtes bedeutet noch voraussetzt, zeigt auf einen riesigen leeren Raum, in den alle bestimmten Dinge hineingestellt werden können. Nichts Bestimmtes vorauszusetzen bedeutet, alles auf unbestimmte Form vorauszusetzen. Nehmen wir ein einfacheres Beispiel: Stuhl und Nicht-Stuhl. Stuhl ist ein bestimmtes Ding, Nicht-Stuhl ist eine strikte Verneinung dieses Bestimmten. Alle Dinge, die nicht Stuhl sind, werden in den weiten Begriff Nicht-Stuhl eingebunden. Die strikte Verneinung von etwas Bestimmtem ist immer ein großer und leerer Raum, in den alle anderen existierenden und möglichen Dinge hineinpassen. Wer bestimmte Voraussetzungen verneint, stellt die Ganzheit der unbestimmten Voraussetzungen auf. Stuhl und NichtStuhl, die bestimmten Voraussetzungen und Alles-was-nicht-bestimmte-Voraussetzung-ist. Der Begriff von Nicht-Voraussetzung ist extrem weitläufig. Alles, alle Dinge sind da inbegriffen. Und siehe, 136 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

These – Alles ist Sein

da erscheint aufs Neue der Begriff Alles oder Alle Dinge. Wie durch Zauberei. Und ist das nicht gefährlich? Ist das nicht fehlende Kritik? Nein, es handelt sich um einen Begriff, der semantisch gerechtfertigt ist. Wer nichts Bestimmtes voraussetzt, setzt alles auf unbestimmte Art voraus. Es ist so, wie wenn wir eine gedankliche Trennlinie ziehen und links von ihr alle existierenden und möglichen Dinge aufstellen würden. Dann bliebe, rechts von dieser Linie, ein riesiger leerer Raum übrig. Alle Dinge sind links aufgestellt. Das ist die Voraussetzung. Die Aufgabe der Philosophie ist es, rechts der imaginären Linie alle Dinge wiederherzustellen, die zuerst links vorausgesetzt und aufgestellt worden waren. Diese Aufgabe der Wiederherstellung ist keine reine Kopie. Wenn sie Kritische Philosophie sein will, so wie wir das wirklich vorhaben, dann muß jedes Teil bei der Wiederherstellung höchst sorgfältig untersucht werden, um festzustellen, wie es zu den anliegenden Teilen paßt – Kohärenzprinzip – und, letztens, zu dem globalen Sinn. Auf die Art erscheint Teil für Teil rechts der imaginären Linie ein großes Mosaik, welches das philosophische System ist. Was ist die Regel der Wiederherstellung? Nur eine, eine einzige, jene des Universalen Kohärenzprinzips, das wir auch Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs nennen. Und so wird der Gebrauch des logischen Subjekts der thetischen Aussage Alles oder Alle Dinge semantisch gerechtfertigt. Die von Anfang an hier aufgestellte und jetzt kritisch wiederaufgestellte Ganzheit ist etwas, das sich semantisch aufdrängt. Wer, um noch kritischer zu sein, unsere Argumentation verneinen will, wird immer eine Verneinung machen, und so genau jene Ganzheit schaffen und voraussetzen, die er verneinen will. Alles klar, soweit, zum logischen Subjekt der ersten Prädikation des Systems. Aber wie erweist man die Falschheit dieser These? Mittels der pragmatischen Kontradiktion. Alles ist Sein, Alle Dinge sind Sein. Das Sein, das hier als logisches Prädikat erscheint, ist die einfachste Bestimmung. Wenn man von etwas nur sagt, daß dieses etwas das Sein ist, dann bestimmt man dieses etwas als ein weites und leeres Unbestimmtes. Denn Sein ist ein ganz weiter und fast leerer Begriff. Die pragmatische Kontradiktion besteht genau darin: man will etwas bestimmen und, damit das klappt, sagt man, daß dieses etwas das Sein ist, d. h. ein unbestimmtes, leeres Etwas. Man bestimmt etwas, indem man sagt, daß dieses Etwas unbestimmt ist. Man sieht hier wieder die performative Kontradiktion. Der Sprechakt und die Intention des Sprechenden 137 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Sein, Nichts, Werden

stehen in Kontradiktion zu dem, was tatsächlich gesagt wurde. Wie Hänschen, wenn er sagt: Ich spreche nicht. Da die Falschheit der These erwiesen wurde, können wir mit ihr nicht weitermachen. Man kann nicht in der Falschheit verbleiben. Die logische Explosion, die durch die performative Kontradiktion zustandekommt, schleudert uns fort. Wohin? Zur Antithese.

4.2 Die Antithese – Alles ist Nichts Die These Alles ist Sein ist falsch. Die Explosion wirft uns aus der thetischen Position hinaus, und wir müssen nun eine Alternative formulieren. So entsteht die antithetische Aussage Alles ist Nichts, Alle Dinge sind Nichts. Alle Dinge, wenn sie werden, sind Sein. Alle Dinge, wenn sie nicht mehr sind, werden zu Nichts. Sein ist das Werden, Nichts ist das Nicht-mehr-Sein. Sein ist das Positive, Nichts ist das Negative. Das Sein ist das Erscheinen, das Nichts ist das Verschwinden. – Wie und in welchem Sinn sind alle Dinge Nichts? Alle Dinge sind Nichts, denn vorerst wurden alle Dinge in dieser Anfangsbestimmung der Rekonstruktion des Mosaiks, in der wir uns befinden, nur als Sein bestimmt. Dieses Sein ist leer und unbestimmt, es ist etwas Unbestimmtes, ein Nicht-Bestimmtes, ein Nichts der Bestimmung. – Wenn der Kellner am Ende einer Mahlzeit fragt und wir antworten: Nein, wir wollen nichts mehr, werden wir deshalb weder zu Nihilisten noch denken wir daran, mit dem Leben und dem Universum Schluß zu machen. Ganz im Gegenteil, wenn wir Nichts sagen, meinen wir genau das Umgekehrte dessen, was der Kellner gefragt hatte. Wünschen Sie noch etwas? Nein, wir wollen nichts mehr. Das Nichts ist zum Etwas nicht kontradiktorisch, sondern konträr. In diesem Sinn sagen wir Alle Dinge sind Nichts. Die These, daß alle Dinge Sein seien, reines Sein, ist falsch. Genauso falsch ist die Antithese, daß alle Dinge nur Nichts seien, reines Nichts. Diese antithetische Aussage ist ebenso falsch. Die Falschheit der Antithese ist durch die in ihr geschehene Implosion erwiesen. Wie könnte man behaupten, daß: Alles ist Nichts, daß: Alle Dinge sind Nichts, wenn wenigstens unser Sprechakt und unser Sagen ein Sein sind? Wenn er, der Sprechakt, mehr ist als Nichts? Zumindest unser Denk- und Sprechakt ist und existiert. Also ist es nicht wahr, daß Alles Nichts ist, daß Alle Dinge Nichts sind. In der Antithese ist die 138 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Synthese – Alles ist Werden

Gewalt der Explosion, wie man sieht, immer größer als in der These. Dies ist eine der Facetten der ungeheuren Kraft der Negation. Man achte gut auf eines: das logische Subjekt der Prädikation wurde nicht verändert. Ebensowenig der Quantifikator. Sowohl in der These wie in der Antithese sind das logische Subjekt und der Quantifikator weiterhin dieselben. Das heißt, es handelt sich um konträre, nicht um kontradiktorische Aussagen. Und deshalb können die Analytiker dieser Argumentation nichts entgegensetzen. Zwei konträre Aussagen können gleichzeitig falsch sein. Das haben wir im logischen Quadrat gesehen: zwei kontradiktorische Sätze können nicht gleichzeitig falsch sein, aber zwei konträre können das wohl. Dagegen gibt es nichts zu sagen. Niemand redet dabei Unsinn. Die These ist falsch, die Antithese ist auch falsch. Was ist zu tun? Was kann man tun? Die Analytiker würden sagen: wir müssen die entsprechenden Unterscheidungen machen. Die Dialektiker sagen: Laßt uns zu einer Synthese finden.

4.3 Synthese – Alles ist Werden Sowohl für den Analytiker wie für den Dialektiker gilt die Regel, daß ein Widerspruch, insofern es ihn wirklich gibt, bearbeitet und überwunden werden muß. Die Analytiker machen diese Überwindung, indem sie zwei Aspekte im logischen Subjekt differenzieren, d. h. indem sie zwei verdoppelnde Aussagen bilden. Die Dialektiker, da sie über kein logisches Subjekt verfügen – dieses ist ja nicht explizit ausgedrückt –, suchen einen neuen Begriff, der synthetisch sein muß. Angesichts der Falschheit von Alle Dinge sind Sein und Alle Dinge sind Nichts würden die Analytiker die entsprechenden Unterscheidungen im logischen Subjekt vornehmen, um den Widerspruch zu überwinden: Subjekt: Subjekt, verdoppelt: Prädikat:

Alle Dinge, sofern sie entstehen und werden, sind Sein

Subjekt: Subjekt, verdoppelt: Prädikat:

Alle Dinge, sofern sie vergehen und nicht mehr sind, sind Nichts

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Sein, Nichts, Werden

Die Dialektiker jedoch, die kein ausgesprochenes logisches Subjekt haben, müssen einen synthetischen Begriff suchen, um den Widerspruch zu überwinden, einen Begriff, der weder nur auf das reine Sein deutet noch auf das reine Nichts, sondern auf beide gleichzeitig, wenn auch unter verschiedenen Aspekten. Der Dialektiker geht zum großen Warenkorb der vorausgesetzten Dinge, links von der imaginären Linie, und sucht sich da einen Begriff heraus, der sowohl das Sein als auch das Nichts bedeutet, so daß beide ineinanderfließen, einer den anderen bestimmt, ohne daß es einen ausschließenden Widerspruch gibt. Und da findet er den Begriff vom Werden. Werden ist das Sein, das sich ins Nichts verwandelt, es ist auch das Nichts, das zum Sein wird. Werden – Hauptthema von Heraklit –, ein bereits vorliegender Begriff in Sprache und Geschichte, ist der Begriff, der die Funktion der Synthese zwischen Sein und Nichts übernimmt. Im Werden sind beide im Einklang. Alle Dinge sind im Werden. Alles rührt sich, alles bewegt sich. Die Dinge werden geschaffen und kommen zum Vorschein. Sie sterben und verschwinden. Kommen und gehen, auftreten und verschwinden, geboren werden und sterben. Die Welt ist in Bewegung, das All ist in ständigem Werden. Von daher erkennt man sofort, daß es eine Evolution gibt, daß es in der Philosophie notwendig ist, von der Evolution zu sprechen. Und das werden wir weiter unten im Kapitel Natur und Evolution tun.

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5 Dialektik und Antinomie

5.1 Die Logik der antinomischen Struktur Die logischen Antinomien, von der Antike her bekannt, wurden von den Philosophen als kleine Ungeheuer, die in weiter Ferne am Rande der Welt der Vernunft ihr Unwesen treiben, angesehen und behandelt. Abartigkeiten wie diese gab es schon immer in der Natur und waren, besonders im Mittelalter und in der Renaissance, Gegenstand allgemeiner Neugier. Riesen, Zwerge, doppelköpfige Kälber und ähnliches wurden gesammelt und in einer Art Kuriositätenkabinett ausgestellt. Die logischen Antinomien waren anfangs nicht vielmehr als dies für die Philosophen. Alle kannten die Antinomie des lügenden Kreters: Ein Kreter sagt »Alle Kreter lügen«. Wenn alle Kreter lügen, und wenn dies von einem Kreter gesagt wird, dann ist das eine Lüge. Da es eine Lüge ist, stimmt es nicht. Also stimmt es nicht, daß alle Kreter lügen. Folglich ist es wahr, daß einige Kreter die Wahrheit sagen. Aber wenn das stimmt, und wenn dieser Kreter, der das behauptet, die Wahrheit sagt, dann stimmt eben auch, was er sagt. Dann stimmt es, daß alle Kreter lügen. Doch wenn es stimmt, daß alle Kreter lügen, dann lügt auch dieser Kreter. Aber wenn er lügt, dann stimmt es nicht, daß die Kreter lügen. Also sprechen die Kreter die Wahrheit. Und so weiter. Der Hörer wird in einer unaufhörlichen Bewegung von der Wahrheit in die Falschheit und von der Falschheit in die Wahrheit getrieben. Seit der Antike wird die logische Struktur der Antinomie des Kreters in ihrer ersten Ausformulierung intensiv diskutiert und untersucht. Im Mittelalter beschäftigen sich Petrus Hispanus und Paulus Venetus ausführlich mir ihr. Paulus Venetus gelangt sogar zu einer Aufstellung von 14 Lösungen, die damals vorgeschlagen wurden, um dem Problem Abhilfe zu verschaffen. Im 20. Jahrhundert wird die Frage wieder aufgenommen; da wird dann die Antinomie des Super-Lügners formuliert, die logischerweise härter tönt als die Antinomie in ihrer ersten Version. Der Super-Lügner, Antinomie 141 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Antinomie

stricto sensu, weist eine logische Struktur auf, die uns ausweglos zwischen Wahrheit und Unwahrheit schwanken läßt: Wenn p wahr ist, dann ist p falsch, wenn p falsch ist, dann ist p wahr. Wer in eine solche antinomische Struktur gerät, wird von ihr gefangen und kommt nicht mehr heraus. In unaufhörlicher Bewegung wirft ihn die Wahrheit zur Falschheit hinüber, und diese wirft ihn zurück zur Wahrheit. Wenn sich die Frage der Antinomien auf die Antinomie des lügenden Kreters und die eine oder andere Antinomie außer dieser beschränken würde, gäbe es vielleicht kein größeres Problem für die Logik und die Rationalität der Vernunft. Bizarre und skurrile Abartigkeiten, wie man sie in der Natur beobachtet, hat es schon immer gegeben. Wenn sie nicht in großer Zahl vorkommen und randständig bleiben, können sie ignoriert werden. Das Problem tritt auf, wenn man feststellt, daß es sich nicht um ein isoliertes Randphänomen der rationalen Welt handelt, sondern um etwas ganz Zentrales, etwas, das die Grundbegriffe der Logik und der Mathematik in Frage stellt und somit auch jene der Philosophie im Allgemeinen. Diese Veränderung, bei der das Phänomen der Antinomien aus der Peripherie heraus ins Zentrum der Aufmerksamkeit tritt, geschieht durch Frege und Russell bereits im 20. Jahrhundert und prägt auf grundlegende Weise die aktuelle Auffassung von Rationalität. Wenn Frege die Grundlegung der Mathematik mittels der Logik aufstellt, unterscheidet und benutzt er diverse Grundkonzepte. Es gibt Dinge oder Objekte, es gibt Klassen, die Objekte enthalten, es gibt auch Klassen, die statt Objekte Klassen enthalten. So erscheint im harten Kern der Argumentation von Frege der Begriff von einer Klasse, die wiederum Klassen enthält, und, auf dem Höhepunkt schließlich, von der Klasse, die alle anderen Klassen enthält. Bis hierher ist alles in Ordnung. Diese Pyramidenstruktur, in der die Konzepte sich ordnen und hierarchisch konstruieren, ist den Logikern seit Platon und den neuplatonischen Philosophen, besonders seit Porphyrius, schon lange bekannt. Die Neuigkeit, die große Neuigkeit und das große Problem, bestehen in folgendem: es gibt Klassen, die sich selbst enthalten, und ebenso gibt es Klassen, die sich nicht selbst enthalten. Substantiv ist z. B. eine Klasse und gleichzeitig etwas, das in dieser Klasse enthalten ist; denn der Begriff Substantiv ist ja selber ein Substantiv. So etwas gibt es, und es stellt kein Problem dar; es handelt sich um eine Klasse, die sich selbst enthält. Die Frage taucht auf, wenn man – und Frege brauchte das, um die Grundlegung der Mathematik zu schaffen – den Begriff jener Klasse aufbauen muß, die 142 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Logik der antinomischen Struktur

nicht sich selbst enthalten. Gehört eine solche Klasse zu jenen Klassen, die sich selbst enthalten, oder zu jenen, die sich nicht selbst enthalten? Wenn sie zur ersten gehört, dann gehört sie zur zweiten; wenn sie zur zweiten gehört, dann gehört sie zur ersten. Und ewig weiter so. Nun, zu welcher Klasse gehört sie am Ende? Es gibt dazu keine Antwort; die Oszillation zwischen Ja und Nein führt ins Unendliche und lähmt den Gedanken. Bertrand Russell ermittelte das Problem und richtete Freges Augenmerk darauf: die Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst als Element enthalten, ist ein antinomischer Begriff. Diese Klasse enthält sich, und gleichzeitig aber auch nicht. Schwankendes Ja und Nein, beide sich wechselseitig aufeinander beziehend, beide je aufeinander basierend, beide sich gegenseitig voraussetzend, ohne je ein Ende zu finden. Dies ist die erste große Antinomie, die in der aktuellen Philosophie gründlich bearbeitet und untersucht wird. Basierend auf der Antinomie der Leeren Klasse baut Russell die sogenannte Antinomie der Wahrheit auf, die eigentlich Antinomie der Unwahrheit heißen sollte. Sie besteht aus folgender Aussage: (p) Diese Aussage p ist falsch. Wenn diese Aussage wahr ist, dann ist sie, was sie ist, d. h. sie ist falsch. Aber wenn sie falsch ist, dann ist sie wahr, denn sie sagt ja, daß sie falsch ist. Das heißt, die Wahrheit von p impliziert die Unwahrheit von p, und umgekehrt impliziert die Unwahrheit von p die Wahrheit von p. So erkennt man die schwankende Bewegung zwischen Wahrheit und Unwahrheit, ohne daß man je zu einer zufriedenstellenden Lösung kommt. Die Antinomien müssen gelöst werden. Man kann nicht gleichzeitig Ja und Nein sagen. Man kann nicht etwas bejahen und gleichzeitig, unter denselben Umständen abstreiten. Das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs darf nicht verneint werden, wenn es nicht zum totalen Kollaps der Rationalität kommen soll. Um die Frage der Antinomien zu lösen, wurde irgendwann ganz zu Anfang vorgeschlagen, daß die Bildung autoflexiver, d. h. selbstbezüglicher Begriffe und Aussagen verboten werden sollte. Dieses allgemeine Verbot, selbstbezügliche Konstruktionen zu gebrauchen, fand Anklang bei vielen guten Autoren, wie z. B. Joseph M. Bochenski und Albert Menne. Im Tractatus übernimmt und verficht Ludwig Wittgenstein das strenge Verbot der Autoflexion. Als er aber in Klammern an dieser Stelle hinzufügt: »Da haben wir die ganze Typentheorie«, wird Wittgenstein dem Gedanken seines Meisters Bertrand Russell, welcher eine weitaus komplexere und korrektere Theorie vorstellt, nicht gerecht. 143 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Antinomie

Das Verbot, Selbstbezogenheiten zu machen, löst wohl die Frage der Antinomien, denn ohne Selbstbezogenheit gibt es wirklich keine Antinomien. Nur daß die Arznei zu stark ist; sie heilt zwar die Krankheit, tötet aber den Patienten gleich mit. Wenn wir das allgemeine Verbot der Autoflexion ernstnehmen, zerstört ein solch radikales Verbot viele für die Philosophie wichtige Konzepte, wie z. B. den Begriff von Selbstbewußtsein. Das Verbot der Selbstbezogenheit, als ein strenges und generelles Prinzip aufgefaßt, wird unmöglich, weil es wissenschaftlich unabdingbare Begriffe disqualifiziert; mehr noch, es wird unmöglich, weil die eigene natürliche Sprache in ihrer Struktur selbstbezüglich ist. Die Grammatik der portugiesischen Sprache muß nicht, wie es früher üblich war, auf Latein geschrieben werden, sie kann sehr wohl auf Portugiesisch geschrieben werden; das Portugiesisch ist da selbstbezüglich. Aber wenn die Selbstbezogenheit nicht verboten werden kann, was macht man dann, um die Antinomien zu vermeiden? Da die Vorstellung eines allgemeinen Verbots der Selbstbezogenheiten, weil einfach unmöglich, aufgegeben werden mußte, ist der erste große Fortschritt in der aktuellen Diskussion der logischen Antinomien zweifellos die Typentheorie von Bertrand Russell. Mit dem spezifischen Zweck, Antinomien vom Typ der Antinomie des Lügners, der Antinomie der Leeren Klasse und der Antinomie der Wahrheit zu vermeiden, führt Bertrand Russell die Unterscheidung von Typen ein, d. h., von logischen Ebenen. Auf einer ersten Ebene gibt es die Wahrheit, auf der zweiten Ebene befindet sich die Unwahrheit. Wahrheit und Unwahrheit koexistieren wohl, aber auf verschiedenen Ebenen. So rettet sich die Rationalität, so erfüllt sich das, was vom Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs verlangt wird. Sir Bertrand tat genau das, was das verehrte Prinzip gebietet: wenn ein Widerspruch auftritt, muß man die entsprechenden Unterscheidungen machen. Im Fall jener Antinomien, die ein logisch autoflexives Subjekt besitzen, führt Russell nicht logische Aspekte desselben logischen statischen Subjekts ein, sondern ein logisches Subjekt, das sich durch unterschiedliche Ebenen oder Typen hindurch bewegt. Die Lösung ist einfach und glänzend. Ich denke, daß Wittgenstein, als er den Tractatus schrieb, nicht den harten Kern von Bertrand Russells Lösung erfaßt hat. Alfred Tarski hingegen hat den zentralen Punkt der Typentheorie erfaßt und entwickelte darauf aufbauend die allgemein bekannte Theorie der verschiedenen logischen Ebenen, die es in jeder Sprache gibt. Es gibt eine Ebene Null, auf der sich die Dinge befinden; 144 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Logik der antinomischen Struktur

es gibt eine erste Sprachebene, auf der die Bezeichnungen nicht die Dinge sind, sondern auf jene Dinge hinweisen, die sich auf der Ebene Null befinden; es gibt noch eine zweite Ebene, auf der die Bezeichnungen nicht auf Dinge hinweisen, sondern auf Bezeichnungen der ersten Ebene; es gibt eine dritte Ebene, auf der die Bezeichnungen sich nur auf jene der zweiten Ebene beziehen. Und so weiter. Auf der Ebene Null gibt es einen Tisch, welcher ein Ding ist; auf der ersten Ebene steht das Wort Tisch; auf der zweiten Ebene sagt man, daß Tisch ein Substantiv ist usw. Die Auslegung Tarskis verhalf der Typentheorie Bertrand Russells zu einem spezifisch linguistischen Inhalt und nahm ihr die Eigenschaft einer nur ad hoc gemachten Theorie, die nur dazu dienen würde, die Frage der Antinomien zu lösen. Mittels Tarskis Theorie von den Sprachebenen wird es klar, warum Probleme auftauchen, wenn wir achtlos von einer Sprachebene zur anderen überwechseln. Viele der aktuellen Logiker beschäftigen sich wieder mit dem Problem der Antinomien. Alle machen sie weiter auf dem von Russell und Tarski begonnenen Weg. Die Lösung ist im Prinzip immer dieselbe: Ja und Nein werden nicht auf derselben Ebene oder unter denselben Umständen behauptet. Es handelt sich um verschiedene Ebenen, um unterschiedliche Aspekte. Die für die Struktur der Antinomien typische Oszillation zwischen Ja und Nein, zwischen Wahrheit und Unwahrheit, findet eine rationale Erklärung, weil Ja und Nein auf anderen Ebenen zu Hause sind. So wird der Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs nicht unterlaufen. Ganz im Gegenteil, es wurde genau nach seinem Gebot gehandelt: man unternahm eine angemessene Unterscheidung der Aspekte. In einem Aufsatz von 1985 unterscheidet Ulrich Blau sechs logische Ebenen, jede mit einem bestimmten Wahrheitswert. Nach Blau besitzt die antinomische Aussage folgende Wahrheitswerte: wahr, unwahr, neutral, offen, nichtwahr und nicht-unwahr. Wahrheit und Unwahrheit sind die gebräuchlichen Wahrheitswerte. Der Wahrheitswert neutral wird, so Blau, auf vage und sinnlose Kontexte angewandt. Der Wahrheitswert offen wird auf Rück- und Fortschritte ad infinitum angewandt. Der Wahrheitswert nicht-wahr läßt offen, ob eine Aussage falsch oder neutral ist. Der Wahrheitswert nicht-unwahr läßt offen, ob die Aussage wahr ist oder neutral. Man erkennt hier, wie raffiniert die Theorie entwickelt wurde, die anfangs nur zwischen zwei oder drei Ebenen unterschied. Nach Blau bewegt sich die Antinomie von einer Ebene zur anderen, von einem Wahrheitswert zum anderen. Der 145 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Antinomie

große Vorteil der von Blau vorgestellten Theorie ist der, daß die antinomische Aussage auf jeder Ebene einen einzigen Wahrheitswert besitzt. Es gibt weder Wahrheit noch Unwahrheit auf derselben Ebene. Nie sagt man gleichzeitig und unter denselben Umständen Ja und Nein.

5.2 Die antinomische Struktur und die Dialektik Die Diskussion unter den Logikern über die Struktur der Antinomien durchläuft das ganze 20. Jahrhundert: Frege, Russell, Bochensky, Tarski, Blau und viele andere nahmen an der Debatte teil. Es ist nur natürlich, daß an der Dialektik interessierte Philosophen sich diesem unter den Logikern so heiß diskutierten Thema, das ein so faszinierendes Phänomen darstellt, zuwenden. Es gibt logische Strukturen, in denen Wahrheit und Unwahrheit sich gegenseitig implizieren; es gibt Strukturen, in denen eine Schwankung zwischen Wahrheit und Unwahrheit geschieht, zwischen Ja und Nein. Ist das etwa keine Dialektik? Ist Dialektik denn nicht genau das? Liegt nicht in der antinomischen Struktur der logische Kern aller Dialektik? So in den Horizont der logischen Diskussion über die Antinomien gestellt, erscheint die Frage der Dialektik als etwas Selbstverständliches. Hegel hatte schon gesagt, daß die Antinomie die bevorzugte Form ist, die Wahrheit vorzuzeigen. Die Antinomie, an die Hegel denkt, ist jene, die von Kant in der transzendentalen Dialektik erarbeitet und vorgestellt wurde. Im 20. Jahrhundert ist Antinomie etwas sehr genau Definiertes, es ist die Antinomie der Leeren Klasse, es ist die Antinomie der Wahrheit von Bertrand Russell. Auf sie beziehen sich die heutigen Philosophen, wenn sie sich vorstellen, in der antinomischen Struktur einen roten Faden zu entdecken, der es erlaubt zu sagen, was Dialektik sei. Ist die Dialektik der klassischen Autoren logisch im aktuellen Sinn? Robert Heiß, Arend Kulenkampff, Thomas Kesselring und Dieter Wandschneider meinen, daß es so ist. Jede Dialektik, sagen sie, ist im Grunde immer eine Antinomie. Wer wissen will, was Dialektik ist, muß zuerst wissen, was Antinomie ist. Antinomisch sind jene Aussagen, welche, wahr seiend, falsch sind; und, falsch seiend, wahr sind. Robert Heiß ist kein Logiker, sondern Philosoph, einer, der sein ganzes Leben mit der Frage verbrachte, was Dialektik ist. Das große Ergebnis seiner Arbeit veröffentlichte er 1931 in einem sehr anregenden Buch namens Logik des Widerspruchs. In diesem wenig bekann146 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die antinomische Struktur und die Dialektik

ten Text wird die Struktur der Dialektik unter neuen Perspektiven und Gesichtspunkten beschrieben und analysiert, mit einem Scharfsinn und einer Sensibilität die wir unter den Zeitgenossen nur bei Dieter Henrich wiederfinden werden. Robert Heiß beschreibt und analysiert verschiedene negative autoflexive Strukturen, beginnend bei dem, was wir heute performativen Widerspruch nennen, über eine wunderbare Relecture des kartesischen Zweifels, der sich selbst auflöst, bis hin zur Antinomie der modernen Logiker in ihrem strengeren Sinn. Aber meines Wissens ist Arend Kulenkampff der erste, der die These aufstellt – das ist übrigens seine Doktorarbeit in Frankfurt, von Theodor Adorno betreut, aber von Robert Heiß inspiriert –, daß die antinomische Struktur den harten Kern aller Dialektik bildet. Dialektik, sagt Kulenkampff, ist entweder genau das oder eben gar nichts. Dies ist 1970 das Thema von Antinomie und Dialektik. Einige Jahre danach veröffentlicht Thomas Kesselring das Buch Die Produktivität der Antinomien (1984), in welchem er ausgiebig und in Einzelheiten die Idee wiederaufnimmt, daß die antinomische Struktur der Motor ist, der die Dialektik in Bewegung setzt. Kesselring beschreibt und ordnet die Antinomien, untersucht ihre Struktur, stellt ihre logische Struktur von autoflexiver Negation heraus und versucht von da aus, einige Teile des Hegelschen Systems zu rekonstruieren. Dieter Wandschneider führt 1995, im Buch Grundzüge einer Theorie der Dialektik, die Ausarbeitung der zentralen These von Kulenkampff und Kesselring fort. Die Dialektik besteht grundlegend aus der antinomischen Struktur, diese besteht aus der Oszillation zwischen Wahrheit und Unwahrheit, welche in den antinomischen Aussagen erscheint. Das, genau das ist Dialektik. Ähnlich dem, was Kesselring bereits unternommen hatte, versucht Wandschneider, aus seiner Theorie eine Rekonstruktion der Hegelschen Logik zu erarbeiten. Diese Rekonstruktion geht zunächst vom Sein und vom Nichts aus, durchläuft vier Gegensatzpaare und endet dann plötzlich. Ich selbst habe Wandschneider 1994 auf einem von ihm veranstalteten Kolloquium in Aachen sagen hören, daß der Versuch einer solchen Rekonstruktion am sechsten oder siebten Gegensatzpaar gescheitert sei. Warum?, fragte er. Warum hakt es hier? Warum kann man nicht weitergehen? Intellektuell ehrliche Fragen, von einem ehrlichen Intellektuellen formuliert. Ich denke, daß sowohl Kesselring als auch Wandschneider in vielen Dingen Recht haben. Aber bei der Hauptsache, so denke ich, 147 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Antinomie

haben sie daneben geschossen. Sie haben auf die verkehrte Seite gezielt, und die Dialektik in ihrer Größe und Flexibilität ist ihnen entwischt. Ich will versuchen, es zu erklären. Die Dialektik besteht im Spiel der Gegensätze. Alle wissen das. Aber worin besteht das Spiel der Gegensätze? Welche Gegensätze? Kontradiktorische oder konträre? Gehorcht die Dialektik dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch doch nicht? Die These, daß die Antinomien im Kern der Dialektik sind, besagt, erstens, daß die analytischen Philosophen bei der Verteidigung des Satzes vom Widerspruch nicht übertreiben und sich so sehr aufregen dürfen, denn selbst die Logiker erkennen an, daß es in einigen Fällen – in den Antinomien – eine Schwankung zwischen Wahrheit und Unwahrheit gibt. Es sind also nicht nur die Dialektiker, die das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs herausfordern, auch in der Logik gibt es Strukturen, die ihm auszuweichen scheinen. Man darf also die Dialektik nicht von vornherein und generell desavouieren. Dies ist die erste überbrachte Botschaft. Die zweite Botschaft, die in den Thesen von Kesselring und Wandschneider enthalten ist, besagt, daß der wahre Motor der Dialektik in der ständigen Oszillation zwischen Wahrheit und Unwahrheit besteht. Indem die Gegensätze immer zwischen Wahrheit und Unwahrheit oszillieren, gleichzeitig wahr und unwahr sind, müssen sie in Einklang gebracht werden, sagen sie. Dies geschieht in der dialektischen Synthese, behaupten sie. Nach Kesselring und Wandschneider hat die typische Bewegung der Dialektik ihren Ursprung in der Bewegung, die in der antinomischen Struktur existiert. Welche Bewegung? Die unaufhörliche Oszillation zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Kesselring und Wandschneider behaupten, daß das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs nicht abgelehnt werden darf. Man kann nicht etwas unter denselben Umständen behaupten und gleichzeitig verneinen. Aber, so geben sie zu bedenken, es geschieht in den Antinomien eine Bewegung, in der die Wahrheit einer Aussage ihre Falschheit impliziert, und umgekehrt. Es handelt sich da um andere Sprachebenen, behaupten beide Autoren. Und das ist es, was die umfassende Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch rettet. Die Erarbeitung dieser anderen Sprachebenen – die Typen von Russell, die Ebenen von Tarski – führt notwendigerweise dazu, die in Frage kommenden Ebenen und den Übergang von einer Ebene zur anderen genau zu beschreiben. Das ist maßgebend sowohl für Kesselring als auch für Wandschneider. Trotz dieser Unterscheidung von Sprach148 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die antinomische Struktur und die Dialektik

ebenen gibt es bei beiden Autoren eine deutlich bejahte Mischung der verschiedenen Ebenen; es gibt immer eine gewisse Überschneidung von Ebenen, die sie nicht näher definieren können. Außerdem bleibt Wandschneider bei der Rekonstruktion von Hegels Logik bereits nach einigen Schritten stecken. Was ist passiert? Was ist mißraten? Der bedeutendste Irrtum in den von Kesselring und Wandschneider vorgestellten Theorien besteht meiner Meinung nach darin, die ständige Oszillation zwischen Wahrheit und Unwahrheit als etwas Rationales anzusehen. Sie gaben der gefährlichen Faszination nach, die die Antinomien auszuüben scheinen, und haben sich dem Irrationalen ergeben. Von der Wahrheit zur Unwahrheit geworfen zu werden und umgekehrt, ohne je aufzuhören, ist nicht etwas rational Gutes, sondern das Übermaß der Unvernunft. Dieser Prozeß ad infinitum ist nicht etwas Gutes, sondern eine ungute Sache, es ist keine dialektische Synthese, sondern eine logische Absurdität. Niemand kann rationalerweise in der ständigen Schwankung zwischen Wahrheit und Unwahrheit leben, zwischen Ja und Nein. Das hat überhaupt keinen Sinn. Das ist total absurd. Das ist völlig irrational. Kesselring und Wandschneider haben das nicht bemerkt. Sie flirten mit dem Irrationalen. Sie haben nicht bemerkt, daß das Spiel der Gegensätze zwischen konträren Gegensatzpaaren abläuft, nicht zwischen kontradiktorischen. Sie wissen natürlich, daß zwei konträre Aussagen gleichzeitig falsch sein können, aber wurden sich nicht bewußt, daß genau da, und nur da, Dialektik geschieht. Sie haben nicht bemerkt, daß die Gegensätze in der Dialektik keine prädikative Sstruktur haben und daß deshalb die Synthese gemacht werden muß, nicht durch die Erstellung neuer Aspekte im logischen Subjekt, sondern durch die Einbringung eines neuen Prädikats, das die Falschheit sowohl der These als auch der Antithese in Betracht zieht und beide in einem neuen Begriff in Einklang bringt. Kesselring und Wandschneider haben nicht bemerkt, daß es wirklich Widersprüche geben kann, daß Widersprüche, wenn es sie gibt, überwunden werden müssen. Sie haben nicht bemerkt, daß die Frage der logischen Antinomien im 20. Jahrhundert gerade durch die Anwendung des alten aristotelischen Prinzips gelöst wird: Immer wenn es Widersprüche gibt, muß man die entsprechenden Unterscheidungen machen. Im Fall der Antinomien, die zirkuläre Strukturen sind, kann man diese Unterscheidung nicht nur am logischen Subjekt vornehmen, da das Subjekt, durch die Autoflexion, sich im 149 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Antinomie

Prädikat wiederholt. Die Logiker können dann die entsprechenden Unterscheidungen nicht nur im Subjekt machen, sie müssen zwischen Sprachebenen unterscheiden. Was wurde gemacht? Was ist passiert? Es hat wohl einen Widerspruch gegeben, einen potenzierten Widerspruch, und die Lösung war dieselbe wie immer: die entsprechenden Unterscheidungen machen. Da das logische Subjekt der Antinomien in kreisender Bewegung ist, wäre die Lösung, die Unterscheidung zwischen Typen oder Sprachebenen zu machen. Genau dies ist die von Russell, Tarski, Blau, von allen Logikern vorgeschlagene Lösung. Kesselring und Wandschneider machen ebenso diese Unterscheidung. Aber obwohl sie zwischen Ebenen unterscheiden wie die anderen, betonen sie die Mischung der Ebenen, die teilweise Überschneidung, die Übergangsbewegung von einer Ebene zur anderen. Was stimmt nun letztendlich? Was ist rational? Sprachebenen zu unterscheiden oder sie zu vermischen? Diese Verflechtung verschiedener in den Antinomien vorkommender Sprachebenen kann und muß, meiner Auffassung nach, im Nachhinein untersucht werden, damit sowohl Logik als auch Dialektik davon profitieren. Aber Dialektik macht man nicht nur hier. Dialektik ist viel breiter gefächert und umfassender. Das Netz der Dialektik ist nicht so eng, wie Kesselring und Wandschneider es sehen wollen, und deshalb bleibt Wandschneider so früh bei der Rekonstruktion der Hegelschen Logik stekken. Die Lösung der Antinomien ist nur ein spezifischer Fall einer viel größeren Lösung: die entsprechenden Unterscheidungen zu machen. Es gibt wohl, so denke ich, etwas Dialektisches in den Antinomien. Aber man kann die Dialektik nicht auf die Struktur der logischen Antinomien beschränken. Der Hauptirrtum von Kesselring und Wandschneider, ich sage es noch einmal, ist der gewesen, daß sie dachten, die ständige Oszillation zwischen Wahrheit und Unwahrheit, zwischen Ja und Nein, sei etwas Rationales. Eine solche Situation ist, rational betrachtet, untragbar und muß überwunden werden. Man kann nicht in so einer Schwankung leben. Sie muß überwunden werden. Diese Überwindung geschieht tatsächlich, wenn man die angemessenen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Sprachebenen macht. Die Logiker des 20. Jahrhunderts haben in der Hinsicht Recht. Die Philosophen, die mit der Irrationalität der Antinomien liebäugeln und die Struktur der Dialektik mit der Struktur der logischen Antinomien identifizieren, müssen gewarnt werden, daß die in den Antinomien auftretende 150 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die antinomische Struktur und die Dialektik

Oszillation, rational betrachtet, so abartig ist wie der processus ad infinitum der klassischen Autoren. Das ist keine Dialektik; Dialektik tritt gerade erst dann auf, wenn man dies überwindet.

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III Ein Systemprojekt

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1 Dialektik und Natur

1.1 Philosophie als Systemprojekt Da die Dialektik mit Gegensätzen arbeitet, die nur konträr sind, ist sie immer in der kontigenten Geschichtlichkeit der Sprache und der Welt, in der wir leben und denken, eingebettet. Die Antithese ist im Spiel der Gegensätze nicht a priori konstruiert, sondern von Sprache und Geschichte her übernommen. Manchmal wird die Antithese konstruiert, aber da geht es nicht um eine aprioristische Konstruktion von Begriffen, sondern um die linguistische und soziale Erschaffung – a posteriori – von etwas Neuem, das immer eine intersubjektive Tatsache darstellt. In unserem Jahrhundert hat Cornelius Castoriadis sehr gut gezeigt, wie eine solche Erschaffung intersubjektiver Wirklichkeiten verläuft. Da handelt es sich nicht um ein begriffliches Vorgehen a priori, im technischen Sinn der Rationalisten und Kantianer. Wichtig für uns ist es hier, zu beachten, daß die Dialektik, da sie mit nicht a priori konstruierten Gegensätzen arbeitet, immer einen Moment enthält, der a posteriori und kontingent ist. Die Dialektik ist ein Wissen, das aus der Geschichte seine Inhalte hervorholt, und genau deshalb ist sie ein Wissen, das immer in der Geschichte eingebettet ist, von wo aus sie die zeitlosen Wahrheiten immer in die Geschichte zurückschickt, in welcher sie dann wesentlich werden. Die Dialektik ist ein Wissen, das sehr wohl die notwendigen und die zeitlosen Zusammenhänge, welche manchmal – nicht immer – zwischen den Dingen bestehen, aufnimmt und vertritt, aber selbst diese sind immer als die Ewigkeit gedacht, die sich im Lauf der Zeit erfüllt, so wie das Notwendige, das sich im kontingenten Ablauf der Evolution vollzieht. Ja, die Dialektik kennt ewige Wahrheiten – wie z. B. zwei und zwei sind vier –, aber das verführt sie nicht dazu, die kontingenten Wahrheiten, die sich im Horizont der Zeit abspielen, zu vergessen und zu vernachlässigen. Deshalb führt die Dialektik, wie wir bereits gesehen und erwiesen haben, nie zu einem vollständigen und abgeschlossenen System, das alle Dinge, die kontingente Zukunft mit in155 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Natur

begriffen, umfassen könnte. Hegel irrt, wenn er behauptet, daß mit der Dialektik die Philosophie ihren alten Namen der Liebe zur Weisheit aufgibt, um sich zum Status einer Wissenschaft aufzuschwingen, die alles weiß. Nein, niemals. Philosophie ist weiterhin Liebe zur Weisheit, das philosophische System ist nur ein Systemprojekt. Es stellt zwar Ansprüche auf Wahrheit und Allgemeingültigkeit, aber doch keine Ansprüche auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit. Es gibt sicherlich notwendige und zeitlose Zusammenhänge, aber es gibt ebenso kontingente Dinge und Zusammenhänge. Die vergangene Zeit, die schon vorbei ist, bewahren wir im Gedächtnis. Die Zukunft steht offen. Wir können weder die eine noch die andere, sofern sie kontingent sind, ermessen. Was wir tun können und sollen, ist, die kontingente Vergangenheit zu bedenken und ihr die entsprechenden Werte zuzurechnen, und die offenstehende Zukunft zu entwerfen, indem wir über die Gegenwart entscheiden. Die Gegenwart, die uns zwischen den Fingern zerrinnt, ist dieselbe Gegenwart, die bleibt und besteht: der ewige gegenwärtige Augenblick. Ja, Philosophie ist möglich, aber nur als offenes Systemprojekt.

1.2 Die dreigeteilte Struktur des Systemprojekts Die von den neuplatonischen Denkern vorgestellten Philosophiesysteme zeigen seit Plotin und Proklos eine streng dreigeteilte Struktur auf. Das System ist in drei Teile aufgegliedert; jedes dieser drei Teile wird wiederum in drei aufgegliedert. Drei plus drei plus drei sind neun. Enneade ist der Titel des Werkes und des Systems von Plotin. Dieselbe Aufgliederung in drei Teile mit ihren entsprechenden Unterteilen wird in verfeinerter Form bei Proklos gebraucht. Beim Hl. Augustinus ist die Triade der Heiligen Dreifaltigkeit nicht nur eine prozessuale Bewegung Gottes in sich selbst, etwas intern im Absoluten Geschehendes, sondern auch die Bewegung, die das Universum der Natur und des Menschen durchzieht und ordnet. Das Mysterium der Fleischwerdung, in dem Gott aus sich herausgeht, Mensch wird und sich als kontingente Person in der Geschichte auswirkt, ist, nach dem Hl. Augustinus, das Große Mysterium, das die Realisation der Stadt Gottes im Kern der Stadt der Menschen begründet und erklärt. Hier bedeutet Mysterium nicht etwas, das wir nicht kennen dürfen, sondern im Gegenteil der erklärende Uranfang allen Wissens. Alles Wissen, so der Weise von Hippo, ist nur ein später 156 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die dreigeteilte Struktur des Systemprojekts

Widerschein dieses Mysteriums, welches ein alles erhellendes Licht ist: der Logos, der Fleisch ward, d. h. der zu Natur und Geschichte wird und in dieser Rückkehr zu sich selbst sich wiederfindet als der ewige Augenblick der Gegenwart. Bei Nikolaus Cusanus ist die systemische Struktur deutlich dreigeteilt. Im ersten Teil des Systems, der These, handelt es sich um Gott, bevor er die Welt geschaffen hatte. Im zweiten Teil, der Antithese, ist das Thema die Erschaffung, d. h. die Natur und der Mensch. Im dritten Teil, der Synthese, ist der Hauptgedanke der Gott Mensch, welcher, indem er die Menschheit erlöst, das Universum der Gnade schafft, als Gott zum Menschen wird und die Menschen sich in Gott verwandeln. In derselben Tradition teilt Hegel das System in Logik, Philosophie der Natur und Philosophie des Geistes auf. Die Logik handelt vom Absoluten in sich selbst oder, wie Hegel schreibt, von Gott, bevor er die Welt erschafft. Die Philosophie der Natur handelt vom Absoluten, das aus sich herausgeht und sich veräußert als etwas, das der Andere seiner selbst ist. In der Philosophie des Geistes findet sich das Absolute wieder, wenn es zu sich zurückkehrt und, indem es wieder in sich und mit sich lebt, sich als Bewußtsein und als Geist weiß. Das hier vorgestellte Systemprojekt besteht, im Einklang mit der großen neuplatonischen Tradition, aus drei Teilen: Logik, Natur, Geist. Alles, was bisher in dieser Arbeit gemacht wurde, ist Bestandteil der Logik. Es geht darum, die Struktur und die dreigeteilte Bewegung der logischen Rede zu erarbeiten. So verstanden ist die Logik Verschiedenes. Erstens ist sie eine Philosophie der Sprache, die die Regeln und Prinzipien allen Redens und Denkens prüft und auseinandernimmt, die die Möglichkeiten unseres tatsächlichen Redens und Denkens untersucht und erhebt. Die Hauptthemen sind darin die triadische Struktur von These, Antithese und Synthese, die drei ersten Prinzipien sowohl der Dialektik als auch der Analytik (Identität, Differenz und Kohärenz) und die Verflechtung zwischen Dialektik, Analytik und Hermeneutik. Zweitens ist die Logik eine Seinslehre, denn sie formuliert gültige Prinzipien auch für das Sein aller Seienden. Drittens ist die Logik eine Theologie, denn wenn sie sagt, was das Sein ist, spricht sie stets vom Absoluten. Die Logik ist viertens eine Geschichte der Ideen, denn sie entnimmt ihre Inhalte aus Sprache und Geschichte. – Die Formale Logik, wie sie heute verstanden wird, ist im oben erwähnten ersten Sinn enthalten, in der Logik als Phi-

157 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Natur

losophie der Sprache; diese behandelt sowohl die Dialektische als auch die Analytische Logik. Man könnte noch viel hinzufügen über den ersten Teil des Systemprojekts, über die Logik, aber das Grundlegende wurde bereits in den vorherigen Kapiteln dieses Werkes dargestellt. Ich möchte jedoch einen zentralen Punkt betonen: Ich versuche nicht, eine Ableitung a priori der logischen Kategorien zu machen, sondern eine kritische Rekonstruktion des faktischen Universums aller Dinge, welches, unter der Macht des Kohärenzprinzips, ausdrücklich als Beginn und Anfang vorausgesetzt wird. Die Kontingenz der Dinge und die Geschichtlichkeit wurden gebührend beachtet, denke ich: das System weist nur das auf, was von Anfang an vorausgesetzt wurde. Aufweisen heißt hier nur kritisch wiederherstellen. – Da dies geklärt und die Logik an ihrem Platz ist, was bleibt nun, von der Natur zu sagen? Was ist die Philosophie der Natur?

1.3 Dialektik und Evolution 1.3.1 Logik und Natur – Dieselben Prinzipien Die Logik ist zwar eine Philosophie der Sprache, sie ist aber auch eine Ontologie, d. h. eine allgemeine Lehre über das Sein. Wenn das wahr ist, sind die Prinzipien, die das Denken und Reden regeln, ebenso Prinzipien, die das Sein der Seienden ordnen. Dieselben Prinzipien regeln sowohl die Rede als auch die Natur. Die grundlegende Grammatik der Rede ist auch die Grammatik, die den Lauf der Dinge regelt. Wenn das wahr ist, dann müssen die ersten Prinzipien der Rede, welche vorhin untersucht und ausgearbeitet wurden, mit jenen Prinzipien zusammenfallen, die den Naturwissenschaften zufolge die Evolution der Dinge in der Natur regeln. Der Erweis hierfür entsteht nur dadurch, daß man den harten Kern der Naturwissenschaften in ein größeres Ganzes einbettet. Das kann kann man durchaus machen. Es gibt eine Kohärenz. Es gibt wirklich einen perfekten Zusammenhang zwischen den ersten Prinzipien der Logik, wie oben bereits ausgelegt, und den ersten Prinzipien der Natur. Um das festzustellen, muß man nur die Prinzipien der Logik und die Prinzipien, welche die Natur regeln, nebeneinander stellen und die jeweilige Benennung mit der dafür notwendigen Übersetzung versehen. Der erwähnte Zusammenhang sollte eigentlich sowohl in seiner Beziehung zur Biologie 158 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Evolution

als auch in seiner Beziehung zur Physik dargestellt werden. Da meine Kenntnisse der Physik leider ungenügend sind, beschränke ich mich auf den Zusammenhang zwischen Logik und Biologie. Prinzipien der Logik

Prinzipien der Natur Identität

einfache Identität A

Einzelwesen

iterative Identität A A A

Iteration, Replikation, Reproduktion

reflexive Identität A = A

Art Differenz

Kontradiktorische Differenz: A und nicht-A

(nicht existierend)

Konträre Differenz: A und B

Auftreten des Neuen, Mutation, durch Zufall Kohärenz

Auflösung eines der Pole Ausarbeitung der Unterscheidungen

Tod, natürliche Auslese

entsprechenden Anpassung

Geschichte der Dialektik

Geschichte der Evolution

1.3.2 Die einfache Identität in der Logik und das Einzelwesen in der Natur Am Anfang steht die einfache Identität, die sich vom Hintergrund, d. h. von ihrem Umfeld als etwas Bestimmtes hervorhebt. Von diesem ersten Anfang an entwickelt sich dann in langen und komplexen Prozessen alles, was wir als All bezeichnen. Dies ist der erste Anfang von allem: die einfache Identität. – Die Geschichte der Evolution der Dinge war von jeher das erste und wichtigste Thema des Mythos und, wenn dieser bis zur Vernunft verfeinert wird, der Philosophie. Die Geschichte des Ursprungs der Welt so wie der in ihr existierenden Dinge gehört zu den Grundlagen unserer Geschichte, d. h. unserer Kultur. Seit den Vorsokratikern versuchen die Philosophen, mittels des Seins, des nous, der Atome, der Ideen, der Substanz usw. die Prinzipien zu formulieren, die den Ursprung und die Entwicklung unserer 159 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Natur

komplexen Welt bestimmen, von einem ersten Anfang an, der einfach ist. In letzter Zeit haben wir, die Philosophen, dieses Thema, das vielleicht das wichtigste von allen ist, fast völlig aufgegeben – bedauerlicherweise –, und uns fast ausschließlich der Untersuchung von Wortverknüpfungen gewidmet. Wir haben den Zyklus der großen Fragen zum Ursprung des Alls und des Lebens den Physikern und Biologen überlassen, und diese erstellen heute ganz vernünftige Theorien über Ursprung und Entwicklung des Universums. Früher war Kosmologie eine Aufgabe von Philosophen und eine Fachrichtung der Philosophie, heute wird sie als rein theoretischer Stoff von Physikern und Biologen abgehandelt. Das sollte nicht so sein. Wenn die Philosophie ihrem Namen und ihrer Tradition treu sein will, dann muß sie sich aufs Neue – und diesmal im Versuch, sie zu beantworten – die Frage nach dem Sinn unseres Lebens stellen, die Frage nach Anfang und Entwicklung des Alls. Im Anfang steht die einfache Identität; was identisch ist, hebt sich aus seinem Umfeld hervor. Nennen wir dieses Etwas einfach das Bestimmte oder, um eine modernere Begrifflichkeit zu verwenden, das System. Das Umfeld, in welchem sich das System befindet und aus dem es sich hervorhebt, nennen wir genau so, d. h. Umfeld. Ein System, etwas Bestimmtes, ist im Anfang, und wenn es sich, ganz in diesem Anfang, hervorhebt und sich von seinem Umfeld unterscheidet, ist da erstmal nur Chaos. Darüber gibt es nicht viel zu sagen. Im Anfang gibt es eben nicht soviel zu sagen. Natürlich gibt es da – implizit – schon die Prinzipien des Seins, die die spätere Entfaltung der Evolution bestimmen. Sie wurden weiter oben in ihrer logischen Form ausgearbeitet; jetzt geht es darum, sie in der Art, wie sie auf die Entwicklung der Natur wirken und wie sie als Prinzipien der inneren Organisation der Dinge wirken, aufzuzeigen.

1.3.3 Die iterative Identität in der Logik und die Iteration, die Replikation und die Reproduktion in der Natur Die einfache Identität wird bei ständiger Wiederholung zu einer iterativen Identität. Dem ersten A fügt man ein zweites, ein drittes, ein viertes usw. hinzu: A, A, A, A usw. Stammt das zweite A vom ersten? Tritt das zweite A aus dem ersten hervor, kommt es aus dem ersten? Das wurde von den Neuplatonikern behauptet; das ist es, was in die Lehre über die Dreieinigkeit vom Hl. Augustinus und so auch in die 160 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Evolution

große Tradition der Philosophie eingeflossen ist. Aber das ist nicht die Frage, die uns jetzt beschäftigt. Hier interessiert uns erstmal das Element der Iteration, der Wiederholung. Es ist stets dasselbe, was wiederkommt und erscheint; wenigstens bis jetzt. Das All besteht nicht mehr aus einem einfachen A, aber aus A, A, A usw., welche sich wiederholen und aufeinander folgen. – Eine spezifische Form von Iteration ist jene, die sich in der elliptischen bzw. kreisenden Bewegung der Planeten und auch der Elektronen findet, welche, indem sie um einen Mittelpunkt kreisen, immer dieselbe Umlaufbahn beschreiben. Somit kehren sie stets zur selben Stelle zurück und bilden etwas Bleibendes. Auf diese Art erscheinen im Anfang die Atome und die Sonnensysteme. Eine andere Form von Iteration, die wir z. B. bei Kristallen und Lebewesen beobachten, ist das, was wir Symmetrie nennen. In dem Fall ist die eine Hälfte, die Iteration durch Widerspiegelung der anderen Hälfte. In der Biologie tritt die iterative Identität in ganz spezifischen Formen auf wie Replikation und Reproduktion. Dies sind heute die Schlüsselbegriffe, die die spezifische Eigenschaft der Lebewesen beschreiben und somit geradezu die Definition davon bilden, was Leben ist. Reproduktion ist der Ablauf, in dem ein bestimmter Organismus ein anderes Lebewesen produziert – re-produziert – und hervorgehen läßt, welches nach derselben Konstruktionsebene organisiert ist. Replikation ist der Ablauf, in dem die Konstruktionsebene eines bestimmten Organismus, kodifiziert und in der Nukleinsäure verpackt, Kopien von sich selber macht. Reproduktion ist die Iteration von einander gleichenden Organismen. Replikation ist die Iteration von einander gleichenden Bauplänen. Überall da finden wir, gegenwärtig und aktiv, das Prinzip der iterativen Identität.

1.3.4 Die reflexive Identität in der Logik und die Art in der Natur Die reflexive Identität sagt, daß das zweite (sowie das dritte, vierte usw.) A dem ersten A gleich ist: A = A. Hier tritt ein Phänomen auf, das uns seit der Antike zu denken gibt. Um die Identität von A sagen zu können, muß man es zweimal sagen oder aufschreiben; erst links, dann rechts vom Gleichheitszeichen. Nur auf die Art – durch die explizite Stellung dieses ersten Unterschieds – können wir ausdrücklich die Identität von A sagen. Der Unterschied, das Anderssein, einfach der Andere, kommt hier erstmals zum Vorschein und taucht langsam 161 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Natur

auf. Wir reden weiterhin von derselben Sache, von dem, was sich selbst identisch ist, aber der aufkommende Unterschied macht sich bereits bemerkbar. Wir merken, es gibt hier einen Prozeß, in dessen Verlauf das Identische aus sich heraustritt, um dann zu sich selbst zurückzukehren. Diese zirkuläre Bewegung ist das kennzeichnende Element der Grundstruktur vieler wichtiger Dinge, die später in der Evolution auftreten, wie das Leben an sich, d. h. das autopoietische Sein, oder der freie Gedanke, die freie Tat, d. h. der Geist. Aber wir sind noch nicht dort, der Unterschied ist erst nur angedeutet. Dieser reflexiven Identität der Logik entspricht bei den Lebewesen die Art. Die Art ist jene Identität, nach der sich zwei oder mehrere einzelne Lebewesen gleichen, ohne dadurch ihre Individualität zu verlieren. In der Art zeigt sich nicht die Einzigartigkeit (jenes das, worauf ich mit dem Finger zeige), sondern die spezifische Eigenschaft, die species, d. h. das, was den vielen Einzelwesen gemein ist. Die Konstruktionsebene einer bestimmten Art, welche in den Genen aller sie bildenden Einzelwesen gespeichert ist, formt im Verlauf der Ontogenese die typische Struktur dieser Art. So kommt aus einem Hühnerei stets nur ein Huhn. – Zwei Fragen stellen sich hier von allein. Wie weiß man, was die Eigenschaft der Art ist und was die Bestimmung des Einzelwesens? Und, zweitens, warum ist die Struktur der Art in den Genen gespeichert, nicht jedoch die Bestimmungen der Individuen? Beide Fragen berühren ein Problem, das im Grunde dasselbe ist: die allmähliche und stufenweise Emergenz der Unterschiede. In den Genen ist das gespeichert, was dort gespeichert ist (eine tautologische und, als solche, wahre Aussage). Diese Speicherung bestimmt das, was den diversen Einzelwesen gemein ist; das nennen wir dann die typischen Eigenschaften der Art. Die einzelnen Variationen, die immer wieder im Verlauf der Ontogenese auftreten, kommen daher, daß die in den Genen gespeicherten Anweisungen keine starren Gesetze sind, keine Regelungen, die alles bis ins letzte Detail bestimmen. Diese Gesetze verhindern nicht, daß kleinere Variationen und in einigen Fällen sogar Gegenfakten auftreten. Diese Gesetze, ähnlich dem Modaloperator des Prinzips des ausgeschlossenen Widerspruchs, sind nur ein Sein-Sollen. Natürlich kann das Sein-Sollen hier nicht im streng humanistischen Sinn von Ethik und moralischem Gesetz interpretiert werden, sondern nur als ein Naturgesetz, das sicherlich bestimmt, aber nicht so radikal wie die Gesetze der formalen Logik und der Mathematik, nämlich bis ins letzte Detail. Das Identitätsprinzip besagt also Gleichheit, aber nur eine solche Gleichheit, die auch 162 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Evolution

den Unterschied zwischen den Einzelwesen erlaubt. Auch in Fällen von hundertprozentiger Gleichheit – aber nicht einmal Zwillinge schaffen das – gibt es immer noch einen Unterschied im zeitlichen Raum zwischen den Einzelwesen. Meistens sind die Einzelwesen so bestimmt, daß sie ziemlich viele individuelle Eigenschaften besitzen. Falls eine solche, zuerst individuelle Eigenschaft (d. h. eine vom Einzelwesen erworbene Eigenschaft) in die genetische Konstruktionsebene, d. h. in den Mechanismus der genetischen Replikation aufgenommen wird, dann ist diese Eigenschaft von nun an Teil der Eigenschaften dieser Art und wird demzufolge erblich durch Fortpflanzung. Falls dagegen die individuell aufgetretene Eigenschaft (d. h. eine erworbene Eigenschaft) nicht in die genetische Konstruktionsebene aufgenommen wird, bleibt sie weiterhin eine rein individuelle Eigenschaft; es ist eine Eigenschaft des Einzelwesens, nicht der ganzen Art. Ob eine zuerst individuelle Eigenschaft in die genetische Konstruktionsebene aufgenommen wird, d. h. ob eine individuelle Eigenschaft zu einer Eigenschaft der ganzen Art wird, erkennt man in der Evolutionsgeschichte. Dies – und das ist das große Thema von Lamarck – ist anfangs nur eine Tatsache im Verlauf einer kontingenten Evolution. Wann und wie eine individuelle Eigenschaft in die genetische Konstruktionsebene aufgenommen wird, welche physischchemischen Bedingungen dazu entscheidend sind, dazu haben wir noch keine befriedigenden Antworten. Genau dies ist eines der Themen, die die Biologen heute in ihren Forschungen am meisten beschäftigen.

1.3.5 Die Differenz von konträren Polen in der Logik und die Emergenz des Neuen, die Mutation durch Zufall, in der Natur Das Andere, oder das, was anders ist, tritt auf, wenn ein B erscheint, das anders ist als das A, welches sich in der Reihe A, A, A usw. wiederholt. Das Anderssein des Anderen wurde nicht angekündigt, es war nicht vorhersehbar, nicht berechenbar, es gab keinen hinreichenden Grund, der ihm vorangegangen wäre. Plötzlich erscheint da etwas Anderes, B, ohne daß es in der früheren Reihe A, A, A usw. oder in der reflexiven Identität A = A gegeben oder vorgebildet wäre. Dieses B, das selbstverständlich anders ist als A, steht zu A als ein Gegensatz, nicht ein kontradiktorischer, sondern ein konträrer. Und genauso wie B erschienen ist, erscheinen auch C, D, F usw. – Wir haben da erst163 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Natur

mals die Emergenz des Neuen, ohne daß ein ihm unterschwelliger Grund vorausgesetzt würde, ohne daß man eine wirksame Ursache, die noch vor ihm existieren sollte, voraussetzen müßte, ohne daß man noch vor der Existenz eines jeglichen Huhnes von einem Proto-Hühnerei ausgehen müßte. Das Andere erscheint, ganz zu Anfang, als ein Fall. Es ist ein Zufall. Im Bereich der Logik handelte es sich um den konträren Pol, der nicht a priori abgeleitet werden kann (der kontradiktorische Pol kann a priori konstruiert werden, der konträre nicht), in der Natur handelt es sich um das, was kontingent ist, was durch Zufall ist. Der Zufall ist sowohl in der Logik als auch in der Natur ein sehr wichtiges Element, ein notwendiges Element für den ontologischen Ursprung und für die logische Rekonstruktion dieser Ganzheit, in der wir konkret leben und in der wir philosophisch reden. Ohne den Zufall, d. h. ohne die Kontingenz, gäbe es in der Logik nicht den neuplatonischen Gegensatz von konträren Polen und daher keine Dialektik; ohne den Zufall wäre die Natur nur die notwendige Entfaltung (explicatio) dessen, was im anfänglichen Samen impliziert wurde (implicatum). Ohne den Zufall wäre die Natur keine kontingente Geschichte, die auf jeden Fall anders sein und ablaufen könnte, sondern die notwendige, die einzig notwendige Entwicklung einer Substanz, so wie Spinoza es sich vorstellte. Eindeutig entspricht eine solche Notwendigkeitstheorie, d. h. eine Theorie, die nur das Element der Regelmäßigkeit enthält, nicht den Naturwissenschaften, so wie sie heute den Ursprung und die Entwicklung der Welt beschreiben und erklären. Wir sprechen hier dem Zufall dieselbe Wichtigkeit zu wie die modernen Biologen es tun, wie z. B. Richard Dawkins und Stephen J. Gould. Eindeutig ist ebenso, daß eine Notwendigkeitstheorie der Natur prinzipiell die Kontingenz und somit auch die freie Wahl zwischen gleichermaßen möglichen Alternativen ausschließt; dadurch werden sowohl die Freiheit des Menschen als auch die wahre Geschichtlichkeit, so wie wir sie heute begreifen, unmöglich gemacht. Eine Evolutionstheorie, die als grundlegendes Element den Zufall enthält, so wie es die Biologen heute verfechten und wir es hier darlegen, ist sehr wichtig auch als Voraussetzung für die korrekte Bildung von Ethik und Politik. Sie öffnet den Raum der Kontingenz und, auf die Art, der Alternativen mit gleichen Chancen, welche ihrerseits die freie Wahl ermöglichen, den freien Beschluß und die ethische Verantwortung. Ohne Kontingenz, ohne Zufall, ist nichts davon möglich. 164 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Evolution

Verfallen wir aber nicht dem totalen Chaos, wenn wir den Zufall, d. h. die Kontingenz, in die Grundstruktur der Theorie eingliedern? Macht diese Umkehr zum Chaos alles nicht viel zu chaotisch? Nein, denn es bleibt am meisten das bestehen, was am meisten besteht. Damit ist eines der wichtigsten Naturgesetze formuliert, das Gesetz der Erhaltung.

1.3.6 Kohärenz, die Auflösung eines der Gegensatzpole, in der Logik und die natürliche Auslese in der Natur Die Erhaltung des Anderen wird zuerst einmal mittels eines einfachen Prinzips ermöglicht und erklärt: es bleibt am meisten das, was am meisten bleibt. Diese Aussage ist eine Tautologie wie A = A. Tautologische Aussagen sind immer wahr und gelten nicht nur im Bereich der Logik, sondern auch in der Natur. Solche Aussagen sind nicht immer leer, ohne Inhalt und erklärende Kraft, wie man heute oft vermutet. In einigen Fällen, wie hier, ist das Gegenteil wahr. Das Erhaltungsgesetz, Es bleibt am meisten das, was am meisten bleibt, erklärt sehr vieles. Es erklärt, daß nur das Beständige, nicht aber das Vergängliche, bleibt. Es erklärt, daß letztlich die Ordnung erfolgreicher ist als die Unordnung. Wenn B und C usw. nicht bestehen bleiben, dann bleiben sie eben nicht mehr bestehen, sie verschwinden und kehren zurück ins Chaos. Es bleibt nur das, was sich wiederholt, die Reihe A, A, A usw., B, B, B usw. Nur beständige Einheiten halten sich und leben weiter. Dieses erste, tautologisch formulierte Erhaltungsgesetz besagt auch, daß es ein Ausleseprinzip gibt, das von Anfang an im Ursprung und in der Entwicklung des Alls wirkt. Es bleibt am meisten nur das, was am meisten bleibt. Als Bestandteil der Welt bleibt nur das, was größer ist und länger hält als jene Einheiten, die gleichsam als flüchtige Funken erscheinen und aufstrahlen, um sich dann sofort in Nichts aufzulösen. Es bleibt nur das, was sich selbst erhält, oder dann das, was durch die eigene Wiederholung seiner selbst sich Beständigkeit verleiht, d. h. das, was durch die iterative Bewegung zu einer haltbaren Einförmigkeit wird. Der ganze Rest, alles Vorübergehende, alles, was sich nicht wiederholt, was sich nicht fortpflanzt, verschwindet im Lauf der Entwicklung und kehrt zur Unbestimmtheit und zum Chaos zurück. Ohne Iteration, d. h. ohne diese den Elektronen und Sternen eigene Kreisbewegung, ohne die Replikation, wie sie in der DNS ge165 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Natur

schieht, ohne die Fortpflanzung in der Art, wie sie die Organismen kennzeichnet, bleibt nichts länger bestehen. Mit anderen Worten: es ist die iterative Identität, die – in Form von orbitalen Bewegungen, von Replikation und Fortpflanzung – allen Dingen ihre Beständigkeit verleiht. Das Andere, welches erscheint, aber nicht bestehen bleibt, das sich selbst keine Haltbarkeit verleiht – durch die orbitalen Bewegungen, die Replikation und die Fortpflanzung –, dieses Anderssein ist kein Sein mehr und verschwindet. Es lebte und bestand für kurze Zeit, gedieh aber nicht weiter. Das implizit im iterativen Identitätsprinzip enthaltene Erhaltungsgesetz ist, wenn auf die vorkommenden Unterschiede angewandt, bereits ein Auslesegesetz. Die sogenannte natürliche Selektion ist, wie man daraus ersehen kann, eine spezifischere Form eines einfachen logischen Prinzips. Der Auflösung eines der Gegensatzpole entspricht in der Natur der Tod. In der Logik impliziert die Wahrheit des einen konträr entgegensetzen Pols die Falschheit des anderen. Der falsche Gegensatzpol, gerade weil er falsch ist, dient zu nichts und muß aus der rationalen Rede verbannt werden. In der Natur nennen wir dies den Tod. Wenn in der Natur ein konträrer Gegensatz erscheint, d. h. wenn es einen Zusammenstoß zwischen A und B gibt – zwischen System und Umfeld –, können zwei Dinge passieren. Erstens kann es passieren, daß ein Pol den anderen vernichtet. In dem Fall bleibt nur einer der Pole, der andere nicht. Der bleibende Pol nennt sich dann – meistens erst nachher, ex post – der Sieger. Der andere Pol bleibt nicht, er überlebt nicht, er stirbt. Dem entspricht in der Logik die Auflösung einer der Gegensatzpole, des falschen Pols, durch den anderen, den wahren Pol. Diese Auflösung wirkt sich in der Logik auf positive Weise aus: wenn wir von irgendeiner positiven Quelle – einem positiven Grund, nicht nur von der einfachen Struktur der Dialektik als formalem Schema – her wissen, daß ein Gegensatzpol wahr ist, dann folgt logischerweise daraus, daß der andere Pol falsch ist. In der Natur, wie in der Logik, weiß man oft nicht von vornherein, d. h. a priori, welcher der beiden Gegensatzpole wahr ist. Damit in der Logik aus der Falschheit der Antithese etwas gefolgert werden kann, muß die Wahrheit der These durch ein positives Argument erwiesen werden (z. B. durch einen performativen Widerspruch). Auch in der Natur muß sich einer der beiden Pole als der wahre oder der korrekte zeigen. Dieser Erweis erfolgt in der Natur meistens nicht über eine logische Verknüpfung, sondern über eine einfache Tatsache. Einer der beiden Gegensatzpole in der Natur wird siegen. Ex post stellen wir dies fest und sagen dann, 166 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Evolution

daß dieser Pol der Sieger ist, d. h. jener, der überlebte. Der andere Pol dieses Gegensatzes, der im Kampf verloren hat, stirbt und verschwindet wieder im Chaos. Ist das nicht reine Überlebensphilosophie, eine Philosophie ohne Ethik, ohne Erbarmen und Liebe? Nein. Wenn diese Überlegung konsequent zu Ende geführt wird, kommt man, wie im weiteren zu sehen sein wird, zu einem humanistischen Konzept der Welt, in dem nicht nur die Würde des Menschen, sondern auch dessen Verwurzelung in der kosmischen Ordnung deutlich erscheinen werden.

1.3.7 Die entsprechenden Unterscheidungen in der Logik und die Anpassung in der Natur Kommen wir zur harten Alternative zurück. Wenn es in der Natur einen Zusammenstoß zwischen zwei konträren Polen gibt, können zwei Dinge passieren. Erstens kann es passieren, daß einer der Pole den anderen vernichtet, weil er »wahr« ist; das haben wir gerade gesehen. Zweitens kann es passieren, daß, so wie es auch in der Logik passiert, beide Pole »falsch« sind. Zwei konträre Pole können nicht gleichzeitig wahr sein, wohl aber gleichzeitig falsch. Was passiert in der Natur, wenn – und das kommt nicht selten vor – beide Pole »falsch« sind? Dann wendet man dieselbe Regel an, die bereits in der Logik das Problem löste: wenn beide konträren Pole falsch sind, dann muß man, um nicht in einer Sackgasse zu landen, die entsprechenden Unterscheidungen machen. In der Logik ging es um logische Aspekte die, einmal ausgearbeitet und ausgesagt, den existierenden Widerspruch überwanden und behoben. In der Natur handelt es sich nicht um das Reden und Denken, sondern um das Sein. Die neuen Aspekte, welche notwendig sind, um den in der Natur tatsächlich existierende Widerspruch zu überwinden, sind reale Aspekte; es sind neue Ecken, neue Falten, neue Facetten, welche als reale Aspekte tatsächlich die Kontradiktion überwinden, die in der Natur erschienen war und in ihr als etwas Reales existierte. Die Alternative wäre jetzt folgende. Wenn es in der Natur konträre Pole gibt, die beide falsch sind, d. h. die nicht angemessen sind, dann können zwei Dinge passieren. Entweder löst ein Pol den anderen auf, oder – da beide unangemessen sind – bringt die Natur selbst neue reale Aspekte hervor (Ecken, Falten, Facetten usw.). Diese auf die Art entwickelten realen Aspekte überwinden dann den vormals bestehen167 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Natur

den Widerspruch. Die Erzeugung neuer Aspekte, welche in der Logik Erstellung der entsprechenden Unterscheidungen genannt wurde, hört hier in der Natur auf den Namen Anpassung. Anpassung ist die Bildung realer Aspekte, die die vordem bestehende reale Kontradiktion beheben und beide Pole auf einer höheren, komplexeren und prächtigeren Ebene in Einklang bringen. System und Umwelt, welche zuvor in konträrem Gegensatz standen und beide falsch waren, werden in Einklang gebracht und vereinigt durch die Erschaffung neuer realer Aspekte. Diese Erschaffung neuer realer Aspekte kann entweder im System oder im Umfeld geschehen; sie kann auch in beiden geschehen. Die Entwicklungsgeschichte der Lebewesen, welche konkret beschreibt, wie all diese Anpassungen geschehen sind bis zum aktuellen Stand, wird von den Biologen Evolution genannt. Ehre gebührt Charles Darwin, daß er diese alte Theorie der Entwicklung des Alls, die bereits von den griechischen Philosophen aufgestellt worden war und im Nachhinein von den Meisterdenkern des Mittelalters und der Neuzeit weiterentwickelt wurde, neu formuliert und zu ihrem Erweis soviel und so ausführliches empirisches Material gesammelt hat, daß wir heute das Thema wissenschaftlich diskutieren. Entscheidend in diesem Kontext ist, meiner Auffassung nach, die ständig größere Wichtigkeit, die dem Zufall, d. h. der Kontingenz zugeschrieben wird. Das merkt man besonders, wenn man die anderen Formen vergleicht, welche die Evolutionstheorie von Darwin bis zur aktuellen Systemtheorie durchlaufen hat.

1.3.8 Die Geschichte der Dialektik in der Logik und die Geschichte der Evolution in der Natur Die Evolution der Dinge in der Natur, so wie die logischen Bewegungen der Dialektik, folgt immer – dies ist die eine Seite – den notwendigen Regeln, die in der Logik diskutiert wurden, aber sie enthält auch immer, wie dort aufgezeigt wurde – und das ist die andere Seite – die unabdingbare Kontingenz, d. h. den Zufall. Deshalb muß die Geschichte der Evolution, so wie die Geschichte der Dialektik, a posteriori geschrieben werden. Da gibt es sicherlich ein Element, das notwendig und a priori ist (das Prinzip der Identität und das Kohärenzprinzip), aber es gibt da auch ein Element, das kontingent und a posteriori ist. Geschichte wird zuerst geschrieben beim Erzählen und Beschreiben – also immer ex post –, wie etwas Kontingentes in 168 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Dialektik und Evolution

kontingenter Form geschaffen wurde und dann, wie dieses kontingente Wesen sich in die Verflechtung der notwendigen und a priori Prinzipien einbringt. Geschichte ist also, wie überhaupt alles weitere in der logischen Dialektik und auch in der Natur, eine Verbindung oder ein Übereinkommen vom Notwendigen mit dem Zufälligen. Die Evolutionsgeschichte der Natur ist heute eines der Hauptthemen in der Physik und in der Biologie. Die Geschichte der Dialektik, die stets auch ein kontingentes Element enthält, wird zunehmend von den Forschern ernstgenommen.

169 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

2 Ethik

2.1 Die antike Familie In den Anfängen unserer Zivilisation ging das Sein-Sollen, Hauptthema aller Ethik, von der Familie aus und verwirklichte sich ebenso in ihr. Gutes und Böses, was man tun und lassen soll, welche Belohnungen für gute Taten und welche Strafen für Vergehen es gab, alles wurde geregelt und bestimmt durch das Lied, welches der Familienvater, der pater, anstimmte beim rituellen Tanz um das heilige Feuer des Hauses, welches hestia genannt wurde. Der ganz in Weiß gekleidete und mit einem Blumenkranz geschmückte pater vollzog, vor der mater und den weiteren in einer Reihe aufgestellten Familienmitgliedern, den heiligen Tanz zu Ehren der Hausgötter. Die Hausgötter, repräsentiert in Form von kleinen Statuetten am Rande der Hausstätte, wo das von Prometheus aus dem Himmel gestohlene heilige Feuer brannte, waren der Vater, der Großvater, der Urgroßvater, der Ururgroßvater usw. Alle waren sie Helden vieler Tugenden und vieler Taten. Das vom pater bei allen wichtigen Zeremonien der Familie gesungene Lied war zu Ehren der Vorfahren, d. h. der Hausgötter. Deshalb beginnen alle großen antiken Gesänge damit, daß die Helden besungen werden, welche die Vorfahren sind, oder besser, die Vorfahren, welche alle Helden sind. In der Ilias besingt man den Helden des Trojanischen Krieges, Achilles. In der Aeneis die Gründer der Stadt Rom. In den Lusiaden werden »die Waffen und gekennzeichneten Ritter« besungen, die Portugal gegründet haben. Das Lied zu Ehren der Vorfahren, vom pater intoniert, begann zwar mit der Ehrung der Vorfahren, aber gleich danach bekam es doch eine recht praktische Natur. Alles, was der pater im Familienlied sang, war eine Norm, die zu etwas zwang oder etwas verbot. Nomos bedeutet auf Griechisch sowohl Lied als auch Gesetz. Beide Bedeutungen waren zu Beginn unserer Zivilisation eng verbunden. Gesetz war alles, was im vom pater gesungenen Lied enthalten war. Gutes und Böses, Tugend und Laster, die gute und die böse Tat – um sie zu unterscheiden brauchte 170 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die antike Familie

man nur dem Heiligen Lied, das die Hausgötter ehrte und die normativen Statuten der Familie festlegte, zuzuhören und recht gut darauf zu achten. Bevor sie heiratete, mußte die junge Frau, als Tochter von pater und mater, von ihrer Ursprungsfamilie getrennt werden. Die Trennungszeremonie wurde in einem Tanz um das heilige Feuer der Hausstätte vollzogen. Das Feuer war heilig, weil es von Prometheus von den olympischen Göttern gestohlen worden war, und die mater war die wichtigste Verantworliche dafür, daß es nie ausging. Sobald das Feuer nämlich ausging, wurde die Familie ruiniert und verfiel in den Zustand der Barbarei; schlimmer noch, sie befand sich jetzt auf derselben Ebene wie die Tiere, die nur Rohes essen und frieren müssen. Das Feuer der Hausstätte war etwas sehr Wichtiges. Der Gesang der Familie auch. Um eine rechtmäßige Tochter von der Familie zu trennen, mußte der pater das Heilige Lied singen und darin erwähnen, daß in genau diesem Moment seine soundso genannte Tochter von der Familie getrennt wurde. Die weißgekleidete Braut, mit einem Blumenkranz auf dem Kopf wie der pater selbst, wurde dann zum Haus ihres zukünftigen Mannes geführt. Ein von einem weißen und einem schwarzen Ochsen gezogener Wagen, ganz mit Blumen geschmückt, führte die Braut, während die Zuschauer ein hymenaios genanntes Lied sangen. Wenn sie ans Haus ihrer zukünftigen Familie ankam, stieg die Braut vom Wagen, durfte aber nicht in den Hauptraum des Hauses gehen. Das war bei Todesstrafe verboten. Ein Fremder darf nie den Raum betreten, in dem das Heilige Feuer der Hausstätte brennt. Von dieser Regel ausgenommen werden nur jene Gäste, denen man es zuvor erlaubt hat, und nur wenn und solange sie an der Hand des Hausbesitzers und Gastgebers hineingeführt werden. Da die Braut noch kein Familienmitglied ist, aber auch nicht nur ein Gast, der später wieder weggeht, darf sie nicht hineingehen. Wenn sie hineingeht und den heiligen Boden betritt, unter dem die Asche der Vorfahren liegt, ist sie ein fremder Eindringling, der den Hausfrieden zerbricht. Und dann – sacra esto – muß sie in einem Opferritual getötet werden. Deshalb darf die Braut nicht auf ihren eigenen Füßen hineingehen, sie muß vom Bräutigam, der sie führt, auf den Armen bis zum heiligen Feuer der Hestia hineingetragen werden, ohne daß ihre Füße den Boden berühren. Dort, vor dem pater und der festlich versammelten Familie, stellt der Bräutigam seine zukünftige Frau wieder auf den Boden. Der pater fragt dann, ob sie den Bräutigam heiraten möchte, und auf die Art gehört sie jetzt der neuen 171 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Ethik

Familie an. Wenn sie Ja geantwortet hat, wird die Braut vom pater im Ritualtanz um das heilige Feuer geführt und singt den Gesang ihrer neuen Hausgötter, nämlich des Großvaters, des Urgroßvaters, des Ururgroßvaters ihres Mannes. Durch diese Zeremonie wird die Braut, die bereits von ihrer Ursprungsfamilie getrennt ist, mit ihrer neuen Familie verbunden. Auf die Art wird sie wieder verbunden (port. re-ligada), sie hat jetzt eine Re-ligion. In jenen Zeiten ist die auf die Familie und den Heiligen Gesang der Hausstätte zentrierte Religion Quelle und Maßstab aller Ethik. So macht man es, so muß es gemacht werden, denn wer der Familie verbunden oder wiederverbunden wird, muß dem gehorchen, was im Nomos besungen wird, welches Lied und Gesetz in einem ist. Dies ist die Ethik der Antike. Einfach, feierlich, manchmal grausam. Dies ist die normative Grundlage unserer Zivilisation. Bis heute kleiden sich die Bräute in Weiß und setzen Blumenkränze auf. Aber sie wissen nicht mehr warum. Bis vor kurzer Zeit nahmen alle Frauen beim Heiraten den Familiennamen des Mannes an. Und sie wußten nicht warum. Bis heute müssen die Gesetze, um gültig zu sein, erlassen werden; das tat man zuerst mittels Gesang, und dann, indem man sie mit guter, starker Stimme ansagte. Heutzutage haben wir das Amtsblatt, das genau diese Funktion erfüllt. Es hat zwar eine gewisse Modernisierung gegeben, aber doch nicht immer und nicht in allem. Die alten Bräuche beeinflussen weiterhin unsere Handlungen. Viele Leute achten darauf, wenn sie morgens aufstehen, zuerst den rechten Fuß auf den Boden zu setzen; wer mit dem linken Fuß aufsteht, wird Pech haben. In gewissen alteingesessenen Kneipen unseres Hinterlandes bietet der Landmann erstmal dem Heiligen einen Schluck aus seinem Schnapsglas an. Der Heilige stammt in dem Fall nicht aus Afrika, sondern aus dem antiken Griechenland; es handelt sich um ein Trankopfer. Dies ist jene Ethik, die im Ursprung unserer Zivilisation liegt und während vieler Jahrhunderte unsere Kultur geregelt hat.

2.2 Die Ethik der Tugenden In einer patriarchalen Kultur, wie es die unsrige gewesen war, galt es als positiv, ein Mann zu sein; besser noch, ein starker Mann. Vir bedeutet Mann. Virtus bedeutet die Manneskraft. Da haben wir die erste Bedeutung des Wortes virtus = Tugend. Aber der Mann ist nur 172 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Ethik der Tugenden

stark, wenn er in Gesellschaft lebt und handelt. Gesellschaft ist Familie, Gesellschaft ist auch fratria, ein Zusammenschluß von Familien, und insbesondere die Stadt, von den Griechen Polis genannt. Es lebt besser, wer in der Stadt lebt. Zeitlich gesehen folgt die Stadt der Familie als Ursprungsort der Ethikrichtlinien. Jetzt bestimmt nicht mehr der Gesang des pater der Familie, was gut und was böse ist, sondern die Stadt. Das Stadtgesetz ist die Wertungsrichtlinie aller Handlungen. Und wer erstellt die Stadtgesetze? Wer macht die Politik, das Gesetz der polis? Die in der Volksversammlung zusammengekommenen Bürger diskutieren und machen die Gesetze. Die auf diese Weise gemachten Gesetze sind legitim und meistens gerecht. Aber wir wissen, daß es in der faktischen Wirklichkeit Gesetze gibt, die nicht gerecht sind. Warum ist das eine Gesetz gerecht, ein anderes wiederum nicht? Weshalb? Was ist da der Maßstab? Dies ist die für die Sophisten bedeutendste Frage. Sokrates, Platon und Aristoteles versuchten, jeder auf seine Art, ihr eine vernünftige Antwort zu geben. Der Dialog, welcher kritisch die von jeder Seite angeführten Argumente prüft, bildet den Hauptkern der Antwort von Sokrates. Die Rangordnung aller Werte in Pyramidenform, unter der Dominanz des Begriffes vom höchsten Gut, ist die Antwort Platons. Die rechte Vernunft, lautet die Antwort von Aristoteles. In der seinem Sohn Nikomachos zugeeigneten Ethik behauptet Aristoteles, daß eine Handlung tugendhaft ist, wenn und solange sie aus einer Tugend entspringt. Tugend ist die Gewohnheit, gute Taten zu vollbringen. Hier haben wir den Begriff von Gewohnheit, der zur Tradition der guten Sitten führt und als Allgemeinprinzip der Ethik bestimmt, daß das gut ist, was unsere Väter, Großväter und Urgroßväter machten. Gut ist das, was man für gewöhnlich tut. Aber Aristoteles ist ein kritischer Philosoph, und die vielen Diskussionen über das Thema, die zu seiner Zeit veranstaltet wurden, erlauben ihm nicht, sich damit abzufinden. Die Tradition und die lokalen Gebräuche, die mores, sind sicherlich Prinzip und Maßstab für das ethische Denken. Aber manchmal stolpert sogar die Tradition: einige Gebräuche sind nicht gut. Warum? Welchen Maßstab wendet man in solchen Fällen an? Aristoteles antwortet: die mesotes. Mesotes ist der Mittelweg, sie ist jene Stellungnahme, die weder an dem einen noch an dem anderen extremen Rand des Sprektrums zu finden ist, sondern in der Mitte. In der Mitte liegt die Tugend. In medio stat virtus. Die Tugend besteht darin, in der Mitte zu liegen. Ethisch ist, wer weder feige noch kühn auftritt, sondern mutig den Mittelweg beschreitet. Aber Aristo173 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Ethik

teles merkt, daß der Mittelweg nicht immer genau in der Mitte liegt. Mut liegt der Kühnheit näher denn der Feigheit. Wenn die mesotes nicht genau in der Mitte liegt, wenn nicht die mesotes der entscheidende Maßstab ist, um zwischen Gut und Böse zu wählen, was ist denn der endgültige Maßstab des ethischen Denkens? Aristoteles antwortet: die rechte Vernunft. Recht kommt von der geraden Linie der Geometer, kommt von der Regel der Architekten, einen Faden zu ziehen und Decken und Wände hochzuziehen, indem man genau der geraden Linie folgt, die vom gespannten Faden gezeichnet wurde: die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten, Grundelement der Geometrie und der Architektur. Geradheit, sicher, Geradheit wie bei den geometrischen Figuren, wie in der Architektur. Und Vernunft. Was ist Vernunft? Bis heute fragen wir weiterhin, was Vernunft ist, bis heute wissen wir nicht genau, was Vernunft ist. Die Ethik des Aristoteles hat so gut und während so langer Zeit funktioniert – Thomas von Aquin hat sie übernommen, die Thomisten verfechten sie bis heute – warum? Was ist Vernunft? Was ist rechte Vernunft? In der Neuzeit erklärt Kant mehr und geht einen mutigen Schritt weiter.

2.3 Der Kategorische Imperativ Kant gebraucht in seinen Kritiken immer dieselbe Basisstruktur. Er geht von einer faktischen Voraussetzung aus, die von niemandem angezweifelt wird. Diese von allen anerkannte Voraussetzung wird von Kant als wahr aufgenommen. Auf diese Voraussetzung wendet Kant die sogenannte transzendentale Frage an: welches sind die notwendigen Bedingungen, um die aufgestellte Voraussetzung zu ermöglichen? Notwendige Bedingungen zu dieser Ermöglichung sind das, was die Worte sagen: wenn es ein bestimmtes p gibt, was sind die notwendigen Bedingungen für dessen Existenz? Nachdem die notwendigen Bedingungen aufgelistet wurden, nennt Kant sie Wahrheiten a priori. Es sind notwendige Bedingungen dessen, was eine anerkannte Voraussetzung darstellt, sie kommen vorher, sie sind a priori. In der Kritik der reinen Vernunft geht Kant von der Voraussetzung aus, daß es tatsächlich einige synthetische Urteile a priori gibt, die wahr sind. Kant denkt an die ersten von Newton ausgearbeiteten Prinzipien in seiner Physik. Es handelt sich da um Urteile mit Subjekt und Prädikat, bei denen das Prädikat dem Subjekt etwas Neues hinzufügt, etwas, das nicht nur durch das Subjekt ausgesagt wird. Diese 174 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Kategorische Imperativ

Urteile sind synthetisch. Und sie sind a priori, sie werden als gültig anerkannt, ohne daß sie durch Erfahrung bewiesen werden könnten. Kant setzt voraus, daß es synthetische Urteile a priori gibt, die wahr sind. Es ist eindeutig und wird allerseits zugegeben, daß es wenigstens einige wahre Urteile gibt. Jeder ist auch damit einverstanden, daß viele dieser Urteile synthetisch sind. Aber wird etwa generell zugegeben, daß einige dieser synthetischen Urteile a priori wahr seien? Ja, die ersten Prinzipien, z. B. sowohl der Geometrie als auch die der Newtonschen Physik, werden generell als wahr angenommen; und sie sind es a priori, d. h. sie können nicht in ihrer Wahrheit von einer sinnlichen Erfahrung her bewiesen werden. Man kann also ruhig voraussetzen, daß es wenigstens einige synthetische Urteile a priori gibt, die wahr sind. Dies ist die anfängliche Tatsache, dies ist die Voraussetzung. Dieses vorausgesetzt, stellt sich die Frage: welches sind die notwendigen Bedingungen dieser Tatsache? Kant listet die Bedingungen sine qua non der Voraussetzung auf, die alle, selbst die Kritischsten unter uns, immer stellen. Es sind folgende: ein allgemeines Subjekt, das Urteile formulieren kann, eine Mindestanzahl von Prädikaten, d. h. von logischen Kategorien, und einfachste Formen, die Subjekt und Prädikat in Urteilen miteinander verbinden. Das alles nennt Kant transzendental. Das transzendentale Subjekt und die transzendentalen Kategorien sind jene einfachsten Bedingungen, ohne welche kein einziges synthetisches Urteil a priori wahr sein kann. Aber es gibt solche Urteile. Also gibt es ein transzendentales Ich, das aus einem Subjekt besteht, wenn es auch leer ist, und aus den ebenfalls leeren Kategorien, die aber absolut unverzichtbar sind. Sie sind notwendig, es sind notwendige Voraussetzungen von Möglichkeiten. Dies ist Kants transzendentale Welt. – Transzendental bedeutet hier nur die conditio sine qua non einer wirklich existierenden Voraussetzung, daß es wirklich synthetische Urteile gibt, die a priori sind. – Im Mittelalter verankerten die Meisterdenker die ewigen Wahrheiten im Wesen Gottes. Wahrheiten müssen, insofern sie notwendig und ewig sind, irgendwo begründet sein. Da sie als solche nicht auf einem platonischen Stern existieren, müssen sie ins Wesen von Gott selbst gelegt werden. In Gott, der transzendent ist, sind die ewigen Wahrheiten verankert. Deshalb wird die Wissenschaft, die sich mit den ewigen Wahrheiten beschäftigt, von Johannes Scotus Eriugena scientia transcendens bezeichnet; später werden Christian Wolff und andere sie scientia transcendentalis nennen. Daraus entnimmt Kant 175 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Ethik

sein Problem und seine Begrifflichkeit: die transzendentale Frage und das transzendentale Subjekt. Die Wahrheit der Erkenntnis ist nicht mehr in einem transzendenten Gott verankert, sondern in einem universalen und notwendigen Ich, das allen empirischen Ichs gemein und ihnen innewohnend ist. In logischer Reihenfolge lautet Kants Argument wie folgt: wenn es wirklich eine Erkenntnis a priori gibt, dann gibt es eine conditio sine qua non einer solchen Erkenntnis. Nun, eine Erkenntnis a priori gibt es. Also gibt es auch ihre conditio sine qua non. Diese besteht in jenen Basisstrukturen: Subjekt, Prädikat, Verknüpfung von Subjekt und Prädikaten. In der Kritik der praktischen Vernunft ist die Denkstruktur dieselbe. Kant geht von einer faktischen Voraussetzung aus: alle Völker in allen Zeiten und allen Kulturen haben irgendeine Form von SeinSollen. Kant setzt keine geradlinige Ethik eines bestimmten Volkes oder einer bestimmten Kultur voraus. Nein, er setzt nur das voraus, was absolut generell ist: irgendeine Form des Sein-Sollens. Obwohl die Inhalte von Kultur zu Kultur doch sehr verschieden sind, haben sie alle irgendein Sein-Sollen. Dieses Sein-Sollen wird von Kant als Tatsache der Vernunft bezeichnet. In der zweiten Kritik ist dieses die anfängliche Voraussetzung. Hier fügt Kant die transzendentale Frage ein: welches ist die notwendige Bedingung, die eine solche Tatsache ermöglicht? Welches ist die conditio sine qua non? Damit alle Völker überall zu einem solchen Sein-Sollen kommen, wird eine a priori Struktur notwendig, wird ein transzendentales, praktisches Ich notwendig, das sich nach einem einzigen großen Allgemeinprinzip richtet. Es gibt also ein transzendentales Prinzip der Praktischen Vernunft, das die notwendige a priori Bedingung und den gemeinsamen Nenner der vielen lokalen Volksgruppen bildet. Kant bezeichnet dieses praktische Prinzip als Kategorischen Imperativ: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«. Dieser große moralische Imperativ ist sicherlich inhaltslos, aber doch allgemeingültig.

2.4 Die Ethik des Diskurses Der Kategorische Imperativ zog viele Kritiken auf sich, da er inhaltslos ist. Und zwar sehr berechtigte Kritiken, muß man sagen. Denn wie soll man den Kategorischen Imperativ, inhaltslos wie er ist, im praktischen Alltag anwenden? In unserem Jahrhundert führten Apel 176 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Ethik des Diskurses

und Habermas die Frage weiter. Der Kategorische Imperativ ist wunderbar und wurde von Kant auf das beste erwiesen; sie bezeichnen ihn anders, so daß er besser in seinem spekulativen Kern erfaßt wird, und nennen ihn Prinzip U oder Prinzip der Universalisierung. Was seinen Basisinhalt betrifft, sagt dieses Prinzip dasselbe aus wie der Kantsche Kategorische Imperativ. Damit es funktioniert, muß dieses Prinzip U jedoch gleichzeitig mit dem Prinzip D, dem Prinzip des Diskurses, angewandt werden. Von der aktuellen Theorie der Sprechakte ausgehend, bauen Apel und Habermas die Basisstruktur auf, die in der Gesprächsrunde des rationalen Diskurses vorausgesetzt wird. In der Runde der gewaltfreien Rede, bei welcher nur die vernünftigen Argumente jedes einzelnen Teilnehmers gelten, werden die spezifischen Interessen der einzelnen Teilnehmer auf ihre Sittlichkeit hin durch Anwendung des Prinzips U untersucht. In der Gesprächsrunde bringt jemand faktisch ein bestimmtes Interesse vor; ist dieses Interesse ethisch? Um dies herauszufinden, muß man versuchen, das spezifische Interesse zu verallgemeinern, und überprüfen, ob es verallgemeinbar ist. Ist es verallgemeinbar? Dann ist es ethisch. Nach Apel und Habermas geschieht Ethik im Kommen und Gehen zwischen Prinzip D und Prinzip U. Vom Prinzip U, dem altbekannten Kategorischen Imperativ von Kant, kommt die Normativität, das Sein-Sollen. Vom Prinzip D der Diskurethik kommen die kontingenten und geschichtlichen Inhalte, die dem leeren Imperativ von Kant fehlten. Glänzend. Noch glänzender die Schärfe des Erweises: wer es versuchen wollte, mittels Argumenten in einem rationalen Diskurs das Prinzip D zu widerlegen, bringt im Widerlegen genau das zurück, was er widerlegen wollte: die Rationalität des Diskurses. Wer versucht, das Prinzip U zu widerlegen, widerlegt dabei sich selbst, denn er benutzt Argumente, die nur gültig sind, weil sie universal sind. D und U können nicht widerlegt weden, ohne daß sie immer wieder aus der eigenen Verneinung hervorkommen. Wer U und D verneint, gerät in einen performativen Widerspruch. Damit ist erwiesen, daß die Prinzipien U und D universal gültig sind. Die zwei ersten Prinzipien der Diskursethik, eine modernisierte Form der Kantschen Ethik, können nicht mehr verneint werden. Wer sie verneint, gerät in einen performativen Widerspruch. Glänzend. Aber noch nicht vollständig.

177 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Ethik

2.5 Die drei großen Fragen Jedes Projekt, heutzutage eine Ethik aufzubauen, muß drei Grundfragen beantworten, die sich im Verlauf der letzten Jahrhunderte herauskristallisiert haben. Die erste: wie schafft man den Übergang von rein beschreibenden zu normativen Aussagen? Die zweite: welcher Uranfang oder welche ersten großen Prinzipien regeln das Sein-Sollen? Die dritte: wie schafft man den Übergang vom Partikularen zum Universalen und umgekehrt? Die erste Frage wurde weder von Aristoteles noch von Thomas von Aquin oder gar von Kant beantwortet. Sie alle gehen gleich zu Anfang von einer praktischen Vernunft aus, d. h. von normativen Aussagen. Das ist schlecht, sehr schlecht. Denn die theoretische und die praktische Vernunft werden von Anfang an getrennt, ohne daß die Verknüpfung zwischen ihnen wiederhergestellt werden könnte. Es gibt zwei unterschiedliche und getrennte Vernünfte. Diese Vernunft, die nicht mehr einheitlich ist, die in zwei Vernünfte aufgespalten wurde, ist das noch die Vernunft? Wie kann man diese einheitslose Dualität denken? Geht das? Das geht nicht. Die zweite Frage wird von Aristoteles und Thomas von Aquin mittels einer Aufzählung von Tugenden und Werten beantwortet. Ohne große Sorge um eine kritische Aufarbeitung werden diese als die ersten Prinzipien allen ethischen Denkens bezeichnet. Kant und die Diskursethik gehen da viel tiefer und weiter. Das erste Prinzip ist der Kategorische Imperativ; gültig sind die Prinzipien U und D, sagen Apel und Habermas. Meiner Auffassung nach sehen sie die Sache viel richtiger als die Früheren. Die dritte Frage handelt vom schwierigen Übergang, den man zwischen der universalen Gültigkeit eines Prinzips und seiner Anwendung an eine individuelle und konkrete Situation machen muß. Aristoteles und Thomas von Aquin gebrauchen hier, was sie Klugheit nennen; dies ist eine geistige Einstellung mit schwer definierbaren Umrissen. Vor diese Frage gestellt, verbleibt Kant ohne eine zufriedenstellende Antwort. Der Übergang des inhaltslosen Kategorischen Imperativs zu den moralischen Maximen, und von diesen zu einem individuellen Beschluß, geschieht nur unter großen Reibungen; dies wird übrigens der große Einwand Hegels gegen die Kantsche Ethik sein. Auf diese Frage bieten uns Apel und Habermas die beste Antwort. Die Verknüpfung zwischen dem Universalen und dem Partikularen geschieht parallel zur Verknüpfung zwischen den Prinzipien 178 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Übergang von beschreibenden zu normativen Aussagen

D und U, weil die Idealsituation des Diskurses (U) in der Realsituation des Diskurses (D) vorweggenommen werden muß. Da einerseits die Sprechakte immer umfassend sind, andererseits jedoch, konkret gesehen, individuell, entspricht ihnen die zweiseitige Struktur der Ethik. Eine wird in der anderen verschachtelt. Diese Antwort ist völlig plausibel, obwohl unvollständig, weil sie das Problem nur verschiebt.

2.6 Der Übergang von beschreibenden zu normativen Aussagen Wie macht man den Übergang von beschreibenden zu normativen Aussagen? Im hier vorgestellten Systemprojekt ist die Antwort auf diese erste Frage einfach und kommt von selbst auf. Denn seit dem ersten Anfang der Logik operieren wir mit dem Prinzip der ausgeschlossenen Kontradiktion, welches eines der drei Grundprinzipien ist. Dieses Prinzip, so wie wir es weiter oben verändert und formuliert haben, arbeitet mit einem Modaloperator, dem Sein-Sollen. Wir haben gesagt, daß es zwar manchmal Kontradiktionen gibt, aber daß sie vermieden werden m ü s s e n . Das Sein-Sollen ist der Modaloperator des Prinzips des zu vermeidenden Widerspruchs. Deshalb sind wir bereits in der Logik selbst von Anfang an im Bereich des Sein-Sollens. Wie machen wir den Übergang von beschreibenden zu normativen Aussagen? Wir machen ihn nicht. Vom ersten Anfang an operieren wir mit normativen Aussagen. Bereits der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch ist eine normative Aussage. Das Sein-Sollen, die Praktische Vernunft, ist in unserem Systemprojekt der weiteste und umfassendste Kreis. Die Theoretische Vernunft ist ein kleinerer Kreis in der größeren Menge der Praktischen Vernunft. Die Praktische Vernunft umfaßt und enthält in sich die Theoretische Vernunft. Die Theoretische Vernunft ist eine Abstraktion, entnommen dem größeren Ganzen, welches die Praktische Vernunft ist. In dieser Hinsicht trifft das hier Vorgestellte mit der Theorie von Habermas über die Kommunikative Vernunft zusammen, denn diese findet im Sein-Sollen ihre Haupteigenschaft. Es gibt an diesem Punkt weder mit Aristoteles noch mit Kant eine Übereinstimmung, da diese die Vernunft in zwei aufspalten. Hier gibt es eine einzige Vernunft, nur die eine, die in sich ein spezifisches Subsystem enthält, nämlich die Theoretische Vernunft. 179 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Ethik

Die Frage des Übergangs von beschreibenden zu normativen Aussagen bekommt auf die Art eine neue Sichtweise. Wir arbeiten von Anfang an, seit dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs, mit Aussagen, die erstmal normativ sind. Der Diskurs und die Dialektik sind von jeher normativ. In ihrem Anfang ist die Logik normativ. Der Übergang dieser ersten normativen zu den beschreibenden Aussagen, die zweitrangig sind, kommt später, durch Abstraktion und Bereichseingrenzung. Wenn wir sagen Man soll keine Widersprüche machen, haben wir ein extrem umfassendes, immerzu gültiges und uneinschränktes Prinzip, welches eine normative Aussage darstellt. Wenn wir sagen Es ist unmöglich, daß es Widersprüche gibt, reden wir nur von einigen logisch-formalen Subsystemen, nicht von der vollen Wirklichkeit; der Modaloperator hier ist das klassische Es ist unmöglich. Klar gibt es beschreibende Aussagen, aber sie sind keinesfalls der Ausgangspunkt, auch nicht das allgemeine Leitbild, sie sind nur eine Subspezies, ein Subsystem in einem größeren System. Der Übergang von einer normativen zu einer beschreibenden Aussage geschieht mittels Abstraktion, Ausschnitt und Verarmung. Man entnimmt der konkreten normativen Aussage den deontischen Modaloperator und schon erscheinen einerseits das Reich der notwendigen Möglichkeiten und andererseits das Reich der Tatsachen, die festgehalten und in ihrer Faktizität beschrieben werden müssen. Beide Reiche sind nur ein Ausschnitt und eine Abstraktion. Deshalb können wir nie völlig objektiv sein. Wir können es nicht, weil es eine solche reine Objektivität nicht gibt, weil wir nie einen perfekten und abgeschlossenen Abschnitt hinbekommen.

2.7 Das erste Prinzip des Sein-Sollens Das erste Prinzip des Sein-Sollens ist, von Beginn des Systems an, das Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs oder, mit anderem Namen, das Kohärenzprinzip. Vom Beginn der Logik an arbeiten wir mit diesem Prinzip: Falls es wirklich Widersprüche gibt, müssen sie verarbeitet und überwunden werden. Wie bereits dargelegt, basiert die ganze Struktur der Dialektik darauf. Die dialektische Rede wird von einem Sein-Sollen regiert. Auch die Dinge in der Natur werden in ihrer Evolution von einem Sein-Sollen regiert. System und Umwelt können nicht in Widerspruch geraten. Falls es da einen Widerspruch gibt, hat man nur 180 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das erste Prinzip des Sein-Sollens

zwei Möglichkeiten. Entweder schaltet eines das andere aus, oder man macht die entsprechenden Unterscheidungen. In der Natur werden die Unterscheidungen mittels Erschaffung neuer Seiten, neuer Facetten, neuer Komplexitätsformen gemacht. Genau darin besteht die Evolution der Lebewesen. Auch in der Natur kommen Kontradiktionen vor. Und da greift das Kohärenzprinzip sofort ein. Entweder schaltet das eine der Elemente in Kontradiktion das andere aus und löst es auf, oder es geschieht die Anpassung. Die Anpassung besteht in genau jenen kleinen nebeneinander erscheinenden Veränderungen, so daß die bisher gegensätzlichen und ausschließenden Eigenschaften sich in solche verwandeln, die sich gegenseitig ergänzen und vervollständigen. Die Systeme verändern sich und passen sich an, die Umwelt verändert sich und paßt sich ebenso an, wenn auch nicht so oft und in kleinerem Umfang. Von Anpassung zu Anpassung erscheinen die Veränderungen und die großen Verwandlungen. Die einfachen Wesen werden immer komplexer. Warum? Weil sie sich anpassen müssen. Was sich nicht anpaßt, was nicht kohärent ist, darf nicht sein. Es wird aus der Natur verwiesen. Tod und natürliche Auslese sind die von den Biologen verwendeten Ausdrücke, um das zu bezeichnen, was wir in der Logik das Kohärenzprinzip nennen. Es handelt sich zwar um ein Gesetz, aber um ein flexibles Gesetz, welches auf lange Sicht die Dinge bestimmt, kurzfristig jedoch Gegentatsachen erlaubt. Es ist ein Gesetz, das bildet und gestaltet, aber nach und nach, schrittweise, indem es stets die Erschaffung des Neuen und somit der Wirklichkeit, so wie wir sie kennen, erlaubt und voraussetzt. Es handelt sich um eineWirklichkeit, in der nicht alles immer bis ins letzte Detail bestimmt ist, es handelt sich um eine Wirklichkeit, die sich manchmal selbst erschafft, selbst regelt, selbst fortpflanzt. Hier kommt die Kohärenz, gleichsam ein Sein-Sollen, in bestimmender Art hinzu. Das heißt nicht, daß es das Unzusammenhängende nicht gäbe. Klar gibt es das manchmal, aber auf lange Sicht bringt sich eben die Kohärenz ein, indem sie entweder die Gegensätze ausschaltet oder sie mittels Anpassungen in Einklang bringt. In der Biologie heißt das Evolution. Aber nun, was soll das? Haben Pflanzen und Tiere etwa ein SeinSollen? Die Antwort lautet zuerst: Nein, nicht in dem umfassenden Sinn, den wir Menschen dem Sein-Sollen zuschreiben. Aber die Antwort ist Ja, in dem Sinn, daß auch Pflanzen und Tiere eine gewisse Autonomie haben, über einige Selbstbestimmungsmechanismen verfügen, einige Dinge selbst wählen können und dem Universalen Ge181 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Ethik

setz unterworfen sind, das gebietet, sie sollen zusammenhängend sein. Auch Pflanzen und Tiere müssen eine innere Kohärenz in ihren Bestandteilen haben, eine äußere Kohärenz mit ihrem unmittelbaren Umfeld, eine letzte Kohärenz mit dem übrigen All. In diesem weit gefaßten Sinn vom Sein-Sollen nehmen auch Pflanzen und Tiere an der Ethik teil und könnten als ethisch bezeichnet werden. – Übrigens, wer hat noch nie beobachtet und festgestellt, daß Hunde im Umgang mit Menschen und untereinander manchmal mit schlechtem Gewissen handeln? Welcher Reiter hätte nie bemerkt, daß sein Pferd manchmal zufrieden, manchmal aber böswillig reagiert? Pflanzen und Tiere haben sehr wohl eine gewisse Ethik, auf ihre Art. Wie lautet also die Formulierung des ersten Prinzips einer Allgemeinen Ethik nach dem hier vorgestellten System? Genauso wie jene des Kategorischen Imperativs von Kant bzw. des Prinzips U von Apel und Habermas. Diesbezüglich enthält dieses Projekt einen spezifischen Unterschied, nämlich den, daß das Kohärenzprinzip, so wie wir es begreifen und zuvor dargestellt haben, das ganze philosophische System vom Beginn der Logik bis zum Schluß, bis zum Absoluten, durchzieht. Es handelt sich um ein großes Prinzip, das die Logik, die Natur und auch den Geist bestimmt. Die drei großen Teile des Systems sind im Kohärenzprinzip verankert. Im Gegensatz zu dieser systemischen Weite existiert Kants Kategorischer Imperativ gar nicht im Bereich der Theoretischen Vernunft. Und das Prinzip U von Habermas existiert zwar in der Logik, aber es durchzieht nicht die Natur. Dies ist der Unterschied zwischen den Kantianern und dem, was hier vorgestellt wird. Dessen ungeachtet denke ich, daß die von mir vorgebrachte Ethik mit dem übereinstimmt, was Apel und Habermas vorschlagen.

2.8 Der Übergang vom Universalen zum Partikularen und umgekehrt Die große Schwierigkeit in Kants Ethik war der Abstieg des Kategorischen Imperativs durch die Maximen der Vernunft bis zum individuellen Beschluß des Menschen. Wie macht man einen legitimen Übergang von einem leeren Universalprinzip zu einem partikularen Prinzip, das konkrete Inhalte besitzt? Apel und Habermas sagen, daß das Prinzip U immer zusammen mit dem Prinzip D ausgeübt werden muß, d. h. in der konkreten Gesprächsrunde. Die Antwort ist gut, 182 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Übergang vom Universalen zum Partikularen und umgekehrt

aber sie klärt die Frage nicht völlig. Wie ist es möglich, das formale und leere Prinzip U mit der realen Situation des Diskurses zusammenzubringen? Apel und Habermas sagen, daß jedes Mitglied der Gesprächsrunde versuchen soll, sein partikulares, konkretes und geschichtliches Interesse allgemeingültig zu machen. Wenn das klappt, ist es ethisch. Wenn das nicht gelingt, dann ist es gegen die Ethik. Die Verfechter der Diskursethik machen den Übergang zwischen dem Universalen und dem Partikularen mittels eines Versuchs. Wie die Chemiker empirische Versuche machen, solange sie noch nicht wissen, mit welchen Substanzen sie umgehen, fordern Apel und Habermas einen moralischen Versuch. Das haben sie niemals gesagt, so wie ich es gerade tue, mit diesen Worten. Sie wären wahrscheinlich wütend auf mich. Aber es funktioniert eben so und nicht anders. Man weiß, wie etwas sein soll, nur, wenn man den Versuch der Universalisierung unternimmt. Ethik ist experimentieren. Der Übergang vom Universalen zum Partikularen und umgekehrt vom Partikularen zum Universalen ist ein Problem, das jedesmal auftritt, wenn man einem dualistischen System folgt. Aristoteles, Kant, Apel und Habermas sind Dualisten. So erscheint ein Problem, das, so wie ich es sehe, ohne Lösung bleiben wird. In einem monistischen System wie das hier vorgestellte gibt es keinen Gegensatz ohne Einklang zwischen Materie und Geist, zwischen dem Partikularen und dem Univeralen. Das monistische System besteht gerade im Einklang dieser entgegengesetzten Pole. Die Materie ist von jeher innerlich etwas Spirituelles. Das Individuelle und das Spezifische sind nur Ausschnitte innerhalb des Universalen. Nur daß hier das Universale als das konkrete Universale gedacht wird. Dies ist der eigentliche Ausgangspunkt, dies ist die größere Menge, aus der wir die Ausschnitte entnehmen, die wir dann als individuell und partikular bezeichnen. Was wirklich existiert, ist nicht das abstrakte und schwächliche Universale eines aus seinem Ursprungsmuster herausgerissenen Begriffes, sondern das konkrete Universale, das man aufnehmen und filmen kann, die kollektiven Handlungen der vielen Menschen in ihren Arbeits- und Gesprächsbeziehungen. Genau da drinnen tauchen die Zeichen auf, die den Handlungen ihren Rhythmus verleihen und konstitutive Teile des konkreten Ganzen sind, worin sie sich einfügen. So wie die Trommelschläge wesentliche Bestandteile eines größeren Ganzen sind, von der Musik des ganzen Zusammenspiels, so verleihen auch die Zeichen den kollektiven Handlungen, in die sie sich einfügen, ihren Rhyth183 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Ethik

mus. Dies sind die konkreten Zeichen, die auf ein gegenwärtiges Ganzes zeigen; sie stellen eine pars in toto dar. Wenn wir die Zeichen aus ihrem konkreten Kontext nehmen, wenn wir ein Zeichen geben, das nicht im gegenwärtigen Ganzen liegt, sondern außerhalb, dann sind die Zeichen pars pro toto. Sie deuten weiterhin auf das Ganze, aber dieses ist nicht mehr gegenwärtig. Das konkrete Zeichen verwandelt sich und wird abstrakt. Das abstrakte Zeichen kann da nur verstanden werden, falls und wenn der Hörer dazu fähig ist, sich des originalen Ganzen zu erinnern, dessen das Zeichen ein wesentliches Teil war und worauf es immer noch hindeutet. Was sind die Folgen davon? Was wir im Alltag universell nennen ist – nach Ockham – nur ein abstraktes Zeichen. Dieses Zeichen, das universal abstrakte, steht nur anfangs, auf den ersten Blick, in ausschließendem Gegensatz zum Einzelwesen. Hier kommt die Dialektik ins Spiel, und sobald man den Einklang der Gegensätze erreicht, merkt man, daß sich auf einer höheren Ebene das Universale und das Individuelle identifizieren. Im universalen Konkreten gibt es keinen ausschließenden Gegensatz mehr zwischen dem Universalen und dem Individuellen, sondern den Einklang. Also wird das Problem des Übergangs zwischen universal, partikular und individuell, welches in den dualistischen Systemen unlösbar ist, in der monistischen Dialektik gleichsam natürlich gelöst. Und damit verstehen wir, daß wir, um die Bedeutung eines Begriffes, eines abstrakten Zeichens zu erfassen, wissen müssen, wie wir ihn wieder in die konkrete Ganzheit einfügen, von der er seinen vollen Sinn hat. Einen Begriff zu kennen heißt, ihn zu verwenden wissen. Darin hatte Wittgenstein Recht.

2.9 Belohnung und Strafe Jede gute Tat ist ihre eigene Belohnung. Sie befindet sich in Übereinstimmung mit sich selbst, mit ihrem nahen und entfernten Umfeld. Sie ist kohärent und genau deshalb konfliktfrei. Sie hat weder innere noch äußere Konflikte. Deshalb fühlt sich die gute Tat wohl. Sie ist glücklich und weiß, daß sie glücklich ist. Die böse Tat, im Gegenteil, befindet sich nicht in Kohärenz. Sie gerät in Konflikt, entweder mit sich selbst oder mit ihrem Umfeld. In der bösen Tat gibt es immer Konflikt. Deshalb, da sie den Konflikt spürt, fühlt sie sich in Gefahr, fühlt sie sich unwohl. Sie ist ihre eigene Strafe. – Anfangs sind Be184 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Belohnung und Strafe

lohnung und Strafe nur eine andere Seite von der Gutheit oder Bosheit einer Tat. Oft sind Kohärenz oder Inkohärenz nicht etwas Unmittelbares. Oft geht es nicht um einen inneren Widerspruch oder um einen Widerspruch mit dem unmittelbaren Umfeld, sondern um eine Art fernerer Kohärenz, in entfernteren Räumen und besonderes in entfernteren Zeiten. Da handelt es sich um eine mittelbare Kohärenz mit der Umwelt. – Es gibt Substanzen, die, kaum im Mund, bereits Schmerzen oder Unwohlsein hervorrufen. Es gibt wiederum Substanzen, die im ersten Moment gut schmecken, aber später, am nächsten Tag, starkes Unwohlsein oder einen Kater hervorrufen. Es gibt noch andere Substanzen, die – wie der Tabak – nur nach Ablauf vieler Jahre ihre Übel und ihre Schmerzen hervorrufen. Die Struktur von Belohnung und Strafe ist im Grunde dieselbe. Aber die Entfernungen sind größer geworden, wie bei konzentrischen Kreisen. Ethisch ist derjenige, der es versteht, die von einer weit zurückliegenden oder noch zu erwartenden Inkohärenz stammenden Konflikte vorauszusehen, und von da aus gleich eine Kohärenz anstrebt, ohne erst in den Konflikt zu geraten. Derjenige, der nicht ethisch ist, der in Inkohärenz gerät, wird über kurz oder lang von der Kontradiktion ertappt und bestraft. Da kommt die Strafe dann aus der Tat selbst, nur eben mit Verspätung. Zwanzig Zigaretten am Tag zu rauchen ist ein Übel, das nach einiger Zeit, manchmal erst nach langer Zeit, sich in seine eigene Strafe verwandelt. Zusammenfassend: das Gute ist die Belohnung seiner selbst, das Böse straft sich selbst. Die Alten wußten, daß Gut und Böse manchmal ganze Generationen ins Glück oder ins Verderben führen. Heutzutage finden wir das ungerecht. Was ist denn schließlich die Schuld dieses armen Einzelwesens? Man kann eventuell keine individuelle Schuld bei ihm finden, aber die Kollektivschuld bleibt. Nach dem Zweiten Weltkrieg merkten die Deutschen einmal mehr, daß es so etwas wie eine Kollektivschuld gibt. Juden, Urchristen, die arabischen Völker, die Orientalen, sie alle haben noch Spuren dieses weitgreifenden Begriffs von kollektivem Gut und Böse, von kollektiver Belohnung und Strafe in ihrem Denken. Wir aber, moderne Erben des Solipsismus von Descartes und der Monaden von Leibniz, sehen nur Einzelwesen, sehen nur das abstrakte Individuelle und Universale. Deshalb verstehen wir nicht, wie und warum Gut und Böse, Belohnung und Strafe nicht nur im Einzelwesen stecken, sondern Generationen, ganze Völker durchdringen, so daß extrem komplexe Strukturen von kollektivem Wohl185 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Ethik

ergehen und Unwohlsein geschaffen werden, die wir nicht mehr begreifen. Genau deshalb, weil wir dumm geworden sind, eingesperrt in unseren viel zu eng gewordenen Individualitäten. Wer gut nachdenkt, wer das Universale als ein konkretes Universale denkt, weiß, daß das Gute sich selbst belohnt und das Böse sich bestraft. Vielleicht nicht sofort, aber doch auf lange Sicht hin. Eventuell nicht am einzelnen Individuum, aber doch in der sozialen Verflechtung der Gruppe. Daraus erwächst die Notwendigkeit eines Staates und einer staatlichen Gesetzgebung.

2.10 Der Staat und die Politik Da die Kohärenz nicht immer unmittelbar besteht, wie auch Belohnung und Strafe manchmal erst sehr viel später kommen, muß man einen Staat und ein staatliches Gesetz einführen. Wenn das Einzelwesen in seiner kontingenten Geschichtlichkeit sich nicht bewußt wird, daß eine bestimmte Tat irgendwann einen Konflikt hervorrufen wird; wenn dies Einzelwesen nichts auf Inkohärenzen gibt, weil sie so entfernt scheinen und die Strafe ihn nicht direkt betreffen wird, dann muß die Gesellschaft, die Gruppe von Menschen, in einem kollektiven Beschluß zum Gemeinwohl aller das Gesetz festlegen, und mit diesem Gesetz auch die Strafe für jene, die es mißachten. Der Staat ist ein konkretes Universal, in dem das Sein-Sollen der Ethik der vielen Einzelmenschen zum Status eines kollektiven SeinSollens erhoben wird, welches dem Einzelmenschen äußerlich und überlegen ist, in welchem der Wille des Einzelnen mit dem Willen aller anderen zu einem Allgemeinen Willen verschmilzt. Der Staat ist das Einzelwesen, das sich von nun an als konkretes Universales weiß. Das Gesetz ist das Sein-Sollen, welches jetzt für einige – Kinder und Narren – etwas rein Äußerliches darstellt. Denjenigen, die es schon begriffen haben, für die Erwachsenen, ist das Gesetz weiterhin ein inneres Sein-Sollen, selbst wenn es durch den Staat zur Äußerlichkeit geworden ist. Im konkreten Universalen einer Gesellschaft ist das Gesetz das, was die Sitte in der Familie war, was das ethische Denken der guten Tat im Individuum ist. Der Staat ist nur die andere Seite, die umfassende Seite der eigenen Ethik. Deshalb muß die Politik ethisch sein. Deshalb wird die Ethik, indem sie sich in ihrer Äußerlichkeit entwickelt und konkretisiert, zur Politik. Ohne Risse und ohne Geheimnisse. 186 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

3 Gerechtigkeit und Staat

3.1 Was ist Gerechtigkeit? Das Gute ist das, was im Reich der Freiheit, d. h. der freien Entschlüsse des Menschen, in Kohärenz mit sich selbst, mit seinem nahen Umfeld und auch mit seinem ganzen, entfernten Umfeld steht. Das Böse ist das, was irgendeine Inkohärenz enthält. Dem Kohärenzprinzip nach ist das Gute das, was sein soll. Das Böse ist das, was nicht sein darf. Beide unterscheiden sich voneinander, je nachdem, ob sie in Kohärenz sind oder nicht. Das Erste Prinzip der Ethik ist dasselbe, was am Anfang der Logik steht, das Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs, d. h. das Kohärenzprinzip. In der Ethik bekommt dieses Prinzip die Form des Kategorischen Imperativs von Kant oder des Prinzips U von Habermas: Ethisch ist das, was die Fähigkeit besitzt, universalisiert zu werden. Das Gute existiert in vielerlei Formen oder, wie die Griechen sagten, in Form von vielerlei Tugenden. Tugenden sind für die Griechen z. B. die Weisheit, der Mut, die Besonnenheit, die Gerechtigkeit usw. Die Aufzählung der Tugenden variiert von Autor zu Autor, aber eine Tugend nimmt stets eine unangezweifelte Stellung ein: die Gerechtigkeit. Bei Platon sind es vier Kardinaltugenden. Drei von ihnen entsprechen den drei Teilen der Seele und den drei Ständen des Staates. Die Besonnenheit entspricht der lustvollen Seele und dem Stand der Bauern, der Handwerker und der Händler, die für die materiellen Bedürfnisse aller Bürger zuständig sind, wie Unterkunft und Ernährung; die Besonnenheit ordnet und diszipliniert die Gelüste und Freuden, indem sie festlegt, welche ethisch gut und welche böse sind. Die Tapferkeit, die zweite Kardinaltugend, entspricht der leicht aufbrausenden Seele und dem Stand der Krieger, denen die Verteidigung des Staates obliegt; der Krieger, welcher gleichzeitig zahm und stark sein muß, sorgt für den Staat und schützt ihn vor seinen Außenfeinden. Die Weisheit, die dritte Kardinaltugend, entspricht der intellektuellen Seele und dem Stand der Herrscher, welche, da sie das Höchste Gut 187 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Gerechtigkeit und Staat

kennen und betrachten, fähig sind, den Staat zu ordnen und in letzter Instanz zu bestimmen, was gemacht werden soll und was nicht gemacht werden darf, was das Gute ist und was das Böse. Bis hierher steht alles in engem Zusammenhang. Drei sind die Tugenden, drei sind die Teile der Seele, drei sind die Stände des Staates. Nur daß Platon diesen drei noch eine hinzufügt, die Gerechtigkeit, die vierte und umfassendste der Kardinaltugenden. Die Gerechtigkeit entspricht spezifisch keinem Teil der Seele und keiner der Klassen, die die Politeia bilden. Die Gerechtigkeit ist umfassender als die drei anderen Kardinaltugenden, sie durchzieht sie, ist ihnen gemeinsam und dient ihnen als Basis und Grundlage. Ist die Gerechtigkeit die erste und wichtigste der Tugenden? Zumindest auf den ersten Blick könnte es so scheinen. Im Staat, im Idealstaat, erfüllt sich die Gerechtigkeit vollends. Aber was ist Gerechtigkeit? Ist sie zufällig das höchste Gut? Aristoteles beginnt ebenfalls zu zweifeln. Die Gerechtigkeit ist ein Kapitel unter anderen in der Nikomachischen Ethik. Eine Tugend unter anderen? Oder die Königin der Tugenden? Mit dem Aufkommen des Christentums erledigen sich die Zweifel der Griechen, zugunsten der Liebe. Die Gerechtigkeit ist zwar eine wichtige Tugend, jedoch nicht die wichtigste. Über den natürlichen Tugenden stehen die göttlichen: Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Königin aller Tugenden ist nach der christlichen Tradition die Liebe (caritas). Liebe setzt zwar Gerechtigkeit voraus, geht aber noch weiter. So denken der Hl. Augustinus, Thomas von Aquin und die Klassiker des Mittelalters. Aber die Frage bleibt weiterhin ohne Antwort: was ist Gerechtigkeit? Gerechtigkeit heißt, jedem das ihm Zustehende zu geben, suum cuique, sagen die Römer, welche auf die Art die Zweifel und die Ratlosigkeiten der ihnen vorangegangenen Tradition zusammenfassen. Gerechtigkeit heißt, das zu tun, was gerecht ist. Die Tautologie ist hier auf den ersten Blick nicht hilfreich. Was ist denn gerecht? Seit den ersten Anfängen unserer Zivilisation sind die Taten und Verhaltensweisen jenes Menschen gerecht, der seinen Mitmenschen als ihm gleichgestellt erachtet. Gerecht ist die Teilung der Ernte oder des auf der Jagd getöteten Tieres, wenn und solange in gleiche Teile geteilt wird. Gerecht ist der Preis, wenn an Bewerber mit demselben Verdienst auch Preise desselben Wertes vergeben werden. Gerecht ist dieselbe Strafe für dieselben Vergehen. Gerechtigkeit ist Gleichheit. Gleichheit ist im Grunde das ethische Gegenstück zum Identitätsprinzip, welches in der Logik in der Form A = A auftritt. Gerechtigkeit ist die Situation der Gleichheit zwischen den Menschen, welche 188 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Identität, Gleichberechtigung und Gleichheit

der Reflexiven Identität der Logik entspricht. Das Gesetz ist gerecht, wenn es auf dieselbe Art für alle gilt. Der Mensch und seine Handlungsweise sind gerecht, wenn und solange der andere Mensch als ihm gleichgestellt, und nicht als ihm ungleich, erachtet wird. Dies ist Gerechtigkeit. Alles dies, und nur dies. Gleichzeitig sehr reich und sehr arm. So ist die Gerechtigkeit, sie hat zwei Seiten.

3.2 Identität, Gleichberechtigung und Gleichheit Die Gerechtigkeit ist sehr reichhaltig und umfassend, denn alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz ist dasselbe für alle. Die Gerechtigkeit ist sehr arm und sehr eingeschränkt, denn einige Menschen werden von Geburt an, durch die Zufälle der Natur, mit vielerlei ausgestattet; diese sind von Geburt an reich. Andererseits werden viele andere, durch die Kontingenzen der Natur, mit weit weniger ausgestattet; diese sind von Geburt an arm. Oft ist es nicht die Natur, oft sind es die Menschen selbst, die in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen einen Unterschied zwischen Reichen und Armen schaffen. Man braucht nur die Augen zu öffnen, um das zu erkennen. Genau hier, gerade hier und immer wieder hier, tritt eine große Versuchung auf. Es ist die Versuchung, zu behaupten, daß die geltenden Gesetze im konkreten und geschichtlichen Staat, in dem wir leben und in dem es solche Ungleichheiten gibt, total falsch sind. Es ist die Versuchung, zu behaupten, daß diese Gesetze ungerecht sind, daß sie überhaupt erstmal die Armut hervorgerufen hätten, daß die Gesetze verändert werden müssen, damit Gerechtigkeit geschehe, so daß alle Menschen genau gleich behandelt werden. Stimmt das so? Ja und nein. Die Verwirrung ruft hier eine große Versuchung hervor. Diese große Versuchung stammt noch aus der Zeit der Gemeinschaften der ersten Christen, geht über zu den Mönchen, die in der Wüste lebten, über das Armutsgelübde der großen Glaubensorden des Mittelalters und der Renaissance, über den Sozialismus von Proudhon, Karl Marx und die diversen Formen von Marxismus und Kommunismus, geht über die Hippie-Gemeinschaften vor einigen Jahrzehnten, und reicht bis hin zur sozialen Frage, die in unserer Welt heute weiterhin keine Lösung findet. Wer genau nachdenkt, merkt, daß, wenn es Gerechtigkeit geben soll, der Unterschied zwischen Reichen und Armen nicht so akzeptiert werden kann, wie es ihn real gibt. Und wer gut nach189 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Gerechtigkeit und Staat

denkt, wer ethisch ist und ethisch handeln möchte, identifiziert sich mit den Armen. Wenn es Arme gibt, dann wollen auch wir arm sein. Wenn es Arme gibt, wollen wir ihnen gleich sein. Von daher die gemeinschaftlichen und egalitären Gesellschaftsformen, von den ersten Christen bis hin zu den Friede-und-Liebe-Hippies. Von daher die starke Identifizierung von Sozialisten und Kommunisten mit der Klasse jener, die damals die Ärmsten waren, mit der Klasse der Arbeiter. Und so entsteht die Verwirrung. Denn, wie die Weisen und die Gauner nur zu gut wissen, will nur der naive Intellektuelle arm sein. Wer arm ist, wirklich arm, will natürlich reich sein. Die Gleichheit von unten, von der Basis, von den Elenden aus aufstellen zu wollen, bedeutet, die Armut in einen großen ethischen Wert zu verwandeln. Die Armut ist kein Wert, sie ist ein soziales Übel, das Ergebnis von ethisch perversen Handlungen. Die Armut, d. h. das Elend, ist keine Tugend, sondern ein Übel, das vermieden werden muß. Die Weisen und die Gauner wissen das. Und warum sagen sie nichts? Die Gauner haben kein Interesse daran, die Weisen können sich oft nicht richtig ausdrücken. So verbleiben wir, wie man sieht, ohne eine praktische Lösung und ohne eine theoretische Lösung, die zufriedenstellend wäre. Der Fall der Berliner Mauer und die Auflösung der Welt des sogenannten Realsozialismus haben einen geschichtlichen Einschnitt markiert, der vielen politischen Extremisten und vielen Denkern das Maul gestopft hat; Dialektiker zwar, aber arm an kritischer Substanz. Der Marxismus als deterministische Theorie der Geschichte und als praktisches Rezept, die Armut und die Ungerechtigkeit zu vernichten, fand sein Ende spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer. Er endete allerdings noch viel früher, als Horkheimer und Adorno in Deutschland und als Sartre, Castoriadis und Lefort in Frankreich ihn von innen heraus kritisiert haben. Aber die Armut besteht faktisch weiter und so auch die Versuchung in der Theorie. Die Versuchung, die große Versuchung, besteht im Gedanken, daß, da alle Menschen gleich sind vor dem Gesetz, sie auch in allem anderen gleich sein sollen. Die Menschen sollen gleich sein vor dem Gesetz. Freilich, vor dem Gesetz und der Gerechtigkeit sind alle Menschen gleich. Aber die Gerechtigkeit, so derart umfassend sie ist, durchzieht nicht alles, umfaßt nicht alle Aspekte des menschlichen Lebens, betrifft nicht in allem alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Obwohl sie reich und weitgefaßt ist, ist die Gerechtigkeit arm, weil sie nicht alle sozialen Beziehungen in allen ihren Einzelheiten bestimmt. Die Tugend der Gerechtigkeit, die Gleichheit, die absolute 190 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Identität, Gleichberechtigung und Gleichheit

Symmetrie der Beziehungen zwischen Gleich und Gleich, ist – obwohl extrem wichtig – nicht immer der Maßstab, den man auf das Sein-Sollen einer bestimmten Tat anwenden kann. A fortiori ist nicht der höchste Maßstab. Die Beziehung zwischen Meister und Schüler diene hier noch einmal als roter Faden. Der gerechte Lehrer ist jener, der bei der Prüfung dieselben Bewertungsmaßstäbe für alle Schüler anwendet, unabhängig von Sympathien und Freundschaftsbeziehungen. Bei der Prüfung muß der Lehrer absolut gerecht sein. Folglich sind in einer Prüfungssituation alle Schüler absolut gleich und müssen mit genau denselben Maßstäben gemessen werden. Bei einer Prüfung darf es also keinen didaktischen Anreiz geben, sondern Gerechtigkeit. Im Verlauf des Lernprozesses ist der Anreiz jedoch unabdingbar. Außerhalb der Prüfungssituation kann und darf der Lehrer seine Schüler auf verschiedene Weise behandeln. Hier gibt es Anreize. Darin besteht der pädagogische Eros: die unter sich Verschiedenen auf unterschiedliche Weise behandeln, auf daß sie in der Vortrefflichkeit gleich werden. – Aber, Moment mal, gibt es denn da Gerechtigkeit? Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Gerechtigkeit läßt sich nicht immer anwenden, die Gerechtigkeit ist nicht immer der Maßstab des Sein-Sollens. Zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Freunden, ist die Gerechtigkeit nicht der höchste Maßstab, um Gut und Böse zu unterscheiden. Im Gegenteil, in solchen Situationen wird das Sein-Sollen von anderen Tugenden bestimmt als die der Gerechtigkeit. Der Ehemann, welcher – um gerecht zu sein – mit allen Frauen Sex haben will, und die Ehefrau, die mit allen Männern Sex haben will, sind keine Leitbilder der ehelichen Tugenden. Sind sie es nicht? Warum denn nicht? Fordert die Gerechtigkeit denn nicht, daß wir alle Menschen auf dieselbe Art behandeln sollen? Hier, bei diesem Mißverständnis, treten kuriose Konstrukte auf, wie z. B. die egalitäre und gemeinschaftliche Gesellschaft der ersten Christen, die Armutsund Zölibatgelübde der Mönche, die allgemeine Liebe, welche, da sie für alle gleich sein soll, ein spezifisches Gefühl für einen bestimmten Menschen verbietet und ausschließt, den Libertinismus unter einigen Chiliasten, die freie Liebe unter Anarchisten, Kommunisten und Hippies, die von einigen Intellektuellen verfochtene offene Ehe und anderes mehr. Bei allen Fällen handelt es sich um dieselbe Frage: fordert die Gerechtigkeit etwa nicht, daß alle immer als gleich behandelt werden sollen? Die Antwort ist klar: nicht immer, nicht in allem. Es gibt Unterschiede zwischen den Menschen, es gibt sie von Natur aus, und 191 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Gerechtigkeit und Staat

diese Unterschiede sind im Prinzip gut und dürfen sein, solange sie nicht die Gerechtigkeit verhindern. Und hier taucht die entscheidende Frage auf, die oft ohne Antwort bleibt: wo ist die Gleichberechtigung der Maßstab des Sein-Sollens, d. h. wo muß es Gerechtigkeit geben? Und wo darf es Ungleichheit geben? Exakter und härter formuliert: wo kann es Ungleichbehandlung geben, ohne daß es dadurch Ungerechtigkeit gibt? Das ist die Frage. Rein theoretisch ist die Antwort einfach und gut begründet. In der Ethik entspricht Gerechtigkeit dem, was in der Logik als Reflexives Identitätsprinzip herrscht: A = A. Niemand bezweifelt, daß dieses Prinzip wichtig sei und in der Logik gültig. Hier sind die Logiken der Identität verwurzelt und begründet. Nur daß wir alle wissen, daß in der Logik dieses Prinzip nicht immer gilt, es gilt nicht für alles. In der Logik muß man neben dem Identitätsprinzip auch das Prinzip der Differenz annehmen. Ohne dieses wäre das All auf die Tautologie A = A reduziert. Nun, es gibt ja die Vielfältigkeit der Dinge. Außer A gibt es B, C, D usw. Also gilt das Identitätsprinzip nicht immer, es läßt sich nicht immer, in jeder Hinsicht, auf alles anwenden. Was jedoch für alle Dinge gültig ist, auch für das Neue, welches auftritt, ohne daß es einen ihm zugrundeliegenden Grund gäbe, ist das Kohärenzprinzip. Die Identität unterbindet nicht den Unterschied; beide können und sollen unter der Leitung der Kohärenz nebeneinander bestehen. Der Identität entspricht die Gerechtigkeit, dem Unterschied entspricht die Freiheit, die dem Einzelwesen zugesteht, anders zu sein, was aber entspricht der Kohärenz? Wir haben keinen eigenen Begriff dafür. Vielleicht sollten wir einen neuen Ausdruck setzen: die Ethik der Menschenrechte. Warum Ethik? Warum Menschenrechte?

3.3 Gerechtigkeit und Menschenrechte Eine Gesellschaft, die in allem das Gerechtigkeitsideal verwirklichen wollte, d. h. eine Gesellschaft, in der der Egalitarismus bis zum Extrem geführt würde, wäre etwas Monströses. Alle Menschen wären in allem gleich. Die totalitären Staaten waren schon einmal auf dem Weg dahin. Alle wären gleich in allem: Wohnung, Kleidung, Essen, Gewohnheiten, Gestik, Gedanken, Vorlieben. Das Individuum wird in einem solchen Staat völlig aufgerieben. Die Einzelnen werden in einem solchen Staat im Kollektiven aufgelöst. Im 20. Jahrhundert ha192 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Gerechtigkeit und Menschenrechte

ben wir gesehen, wohin das führt. Theoretisch wissen wir, daß das falsch ist, weil die Differenz, das zweite große Prinzip des ganzen Systems, einfach ausgeschaltet wurde. Eine solche Ausschaltung des Unterschiedes ist unmöglich und falsch, sowohl in der Logik wie in der Natur, und ebenso im Geist. Der totalitäre Staat und die von ihm vorausgesetzte geschlossene Gesellschaft sind in der Theorie ein großer Irrtum und in der Praxis ein Horror. Karl Popper hat da völlig Recht. Aber ist die von Ungerechtigkeit durchdrungene Gesellschaft etwa kein Horror? Verfällt sie theoretisch etwa nicht ebenso in Irrtümer? Sicherlich. Wer das Land kennt, in dem wir leben, kann nicht einmal so tun, als wären wir in einer gerechten Welt. Und auf die Art kommt die Frage wieder: wann sollte der Maßstab der Gerechtigkeit, d. h. der Gleichheit, angewandt werden, und wann sollte der Unterschied, als etwas Positives, erlaubt sein? Die Antwort auf diese direkte und einfache Frage ist faktisch sehr schwierig. In der Theorie ist sie einfach: wenn die Menschen den Rechtsstaat einrichten und so mittels des positiven Rechts festlegen, was gerecht ist und was ungerecht, müssen sie die Mindestrechte des Menschen achten. Zu den Menschenrechten gehören, auf gleicher Ebene, sowohl das Recht, als Staatsbürger genau wie jeder andere Staatsbürger behandelt zu werden, wie auch das Recht, anders zu sein, sofern man dadurch die Bürgerschaft nicht angreift. Sowohl Identität als auch Differenz gehören zu den Grundrechten jedes Menschen. Die gleichstellende Egalität, Staatsbürger zu sein wie alle anderen Staatsbürger, und die Freiheit, anders zu sein in allem andern, dies ist die Versöhnung der konträren Ideen, die hier als Synthese funktioniert. Wenn der Staat gebildet wird, muß er festlegen, was zur Staatsbürgerschaft gehört, d. h. in welchen Bereichen alle gleich sein sollten, und was den Raum für persönliche Freiheit darstellt, d. h. den Bereich der Unterschiede. Wenn sie diese Grenzen in der Staatsbildung und im Bürgerlichen Gesetzbuch festlegen, müssen die Bürger im Bereich der Bürgerschaft, d. h. im Bereich der Gleichheit und der Gerechtigkeit, die Mindestrechte des Menschen einführen, die die Basisvoraussetzungen dazu sind, daß der Mensch die Möglichkeit habe, frei und verantwortlich zu handeln. Wie wir wohl wissen, geschieht das längst noch nicht. Mehr noch: die Erkenntnis dessen, was die Mindestrechte des Menschen sind, ist in der Geschichte unserer Zivilisation in ständiger Entwicklung, so daß wir immer wieder neue Elemente einfügen. Glücklicher193 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Gerechtigkeit und Staat

weise werden wir immer bessere, d. h. zivilisiertere Bürger. Aber Bürger zu sein, bedeutet nur, vor dem Gesetz gleich zu sein, vor dem, was über Gesetzesstatus verfügt; das bedeutet nicht, daß die Menschen in allem gleich sein müßten. Den Menschen seiner persönlichen Freiheit zu berauben, ist ein so schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte wie jeder andere Verstoß gegen die Bürgerschaft, d. h. gegen den Bereich, in dem alle Menschen im Staat gleich sind. Kann man noch exaktere Grenzen zwischen der Bürgerschaft der Gleichgestellten und der persönlichen Freiheit ziehen? Man kann, und zwar sind es die Bürger, die durch ihre Vertreter, die Abgeordneten, im realen Leben die Umrisse des Staates, d. h. der erwünschten Bürgerschaft definieren müssen. Auf dieser Detailebene schweigt der Philosoph und erteilt dem Politiker das Wort, oder, wem das besser gefällt, der Philosoph wird jetzt zum Politiker.

3.4 Die Einrichtung und Verfassung des Staates Die Menschen machen den Staat. In einem bestimmten Moment der Evolutionsgeschichte setzten sich die Menschen ums Feuer, diskutierten als Gleiche unter Gleichen und beschlossen, den Staat zu machen. Die Staaten werden gemacht, gebildet, aufgebaut. Die Staaten finden sich in der Geschichte. Sie sind dort, wo freie und gleichgestellte Menschen die Gerechtigkeit und das Gesetz festlegen als gemeinsamen Nenner, der sie verbindet und in ihrem Kollektivhandeln vereint. Der Umriß, d. h. die Größe des Staates entspricht dem kollektiven Beschluß: hier ist das Gesetz, das allgemeingültig zu sein hat, dort ist der Raum der persönlichen Freiheit. Der Staat ist ein soziales Konstrukt – selbstgründend und selbstgegründet –, in dem die Gerechtigkeit verkörpert wird und sich in Gesetz verwandelt. Vor dem Staat gab es bereits die antike Familie. Und in der Familie gab es bereits Spuren dessen, was wir Gerechtigkeit nennen. In bestimmten Situationen muß der Vater die Kinder behandeln, als wären sie alle gleich. So etwas kommt sicherlich vor. Im weiteren Familienbereich, zwischen Ehemann und -frau, zwischen Eltern und Kindern, sind die Beziehungen egalitär. Als menschliche Wesen sind Mann und Frau absolut gleichgestellt. Es gibt sonst keine Gerechtigkeit. In dieser Hinsicht haben die Feministinnen völlig Recht. Aber Mann und Frau als Gattung sind unterschiedlich: jeder ist auf seine Art. Diesen Unterschied kann und darf man nicht zerstören. Zwi194 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Einrichtung und Verfassung des Staates

schen Mann und Frau – als Gattung –, zwischen Eltern und Kindern sind die Beziehungen zuerst komplementär, und nur danach egalitär. Die Komplementarität steht auf der ersten Ebene, die Egalität, welche heutzutage niemand verneinen kann noch will, bleibt schemenhaft auf einer zweiten Ebene. Innerhalb der Familie gibt es sicherlich bereits eine, wenn auch implizite und noch nicht entwickelte, Gerechtigkeit. Aber die Parität zwischen Gleich und Gleich ist nicht die vorherrschende Eigenschaft in der familiären Struktur. Eltern und Kinder, so sehr sie einander ähneln, sind unterschiedlich. Der Unterschied zwischen dem Erwachsenen und dem Kind ist das Markenzeichen dieser Beziehung. Zwischen Vater und Mutter, zwischen Mann und Frau, hat die Gleichheit nur einen Sinn, wenn sie zusammen mit dem Unterschied begriffen wird. Vive la différence! – sagen heutzutage die Postmodernen Frankreichs. Wenn der Unterschied auf die zweite Ebene gerät und die Gleichheit von allein auf die erste Ebene steigt, löst sich die Familie auf und es erscheinen andere Gruppierungsformen, wie die Zivilgesellschaft und der Staat. Als Familienmitglied und Staatsbürger lebt der Mensch gleichzeitig in drei Welten. Allein in sich selbst, in der Einsamkeit seines Bewußtseins, ist er reine Identität und Gleichheit. Er ist sich selbst identisch, sich selbst gleich. In der Familie verliert sich der Mensch und, indem er sich im Anderen verliert, findet er wieder zu sich selbst zurück. Aber er findet sich wieder als der Andere, anders als sich selbst. In der Familie lieben Mann und Frau einander, und auf die Art vervollständigen sie sich und erlangen vollen Sinn. Aber, wie das Volkslied so sagt, wer liebt, verliert sich dauernd. Der Andere lebt, nicht ich. Das Ich, welches in der Familie zum Wir wird, verliert sich beinahe in diesem Anderssein. In der familiären Struktur erringt das Du, der Altruismus, eine Art Vorherrschaft über das Ich. Nicht die Gerechtigkeit, die Gleichheit von Rechten, sondern die filía befindet sich auf der ersten Ebene. Im Staat wird die Symmetrie wiederhergestellt und der Mensch findet wieder zu sich, als sich selbst gleichend. Identität, Unterschied und wiederum Identität, eine neue, jetzt bereits vermittelte Identität, die durch den Unterschied gegangen und zu sich selbst zurückgekehrt ist. So wie der Staat sich geschichtlich in einem bestimmten Zeitmoment gebildet hat, so wurde auch die Verfassung gemacht, das Grundgesetz, welches positiverweise bestimmt, welches die Menschenrechte sind und wie viel persönliche Freiheit jedem Bürger zusteht. Die Gerechtigkeit als die Tugend der Gleichgestellten und der 195 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Gerechtigkeit und Staat

Gleichberechtigten durchzieht das ganze Leben, aber sie bestimmt nicht alles in allen Einzelheiten. Die Lücken innerhalb der Regeln, die die Struktur aufrechterhalten, sind der Raum der persönlichen Freiheit. Ohne Regeln gibt es keine Lücken, ohne Lücken gibt es keine Regeln. Ohne Gesetze gibt es keine Freiheiten, ohne Freiheiten gibt es keine Gesetze. In der Theorie ist alles einfach, eindeutig und leicht. Faktisch sind, wie wir wissen, die Schwierigkeiten groß.

3.5 Die Demokratie als einzige Regierungsform Die griechischen Philosophen merkten schon ganz früh in der Geschichte unserer Kultur, daß es extrem wichtig ist, eindeutig zu definieren, welche Regierungsform die Gerechtigkeit und die Bürgerschaft florieren läßt. Es gibt ja verschiedene Regierungsformen. Die von einem einzigen Menschen ausgeübte Regierung ist die Monarchie, die Regierung des Einzigen. Die von einem Kollegiat ausgeübte Regierung, also von ein paar Leuten, die angeblich musterhaft sind in Tugend und Weisheit, ist die Aristokratie, die Regierung der Besten. Die durch die Kollektivhandlung aller gebildete Regierungsform ist die Demokratie, die Regierung von allen. Platon hat sich ein ganzes Leben lang damit beschäftigt. Welches ist die beste Regierungsform? Welche Regierungsform führt zur Gerechtigkeit? Sowohl die Politeia als auch die Nomoi haben als Hauptthema genau diese Frage. Platon zögert, und anfangs ist er eher der Regierung der Besten, der Aristokratie, zugeneigt. Der Staat, sagt er, muß von jemandem geleitet werden, der etwas davon versteht, d. h. von jemandem, der regieren kann. Wer versteht etwas vom Regieren? Derjenige, der den Unterschied kennt zwischen dem, was gerecht ist, und dem, was ungerecht ist, einer, der den Unterschied zwischen Gut und Böse kennt. Wer ist dieser Mensch, der besser als alle anderen weiß, was das Höchste Gut ist? Der Philosoph, antwortet Platon. Deshalb muß der Staat von den Philosophen regiert werden. So tritt bei Platon die aristokratische Vorstellung eines philosophischen Königs auf. Unsinn? Naja, nicht einmal so sehr. Wenn wir in einem Flugzeug sitzen, elftausend Fuß hoch, und bei 950 Stundenkilometern fliegen, und die bleichgewordene Stewardess durch die Lautsprecher meldet, daß der Pilot leider gestorben sei, was tun wir? Hoffen, daß der KoPilot kompetent genug ist. Aber wenn die noch blasser gewordene 196 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Demokratie als einzige Regierungsform

Stewardess hinzufügt, daß dieser vor Schreck ebenso gestorben sei, was dann? Hoffen, daß ganz hinten, auf den letzten Sitzen, halb vor sich hin dösend, jener Herr mit bereits ergrauten Schläfen und einem kleinen schwarzen Handkoffer einer jener alten Piloten ist, die, nachdem sie ihren Turnus abgeflogen haben, nun auf dem Heimflug sind. Wenn dies der Fall ist, kein Problem. Jemand Kompetentes, mit Erfahrung, der die Sache kennt, übernimmt das Kommando des Flugzeugs und führt uns sicher und problemlos bis auf den festen Boden des nächsten Flughafens. Aber ist das nicht gegen die Demokratie? Sollte die Stewardess in einer solchen Lage nicht eine allgemeine Volksversammlung der Fluggäste einberufen, um zu entscheiden, welches die beste Lösung wäre, um das Flugzeug wieder zu kontrollieren und steuern zu können? Bevor sie den Piloten auf Heimflug anspricht, sollte sie nicht eine allgemeine Volksversammlung einberufen? Fordert dies nicht die Demokratie? Enthält uns die Stewardess etwa nicht unsere Bürgerrechte vor? Nein. Im realen Leben würde die Stewardess den Fluggästen gar nicht erst die Todesfälle des Piloten und des Ko-Piloten melden. Sie würde sofort und auf direktem Wege den alten und erfahrenen Piloten, der dahinten in seinem Sitz vor sich hin döst, um Hilfe bitten. Demokratie und allgemeine Volksversammlung sind in diesen Fällen undenkbar. – Dies alles ist Platon. Er sprach freilich nicht über Flugzeuge, sondern über Schiffe. Ein Schiff ohne Steuermann mitten im Unwetter, was ist da zu tun? Allgemeine Volksversammlung? Demokratische Diskussion? Nein. In diesem Fall muß man unter den Passagieren denjenigen aufrufen, der steuern kann. Die Aristokratie ist in solchen Fällen besser als die Demokratie. Es hilft nichts, in Volksversammlungen zu diskutieren und zu wählen, wenn nur einige wissen, was zu tun ist. Und selbst wenn es eine Volksversammlung gäbe, wen würde man wählen und für diese Aufgabe bestimmen? Doch wohl jenen, der weiß, was zu tun ist. Also wozu die Volksversammlung? Für nichts, die Volksversammlung ist überflüssig, folglich ist auch die Demokratie überflüssig. Der Kurzschluß dieser Überlegung besteht darin, daß ein Glied der Kette ausgelassen wurde. Nur in der allgemeinen Volksversammlung bekommt man heraus, wer tatsächlich weiß, was zu tun ist, und nur die allgemeine Volksversammlung kann diesen Kenner rechtmäßig für die Regierungsaufgabe bestimmen. Denn nur auf diese Weise, durch die Volksversammlung, d. h. durch die Demokratie, wissen wir etwas über die Leute und wer was kann. Da das Wissen nicht 197 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Gerechtigkeit und Staat

nur a priori ist, da das Wissen nicht nur eine Gabe der Natur ist, muß die Wahl der Regierungsform dem angemessen sein, was wir sind: Wesen, die sich als freie Individuen selbstbestimmen, und die sich ebenso als Staat selbstbestimmen. Die Demokratie ist deshalb die einzige ethisch korrekte Regierungsform. Nur in ihr bestimmen sich die Menschen selbst als Bürger und als freie Wesen. Die anderen Regierungsformen, Monarchie und Oligarchie, sind nur solange ethisch legitim, als sie die Demokratie verkörpern: konstitutionelle Monarchie, wie heutzutage in Holland und Schweden, und Kollegiatsregierung, demokratische Oligarchie, wie in der Schweiz. Aber die große Versuchung bleibt bestehen und flüstert uns manchmal ins Ohr: wozu eine demokratische Volksversammlung, wenn der Vernünftig-Denkende von sich aus sowieso besser weiß, was zu tun ist? Genau da liegt der Fehler. Wir wissen nur durch die umfassende und demokratische Diskussion, bzw. durch die Volksversammlung, was besser ist. Nur in der Volksversammlung können wir herausbekommen, wer tatsächlich der Vernünftig-Denkende ist. Das Wissen ist nur teilweise a priori; man muß ihm das a posteriori Wissen hinzufügen, auch jenes a posteriori, das aus der demokratischen Volksversammlung erwächst. Die ethische Qualität, d. h. die Fähigkeit eines partikularen Interesses, verallgemeinert zu werden, entdeckt man nur im realen Diskurs, wenn alle, Gleiche unter Gleichen, ihre Beweggründe anbringen. Hier liegt Habermas völlig richtig. Aber die Versuchung zu denken, daß ich allein weiß, was besser ist für alle, diese Versuchung bleibt weiterhin mit ihren trügerischen Versprechungen bestehen. Deshalb haben alle Völker in allen Kulturen, selbst nach der Erfindung der Demokratie durch die Griechen in Athen, weiterhin politische Rückfälle und setzen immer wieder nicht-demokratische Regierungen ein. Die Tyrannei, die absolute Monarchie, die Diktaturen, sind Regierungsformen, die, mit welcher Ausrede auch immer, die Demokratie – so langsam, so langwierig, so komplex und auf den ersten Blick so unfähig, wie sie zu sein scheint – auflösen und eine Pseudo-Lösung forcieren, indem sie nicht-demokratische Regierungsformen aufzwängen. Das ist absolut falsch, aber es ist verständlich; man kann es nicht rechtfertigen, aber es gibt Erklärungen dafür. Es ist nämlich so, daß die Demokratie als einzige Regierungsform, die die volle Selbstorganisierung des Volkes und somit die Selbstbestimmung des freien Menschen erlaubt und achtet, tatsächlich etwas Komplexes ist. Das Ich muß sich selbst denken als jene konzentri198 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Parlamentsvertretung

schen Kreise, die erscheinen, wenn man einen Stein ins ruhige Wasser eines Sees wirft. Ich bin der erste dieser Kreise, jedoch ebenso der zweite, der dritte usw., bis das Ich kosmische Dimensionen erreicht. Das Ich, welches ich individuell bin, bin ich auch als meine Familie, als mein Volk, ich bin alles, bin das ganze All. Die sogenannten Mystiker haben das immer behauptet. Es waren neuplatonische Denker. Heutzutage behaupten gute Ökologen das, manchmal mit der Befürchtung, als Idioten zu gelten. Es stimmt ja, es ist schon richtig. Es handelt sich da um die Dynamik des Ich, welches nicht nur ein Einzelwesen, sondern immer auch ein Universalwesen ist. Aber es ist ein konkretes Universales, eine Familie, eine Gesellschaft, ein Staat, worauf wir zeigen können. Da geht es nicht um ein universales Abstraktes, um ein reines Zeichen – abstractum –, das man aus seinem Kontext gerissen hat, sondern um ein konkretes Universales, das nur solange lebt und sich erfüllt, wie wir es tatsächlich leben und erfüllen. Deshalb ist im Grunde, ganz fundamental, die einzige ethische Regierungsform die Demokratie.

3.6 Die Parlamentsvertretung Demokratie wird im Gespräch, d. h. parlierend, gemacht. Die Erfinder der Demokratie, die Griechen von Athen, bildeten eine relativ kleine Menschengruppe, und die Demokratie ergab sich auf diese Weise sozusagen auf natürlichem Weg. Zu bestimmten Terminen kamen die Bürger zusammen in der Volksversammlung und beschlossen, was zu tun war, und so wurde der allgemeine Wille erfüllt. In einem der schönsten Texte unserer Tradition berichtet uns Perikles, wie die Bürger zusammen alles das diskutierten, planten und beschlossen, was das Leben in der Polis betraf. Die Theorie war bereits vollkommen. Die Demokratie war direkt. Da es zahlenmäßig wenige Bürger waren, konnte die Volksversammlung über alles diskutieren; noch brauchte man nicht die später erfundene Institution, das Parlament. Faktisch war die griechische Demokratie voller Probleme. Nicht alles war ein Blütenmeer. Die Bürgerschaft umfaßte weder Frauen noch Fremde oder Sklaven. Und die Athener Demokratie war fragil und flüchtig. Wieso besteht eine so angebrachte Institution denn nur so kurz? Sollte das, was korrekt ist, nicht etwas Dauerhaftes sein, etwas, das in der Beständigkeit seine Wahrheit aufzeigt? Richtig ist das, was auf lange Sicht in universaler Kohärenz steht. Und die 199 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Gerechtigkeit und Staat

Demokratie taucht immer wieder auf und setzt sich durch. Kohärenz ist nicht etwas Fertiges und Abgeschlossenes, wir müssen sie aufbauen. Sowohl in der logischen Rede als auch im Staat. Deshalb ist die Demokratie, obwohl sie komplex in ihrer Struktur und langsam in ihren Reaktionen ist, die einzige ethisch korrekte Regierungsform. Wenn die Anzahl der Bürger zunimmt, wird die Volksversammlung immer schwieriger und langwieriger. Das erfordert, zu diesem Entwicklungszeitpunkt, die Einsetzung des Parlaments. Das Parlament ist der Ort, wo man parliert, wo die politische Rede ihren Platz hat. Parlamentarier sind diejenigen, die daran aktiv teilhaben. Da nicht immer alle Bürger zugegen und aktiv bei allen Beschlüssen dabeisein können, setzt man in der Volksversammlung die Rolle des politischen Parlamentariers ein. Dieser re-präsentiert im Parlament eine Gruppe von Bürgern. In der parlamentarischen Institution übergibt der einzelne Bürger seinem politischen Vertreter seinen Platz, seine Meinung und seine Stimme. Der Parlamentarier spricht im Namen der von ihm vertretenen Bürger; er übt eine Amtszeit aus. Seine Funktion im Parlament besteht in der Vermittlung zwischen einer partikularen Bürgergruppe und dem allgemeinen Willen aller. Falls der Abgeordnete tut, was er soll, ist er nur die Verkörperung der von ihm vertretenen Bürger im Parlamentssaal. Er muß hören, reden und vor allem dazu verhelfen, daß sich ein allgemeiner Wille bilde, der das Rückgrat der Demokratie, des Staates und der Gerechtigkeit ist. Nicht mehr und nicht weniger als das. Deshalb müssen die Parlamentarier legitim gewählt werden. Deshalb müssen die Wahlen für die Abgeordneten einen gewissen Rhythmus einhalten. Damit es eine legitime Vertretung gibt, damit der Bürger sich tatsächlich zugegen fühlt im politischen Diskurs, der das staatliche Gesetz macht.

3.7 Der gemeinsam erarbeitete Haushaltsplan In unserer äußerst redlichen und engagierten Stadt Porto Alegre wird in den letzten Jahren eine fantastische Vermittlungsform zwischenen dem Partikularen und dem Universalen im politischen Leben eingesetzt: der sogenannte »gemeinsam erarbeitete Haushaltsplan«. Die Bürger haben weiterhin ihre Vertreter, die Stadträte in der Stadtkammer, die der Volksversammlung demokratischer Staaten entspricht. Aber außer dieser Vertretung durch den demokratisch gewählten 200 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der gemeinsam erarbeitete Haushaltsplan

Stadtrat kann der Bürger auch an Versammlungen teilnehmen, die in allen Stadtvierteln stattfinden, und wo vorrangig lokale Probleme diskutiert werden. Seit einigen Jahren kann jeder Bürger von Porto Alegre aktiv und persönlich bei den Haushaltsplänen seiner Stadt mitwirken. Man kann, wenn man nur will. Und klappt das? Es klappt. Bei den Versammlungen in den Stadtteilen siegen die offene Diskussion und der demokratische Geist nach und nach über die Hindernisse. Die Einführung der Volksbefragung mittels der Informatik, die hier bereits versprochen wurde, kündigt radikale Veränderungen in den Formen der politischen Vertretung an. Die Demokratie wird immer realer. Wird sie andauern? Ich hoffe, ja. Es ist genug der Barbarei.

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4 Der Sinn der Geschichte

4.1 Die Kraft des Schicksals Die Griechen glaubten an das Schicksal. Das Schicksal leitete mit eiserner Faust das Leben der Menschen und bestimmte den Lauf der Geschichte. Von den aus der Erde steigenden Dämpfen ließ sich die Pythia, Priesterin im Apollon-Tempel zu Delphi, inspirieren und weissagte, was die Zukunft bringen würde. Das Orakel sagt den Griechen, was geschehen wird. Der Mensch kann versuchen, sich zu widersetzen, oft tut er es auch, aber die Schicksalsmacht siegt doch stets. Wer also vernünftig ist, widersetzt sich dem Schicksal nicht, sondern ergibt sich ihm. Die griechische Tragödie handelt genau von diesem Zusammenstoß des Willens des Individuums mit dem Schicksal, das alles von oben regiert. Der Fall von König Ödipus zeigt, was passiert, wenn der Mensch in seinem Wahn denkt, er könne sich dem Schicksal widersetzen. Laios war König in Theben, Iokaste seine Frau. Das Orakel hatte Laios gewarnt, jemals Kinder zu haben, er werde ansonsten große Leiden und Strafen erfahren. Der von ihm gezeugte Sohn würde ihn, seinen Vater, töten, und hernach seine Mutter Iokaste heiraten. Aber trotz der Warnung des Orakels zeugen Laios und Iokaste einen Sohn. Um das vom Orakel geweissagte Leid zu vermeiden, wird der Junge von den Eltern verlassen und in der Einsamkeit ausgesetzt, auf daß ihn die Wölfe fressen sollen. Aber ein Hirte findet das Kind und schenkt es einem anderen Hirten, der es seinerseits dem König von Korinth zur Erziehung übergibt, welcher, da er kinderlos ist, den Jungen Ödipus nennt und wie sein eigenes Kind erzieht. Ödipus, ausgesetzter Sohn des Königs von Theben, wird erzogen als Sohn des Königs von Korinth. Nur daß er nichts davon weiß und denkt, er sei der rechtmäßige Sohn. Als ein Fremder auf einem Fest verrät, daß er nicht der rechtmäßige Sohn des Königs von Korinth ist, gerät Ödipus in eine Krise. Und wer in Krise gerät und nicht weiß, was er machen soll, muß das Orakel von Delphi befragen. Ödipus befragt also die 202 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Kraft des Schicksals

Pythia und diese sagt, er solle die Anwesenheit seines Vaters vermeiden, denn bei seinem Anblick werde er ihn töten und seine eigene Mutter heiraten. Entsetzt vermeidet es Ödipus, nach Korinth zurückzukehren, um auf die Art nicht in die Anwesenheit seines vermeintlichen Vaters zu geraten. Er geht nach Theben. Am Eingang von Theben wird Ödipus von einem Adligen, der mit seinem Gefolge auch in die Stadt kommt, beleidigt und angegriffen. Derart beleidigt und angegriffen, reagiert Ödipus und ermordet seinen Angreifer. Er weiß es nicht, aber soeben hat er seinen leiblichen Vater ermordet. Ödipus geht dann nach Theben und heiratet irgendwann Iokaste, seine Mutter. Als ein Hellseher ihm lange Zeit danach sagt, daß er den Vater ermordet und die Mutter geheiratet hat, versucht Ödipus, der ein gerechter Mensch sein will, die ganze Wahrheit zu erfahren. Er stellt fest, daß alles, was der Hellseher ihm gesagt hatte, stimmt. Ödipus läßt sich dann an beiden Augen blenden. War er etwa nicht die ganze Zeit über blind gewesen? Hatte er sich nicht gegen das Schicksal gestellt? Mit dem Schicksal treibt man keinen Spaß. Mörder seines Vaters, Ehemann seiner Mutter, an beiden Augen erblindet – Ödipus, der nur das Gute wollte, verfängt sich in den Netzen, die das Schicksal ihm ausgelegt hat. Gibt es ein Schicksal? Gibt es einen verborgenen Sinn in den Gegebenheiten der Geschichte? Die Griechen dachten, ja. Ebenso die Römer. Bis heute klingt unter uns, den lateinamerikanischen fernen Erben der Legionäre des Römischen Reiches, welche gegen das abgelegene Iberien Wache standen, ein altes Sprichwort nach: Fata volentem ducunt, nolentem trahunt. Den Willigen führt, den Unwilligen treibt das Schicksal. Wozu sich widersetzen, wenn am Ende doch das Schicksal siegt? Ist es nicht besser, sich von Anfang an dem Schicksal zu ergeben? Und so taten es unsere römischen Vorfahren im abgelegenen Iberien. Dieser römische Fatalismus wurde dann vom Fatalismus der Araber, die ein Teil der Iberischen Halbinsel erobert hatten, noch verschärft und verstärkt. Doppelportion Fatalismus, Fatalismus über Fatalismus. Unsere Vorfahren waren vom Fatalismus bis in die tiefste Seele durchdrungen. Das Christentum mit seinem Allmächtigen Gott, der mit seiner göttlichen Vorsehung alles leitet und verwaltet, hat die Lage nicht unbedingt erleichtert. Denn nicht wir, sondern die göttliche Vorsehung schreibt die Geschichte: Gott schreibt auf krummen Linien gerade. Selbst wenn wir Menschen diese Linien ziemlich krümmen, macht Gott sie in seiner göttlichen Vorsehung wieder gerade und schreibt richtig. Die Geschichte wird nicht von uns, sondern von Gott 203 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Sinn der Geschichte

geschrieben. Als dann Portugiesen und Spanier die Neue Welt entdecken, sich mit den eingeborenen Indios mischen und so demjenigen einen Anfang geben, was wir heute sind, ist der Fatalismus weiterhin die Leitlinie unserer Kultur. Wir Brasilianer, wir Lateinamerikaner, sind Erben des iberischen Fatalismus, der wiederum vom griechischen, römischen und arabischen Fatalismus herrührt. Deshalb sind wir in unserer Geschichte oft so träge, tatenlos, reaktionslos: alles ist bereits von jeher geschrieben und vorbestimmt. Wozu handeln, wenn alles bereits vorbestimmt ist? Das Schicksal der Griechen, der fatum der Römer, das So steht es geschrieben der Araber und die Vorbestimmung der Christen, das ist die kulturelle Mischung, die wir geerbt haben und die zumindest teilweise erklärt, warum die Entwicklung Lateinamerikas so ganz anders verlaufen ist als die Nordamerikas.

4.2 Die logische Notwendigkeitslehre Hinter dieser deterministischen Auffassung von der Welt, die wir von Griechen und Römern unter der Rubrik Fatalismus geerbt haben, steht eine eindeutige und einfache philosophische These: alles ist notwendig. Auch die geschichtlichen Begebenheiten sind untereinander auf eine bestimmte Art verknüpft und bilden auf diese Weise ein Netz von Zusammenhängen, in dem die Geschehnisse in einer unabänderlichen Folge stattfinden. Ich, du, wir, die wir endlich sind, wissen vielleicht nicht genau, welche notwendigen Verknüpfungen es zwischen den Geschehnissen gibt, aber jedenfalls gibt es sie. Dies ist die Hauptthese des logischen Determinismus, der z. B. von Diodoros Kronos verfochten wurde. Wie der Name schon sagt, basiert diese deterministische Weltauffassung auf der Logik, genauer gesagt auf der eigenen Idee von logischer Wahrheit. Eine wohl formulierte Aussage ist immer entweder wahr oder unwahr. Entweder wahr oder unwahr, Non datur tertium. Nun, die Aussage Morgen wird es eine Seeschlacht geben ist eine wohl formulierte Aussage, mit angemessenem Subjekt und Prädikat. Also ist diese Aussage entweder wahr oder unwahr. Das heißt, bereits heute, am Vortag, wurde festgelegt und bestimmt, was morgen passieren wird. Was morgen passieren wird, ist eine logische Folge einer Wahrheit, die bereits heute festgelegt und bestimmt wurde, obwohl wir – erkennende endliche Subjekte – sie vielleicht noch nicht kennen. Es handelt sich da nur um ein Wissensdefizit. Wir, als 204 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die logische Notwendigkeitslehre

kontingente Wesen, kennen die Wirklichkeit nicht im Ganzen. Sie, die Wirklichkeit, ist in sich völlig determiniert; sie besteht aus notwendigen Zusammenhängen zwischen bestimmten Geschehnissen. Dies ist die Theorie des logischen Determinismus. Aristoteles dreht und wendet sich im Peri Hermeneias, um dieser Falle zu entkommen. Stimmt das logische Gesetz denn schließlich nicht, welches besagt, daß eine wohl formulierte Aussage immer entweder wahr oder unwahr ist? Aristoteles zögert. In seinem Kommentar zum Text von Aristoteles antwortet Thomas von Aquin überzeugt: Das Gesetz der Bipolarität des Wahrheitswertes der wohl formulierten Aussagen gilt immer, außer, was die kontingenten Zukunftsaussichten betrifft. Die Aussagen sind immer entweder wahr oder unwahr, außer wenn es um kontingente Zukunftsaussichten geht. Das Gesetz gilt, aber es öffnet einen riesigen Raum für Ausnahmen. Und wie weiß man, ob es sich um eine kontingente und nicht um eine notwendige Zukunft handelt? Darauf antwortet Thomas von Aquin nicht. Die in der eigenen Prädikationsstruktur verwurzelte Notwendigkeitslehre ist der notwendige Ausgangspunkt, aus der in der Antike der religiöse Fatalismus und die Schicksalsauffassung, die unsere Kultur so tief geprägt haben, aufkommen. Der Irrtum ist eindeutig. Das Gesetz der Bipolarität des Wahrheitswertes der wohl formulierten Aussagen ist kein völlig umfassendes Gesetz; es gilt nicht immer. Wer sich hier vertut und denkt, daß die Aussagen entweder wahr oder unwahr sind, gerät in ein logisches und ontologisches System, das streng bestimmungsgeprägt ist. Wer in dieses Netz von Notwendigkeiten gerät, die angeblich das ganze All durchziehen, der kommt nicht mehr heraus. – Aber nun, ist die Welt denn ein Netz von Notwendigkeiten? Oder gibt es Kontingenz auf der Welt? Wer behauptet, es gäbe nur Notwendigkeiten, verneint endgültig die Kontingenz der Dinge. Was wirklich passiert, muß also notgedrungen passieren. In dieser Hypothese gibt es keine Faktizität der Dinge, nur ihre Notwendigkeit. Was wir als Faktizität ansehen, ist nur eine Notwendigkeit, die wir noch nicht gefaßt und als solche erkannt haben. Kontingenz und Faktizität sind, diesem Denken nach, nur ein momentanes Wissensdefizit. Da eine solche Theorie behauptet, was nicht offenbar ist, was sich im Gegenteil gegen die gewöhnliche Vorstellung richtet, hat sie die Beweislast. Und Beweise gibt es keine. Mehr noch. Wer behauptet, daß das ganze All nur ein Netz aus Notwendigkeiten sei, und daß die 205 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Sinn der Geschichte

angebliche Kontingenz der Dinge nur ein Defizit unseres Wissens sei, verneint damit die Möglichkeit des freien Willens, der Freiheit des Menschen, der moralischen Verantwortung, des Rechts und der Gerechtigkeit. Und mehr noch. Wer die Notwendigkeitslehre als etwas Systematisches und Konsequentes verfechten will, gerät in performativen Widerspruch und muß die Runde des argumentativen Diskurses verlassen. Wozu argumentieren, wenn die anderen notwendigerweise die Ideen haben, die sie de facto haben? Daß wir ernsthaft diskutieren, zeigt doch nur, daß, wenn es auf der einen Seite Notwendigkeit gibt, es auch Kontingenz auf der anderen Seite gibt. Das Argument gegen die Notwendigkeitslehre ist eindeutig und entscheidend. Wer die Notwendigkeitslehre verficht, kann nicht einmal ernsthaft dafür argumentieren, ohne in einen performativen Widerspruch zu geraten. Aber die logische Versuchung – wer sagt denn, daß es keine logischen Versuchungen gibt? – singt weiterhin ihren Sirenengesang. Trotz der oben aufgezeigten Argumente taucht im Bewußtsein ständig die unterschwellige Idee auf, daß die Aussagen immer entweder wahr oder unwahr sind, daß die Welt von einem zwar verborgenen, aber unabänderlichen Gesetz regiert wird, daß es ein Schicksal gibt, das alles leitet und alles bestimmt. Irrtum, ewiger Irrtum, der zu uns von den Griechen und Römern gekommen ist und unsere Kultur zutiefst beeinflußt hat. Es stimmt nicht.

4.3 Die philosophische Notwendigkeitslehre Unter der Führung von Platon, Plotin und Proklos verwandelt sich die logische Notwendigkeitslehre sehr bald in eine philosophische Notwendigkeitslehre, oder – dieselbe Sache mit anderem Namen – in eine systemische Notwendigkeitslehre. Nun ist nicht nur die Logik notwendig, sondern die ganze neuplatonische Philosophie wird zu einem Netz von notwendigen Zusammenhängen. Alle Dinge und Geschehnisse sind die Glieder einer großen Kette. Ein Glied ist an zwei anderen befestigt, also jeweils vorne und hinten. Und alle Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Gliedern sind absolut notwendig. In dieser Auffassung von Notwendigkeit ist das All verstanden als die notwendige Entwicklung, in der von einem Urei aus, worin alles vorprogrammiert ist (im-plicatio), alle Dinge sich entfalten (ex-plicatio). In dieser Weltauffassung geht man davon aus, daß im ersten Anfang, im Urei, das ganze All enthalten ist wie in einem Samen. Das All 206 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die philosophische Notwendigkeitslehre

wurde ganz fein zusammengefaltet, ins Urei gelegt; es ist implicatum. Die Falten, plicae, kommen aus diesem Anfangssamen. Die Entfaltung dieser Falten, bereits im Urei impliziert, geschieht auf stets dieselbe Art. Aus dem Ei kommt nur, was schon darin steckt: die Explizierung dessen, was implizit ist. So wird der Entwicklungsprozeß wie ein unabänderlicher Ablauf gedacht, in dem alles auf die erwartete Art passiert. In diesem notwendigen Ablauf gibt es weder Kontingenz noch Zufall. Deshalb gibt es keinen Raum für Handlungsalternativen, die gleichermaßen möglich wären. Und deshalb kann es keinen freien Beschluß zwischen gleichermaßen realen Alternativen geben. Deshalb gibt es keinen Raum für den freien Willen. Da es keinen Raum für die Freiheit gibt, gibt es auch keine Verantwortung für die gefällten Entscheidungen. Insofern es keine tatsächliche Verantwortung gibt, muß der Staat autoritär sein. Die Regierung muß demjenigen übegeben werden, der das Wissen hat, oder, moderner ausgedrückt, der das Know-how hat. Platon, Plotin und Proklos, große und begabte Denker, die ich so bewundere, verzeiht mir den geschichtlich-systematischen Kontext, in den ich euch versetze, aber tatsächlich haben verschiedene Arten von Totalitarismus ihre Wurzeln im neuplatonischen Denken. Ein kleiner Irrtum am Anfang verursacht einen großen Irrtum am Ende: Parvus error in initio, magnus in fine, sagten die Menschen im Mittelalter. Die systemische Notwendigkeitslehre, die wir bei Platon skizziert und bei Plotin und Proklos klar ausgezeichnet finden, brachte, ohne daß ihre Autoren es so gewollt hätten, gräßliche politische Fehler hervor. Der Übergang von der philosophischen zur politischen Notwendigkeitslehre geschieht auf fast natürliche Weise: nur wer etwas weiß, soll herrschen. Die unwissende Masse kann nur von jemandem regiert werden, der das Wissen besitzt. Die unwissende Masse will ja sowieso von eiserner Faust regiert werden. Noch ein kleiner Schritt, und wir stehen vor dem schockierenden Ergebnis: die unwissende Masse will ja betrogen werden (denkt jemand zufällig an gewisse Politiker, die wir immer noch haben?). Es ist eine harte, aber wahre Feststellung: der Stalinismus mit allen seinen Grauen hat seine Wurzeln letztendlich im neuplatonischen Ansatz. Stalin kommt von Lenin; dieser kommt von Marx, der wiederum von Hegel, der dann von Spinoza, dieser von den Neuplatonikern aus dem Mittelalter, die von Plotin und Proklos kommen, und diese zuerst von Platon. Wo liegt der Fehler? In der philosophischen Notwendigkeitslehre. Bereits die Kirchenväter hatten bemerkt, daß die neuplato207 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Sinn der Geschichte

nische Philosophie an der Notwendigkeitslehre litt und somit die Freiheit und die Verantwortung unmöglich machte. Der Hl. Augustinus z. B. verbrachte sein ganzes Leben mit dem Versuch, die Prädestination und die Göttliche Vorsehung mit dem freien Willen des Menschen in Einklang zu bringen. Er schaffte es nicht. Im Mittelalter versucht es Nikolaus Cusanus wieder. Umsonst. Spinoza, der große neuplatonische Denker der Neuzeit, kapituliert vor dem Problem. Spinoza will eine Ethik schreiben, aber das System produziert nur ein Netz von notwendigen Beziehungen. Alles ist notwendig in Spinozas System. Nach Spinoza existiert die Kontingenz gar nicht. Es handelt sich nur um einen objektiven Irrtum, der von der Philosophie korrigiert werden muß. Nach Spinoza kommt Hegel. Hegel nimmt sich vor, als umfassendes Programm seiner Philosophie, das neuplatonische System mit dem Freiheitsbegriff in Einklang zu bringen, so wie dieser von den klassischen Denkern des Mittelalters ausgearbeitet und in der Neuzeit von Kant zusammengefaßt worden war. Im Vorwort zur Phänomenologie sagt uns Hegel schonungslos und ohne halbe Worte genau, was er vorhat: Spinozas Substanz mit dem freien Ich von Kant zusammenzubringen. Da ist es nun ausbuchstabiert: das große Problem besteht darin, das neuplatonische Systemprojekt mit einem wirklich freien Ich in Einklang zu bringen, die Substanz mit dem freien Ich. Dies ist das große Problem, womit sich Hegel ein Leben lang herumschlägt. Wer, fragt Hegel, schreibt die Universale Geschichte? Ist es die Vernunft, oder schreiben wir die Geschichte? Hegel sucht, zögert, zaudert und kapituliert schließlich vor der gewaltigen Macht der Vernunft. Die Vernunft schreibt die Geschichte, behauptet er. Und wir? Wo bleiben wir? Nun, wir haben nur rationale Legitimität, solange wir uns in der Universalen Vernunft auflösen lassen. Bei Hegel verwandelt sich der philosophische Determinismus in einen Determinismus der Geschichte. Im Sog Hegels erbt Marx dasselbe ungelöste Problem und macht denselben Fehler, wodurch dieser noch vertieft wird. Die Notwendigkeitslehre wird bei Marx noch stärker und eindeutiger als bei Hegel. Gleich danach verwandeln die Marxisten den theoretischen in einen großen politischen Irrtum. So steigert sich dieser Irrtum nur noch. Auf die Art kommen der Stalinismus und die sogenannten Volksdemokratien auf, in welchen die Diktatur des Proletariats Gerechtigkeit und Recht geltend machen sollte. Für die Marxisten war die ganze Geschichte vorbestimmt. Die Revolution war unausweichlich und sie mußte – große politische Naivität – erfolgreich sein. Die Geschichte, sagten die Marxisten hier von 208 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die philosophische Notwendigkeitslehre

Porto Alegre, fuhr mit der Straßenbahn. In Argentinien, so sagte man, fuhr die Geschichte mit dem Zug. Straßenbahn und Zug sind Fahrzeuge, die auf bereits fertiggelegten Schienen fahren; der ganze Weg ist von Anfang an vorbestimmt. Sie redeten von den berühmten Gesetzen der Geschichte und waren sich sicher, daß die Theorie auch faktisch funktionieren würde. Es waren neuplatonische Philosophen, die nur einen Irrtum wiederholten, der bereits aus der Antike kam. Das alles ist zwar vorbei, gut, aber es ist wichtig, daß wir den philosophischen Kontext verstehen, in welchem das geschehen ist, damit unsere Kinder und Studenten diesen Fehler nicht wiederholen. Ein von vor langer Zeit herkommender Irrtum, ein Irrtum, der mit Platon, dem göttlichen Platon, beginnt, und der, Scotus Eriugena, Spinoza, Hegel und Marx durchlaufend, bis zu unseren linken Kollegen und Freunden gekommen ist: die philosophische Notwendigkeitslehre, die sich als geschichtliche Notwendigkeitslehre etabliert. Wer hat den Fehler aufgezeigt? In der Antike waren es die Kirchenväter. Im Mittelalter die großen aristotelischen Denker, die, als sie den deterministische Defekt des neuplatonischen Systems bemerkten, dazu übergingen, den Aristotelismus stark zu machen, und besonders die aristotelische Auffassung von freiem Willen: Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bonaventura, Scotus Eriugena und Wilhelm von Ockham. Im ausgehenden Mittelalter haben die Engländer einer erneuerten Auffassung von freiem Willen und politischer Philosophie Form gegeben. So entstehen in der Neuzeit der Englische Empirismus und eine in der Freiheit des Individuums zentrierte politische Philosophie: von Hobbes bis Hume und Locke. Im deutschen Idealismus war Schelling der erste, der den im Bestimmungssystem enthaltenen Irrtum betonte. In seinen an der Universität München gehaltenen Vorlesungen über Gegenwärtige Philosophie zeigt Schelling mit erhobenem Finger auf Hegels großen Fehler: das Vertuschen der Kontingenz. Nach Schelling pochen fast alle großen Denker darauf. Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Sartre, Horkheimer, Adorno, Popper, Habermas, Apel, Rawls, Rorty, sie alle zeigen auf den Irrtum in der Notwendigkeitslehre. Gegen die notwendige Vernunft von Hegel und die neuplatonischen Projekte erhebt sich im 20. Jahrhundert die Stimme der Verfechter der Kontingenz, der Geschichtlichkeit, der Zeitlichkeit, der Vielfalt von Gründen. Die Gesellschaft muß offen sein; das All muß als ein offenes gedacht werden. Ist der aufgezeigte Irrtum tatsächlich ein Irrtum? Ja, es ist ein Irrtum. Die Widerlegung des philosophischen Notwendigkeits209 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Sinn der Geschichte

systems in seiner ersten Wurzel geschieht mittels eines performativen Widerspruchs. Wer die These der radikalen Bestimmungslehre erhebt, gerät dabei in performativen Widerspruch. Denn wenn jemand argumentiert, setzt er, insofern er seine Argumente in einem Diskurszirkel vorträgt, voraus, daß er durch gute Gründe die anderen Teilnehmer der Gesprächsrunde überreden will. Diese guten Gründe drängen sich nicht ungefragt auf, einfach infolge eines geschichtlich unabänderlichen Ablaufs. Sie müssen dargelegt und diskutiert werden. Warum? Weil nicht alle fertig und abgeschlossen sind. Nicht alle Gründe sind vorprogrammiert. Einige wohl, aber nicht alle. Einige Zusammenhänge sind notwendig, andere sind kontingent. In der Gesprächsrunde merken wir, was notwendige Vernunft ist und was rein kontingenter Zusammenhang. Wenn alle Zusammenhänge notwendig wären, bräuchte man keinen Diskurs. Jeder könnte den Sinn der Welt herausfinden, ohne die anderen zu befragen. Der tatsächliche Dialog mit den anderen Menschen wäre in einem Notwendigkeitssystem unnötig und nutzlos. Ist der reale Dialog nun schließlich notwendig oder kontingent? Wir müssen den Dialog üben, damit in ihm sichtbar werde, was notwendig und was kontingent ist. Wer sagt, daß alles immer notwendig ist, braucht keinen Dialog. Wer redet, setzt voraus, daß es Gründe für einen Dialog gibt. Dies ist die performative Wurzel, die die Kontingenz legitimiert und die Notwendigkeitslehre als allgemeine Theorie des Alls verbietet. Ist dieses Argument nicht schwach? Nein, es handelt sich eigentlich um dasselbe Argument, das bereits von Aristoteles gebraucht wurde, um den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch zu begründen. Wer das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspuch verneint, setzt es im Negieren an sich wieder voraus. Oder er wird zum vegetativen Wesen. Wer verneint, daß es im All Kontingenz gibt, stellt im Verneinen einen Akt auf, der kontingent ist und sich als solchen weiß, und setzt beim Hörer einen kontingenten Akt voraus. – Hat man andere Argumente dafür, daß es im Prinzip Kontingenz auf der Welt gibt? Ja, es gibt viele negative Argumente. Wer die Kontingenz prinzipiell verneint, muß auch den freien Willen, die Verantwortung, die Gerechtigkeit, das Recht, den demokratischen Staat verneinen. Nichts davon kann existieren, wenn es nicht, prinzipiell, Kontingenz und Geschichtlichkeit gibt. Heidegger und Popper hatten in der Hinsicht völlig Recht. Hierin sind die Kritiken gegen die Notwendigkeitslehre der Geschichte bei Hegel, seitens der aktuellen Denker, meiner Meinung nach absolut überzeugend. 210 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Die Zwei-Welten-Theorie von Kant

4.4 Die Zwei-Welten-Theorie von Kant Hegel nimmt der Geschichte gegenüber eine zutiefst widersprüchliche Haltung ein. Einerseits merkt er das Problem der Notwendigkeitslehre, so wie diese von Spinoza aufgestellt wurde, andererseits will er die Freiheit, so wie diese von Kant beschrieben und behauptet wurde, retten. Spinozas Substanz mit Kants freiem Ich in Einklang zu bringen, dies war das Lebensprojekt, das Hegels ganze Arbeit bestimmt hat. Kant hat ja das Problem mit aller Klarheit erfaßt. Bei Kant tritt die Notwendigkeitslehre nicht so sehr in ihrer logischen noch in ihrer systemischen Form auf, sondern in einer Form von Szientismus. Die wissenschaftliche Notwendigkeitslehre, eine spezifische Form innerhalb der größeren Gattung der philosophischen Notwendigkeitslehre, behauptet, daß das Kausalitätsprinzip immer und in allen Fällen gilt. Wo es eine Wirkung gibt, muß es eine vorgelagerte Ursache geben. Und die Wirkung ist immer schon innerhalb der Ursache vorbestimmt. Auf die Art sind alle Dinge von jeher in ihren Ursachen vorbestimmt. Und diese wiederum in den ihnen vorangegangenen Ursachen. Also ist alles von der ersten Ursache an vorbestimmt. Die allgemeine Gültigkeit des Kausalitätsprinzips führt zu einer totalen und umfassenden Notwendigkeitslehre. Kant hat das sehr gut erfaßt. Und um einen Raum zu retten, in dem die Freiheit noch möglich sein soll, bietet Kant eine reine ad hoc Lösung, die aber überhaupt keine Lösung ist. Zwei Welten werden postuliert. In der einen Welt, der Welt der Phänomene, sagt Kant, herrschen das Kausalitätsprinzip und die von ihm abgeleitete Notwendigkeitslehre. In der anderen Welt, der Welt der Noumena, wäre die Freiheit des Menschen zu finden, mit ihrer Fähigkeit, zwischen Alternativen zu wählen, die gleichermaßen möglich sind. Zwei Welten? Jedes Ding befindet sich immer, so Kant, in zwei Welten. In der Welt der Kausalität würde der notwendige ursächliche Zusammenhang herrschen, in der Welt der Noumena würde die Freiheit existieren. Zwei Welten postulieren? Einerseits sagen, daß meine Handlung absolut von den herrschenden Zusammenhängen vorbestimmt ist, und andererseits behaupten, daß ich frei heraus entscheide, ohne daß die Kausalitätskette meinen Entscheid vorbestimmt? Ist das nicht absurd? Ist das kein Widerspruch? Klar ist es ein Widerspruch. Selten in der Geschichte der Philosophie hat sich ein Meisterdenker so häßlich verheddert. Zwei Welten zu postulieren, ist absurd. Andererseits er211 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Sinn der Geschichte

kennt man hier, für wie wichtig Kant die Freiheit hielt. Um diese Freiheit zu retten, geriet Kant, der große Kant, in ein Schlammloch. Er nahm es lieber auf sich, eine Dummheit zuzugeben als die Freiheit zu opfern. Sein Respekt vor der Freiheit und der Verantwortung des Menschen war so groß, daß er, um nicht sagen zu müssen, Freiheit sei etwas Unmögliches, die absurde Theorie der zwei Welten postulierte. Müssen wir heute eine solche Theorie aufnehmen? Wie lösen wir diese Frage? Mittels der Theorie der Zwischenräume, nach Charles Taylor, oder mittels der Theorie der Stufen, wie hier vorgeschlagen. Die Theorie der Zwischenräume geht davon aus, daß es im All Gesetze gibt, die es durchlaufen und tragen, so wie eine Struktur aus Stahlbeton ein Hochhaus durchläuft und trägt. Zwischen den Betonträgern gibt es Hohlräume, in die man Wände einsetzen kann, wenn man will. Diese Zwischenräume, die nicht von deterministischen Gesetzen geregelt werden, bilden den Raum, in dem es Kontingenz gibt und in dem der Entschluß des freien Willens eingefügt ist. Nach der Stufentheorie gibt es starke und schwache Gesetze. Der durch die schwachen Gesetze geöffnete Raum ist der Ort von Kontingenz und freien Handlungen.

4.5 Die Eule der Minerva und die absolute Vernunft Hegel hatte ein einziges großes Ziel in seiner philosophischen Arbeit: Spinozas Substanz mit Kants freiem Ich in Einklang zu bringen. Hegel wollte einerseits ein System nach dem neuplatonischen Philosophieprojekt aufbauen, aber andererseits wollte er auch, daß es in diesem System Raum gibt für die wahre Freiheit des Menschen. Spinozas System, welches Hegel sehr gut kannte, schrieb der Notwendigkeitslehre eine extreme Wichtigkeit zu. Was tun? Auf welche Art? Das Hegelsche System stellt sich von Anfang an als ein neuplatonisches System vor: alles kommt vom Sein, welches auch das Nichts ist. Das Sein ist das Nichts, welches das Werden ist, dies wiederum das Etwas, welches das Andere ist usw., bis man zum absoluten Wissen kommt. Das ganze All, sogar die ganze Geschichte, ist Teil dieses Entwicklungsprozesses. Falte für Falte entfaltet sich alles von einem ersten und einfachen Anfang aus. Auch die Geschichte mit ihren Ereignissen ist reine Entfaltung, in einem Prozeß, durch welchen das unbestimmte Sein sich langsam in absolutes Wissen verwandelt. 212 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Historische Materialismus

Also alles determiniert? Alles vorbestimmt? Hegel redet vom unabänderlichen Marsch des Gedankens, vom notwendigen Verlauf der Entwicklung, von der Notwendigkeit der Geschichte. Und wo bleiben die Kontingenz der Dinge und die Geschichtlichkeit der Ereignisse, die sein können, die aber ebenso nicht zu sein brauchen? Hegel untersucht diese Frage. Schließlich ist dies eine Hauptfrage für ihn. Hegel zögert, zaudert, ändert seine Meinung. Die absolute Kontingenz, von Hegel in die Mitte der Wesenslogik gesetzt, wird jetzt vom Rand aus zerrieben, aufgelöst und verwandelt sich endlich in absolute Notwendigkeit. Hegel ist der erste und letzte, der einzige Denker, der die Kontingenz für eine typische Eigenschaft des Absoluten hält. Aber Hegel wird nicht kohärent. Und die Notwendigkeit bedrängt ihn, übermannt ihn und erobert schließlich sein Herz und Geist. Auch Hegel wird, meiner Meinung nach, zu einem Bestimmungsdenker. Deshalb fliegt die Eule der Minerva nur auf, wenn der Tag sich bereits dem Ende neigt. Das kommt daher, so Hegel, weil, nachdem die Dinge passiert sind, post factum, nach allen Ereignissen, deutlich wird, daß alles von der Vernunft bewegt und bestimmt worden war, durch die gewaltige Macht der Verneinung. Die Geschichte wird auf diese Weise zu einer Bühne, auf welcher das große, von der absoluten Vernunft geschriebene Drama für uns gespielt wird, die wir, ohne es zu wissen, nur von der Großen List geleitete Spielpuppen sind. Das Regiebuch der Weltgeschichte wird, nach Hegel, von der Vernunft geschrieben. Wir werden nur von der List der Vernunft geleitet.

4.6 Der Historische Materialismus Hegels Lehrlinge, die Marxisten, haben sich streng an diese Auffassung der Geschichte gehalten. Anstelle der absoluten Vernunft der Hegelschen Logik nahmen sie das Proletariat. In diesem verkörpert sich erst das Absolute. Die proletarische Revolution ist, wie sie sagen, das Moment, in dem dieses Absolute, welches im Inneren des Proletariers pulsiert, hervordringt, auftaucht und sich als klassenlose Gesellschaft etabliert. Deshalb, so die Marxisten, ist die Revolution unabänderlich. Deshalb kann sie nie irren. Diese Notwendigkeitsauffassung der Geschichte führte dann zu einer Notwendigkeitsauffassung des Staates, zum politischen Totalitarismus. Die Verbrechen des Stalinismus, die Moskauer Prozesse, die Ver213 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Sinn der Geschichte

breitung des Marxismus in aller Welt, der Fall der Berliner Mauer, die Zerbröckelung der Sowjetunion, alles kommt von einem philosophischen Irrtum her. Ein kleiner Irrtum am Anfang, ein großer Irrtum zum Schluß. Heutzutage wissen wir, daß wir, wenn wir die Kontingenz nicht achten, zu Robotern werden und die Welt sich in einen Alptraum verwandelt. Es war hart, aber wir haben es gelernt. Wenn wir die Kritik von Schelling, Kierkegaard und Nietzsche gegen Hegel besser begriffen hätten, wäre dies alles unnötig gewesen. Wäre es das? Die Eule der Minerva schwingt sich immer erst am Abend zum Flug auf. Der melancholische Ton dieser Worte von Hegel, nostalgisch in die Vergangenheit zurücksinkend, machte den jungen Hegelianern linker Einstellung Platz, welche, die Zukunft vor Augen, die Eule der Minerva durch den Morgengesang des Gallischen Hahnes ersetzen wollten. Der Gallische Hahn, in diesem Kontext von Michelet, einer von Hegels Schülern, zitiert, deutet auf die Französische Revolution und verkündet eine neue Große Revolution, die, wie die französische, völlig die politische Welt verwandeln soll. Von Michelet bis Feuerbach, Karl Marx und Lenin ist die Entfernung groß, aber der Akzent ist derselbe. Die jungen Hegelianer dachten, daß die Geschichte am Marschieren wäre, und daß dieser Marsch unabänderlich wäre. Bis die Berliner Mauer fiel. Wer da zu denken anfing, hatte schon längst vor dem Fall der Mauer gemerkt, daß es Kontingenz gibt, daß der Mensch frei ist, daß es oft Wahlalternativen gibt, daß der Staat nicht totalitär sein kann, daß die Geschichte kein unabänderlicher Prozeß ist. Aber wenn nicht die Vernunft das Drehbuch der Weltgeschichte schreibt, wer ist denn schließlich der Autor? Wer schreibt da? Wir schreiben, wir machen die Geschichte.

4.7 Wir und die Eule der Minerva Eine menschliche Tat ist, wenn sie komplett und zuende gebracht wurde, fertig und wiederholt sich nicht. Richtig? Falsch. Wir können und sollen immer wieder unsere Taten in der Vergangenheit beurteilen. Die Zeit ist vergangen, sicher, aber unsere Taten vergehen nie vollständig. Wir sind weiterhin für sie verantwortlich. Es fällt uns zu, ihnen täglich ihren moralischen Wert zu geben. Wer faktisch jemanden ermordet hat, ist ein Mörder. Sobald er 214 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Wir und die Eule der Minerva

getötet hat, wird er zum Mörder. Aber der Mörder kann und muß, im Nachhinein, seine Tat moralisch beurteilen. Wenn die Beurteilung positiv ausfällt, ist der einmal zum Mörder Gewordene davon überzeugt, daß der Mord etwas Gutes war und somit etwas, das er wiederholen würde. Wenn er so urteilt, würde der Mörder noch einmal töten und sich im vollsten Recht wähnen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn solch ein Mörder, von der Richtigkeit seiner Tat überzeugt, noch mehr Morde verüben würde. Im Umgang mit einem solchen Menschen ist keine Vorsicht zuviel. Es handelt sich um einen Mörder, der jeden Moment wieder zuschlagen kann. – Ein anderer verübt einen Mord, bereut ihn aber danach. Die Tatsache des Mordes ändert sich nicht; jemand wurde tatsächlich ermordet. Aber die Reue verändert einen Menschen und die persönliche Geschichte dieses Mörders. Er hat bereut und will nicht mehr töten. Die geschehene Tat ändert sich nicht durch die Reue, sie ändert sich nicht als geschehene Tat, aber sie ändert sich in ihrem moralischen Kolorit. Es war etwas Böses. Diese Art von Beurteilung, die wir täglich von den vergangenen Ereignissen machen, ist der Kern der Geschichte. Geschichte schreiben heißt, die Tatsachen zu erzählen und ihnen eine angemessene moralische Beurteilung zukommen zu lassen. Die Ethik ist der harte Kern der Geschichte. Und die Ethik basiert auf der Freiheit, welche ihrerseits auf der Auswahlfähigkeit zwischen möglichen Alternativen basiert. Wer, also, schreibt die Geschichte? Wir tun es, wir mit unseren moralischen Entscheidungen und Beurteilungen. Natürlich bedeutet der Begriff Wir in diesem Kontext das konkrete Universale, die Gesellschaft in der wir leben, die Kultur, die wir sind und die wir machen. In diesem Sinn sind wir selber die Autoren des Drehbuchs der Weltgeschichte. Jeder einzelne von uns ist, in den Grenzen seiner Fähigkeiten, ein bescheidener Mit-Autor des Drehbuchs der Geschichte. Jeder von uns trägt ein Steinchen zum großen Mosaik des Sinns der Geschichte bei. Unser Beitrag ist, wie man sieht, bescheiden, aber er ist real. Die Mönche des Mittelalters machten am Ende jeden Tages ein examen conscientiae. Die im Lauf des Tages geschehenen Tatsachen und die vollbrachten Taten wurden dann nach ihrem ethischen Inhalt beurteilt. In der Gewissensprüfung soll der ehrliche Mensch, so die Mittelalterlichen, seine Taten ethisch beurteilen, indem er die guten bestätigt, die schlechten bereut und die anfangs isolierten Handlungen in den großen Kontext der Heilsgeschichte einbindet. Die vom Individuuen getätigten Handlungen wurden so mittels der Gewissensprüfung in den Horizont der Welt215 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Sinn der Geschichte

geschichte eingefügt. Das Individuelle wurde auf diese Art zum Universalen. Die von den Individuen isoliert durchgeführten Handlungen wurden verwebt und formten ein Netz: den Sinn des Lebens. – Mit dem allmählichen Verschwinden der Mönche kommen dann die weltlichen Nachfolger hervor. Im 20. Jahrhundert üben die Existenzialisten und die Psychoanalytiker die Funktion aus, die vordem Sache der Padres Confessores war: das Einzelwesen dazu zu bringen, sich über sich selbst zu beugen und sich über eine universalizierende Besinnung in das Netz der Weltgeschichte miteinzubinden. Gibt es denn keinen über uns, der darüber wacht, daß man das Drehbuch der Geschichte nicht verliert? Gibt es außer uns keinen Großgeschichtsschreiber, kein denkendes Wesen, das unsere individuellen Beiträge zum Sinn der Geschichte in Ordnung bringen könnte? Unsere Vorfahren sagten: Gott schreibt gerade auf krummen Linien. Tut er das wirklich? Ist Gott etwa nicht der Große Koordinator des Sinns der Geschichte? Um Gott als die Vernunft in der Geschichte denken zu können, muß erstmal gefragt werden, ob es Gott überhaupt gibt. Gibt es Gott?

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5 Das Absolute

5.1 Gibt es Gott? Viele Klassiker der Philosophie, besonders Denker des Mittelalters wie Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin, beschäftigten sich ernsthaft mit dem Gottesbeweis. Gibt es Gott? Gibt es das Absolute? Anselm und Thomas von Aquin versuchen einen Beweis der Existenz Gottes mittels rationalen Argumenten. Das ontologische Argument des Hl. Anselm und die Quinque Viae von Thomas von Aquin sind Versuche, nur durch die Vernunft, d. h., ohne die Voraussetzung des christlichen Glaubens, aufzuzeigen, daß es Gott tatsächlich gibt. Diese Problematik intensivierte sich in unserer philosophischen Tradition und spaltete die Denker in zwei große Gruppen auf: jene, die den Gottesbeweis annehmen, und jene, die ihn ablehnen. Theisten und Agnostiker diskutieren und debattieren bis heute. Kann man die Existenz Gottes beweisen? Ist das machbar? Theismus oder Agnostizismus? Weder das eine noch das andere, zumindest in dem heute dafür gebrauchten Sinn. Ich habe eine deutliche und klare Meinung über die Existenz des Absoluten: ich denke, diese Frage kann nicht einmal gestellt werden. Natürlich gibt es das Absolute. Die Existenz des Absoluten, so wie ich es verstehe, kann nicht einmal angezweifelt werden, ohne daß die Frage sich sofort in eine affirmative Antwort verwandelt. Mehr noch. Wer das Absolute verneint, behauptet in der Verneinung selbst seine Existenz. Wer das Absolute verneint, gerät in einen performativen Widerspruch. Wie? Warum? Die Dinge sind entweder relativ oder absolut. Die relativen Dinge sind relativ, weil sie logisch und ontologisch auf etwas anderes deuten, letztens auf etwas Absolutes. Alles Relative ist eine Beziehung zu etwas anderem; dieses Etwas ist seinerseits entweder relativ oder absolut; wenn es relativ ist, deutet es auf noch einen anderen; und so weiter, bis wir zum Absoluten kommen, das stets vorausgesetzt ist. Man setzt immer ein Etwas voraus, das das Absolute ist. 217 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Absolute

Wenn es ein relatives Sein gibt, muß es notgedrungen auch ein absolutes Sein geben. Nun, es gibt ja Wesen im All; ich selbst, der ich hier nachdenke, existiere und bin ein Wesen. Also gibt es auch etwas Absolutes. Wer das begreift, kann nicht länger fragen, ob es das Absolute gibt. Eine solche Frage ist einfach unangebracht. Die passende Frage richtet sich nicht an die Existenz des Absoluten, sondern an seine Identität. Wer ist das Absolute? Wie ist das Absolute? Bin ich etwa zufällig, der ich hier nachdenke, das eigene Absolute? Es genügt etwas Verstand und Nachdenken, um herauszufinden, daß nicht Ich das Absolute bin, oder zumindest, daß nicht Ich das ganze und vollständige Absolute bin. Die Frage nach der Identität des Absoluten ist sinnvoll und somit völlig angebracht; die Antwort, welche sagt, daß das Ich das Absolute sei, stimmt nicht, ist aber auch keine völlig dumme Behauptung. Aber ernsthaft fragen zu wollen, ob es das Absolute gibt, ist meiner Meinung nach Unfug. Denn es gibt ja Wesen wie das Ich, das gerade spricht, also gibt es ein Absolutes. Es handelt sich hier um dasselbe Argument, das Leibniz zu Beginn der Monadologie gebraucht. Die Dinge sind entweder einfach oder komplex. Die komplexen Dinge sind aus einfachen geformt. Wenn dieses geklärt und vorausgesetzt ist, weiß man sofort, daß es irgendein Wesen gibt, das einfach ist. Dieselbe Überlegung gilt für das Wortpaar relativ-absolut. Da das Relative stets das Absolute voraussetzt, heißt das, wenn es ein Relatives gibt, gibt es notgedrungen auch das Absolute. – Deshalb finde ich es Unfug, über die Existenz des Absoluten zu diskutieren: es ist eindeutig, daß das Absolute existiert. Thomas von Aquin möge mir verzeihen, aber Gottes Existenz beweisen zu wollen, ist genauso dümmlich wie beweisen zu wollen, daß ich, der ich hier spreche und schreibe, bin. Ganz anders jedoch stellt sich die Frage nach der Natur des Absoluten. Das Absolute existiert; Gott existiert, das ist eindeutig. Die große Frage lautet: Wer ist Gott? Wie ist das Absolute? Wo ist das Absolute? Ist es transzendent und schwebt über allem? Oder ist es immanent und in allen Dingen? Dies ist die entscheidende Frage; dies ist die ernste und entscheidende Frage: ist das Absolute transzendent oder immanent? Schwebt es über den Dingen oder ist es in ihnen? Hier scheiden sich die Wasser, hier spalten sich die Meinungen. In unserer philosophischen Tradition gibt es zwei Begriffe für das Absolute, den neu-aristotelischen und den neuplatonischen Begriff. Der neu-aristotelische Begriff von Gott, von Albertus Magnus und Thomas von Aquin im Lichte von klassischen Themen Aristoteles’ ge218 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Gibt es Gott?

prägt, sagt, daß Gott der erste unbewegliche Beweger ist, die erste nicht-verursachte Ursache, ein transzendentes Wesen, d. h. er ist irgendwo dort oben, über den Grenzen der endlichen Dinge. Der neuplatonische Begriff, welcher von den griechischen Patristen kommt, vom Hl. Augustinus, von Johannes Scotus Eriugena, Nikolaus Cusanus und bis Spinoza, Fichte, Schelling und Hegel reicht, sagt, daß Gott immanent und in den Dingen ist. In dieser dialektischen Auffassung ist Gott sowohl immanent als auch transzendent. Er ist immanent, weil er im Kern aller Dinge ist, auch im Kern des Ichs, welches hier redet und schreibt, und des Du, welches zuhört und liest. Er ist auch transzendent, weil er sich mit keinem spezifischen Ding identifiziert und es, auf die Art, transzendiert. Hier stehen sich zwei Auffassungen von Gott gegenüber. Die eine ist analytisch, aristotelisch und thomistisch. Die andere ist dialektisch, neuplatonisch. Die erste verficht die These, daß Gott transzendent ist, und daß Transzendenz und Immanenz Eigenschaften sind, die sich widersprechen und gegenseitig ausschließen. Wenn die Transzendenz wächst, nimmt die Immanenz ab, und umgekehrt. Transzendenz und Immanenz sind umgekehrt proportional. Die zweite Auffassung, die dialektische, sagt, daß Gott sowohl transzendent als auch immanent ist; sie behauptet, daß Transzendenz und Immanenz keine Gegensätze sind, die sich nur ausschließen – These und Antithese –, sondern Gegensätze, die in einer höheren Synthese in Einklang gebracht werden können und müssen. Transzendenz und Immanenz sind direkt proportional. Nach den Voraussetzungen, die im Gang dieses Werkes aufgezeigt und erwiesen worden sind, ist meine Hauptthese, daß der neuplatonische Gottesbegriff korrekt und der neu-aristotelische falsch ist. Den vom neu-aristotelischen Begriff bezeichneten und gedachten Gott gibt es nicht; wenn Gott das ist, dann gibt es keinen Gott. Wenn Gott auf die neu-aristotelische Art verstanden wird, dann gibt es ihn nicht. Angesichts dieser Auffassung von Gott muß man dann atheistisch werden, oder zumindest – der Höflichkeit wegen – agnostisch. Wenn wir jedoch Gott verstehen, wie er von den neuplatonischen Denkern konzipiert wird, dann gibt es Gott, ohne jeden Zweifel. Nur daß dies nicht jener Gott ist, den wir in der Schule von unseren gutgesinnten und wohlmeindenden Religionslehrern gelernt haben; es ist nicht der Gott unserer Lehrer im katholischen oder evangelischen Gymnasium. Welcher Gott ist es denn? Wir werden das bald feststellen. Aber vorher müssen wir über den Gott reden, den es nicht gibt, den Gott der neu-aristotelischen Tradition. 219 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Absolute

5.2 Der transzendente Gott der neu-aristotelischen Tradition Bereits Aristoteles lehrte: Alles was sich bewegt, wird von etwas anderem bewegt. Thomas von Aquin setzt dieses Prinzip in die Mitte seines philosophischen Systems: Quidquid movetur ab alio movetur. Auf diesem Prinzip baut man dann das Argument auf, um die Existenz Gottes als den ersten unbewegten Beweger zu beweisen. Wenn sich etwas bewegt, wird es von etwas anderem bewegt, das außer ihm liegt. Jedes sich bewegende Wesen setzt also ein bewegendes Wesen voraus. Wenn dieses seinerseits auch bewegt wird, so durch etwas, was vor ihm da war. Und so fort, bis wir zum ersten Beweger aller sich bewegenden Dinge kommen. Dieser este und letzte Beweger ist, obwohl er alles sonst bewegt, in sich unbewegt. Wenn es im All irgendein Wesen in Bewegung gibt, argumentiert Thomas von Aquin, gibt es ebenso einen ersten unbewegten Beweger. Nun, es gibt in Bewegung seiende Wesen. Also gibt es Gott als ersten unbewegten Beweger. Was ist der Fehler? Wo liegt der Irrtum? Nicht alles, was sich bewegt, wird von etwas anderem bewegt, von etwas, das außer ihm liegt. Aristoteles selber betrachtet die Lebewesen als autokíneton, als Sich-selbst-bewegende-Wesen. Nicht alle Bewegungen werden von etwas hervorgerufen, das außer und vor dem bewegten Ding da war. Da liegt der Fehler. Das aufgerufene Prinzip, Quidquid movetur ab alio movetur, ist zwar wichtig und gültig für viele Dinge, aber nicht immer und in allem gültig. Deshalb ist das Argument nicht schlagend. Thomas von Aquin und die Thomisten sind sich nicht bewußt, daß es sich selbst bewegende Wesen gibt, und die trotzdem kein Gott sind. Der Begriff von Selbstbewegung ist ihnen als solcher fremd. Heutzutage, wenn die aktuelle Biologie von autopoietischen Systemen redet, scheint uns das einfach und offensichtlich zu sein. Aber für die Menschen im Mittelalter war es das nicht. Für die Denker des Mittelalters war die Bewegung immer das Ergebnis eines dem bewegten Ding äußerlich Bewegenden. Diese – falsche – Auffassung von Bewegung ist der Kern dieser Art von Argumenten für die Existenz Gottes. Das andere große Argument für die Existenz Gottes, dem ersten ähnlich, basiert auf dem Kausalitätsprinzip: Jede Ursache bedarf einer ihr vorangegangenen Ursache. Das Kausalitätsprinzip liest sich wie eine analytische und, auf die Art, wie eine allgemeingültige Aussage. 220 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der transzendente Gott der neu-aristotelischen Tradition

Setzt Wirkung etwa nicht stets eine Ursache voraus? Setzt das verursachte Sein nicht stets eine ihm vorangegangene Ursache voraus? Hume hat uns gezeigt, daß diese Frage nicht so einfach ist. Das oben genannte Prinzip, so wie es da formuliert wurde, ist – denke ich mal – eine analytische Aussage und als solche immer wahr. Aber wer sagt und versichert uns, daß dieser Tisch, auf den ich zeige, tatsächlich eine Wirkung ist? Daß er etwas Verursachtes ist? Wenn der Tisch eine Wirkung ist, wenn er verursacht wurde, dann postuliert sich notgedrungen eine ihm vorausgegangene Ursache. Aber wer sagt denn, daß der Tisch eine verursachte Wirkung ist? Wer sagt denn, daß die kontingenten Dinge tatsächlich etwas Verursachtes sind? Hier stokken Thomas von Aquin und die Thomisten und kommen nicht vorwärts, denn sie vermuten, daß Ursache und Wirkung immer und notgedrungen entgegengesetzte Pole seien, d. h., daß die Selbstverursachung unmöglich sei. Der Begriff einer Ursache, die sich selbst verursacht, wäre in sich widersprüchlich. Dies ist das Hauptthema der Arbeit zur Erlangung der Freidozentur, die Schopenhauer gegen den Hegelschen Begriff von Selbstverursachung schreibt und ausgerechnet Hegel an der Universität Berlin vorlegt. Schopenhauer verficht hier die neu-aristotelische Auffassung der Ursache, die stets der Wirkung äußerlich ist. Der Irrtum besteht in der Voraussetzung, daß jedwede Ursache stets äußerlich und ihrer Wirkung vorangegangen ist. Ein solcher Begriff, der prinzipiell die eigene Struktur einer causa sui ausschließt, ist falsch, denn er denkt die Ursächlichkeit nur als etwas Äußeres. Wenn das stimmen würde, könnte es kein Leben, keinen Gedanken, kein Bewußtsein, keine Freiheit usw. geben. Noch vor Schopenhauer hatte Leibniz das Problem genau erfaßt und, ohne den neuplatonischen Begriff der Selbstverursachung aufzunehmen, ging er weiter und versuchte, das Kausalitätsprinzip in einem breiteren und gültigeren Prinzip zu begründen, dem Satz vom zureichenden Grund. – Die Dinge sind kontingent. Sie können gleichsam existieren oder auch nicht. Selbst wenn die Dinge wirklich existieren, sind sie weiterhin kontingent, denn in ihrem Wesen können sie sowohl existieren als auch nicht-existieren. Aber wenn die Dinge wirklich existieren, warum existieren sie eigentlich, da sie ja ebenso nicht-existieren könnten? Was ist der Grund dafür, daß Dinge, die nicht zu existieren brauchen, wirklich existieren? Was ist der zureichende Grund dafür? Im Anschluß an eine Tradition des späten Mittelalters formuliert Leibniz dann den Satz vom zureichenden Grund: Alle kontingenten Dinge, die existieren können oder auch 221 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Absolute

nicht, müssen, falls sie wirklich existieren, einen zureichenden Grund dazu haben. Das auf die Art formulierte Prinzip ist richtig, total richtig. Nur daß man meistens einen Zusatz impliziert: müssen einen ihnen vorangegangenen, äußerlichen Grund haben. Wegen diesem – meiner Auffassung nach falschen – Zusatz, der meistens stillschweigend und unterschwellig gemacht wird, kehrt man zu einer dem vorherigen Argument ähnlichen Situation zurück. Man erzielt einen Vor- und einen Nachteil. Der Vorteil ist, daß das Argument der Existenz Gottes anerkannt zu sein scheint: Da es kontingente Dinge gibt, muß es einen nicht-kontingenten Gott geben, welcher der zureichende Grund eben dieser Dinge ist. Der Nachteil ist, daß das Kausalitätsprinzip so potenziert und ausgeweitet wurde, daß es tatsächlich für alles, und für alle Zusammenhänge, gültig wäre; dies führt jedoch zu einem völlig notwendigen kausalen Leitbild und unterbindet die Freiheit des Menschen und die Kontingenz der Geschichte. Leibniz hat das Problem voll erfaßt und kapitulierte. Er hätte gern eine Lösung, hat sie aber nicht. Von daher die – in sich absolut seltsame, aber im korrekten Kontext durchaus verständliche – Lehre der prästabilisierten Harmonie. Was war der Irrtum von Leibniz? Worin hat er recht? Worin liegt er falsch? Es ist korrekt, daß alle kontingenten Dinge einen zureichenden Grund haben müssen. Das ist analytisch. Falsch ist der stillschweigende Zusatz: dieser zureichende Grund ist immer dem kontingenten Ding äußerlich, er liegt außer ihm. Warum? Warum kann es nicht etwas Kontingentes geben, das der zureichende Grund seiner selbst wäre? Ist das Leben in sich selbst etwa kein zureichender Grund für seine vitalen Bewegungen? Ist das etwa nicht die eigentliche Definition von Leben? Ist unser freier Wille keine Selbstbestimmung? Ist der Mensch, wenn er frei entscheidet, nicht die causa sui seines Beschlusses? – Die analytischen Denker – sowohl bei den Griechen wie bei den Mittelalterlichen – können die guten Zirkularitäten nicht denken. Jede Kreisbewegung kommt ihnen stets als Teufelskreis vor. In der Logik, behaupten sie, beweist die Kreisbewegung gar nichts, in der Ontologie ist sie absurd. Deshalb wird der Erste Beweger als unbeweglich gedacht, und nicht als ein Sich-selbst-bewegender-Beweger, als eine Selbstbewegung. Die Erste Ursache wird als unverursacht gedacht, und nicht als Ursache-ihrer-Selbst, als causa sui. Wenn die analytischen Denker die Strukturen der guten Zirkularität ablehnen, geraten sie in Widerspruch. Wo? Welcher Widerspruch? 222 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der transzendente Gott der neu-aristotelischen Tradition

Der Widerspruch der Analytiker besteht darin, nie den Beweger und das Bewegte, den Verursacher und das Verursachte, das Absolute und das Relative, das Notwendige und das Kontingente, die Transzendenz und die Immanenz in Einklang zu bringen. Die Analytiker behaupten, daß die entgegengesetzten Pole sich ausschließen; und dann ist Schluß. Der begangene Fehler wird sichtbar, denn die Natur ist voller Wesen, die in sich beide Pole im Einklang enthalten, sowohl das Element des Verursachenden als auch das Element des Verursachten, das bewegende und das bewegte Element. Einige Wesen sind in einem Aspekt verursachend und bewegend, in einem anderen Aspekt aber verursacht und bewegt. Um die explosive Kontradiktion zu vermeiden, trennen die Analytiker sorgsam beide Aspekte voneinander, den aktiven und den passiven. Das ist korrekt; man muß zwei logische Aspekte und zwei ontologische Momente unterscheiden. Nur daß die Analytiker hier weitergehen und, ohne zu merken, daß der Einklang zwischen aktiv und passiv sehr wohl möglich ist und in vielen Wesen existiert, postulieren sie, daß das Höchste Wesen nur aktiv und nicht passiv sei; daß es nur notwendig und nicht kontingent sei; daß es nur Ursache, und nie Wirkung sei; daß es nur bewegend, und nie bewegt, sei. Warum? Weil sie – fälschlicherweise – denken, daß das Passive, das Bewegte, das Verursachte, das Kontingente, das Relative, immer etwas Niedrigeres und Unvollkommeneres seien. Diese Unvollkommenheit, sagen sie, kann nicht im Höchsten Wesen existieren. Dieses wird dann als Ursache, Beweger, als absolut, notwendig, transzendent gedacht, ohne daß ihm jemals die logischen und ontologischen Gegenstücke zugeschrieben werden. Wo liegt der Fehler? Wo hapert es? Es ist unmöglich, das Aktive ohne das Passive, das Notwendige ohne das Kontingente, das Absolute ohne das Relative, die Ursache ohne die Wirkung, das Bewegende ohne das Bewegte zu denken. Da dies logisch unmöglich ist, wird das Höchste Wesen undenkbar. Die Rede über das Höchste Wesen wird zu einer Negativen Theologie. Mehr noch. Die Rede wird unmöglich. Und was logisch unmöglich ist, kann nicht existieren. Folglich gibt es das auf die Art, in neu-aristotelischer Manier gedachte Höchste Wesen nicht, und kann es gar nicht geben. Wo liegt der Fehler? Was ist der schwere Irrtum? Der Irrtum der Analytiker besteht darin, daß sie denken, die entgegengesetzten Pole würden sich stets gegenseitig ausschließen. Das Problem der Analytiker ist es, daß sie nie gelernt haben, das Spiel der Gegensätze zu spielen. Sie merken nicht, daß sich die entgegengesetzten Pole gegen223 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Absolute

seitig bilden; sie werden sich nicht bewußt, daß ein Pol nur durch seine Beziehung zum anderen gedacht werden kann. – Der zweite, vom ersten abgeleitete Irrtum der Analytiker ist, daß sie denken, die Gegensätze würden sich immer ausschließen und sich gegenseitig auflösen. Und deshalb ziehen sie nie in Betracht, daß eine Synthese möglich sein könnte, daß diese Synthese etwas Angemessenes wäre. Der Gott der Analytiker ist eine logische Folgerung aus diesen zwei Fehlern. Dieser Gott ist so unbeweglich wie ein Stein, so notwendig wie logisch-formale Rechnungen. Die Analytiker denken Gott als das völlig Andere, als die reine Verneinung. Nun, ein solcher Gott löst sich auf und ist kein Gott mehr, denn Verneinung gibt es nur als Verneinung von Etwas. Ein solcher Gott verliert die Göttlichkeit und wird zum Ergebnis der Verneinung seitens des Menschen selber. Ein solcher Gott ist ein konstruierter Gott und damit falsch und pervers. Wenn das Gott wäre, dann sollte man besser atheistisch werden. Zu einem Schluß wie diesem kamen viele Philosophen, die das Absolute nur mittels des neu-aristotelischen Begriffs zu denken fähig sind. In dem Fall ist es tatsächlich besser, atheistisch oder, der Höflichkeit halber, agnostisch zu werden. Und wie steht es mit dem Argument, das ausgehend von der im All existierenden Ordnung für die Existenz Gottes aufgeführt wird? Erfordert die bestehende Ordnung der Dinge nicht im Anfang von allem einen großen Architekten, der alles geplant hat und mit fester Hand regiert? Dieses sehr populäre Argument aus dem 18. und 19. Jahrhundert scheint auf den ersten Blick gut begründet zu sein. Es hat auch noch den Vorteil, daß es nicht notwendigerweise zu einem negativen Gott führt wie gewöhnlich in der neu-aristotelischen Tradition. Im ersten Moment scheint die Wahrscheinlichkeitsrechnung eine solche Idee des großen Architekten zu bestätigen. Wie groß ist schließlich die Wahrscheinlichkeit, daß alle Atome einer Boeing 767 sich zusammenschließen, um ein funktionierendes Flugzeug zu bilden? Eine solche Wahrscheinlichkeit ist so minimal, daß wir gezwungen sind, zuzugeben, daß ein Flugzeug mit einer solchen Komplexität kein Ergebnis des reinen Zufalls sein kann, sondern der sorgfältigen Arbeit eines Ingenieurs, der mit viel Wissen und Kunstfertigkeit das ganze Projekt geplant und ausgeführt hat. Ist die Welt nicht wohl geordnet? Erfordern etwa die Naturwunder, derselben Überlegung nach, nicht ebenso einen großen Architekten? Klar erfordern sie ihn. Der große Architekt ist jedoch kein außerhalb der Welt stehender Gott, der die Sterne und die Atome auf ihren 224 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Gott der neuplatonischen Tradition

Laufbahnen kreisen läßt, sondern es ist ein Gott, der im Kern der Dinge und des Universums ist. Gott ist nicht außen, er ist innen. Er bewegt nicht von außen die Planeten und die Atome in ihren Laufbahnen. Gott spielt nicht mit Planeten, Sternen und Menschen, so wie ein Kind mit seinem Spielzeug, das ihm immer äußerlich bleibt. Gott, das Absolute, ist drinnen, im Kern. Gott ist ein inneres Prinzip, das von innen nach außen das All bildet. Nur daß dies ein anderer Gott ist, dies ist der Gott der Neuplatoniker, der Gott von Plotin und Proklos, der Gott des Hl. Augustinus, von Eriugena und Nikolaus Cusanus, der Gott von Goethe, Fichte, von Schelling und von Hegel, der Gott von Teilhard de Chardin.

5.3 Der Gott der neuplatonischen Tradition Die neuplatonische Auffassung des Alls wurde von einigen Künstlern der Renaissance in ihrer Fülle erfaßt und mittels eines leuchtenden Springbrunnens in Kaskadenform dargestellt. Hier in unserer Stadt Porto Alegre, im Stadtpark Redenção, ist irgendein Architekt darauf gekommen und hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen solchen Springbrunnen gebaut. Man braucht nur hinzugehen und ihn sich anzuschauen. Genau in der Mitte ist ein Rohr, das das Wasser nach oben leitet. Von dort ergießt sich dieses und fällt in ein erstes Becken. Wenn dieses Becken voll wird, läuft das Wasser über und ergießt sich auf der ganzen Fläche in ein weiter unten stehendes Becken, welches etwas größer als das obere ist. Wenn dieses wiederum voll wird, läuft es ebenso über und liefert Wasser für das nächstgrößere Becken unter ihm. Und so kommt es bis zum Boden. Bonum diffusivum sui – Das Gute verbreitet sich, sagte man in der Antike. Mit dem Wasser ist es dasselbe. Es sprudelt aus der Mitte heraus, dort ganz oben. Von dort steigt es in Kaskaden herab, von Becken zu Becken bis zum Boden. Die Griechen nannten dies Emanation. Der Hauptgedanke bei Plotin ist, daß alle Vielfalt aus dem Einen emaniert, aus dem Sein, welches Eins ist. Bei Proklos ist die große These, daß die spezifischen Wesen aus dem einen Sein emanieren, welches das Universale ist. Die ganze Vielfalt von Einzelwesen, von Arten, von Gattungen kommt, durch Emanationen, aus einem ersten Anfang, welches das Eins-Sein ist, das konkrete universale Sein. Die Schwachstelle, der Irrtum, besteht bei Plotin und Proklos in der Notwendigkeitslehre. Beide denken das Weltsystem als einen bestimm225 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Absolute

ten Ablauf voneinander in einer notwendigen Reihe folgenden Phasen, ohne Kontingenz, ohne Zufall, ohne wahre Geschichtlichkeit. In einem solchen System gibt es keinen Raum für die Kontingenz der Dinge, für den freien Willen der Menschen, für die freie Wahl, für den Aufbau der Vernunft in der Geschichte. Bereits die griechischen und lateinischen Kirchenväter argumentieren – in dieser Hinsicht völlig richtig – gegen die Neuplatoniker der Antike. Wie wir an verschiedenen Stellen im Verlauf dieses Werkes gesehen haben, ist die Notwendigkeitslehre ein Irrtum. Wer sie behauptet, gerät in Widerspruch. Der Hl. Augustinus, der große christliche Denker und Erbe der neuplatonischen Auffassung der Welt, merkt ganz deutlich das Problem der Notwendigkeitslehre. Der notwendigen Emanation der Neuplatoniker setzt er die freie Schöpfung durch Gott entgegen. Gott ist der Schöpfer, der die Welt mittels einer freien Handlung erschafft. Auf diese Weise kann die Welt als etwas Kontingentes und Geschichtliches gedacht werden. Das Problem – wir kommen gleich weiter unten darauf zurück – liegt in der Frage, wie wir die neuplatonische mit der kreationistischen Auffassung der Welt in Einklang bringen. Der Hl. Augustinus und die neuplatonischen Philosophen des Mittelalters nach ihm leben in dem ständigen Dilemma zwischen zwei Weltauffassungen, die sich nicht leicht in Einklang bringen lassen: die Welt als das sanfte Fließen des Absoluten, welches stufenartig aus sich herausgeht – in Emanationen – und aus sich heraus die ganze Vielfalt der Dinge sprießen läßt, einerseits, und andererseits die Welt der unbeweglichen Sterne und der unveränderlichen Arten, von einem Schöpfergott angefertigt, der ihr äußerlich bleibt. Bis heute haben katholische und evangelische Theologen dieses Problem einer Fischgräte gleich im Hals stecken, ohne eine zufriedenstellende Lösung zu finden. Aber trotz des Kreationismus der christlichen Denker ist die neuplatonische Weltauffassung weiterhin bedeutend und wirksam. Der sogenannte Pseudo-Dionysius, einer der größten und einflußreichsten Denker der christlichen Antike, erklärt die Welt im Stil von Plotin und Proklos als Wellen des Seins, die von einem Mittelpunkt ausgeströmt werden, welcher Gott-Vater ist. Die Wellen, die vom Vater ausströmen, sich ausbreiten und auf diese Weise das Universum bilden, kommen durch den Logos zur ersten Einheit zurück. Gott ist der Anfang und das Ende eines großen Entwicklungsprozesses. Das Buch IV der Schrift De Divinis Nominibus ist ein schlagender 226 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Gott der neuplatonischen Tradition

Beweis dafür, wie das Christentum zutiefst vom Neuplatonismus beeinflußt wurde. Im 9. Jahrhundert nimmt Johannes Scotus Eriugena in seiner Schrift De Divisione Naturae den Hauptgedanken des Pseudo-Dionysius wieder auf. Aus dem Vater kommt der Sohn. Aus dem Vater und dem Sohn kommt der Heilige Geist. Aus dem Einen Dreieinigen Gott kommt das geschaffene All, die Natur, die sich spaltet und aufteilt, sich immer weiter aufteilt und so die Dinge bildet, die wir mit unseren Augen erkennen. Die neuplatonische Auffassung des Alls, die Erklärung der Welt, ist bei Scotus Eriugena eindeutig und unverwechselbar. Die seitens der katholischen Kirche über ihn gebrachten Verurteilungen 1209 und 1202 zeigen bereits zu der Zeit die Schwierigkeiten, die die Versöhnung des Neuplatonismus mit dem Kreationismus machen. Die Lehre der forma essendi bei Thierry de Chartres behauptet, auf beste neuplatonische Art, daß Gott den Dingen inneliegt. Bei Thierry de Chartres, Bernard Silvester und Guillaume de Conches finden wir eine Identifizierung des Heiligen Geistes mit der Seele der Welt, die aus der neuplatonischen Tradition stammt. Bei Gilbert de la Porrée rückt die neuplatonische Dialektik als Methode wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Und so führt der rote Faden, der das neuplatonische Netz bildet, weiter, von Hugo von St. Viktor und Abaelard bis Petrus Hispanus. Erst hier, im 12. Jahrhundert, wird der Aristotelismus neu entdeckt und hält seinen triumphalen Einzug ins christliche Denken. Durch Albertus Magnus und Thomas von Aquin kehrt der Aristotelismus zurück, die dichotomische Theorie von Akt und Potenz, von Schöpfergott und geschaffener Natur. Im 12. Jahrhundert beginnt das Mittelalter, seine neuplatonische Substanz aufzugeben, um zusehends, bis in unsere Tage, neu-aristotelisch zu werden. Was ist nun schließlich die Gottesauffassung der neuplatonischen Denker? In einem neuplatonischen System wird das Absolute nicht als etwas rein Transzendentes gedacht. Das Absolute transzendiert wohl die Welt, so wie das Ganze jedes seiner Teile transzendiert, aber das Absolute ist immer innerhalb des Universums. In der dialektischen Auffassung, die das neuplatonische Denken kennzeichnet, schließen sich Transzendenz und Immanenz nicht aus, sondern ein. Je transzendenter Gott ist, desto immanenter wird er, und umgekehrt. Der neu-aristotelische Gott ist das Gegenteil: je transzendenter Gott ist, umso weniger immanent wird er. Die aristotelischen Denker wissen nicht, wie sie die entgegengesetzten Pole in Einklang bringen sollen, die neuplatonischen wissen es. Die Aristoteliker sind 227 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Absolute

Analytiker, die Neuplatoniker sind Dialektiker. Dies ist das Hauptthema dieses Büchleins. Man kann also dadurch, was im Durchgang dieser Arbeit dargestellt wurde, begreifen, in welchem Sinn es Gott gibt. Freilich gibt es Gott, der Gott der Dialektiker existiert wohl. Und der Gott der Analytiker? Dieser Gott ist meines Erachtens undenkbar und unmöglich.

5.4 Ist Gott der Schöpfer der Welt? Kann man das Absolute als den Schöpfer der Welt denken? Der Begriff von Schöpfung besagt, daß es im Anfang Gott als ein intelligentes und absolut perfektes Wesen gab. Dann beschloß Gott aus freiem Willen, aus dem Überfluß seiner Vollkommenheit heraus die Welt zu schaffen. Und so, aus freiem Beschluß heraus, schuf er Dinge, die verschiedenen Pflanzen- und Tierarten, und er schuf auch den Menschen. – Dieser Schöpfungsmythos enthält zwei Elemente, wovon das eine korrekt und wahr, das andere aber falsch ist. Das korrekte Element ist die Vorstellung, daß der freie Geist der Anfang und das strukturierende Prinzip des Alls ist. Das falsche Element dabei ist die Vorstellung dieses Geistes, wie im Katechismus dargestellt, als ein außerhalb des Prozesses des Alls befindlicher Schöpfer-Architekt. Das Prinzip des Alls ist eins und dreieinig; Identität, Differenz und Kohärenz bilden, wie wir bereits sahen, das Universum mit seinen Wundern. Alle Dinge, auch der Mensch, sind das Ergebnis einer Evolution. In dem Sinn kann man in der Philosophie nicht mehr von einem Schöpfergott reden. Der Mythos des Schöpfergottes muß durch eine gute Allgemeine Evolutionstheorie ersetzt werden. Aber eine gute Allgemeine Evolutionstheorie – die logisch und auch ontologisch ist – basiert auf drei ersten Prinzipien, der Identität, der Differenz und der Kohärenz. Diese Prinzipien, wie wir im ersten und zweiten Teil dieses Werkes gesehen haben, sind Denk- und Redeprinzipien. Es sind Prinzipien der Logik. Hier ist der Logos, welcher im Anfang ist und alles durchzieht. Es gibt eine Logik, es gibt einen Logos vom ersten Anfang an. Die Theorie, die ich hier verfechte, ist eine Form von Idealismus. Ein Kontingenz enthaltender Idealismus, sicher, aber eben ein Idealismus. Deshalb meine ich, daß der Hegelsche Begriff vom Absoluten, mit den wenigen hier durchgeführten Verbesserungen, völlig angebracht ist. Um das Absolute zu denken, muß man der bösen Unendlichkeit die Maske abnehmen und das Ab228 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Der Kreis der Kreise

solute als gute Unendlichkeit begreifen, als absolute Idee und absolutes Wissen. Wenn Fichte und, etwas gemäßigter, auch Hegel des Atheismus angeklagt werden, ist dies den wenigen Kenntnissen der sowohl evangelischen als auch katholischen kirchlichen Obrigkeit ihrer Zeit von der neuplatonischen Auffassung von Gott zuzuschreiben. Die Bischöfe dachten Gott nur mittels des neu-aristotelischen Begriffs; auf die Art mußten sie ja denken und sagen, daß Fichte, Schelling und Hegel Atheisten waren. Die Anklage des Pantheismus wurde seit der Antike gegen die neuplatonischen Denker erhoben. Scotus Eriugena wurde verurteilt, Cusanus blieb unter Verdacht. Wenn es mir erlaubt wäre, würde ich vorschlagen, daß die verantwortliche kirchliche Obrigkeit bessere Untersuchungen anordnen ließe über die Fragen, die seit dem 4. Jahrhundert unserer Kultur unter Neuplatonikern und Neu-Aristotelikern diskutiert werden, und daß der Begriff Pantheismus in seinem positiven Sinn wieder aufgenommen werden sollte.

5.5 Der Kreis der Kreise Wenn mich jemand zu diesem Zeitpunkt um Literatur zum Problem Gott bitten würde, möchte ich ihm sagen, er solle alle hier zitierten neuplatonischen Autoren lesen, und daß er besonders den Begriff vom Absoluten bei Hegel studieren solle. Aber, außer Hegel, nichts weiter? Doch, sicher. Ich möchte noch zwei Autoren erwähnen, Meister Eckhard und Goethe. Der eine ist ein großer Mystiker, den anderen nennt man einen großen Heiden. Der große Mystiker und der große Heide haben einen gemeinsamen Nenner: beide sind neuplatonisch; beide haben denselben Begriff von Gott. Meister Eckhard, der große Mystiker, beeinflußte auf entscheidende Art die ganze Weltauffassung Goethes, des großen Heiden. Denn, wenn Gott überall ist, im Kern aller Dinge, trifft der Mystiker dauernd auf Gott. Und so wie er auf Gott in allen Menschen und Dingen trifft, braucht er eigentlich gar nicht mehr in die Kirche zu gehen. Oder zieht Gott etwa mit seiner Anwesenheit einige architektonische Räume vor? Und wenn der Mystiker nie in die Kirche geht, so wie die Gläubigen es tun, wird er nicht als großer Heide bezeichnet werden? Meister Eckhard und Goethe – man wundere sich nicht – können und müssen parallel gelesen werden. 229 https://doi.org/10.5771/9783495820346 .

Das Absolute

Die Arbeit am Begriff ist mühsam und meistens ohne Poesie. Aber die Poesie ist es, welche alles krönt und zu Ende bringt. Man möge mir also erlauben, mit einem poetischen, typisch neuplatonischen Bild abzuschließen: dem Kreis der Kreise. Wenn man einen Stein in einen See wirft, formen sich vom Punkt des Aufpralls aus konzentrische Kreise, die sich auf dem Wasserspiegel vervielfältigen. Ein kleiner Kreis, ein größerer, dann ein noch größerer und weiter auf diese Weise, bis man sie aus den Augen verliert. Der erste Kreis bin Ich, das Ich als Einzelwesen. Der zweite Kreis ist das Ich, das zum Wir wird, die Gesellschaft, der Staat, die menschliche Gattung. Der dritte Kreis ist das Ich als die Natur selbst. Der vierte Kreis ist das Ich als der Planet Erde. Und so fort, bis daß das Ich sich als konkretes universales Ich weiß. Dialektische Philosophie zu betreiben heißt, von einem engen Ich aus auf andere Ichs zuzugehen, welche weiter als mein eigenes Ich und dennoch Ich selbst sind: das Ich als Wir, das Ich als Natur, das Ich als das Absolute.

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