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German Pages [264] Year 2014
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540374 — ISBN E-Book: 9783647540375
Critical Studies in Religion/ Religionswissenschaft (CSRRW)
Herausgegeben von Gregor Ahn, Oliver Freiberger, Jürgen Mohn, Michael Stausberg Band 8
Vandenhoeck & Ruprecht
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Devianz und Dynamik Festschrift für Hubert Seiwert zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Edith Franke, Christoph Kleine und Heinz Mürmel
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-54037-4 ISBN 978-3-647-54037-5 (E-Book)
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Inhalt
Christoph Bochinger Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Edith Franke, Christoph Kleine, Heinz Mürmel Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Hase Hubert Seiwert. Skizze zum Lebensweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie Hubert Seiwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Antes Am Anfang war die Vielfalt. Anmerkungen zu Vielfalt und Devianz . . . .
24
Helwig Schmidt-Glintzer Wertsphärenverschiebung und Selbstopferung. Selbstverbrennung buddhistischer Mönche und ihre Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Giuseppe Veltri The Paradox of Jewish Ethics of Martyrdom and Preventive Homicide. Notes on Deviance in Heteronomous & Autonomous Behavior . . . . . . . .
47
Günter Kehrer Erfolgreiche und erfolglose deviante Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
Edith Franke, Sebastian Murken Lia Eden und Gabriele Wittek. Zeigenössische Prophetinnen zwischen religiöser Tradition und Non-Konformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
Heinz Mürmel „Die Religion liegt im Blut“ – sächsisch-arische Konzepte der Kaiserzeit. Kurze Bemerkungen zur „arischen Lebensreform“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Christoph Kleine Praktischer Atheismus als religiöser Nonkonformismus. Überlegungen zur Nenbutsu-Bewegung des japanischen Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Peter Schalk Semantische Devianz religiöser Metaphern in der Sprache Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Frank Usarski Spiritismus als Devianz. Rückblick auf einen brasilianischen Nihilierungsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Katharina Neef Multiple Devianz. Zu Fassbarkeit und Stuktur eines alternativkulturellen Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Martin Baumann Migrantenreligionen in Europa als absondernde Devianz? Diskursive Nonkonformität im Spiegel der Multifunktionalität religiöser Gemeinschaftsorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Monika Wohlrab-Sahr Die libertäre Migrantin und der frauenfeindliche Imam. Der Islam in deutschen Talkshows zwischen Devianz und Nonkonformismus . . . . . . . . 219 Břetislav Horyna Das Wetter ist, wie es ist. Gibt es Devianz und Dynamik in der religiösen Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
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Christoph Bochinger
Grußwort
Der vorliegende Band erscheint zum 65. Geburtstag von Hubert Seiwert. Als sein Nachfolger im Vorsitz der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft freue ich mich, ein Grußwort schreiben zu dürfen. Hubert Seiwert hat die deutsche Religionswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten inhaltlich und auch institutionell wie kaum ein anderer geprägt. Bereits in den 1970er Jahren machte er durch Aufsätze auf sich aufmerksam, die bis heute für das Fach Maßstäbe setzen und insbesondere die Theoriebildung der Religionswissenschaft befördert haben. Die klare Überzeugung, die Religionswissenschaft als eigenständiges Fach und nicht nur als Sammelbegriff beliebiger Ansätze der Religionsforschung zu sehen, hat Hubert Seiwert an viele Jüngere, den Unterzeichner eingeschlossen, weitervermittelt. Sie prägte auch seine vielfältige institutionelle Tätigkeit für die deutsche Religionswissenschaft. So war er gleichzeitig Mitbegründer und langjähriger Schriftleiter der Zeitschrift für Religionswissenschaft (von 1993 bis 2005), Vorsitzender der DVRG/DVRW (2001 bis 2009) und gewählter Fachkollegiat für Religionswissenschaft im Fachkollegium 106 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2004 bis 2012). In allen Funktionen hat er Pionierarbeit geleistet und fachpolitisch wichtige Weichen gestellt, etwa bei der Umbenennung der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte in Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft, die aufgrund seiner Initiative im Jahr 2005 von den Mitgliedern mit großer Mehrheit beschlossen wurde. Darüber hinaus war er als Sachverständiger in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages (1996–1998) über „So genannte Sekten und Psychogruppen“ der erste Religionswissenschaftler in Deutschland, dem es gelang, die Anliegen des Fachs in offizieller Funktion in eine bundespolitische Öffentlichkeit zu tragen und so seinen praktischen Nutzen zu demonstrieren. Weitere Ämter in der Wissenschaftsorganisation, z.B. als Vizepräsident der European Association for Study of Religions (2008–2010), kommen hinzu. Angesichts all dieser ortsübergreifenden Aufgaben ist es nicht selbstverständlich, dass Hubert Seiwert gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen seit 1994 den eigenen Standort Leipzig zu einem der bedeutendsten Zentren der Religionswissenschaft in Deutschland machte und ihm damit die Bedeutung zurückgab, die er als Hort einer eigenständigen, von den Theologien unabhängigen Religionswissenschaft schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts innegehabt hatte. Dies konnte nur gelingen durch eine starke Theorie-
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Christoph Bochinger
Arbeit in Forschung und Lehre auf der Basis einer ebenso unbestechlichen und kontinuierlichen empirischen Forschung. Die Publikationen von Hubert Seiwert wie auch die seiner Schülerinnen und Schüler dokumentieren dies sehr eindrucksvoll. Mit seiner Kombination aus inhaltlicher Arbeit und strategisch weit blickendem Engagement für die Institutionen des Fachs ist Hubert Seiwert ein Vorbild, die institutionellen Rahmenbedingungen als gestaltungsfähige Aufgabe zu betrachten und mit den eigentlichen Zielen religionswissenschaftlichen Arbeitens zu verbinden. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in dem von ihm initiierten Leipziger Graduiertenkolleg „Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik“, dem der vorliegende Band seinen Namen und viele seiner Beiträge verdankt. Bei all diesen Aktivitäten ist Hubert Seiwert ein aufmerksamer und zugänglicher Kollege, bereit zu jeder Art von Hilfestellung und Beratung. Es ist immer gleichermaßen lehrreich und freundschaftlich, mit ihm zusammenzuarbeiten. Ich danke ihm im Namen der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft für seinen vielfältigen Beitrag zur Entwicklung unseres Fachs und wünsche ihm noch viele fruchtbare, hoffentlich etwas ruhigere Jahre! Bayreuth, im Februar 2014
Christoph Bochinger (Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft e.V.)
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Edith Franke, Christoph Kleine, Heinz Mürmel
Geleitwort
Festschriften bilden eine schwierige Textgattung: Sie sollen Weggefährtinnen und Weggefährten, Schülerinnen und Schülern, Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit geben, dem zu Ehrenden ihre Reverenz zu erweisen. Die Auswahl der Beiträge erfolgt also traditionell nach dem Prinzip der Nähe der Autorinnen und Autoren zum Jubilar. Dieses Auswahlprinzip, die spezifische Funktion und der gewissermaßen hybride Charakter von Festschriften hat diese Gattung vielfach in Misskredit gebracht. Häufig fehlt es an thematischer Kohärenz, mitunter auch an wissenschaftlicher Qualität, da die Motivation der Autorinnen und Autoren oft keine genuin wissenschaftliche, sondern eine persönliche ist. Der beigesteuerte Aufsatz wird primär als symbolische Gabe betrachtet und weniger als substantieller Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs. Hubert Seiwert gehört in der Tat zu den schärfsten Kritikern von Festschriften, die ausschließlich zeremoniellen Charakter haben. Dem Herausgeberteam war daher von Anfang an daran gelegen, dass jeder einzelne Beitrag als wissenschaftlicher ernst genommen werden sollte und die Summe der Beiträge ein kohärentes Ganzes bildet. Diese Zielsetzung entsprach genau der des Verlages und der Herausgeber der Reihe, in der dieser Sammelband erschienen ist. Die Konzeption des Bandes wurde dadurch natürlich schwieriger. Es musste ein relativ enger thematischer Fokus gefunden werden, der die Forschungsinteressen Hubert Seiwerts möglichst gut repräsentiert. Durch die thematische Fokussierung veränderten sich die Kriterien für die Auswahl der Beitragenden: Es konnte nun nicht mehr nur oder primär um das Kriterium der persönlichen Nähe gehen, sondern auch um die Bereitschaft und Fähigkeit, einen Artikel zu einem eingegrenzten Themenbereich zu verfassen, der in einem Peer-Review-Verfahren Bestand haben würde. Als Folge dieser Voraussetzungen – und aus anderen Gründen wie genereller Zeitmangel etc. – haben einige der Angefragten uns eine Absage erteilt. Umsomehr danken wir denjenigen, die sich unter diesen erschwerten Bedingungen an der Festschrift beteiligt haben. So fehlen in diesem Band einige Namen, die man in einer Festschrift für Hubert Seiwert erwartet hätte, und der Band hat nicht den Umfang, den Festschriften häufig aufweisen. Dafür – so hoffen wir jedenfalls – wird dieses Buch nicht als papiergewordene symbolische Repräsentation kollegialer Anerkennung in den Bücherregalen des Jubilars und der Beiträger verstauben, sondern von einem wissenschaftlichen Fachpublikum als Beitrag zu einem religionswissenschaftlich relevanten Themenkom-
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Edith Franke, Christoph Kleine, Heinz Mürmel
plex rezipiert werden. Wir sind davon überzeugt, dass dies ganz im Sinne Hubert Seiwerts ist, dem stets mehr an Qualität als an Quantität gelegen war und ist. Die Wahl eines einheitlichen Themenbereichs war keineswegs einfach. Bekanntermaßen hat sich Hubert Seiwert in seinem ausgesprochen fruchtbaren Forscherleben mit einer ganzen Reihe von Themen auf hohem Niveau auseinandergesetzt. Die Besonderheit seines Œuvres besteht ja gerade darin, dass er immer wieder anhand vielfältigen empirisch-historischen Quellenmaterials und in ungewöhnlicher räumlicher Breite wie zeitlicher Tiefe allgemeine Theorieansätze formuliert hat, welche die Entwicklung der Religionswissenschaft in den letzten Jahrzehnten maßgeblich mit beeinflusst haben. Die Wahl fiel schließlich auf den Themenkomplex, der sich wie ein roter Faden durch die wissenschaftliche Arbeit Hubert Seiwerts gezogen hat und mit dem er sich gerade in den letzten Jahren nicht nur als Sprecher des Graduiertenkollegs „Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik“ an der Universität Leipzig intensiv beschäftigt hat: religiös motivierte oder gedeutete Devianz; Aushandlungsprozesse um Dominanz im religiösen Feld; wechselseitige Zuschreibungen von Nonkonformität; politische Reaktionen auf religiöse Pluralität und Abweichung; Devianz und Nonkonformismus als Wirkfaktoren kultureller und sozialer Entwicklung usw. Den Auftakt macht Peter Antes mit seinen „Anmerkungen zu Vielfalt und Devianz“ und der im Titel bereits formulierten zentralen These „Am Anfang war die Vielfalt“. Am Beispiel des frühen Christentums und der Formation des Koran zeigt Antes, dass am Anfang der Entwicklung einer Religion Vielfalt der Anschauungen die Regel ist und religiöse Einheitlichkeit das Ergebnis eines allmählichen Festlegungsprozesses. Vielfalt sei also nicht nur die Norm, sondern auch eine Voraussetzung für den Erfolg einer Religion, denn nur sie vermag es, unterschiedliche Interessen zu bedienen und zu bündeln. Antes plädiert daher für einen Verzicht auf den seiner Ansicht nach normativ gefärbten Begriff „Devianz“ in der religionswissenschaftlichen Metasprache, ein Vorschlag, dem sicher nicht alle zu folgen bereit sind, wie die übrigen Beiträge zeigen. Der anschließende Aufsatz des Sinologen Helwig Schmidt-Glintzer greift ein derzeit ebenso Aufmerksamkeit wie Irritationen hervorrufendes Thema auf: Selbstverbrennungen buddhistischer Mönche in Tibet bzw. in China im Kontext der Debatten um eine Neubestimmung der Beziehung zwischen Individuum, Gesellschaft und staatlicher Ordnung in China. Der Aufsatz spannt einen weiten Bogen vom mittelalterlichen China bis in die Gegenwart. Schmidt-Glintzer zeigt, dass religiös motivierte Selbstverbrennungen in China stets umstritten waren und aus verschiedenen, auch innerbuddhistischen Perspektiven als religiös nonkonform wahrgenommen wurden. Ursächlich für die unterschiedlichen Motivationen, Deutungen und Bewertungen von Akten der Selbsttötung sei die gesellschaftliche Tendenz zur Ausdifferenzierung von divergierenden „Normsystemen“ bzw. das Nebeneinander ver-
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Geleitwort
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schiedener „Wertreihen“, an denen ein Individuum sein Verhalten ausrichten kann. Der Beitrag formuliert darüber hinaus interessante Thesen zu der Frage, warum die als politischer Protest inszenierten Selbstverbrennungen von Tibetern gerade in der deutschen Öffentlichkeit so große Resonanz finden. In ungewöhnlicher Deutlichkeit hält Schmidt-Glintzer ein Plädoyer gegen die „Selbstverbrennungsmode“, die er zeitkritisch auch als Resultat einer durch die allgemeine Just-in-Time-Philosophie angeregte Ungeduld, die Unfähigkeit des Warten-Könnens betrachtet. Das Thema der Inkaufnahme eines gewaltsamen Todes im Dienst einer bestimmten Sache wird von dem Judaisten Giuseppe Veltri in seinem Beitrag zum Paradox der jüdischen Ethik in Bezug auf aktives wie passives Märtyrertum und den „präventiven Totschlag“ gewissermaßen wieder aufgegriffen. Veltri führt hier den Begriff der „positiven Devianz“ im Sinne einer „over-conformity or unquestioned acceptance of norms“ ein. Wie im Falle der Selbstverbrennungen in China kommt es im Judentum zu Konflikten zwischen verschiedenen Normsystemen: so böte etwa das jüdische Recht zwar Rechtfertigungsmöglichkeiten für präventiven Totschlag; solche Taten könnten sich jedoch nicht auf göttliches Recht berufen, sondern allein auf das Selbstverteidigungsrecht des autonomen Individuums. Die Tötung eines mutmaßlichen Angreifers sei nach rabbinischem Recht rechtmäßig, habe aber zur Folge, dass Gott das Land verlässt. Der Artikel verdeutlicht anhand der Positionen verschiedener maßgebender jüdischer Denker wie Maimonides oder Moses Mendelssohn, wie schwierig es war und ist, aus dem aus vielen Quellen gespeisten jüdischen Recht eindeutige Normen bezüglich der hier angesprochenen, tödlich endenden und damit irreversiblen Handlungen abzuleiten. Veltri präsentiert hier ein religionshistorisches Beispiel für die im Graduiertenkolleg, dem er selbst angehört, vielfach betonte Relationalität des Begriffs „Nonkonformismus“: eine Haltung oder Handlung ist immer nur nonkonform in Bezug auf ein konkretes Normsystem, aber niemals nonkonform per se. Im Unterschied zu den vorangegangenen Beiträgen steht im Artikel von Günter Kehrer nicht die Devianz innerhalb einer religiösen Tradition im Zentrum, sondern die Devianz einer Religion gegenüber einer anderen. Der Beitrag geht der Frage nach, welche Gründe zur erfolgreichen Etablierung bzw. zum devianten Scheitern einer neuen Religion führen. Kehrer versteht Devianz als einen Akt der sozialen Zuschreibung und Stigmatisierung, verbunden mit der Macht, die als deviant bezeichnete Person oder das Kollektiv zu sanktionieren. Vor diesem Hintergrund analysiert der Autor die Mormonen als Beispiel einer sich erfolgreich etablierenden Religion und die Oneida Community als eine gescheiterte religiöse Neugründung und untersucht dabei die Konsensbildung, die Formierung der Anhängerschaft sowie die Entwicklung des Glaubenssystems und der damit verbundenen Lebensführung: Die mormonische Variante war weniger abweichend als die der Oneida Community. Kehrer kommt zu dem Schluss: Erfolgreich ist eine Religion, die nicht dieselbe bleibt.
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Edith Franke, Christoph Kleine, Heinz Mürmel
Der Beitrag von Edith Franke und Sebastian Murken kontextualisiert anhand der Beispiele der zeitgenössischen Prophetinnen Lia Eden und Gabriele Wittek „Devianz und Dynamik“ im Spannungsfeld von Tradition und Erneuerung, von Orthodoxie und Heterodoxie. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage, ob neue, non-konforme Strömungen assimiliert und integriert werden können, oder ob sie als Bedrohung der herrschenden Mehrheitsreligion angesehen werden. Vor diesem Hintergrund werden zwei Fallbeispiele aus unterschiedlichen kulturellen und religionsgeschichtlichen Kontexten verglichen: einmal aus dem islamisch geprägten Java/Indonesien, einmal aus dem christlich geprägten Süddeutschland. Beiden gemeinsam ist die Überzeugung, über einen exklusiven Zugang zur göttlichen Wahrheit zu verfügen, die die etablierte islamische bzw. christliche Tradition als fehlgeleitet und falsch entlarvt. Die vergleichende Analyse kommt zu dem Schluss, dass die Frage, ob und inwieweit die herrschende Mehrheitsreligion bzw. staatliche Stellen religiöse Neuorientierungen als deviant und zu sanktionieren ansehen, insbesondere davon bestimmt wird, ob die rechtliche bzw. religiöse Ordnung als bedroht angesehen wird. Dieser Beitrag ergänzt das Themenspektrum von Devianz um die religionspolitische und -rechtliche Rahmung religiöser Vielfalt. Der Artikel von Heinz Mürmel „‚Die Religion liegt im Blut‘ – sächsischarische Konzepte der Kaiserzeit“ behandelt Aspekte einer „artgemäßen Haltung des arischen Menschen“ während dieses Zeitabschnittes besonders unter Berücksichtigung der religiösen Ebene. Die diesbezüglichen miteinander konkurrierenden Entwürfe beruhten auf diversen „östlichen Ansätzen“: verschiedenen Theosophien, bzw. auf einem neohinduistischen, neobuddhistischen oder neopersischen (Mazdaznan) Religionsentwurf auf der „einen“ Seite, sowie heterogensten, sich einander bekämpfenden, deutsch-völkischen auf der „anderen“. Innerhalb der völkischen Ansätze wird im Artikel vor allem auf das „Menschenzuchtprogramm“ eines in biologischer Hinsicht erneut „zu reproduzierenden ‚Reinen‘ Ariers“ eingegangen. Die religiösen Implikationen der Ideologen Theodor Fritsch und Willibald Hentschel, also vom „Mittgartbund“ bzw. der „Deutschen Erneuerungsgemeinde“, stehen dabei im Mittelpunkt. Christoph Kleine behandelt die Nenbutsu-Bewegung des japanischen Mittelalters, die er als praktischen Atheismus und religiösen Nonkonformismus interpretiert. Die Bewegung um Hōnen (1133–1212) wurde vor allem auf Betreiben der etablierten Institutionen des Buddhismus verfolgt. Die Analyse belegt die These, dass die Ablehnung des Götterkultes in diesem Fall das zentrale Element eines religiösen Nonkonformismus ist. Unter anderem aus Hōnens Bestreitung der religiösen Sinnhaftigkeit innerweltlicher Ziele wird der Vorwurf des buddhistischen Establishments abgeleitet, dass sich die Nenbutsu-Anhänger für immer von den Göttern losgesagt haben. Dadurch, dass nach Auffassung des Establishments von den Lehren und den daraus abgeleiteten Handlungen (oder Nicht-Handlungen) der Nenbutsu-Anhänger schädliche Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft zu erwarten waren,
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Geleitwort
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wurde Hōnens Doktrin von einer im Rahmen einer religiös pluralen Situation legitimen Option zu einem strafbewehrten Nonkonformismus. Der Beitrag hebt unterschiedliche Arten von Transzendenzbezug im religiösen Feld des mittelalterlichen Japan hervor: Während Hōnen mit der Akzentuierung absoluter Transzendenz eine „buddhologische Rationalisierung“ (inklusive Argumentation mit Anteilen der Theodizee-Problematik) betreibt, provozieren die Reformbewegungen des 13. Jahrhunderts auf Seiten des buddhistischen Establishments die Intention einer „Resakralisierung“ der politischen Herrschaft (im Sinne immanenter Transzendenz). Peter Schalk untersucht in seinem Beitrag „Semantische Devianz religiöser Metaphern in der Sprache Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉs“ die vom (lankesisch-) tamilischen Guerillaführer (1954–2009) verwendeten Bildworte anhand seines ‚im Westen‘ weithin unbekannten inzwischen veröffentlichten Nachlasses. Es geht ihm dabei vor allem darum, eine „bewusste, gezielte sprachliche Devianz in der Form von kühnen Metaphern in der Begriffsbildung der politischen Agitation“ aufzuzeigen. Diese werden von Peter Schalk als ursprünglich religiöse ausgewiesen. Eine derartige Metaphernverschiebung aus einem religiösen in ein nicht-religiöses Feld, wie hier im einzelnen untersucht, könne als paradigmatisch angesehen werden und finde sich auch jenseits des hier vorgestellten Beispiels „regelmäßig weltweit in politischer Rhetorik“. Mit „Spiritismus als Devianz – Rückblick auf einen brasilianischen Nihilierungsdiskurs“ überschreibt Frank Usarski seinen Aufsatz, in dem er sich zunächst mit der Früh- und Konsolidierungsphase (speziell den Jahren zwischen 1890 und 1940) diverser „Spiritismen“ Brasiliens unter besonderer Berücksichtigung der öffentlichen Diskurse zu deren Bekämpfung bzw. Verteidigung auseinandersetzt. Um die Ausgangslage zu erhellen, wird die Rezeption des Kardecismus und die Heterogenität ‚des‘ Spiritismus vorgestellt, wobei letztere oft unterschlagen worden sei. Die lange Zeit dominierenden Nihilierungsdiskurse hätten die Vielfalt des Phänomens außer Acht gelassen und damit einer verzerrten Wahrnehmung (und Bewertung) Vorschub geleistet. Die „inzwischen eingekehrte Normalität“, d.h. gesellschaftliche Akzeptanz, sei Ergebnis eines langen, konfliktträchtigen Prozesses, der faktisch auf eine „juristischen Entlastung“ hinauslaufe. Katharina Neef widmet ihren Beitrag „Multiple Devianz – Zu Fassbarkeit und Struktur eines alternativkulturellen Phänomens“ eben jener „multiplen Devianz“, die sie anhand von Phänomenen während des wilhelminischen Kaiserreiches vorstellt und systematisch zu klären sucht. Dem Aspekt des „Multiplen“ gilt vor allem ihr Interesse. Untersucht wird, warum gesamtgesellschaftlich bereits in bestimmter Hinsicht minorisierte soziale Einheiten eine mehrfache Minorisierung anstreben: „Warum neigen Deviante zur Fortsetzung oder Multiplikation ihrer Devianz?“ Schwierigkeiten der Erfassung der in Frage kommenden „Objekte“ werden vorgestellt; grundsätzliche devianzsoziologische Überlegungen auf der Basis des herangezogenen Materials ausgeführt, auf verschiedene Clustertendenzen verwiesen. Die Wahlver-
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Edith Franke, Christoph Kleine, Heinz Mürmel
wandtschaften formierten sich dabei um die Pole individualzentrierter bzw. kollektivistischer Reformansätze. Strukturelle Ursache für die Neigung zur multiplen Devianz sieht die Autorin in der „unvollständigen Internalisierung des objektivierten gesellschaftlichen Wissens“, zudem zeige es sich, „dass Gesellschaften immer Räume alternativer Weltbilderrichtung zulassen müssen“. Martin Baumann behandelt in seinem Beitrag die Frage, ob Migrantenreligionen in Europa als „absondernde Devianz“ zu verstehen sind. Im ersten Teil wird der Begriff der Nonkonformität thematisiert und auf Religionen und religiöse Gemeinschaften bezogen, die infolge von Immigrationsprozessen in Länder Europas kamen. Der zweite Teil fokussiert auf die religiöse Gemeinschaftsbildung und die Aktivitäten in Gebets- und Andachtsorten von Immigranten und Immigrantinnen am Beispiel der Schweiz. Mit Bezug auf entsprechende Forschungsliteratur nennt Baumann refuge, respectability, and resources als die wichtigsten Funktionen religiöser Immigrantengemeinschaften. Vor diesem Hintergrund wird die leitende Frage des Beitrags anhand empirischen Materials dahingehend beantwortet, dass religiöse Stätten von Immigrantengemeinschaften nicht absondern, sondern aufgrund ihres Angebots und ihrer Aktivitäten integrativ wirken können. Mit seinem Beitrag macht der Autor deutlich, dass inhaltliche Devianz in der religiösen Semantik nicht zwangsläufig zur gesellschaftlichen Desintegration führen muss und dass sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft allzu häufig Homogenität oder gar eine „Wertegemeinschaft“ als Voraussetzung und Bedingung von Integration gilt. Die Soziologin Monika Wohlrab-Sahr analysiert anhand von Fallstudien die Präsenz des Islam in deutschen Talkshows zwischen Devianz und Nonkonformismus. Dabei rekonstruiert die Autorin detailliert den Prozess der Zuschreibung von Nonkonformismus, indem sie begriffliche Unterscheidungen von bloßer Devianz, Nonkonformität und Nonkonformismus vornimmt. Während Nonkormität die festgestellte oder praktizierte Abweichung von einer Norm meint, wird mit Nonkonformismus die Zuschreibung oder Inanspruchnahme einer bewussten, intendierten und systematischen Abweichung und damit die Infragestellung der geltenden Normsetzung insgesamt bezeichnet. Anhand des Vergleichs von drei Fernseh-Talkshows (Maischberger, Christiansen und Jauch) aus den Jahren 2006 und 2013 arbeitet Wohlrab-Sahr heraus, wie die Zuschreibung von Nonkonformismus an einzelne Muslime, die im Rahmen öffentlicher Debatten wie Repräsentanten des Islam behandelt werden und die auch als solche auftreten, erfolgen. Dabei wird gezeigt, wie die Devianz- und Nonkonformismus-Zuschreibung an Einzelpersonen sich zu einer zunehmenden Generalisierung des Nonkonformismus-Verdachtes auf den Islam als solchen verschiebt. Relativierende Positionen sind dann zwar durchaus noch vorhanden, laufen aber angesichts der Polarisierung der Debatten ins Leere. „Das Wetter ist, wie es ist – Gibt es Devianz und Dynamik in der religiösen Politik?“ fragt Břetislav Horyna. Er fokussiert sein Interesse auf Aspekte
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Geleitwort
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wie: religiöse Autorität (des Katholizismus) und Devianz zu dieser, „konforme Devianz“ und religiöse Dynamik. Die vorgestellten Beispiele zeigten, so die These von Horyna, „dass eine klare begriffliche Arbeit … an dem Thema Dynamik, Nonkonformismus, Devianz völlig scheitere“. Das Konzept eines „devianten Konformismus“ wird sodann anhand der Piusbruderschaft untersucht; der Ansatz eines „Fortschritts ohne Devianz und Nonkonformismus“ am Beispiel der „Initiative für die Demokratie – gegen Rechtsextremismus“ innerhalb der Hannoverschen Landeskirche. Resümierende allgemeine Bemerkungen zum kirchlich-religiösen Nonkonformismus und dessen mögliche religionswissenschaftliche Implikationen schließen sich an. Wir möchten nicht versäumen, uns an dieser Stelle ganz herzlich bei Frau Annelie Schramm (studentische Hilfskraft am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig) zu bedanken, die ebenso zuverlässig wie unermüdlich an der Manuskriptgestaltung mitgewirkt hat.
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Thomas Hase
Hubert Seiwert Skizze zum Lebensweg
Hubert Seiwert wurde 1949 in Saarbrücken geboren. Er studierte Religionswissenschaft, Sinologie und Politikwissenschaft an der Universität Bonn, wo er im Jahre 1978 mit einer religionswissenschaftlichen Dissertation mit dem Titel „Orakelwesen und Zukunftsdeutung im chinesischen Altertum: Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zur Entwicklung des Welt- und Menschenbildes während der Zhou-Dynastie“ promoviert wurde. 1983 habilitierte er sich an der Universität Hannover mit der Arbeit „Volksreligion und nationale Tradition in Taiwan: Studien zur regionalen Religionsgeschichte einer chinesischen Provinz“ und wurde an dieser Universität zum Professor für Religionswissenschaft berufen. Im Jahre 1994 erhielt er einen Ruf an die Universität Leipzig, wo er seither als Professor für Allgemeine und Vergleichende Religionswissenschaft lehrt und forscht. Mit der Annahme dieser Professur sicherte er zugleich den Fortbestand des 1912 gegründeten ältesten deutschen Religionswissenschaftlichen Instituts. Neben der Beschäftigung mit der chinesischen Religionsgeschichte widmet sich Hubert Seiwert vor allem Problemen der systematischen Religionswissenschaft und der wissenschaftlichen Grundlegung des Fachs. Viele seiner frühen Arbeiten behandeln Fragen der religionswissenschaftlichen Theorie und Methodologie. Besonders zu erwähnen ist hier der Aufsatz „Systematische Religionswissenschaft. Theoriebildung und Empiriebezug“, in dem er die traditionelle Gliederung der religionswissenschaftlichen Arbeitsgebiete und die entsprechenden Methoden (Religionsgeschichte und Systematische Religionswissenschaft) auf eine wissenschaftstheoretisch abgesicherte Basis stellt, womit er dem religionsphänomenologischen Ansatz den Boden entzieht.1 In den 1990er Jahren publizierte er zahlreiche Aufsätze zum Zusammenhang von Religion und Moderne und zum Problem der Säkularisierung. Er spezifizierte damit ein religionswissenschaftliches Problem, das er bereits in seiner ersten Publikation systematisch erörtert hatte: die Frage nach der Bedeutung des religiösen Wandels, also der Dynamik von Religion.2 Einen 1 Hubert Seiwert, „Systematische Religionswissenschaft. Theoriebildung und Empiriebezug“, Zeitschrift für Missions- und Religionswissenschaft, 61, 1977, 1, 1–18. 2 Hubert Seiwert, „Religiöser Wandel. Alternativen religionswissenschaftlicher Fragestellungen und Erklärungsmodelle“, in: G. Stephenson (Hg.) Der Religionswandel unserer Zeit im Spiegel der Religionswissenschaft (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976), 309–322.
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Hubert Seiwert
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weiteren Schwerpunkt seines Schaffens bildet das Thema der religiösen Devianz, das er schon in seiner Habilitationsschrift behandelt hatte. Sein Interesse an Religionen, die sich im Konflikt mit den in einer Gesellschaft dominierenden religiösen oder politischen Meinungen befinden, führte ihn zur Beschäftigung mit Neuen Religiösen Bewegungen in modernen Gesellschaften, insbesondere in Deutschland und China. Im Jahr 1996 wurde Seiwert als religionswissenschaftlicher Experte von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in die Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ berufen. Er war 1993 Mitbegründer der Zeitschrift für Religionswissenschaft (ZfR) und gehörte deren Herausgeberkollegium bis 2005 an, wobei die Schriftleitung von 1993 bis 2005 in seinen Händen lag. Seit 2000 gibt er (zusammen mit Gerhard Besier) die Zeitschrift Religion – Staat – Gesellschaft heraus. Vorsitzender des religionswissenschaftlichen Fachverbandes in Deutschland, der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte (DVRG), die während seiner Amtszeit in Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) umbenannt wurde, war er von 2001 bis 2009. Hubert Seiwert war 2004–2005 Visiting Scholar am Wolfson College Oxford, von 2004 bis 2012 Mitglied des Fachkollegiums 106 (Außereuropäische Sprachen und Kulturen, Sozial- und Kulturanthropologie, Judaistik und Religionswissenschaft) der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 2008–2010 Vizepräsident der European Association for the Study of Religions (EASR), sowie ebenfalls ab 2008 Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des universitären Forschungsschwerpunktes „Asien und Europa“ der Universität Zürich. Zudem ist er seit 2009 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates des Käte-Hamburger-Kollegs „Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa“ der Ruhr-Universität Bochum sowie Sprecher des Graduiertenkollegs „Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik“ an der Universität Leipzig. Last but not least muss hinzugefügt werden, dass zahlreiche Studenten und Doktoranden nachhaltig von Hubert Seiwert geprägt worden sind. Von letzteren wirken einige nunmehr auf deutschen und ausländischen Lehrstühlen.
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Bibliographie Hubert Seiwert
Bibliographie Hubert Seiwert
Monographien Popular religious movements and heterodox sects in Chinese history, China Studies 3, Leiden 2003. Volksreligion und nationale Tradition in Taiwan. Studien zur regionalen Religionsgeschichte einer chinesischen Provinz, Münchener Ostasiatische Studien 38, Stuttgart 1985. Orakelwesen und Zukunftsdeutung im chinesischen Altertum. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zur Entwicklung des Welt- und Menschenbildes während der Zhou-Dynastie, Bonn: Phil. Diss., 1979.
Herausgegebene Zeitschriften Zeitschrift für Religionswissenschaft, Bd. 1f, Marburg: Diagonal, 1993–2005. Religion – Staat – Gesellschaft, Hg. zusammen mit Gerhard Besier, Berlin 2000f.
Herausgegebene Bücher Religionstheorie und Religionspolitik, Critical Studies in Religion/Religionswissenschaft (CSRRW), Göttingen 2014 (in Vorbereitung). Clart, Philip, Die Religionen Chinas, Studium Religionen, Göttingen 2009. Malinar, Angelika, Hinduismus, Studium Religionen, Göttingen 2009. Maier, Johann, Das Judentum, Studium Religionen, Göttingen 2007. Introvigne, Massimo, Schluß mit den Sekten! Die Kontroverse über ‚Sekten‘ und neue religiöse Bewegungen in Europa, Marburg 1998. Preissler, Holger, Gnosisforschung und Religionsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Kurt Rudolph, Marburg 1994.
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Beiträge zu Zeitschriften und Sammelwerken Wilde Religionen: Religiöser Nonkonformismus, kulturelle Dynamik und Säkularisierung in China, in: Edith Franke (Hg.), Religiöse Minderheiten und gesellschaftlicher Wandel, Wiesbaden 2014, 11–27. Religionswissenschaft zwischen Sozialwissenschaften, Geschichtswissenschaften und Kognitionswissenschaften, in: Franke, Edith; Maske, Verena (Hg.), Religionswissenschaft zwischen Sozialwissenschaften, Geschichtswissenschaften und Kognitionsforschung. Ein Autoren-Workshop mit Hubert Seiwert (Marburg Online Books, Bd. 2), Marburg 2014, 15–31. Die Säkularität des konfuzianischen Staates und das Böckenförde-Dilemma, in: Susanne Rode-Breymann/Achim Mittag (Hg.), Anvertraute Worte. Festschrift für Helwig Schmidt-Glintzer zum 65. Geburtstag, Hannover 2013, 193–208. Ist Religionsfreiheit eine Errungenschaft der europäischen Moderne?, Religion – Staat – Gesellschaft 14/1, 2013, 65–80. Warum religiöse Toleranz kein außereuropäisches Konzept ist oder: Die Harmonie der ‚drei Lehren‘ im vormodernen China, in: Dietlind Hüchtker/Yvonne Kleinmann/ Martina Thomsen (Hg.), Reden und Schweigen über religiöse Differenz. Tolerieren in epochenübergreifender Perspektive, Göttingen 2013, 35–58. The Study of Religion as a Scientific Discipline: A Comment on Luther Martin and Donald Wiebe’s Paper, Religio, Revue pro Religionistiku 20/1, 2012, 27–38. Die religiöse Vielfalt Asiens, in: Johannes Fried/Ernst-Dieter Hehl (Hg.), WBG Weltgeschichte. Eine globale Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert. Bd. III: 600 bis 1500, Darmstadt 2010, 84–93. Religiöse Bewegungen im frühmodernen China. Eine prozesstheoretische Skizze, in: Manfred Hutter (Hg.), Religionswissenschaft im Kontext der Asienwissenschaft. 99 Jahre religionswissenschaftliche Lehre und Forschung in Bonn, Religionen in der pluralen Welt 8, Berlin 2009, 179–196. Religion, Evolution und die Mechanismen kultureller Vererbung, in: Annette G. BeckSickinger/Matthias Petzoldt (Hg.), Paradigma Evolution. Chancen und Grenzen eines Erklärungsmusters, Frankfurt a.M. 2009, 105–133. Theory of religion as myth. On Loyal Rue (2005), Religion is not about God, in: Michael Stausberg (Hg.), Contemporary Theories of Religion. A critical companion, London 2009, 224–241. The Transformation of popular religious movements of the Ming and Qing Dynasties: A rational choice interpretation, in: Michael Stausberg (Hg.), The People and the Dao. New Studies in Chinese Religions in Honour of Daniel L. Overmyer, Sankt Augustin 2009, 39–62. Post-durkheimianische Religion? Überlegungen zum Kontrast moderner und vormoderner Religion im Anschluss an Charles Taylor, in: Thomas Hase (Hg.), Mauss, Buddhismus, Devianz. Festschrift für Heinz Mürmel zum 65. Geburtstag, Marburg 2009, 99–114. Religionistika na pomezí sociálních, historických a kognitivních věd, Religio. Revue pro Religionistiku, 16/2, 2008, 227–240.
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Bibliographie Hubert Seiwert
Zwischen Religionsfreiheit und Eindämmung des Islams: Religionspolitik in der amerikanischen Außenpolitik, in: Andrea Strübind/Kataryna Stoklosa (Hg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA. Festschrift für Gerhard Besier zum 60. Geburtstag, Göttingen 2007, 475–490. Ancestors, Cult of, IV. China, RPP I, 2007, 212. Asia, II. History of Religions, RPP I, 2007, 445–446. Bailian Jiao, RPP I, 2007, 555. Caodaism, RPP 2, 2007, 379–380. Obrigkeitsstaat und Religionsfreiheit: Ein bizarrer Rechtsstreit um Sun Myung Moon, Religion – Staat – Gesellschaft 7, 2006, 1–8. Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis – am Beispiel des chinesischen Buddhismus, in: Peter Schalk (Hg.), Im Dickicht der Gebote. Studien zur Dialektik von Norm und Praxis in der Buddhismusgeschichte Asiens, Acta Universitatis Upsaliensis. Historia Religionum 26, Uppsala 2005, 15–38. Religionswissenschaft II: Verfahrensweisen, RGG 7, 42004, 403–406. Der ‚Kopftuchstreit‘, Religion – Staat – Gesellschaft 5, 2004, 165–173. The German Enquete Commission on Sects: Political conflicts and compromises, in: James T. Richardson, (Hg.), Regulating religion. Case studies from around the globe, New York 2004, 85–101. Angst vor Religionen. Ein Versuch über Deutschland und China, in: Gerhard Besier (Hg.), Religionsfreiheit und Konformismus. Über Minderheiten und die Macht der Mehrheit, Zeitdiagnosen 8, Münster 2004, 77–92. The charisma of the prophet and the birth of religions, in: Giovanni Filoramo (Hg.), Carisma profetico: Fattore di innovatione religiosa, Brescia 2003, 291–306. Religious freedom and control in the unified Germany: Governmental approaches to alternative religions since 1989, Sociology of Religion 64, 2003, 367–376. Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers, in: Franz-Reiner Erkens (Hg.), Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume. Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen, Berlin 2002, 245–265. Militante buddhistische Mönche im chinesischen Mittelalter, in: Wolfgang Gantke/ Karl Hoheisel/Wassilios Klein (Hg.), Religionsbegegnung und Kulturaustausch in Asien. Studien zum Gedenken an Hans-Joachim Klimkeit, Studies in Oriental Religions 49, Wiesbaden 2002, 200–208. Is Germany different? A comment on Hexham and Poewe’s interpretation of German anticult policy, Nova Religio 6, 2002, 119–128. Häresie im neuzeitlichen China. Die Erlösungslehre der Drachenblumenschrift (Longhua jing), in: Manfred Hutter/Wassilios Klein /Ulrich Vollmer (Hg.), Hairesis. Festschrift für Karl Hoheisel zum 65. Geburtstag, Jahrbuch für Antike und Christentum 34 (Ergänzungsband), Münster 2002, 341–353. Vatergott, HrwG 5, 2001, 300–303. Sohngott, HrwG 5, 2001, 72–75. Falung Gong – Eine neue religiöse Bewegung als innenpolitischer Hauptfeind der chinesischen Regierung, Religion – Staat – Gesellschaft 1, 2000, 119–145.
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Orthodoxie, Orthopraxie und Zivilreligion im vorneuzeitlichen China, in: Holger Preißler/Hubert Seiwert (Hg.), Gnosisforschung und Religionsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Kurt Rudolph, Marburg 1994, 529–541. Das Spezifische religiöser Wahrheit: Diskursive und pragmatische Begründung religiöser Wahrheitsansprüche, in: Walter Kerber (Hg.), Die Wahrheit der Religionen. Ein Symposium, Fragen einer neuer Weltkultur 10, München 1994, 15–72. Wissenschaft als Religion? – Funktionen von Wissenschaft und Religion in der modernen Gesellschaft, in: Günter Lensch (Hg.), Wissenschaft und Menschenbild, Akademie Forum Masonicum Jahrbuch 1992, St. Ingbert 1993, 65–84. Religionswissenschaft und die kulturelle Dimension [von Entwicklung], UNI Magazin. Zeitschrift der Universität Hannover 20/4, 1993, 4–5. Xiandaihua he zongjiao de bianzhengfa 䍘ẋ⊾⬿㔁䘬彑孩㱽, Shijie zongjiao yanjiu ᶾ䓴⬿㔁䞼䨞 92/4, 1992, 46–50. Popular religious sects in south-east China: Sect connections and the problem of the Luo Jiao/Bailian Jiao dichotomy, Journal of Chinese Religions 20, 1992, 33–60. Loyalitäts- und Oientierungskonflikte in der Religionsforschung: Religionstheorie in China 1979–1988, in: Christoph Elsas/Hans G. Kippenberg (Hg.), Loyalitätskonflikte in der Religionsgeschichte. Festschrift für Carsten Colpe, Würzburg 1990, 162–175. Auf den Spuren von volksreligiösen Sekten im Kaiserpalast Peking, Hannover Uni intern 17/4, 1990, 1–2. The institutional context of the history of religions in China, in: Michael Pye (Hg.), Marburg revisited. Institutions and strategies in the study of religion, Marburg 1989, 127–142. Religion und moderne Umwelt. Globale Perspektiven religiöser Innovation, in: Kurt Rudolph/Gisbert Rinschede (Hg.), Beiträge zur Religion/Umwelt-Forschung 1, Geographia Religionum 6, Berlin 1989, 25–38. Zurück zum Heiligen?, Spirita 2, 1988, 27–30. Taoismus, in: Volker Drehsen/Hermann Häring (Hg.), Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 1224f. Religionswissenschaft, Dritte-Welt-Forschung und Modernisierung, Uni Hannover. Zeitschrift der Universität Hannover 1, 1988, 47–49. Religionsgeographie und die Religionsgeschichte der Moderne – Globale Perspektiven religiöser Innovation, in: Werner Kreisel (Hg.), Geisteshaltung und Umwelt. Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Büttner, Abhandlungen zur Geschichte der Geowissenschaft und Religionswissenschaft/Umwelt-Forschung 1, Aachen 1988, 427–438. Lao-tse, in: Volker Drehsen/Hermann Häring (Hg.), Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 1224f. Konfuzius, in: Volker Drehsen/Hermann Häring (Hg.), Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 664f. Konfuzianismus, in: Volker Drehsen/Hermann Häring (Hg.), Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 663f. China. Religionsgeschichtlich, in: Volker Drehsen/Hermann Häring (Hg.), Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 200.
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Altar, HrwG 1, 1988, 433–437. ‚Religionen und Religion.‘ Anmerkungen zu Jacques Waardenburgs Einführung in die Religionswissenschaft, ZMR 37, 1987, 225–230. Religion und kulturelle Integration in China: Die Sinisierung Fujians und die Integration der chinesischen Nationalkultur, Saeculum 38, 1987, 225–265. On the religions of national minorities in the context of China’s religious history, in: Thomas Heberer (Hg.), Ethnic minorities in China: Tradition and transform, Aachen 1987, 41–51. Hochkultur und fremde Religion: Buddhismus und Katholizismus in China, in: Michael Pye/Renate Stegerhoff (Hg.), Religion in fremder Kultur, Saarbrücken-Scheidt 1987, 55–76. What constitutes the identity of a religion?, in: Victor C. Hayes (Hg.), Identity issues and world religions, Netley S.A., Australia 1986, 1–7. Chinesische Religion, in: Jürgen Lott (Hg.), Sachkunde Religion II: Religionen – Religionswissenschaft, Kohlhammer Taschenbücher 1031/2, Stuttgart 1985, 108–131. Ethik in der chinesischen Kulturtradition, in: Peter Antes (Hg.), Ethik in nichtchristlichen Kulturen, Stuttgart 1984, 136–167. Ausgrenzung der Dämonen – Am Beispiel der chinesischen Religionsgeschichte, Saeculum 34, 1983, 316–333. Religious response to modernization in Taiwan: The case of I-kuan Tao, Journal of the Hong Kong Branch of the Royal Asiatic Society 21, 1981, 43–70. ‚Religiöse Bedeutung‘ als wissenschaftliche Kategorie, Annual Review of the Social Sciences of Religion 5, 1981, 57–99. Orakelwesen im ältesten China: Shang und westliche Chou-Dynastie, ZMR 64/3, 1980, 208–236. Chinas neue Revolution. Perspektiven der gegenwärtigen Modernisierungspolitik aus der Sicht des Historikers, Internationales Asienforum 11, 1980, 17–44. Mythologie im chinesischen Altertum, ZMR 62, 1978, 203–208. Systematische Religionswissenschaft: Theoriebildung und Empiriebezug, ZMR 61, 1977, 1–18. Religiöser Wandel: Alternativen religionswissenschaftlicher Fragestellungen und Erklärungsmodelle, in: Gunther Stephenson (Hg.), Der Religionswandel unserer Zeit im Spiegel der Religionswissenschaft, Darmstadt, 1976, 309–322.
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Peter Antes
Am Anfang war die Vielfalt Anmerkungen zu Vielfalt und Devianz
Hubert Seiwert, dem dieser Beitrag in kollegialer und freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist, hat sich im Laufe seiner akademischen Tätigkeit immer wieder mit dem Problem der Devianz beschäftigt. Er hat dabei die Auffassung vertreten, dass Devianz und Nonkonformismus keine sachlichanalytischen Kategorien zur Beschreibung religiöser Phänomene, sondern Zuschreibungen bestimmter Akteure im Zusammenhang mit historischen Machtkonstellationen sind. Ich will diese Position hier aufgreifen und insofern illustrieren, als ich an zwei Beispielen: frühes Christentum und Koran auf diesen Tatbestand hinweise, dann in einer Art Zwischenergebnis das Ganze geringfügig ausweite, um schließlich ein paar Anmerkungen zur Begrifflichkeit von Vielfalt und Devianz zu machen.
1. Beispiel: Das frühe Christentum Die klassisch katholische Dogmatik geht davon aus, dass es einen dogmatischen Grundbestand für den christlichen Glauben gibt: das „depositum fidei“. Was davon abweicht, also deviant ist, wird als „Häresie“ bezeichnet. Dahinter steht eine dogmatische Vorstellung von der Dogmenentwicklung, die bildlich gesprochen, das „depositum fidei“ wie die Knospe einer Rose sieht, die aufgeht und alles offen legt, was in ihr enthalten ist. Nichts Neues kommt folglich hinzu, es ist wie beim Kern eines Apfels, aus dem der Apfelbaum sich entwickelt, während Wildwuchs (Häresien) beseitigt und abgeschnitten (Schisma) werden muss, damit der Kern mit seinem gesunden Stamm klar herausgestellt wird und erhalten bleibt. Joseph Ratzinger verfolgt in seiner dogmatischen Auslegung des christlichen Glaubens konsequent diesen Ansatz des „depositum fidei“, ohne den Terminus selbst zu verwenden. Dies gilt gleichermaßen für seine Abhandlung über „Auferstehung und ewiges Leben“ wie für seine Ausführungen zu Jesus von Nazareth, wobei er offen erklärt, dass er dafür den Glauben zum „Konstruktionspunkt“1 macht. Dass er damit in einem gewissen
1 Ratzinger-Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, 12.
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Am Anfang war die Vielfalt
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Gegensatz zu der historisch-kritischen Erforschung der modernen Exegese steht, ist ihm bewusst, wenn er schreibt: Ich hoffe, dass den Lesern aber deutlich wird, dass dieses Buch nicht gegen die moderne Exegese geschrieben ist, sondern in großer Dankbarkeit für das viele, das sie uns geschenkt hat und schenkt. Sie hat uns eine Fülle von Material und von Einsichten erschlossen, durch die uns die Gestalt Jesu in einer Lebendigkeit und Tiefe gegenwärtig werden kann, die wir uns vor wenigen Jahrzehnten noch gar nicht vorzustellen vermochten. Ich habe lediglich versucht, über die bloß historisch-kritische Auslegung hinaus die neuen methodischen Einsichten anzuwenden, die uns eine eigentlich theologische Interpretation der Bibel gestatten und so freilich den Glauben einfordern, aber den historischen Ernst ganz und gar nicht aufgeben wollen und dürfen.2
Der Gegensatz zwischen dem Glaubensbekenntnis und den Ergebnissen der historisch-kritischen Forschung wird noch größer, wenn wir Ratzingers-Benedikts XVI. Auslegung über die Kindheitsgeschichten lesen. Hier heißt es unmissverständlich: Ist es also wahr, was wir im Credo sagen: ‚Ich glaube – an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria‘? Die Antwort lautet ohne Einschränkung: Ja. Karl Barth hat darauf aufmerksam gemacht, dass es in der Geschichte Jesu zwei Punkte gibt, in denen Gottes Wirken unmittelbar in die materielle Welt eingreift: die Geburt aus der Jungfrau und die Auferstehung aus dem Grab, in dem Jesus nicht geblieben und nicht verwest ist. Diese beiden Punkte sind ein Skandal für den modernen Geist. Gott darf in Ideen und Gedanken wirken, im Geistigen – aber nicht an der Materie. Das stört. Da gehört er nicht hin. Aber gerade darum geht es, dass Gott Gott ist und sich nicht nur in Ideen bewegt. Insofern geht es bei beiden Punkten um das Gottsein Gottes selbst.3
Mit keinem Wort wird dort erwähnt, dass es gerade in der hellenistischen Welt zahlreiche Geschichten über jungfräuliche Geburten gegeben hat, so dass sich die Erzählung über Jesu jungfräuliche Geburt in das mythische Bild einer göttlichen Geburt durch eine Jungfrau nahtlos einfügt.4 Die historischkritische Forschung zeigt diesbezüglich, dass die Festlegung des „depositum fidei“ selbst das Resultat eines historischen Prozesses ist, bei dem am Anfang noch unklar ist, was dazu gehört und was davon deviant ist.5 Vielfach spielt 2 3 4 5
Ebd., 22. Ratzinger-Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Prolog, Die Kindheitsgeschichte, 64f Vgl. dazu die Belege bei Usener, Das Weihnachtsfest, 71ff Zum Unterschied zwischen einem traditionell-dogmatischen und einem historisch-kritischen Ansatz vgl. Antes, Christentum, 28–34.
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bei dieser Festlegung zudem die politische Machtkonstellation eine zentrale Rolle, wie man es gerade am frühen Christentum sehen kann. Die wissenschaftliche Erforschung des Neuen Testamentes zeigt, dass die verschiedenen Schriften unterschiedliche Aussagen über Jesus Christus (Christologien) enthalten. Neben der für Juden höchst bedeutsamen und zugleich provokanten Aussage, Jesus sei der Messias (griechisch: Christós, lateinisch: Christus) steht die für die hellenistische Welt gut nachvollziehbare Verkündigung von Jesus (vgl. Lukasevangelium 2,11) als dem „Retter, Erlöser“ (griechisch: sōtēr) und dem „Herrscher“ (griechisch: kýrios), wodurch Jesus Christus zur Konkurrenz der Erlöser-Götter/Göttinnen der Mysterienreligionen und des römischen Kaisers wird. Somit hat das frühe Christentum sowohl eine frohe Botschaft für die Juden als auch für die Menschen in der hellenistischen Welt, in der Sprache des Neuen Testamentes: die „Heiden“. Mit der unterschiedlichen Ausrichtung der Mission unter den Juden und unter den „Heiden“ ist der Deutungshorizont bei weitem nicht erschöpft. Das Matthäusevangelium sieht in Jesus von Nazareth einen neuen Moses (man denke z.B. an die wunderbare Errettung Jesu vor der Verfolgung durch König Herodes wie im Falle des Moses vor der durch den Pharao, an den Aufenthalt beider in Ägypten, an die Bergpredigt in Parallele zu den Zehn Geboten auf dem Berg Sinai), das Markusevangelium beschreibt Jesus als Wundertäter, das Lukasevangelium betont die Sendung Jesu zu den Armen, und für das Johannesevangelium ist Jesus das Mensch gewordene „Wort Gottes“ (griechisch: lógos). Weitere Christusbilder kommen hinzu: Jesus als der neue Adam (Römerbrief), als der Hohepriester (Hebräerbrief), als das Lamm Gottes (Apokalypse), um nur die wichtigsten Bilder aus den neutestamentlichen Schriften zu nennen. Diese stehen jedoch nicht isoliert da, sondern werden durch zahlreiche weitere ähnlichen Typs flankiert, die sich im Mainstream-Christentum nicht als kanonisch durchsetzen konnten und deshalb als apokryph gelten. Die Kanonbildung ist somit ihrerseits Ausdruck eines wichtigen Festlegungsprozesses, eines Auswahlverfahrens aus vielen Schriften, von denen schließlich nur siebenundzwanzig, nämlich die vier Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas, Johannes), die Apostelgeschichte, 21 Briefe und die Apokalypse die Anerkennung als kanonische Schriften erlangten. Die unterschiedlichen Christusbilder der kanonischen Schriften des Neuen Testamentes prägten das Denken und die gottesdienstlichen Feiern des frühen Mainstream-Christentums. Erst im Laufe der Zeit wurde klar, dass diese Christologien sich nicht mit einander in Einklang bringen ließen. Besonders die Stellung Jesu gegenüber Gott wurde zum Problem: ist er vom selben Rang wie der Vater? Was heißt Monotheismus, wenn – wie es in einem Brief von C. Plinius Secundus (Epistolae 10,96)6 an Kaiser Trajan heißt – „Christus wie einem Gott“ (Christo quasi deo) Gesänge dargebracht werden. 6 Zum deutschen und lateinischen Text für Satz 7 vgl. http://www.latein.at/print.php?tr=391.
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Die Auseinandersetzungen innerhalb der christlichen Gemeinden waren im 4. Jahrhundert so heftig geworden7, dass Kaiser Konstantin es für notwendig hielt, eine eindeutige Entscheidung herbeizuführen, um die Einheit des Reiches zu garantieren. Bekanntlich hat er dafür das Konzil von Nizäa 325 einberufen und die Frage entscheiden lassen. Die Entscheidung wurde jedoch nicht unwidersprochen hingenommen, weitere Konzilien und Entscheidungen folgten. Die unterschiedlichen Positionen im Streit um das „homoousios“ (wesensgleich) oder „homoiousios“ („wesensähnlich“) für die Stellung Jesu Christi im Verhältnis zu Gott dem Vater lässt anfangs noch keine eindeutige Festlegung für das „depositum fidei“ erkennen. Erst aus der Retrospektive kann die Mainstream-Kirche sagen, dass das „homoousios“ zum Grundbestand der kirchlichen Lehre gehört, und ein Gleiches gilt für die Folgekonzilien in Konstantinopel (381) mit seiner Lehre über den Heiligen Geist und die Dreifaltigkeit, in Ephesus (431) mit der Aussage, dass Maria „Gottesgebärerin“ („theotókos“) ist, und in Chalzedon (451), demzufolge Jesus „wahrer Gott und wahrer Mensch“ ist. Die Frage nach dem eindeutigen Grundbestand des Glaubens und den Abweichungen davon lässt sich aus dem Verlauf der Geschichte nur retrospektiv beantworten. Immer wieder wurde in Auslegungsfragen gestritten, bis irgendwann die eine Position für richtig und die andere für häretisch erklärt wurde gemäß dem Grundsatz: „Roma locuta, causa finita“ – Rom hat gesprochen, damit ist die Sache entschieden. Mit anderen Worten: keiner der Kontrahenten konnte anfangs wissen, auf welcher Seite er letztlich stehen wird. Hinzu kommen historische Unabwägbarkeiten, die bewirken, dass die herrschende Meinung ihre Position für rechtmäßig (orthodox) hält und den Gegnern die Rechtgläubigkeit streitig macht. Dass damit die Sache nicht ein für alle Mal geklärt war, zeigt der weitere Verlauf der Kirchengeschichte. Die Abweichler gaben nicht auf, sondern zogen sich in andere Gegenden zurück und setzten dort oft wie im Falle der Nestorianer und Monophysiten bezüglich Zentralasiens ihre missionarischen Aktivitäten fort.
2. Beispiel: Der Koran Für die westliche Koran- und Islamforschung war es bis vor kurzem üblich, den Koran mit den Augen der Muslime retrospektiv zu lesen und in ihm eine Offenbarungsschrift zu sehen, die so von Gott dem Propheten Mohammed geoffenbart und von ihm dann vorgetragen wurde. Diese Sichtweise geht von einem feststehenden „depositum fidei“ aus und begreift die Offenbarung des Koran als fertiges Buch mit einer entsprechen7 Vgl. dazu Veyne, Als unsere Welt christlich wurde, 312–394.
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Peter Antes
den Vorlage bei Gott (vgl. Koran 43,4). Sie sieht den Koran nicht als historischen Prozess des Werdens einer religiösen Gemeinde in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen jüdischen und christlichen Vorstellungen von Gott, der Offenbarung, von Jesus, der Erschaffung der Welt, dem Gericht am Ende der Zeiten und den entsprechenden Jenseitsvorstellungen. Angelika Neuwirth schlägt nun einen Paradigmenwechsel in der Koranund frühen Islamforschung vor. In einem großangelegten Projekt versucht sie einen völlig neuen Zugang. Sie will den Koran als Text der Spätantike lesen.8 Es gelingt ihr anzudeuten, wie die Verkündung des Koran in Stationen der Gemeindebildung gegliedert werden kann und zwar unterteilt in die früh-, mittel- und spätmekkanische Zeit sowie die Jahre in Medina. Auf diese Weise wird die Lektüre des Koran zu einer spannenden Dokumentation eines Entwicklungsprozesses. Als Beispiel für einen solchen Entwicklungsprozess9 kann die Aufforderung in der frühmekkanischen Zeit an die Gegner des Propheten dienen, „eine Rede wie diese“ (Koran 52,34)10 hervorzubringen, während sich die Überzeugung von der Überlegenheit des Koran in der mittelmekkanischen Zeit eindeutig durchgesetzt hat: Sprich: Wenn die Menschen und die Djinn zusammenkämen, um etwas beizubringen, was diesem Koran gleich wäre, sie brächten nicht seinesgleichen bei, auch wenn sie einander helfen würden. (Koran 17,88)
In den spätmekkanischen Texten wird sogar eine offene Auseinandersetzung zwischen dem Propheten und seinen Gegnern szenisch dargeboten, wenn es vom Propheten und seinem Koran heißt: Oder sagen sie: ‚Er hat ihn erdichtet‘? Sprich: ‚Dann bringt zehn Suren bei, die ihm gleich wären und die erdichtet sind, und ruft an, wen ihr könnt, anstelle Gottes, so ihr die Wahrheit sagt.‘ (Koran 11,13)
Und schließlich in medinensischer Zeit die absolute sprachliche Überlegenheit des Korantextes: Und wenn ihr im Zweifel seid über das, was Wir auf unseren Diener hinabgesandt haben, dann bringt eine Sure gleicher Art bei und ruft eure Zeugen anstelle Gottes an, so ihr die Wahrheit sagt. (Koran 2,23)
Was hier für das Reifen der Überzeugung von der göttlich-schönen und deshalb von Gott stammenden Sprache der Koranverse gesagt wurde, gilt selbst|8 Vgl. dazu das programmatische Buch von Angelika Neuwirth, Der Koran. |9 Vgl. dazu Neuwirth, Der Koran, 738f 10 Alle Koran-Zitate aus Neuwirth, Der Koran.
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Am Anfang war die Vielfalt
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verständlich in gleicher Weise für die Formulierung religiöser Wahrheiten wie etwa das Verhältnis von Gottes Allmacht zur menschlichen Willensfreiheit oder politische Entwicklungen, die zur Bildung von unterschiedlichen Gruppierungen wie Sunniten, Kharidjiten oder Schiiten geführt haben. In all diesen Fällen waren die unterschiedlichen Positionen anfänglich unentschieden. Erst die weitere Entwicklung legte fest, was sich durchgesetzt hat und was als deviant angesehen wurde. Die Schulenbildung innerhalb des Islam ist zum einen durch die politische Entwicklung im frühen Islam bedingt, zum anderen der Tatsache geschuldet, dass der Koran wie alle heiligen Schriften unsystematisch ist, d.h. nicht selten widersprüchliche Aussagen enthält, die zu systematisieren und in ein konsistentes System zu bringen, spätere Ausleger sich zur Aufgabe gemacht haben. Auf diese Weise kommt es zu verschiedenen Auslegungstraditionen. Im Falle des Koran ist diese Vielfalt noch zusätzlich dadurch gegeben, dass verschiedene Lesarten des Textes bestehen. Dies hat Islamwissenschaftler immer wieder dazu veranlasst, nach dem ursprünglichen Text zu fragen, denn für die Philosophie der Aufklärung gilt als Maxime – wie Thomas Bauer schreibt – die Suche „nach einer Sphäre der Wahrheit, die klar von der des Falschen geschieden ist und die nichts als nur Wahres enthält, [dementsprechend] wird alles Zweideutige, alles nur vielleicht oder nur unter einem Aspekt Wahre, der Sphäre des Falschen zugewiesen. Damit wird Eindeutigkeit zum Wahrheitskriterium.“11 Diese Eindeutigkeit gilt aber für religiöse Texte nicht, da sie eher literarischen als Sachtexten vergleichbar sind. Literarische Texte weisen aber eine ungleich höhere Ambiguitätsdichte auf als etwa Gebrauchsanweisungen. Vor allem aber ist ihre Ambiguität gewollt, ist doch Polyvalenz geradezu ein Definitionsmerkmal, das literarische Texte von Sachtexten unterscheidet. Die Frage, ob die Mehrdeutigkeit religiöser Texte bewußt erstrebt und gewollt ist, sei dahingestellt (für den Koran ist sie, nach Meinung der meisten klassischen Gelehrten, definitiv zu bejahen).12
Bauers Position geht folglich von einer Vielfalt von Lesarten des Koran aus und weist jeden Versuch einer Rekonstruktion eines einheitlichen ursprünglichen Textes als unislamisch zurück. Man könnte in Anlehnung an das, was hier zum Christentum gesagt wurde, nun schlussfolgern, dass die nach dem ursprünglichen Text fragende Islamwissenschaft ihrerseits eine Art „depositum fidei“ als Korantext annimmt, das so vielleicht dem in Europa bestimmenden dogmatischen Denken bzw. der Philosophie der Aufklärung entspricht, einer sachgerechten Beurteilung der tatsächlichen Textgeschichte aber nicht dient.
11 Bauer, Die Kultur der Ambiguität, 55. 12 Bauer, Die Kultur der Ambiguität, 56.
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Peter Antes
Zwischenergebnis Der Blick auf das frühe Christentum und den Koran hat gezeigt, dass am Anfang die Vielfalt war und die Einheitlichkeit erst das spätere Ergebnis eines Festlegungsprozesses gewesen ist, ja es scheint, dass dieses Phänomen durchaus auch Parallelen in anderen Religionen hat. Dies gilt sowohl für Religionen mit Stiftern wie den Buddhismus, den Zoroastrismus oder die Bahai-Religion als auch und erst recht für Religionen ohne Stifter wie das Judentum oder den Hinduismus.
Die Begrifflichkeit von Vielfalt und Devianz Wenn am Anfang die Vielfalt und nicht eine klar formulierte Botschaft im Sinne eines „depositum fidei“ steht, dann ist Devianz als „Abweichung (von der Norm)“ im Sinne des Fremdwörterbuches des Duden13 mit Sicherheit der falsche Ausdruck zur Beschreibung von Abweichungen und Nonkonformismus innerhalb von Religionen. Die religionsgeschichtliche Dynamik sollte vielmehr die Vielfalt der Aussagen als Ausgangspunkt wählen und von daher die relative Legitimität abweichender Deutungen und Entwicklungen in den Blick nehmen. Mit Blick auf die Religionen allgemein und insbesondere die mit Stifterpersönlichkeiten stellt sich dann allerdings die Frage, weshalb es derart vielgestaltigen Überlieferungen gelungen ist, Anhänger zu finden und jeweils zu einer prägenden geistigen Bewegung zu werden. Möglicherweise ist die Vielfalt selbst der Schlüssel zur Antwort, weil sie ausreichend viele unterschiedliche Interessen bedient und auf diese Weise Menschen zueinander führt, die sich andernfalls nicht auf ein einheitliches Konzept einigen würden. Eine Parallele zum politischen Gruppenbildungsprozess liegt hier nahe. Große Volksparteien sind dann erfolgreich, wenn sie es schaffen, die unterschiedlichsten Interessen und Vorstellungen ihrer Mitglieder so zu bedienen, dass alle sich in ihrer Verschiedenheit dort heimisch fühlen und glauben, sie könnten sich gestalterisch einbringen. Für die religionswissenschaftliche Terminologiedebatte bedeuten die hier gewonnenen Ergebnisse, dass man in Zukunft tunlichst auf die Verwendung des Begriffes Devianz verzichten und stattdessen besser von der Vielheit der Deutungen als Normalfall ausgehen sollte. Erst spätere Entwicklungen führen – meist in Verbindung mit entsprechenden Machtkonstellationen – zur Ausbildung von Mainstream-Richtungen, was nicht selten für die andersdenkenden Auslegungen und Richtungen bedeutet, dass sie als deviant bezeichnet werden, sofern sie nicht gleich als „Häretiker“, „Ketzer“ oder „Abweichler“ ge13 Duden, Das Fremdwörterbuch, 179.
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Am Anfang war die Vielfalt
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brandmarkt werden, alles wertende Zuschreibungen aus der Siegersicht und deshalb für eine sachgerechte religionswissenschaftliche Beschreibung von Entwicklungen religiöser Bewegungen ungeeignet.
Literatur Antes, Peter, Christentum – eine Einführung, Stuttgart u.a. 1985. Bauer, Thomas, Die Kultur der Ambiguität – eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. Duden, Das Fremdwörterbuch: Notwendig für das Verstehen und den Gebrauch fremder Wörter, Mannheim u.a. 51990. Neuwirth, Angelika, Der Koran als Text der Spätantike: Ein europäischer Zugang, Berlin 2010. Ratzinger, Joseph, Auferstehung und ewiges Leben: Beiträge zur Eschatologie und zur Theologie der Hoffnung, Freiburg i.B. u.a. 2012 (Gesammelte Schriften, Bd 10). Ratzinger, Joseph – Benedikt XVI. Jesus von Nazareth, 3 Teile, Freiburg i.B. u.a. 2007–2012. Usener, Herrmann, Das Weihnachtsfest, Bonn 21911. Veyne, Paul, Als unsere Welt christlich wurde (312–394): Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht, München 2008.
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Helwig Schmidt-Glintzer
Wertsphärenverschiebung und Selbstopferung Selbstverbrennung buddhistischer Mönche und ihre Deutung
Vorbemerkung Im Kontext der Debatten um eine Neubestimmung der Beziehung zwischen Individuum, Gesellschaft und staatlicher Ordnung in China steht auch die Verfügbarkeit über das Leben des Einzelnen zur Diskussion. In diese Zusammenhänge ragt eine im Milieu buddhistischer Glaubensüberzeugungen lebendige Sondertradition der Selbstaufgabe bzw. der Selbsthingabe, die bezogen auf konfuzianische oder ganz allgemein gesellschaftstheoretische Postulate auch als Selbstentzug oder Eskapismus gedeutet werden kann. In der internationalen Öffentlichkeit werfen Nachrichten über Selbstverbrennungen tibetischer Mönche ein besonderes Licht auf die Debatten über die Neubestimmung der Beziehung zwischen Individuum, Gesellschaft und staatlicher Ordnung in China. Inzwischen wird über eine „Neue Strategie gegen Selbstmorde von Tibetern“ berichtet.1 Diese Berichte sollen in den folgenden Ausführungen in eine historische Rekonstruktion der Selbstopferungstraditionen insbesondere im chinesisch-buddhistischen Kontext eingebettet werden mit dem Ziel, daraus eine eigene Position aus humanistischer Perspektive abzuleiten.2 Diese ist als Gesprächsangebot für einen Freund gedacht. – Gesellschaften tendieren zur Ausdifferenzierung ihrer Normensysteme im Sinne unterschiedlicher Wertsphären, um einen Begriff Max Webers zu verwenden.3 Dies gilt in besonderem Maße für das sich seit einigen Jahrzehnten besonders rasch verändernde China. Die Art dieser Ausdifferenzierung bestimmt den Charakter der jeweiligen Gesellschaft und zugleich die Art und Weise der Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit. So erscheint heute die Zeit der Neuformierung von Staatlichkeit in China in der Zeit der Streitenden Reiche (403–221 v.~Chr.) auf der Grundlage von Ausgrabungsfunden und Textkritik in einem neuen Licht.4 Im Zuge von Integrations- und Differenzierungsprozessen bildeten sich Geltungsansprüche aus unterschiedlichen Wertsphä1 Siehe Ackeret, Neue Strategien gegen Selbstmorde von Tibetern, 7. Siehe auch Böhmer u.a., Das Dilemma des Abtes, 7. 2 Schmidt-Glintzer, Chancen für einen globalen Humanismus, 407–442. 3 In der Regel rufen solche Entwicklungen Gegenbewegungen hervor. 4 Siehe Sanft, Don Zhongshu’s Chunqiu jueyu Reconsidered, 141–169.
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Wertsphärenverschiebung und Selbstopferung
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ren, gefolgt von Adjustierungs- und Aushandlungsprozessen, bei denen es immer auch um Privilegierungen und Ausnahmeregelungen ging. Denn es musste die Überwindung territorialer Grenzen und die politische Integration auch kulturell in einer Vielfalt von Öffentlichkeiten ausgehandelt und durchgesetzt werden. Strukturähnliche Prozesse zählen auch gegenwärtig zu den größten Herausforderungen für China. Es wurde zu einem Grundzug chinesischer Kultur, dass sehr früh Kompromisse bzw. Lösungen mittlerer und kürzerer Reichweite gefunden wurden und es deswegen nur zu einer partiellen Integration kam. Infolge dessen wurde in China in früher Zeit eine Form gebrochener Integration zum Regelfall, welche sich in unterschiedlichen Loyalitätsbeziehungen und stets in einer mentalen Distanz zum Zentrum ausprägte und bis heute ausprägt.5 In diesen Zusammenhängen ging es nicht nur um die Bestimmung von Kultur-, Staats- und Zugehörigkeitsgrenzen, sondern ebenso auch um Handlungsoptionen und -spielräume sowie Verpflichtungen des Einzelnen. Während sich manches leicht regeln ließ, kam es in Konfliktfällen doch zu kompliziertesten Auseinandersetzungen. Vieles jedoch musste – trotz aller Regelungsversuche – naturgemäß ungeregelt bleiben. Und dazu gehörte und gehört die absichtsvoll und daher auch als „Selbstmord“ vorgenommene Selbsttötung. Man kann diese verbieten oder zu verhindern suchen, aber auf welche Wertsphären man immer verweist, sie entzieht sich. Sich selbst zu töten, ist für den in seinem Bewusstsein soziomorph geprägten Menschen immer eine Grenzüberschreitung, allein schon weil dies, angesichts des Urvertrauens von Geburt an, das unwahrscheinlichste Geschehen überhaupt ist. Und doch geschieht es – und bedarf daher einer Deutung, durch den sich Tötenden ebenso wie durch die soziale Umgebung.6 Von einem Gelingen kann vielleicht am ehesten dann gesprochen werden, wenn die Deutungen beider Seiten zusammen fallen. Im Falle des Buddhismus scheint der Selbstmord zunächst kein Thema, weil die Aufgabe allen Wünschens und der Aufstieg ins Nirvana im Vordergrund stehen und weil die Befreiung auf mentaler Ebene und nicht durch Vernichtung des Körpers geschieht. Allenfalls in einer besonderen Form des Ausdem-Leben-Scheidens kann der Ausstieg aus dem Rad der Wiedergeburten gelingen, wenn sie einer Selbstauslöschung entspricht, die jedoch nicht eine absichtsvolle Selbsttötung sein kann.7
5 Siehe Schmidt-Glintzer, Europa, Du hast es besser; s.a. Pines, A Hero Terrorist, 1–34. Die heutigen Verfassungsdebatten in China verfolgen weiterhin die grundsätzliche Frage nach einem legitimen Modell gerechter Herrschaft, welches die Schwächen des westlichen Demokratiemodells hinter sich lässt. Siehe Qing, A Confucian Constitutional Order. 6 Eine Sicht aus freiheitlicher Perspektive ist Améry, Hand an sich legen. 7 Es wäre reizvoll, die Unsterblichkeitsdebatten im südlichen China am Ende des 5. Jahrhunderts noch einmal unter diesem Gesichtspunkt zu analysieren. – Die bereits umfangreiche Literatur zur Selbsttötung im Buddhismus kann in diesem Beitrag nicht erschöpfend behandelt werden.
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Helwig Schmidt-Glintzer
Doch zunächst noch ein anderer Gedanke zur Ausdifferenzierung von Normensystemen: Auch und gerade wenn es um das eigene Leben geht, steht der Einzelne „in der Welt“. Als solcher kann er, in der Formulierung Max Webers, „an sich nichts anderes erfahren, als den Kampf zwischen einer Mehrheit von Wertreihen, von denen eine jede, für sich betrachtet, verpflichtend erscheint. Er hat zu wählen, welchem dieser Götter, oder wann er dem einen und wann dem anderen dienen will und soll. Immer aber wird er sich dann im Kampf gegen einen oder einige der anderen Götter dieser Welt und vor allem immer fern von dem Gott des Christentums finden –, von dem wenigstens, der in der Bergpredigt verkündet wurde.“8 Der Buddhismus hat nun versucht, die Geltungsansprüche unterschiedlicher Wertreihen zu bestreiten, doch konnte letztlich auch er dem „In-der-Welt-Sein“ nicht entkommen. Dies führte dazu, dass „der Buddhismus“ in seinen Erscheinungsformen immer wieder abwich vom Ideal bzw. von dem Klischee, das manche von ihm proklamiert hatten. So konnte es zu dem Buch „Unmasking Buddhism“ von Bernard Faure kommen, der den Buddhismus in seinen realen Erscheinungsformen mit seinen Idealen konfrontiert, wobei er einem möglichen Missverständnis Vorschub leistet, das Auseinanderklaffen von Norm und Praxis sei etwas für den Buddhismus als Phänomen in besonderer Weise typisches.9
Selbstverbrennungspraxis im mittelalterlichen China Selbsttötung und Selbstverstümmelung sind nicht nur Ausdruck eines Verhältnisses zum eigenen Körper, sondern gehören zugleich mit zu Aushandlungsprozessen über den Sinn des Lebens und die Verfügbarkeit über die eigene Person. In der Form der Selbstverbrennung tritt ein weiterer Aspekt hinzu, der im mittelalterlichen China zugleich die Thematisierung kultureller Differenz bezüglich der Mittel bedeutet. Im Falle der Selbstverbrennungspraxis im mittelalterlichen China ging es nämlich zunächst nicht in erster Linie um die Tötung des Körpers, sondern um die Verwandlung desselben in Asche. Der Skandal war, wie in der Einlassung des buddhistische Institutionen in seinem Herrschaftsgebiet im südlichen China fördernden Kaiser Wudi von Liang (reg. 502–549) gegen seinen Gesprächspartner Daodu deutlich wird, dass die Erdbestattung durch Feuerbestattung ersetzt wird.10 Im Jahre 526 n.~Chr. heißt es in einer Antwort des Liang Wudi an Daodu, der seinen Körper verbrennen will: |8 Weber, Zwischen zwei Gesetzen, 98. |9 Faure, Unmasking Buddhism. Siehe hierzu auch Schalk (Hg.), Im Dickicht der Gebote; dort behandelt Christoph Kleine in seinem Beitrag „Das Norm-und-Praxis Problem am Beispiel von Yijings Bericht über den indischen Buddhismus des 7. Jahrhunderts“ auf den Seiten 64–79 die Auseinandersetzung Yijings mit religiös motiviertem Suizid und Selbstverstümmelung. 10 Siehe Benn, Burning for the Buddha, 4.
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Wertsphärenverschiebung und Selbstopferung
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Wenn Du ernsthaft Verdienste für andere Wesen anhäufen willst, dann geht dies nur, wenn Du den Umständen entsprichst und so den Weg kultivierst. Wenn Dein Körper und Dein Schicksal keine Dauer mehr haben, solltest Du Deinen Körper im Wald ablegen. Indem man ihn den Vögeln und wilden Tieren darbringt, vollendet man dānāpāramitā (pāramitā des Gebens) und bewirkt ein gutes Karma. Die achtzigtausend Würmer lassen es nicht zu, sich zu verbrennen. Dies ist nichts, was man unterstützen kann.11
Es sind also in den Augen Liang Wudis zwei Gründe, die gegen die Verbrennung sprechen. Einmal kann man seinen Körper als Nahrung hergeben; zum anderen würde man die vielen Mikroorganismen im eigenen Körper verbrennen. Vor allem der Hinweis auf den Weg des Mönches, „Verdienste für andere Wesen“ anzuhäufen, hätte Daodu hindern müssen, und doch scheint er einer anderen „Wertreihe“ zu folgen und schließt sich der Empfehlung des Liang Wudi nicht an.12 Tatsächlich wurde in der Folgezeit Selbstverbrennung in China immer wieder inszeniert, auch weil man damit Effekte erzielen zu können glaubte. Solche Ereignisse wurden angekündigt und fanden als große Spektakel ein großes Publikum.13 Obwohl dies Aufgeben des eigenen Körpers den Prinzipien konfuzianischer Pietät widersprach und solch zentrale Gestalten wie Han Yu (768–824) gegen diese Praxis polemisieren ließ, so finden sich weiterhin Selbstverbrennungen, die zunächst vor allem einfach als spektakuläre Hingabehandlungen gedeutet werden können. Im Kontrast zu einer in vielen Berichten bezeugten Selbstauslieferung an ein wildes Tier, etwa um eine andere Person vor dem Verzehrtwerden zu schützen, konnte eine Selbstverbrennung leicht als Protest gedeutet werden und als Weigerung, dem Tiger als Fraß zu dienen. Ausgehend von dem im Ritenklassiker Liji dem Konfuzius in den Mund gelegten und zum geflügelten Wort gewordenen Satz „Eine erdrückende Regierung ist schlimmer als ein Tiger“14, wäre das Auftreten reißender Tiger als Ausdruck bzw. Begleiterscheinung eines unterdrückenden Staates und die Selbstverbrennung als Selbstentzug und als Akt der Verweigerung gegenüber dem Tiger/Staat deutbar. Gegen eine solche Gleichsetzung eines unterdrückenden Staates mit dem gierigen Tiger wird früh Widerspruch formuliert, etwa bei Wang Chong (27– ca. 100 n.~Chr.).15 Die Berichte, in denen sich Menschen, um andere zu retten oder einfach um des eigenen guten Karmas willen, einem Tiger zum Fraß geben,
11 T.51.2067.24c21–24. 12 Siehe Benn, Burning for the Buddha, 5. 13 Ebd., S. 8. – Eine facettenreiche Analyse ritueller Suizide im ostasiatischen Buddhismus legte Christoph Kleine vor. Kleine, Sterben für den Buddha. Siehe auch ders., The Epitome of the Ascetic Life. 14 Siehe Hammond, An Excursion in Tiger Lore, 88. 15 Ebd.
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gehören daher eindeutig zu einem anderen Diskurs.16 Allerdings sind Zweifel erlaubt, wenn aus der Zeit der Buddhismusverfolgung unter dem Zhou-Kaiser Wudi (reg. 560–578) mehrere Selbstverbrennungen berichtet werden.17 In diesen Zusammenhang sind auch solche Fälle zu stellen, bei denen Einzelne gelobten, bei einem Wiederaufblühen des Buddhismus ihren Körper zu opfern.18 Zunächst also war Selbstaufgabe Hingabe und Selbstopferung zur Gewinnung eines guten Karmas, in manchen Fällen auch ein Tauschvorgang, wie im Falle des Kaisers Liang Wudi, der sich mehrfach – und auch das war eine Form der Selbstaufgabe – ins Kloster begab, um anschließend gegen hohe Transferleistungen des Hofes an das Kloster wieder ausgelöst bzw. „zurückgekauft“ zu werden.19 Damit wurde die Selbstaufgabe zu einer Form der Erpressung und der Ausübung von Zwang gegenüber dem sozialen Umfeld im weitesten Sinne. Dass sich diese Form der Selbstaufgabe gerade in China entwickelte ist als transkultureller Adaptionsprozess ebenso bemerkenswert wie der Umstand, dass die so im chinesischen Mittelalter entwickelten Formen der Selbstaufgabe und darunter insbesondere die Selbstverbrennung inzwischen durch tibetische Mönche als Protestereignisse inszeniert werden.20 Ganz allgemein nun muss festgestellt werden, dass auf die Frage, wofür es sich zu sterben lohne, sehr viele Antworten versucht worden sind. Dass Menschen sich für eine gute Sache opfern, hat eine lange Geschichte. Erst spät fand das auch im Satz dulce et decorum est pro patria mori Ausdruck. Auf dem Grabstein von Walter Flex (6.~7.~1887–16.~10.~1917), gefallen „für Kaiser und Reich“, findet sich der Spruch: „Wer/auf die/preussische/Fahne/schwört/ hat nichts/mehr/was ihm/selber/gehört.“ Für einen absoluten Wert zu sterben lohne sich also, so konnte die Antwort auf die eben gestellte Frage lauten. Dies galt allgemein, jedoch ist die Ermittlung der Wertbezüge eine oft sehr aufwändige Angelegenheit. In China starben vor der Einführung des Buddhismus und vor der Erfindung von Höllen- und Unterwelten mit ihren Höllenrichtern Menschen aus Scham, weil sie die Erwartungen anderer nicht erfüllten, oder sie starben, um die Erwartungen anderer zu erfüllen. Immer fanden solche Übergänge vor dem Hintergrund von Werthorizonten statt –, oft mit ausdrücklichem Verweis darauf. Gelegentlich waren zwei Haltungen nur durch einen kleinen Schritt voneinander getrennt. Dies spiegelt sich noch in literarisch-politischen Dis16 Umgekehrt ahndet das Rechtssystem der Volksrepublik China die Tötung eines Tigers mit der Todesstrafe. 17 Siehe Benn, Burning for the Buddha, 80. 18 Ebd., 81. 19 Siehe auch die gegenüber diesen Berichten über Liang Wudi kritische Haltung bei Franke, Die angebliche Bekehrung chinesischer Kaiser zu einer fremden Religion. 20 Siehe das Themenheft „Tibet is burning. Self-Immolation: Ritual or Political Protest?“ der Revue d’Etudes Tibétaines 25 (Dezember 2012), Buffetrille, Katia/Robin, Françoise (Hg.). – Online: http://www.digitalhimalaya.com/collections/journals/ret/index.php?selection=0 [letzter Zugriff: 16.~01.~2012]. Den Hinweis auf diese Publikation verdanke ich Carmen Meinert.
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kursen der Gegenwart, wie bei Yu Hua (Jahrgang 1960), der von einem jungen Burschen und dessen Schritt von einer Haltung der Ängstlichkeit zu Furchtlosigkeit berichtet. Der Schritt erfolgte als er, mit seiner Gruppe von einer Halbstarken-Gang in die Flucht geschlagen, von zu Hause ein Hackmesser holt, sich vor die siegestrunkenen Halbstarken hinstellt, sich eine Schnittwunde auf der Wange beibringt und mit der anderen Hand das hervorquellende Blut im Gesicht verschmiert und sodann mit gellendem Geschrei auf den Feind stürzt. Die bis dahin Überlegenen ergreifen die Flucht, getreu der chinesischen Volksweisheit „Die Schwachen fürchten die Starken, die Starken fürchten die Gewalttätigen, die Gewalttätigen aber fürchten die Lebensmüden.“21 Unter einer solchen Maxime verstanden sich möglicherweise auch ganze Generationen von Revolutionären in China bis hin zu den Aktivisten am Tian’an men in Peking im Frühjahr 1989, wie dies auch in der Rundfunkrede der Aktivistin bei den Studentenprotesten am Tian’anmen im Mai/Juni 1989 Chai Ling anklingt, die zum Manifest der Hungerstreikenden wurde.22
Der Fall Tibet Wenn seit einigen Jahren Nachrichten wie „Tibetischer Schriftsteller stirbt nach Selbstverbrennungsprotest“ oder „In China haben sich erneut mehrere Tibeter in Brand gesetzt“ durch die Welt gehen, stehen sie besonders in Deutschland gerne auf der Titelseite von Zeitungen. Zustimmend wird konstatiert: „Langsam formiert sich eine gewaltbereite Jugend.“23 Mit Vorliebe wird gezählt, wie in folgender „Tibeterin zündet sich an“ überschriebenen dpaMeldung, in der es heißt: „Es war dies die 95. Selbstverbrennung seit 2009. Allein seit Anfang November haben sich 32 Tibeter selbst angezündet […]. Die Exiltibetische Regierung wies Chinas Vorwurf zurück, dass der Dalai Lama […] zu den Selbstverbrennungen anstifte.“24Auf erneute Vorwürfe, wie sie in der chinesischen Presse im Dezember des Jahres 2012 erhoben wurden, dass etwa ein 40jähriger Mönch namens Lorang Konchok seit 2009 acht Personen zur Selbstverbrennung angestiftet und ihnen versprochen habe, die Tat international und zum Wohle der Familienangehörigen publik zu machen,25 folgt selbstverständlich Widerspruch. Von diesen medienwirksam inszenierten Selbstverbrennungen berichtete, ganz den medialen Gepflogenheiten folgend, mit farbigen Bildern Kai Strittmatter unter dem einfühlsamen Titel: „Ich gebe 21 22 23 24 25
Yu Hua, China in zehn Wörtern, 167f Chai Ling, Ein Herz für die Freiheit, 172–174. Matern, Die frustrierten Erben des Dalai Lama. Siehe Süddeutsche Zeitung Nr. 286, 11. Dezember 2012, 9. Siehe Shanghai Daily vom 10 Dezember 2012: „Monk detained for inciting series of self-immolations“ sowie andere Tageszeitungen vom selben Tage. – Der Name in der Schreibung Lorang Konchok beruht auf der Xinhua-Meldung.
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Helwig Schmidt-Glintzer
meinen Körper als Opfer ans Licht“, nicht ohne mehrere ähnlich inszenierte Verbrennungen im Bild zu zeigen.26 Angesichts des Spektakulären tritt die Frage nach der Privilegierung dieser Nachrichten in den Hintergrund – und doch drängt die Frage nach einer Antwort, warum die inszenierten Selbstverbrennungen tibetischer Mönche eine solche Erfolgsgeschichte darstellen – und warum sie gerade in Deutschland eine besondere Resonanz finden. Um meine These von der spezifisch deutschen Resonanzbereitschaft vorweg zu nehmen: Die Selbstverbrennung hat ihre Wurzeln in der Nichtanerkennung der Integration Tibets in den Machtstaat Volksrepublik China; sie hat aber auch Wurzeln in den Gewalttraditionen Tibets selbst.27 In Deutschland finden diese Selbstverbrennungsserien deswegen eine solche Resonanz, weil dieses sich bei aller Macht bis heute subjektiv weitgehend eines Machtstaat-Anspruchs enthält und es zugleich insbesondere seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine bis heute weitgehend unverarbeitete Selbsthingabe-Tradition für junge Männer bereithält. In Deutschland herrscht eine Ambivalenz gegenüber separatistischen Bewegungen, mit einer latenten Parteinahme für Separatismen, wofür Südtirol nur ein Beispiel ist. Mit dieser erst vor dem Hintergrund der DeutschlandKonzepte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verständlichen Selbstverkleinerung geht ein aus noch ganz anderen Gründen erfolgender Schwund an Sinnressourcen einher, so dass – insbesondere nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs – alles Heroische nur noch in der Ferne gesucht werden kann. Jedem, der die Geschichtsdiskurse in den Vereinigten Staaten von Amerika etwa zur Kenntnis nimmt, muss die Geschichtsvergessenheit in Deutschland besonders auffallen. Dies wiederholt sich in vielerlei Lebenssphären. So haben etwa solche, die – um nur ein Beispiel zu nennen – die Lebensform des zölibatär lebenden Priesters in der katholischen Kirche eher als pathologischen Ausweg für Sonderlinge betrachten, keinerlei Probleme mit der Anerkennung einer ähnlichen Lebensform bei buddhistischen Mönchen. Das Heroische der Selbstverbrennungen, so meine These, hat insofern eine kompensatorische Funktion für den ansonsten entleerten Gefühlshaushalt der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit.
Eine globale Perspektive Statt nun dieses Phänomen mit anderen Selbstmordtrends weltweit zu verknüpfen, ganz zu schweigen von Blicken auf Kurden und Kurdinnen in türkischen Gefängnissen, die sich dort in lebensbedrohlichem Hungerstreik befin26 Strittmatter, Ich gebe meinen Körper als Opfer ans Licht. 27 Hierzu siehe die Einleitung „Buddhismus und Gewalt“ im Heft 2 der ZfR Zeitschrift für Religionswissenschaft, 11. Jahrgang 2003, 143–147 von Karénina Kollmar-Paulenz und Inken Prohl.
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den, oder gar von Selbstmordattentätern andernorts, will ich doch in Ostasien bleiben. Für eine differentielle Kulturwissenschaft wäre es jedoch durchaus reizvoll, in der Nachfolge der großen Studie von Émile Durkheim28 gegenwärtige Tendenzen in den Blick zu nehmen und sie zugleich mit Vorstellungen von Glück und Schicksal zu verknüpfen wie sie seit Pindar (um 500 v.~Chr.) und dem China der Streitenden Reiche, kurz: seit Menschengedenken immer wieder thematisiert werden.29 Dabei müsste auch die Relation zwischen Intention und Adressat thematisiert werden. Wenn in der europäischen Schuldenkrise 2012 berichtet wird – während die deutsche BILD-Zeitung von „Pleitegriechen“ spricht –, „Manche Griechen sind so verzweifelt, dass sie lieber sterben, als ihre Würde zu verlieren“,30 bestätigt dies meine oben formulierte These von der besonderen Resonanzbereitschaft, weil sich in Deutschland aus genannten Gründen weniger leicht ein Adressat für solche Mitteilungen findet als bei der Nachricht „Tibeter zündet sich aus Protest gegen chinesische Herrschaft an.“31 Ganz außer Acht bleiben sollen hier auf westliche Wohlstandsgesellschaften bezogene und wesentlich an prophylaktischen Ratschlägen interessierte Bücher über den Suizid, die zumeist von krankhaften Begleitumständen oder gar Ursachen ausgehen.32 Selbstverständlich wären auch hier Suizidraten mit anderen Faktoren korrelierbar, und man könnte der Vermutung nachgehen, „dass Menschen, die sich selbst in Flammen setzen – ebenso wie im Negativen die Selbstmordattentäter – bereits latent suizidal und depressiv sind.“33 Allerdings kann es geschehen, dass die Verhältnisse so unerträglich werden, dass sich Menschen in großer Zahl selbst töten, dass also eine gesellschaftliche Krise die Neigung zum Selbstmord verstärkt, wenn sich „legitime Ziele nicht mehr mit legalen Mitteln verfolgen lassen.“34
28 29 30 31
Durkheim, Der Selbstmord. Ich verweise nur auf die Betrachtungen von Theunissen, Schicksal in Antike und Moderne. Stenanidis, Gestrandet. Zeit Online News. 6. Oktober 2012. Meldung der Agentur afp. – Dies wird bestätigt durch eine bizarre Hospitalisierungserfahrung eines Mannes, der nach der Lektüre eines Berichtes über „Massenselbstmorde in Griechenland und Spanien“ auf seiner Facebook-Seite notiert hatte: „Vielleicht ändert sich ja was, wenn ich mich umbringe?“ – Siehe Rohm, Fünf Tage Wahnsinn. 32 Bronisch, Der Suizid. – Beachte aber die dort angegebene Literaturliste. 33 Steinberger, Die Opfertäter. – Petra Steinberger fährt fort: „Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie eine Motivation haben, die über die eigene Not hinausgeht. Aber es macht es ihnen vielleicht leichter, diesen Weg zu gehen. Wenn das tatsächlich so wäre, entstünde ein fast tragisches Paradoxon. Menschen, die am eigenen Leben verzweifeln, töten sich, um anderen ein besseres zu ermöglichen.“ 34 Ziemann in seiner „Zeit zum Selbstmord“ überschriebenen Rezension des Buches von Christian Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich, 2011, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 122, 29. Mai 2012, 16.
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Eingang ins Paradies und Märtyrertum Für den Religionswissenschaftler sind allerdings diese politischen Rahmenbedingungen weniger interessant als die Frage nach den jeweiligen Zukunftserwartungen der Suizidalen und ihren Heilshoffnungen. Auch wenn allgemein zu gelten scheint, dass der Heilsweg durch Selbstaufopferung leichter wird, wird dies in vielen Fällen doch bestritten. So werden viele westliche Stimmen den Selbstmordattentätern im Nahen Osten den Glauben an einen Eingang ins Paradies ebenso bestreiten wie die chinesischen Regierungsstellen sich selbst verbrennenden tibetischen Mönchen die Legitimation ihres Handelns absprechen. Gänzlich abtrennen hiervon muss man jedoch jene zahllosen Fälle, in denen sich Menschen ohne großes Aufsehen auf irgendeine Weise unspektakulär töten und dies auch nicht als Selbstmord benannt wird. Eine ganz zentrale Rolle beim Selbstmord mit öffentlicher Resonanz scheint mir das Ausmaß der Verehrung von Selbstmördern als Märtyrer zu spielen. Dabei muss auch bedacht werden, dass in den Religionen durchaus unterschiedliche Märtyrerkonzepte existieren. So weicht das islamische Märtyrerkonzept beträchtlich vom christlichen Märtyrerkonzept ab.35 Die Häufigkeit von Selbstverbrennungen hat die Aufmerksamkeit für dieses Phänomen in besonderem Maße gesteigert, zumal sich solche Fälle nun auch zählen lassen. Erstmals deutlich wurde die Wirkmacht von Selbstverbrennung, als während des Vietnam-Kriegs der Fotograph Malcolm W. Browne mit dem Bild des von Flammen umloderten Mönches Thich Quang Duc vom 11. Juni 1963 in Saigon den Pulitzer Preis gewann. Inzwischen hat sich die Zahl solcher Bilder vervielfacht, deren Erlangung und Verbreitung durch die Omnipräsenz von Kamerasystemen zudem um vieles leichter geworden ist.36 Damit korreliert ein intensiverer Diskurs in Tibet ebenso wie unter Exiltibetern.37 Die Bewertung der offiziellen Resonanz kann nicht die Tradition der Verurteilung der Selbsttötung ignorieren, sondern hat auch danach zu fragen, welche Argumente gegen den Selbstmord ins Feld geführt werden. Die Bewertung der Selbsttötung als Todsünde seit Augustinus und deren Relativierung seit der Zeit der Aufklärung deutet Andreas Bähr mit dem Begriff der „Unverfügbarkeit des eigenen Körpers“.38 Die in letzter Zeit vermehrten Nachrichten von Selbstverbrennungen tibetischer Mönche haben daher vor dem Hintergrund dieser Tradition der Unverfügbarkeit in besonderer Weise etwas Verstörendes. Sie werden auch in Tibet durchaus kontrovers diskutiert.39 Meist werden die Selbsttötungen mit den Forderungen nach der Autonomie 35 36 37 38
Seidensticker, Die Transformation des christlichen Märtyrerbegriffs im Islam. Siehe hierzu Sontag, Das Leiden anderer betrachten. Siehe Sperling, Conversations and Debates, 89ff Bähr, Die Paradoxie moralischer Ausweglosigkeit und die (Un)-Verfügbarkeit des eigenen Körpers. 39 Siehe das Sonderheft der Revue d’Études Tibétaines 25 (2012). Online: http://www.digitalhimalaya.com/collections/journals/ret/index.php?selection=0 [letzter Zugriff: 16.~01.~2012].
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Tibets verbunden und als Anklage gegen China verstanden. Dabei wird leicht vergessen, dass der Dalai Lama selbst einmal betonte, dass Tibet seine besten Chancen als Teil Chinas haben werde. Andererseits gibt es gute Gründe dafür, dass solche Selbstverbrennungen nicht als Selbstmordterrorismus bezeichnet und mit Selbstmorden muslimisch geprägter Aktivisten in Verbindung gebracht werden. Denn der Selbstmord, insbesondere durch Verbrennen, spielt, wie gezeigt wurde, in der buddhistischen Tradition eine eigene Rolle und hat seit den Selbstverbrennungen in Vietnam in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Renaissance erlebt. Daher muss man es heute sehr ernst nehmen, wenn sich Einzelne durch Selbstverbrennung für die Erlangung politischer Ziele verwenden. Dabei wäre es ratsam, Selbsttötungen insgesamt Aufmerksamkeit zu schenken. Und doch fällt auf, dass in beiden Fällen, im muslimischen wie im buddhistischen Fall, die Deutung durch Propagandainteressen überlagert wird und etwas ausgeblendet bleibt. Bei den islamisch geprägten Selbstmordattentätern wird regelmäßig nur der terroristische Aspekt gesehen und nicht die mit dem Akt verknüpfte Heilserwartung; im Falle buddhistischer Selbstverbrennungen wird nur die gegen politische Verhältnisse gerichtete Seite gesehen und der Selbstmord im Gegensatz zu den muslimischen Selbstmorden sogar geradezu belobigt, während auch hier die religiöse Seite ebenfalls ausgeblendet bleibt. Dabei sind diese Selbstmorde samt und sonders zu beklagen, solange jedenfalls die Deutung sich nicht in jene Tradition stellt, die nicht den Hass, sondern die Opferung, ggf. zum Wohle des Tigers, in den Vordergrund stellt. Erst dann überhaupt wären sie hinnehmbar.
Gegen die heutige Selbstverbrennungsmode Seit bald zweitausend Jahren ist die Selbstverbrennung von Mönchen im Buddhismus umstritten. Natürlich ist Selbstaufgabe und Opferung für andere ein hoher Wert, und doch bleibt es umstritten, ob sich diese Praxis auf die Lehre Buddhas vom Mittleren Weg berufen kann. Dies wusste einer der größten Förderer des Buddhismus in China, der Reformkaiser Wudi der LiangDynastie, wie sein eingangs erwähntes Gespräch mit dem Mönche Daodu im Januar des Jahres 526 bezeugt. Es gibt seither immer wieder den Vortrag von Argumenten gegen die Selbstverbrennung, welche als Möglichkeit dem Einzelnen selbstverständlich nicht verwehrt werden kann. Doch ein Skandal ist es, solches Handeln zu belobigen oder es gar durch den Hinweis auf die Geschichte Tibets und seiner Völker und Kulturen zu rechtfertigen oder zu glorifizieren. Ob die Zukunft Tibets in einem Separatismus liegt, oder in einer friedlichen Entwicklung innerhalb und als Teil Chinas oder in anderen politischen Organisationsformen, kann hier dahingestellt bleiben. Zwar ist Tibet nicht immer schon ein Teil Chinas; doch seit dem 18. Jahrhundert kann man
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Tibet als Teil Chinas betrachten. Die Einflussnahme Chinas auf Tibet blieb allerdings lange Zeit gering, und erst der stärkere britischen Zugriff auf Tibet im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts rief Widerstände auf chinesischer Seite hervor. In manchen Punkten hatte sich China mit England über einige territoriale Fragen geeinigt, als etwa 1890 Sikkim, ursprünglich ein Vasallenstaat Lhasas, in einer chinesisch-britischen Konvention zum britischen Protektorat erklärt wurde, eine Regelung, der die damalige Regierung Tibets ebenso wenig zustimmte wie dem chinesisch-britischen Vertrag von 1893 über den IndienTibet-Handel. Der 1895 in sein Amt eingeführte 13. Dalai Lama (1876–1933) pflegte enge Kontakte mit Vertretern des Zaren in St. Petersburg, wogegen sich der Vertreter Chinas zu wehren versuchte. Als Reaktion auf den wachsenden russischen Einfluss in Lhasa entschloss sich der damalige englische Vizekönig von Indien, Lord Curzon, militärisch gegen Tibet vorzugehen. 1903/1904 fand die sog. Younghusband-Expedition gegen Lhasa statt, mit dem erklärten Ziel, Tibet zur Anerkennung der Abmachungen zwischen England und China von 1893 zu zwingen, was auch gelang, allerdings ohne Beteiligung des Dalai Lama, der in die Äußere Mongolei geflüchtet war. Diese Gelegenheit suchte die Qing-Regierung in Peking zu nutzen, indem sie den Neunten Panchen Lama (1883–1937) zum Regenten über Tibet erklärte, der zunächst ablehnte, dann aber doch während der Exilzeit des Dalai Lama faktisch die Regentschaft innehatte, seinerseits im Jahr 1923 dann aber von dem Dalai Lama ins Exil geschickt wurde. Der östliche Teil Tibets wurde nunmehr von Sichuan aus reorganisiert, und der Dalai Lama wurde gezwungen, bei seiner Rückkehr 1908 aus der Mongolei über Peking zu reisen und der Kaiserinwitwe Cixi seine Reverenz zu bezeugen. Bereits 1912, nach dem Zusammenbruch des chinesischen Kaiserreiches, konnte der Dalai Lama nach Lhasa zurückkehren und die Unabhängigkeit Tibets proklamieren. Yuan Shikai aber, der Präsident der neuen Republik China, hielt in einer Erklärung am 12. April 1912 fest, dass Tibet, Xinjiang und die Mongolei als feste Bestandteile der Republik China anzusehen seien.
Warten, Ungeduld und Terror Natürlich ist alles auch eine Frage der Zeit. Wenn beim Nachdenken über Pfingsten etwa von der Hoffnung die Rede ist, die im Warten liegt, von der Zuversicht ohne Gewähr, vom Sichanvertrauen, von all jenem, was Religion ausmacht,40 und wenn dann manche feststellen, dass diese Qualität abhanden gekommen sei, dann könnte man auf den Gedanken kommen, dass auch die Selbstmordattentäter der letzten Jahre – und so sehr lange gibt es diese Häu40 Siehe Gräff, Die Ungeduldigen.
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fung von Selbstmordattentätern noch nicht –, dass also diese in ihrem Tun nichts anderes zum Ausdruck bringen als die allgemeine Just-in-Time-Philosophie, die Erfüllung unmittelbar und selbst verantwortet zu gewährleisten. Manche der heutigen Kriege können ebenso als Ausdruck des allgemeinen Trends in der Fortführung des Nicht-Warten-Könnens gedeutet werden. Zur Bekräftigung dieses Nicht-Warten-Könnens sind dann alle Mittel Recht. Denn statt der Religion und der Heilserwartung ihren Raum zu geben, wird die Behauptung in die Welt gesetzt, die Religionen seien der Grund für den Terrorismus. Diese Behauptung, auf der Bestseller-Erfolge beruhen wie Helmut Schmidt jüngstes Religions-Zähmungsbuch41 und gegen die auch Streitschriften wie Patrick Bahners’ Buch über die deutsche Angst vor dem Islam nichts wirklich auszurichten vermögen,42 diese Behauptung beruht auf einer Verwechslung. Es ist nämlich, so lautet meine These, nicht die Religion und nicht die Heilserwartung, nicht das Sichanvertrauen und nicht das WartenKönnen, welche den Selbstmordattentäter in die Welt bringt, sondern die Verkürzung des Weltgefühls um jenen Religion überhaupt erst konstituierenden Anteil des Warten-Könnens. So gesehen ist der Terrorismus ein Symptom unserer eigenen Weltgestaltung, und die Ungeduld, die sich vor Jahrzehnten noch in Büchern Ausdruck verschaffte („Warum wir nicht länger warten können“) ist nun zum allgemeinen Symptom der Zeit geworden. Selbst noch im Slogan „Atomausstieg jetzt“ spiegelt sich dieser Trend, und es bleibt nur noch die Frage, was wohl wird passieren müssen, dass Geduld und Vertrauen und Zuversicht wieder jenen Raum erhalten, den die Menschheit braucht, um mit sich und ihrer natürlichen Umwelt eine glaubhafte Zukunftsperspektive zu bilden. Man mag das Schaudern beim Anblick der Selbstverbrennung als eine späte Anknüpfung an die Sinngebung des Todes sehen, wie sie in jener „großen Zeit“ des Ersten Weltkriegs gedacht wurde, die ja auch eine Folge jener depressiv gefärbten Weltuntergangserwartung war, wie sie um 1900 in Europa vorherrschte. Dahinter verbirgt sich möglicherweise der Umstand, dass nur noch solche Spektakel Aufmerksamkeit auf sich lenken, während angesichts einer mangelnden Zurechenbarkeit von Verantwortung auch diejenigen gelähmt sind, die eigentlich noch zu reflektierendem Handeln mit offenen Anfängen in der Lage wären.
41 Schmidt, Religion in der Verantwortung. 42 Bahners, Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam.
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Abkürzungen T = Takakusu Junjirō 檀㤈枮㫉恶 und Watanabe Kaikyoku 㷉怲㴟㖕 (Hg.), Taishō shinshū daizōkyō ⣏㬋㕘僑⣏啷䴻. 100 Bände. Tokyo: Taishō Issaikyō Kankōkai, 1924–1934.
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Giuseppe Veltri
The Paradox of Jewish Ethics of Martyrdom and Preventive Homicide Notes on Deviance in Heteronomous & Autonomous Behavior
Premise It is a pleasure for me to dedicate to my friend and colleague Hubert Seiwert the following essay focused on an old Jewish religious and legal (halakhic) tradition. It has intriguing inferences for modern studies on social and ethic theories in the past and the present. Our private discussions, our seminars in the Institute of Comparative Studies in Religion in Leipzig and various meetings in Bonn and Berlin as referees of the German Research Foundation (DFG) were often dedicated to the actuality of historical religious “events” and beliefs and to the competency of modern social theories in understanding and explicating past and present phenomena. Hubert’s generous sharing of knowledge, ideas, concepts and bibliographic references, his sharp analysis of almost every question in religion and society were and are always helpful and fruitful for me. That is the case of the topic of dissent and conformity as social deviance, one main object of the graduate school in Leipzig, launched with his leadership. That is also the case with this short, germinal essay dedicated to him and inspired by some vivid discussions experienced in Leipzig. Yet I should confess at the outset that I was and remain very skeptical about the “academic impertinence”1 of sociological and comparative methods concerning their absolute claim of interpreting and understanding every phenomenon. The study of the Shoah is the typical example of the inadequacy of every method and theory when claiming to give an absolute reason for historical facts, or a motive for abnormal events.2 Nevertheless, social methods of investigation for studies in legal and religious matters are of essential importance, especially when the latter paradoxically escape a clear definition. That is the case with suicide and active or passive martyrdom, explained as extreme acts of “positive deviance”.3 The category of “positive deviance” does not imply prima facie extreme acts, namely acts without the possibility of a “back door” or “return”. However it fits very well into the picture because the 1 Impertinence or Hutzpah is the beginning and end of every fruitful discussion; see my essay, Veltri, Freche Schüler vs. gescheite Rabbinen. 2 A doctoral student of Antonella Salomoni at the Universiy of Calabria, Cosenza, has just presented a very helpful dissertation on this topic, Adele Valeria Messina, La distruzione degli ebrei e la sociologia. Dal 1933 ad oggi. 3 On the concept of positive deviance, see Tuhus-Dubrow, Positive Deviants.
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acts of positive deviance mostly originate by “over-conformity or unquestioned acceptance of norms”, as I would suggest to define them by importing the sociological definition from some discussions on other, non-similar social behaviors.4 The “unquestioned acceptance of norms” is in extreme acts of course not only life-threatening, but also definitive, final, absolute and therefore the most extreme of acts which a human being can do according to “normative” religious customs and beliefs. Indeed, this positive deviance arises almost always from an attitude to morals and ethics from a heteronomous point of view: the divine law is the clear-cut criterion of the behavior also in the situation of offering one’s own life, as a tribute to the godhead. Besides, there is another important and opposite aspect of the question of extreme acts, explicitly focused on the question of preventive homicide, homicide namely to prevent danger to one’s own life, i.e. autonomous self-defense. Here, the valid principle is not the religious (and legal) commitment to divine judgment but the autonomy of human life as final criterion of a decision, as I will try to explain in following. The act caused is here too definitive, final, and absolute without a possible chance to appeal. My conclusion in this essay will give a possible sociological and philosophical reason for such a paradox.
Suicide and martyrdom That suicide can be interpreted as a phenomenon of deviance is well-known in the scientific community.5 It is not surprising that active and passive martyrdom,6 a special form of passive or active suicide, can also be treated as phenomenon of positive deviance when it is claimed to be the only way of testifying to one’s own faith against the oppression of the ruling majority. Yet, the recent discussion on the active martyrdom in Islamic lands7 is an actual reason and good motive to debate on whether the extreme acts are to be considered as conforming to the tradition of “religious” truths and custom of a determined religion, namely to the body and arsenal of religious practices 4 I follow here the discussion of positive and negative deviance in Blackshaw/Crabbe, Sport and Deviance, 25. 5 See, for example, Douglas, The Social Meaning of Suicide; and Tittle, Control Balance, 2f, and passim. 6 On its definition and application, see Sivan, Religious Radicalism and Politics in the Middle East, 8. On suicide as active martyrdom in Judaism see Einbinder, Beautiful Death, 51. 7 It is not my intent to focus on the concept of martyrdom in Islam. I refer to the literature which declare it as “active suicide”, as an accomplishment of the Islamic vision of religion. There is much of interest likewise in the discussion generated by the 9/11 attacks. See, for example, Ingalls, Jihad and Martyrdom in Islam. The reader is also referred to the instructive Wikipedia article on the subject of suicide attacks.
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The Paradox of Jewish Ethics of Martyrdom
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and beliefs, or whether it is an act of (politically, socially compelled) deviance from them in name of a “higher” ideal. In this latter case, it could be classified as a case of positive deviance. The ethic and social evaluation of martyrdom depends not only on the ideological foundations given by every religious founder, or allegedly attributed to him, but also and foremost on other factors of life like the time or époque, the circumstances which favor or inhibit special interpretations and – last but not least – the personal capability, suitability of comprehending and actuating ideas and intuitions, seemingly believed as the immediate solution of problems and the actual situation. The debate in Judaism is very old and still strikingly present in modern times,8 starting with the martyrs of the Maccabean period, the historical alleged mass suicide at Masada, the martyrdom of the Rabbis and their disciples at the beginning of the Common Era,9 the active and passive suicide at the Crusade period,10 the victims of local and regional pogroms etc. until the inexplicable destruction of European Jewry by the Nazis and their collaborators. There has been and is much discussion in Judaism as well in Christianity and Islam on the topic and it is not my intent even to outline here the terms of the debate. Nor will I try to explain the question whether active or passive martyrdom belongs to the core of the religious and philosophical understanding of Judaism or rather that it is a Christian interpretation borrowed by the Jews.11 Moreover, passive as well as active martyrdom belongs to a widely discussed aspect of Jewish life in its historical experience. Yet in my view, it does not belong to the ideal of Jewish religion, compared for example with the ultimate Christian explanation of human life considered at least in mystical and ascetic texts and traditions as a darker picture of the real, radiant life beyond the earthly experience. The mainstream of Jewish ethics and philosophy is very positive to human life, seen as fulfillment of divine commandments; hence the principle of preserving it belongs to the core of Jewish ethics and morality. Let me focus on this aspect. The principle of human health is very important.12 There is a continued halakhic (religious-legal) tradition which per|8 For a summary on Jewish traditions regarding this, see Lander, Martyrdom in Jewish Traditions. |9 See, for example, Zimmels, Midrash Eleh Ezkerah; David Stern, The Ten Harugei Malkhut, 60– 69; idem, Midrash Eleh Ezkereh, 143–165; Boyarin, Martyrdom; Boustan, Vita of a Priestly Rabbinic Martyr; Boustan/Reed, “Blood and Atonement in the Pseudo-Clementines and The Story of the Ten Martyrs: The Problem of Selectivity in the Study of Judaism and Christianity,” Henoch 30:2 (2008): 333–364. I would like to thank Menachem Butler for sharing with me his immense bibliographical knowledge. 10 See Haverkamp, Martyrs of 1096 ‘On Site’, 22–24; idem, Martyrs in Rivalry, 19–342. 11 On borrowing identities, see Kelly, Borrowed Identities. Concerning Judaism see, Veltri, Geborgte Identität, 125–145. 12 On the conflict between health and religious custom, see my (K)ein Konflikt zwischen Grundprinzipien, 205–216.
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mitted the use of any medicine, tool, herb, plant, custom etc. as long as it had nothing to do with idolatrous customs. The Rabbis allowed the use of all amulets except those which had traces of idolatry. Yet in the judgment of special cases, the Rabbinic practice stresses that the principle of healing is much higher than the danger of idolatry. According to the Babylonian Talmud, ‘Avodah Zarah 55a, having recourse to even idolatrous remedies is permitted, in order that the patient does not lose trust in God. The empirical principle thus realized its greatest significance: religious beliefs are dependent on the necessities of preserving health and life. The principle of piquah nefesh (saving a life)13 permitted in certain (life-threatening) situations is accordingly valid in every situation. Indeed, when the life of a specific person is in danger, almost any mitzvah lo ta’aseh (command to not do an action) of the Torah becomes inapplicable. The empirical tendency of Rabbinic Judaism is put in its real importance if compared with contemporary Christian ethical instructions. Except for the innovative policy of the emperor Constantine,14 there was almost a negative, biblical evaluation of medicine. In the 2nd century CE, Tathian showed a radical contrast to this art: “Medicine, together with all its tools, comes from the same unfaithful art”.15 Two centuries later, the situation had not changed. Athanasios commented: If one is affected by a bad illness, he should pray (…) because amulets and magical practises are unfaithful aids. If one uses them, he should know that he changes from believer to unbeliever, from Christian to pagan, from an intelligent to unintelligent, from rational to irrational being. On the other hand, not only the illnesses are afraid of this seal (the holy cross), but the army of the demons is frightened and subdued by him. Therefore, there is no magician who wears this seal.16 13 See Babylonian Talmud Ketubbot 5a; 15b, 19a. Yoma 84a etc. On the principle see Hirsch Jacobs Zimmels, Magicians, Theologians, and Doctors, 9f. See also Wikipedia’s article on Pikuach Nefesh. 14 Codex Theodosianus 9.16.3, a.321/4 (318 Seek): “Idem A. et Caes. ad Bassum P(raefectum) V(rbi). Eorum est scientia punienda et severissimis merito legibus vindicanda, qui magicis adcinti artibus aut contra hominum moliti salutem aut pudicos ad libidinem deflexisse animos detegentur. Nullis vero criminationibus inplicanda sund remedia humanis quaesita corporibus aut in agrestibus locis, ne maturis vindemiis metuerentur imbres aut ruentis grandinis lapidatione quaterentur, innocenter adhibita suffragia, quibus non cuiusque salus aut existimatio laederetur, sed quorum proficerent actus, ne divina munera et labores hominum sternerentur. Dat. x Kal. Iun. Aquil(eiae) Crispo et Constantino Caess. Conss”. Constantine makes punishable the science (scientia) of those who support the magical arts (magicis adcinti artibus) and who act against human salvation (contra hominum moliti salutem) or morals (pudicos deflexisse animos), but accepts without reservation the remedies for healing (remedia humanis quaesita corporibus). In the same manner, he would have had no objection to agricultural devotions for rain or to prayers for good harvest etc. because they are not harmful. Latin text taken from Marie Theres Fögen, Die Enteignung der Wahrsager, 323. An exhaustive comment on the text can be found there. 15 Tathianos, Pros Hellenas 18:1, Patrologia Graeca 6, 845A. 16 Athanasios, Peri peri apton, Patrologia Graeca 26, 1320.
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In brief then on a well-known topic: the Rabbinic attitude to medicine and human bodily health is highly innovative and aims at preserving the human life also beyond religious duties, or better: it is a paramount religious duty to preserve human life. Yet, we cannot overlook the fact that the discussion on preserving human life and confession of faith by means of martyrdom is also a focus of controversy in Jewish philosophy. Let me look briefly here at the position of the medieval Jewish philosopher Maimonides, who was probably also personally involved in a question about apostasy. He dealt with the question of the necessity to be or not be a martyr of the Jewish faith17 and the consequences of apostasy in his Epistle on Martyrdom. The premise is well known: the philosopher and religious leader answered in 116518 to a query from a Jew in North Africa, forced to convert to Islam by the Almohads Berber Muslim dynasty which conquered North Africa and was also in part of the Iberian Peninsula. The question was whether the converted Jews could secretly observe the commandments. The query arose because a rabbinic authority of Fez in North Africa had defended the opinion that a converted Jew is ipso facto to be compared with a non-Jew and therefore his observation of the mitzvot is a sinful act. The reaction of Maimonides is the Epistle on Martyrdom. In it he attacks what he sees as the rabbi’s misinterpretation of Jewish law offering instructions one should follow when confronted with religious persecution and coercion. We are speaking here of passive martyrdom. For the principle of Jewish behavior is according to Maimonides, of course: “one life should be not destroyed instead of another life”;19 the only acceptable martyrdom is passive martyrdom and only in the case in which also non-Jews are obliged to observe this. Very important for his argumentation is following passage: … the distribution of the precepts during a time of duress, is divided into three classes: A. One class of precepts, those concerning idolatry, incest, and bloodshed, requires that whenever a person is forced to violate any of them, he is at all times, everywhere, and under all circumstances obliged to die rather than transgress. At all times means in a time of persecution or otherwise; everywhere means privately or publicly; under all circumstances means whether the tyrant intends to have him act against his faith or not; in these situations he is obliged to die rather than transgress. B. All the other commandments, any of which an oppressor may compel him to transgress, he is to judge. If the tyrant does it for his personal satisfaction, be it a time of persecution or not, privately or publicly, he may violate the Torah and escape death.20 17 On the “Letter about Martyrdom”, I follow Maimonides, Crisis and Leadership, trans. A.S. Halkin. 18 On the uncertain date of the letter 1165, see Halkin in Maimonides, Crisis and Leadership, 13. Other authors prefers 1160. 19 Weiss, Maimonides’ Ethics, 162. 20 Maimonides, Crisis and Leadership, 24.
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… C. If it is the aim of the oppressor to have him transgress, it is for him to deliberate. If it is a time of persecution he is to surrender his life and not transgress, whether in private or in public, but if it is not, he should choose to transgress and not die if it is in private, and to die if it is in public. This is how the sages formulate it: When R. Dimi arrived he ruled in the name of R. Johanan that even if it is not a time of persecution, he may transgress rather than die only in private; in public he may not violate even a minor rabbinic precept, even changing the manner of tying the shoes. In public is defined as a body of ten, all Israelite.21
For a better understanding of Maimonides’ position, the modern reader is referred to the fact that according to rabbinic conviction, “idolatry, incest and bloodshed” are also forbidden for the non-Jews,22 and therefore together with blasphemy, robbery, adultery, social injustice and eating the flesh of limb torn form a living animal”, they constitute the catalogue of forbidden acts, being then a catalogue of universal pan-human values. Let us leave aside here the detailed discussion on the rabbinic references on the further debate concerning the aspects discussed in this letter. The position taken by Maimonides is extremely clear: the precepts against idolatry, incest and bloodshed shall be observed and if forced to violate them, the Jew is obliged to martyrdom “at all times, everywhere, and under all circumstances”. The observance of other commandments in a time of duress is a matter of discussion. A second element should be emphasized here: Maimonides focuses in the discussion on another component, the “public or private” observance of something as important discriminating factors in the decision whether or not one is obliged to die. If the forced transgression is public, one should die, if not s/he should choose to transgress. Maimonides introduces the argument “public or private” observance, a “social” criterion leaving aside the consideration whether the observance is good per se and decisive for the personal fulfillment of religious life. Jewish religious life is independent on the divine but not from the collective perception of identity. That is something to emphasize. The possibility of a scandal could and should influence the decision to accept conversion or adamantly refuse it. According to Abraham Halkin, “This epistle testifies to Maimonides’ ability to unite an intense compassion for human beings with his basic commitment to a heroic life in sanctification of God.”23 Already at the beginning of the last century, Yellin and Abrahams referred to the epistle as a political and social commitment: “The distinction between conformity in speech and conformity in act saved many a Jewish community from extinction, but as a general prin-
21 Ibid., 25. 22 All of them belong to the Noachide Laws to be observed by Jews and non-Jews alike; see for example, Tosefta Avodah Zarah 8:4 ff 23 Maimonides, Crisis and Leadership, 46.
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ciple it is untenable, and savours too strongly of casuistry”.24 Maimonides is indeed inclined to the principle of saving life instead of offering it as sacrifice. I suppose that also for Maimonides there is no ethics of extreme acts, such as martyrdom or suicide, since these acts cannot be defined and explained in the current ethical categories. That is the reason why he introduces the principles of personal judgment and of public or non-public apostasy. The rabbinic authority can advise, suggest, but by no means oblige someone to die, because every directive given has to be adapted by the individual and proved by free will if possible. The individual has to decide on whether the moral directives are of rational and reasonable importance for him/herself. The extreme act of martyrdom does not belong to the fundamental ethical categories because it originated and developed in exceptional contexts which per definitionem are not the rule. It is outside of every rule. That is, to my mind, the reason why Maimonides does not stress the aspect of being a martyr for Judaism, but rather for religious life in general as a universal category. The condition sine qua non of martyrdom is to be forced to commit “idolatry, incest and bloodshed”, the catalogue of universal ethics. Another important aspect of this discussion was added some time later: According to Moses Mendelssohn, the extreme act of martyrdom is basically definitive albeit based on accidental, temporary premises.25 Is it morally justifiable to take a decision on the basis of temporary circumstances? If we speak of decision, we imply that the act would be voluntary. The martyr acts indeed in a situation of emergency. Can we speak from an anthropological and ethical point of view of a choice? Should we, alternatively, speak of martyrdom as a passive act lived as radical emergency albeit concerned with a supreme good? The next question about preventive homicide reveals how important it is to separate human life from “religious” principles.
24 Yellin/Abrams, Maimonides, 47. 25 “Most of the perceptions of the internal sense are in themselves so hard to get a grip on that the mind can’t securely retain them and express them on demand. They sometimes slip away just when the mind thinks it has taken hold of them. I feel sure of something right now, but a moment later some slight doubt as to its certainty sneaks into a corner of my soul and lurks there, without my realising it. Many things that I would go to the stake for today may strike me as problematic tomorrow. If in addition ·to this intrinsic uncertainty· I must also put these internal perceptions into words and signs, or swear to words and signs that others lay before me, the uncertainty will be still greater. My neighbour and I can’t possibly connect the same words with the same internal sensations, for we can’t except in words set his sensations and mine side by side, to compare and correct them. … How much confusion and unclarity are bound to remain in the meanings of words, and how different must be the ideas differ that different men at different times connect with the same external signs and words!“, Mendelssohn, Jerusalem, 21.
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Preventive Homicide After September 11, 2001, a discussion on the preventive killing of terrorists has risen in many areas of discourse in a range of countries, also as a political weapon against groups, lands and of course individuals who could disturb the peace and prosperity of human life around the globe. It repeatedly resurfaces in Israel over the purportedly (allegedly) “preventive” killing by the Israeli state of certain terrorists deemed dangerous to the Israeli public. In the following, I will try to consider the question, relying on the ancient and medieval Jewish debates on preventive homicide to protect oneself. It is well-known that the Roman law already in the Twelve Tables puts into force “that, when a householder caught a thief in the act of stealing at night, or even by day if the thief resisted arrest, he could kill the thief without more ado.”26 What is the case if the householder does not really know whether the housebreaker in the night is a thief or a murderer? To kill him without forewarning would be an act of preventive homicide. On the other hand, to forewarn him/her could prove dangerous to one’s own safety. The dilemma is a focal point in a discussion which I would examine here. One might also add that current heated and highly topical debate in the U.S. on stricter gun control laws also is intertwined with the whole broader discussion of the right of armed self-protection against housebreakers, etc. Unlike preventive war, the ancient debate on preventive homicide, an act prohibited by most of the contemporary legal systems, is almost unknown to the broader scholar community. Like preventive war, which represents a highly discussed art of averting a major danger for the national or world security or “peace”, the individual application of the principle has been clearly enunciated in the Babylonian Talmud Yoma 85a–b:27
26 Stein, Roman Law, 5. 27 All the translations of the Babylonian Talmud are taken from The Babylonian Talmud, translated into English with notes, glossary and indices under the editorship of Rabbi Dr. I. Epstein, London 1935–1948.
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R. Ishmael, R. Akiba and R. Eleazar b. Azariah were once on a journey, with Levi ha-Saddar and R. Ishmael son of R. Eleazar b. Azariah following them. Then this question was asked of them: Whence do we know that in the case of danger to human life the laws of the Sabbath are suspended? – R. Ishmael answered and said: If a thief be found breaking in (Exodus 22:1) Now if in the case of this one it is doubtful whether he has come to take money or life; and although the shedding of blood pollutes the land, so that the Shechinah departs from Israel, yet it is lawful to save oneself at the cost of his life – how much more may one suspend the laws of the Sabbath to save human life!
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וכבר היה ר' ישמעאל ורבי עקיבא ורבי אלעזר בן עזריה מהלכין בדרך ולוי הסדר ורבי ישמעאל בנו של רבי אלעזר בן עזריה מהלכין אחריהן נשאלה שאלה זו בפניהם 'מניין לפקוח נפש שדוחה את השבת נענה ר ישמעאל ואמר אם במחתרת ימצא הגנב ומה זה שספק על ממון בא ספק על נפשות בא ושפיכות דמים מטמא את הארץ וגורם לש־ כינה שתסתלק מישראל ניתן להצילו בנפשו ק"ו לפקוח נפש שדוחה את השבת.
R. Akiba answered and said: If a 'נענה ר"ע ואמר וכי יזד איש על רעהו וגו man come presumptuously upon his מעם מזבחי תקחנו למות מעם מזבחי ולא neighbour etc. thou shalt take him מעל מזבחי. from My altar, that he may die (Exodus 21:14), only off the altar, but not down from the altar. Rabbah b. Bar Hana said in the name of R. Johanan: That was taught only when one’s life is to be forfeited, but to save life one may take one down even from the altar. Now if in the case of this one, where it is doubtful whether there is any substance in his words or not, yet [he interrupts] the service in the Temple [which is important enough to] suspend the Sabbath, how much more should the saving of human life suspend the Sabbath laws!
ואמר רבה בר בר חנה אמר רבי יוחנן לא שנו אלא להמית אבל להחיות אפילו מעל מזבחי ומה זה שספק יש ממש בדבריו ספק אין ממש בדבריו ועבודה דוחה שבת קל וחומר לפקוח נפש שדוחה את השבת.
R. Eleazar answered and said: If נענה רבי אלעזר ואמר ומה מילה שהיא אחד circumcision, which attaches to one ממאתים וארבעים ושמונה איברים
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only of the two hundred and forty- שבאדם דוחה את השבת קל וחומר לכל גופו eight members of the human body, שדוחה את השבת. suspends the Sabbath, how much more shall [the saving of] the whole body suspend the Sabbath! R. Jose son of R. Judah said: Only רבי יוסי בר' יהודה אומר את שבתותי תש־ ye shall keep My Sabbaths,’ (Exodus מורו יכול לכל ת"ל אך חלק. 31:13) one might assume under all circumstances, therefore the text reads: ‘Only’ viz, allowing for exceptions. 4 R. Jonathan b. Joseph said: For it רבי יונתן בן יוסף אומר כי קודש היא לכם is holy unto you (Exodus 31:14); I.e., היא מסורה בידכם ולא אתם מסורים בידה. it [the Sabbath] is committed to your hands, not you to its hands. R. Simeon b. Menassia said: And ר' שמעון בן מנסיא אומר )שמות לא( ושמרו the children of Israel shall keep the בני ישראל את השבת אמרה תורה חלל עליו Sabbath (31:16) The Torah said: Proשבת אחת כדי שישמור שבתות הרבה. fane for his sake one Sabbath, so that he may keep many Sabbaths. Rab Judah said in the name of א"ר יהודה אמר שמואל אי הואי התם הוה Samuel: If I had been there, I should אמינא דידי עדיפא מדידהו )ויקרא יח( וחי have told them something better בהם ולא שימות בהם. than what they said: He shall live by them, (Leviticus 18:5) but he shall not die because of them. Raba said: [The exposition] of all of them could be refuted, except that of Samuel, which cannot be refuted. That of R. Ishmael – perhaps that is to be taken as Raba did, for Raba said: What is the reason for the [permission to kill the] burglar? No man controls himself when his money is at stake, and since [the burglar] knows that he [the owner] will oppose him, he thinks: If he resists me I shall kill him, therefore the Torah says: If a man has come to kill you. anticipate him by killing him! Hence we know it [only] of a certain case;
אמר רבא לכולהו אית להו פירכא בר מדשמואל דלית ליה פירכא דר' ישמעאל דילמא כדרבא דאמר רבא מאי טעמא דמחתרת חזקה אין אדם מעמיד עצמו על ממונו והאי מידע ידע דקאי לאפיה ואמר אי קאי לאפאי קטילנא ליה והתורה אמרה בא להרגך השכם להרגו ואשכחן ודאי ספק מנלן דר' עקיבא נמי דילמא כדאביי דאמר אביי מסרינן ליה זוגא דרבנן לידע אם ממש בדבריו ואשכחן ודאי ספק מנא לן וכולהו אשכחן ודאי ספק מנא לן ודשמואל ודאי לית ליה פירכא אמר רבינא ואיתימא רב נחמן בר יצחק טבא חדא פלפלתא חריפא ממלא צנא 28 .דקרי
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[but] whence would we know it of a doubtful one? That of R. Akiba’s, there too [there may be a refutation]. Perhaps we should do as Abaye suggests, for Abaye said: We give him a couple of scholars, so as to find out whether there is any substance in his words. Again we know that only in the case of certain death, [but] whence would we know it of a doubtful case? [And similarly with the exposition of] all of them we know it only of a certain case; whence do we know of a doubtful case? But of Samuel, as to that there is no refutation. Rabina, or R. Nahman b. Isaac said: ‘Better is one corn of pepper than a whole basket full of pumpkins. 28
The discussion about the Shabbat seems to be the main topic of the piece. Yet, the rabbis are concerned about the principle of the human health which is reputed to be primarily a task also against the mitzvah, namely the obligation of observance of Shabbat. The note according to which the Sabbath “is committed to your hands, not you to its hands” is of special emphasis also because of Jesus’ very similar sentence in the Gospel in a context which does not abrogate the Shabbat but – similar to the rabbinic discussion – subjugates it to human life.29 The quotation of such statement is here emblematic because in the text the rabbis are discussing a hierarchy of values: what is so important as to also authorize even homicide? The answer according to rabbinic law is obvious and clear: saving human life and avoiding or better resisting by killing the housebreaker. Until now there would be no difference between Roman and Jewish law: both permit the defense of own life also at expense of the life of the housebreaker. That is also the statement quoted in the text: “If a man has come to kill you, anticipate him by killing him!”30 There no clear-cut criterion to estab-
28 Quotation of the Hebrew/Aramaic text from http://www.mechon-mamre.org/b/l/l2508.htm, 0215-2013. 29 Mark 2:27: “The Sabbath was created for the sake of man and not man for the sake of the Sabbath”. 30 Midrash be-Midbar Rabbah 21:4; see also Hebrew Wikipedia’s discussion on the principle haba lehorgecha, hashkem lehorgo, i.e. “if a man comes to kill you, rise early and kill him first”.
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lish how one is to interpret such “anticipation”, but in this case it is clear that the law aims at preserving one’s own life. The reader would miss the very point of the discussion if we do not recall the very important and intriguing note: “Now if in the case of this one it is doubtful whether he has come to take money or life; and although the shedding of blood pollutes the land, so that the Shechinah departs from Israel, yet it is lawful to save oneself at the cost of his life”. The presence of God departs from Israel in the case the householder kills the housebreaker even though he is following the law! The expression וגורם לשכינה שתסתלק מישראלis mostly used to designate injustice, missing of a right judgment, the bad judgment of an unrighteous magistrate,31 the sin of Israel,32 shedding of blood33 and idolatry.34 We have here the paradoxical situation that the rabbinic literature defines as highly valuable to defend one’s own life, also when the case of danger is not fully clear, because life is the supreme good for human beings. Yet because of shedding of blood, this case is at same time the cause for the departing of God’s Shekhinah from the Land of Israel, the abandonment by the divine presence. The importance of the passage is the insistence of the rabbinic discussion on the fact that a particular importance should be attributed to one’s own life and its preservation. Religion, religious customs and legal decisions are secondary when a human being is in mortal danger. Also in controversial situations of deciding on death in cases of doubt, the rabbis incline to preventive homicide or preventive defense with the consequence of death for the housebreaker.
Conclusion The adopted category of positive deviance can permit us to understand the problems lurking in and behind passive or active suicide. Both are extreme acts involving an unquestioned acceptance of certain norms, and fears which lie behind all norms and customs. They represent extreme deviance within deviant behavior. The distinctions added by Maimonides do not affect the conclusion that the decision of being martyred should be taken by the individual, also with the bitter consequence that the religious community could
31 32 33 34
Babylonian Talmud Shabbat 139a. Babylonian Talmud Sota 3b. Babylonian Talmud Yoma 84b. Babylonian Talmud Megillah 15b. Others are cited in Babylonian Talmud Soṭah 42a; Babylonian Talmud Berakhot 5b, 27b; Babylonian Talmud Shabbat 33a; and Sanhedrin 106a. List taken from the Encyclopedia Judaica article on the Shekhinah. Such lists are widespread in the literature on the Shekhinah, the presence of God.
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reject him or her if an apostate or without recognition of this sacrifice. The decision is individual grounded on religious premises. Yet the analysis of both behaviors has shown that suicide and martyrdom belong to the category of positive deviance because of exceptionally strict obedience to the commandments to avoid idolatry or apostasy, while preventive homicide is legal qua autonomous behavior but not in obedience to the divine law. Paradoxically, we have an ethics based on “overconformity or unquestioned acceptance of norms” for suicide and an ethics based on conformity to norms which is not based on obedience to God. The paradox is that in the first case, one’s own life is considered to be less important than the divine commandment, while in the second case the commandments are subordinated to the overriding danger to life. The first is religious but not human, the second human but not religious. They are two ethics clash, in conflict: the first based on the heteronomy of Jewish ethics, the second on the principle of individuality, the autonomous personal principle, as more important in extremis than the rights of the other. The doctrine of preventive homicide is the legal and philosophical beginning of the debate between collective and individual law, between the identity of a group as a heteronomous heritage of ancient customs, laws and religious commitments which cannot be apostatized – and the autonomous rights of individuals likewise to be protected if necessary by preventive homicide. For the first, martyrdom is the heteronomous consequence in cases where a foreign power or religion tries to convert or pervert it. For the second, a homicide of a possibly even probably innocent individual can be consciously committed in the case of a perceived threat to one’s own life, and preventive murderous self-defense. This conflict has still not come to a satisfactory conclusion.
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Theoretische Vorüberlegungen Religionen können scheitern. Aber wie und warum? Ständig erblicken neue Religionen das Licht der Welt; ob es jedes Jahr hunderte neue religiöse Bewegungen sind, wie Rodney Stark es behauptet,1 kann nicht überprüft werden, denn die meisten der neuen Erscheinungen sind winzig und sehr kurzlebig. Um ein Bild aus der Evolutionstheorie zu bemühen, kann man mit großer Sicherheit sagen, dass die meisten religiösen Mutationen nicht lebensfähig sind oder um wieder Rodney Stark zu zitieren: „Virtually every new group will have one thing in common eventual failure.“2 Stark hat allerdings die Messlatte für Erfolg sehr hoch gelegt: mehr als 100000 Anhänger und ein Mindestalter von einem Jahrhundert. Das erreichen nur die wenigsten neuen Religionen. Die empirisch arbeitende Religionswissenschaft ist daran interessiert zu erfahren, welche Voraussetzungen und Bedingungen gegeben sein müssen, damit man von einer erfolgreichen neuen Religion sprechen kann. Die Anfänge einer erfolgreichen Religion haben immer die Aufmerksamkeit der Religionswissenschaft gefunden, wobei die Personen der sog. Gründer im Mittelpunkt standen. Das einfache Modell, dass eine charismatische Gestalt am Beginn einer neuen Religion steht, dass diese Person Anhänger um sich sammelt, eine Lehre verkündet, die nach ihrem Tod weiter getragen wird und sich ausbreitet und obwohl modifiziert in der Zeit überdauert und eventuell sich sogar zu einer „Weltreligion“3 entwickelt, ist immer noch das Standardmodell der Religionsgeschichte. Der Faszination der Anfänge kann man nur schwer entgehen, obwohl gerade die Person des „Gründers“ sich häufig der exakten historischen Forschung entzieht. Problematischer ist jedoch noch der Umstand, dass wir zwar einigermaßen gut über das Schicksal der erfolgreichen Religionen unterrichtet sind, aber so gut wie nicht wissen, wie und warum die erfolglosen erfolglos waren. Zwar ist der Untergang von Religionen Gegen-
1 Stark, Why Religious Movements, 259. 2 Stark, ebd. 3 Mit Recht fehlt in neueren Lexika und Handbüchern ein Eintrag „Weltreligion(en)“. Schon Helmuth von Glasenapp zog 1951 die Bezeichnung „Die fünf großen Religionen“ vor. Wohl auf Betreiben des Verlags erschien 1963 die gekürzte Fassung als „Die fünf Weltreligionen“.
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stand der Religionswissenschaften geworden,4 aber auch hier ist nur der Untergang von Religionen dokumentiert, die einige Zeit erfolgreich waren. Die in der ersten Generation sterbenden Religionen hinterlassen kaum Spuren. Die Religionswissenschaftler sitzen meistens nicht an der Wiege neuer Religionen, eher schon an den Sterbebetten älterer Religionen. Es ist ein glücklicher Umstand, dass in den 1970er Jahren in den USA und in Europa eine Vielzahl von religiösen Gruppen unterschiedlicher Herkunft in Erscheinung trat und sehr schnell Gegenstand des Interesses von Soziologen wurde. Obwohl die Religionswissenschaft nur zögerlich der Religionssoziologie folgte,5 hat vor allem die amerikanische Forschung eine Fülle von Daten erzeugt, die es erlauben, über die exemplarische Behandlung einzelner Religionen hinauszugehen und Fragen und Probleme größerer theoretischer Reichweite empirisch gesättigt anzugehen. In diesem Aufsatz werden aber im empirischen Teil die neuen religiösen Bewegungen nicht als Beispiele herangezogen, obwohl Daten zur Verfügung stehen, die in einigen Fällen vermuten lassen, dass bestimmte deviante Religionen eine gute Chance haben zu überleben.6 Vielmehr wird auf zwei Religionen, die im 19. Jahrhundert ziemlich zeitgleich entstanden sind, zurückgegriffen. Die Mormonen und die Oneida Community. Bevor wir uns diesen Gruppen zuwenden, ist es notwendig, den für die Religionswissenschaft unüblichen Begriff „deviante Religion“ näher zu bestimmen. „Devianz“ ist ein in der Soziologie geläufiger Begriff, der definiert wird als „Verhaltensweisen, die nicht mit den in einer Gesellschaft oder einer ihrer Teilstrukturen geltenden Normen und Werten übereinstimmen und soziale Reaktionen hervorrufen, die darauf abzielen, die betreffende Person, die dieses Verhalten zeigt, zu betrachten, zu isolieren oder zu bessern.“7 Die soziologisch orientierte Kriminologie hat sich vor allem mit der Person des Abweichlers beschäftigt, während die sich auf Durkheim beziehende theoretische Soziologie nach der Funktion von Devianz für die Gesellschaft fragt.8 In Zusammenhang mit dem Ansatz des symbolischen Interaktionismus rückt nicht mehr das einzelne deviante Verhalten in den Fokus, sondern die Zuschreibung, wie sie von Akteuren vorgenommen werden; deviant ist das, was als solches bezeichnet wird (Labeling Approach).9 Unter Vernachlässigung der unterschiedlichen theoretischen Herangehensweisen können folgende 4 Zinser, Der Untergang. Der Band geht auf eine Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte im Jahre 1984 zurück. 5 In Deutschland war es vor allem die Generation der damals Dreißigjährigen, die sich in den 1980er Jahren dem neuen Forschungsfeld gegenüber aufgeschlossen zeigten. Zu nennen sind Hubert Seiwert und Hartmut Zinser. 6 Die „Children of God“ (heute: „The Family“) gehören dazu. 7 Peuckert, Verhalten, 335. 8 Schon in seinem frühen Werk „De la division du travail social“ (1893) hat Durkheim die These vertreten, dass Normenverstöße und die Reaktionen der Gruppe ein wesentliches Element des gesellschaftlichen Zusammenhalts seien. 9 Beispielhaft: Becker, Outsiders, 1997.
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Merkmale von Devianz festgehalten werden: 1. Devianz ist ein prozessuales Geschehen, das sich zwischen Akteuren, die ein bestimmtes Verhalten zeigen und Akteuren, die dieses Verhalten negativ bewerten, abspielt. 2. Dieses prozessuale Geschehen ist sozial asymmetrisch; bestimmte Personen und/oder Gruppen haben die Macht der Zuschreibung. 3. In der Zuschreibung liegt immer auch die Macht – ob legitim oder nicht – auf die als deviant bezeichnete Person und/oder Gruppe mit Sanktionen einzuwirken. In der Religionswissenschaft ist der Begriff „Devianz“ nicht heimisch.10 Scheinbar äquivalente Begriffe wie „Hexerei“, „Ketzerei“ u.ä. weisen zwar Schnittmengen mit „Devianz“ auf, bringen aber das für deviantes Verhalten typisch prozessuale Geschehen nur unvollkommen zum Ausdruck. Die Fixierung der traditionellen Religionswissenschaft auf die Glaubenssysteme der Religionen schärft die Aufmerksamkeit für die Varianten innerhalb des Systems, ließ aber die Frage in den Hintergrund treten, wann und warum Varianten so relevant wurden, dass Vertreter dieser Varianten zu devianten Personen erklärt und entsprechend behandelt werden.11 Unter einer „devianten Religion“ soll im Folgenden eine Gruppe verstanden werden, deren Verhaltensweisen wenigstens teilweise einer sozialen Stigmatisierung unterliegen und die sich selbst und von anderen als religiöse Gruppe betrachtet wird. Auf die spezielle Problematik, dass Selbst – und Fremdwahrnehmung differieren, kann nur beiläufig eingegangen werden. Kurz: Eine deviante Religion ist eine Religion, die von der relevanten Umgebung als deviant bezeichnet wird. Zu bestimmen ist dann noch, wer und was die relevante Umgebung ist. Hier ist es hilfreich, zwischen gesamtgesellschaftlichen und Teilstrukturen zu unterscheiden. In diesem Aufsatz gehe ich von einer eher gesamtgesellschaftlichen Stigmatisierung aus, um interreligiöse Streitigkeiten auszuschließen. Für die hier vorgestellten Überlegungen ist darüber hinaus eine vorläufige Definition von Erfolg und Erfolgslosigkeit ist notwendig: Eine Religion ist erfolgreich, wenn sie die Generation ihrer ersten Anhänger überlebt und auch in der zweiten Generation genügend Anhänger hat, um auch formale Beziehungen aufrechtzuerhalten. Ein Gegenbeispiel wäre eine zusammenlebende Gruppe von vielleicht 10 bis 12 Menschen, die eine bestimmte Tradition pflegen, aber ihre Beziehung zueinander ausschließlich auf face to face Kontakte aufbauen. Kritische Zahlengrößen sind immer problematisch zu fixieren. Aber als Untergrenze kann von mindestens 200 ausgegangen werden, da erst dann von der Etablierung kultureller Normen ausgegangen werden kann. 10 So fehlen in den Registern der Handbücher die Stichworte „Devianz“ oder „abweichendes Verhalten“. Im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe wird im Artikel „Konformität“ inhaltlich auf Abweichung eingegangen, allerdings ohne Verwendung der einschlägigen Termini. Kehrer, Konformität, 429–433. Kürzlich jedoch: Wustmann und Neef, Störer, 56–85. 11 Wenn ich mich nicht irre, gibt es nur einen Versuch, die Devianztheorie auf einen konkreten religiösen Prozess anzuwenden und der stammt nicht von einem Religionswissenschaftler: Erikson, Wayward Puritans, 1966. Erikson untersucht, wie die Puritaner der Massachusetts Bay im 17. Jahrhundert geradezu Devianzen produzierten.
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Empirischer Teil Spontan werden dem zeitgenössischen Beobachter als Beispiele devianter Religionen eine Vielzahl von Gruppen einfallen, die unter verschiedenen Labels in den 1970er und 1980er Jahren in den Medien und in der Politik Gegenstand der besorgten Aufmerksamkeit waren: „Kulte“, „Sekten“, „Jugendreligionen“ dienten als Sammelbezeichnungen, um höchst verschiedene Gruppen zu bezeichnen, die als gemeinsames Merkmal die Neuartigkeit ihres Auftretens hatten.12 Dass neue religiöse Gruppen auftreten ist – ganz abgesehen davon, dass es sich in aller Regel um Varianten älterer, schon länger bestehender Religionen handelt – kein besonders aufregendes Phänomen. Ebenso wenig, dass die Vertreter etablierter Religionen polemisch auf die Neuerscheinungen reagieren. Erstaunlich war es jedoch, dass eine nicht geringe Zahl der neuen religiösen Bewegungen – so der neutrale Terminus, auf den sich die wissenschaftliche Forschung einigen konnte – auf eine breite gesellschaftliche Ablehnung stieß, die in keinem Verhältnis zu der quantitativen Verbreitung der stigmatisierten Gruppen stand. Obwohl als Initiatoren des Stigmatisierungsprozesses auch Theologen der etablierten Kirchen auftraten,13 so spielten religiöse Argumente in den Kontroversen so gut wie keine Rolle, statt dessen wurde den Gruppen vorgeworfen, dass sie ihre Anhänger in eine freie Selbstbestimmung ausschließende Abhängigkeit brächten, ihre Arbeitskraft ausbeuteten, sie dem normalen sozialen und familiären Leben entfremdeten – um nur die wichtigsten Vorwürfe zu nennen. Man könnte argumentieren, dass diese Abstinenz von religiöser Polemik der Säkularität moderner Gesellschaften geschuldet sei, wenn nicht Beispiele aus anderen religiös bewegten Gesellschaften Parallelen aufweisen. In der Verfolgung, die die Quäker in der von Puritanern beherrschten Massachusetts Bay zwischen 1656 und 1665 erlitten und die bis zu Hinrichtungen führte, spielten bei den ansonsten religiös und theologisch so versierten Autoritäten theologische Argumente keine Rolle. In seiner Analyse des Geschehens zeigt Erikson, dass die Quäker allein durch die Tatsache, dass sie an wichtigen Aspekten des kollektiven Bewusstseins und Verhaltens keinen Anteil nehmen, Gegenstand der Devianzerklärung und Verfolgung wurden.14 Ebenso sind die Verfolgungs- und Vertreibungswellen, die die Mormonen in den USA zwischen 1830 und 1890 erleiden mussten, nicht Ausdruck des Kampfes der Mehrheitsgesellschaft gegen „falsche“ religiöse Überzeugungen, sondern resultieren aus der Ablehnung sozialer Verhaltensweisen, wie Polygamie, theokratische Herrschaftsstrukturen und quasi – monopolistische Wirtschaftsorganisationen. Es gibt eine erstaunliche Parallele zu der Situation 12 Einen bequemen Überblick über wichtige Aufsätze zum Thema „Neue religiöse Bewegungen“ bietet: Dawson, Cults, 2003. Einschlägig zum Thema des Erfolgs oder Scheiterns sind: Bromley and Hammond, Future, 1987; Miller, When Prophets Die, 1991. 13 In Deutschland waren besonders die sog. Sektenexperten der evangelischen Landeskirchen aktiv. Einen detaillierten Überblick bietet: Usarski, Stigmatisierung, 1988. 14 Erikson, Wayward Puritans, 129f.
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der Christen in den ersten Jahrhunderten im römischen Reich. Wenn nicht alle Indizien täuschen, waren die römischen Behörden herzlich wenig an dem Glaubenssystem der neuen Religion interessiert, sondern an Nachweisen, ob dessen Anhänger loyale Untertanen waren.15 Bei den folgenden Beispielen handelt es sich um religiöse Gruppen, die sämtliche soziale Verhaltensweisen zeigten, die sie zu devianten Gruppen stempelten. – Mormonen: Eine höchst deviante Gruppe, der es gelang, sich zunächst als deviante Religion über sechzig Jahre zu erhalten, dann aber in den Mainstream einmündete und heute eine respektable, schnell wachsende Religion ist. – Oneida Community: Etwa zeitgleich mit den Mormonen und ebenso abweichenden Verhaltensnormen (komplexe Ehen). Oneida Community erlosch in einem langsamen Prozess nach mehr als 30 Jahren.
Die Heiligen der letzten Tage (Mormonen) als Beispiel einer erfolgreichen devianten Religion Keine in den letzten 200 Jahren entstandene Religion ist so intensiv untersucht worden wie die Mormonen.16 Sie wurden in einer religiös bewegten Zeit und Region in den 1830er Jahren im „burned-over-district“ des westlichen New York gegründet.17 Nicht ganz offensichtlich ist es, was die maßgeblichen Verhaltensweisen bzw. Glaubensüberzeugungen waren, die die frühen Mormonen zu einer devianten Religion stempelten. Weder die etwas bizarren Geschichten um das Buch Mormon, noch die Predigt von Joseph Smith Jr., dass die Zeit für die Wiederherstellung des Reiches Gottes reif sei, waren in der pluralistischen Situation des „burned-over-district“, wo die verschiedenen Gruppen um Mitglieder warben, ausreichende Gründe für gesellschaftliche Ächtung und Verfolgung, wie sie Joseph Smith Jr. und seine Anhänger sehr bald erfuhren. Einer der Gründe für die Verfolgung dürfte das exorbitante Wachstum der neuen religiösen Bewegung sein. Anscheinend begann sie 1830 mit 30 Mitgliedern, überwiegend aus der Familie und Umgebung des Gründers, aber schon in den 1840er Jahren werden Zahlen von insgesamt 30000 angegeben. Selbst wenn diese Zahl zu hoch gegriffen erscheint, so besteht 15 Brown, Making of a Martyr. 1993. 16 Die Literatur ist nicht mehr zu überblicken, zumal die Kirche sich selbst der historischen Forschung zuwandte und ihre Archive auch nicht mormonischen Wissenschaftlern öffnete. Als Einstieg seien genannt: Shipps, Mormonism, 1985; Cornwall u.a., Contemporary Mormonism, 1994; Walker et al., Mormon History, 2001; Alexander, Mormonism in Transition, 1986. Unverzichtbar der „Klassiker“: Arrington, Great Basin Kingdom, 2005 (zuerst 1985). 17 Cross, Burned-Over-District, 1950.
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kein Zweifel, dass in dieser Zeit in Nauvoo (Illinois) eine Mormonengemeinschaft bestand, die Tausende Mitglieder zählte. Wichtiger noch als das rasante Wachsen der Bewegung ist wohl die Tatsache, dass Smith schon sehr früh das Konzept der „Sammlung“ (gathering) der Heiligen einführte. Die „Klumpung“ von ursprünglich Ortsfremden impliziert immer die Möglichkeit von Konflikten. Während anfänglich sowohl in Ohio als auch in Missouri und später in Illinois die Bewohner die neuankommenden Mormonen begrüßten, wandelte sich dies bald in Ablehnung, wobei die für die „Heiligen“ selbstverständliche Intensivierung der „in-Group-Kontakte“ bei gleichzeitiger Reduktion der Austauschbeziehungen mit den „Gentiles“ ursächlich war. Hinzu kamen Gerüchte über nicht konformes sexuelles Verhalten der Mormonen. Dies führte schon 1832 in Kirtland (Ohio) zur Misshandlung von Joseph Smith, die beinahe zu seiner Kastration geführt hätte. Angeblich hatte er intime Beziehungen zu einer unverheirateten Frau unterhalten. Fragen des sexuellen Verhaltens wurden neben den Ängsten einer sich überfremdet fühlenden Bevölkerung zum dominanten Thema der Ablehnung. Die Kirche reagierte auf zunehmende Spannungen in einer Weise, die nur in einem Land mit offenen Grenzen möglich ist: Sie wich aus. Die Heiligen (oder wenigstens beachtliche Teile von ihnen) zogen von Ohio nach Missouri und innerhalb dieses Staates von Clay County nach Caldwell County und schließlich, nachdem der Gouverneur von Missouri im Oktober 1838 eine Vertreibungsorder erlassen hatte, nach Illinois, wo sie in Commerce städtisches Land aufkauften und ihre berühmte Siedlung Nauvoo gründeten, die 1840 vom Staat ein hohes Maß an Autonomie zugebilligt bekam. Innerhalb von vier Jahren wuchs Nauvoo zur größten Stadt von Illinois. Hier in der vermeintlichen Sicherheit eines blühenden Gemeinwesens auf religiöser Grundlage wurde 1842 die Praxis des „plural marriage“ (Polygamie) eingeführt, wenn auch zunächst nur wenig publik gemacht und nur für einen inneren Kreis bestimmt. Dennoch führte dies zu Schismen18 und auch zu Angriffen von Nicht-Mormonen, so dass sich auch Nauvoo nicht als sicheres Refugium erwies. Interne Konflikte und Angriffe von außen eskalierten und führten im Juni 1844 zur Ermordung von Joseph Smith und seines Bruders Hyrum. Nachdem der Sonderstatus von Nauvoo widerrufen worden war, wurde es evident, dass das „neue Zion“ in Illinois keine dauernde Statt haben würde. In mehreren Etappen begann der in der hagiographischen Geschichtsschreibung der Mormonen zum Mythos geworden Treck nach Westen in eine Gegend, die 1896 zum (allerdings wesentlich kleineren) Staat Utah werden sollte. Nach manchen internen Kämpfen und weitere Schismen setzte sich Brigham Young endgültig als Nachfolger von Joseph Smith durch. In Utah – genauer im Great Basin – begann der Aufbau eines durch ständigen Zufluss von außen wachsenden Gemeinwesens, in dem die Kirche zum dominieren18 Die entsprechende Offenbarung durch Joseph Smith Jr. ist datiert auf den 12. Juli 1843, deutsche Übersetzung in: Lehre und Bündnisse, 1985, 236–243. Zum Problem der mormonischen Schismen: Bringhurst and Hamer, Scattering, 2007.
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den Faktor des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens wurde. 1847 wurde Young als Präsident der Kirche installiert (er behielt dieses Amt bis zu seinem Tode 1877) und auch zum Gouverneur des Territory of Utah bestimmt. Versuche, einen Staat (State of Deseret) innerhalb der Union zu gründen, scheiterten. Dies sollte sich sehr bald als nachteilig erweisen, denn die Rechte eines „Territory“ gegenüber den Unionsautoritäten waren geringer als die eines Staates. In der relativen, aber nie vollständigen Isolation des mormonischen Siedlungsgebietes mit einer faktisch etablierten Kirche war nun auch die Möglichkeit gegeben, das „plural marriage-system“ öffentlich als die Ehe-Form zu proklamieren, die dem Ideal der Kirche der Heiligen der letzten Tage entsprach. Allerdings muss man berücksichtigen, dass im Great Basin Kingdom dies nie die einzige und auch nicht quantitativ dominante Ehe-Form war. Man kann davon ausgehen, dass höchstens 20% der Mormonen mehr als eine Ehefrau hatten, davon die meisten nur zwei. Dennoch hatte die öffentliche Bekanntmachung in Verbindung mit der nicht gegebenen Trennung von Kirche und Staat und der Ansammlung großen Vermögens in der Hand der Kirche bei einer strikten Organisation top-down dazu geführt, dass die UtahMormonen sowohl politisch als auch gesellschaftlich in den Augen der Mehrheitsgesellschaft der Union immer stärker als die deviante Religion erschien. Die Jahre von 1850 bis 1890 waren gekennzeichnet von Versuchen der Kirche, ihr „Great Basin Kingdom“ ökonomisch, politisch und religiös zu entwickeln, zu etablieren und gegen zunehmende Angriffe von außen zu verteidigen. Dabei waren die führenden Köpfe durchaus zu Kompromissen bereit. Brachte noch der Bürgerkrieg (aus dem sich das Territory of Utah heraushielt) eine gewisse Atempause nachdem Bundestruppen in Utah einmarschiert waren, so passierten nun in Folge mehrere Gesetze gegen die Praxis der Vielehe den Kongress und ermöglichten die Verfolgung von Männern, die mit mehreren Frauen zusammenlebten („Kohabitation“).19 Die Folge war, dass die leitenden Männer der Kirche entweder im Gefängnis waren oder auf der Flucht bzw. im Untergrund lebten. Den Todesstoß brachte dann das „Edmund-TuckerGesetz“ von 1887 mit seinem Verbot von Monopolen und Trusts, das zum offiziellen Verbot der Kirche führte. In dieser Situation reagierte dann die Kirche: 1890 gab Präsident Wilford Woodruff in einem Manifest bekannt: „Wir lehren keine Polygamie oder Vielehe und gestatten auch niemanden, sie auszuüben.“20 Es folgten weitere Schritte der Anpassung an den gesellschaftlichen Mainstream: 1891 wurde die Mormonenpartei aufgelöst, und in mehreren Verhandlungen mit den Behörden verzichtete die Kirche auf beträchtliche Teile ihres Vermögens: Das Great Basin Kingdom hörte auf zu existieren. 1896 wurde Utah als Staat der USA aufgenommen. Das Ende einer devianten Religion? 19 Eine ausführliche Darstellung der rechtlichen Problematik der Verfolgung der mormonischen Polygamie bietet: Gordon, Mormon Question, 2002. 20 Deutsche Übersetzung in: Lehre und Bündnisse, 1985, 258f
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Beinahe wäre es einer Religion gelungen, ihre Idee der Sammlung der Heiligen in einer eigenen Gesellschaft zu verwirklichen, ein Vorgang der religionsgeschichtlich zwar nicht singulär, aber doch relativ selten ist. Andere Beispiele wären vielleicht die Sikh-Dominanz im Punjab oder die Wahabitische Herrschaft auf großen Teilen der arabischen Halbinsel. Weder in Utah noch im Punjab, selbst nicht in dem späteren Saudi-Arabien war die dominante Religion die einzig vertretene, sie war aber so dominant, dass sie das Leben weitgehend bestimmen konnte. Was die Mormonenkirche jedoch von den Sikhs und auch den Wahabiten unterschied, war das Ausmaß der Devianz. Insofern ist Utah doch wieder singulär und zwar auch wegen der Größe (gemessen an Territorium und Bevölkerung) der separaten Gesellschaft: Keine kleine Gemeinschaft auf eigenen Siedlungsgrund, wie sie die Jahre zwischen 1820 und 1870 in den USA so häufig entstehen und vergehen sahen,21 sondern eine veritable Gesellschaft. Eine weitere Entwicklung ist singulär: Mit dem Scheitern des Versuchs, ein Königreich der Heiligen zu gründen, beginnt zunächst langsam, dann in den Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts immer schneller die Entwicklung der Mormonen zu einer rasant wachsenden Religion, die man heute ohne zu zögern zu den großen Religionen rechnen kann.22 Diese Entwicklung verlief nicht kontinuierlich, war von innertheologischen Veränderungen begleitet23 und ist bestimmt noch nicht an ihr Ende angekommen.24 Dabei spielt die Lehre von den fortdauernden Offenbarungen eine wichtige Rolle,25 Fragen wir, ob die Mormonen eine erfolgreiche deviante Religion waren bzw. sind, so ist die Antwort nicht einfach. Überblickt man den Weg von 1830 bis 1890, so könnte man sagen, dass diese Religion erfolglos war. Es gelang nicht, die Heiligen der letzten Tage in einem eigenen Zion zu sammeln und ein den Heiligen gemäßes Leben nach innen und außen mit eigenen Normen und Sanktionen zu etablieren. Als immer weniger deviante Religion waren und sind die Mormonen nicht zuletzt aufgrund des hohen Commitments zahlreicher Mitglieder und einer regen Missionstätigkeit exzeptionell erfolgreich. Mormonen können Gouverneure in Bundesstaaten werden, so z.B. in dem nicht mormonisch geprägten Massachusetts und sogar den Kandidaten für die Präsidentschaft der USA stellen. 21 Ein Klassiker bis heute: Kanter, Commitment, 1972. 22 Die genauen Zahlen für das Wachstum der Mormonenkirche werden kontrovers diskutiert. Stark, Rise, 18–27. 23 So wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg unter Berufung auf eine Offenbarung vom 27. Februar 1833 der Genuss von Alkohol, Tabak, Kaffee und Tee verboten. Lehre und Bündnisse, 1985, 152f 24 In einem Manifest wurde am 30. September 1978 die von dem Präsidenten Spencer W. Kimball empfangene Offenbarung bekannt gegeben, dass „alle würdigen männlichen Mitglieder der Kirche ohne Rücksicht auf Rasse oder Hautfarbe zum Priestertum ordiniert werden“ können. Lehre und Bündnisse, 1985, 259f. Damit wird der diskriminierende Ausschluss von Frauen nur noch eine Frage der Zeit sein, bis eine Offenbarung sie beseitigt. 25 Die Mormonenkirche beginnt in den 1830er Jahren mit einer wahren Flut von Offenbarungen, die alle von Joseph Smith Jr. empfangen werden. In einer Art „Amtscharisma“ sind später – bis heute – die jeweiligen Präsidenten die Empfänger der jetzt seltenen Offenbarungen.
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Oneida Community als Beispiel einer erfolglosen devianten Religion „Oneida Ltd.“ ist bis heute ein höchst erfolgreiches Unternehmen mit Sitz in den USA, das auf die Produktion und den Vertrieb von Haushaltswaren spezialisiert ist.26 Die Namensgleichheit mit der Oneida Community, die 1848 gegründet wurde, ist kein Zufall. Was als Gemeinschaft religiöser Perfektionisten27 begann, scheiterte zwar als Religion, fand aber eine Fortsetzung in einer anfänglich noch in personeller Identität fortgeführten Unternehmung, bis sich das kapitalistische Unternehmen aus allen religiösen Banden befreite. Als unbestrittener Gründer der religiösen Gemeinschaft gilt John Humphrey Noyes, der 1811 in Brottlebory, Vermont geboren wurde. Anders als der sechs Jahre früher ebenfalls in Vermont geborene Joseph Smith Jr. wuchs Noyes in einer der Oberschichtfamilie auf. Die Absicht, Prediger zu werden, wurde durch Aufnahme eines Studiums an der Yale Universität im Jahre 1832 zunächst verfestigt, aber schon bald erschüttert. Noyes geriet in die aufgewühlte religiöse Atmosphäre von New Haven mit ihren zahlreichen „Freikirchen“, die im Unterschied zu den etablierten Denominationen besonders die Praxis der „revival meetings“ pflegten. Nach nur einem Jahr des Universitätsstudiums erteilte ihm das theologische Seminar von Yale die Erlaubnis zu predigen, die er aber ein Jahr später zurückgab, nachdem er sich als „perfectionist“ erklärt hatte. Die Perfektionisten waren gekennzeichnet durch den Glauben, dass hier auf Erden der Zustand der vollkommenen Liebe zwischen Gott und Mensch erreichbar sei und von einigen Menschen auch tatsächlich schon erreicht worden war. Zu ihnen zählte sich Noyes. Die Perfektionisten bildeten keine geschlossene Gruppe, sondern waren eher eine Gesinnungsgemeinschaft, die vor allem literarisch tätig war. Noyes gab eine Zeitschrift heraus, „Perfectionist“, die immerhin sechshundert Abonnenten hatte. Missionsanstrengungen in Neuengland und der Stadt New York waren jedoch nicht erfolgreich. Insofern also ein nicht unübliches Schicksal in der bunten Welt der Religionen, wenn nicht Noyes einen Versuch gestartet hätte, ein vollkommenes Leben in Gemeinschaft mit anderen als Gruppe zu realisieren. Die Gründung utopischer Gemeinschaften war zwischen 1820 und 1870 in den USA keine Seltenheit: Teilweise von Europa beeinflusst (Owen und Fourier), teilweise religiös geprägt (Rappisten, Shaker) entstanden meistens kurzlebige und selten längerlebige Gemeinschaftssiedlungen.28 Die auf Noyes zurückgehende Siedlung gehören zu den letzteren. 26 Oneida Ltd. Wikipedia org/wiki/Oneida Limited. 27 „Perfectionists“ sind eine Spielart von Christen, die die biblische Aufforderung der Bergpredigt „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Matth. 5, 48), wörtlich nehmen; siehe auch Carden, Oneida. 28 Kanter, Commitment, 1972.
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Zunächst kehrte Noyes nach Putney, Vermont zu seiner Herkunftsfamilie zurück und machte das, womit viele Gründer von Religionen beginnen: Er versuchte, seine Familie zu missionieren, was auch zum Teil gelang. So wurde in Putney der Nukleus der später nach Oneida übersiedelten Gemeinschaft gelegt, der überwiegend aus Noyes Herkunftsfamilie und seiner Ehefrau – 1838 heiratete er Harriet A. Holten – bestand. Noyes selbst entwickelt die Idee einer Gemeinschaftssiedlung nur langsam, so wie er auch selbst nie ausschließlich in Oneida leben würde. Die von ihm in Putney gegründete BibelSchule war ein Instrument der Verbreitung der Ideen des Perfektionismus, die vor allem die Überzeugung enthielten, dass die vollkommene Befreiung von Gesetz gegeben war. 1841 verteilte Noyes’ Vater sein Vermögen unter seine Kinder. Die Putneygruppe der Geschwister erhielt 20000 Dollar, zusammen mit den 16000 Dollar, die Noyes’ Frau einbrachte, und kleineren Beträgen von anderen Perfektionisten schien es möglich, eine auf der Basis der Gemeinwirtschaft arbeitende Gruppe zu etablieren, in der allen alles gemeinsam war: Die Gemeinschaft bestand aus 28 Erwachsenen und neun Kindern und erwies sich als ökonomisch wenig erfolgreich. Sie verstand sich als Theokratie mit dem unbestrittenen Haupt Noyes. Wie im Fall der Mormonen zentrierte sich der Vorwurf der Devianz auch in Putney um Fragen der Sexualität. Obwohl Noyes im Unterschied zu anderen Perfektionisten ein Gegner der „Freien Liebe“ war, musste er einen Weg finden, wie die „Vollkommenen“ die Freiheit vom Gesetz irgendwie zwischen der vollkommenen sexuellen Abstinenz, wie sie die Shaker lehrten und lebten, und der monogamen Ehe, wie sie die Gesellschaft praktizierte und die damit ein Eigentumsrecht auf den Ehepartner implizierte, darstellen konnten, der aufzeigen würde, dass allen alles gemeinsam war und sie die Egoismen der alten Welt überwunden hatten. Die Lösung war: „Complex Marriage“. „Toward the end of 1846, Noyes and his wife, Georg Cragin and his wife, Noyes’s Sisters Charlotte and Harriet, and their husbands, John R. Miller and John L. Skinner, stated the principle of their ’social union. They agreed to an absolute community of property, including people as well as material possessions.“29 Dass es sich nicht um eine „weltliche“ Vereinbarung handelte, sondern um eine religiöse wurde deutlich, als sie sich der letztlichen Herrschaft Gottes in allen Fragen unterwarfen und der vom Heiligen Geist bestimmten des John Humphrey Noyes. Wie nicht anders zu erwarten war, drangen Gerüchte von dem ungewöhnlichen Sexualleben einiger – durchaus nicht aller – Perfektionisten in Putney nach außen. Vorwürfe und Verfahren wegen Ehebruchs wurden in die Wege geleitet und führten dazu, dass Noyes im November 1847 nach New York City floh. Das war nicht das Ende. Anhänger von Noyes, die auch das Wagnis eines 29 Das Phänomen der Familienkonversion ist wenig untersucht worden, obwohl es zahlreiche Beispiele gibt: Muhammad, Smith, Buddha und wahrscheinlich sogar Jesus trotz der Invektiven gegen seine Familie. Nach seinem Tod haben anscheinend Familienmitglieder in der Gemeinde von Jerusalem eine wichtige Rolle gespielt.
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Gemeinschaftslebens eingehen wollten, gab es auch außerhalb von Putney. So fand eine Gruppe in Madison County des Staates New York eine Bleibe in der Nähe des Oneida Flusses und lud Noyes und seine Gruppe ein, nach Oneida umzusiedeln. Die Gemeinschaft wuchs stetig aber langsam. Noyes traf eine sehr sorgsame Auswahl unter den Aspiranten, die in Oneida Corporation aufgenommen werden wollten. 1848 zählte die Gemeinschaft 87 Erwachsene und Kinder. In den folgenden Jahren wuchs sie auf über 200 Mitglieder und erreichte 1875 ihren höchsten Stand mit 253 Personen, zu denen noch 45 Vollkommene in der Zweigsiedlung Wallingford gerechnet werden müssen. Im Unterschied zu den Mormonen ging es Noyes nicht um die Errichtung eines „Königreichs“, sondern um das exemplarische Vorleben einer vollkommenen Einheit zwischen Mensch und Gott, die sich vor allem darin zeigte, dass man alle selbstsüchtigen Interessen überwand und der Gemeinschaft die absolute Priorität zugestand. Anstelle des „Ich“ musste das „Wir“ treten. Der Geist der brüderlichen Liebe, wie ihn Noyes bei Jesus und Paulus zu finden glaubte, sollte im Oneida herrschen. Wie fast alle utopischen Siedlungen sollte auch Oneida auf der Basis von Landwirtschaft und Selbstversorgung arbeiten und wie alle diese Versuche wäre auch Oneida zum Scheitern verurteilt gewesen, wenn nicht die finanziellen Einlagen der Mitglieder so hoch gewesen wären, dass die Verluste zunächst ausgeglichen werden konnten. Der ökonomische Durchbruch kam in der 1850er Jahren als ein neues Mitglied, Sewell Neahouse, die erfolgreiche Produktion von Tierfallen mit nach Oneida brachte. Die Community entwickelte sich ökonomisch so erfolgreich, dass sie ab 1862 von außen Arbeiter einstellte. Alle Zeugnisse sprechen aber dafür, dass das religiöse Leben in Oneida nicht unter dem Erfolg als ökonomisches Unternehmen litt. Die Community bildetet ein religiöses Gemeinschaftsleben aus, in dem allen alles gemeinsam war: Eigentum und Menschen. Die Praxis des „sexual sharing“ wurde verfeinert. Eine Besonderheit war die Form der Geburtenkontrolle. Noyes wollte zunächst kein biologisches Wachstum, bevor eine Perfektionierung aller Mitglieder erreicht war. Außerdem sah er sehr deutlich, dass die Gemeinschaft sich erst dann der sorgfältigen Sozialisation des eigenen Nachwuchses widmen könne, wenn die ökonomische Lage auf langfristig sicherer Grundlage stand. Die Methode der Geburtenkontrolle war eine Erfindung von Noyes und legte die Verantwortung dafür vollständig den Männern auf; sie wurde „male continence“ genannt. Sie bestand in der Technik, dass bei der Durchführung des Koitus die Ejakulation zurückgehalten wurde. Anscheinend hat diese Technik funktioniert. Zwischen 1848 und 1869 wurden höchstens 31 Kinder gezeugt, wobei einige gewissermaßen Betriebsunfälle waren.30 Ein beträchtlicher Teil der in der Gemeinschaft lebenden Kinder – die alle gemeinschaftlich und liebevoll erzogen wurden – war in die Siedlung von neu eingetretenen Mitgliedern eingebracht worden. Wie auch in Putney war die deviante Pra30 Carden, Oneida, 21.
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xis des Sexuallebens in der Umgebung nicht unbemerkt geblieben und hatte bei Geistlichen, aber auch in der Presse zur Kritik geführt, wobei der New York „Observer“ sich hervortat und Mormonen und die Perfektionisten von Oneida in einen Topf warf. Die Gemeinschaft reagierte wenig kämpferisch: Im März 1852 erklärte sie, dass die Praxis des „complex marriage“ mit dem „sexual sharing“ aufgegeben werden sollte und die Community „resumed the marriage morality of the world, submitting themselves to all the ordinances and restrictions of society and law on this subject.“31 Aber schon im August desselben Jahres wurde im Rahmen des „Theocratic Platform“ neben anderen Glaubensartikeln die Aufgabe der Lebensweise der Welt, besonders der Ehe und der unfreiwilligen Fortpflanzung verkündet. Es folgten weitere Bestimmungen wie die Pflege der Freien Liebe, das Wohnen in Geeminschaft und die komplexe Ehe: „Cultivation of Free Love. Dwelling together in Association or Complex Marriage“.32 Anscheinend gelang es der Gemeinschaft trotz immer wieder aufkommender Kritik ihr Leben relativ ungestört fortzuführen. Interessant ist, dass die Oneida Community kein abgeschlossenes Dasein führte, sondern, abgesehen von den sehr intensiven ökonomischen Außenbeziehungen, auch für Besucher offenstand, wobei sich in den späteren Jahren vor allem an Wochenenden ein regelrechter Tourismus entwickelte. In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft waren die Menschen von der Oneida Community akzeptierte und angesehene Mitbürger. Spätestens in der o.g. Theokratischen Plattform wurde deutlich, dass Noyes und mit ihm die Gemeinschaft nicht nur die Ehe in der üblichen Form ablehnt, sondern auch die unfreiwillige („involuntary“) Fortpflanzung („Propagation“).33 Der überzeugte Malthusianer Noyes befand sich damit durchaus auf der Höhe der zeitgenössischen Diskussion. Die Lektüre von Darwins „Origin of Species“ (zuerst erschienen 1859) brachte ihn auf den naheliegenden Gedanken, dass das, was die natürliche Selektion bewerkstelligte, vom Menschen in einer „Scientific Propagation“ durchgeführt werden sollte.34 1869 übernahm die Community die damit verbundene Praxis, dass die Gemeinschaft (in der Realität der Patriarch Noyes) bestimmte, wer Mutter und Vater des erwünschten Nachwuchses werden sollte. Die schon in Putney vertretene Überzeugung, dass Sexualität nicht ausschließlich zum Zweck der Zeugung von Nachwuchs von Gott geschaffen worden sei, konnte nun in die Praxis umgesetzt werden. Wie bisher konnte durch „male continence“ das Liebesleben auf der Grundlage des „sexual sharing“ gelebt werden und getrennt davon, die am besten ge31 Ebenda, 51. 32 Robertson, Oneida Community, 274 und Foster, Religion and Sexuality, 111ff 33 Schon im Dezember 1852 wurde „Cultivation of Free Love“ durch „Cultivation of Universal Love“ ersetzt (Robertson 1970, 278). Noyes legte immer besonderen Wert darauf zwischen sittenloser „Free Love“ und dem in Oneida praktizierten „sexual sharing“ zu unterscheiden. 34 Quellentexte zur Begründung der „Scientific Propagation“ (von der Community“ stirpiculture – vom lateinischen „stirpis“ abgeleitet – genannt) finden sich leicht zugänglich in: Robertson, 335–355.
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eigneten Personen bestimmt werden, dafür zu sorgen, dass die Gemeinschaft durch eigenen Nachwuchs Bestand haben könnte. Gleichzeitig mit der Einführung des „Scientific Propagation“ schloss die Community praktisch ihre Tore für Neueintritte, nachdem sie immer schon sehr sparsam bei der Auswahl von Aspiranten vorgegangen war. Da die Auswahl der zu Fortpflanzung geeigneten Kandidaten sich nach dem Grad der geistlichen Reife richtete, konnte es nicht ausbleiben, dass Noyes und andere Personen des inneren Kreises (d.h. Mitglieder der Putney-Gemeinschaft) das Hauptkontingent der männlichen Partner stellten. Die Auswahl betraf in erster Linie die männlichen Sexualpartner. So zeugte Noyes selbst zehn Kinder. Insgesamt gingen zwischen 1869 und 1879 58 Kinder aus der Scientific Propagation hervor. Nicht unerwartet rief die öffentlich gemachte neue Praxis wieder Kritik hervor. Es ist nicht entscheidbar, ob die Gemeinschaft auch diese Bedrohung, die vor allem in publizistischen Angriffen bestand, wie die von 1852 überstanden hätte, wenn der alternde und fast taube Noyes sich nicht ab 1876 fast vollständig von der Führung der Community zurückgezogen hätte. Hinzu kamen auch interne Spannungen zwischen Altmitgliedern und später Eingetretenen. Androhungen von Prozessen veranlassten Noyes im Juni 1879 Oneida zu verlassen und auf die kanadische Seite der Niagara Fälle zu ziehen, wo er im Kreis einiger Anhänger 1886 starb. Obwohl die letzte nach den Kriterien der „Scientific Propagation“ zustande gekommene Zeugung schon 1878 stattgefunden hatte, führte die Praxis der fortgesetzten „complex marriage“ zu einem schnellen Scheitern der Oneida Community. Interne Meinungsverschiedenheiten darüber, wer die jungen Mädchen in die sexuellen Regeln der Gemeinschaft einzuführen habe, mussten geschlichtet werden. Was ursprünglich und bis in die späten 1870er Jahre die Aufgabe von Noyes und von ihm benannten Männern seines Vertrauens war, musste nach dem sukzessiven Rückzug von Noyes aus Oneida und erst recht nach Juni 1879 neu entschieden werden. Verschärft wurde die Situation noch durch drohende Angriffe von außen, die die Gefahr der gerichtlichen Verfolgung wegen Unzucht und Vergewaltigung Minderjähriger realistisch erscheinen ließ. Sobald eine der rivalisierenden Gruppen in die Öffentlichkeit gehen würde, wäre die Lieferung von Beweismitteln eine einfache Sache gewesen. So entschloss sich Noyes in seinem kanadischen „Exil“, der Gemeinschaft zu empfehlen, das System der „complex marriage“ aufzugeben und es den Mitgliedern freizugeben, ob sie zu Monogamie oder zum Zölibat zurückkehren wollten. Im August 1879 nahm die Community diesen Vorschlag an und machte ihn publik. Die Gemeinschaft bestand zunächst weiter. Das Ende des nun vor allem ökonomischen Kommunalismus kam jedoch schnell. Anstatt die Community vollständig aufzulösen, wurde das auf 600000 Dollar veranschlagte Vermögen der Gemeinschaft in 24000 Anteile (Aktien) à 25 Dollar aufgeteilt und in unterschiedlicher Höhe an 226 Mitglieder verteilt. Nach einigen Turbulenzen übernahm der 1870 geborene Sohn von John Humphrey Noyes Pierrepont Burt Noyes 1894 die Leitung von Oneida Corp. Ltd. und führte während der langen Jahre seiner Präsidentschaft das Unternehmen
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zum Erfolg. Obwohl noch über Jahrzehnte das Leben im ehemaligen Herrenhaus von Oneida (Mansion House), wo die Communitymitglieder ihr kommunales Ideal praktiziert hatten, von einigen Personen fortgeführt wurde, trat es immer mehr in den Hintergrund. Auch in der Führung von Oneida Corp. Ltd. gaben nun die von außen kommenden Männer den Ton an. Die Oneida Community als religiöse Gemeinschaft war eines langsamen Todes gestorben.
Schlussfolgerungen Das Scheitern der Oneida Community ist deshalb bemerkenswert, weil hier eine Gemeinschaft nach über 30 Jahren erfolgreichen Bestehens sich fast friedlich auflöste, obwohl nach Aufgabe des Systems der „complex marriage“ alle anderen Formen des gemeinschaftlichen Lebens hätten weitergeführt werden können. Was waren im Fall der Mormonen die Gründe für den Erfolg, im Fall von Oneida Community die Gründe für das Scheitern? Zunächst fällt die unterschiedliche quantitative Basis der beiden Religionen zum Zeitpunkt der Aufgabe der relevanten Devianz (Polygamie und Complex Marriage) auf. Während die Mormonen nach Zehntausenden zählten, gab es gerade einmal ca. 300 Perfektionisten. Die schiere Größe der religiösen Gemeinschaft ist jedoch nicht entscheidend, sondern die allerdings von der Gruppengröße nicht unabhängige innere Dynamik. Spannungen sind in jeder Gruppe unvermeidlich und müssen gelöst werden. Die beiden häufigsten Methoden der Konfliktbewältigung sind Autorität und Konsensbildung. Während Autorität, also die Durchsetzung des Willens von oben nach unten,35 sowohl in quantitativ großen wie in kleinen Gruppen funktionieren kann, ist Konsensbildung nur in kleinen Gruppen praktizierbar. Sowohl bei den Mormonen als auch in der Oneida Community war Autorität das Mittel der Wahl. Joseph Smith Jr. als von Gott bevollmächtigter Prophet als auch John Humphrey Noyes beanspruchten erfolgreich die absolute Führung der jeweiligen Gefolgschaft. Nach dem Tode von Joseph Smith ging die Führungsrolle auf die jeweiligen Präsidenten der Kirche über. Mormonen, die mit den Entscheidungen nicht einverstanden waren, spalteten sich ab und bildeten schismatische Mormonenkirchen. Die Masse der Mormonen war groß genug, um solche Aderlässe überleben zu können. So lange Noyes, wenn auch manchmal aus der Ferne, die Geschicke der Gruppe leitete, konnten interne Spannungen gelöst werden. Nach 1876 war dies jedoch immer weniger möglich. Die Etablierung eines
35 Ich benutze die Webersche Kategorie „Herrschaft“, in der englischen Übersetzung „authority“, um den Anschluss an die dem Gegenstand geschuldet ausschließlich amerikanische Literatur zu gewährleisten.
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Amtscharismas wurde nie ernsthaft versucht.36 Es ist interessant, dass es in der Oneida Community auch Elemente der Konsensbildung gab und zwar im Instrument des „criticism“. Ob es sich dabei aber, wie Robertson wohlwollend schreibt, um „the only discipline practiced in Oneida Community“37 handelt, darf bezweifelt werden. Das permanent praktizierte Verfahren des „criticism“ bestand in der individuellen und kollektiven Kritik des abweichenden Verhaltens einzelner Mitglieder mit dem Ziel, individualistische Privatheit zu verhindern. Die Möglichkeit des „Aus-dem-Feld-Gehens“ war durch Verlassen der Community gegeben und führte in einigen Fällen auch zu dem bekannten Phänomen des „Aussteigers“, ohne allerdings die Gruppe bedrohen zu können.38 Kritisch wird es jedoch, wenn es in der Gemeinschaft rivalisierende Gruppierungen gibt. Dies war anscheinend in der Oneida Community der Fall39 und führte zum Zerbrechen der Gemeinschaft. Konsensbildung auf der Grundlage des „Criticism“ konnte nur greifen bei individuellen Abweichungen, nicht jedoch bei Abweichung von Teilkollektiven. Die Community war jedoch zu klein, um eine schismatische Lösung zu wählen, zumal ja schon Noyes auf aktive Missionierung verzichtet hatte. Ein weiterer Grund für die unterschiedliche Entwicklung der Mormonen und der Oneida – Perfektionisten könnte in der unterschiedlichen Zusammensetzung der Anhängerschaft gesehen werden. Bryan Wilson hält die „constituency“ für mit entscheidend für Erfolg oder Scheitern neuer religiöser Bewegungen,40 wobei eine in Bezug auf Alter, Geschlecht und weiteren Kriterien ausgewogene Anhängerschaft zwar keine Garantie für Erfolg ist, aber die Chancen wesentlich erhöht. Die Mormonen hatten eine der Gesellschaft entsprechende Anhängerschaft. Die Oneida Community scheint trotz der geringen Zahl der Mitglieder keine untypische Struktur in Bezug auf Alter und Geschlecht ausgewiesen zu haben. Selbst in der Verteilung auf Berufe gab es keine Auffälligkeiten. Freie Berufe, Handwerker und Landwirte bildeten die Gemeinschaft. Für die Religionswissenschaft ist die Frage besonders spannend, ob das Glaubenssystem einer Religion von Relevanz für Erfolg oder Scheitern ist. Rodney Stark setzt die Aufrechterhaltung von „cultural continuity with the conventional faiths oft the societies“ an den Anfang der Bedingungen für erfolgreiche neue religiöse Bewegungen,41 was eigentlich in einer Spannung zur Devianz steht. Stark hat dies berücksichtigt, indem er weiter postuliert, dass ein „medium level of tension with their surrounding environment“ aufrecht erhalten werden müsse, „deviant, but not too deviant.“42 Sowohl Mormonen 36 37 38 39 40 41 42
Zu Veralltäglichung des Charisma: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 182f Quellentexte zu „critism“ in: Robertson, Oneida Community, 128–149. Robertson, Oneida Community, 128. Einzelheiten bei Carden, Oneida, 99f Wilson, Factors, 39f Stark, How New Religions Succeed, 13. Ebenda.
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wie Oneida Community weisen in ihrem Glaubenssystem und dem daraus abgeleiteten Verhalten zahlreiche Devianzen auf, von denen aber nur einige zur Ablehnung durch das „surrounding environment“ führten. Weder die Einführung eines neuen „Heiligen Buches“, noch die Lehre, dass im Hier und Jetzt der Zustand der Vollkommenheit erreichbar sei, scheinen Anlass für rabiate Ablehnung gewesen zu sein, obwohl es sich um veritable Häresien in einer durch das Christentum geprägten religiösen Umwelt handelte. Devianter waren schon die Lebensformen der beiden Religionen, d.h. die Versuche, ein auf religiöser Grundlage gemeinsames Leben zu führen. Die mormonische Variante war dabei weniger abweichend als die der Oneida Community, führte aber in der Frühphase vor dem Rückzug in das Great Basin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, während das erhebliche radikalere Sonderleben in Oneida, das die Community selbst als „Bible Communism“ mit Gemeinschaftseigentum bezeichnet, anscheinend von der Umwelt hingenommen wurde. Die Größe der jeweiligen Ansammlung scheint hier die wesentliche Differenz zu sein: Tausende Mormonen in Nauvoo wurden als Gefahr wahrgenommen, einige Hundert Perfektionisten waren hinnehmbar. Ob die Praxis der Polygamie bzw. des „complex marriage“ notwendige Bestandteile der Glaubenssysteme waren oder nicht, ist schwierig zu entscheiden. Die Legitimation bei den Mormonen war die Offenbarung durch Joseph Smith und die Berufung auf die Patriarchen. Eine besondere theologische Argumentation erfolgt nicht. John Humphrey Noyes fügte das System des „complex marriage“ dagegen plausibel in seine perfektionistische Theologie ein.43 Unter der realistischen Annahme, dass die abweichende Gestaltung von Ehe und Sexualität die entscheidende Devianz war, wie sie von der Umgebung wahrgenommen wurde, kann man die Hypothese aufstellen, dass die Aufgabe devianten Verhaltens die Überlebenschance einer Religion minimiert, wenn dieses Verhalten ein zentrales Element im Glaubenssystem der religiösen Gemeinschaft darstellt, das das Leben aller Mitglieder betrifft. Mit anderen Worten: bricht dieses Element aus dem System weg, verliert die raison d’être der Gemeinschaft ihren Sinn. Lawrence Foster kommt resümierend über die Ursachen des Niedergangs („decline“) zu folgenden Ergebnissen. „Each of these three millenial groups (Shaker, Oneida, Mormonen) either gave up its distinctive marital practices or went into an overall decline in size and the intensity of membership commitment.“44 Für das Scheitern von Oneida nennt sie „decline in Noyes’ leadership powers“ und „the erosion of old ideals“45. Ob die Mormonen erfolgreich waren, bleibt zweifelhaft, denn bezogen auf die Polygamie als „a way of organizing marriage and family relations“ scheiterten sie, als „the world –
43 Zu Einzelheiten: Foster, Religion and Sexuality, 88–93. 44 Foster, Religion and Sexuality, 243. 45 Ebenda.
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embracing church, which it aspires to become“ war und ist sie erfolgreich.46 So kommen wir zum Schluss auf die religionswissenschaftlich relevanten Fragen zurück: Worin besteht die Identität einer Religion? Wie viele Veränderungen verträgt eine Religion? Bleibt das Resümee: Erfolgreich ist eine Religion, die nicht dieselbe bleibt. Vielleicht gilt das auch für nicht deviante Religionen.
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46 Ebenda.
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Edith Franke, Sebastian Murken
Lia Eden und Gabriele Wittek Zeitgenössische Prophetinnen zwischen religiöser Tradition und Non-Konformität
Einleitung Im Spannungsfeld von Tradition und Erneuerung, von Orthodoxie und Heterodoxie sind Religionen als dynamische Systeme vielfältigen Einflüssen von innen und außen ausgesetzt. Entscheidend für die Dynamik von Religionen ist dabei, ob neue, non-konforme Strömungen assimiliert und integriert werden können, oder aber, ob sie als Bedrohung der herrschenden Mehrheitsreligion angesehen werden. Eine besondere Herausforderung für Religionen, deren Schrifttum kanonisch kodifiziert ist, stellen sogenannte Neuoffenbarungen dar. Neuoffenbarungen sind Ergänzungen, wenn nicht gar Korrekturen der Lehren der kodifizierten Offenbarungsreligionen. In der Regel werden die neuen Offenbarungen als unmittelbar göttlichen Ursprungs charakterisiert und nicht selten entsteht um das Medium der neuen Offenbarung einen neue religiöse Gemeinschaft.1 Mit Lia Eden und Gabriele Wittek stellen wir in diesem Beitrag zwei zeitgenössische Prophetinnen vor: eine im Kontext des islamisch geprägten Java/ Indonesien, die andere im Kontext des christlich geprägten Süddeutschlands. Beiden gemeinsam ist die Überzeugung, über einen exklusiven Zugang zur göttlichen Wahrheit zu verfügen, die die etablierte islamische bzw. christliche Tradition als fehlgeleitet und falsch entlarvt. Prophetismus ist, so Ebach im Handwörterbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, „gekennzeichnet durch eine persönliche Verbindung zur Gottheit einerseits und durch ein innovatorisches und institutionskritisches Moment andererseits“.2 Im Falle von Lia Eden und Gabriele Wittek geht die Überzeugung, für die Verkündigung einer neuen Offenbarung von Gott auserwählt zu sein, mit einer massiven Kritik an den etablierten, institutionalisierten Religionen Islam bzw. Christentum einher. Beide gründen neue religiöse Gemeinschaften (Lia Eden die „Salamuallah“ bzw. „Kaum Eden“-Gemeinschaft und Gabriele Wittek die Gemeinschaft „Universelles Leben“), die schließlich als deviant wahrgenommen werden und gesellschaftliche Sanktionierungen erfahren.
1 Zur religionswissenschaftlichen Diskussion des Konzeptes, vgl. Diemling, Neuoffenbarungen. 2 Ebach, Prophetismus, 347.
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Zwar gehören Reformen, Abspaltungen, Neugründungen ebenso wie das Absterben und Verschwinden von Religion zu üblichen Erscheinungen in den Entwicklungsprozessen von Religion und Gesellschaft und stellen religionshistorisch den Normalfall dar, doch verursacht das Auftreten von Personen, die einen exklusiven Zugang zum Göttlichen reklamieren, sich im Besitz neuer religiöser Erkenntnisse und Wahrheiten wähnen und diese auch verkündigen, eine besondere Herausforderung der etablierten religiösen Traditionen und ihrer Lehren und führt nicht selten zu brisanten Konflikten. In der Folge werden neue Prophetinnen und Propheten und ihre Lehren entweder in bestehende religiöse Traditionen integriert und können Anlass für Reformen sein. Oder es kommt zu Abspaltungen oder sogar Neugründungen, die – je nach dem sozio-historischen Kontext – zur Verbreitung und Etablierung der prophezeiten religiösen Vorstellungen führen, nach einem kurzen Aufblühen ohne weitere religiöse oder soziale Resonanz bleiben oder aber sie führen zu einer Ausgrenzung und Sanktionierung der neuen Lehre und ihrer Anhänger durch die Mehrheitsreligion. Zu den Charakteristika von Prophetentum gehört in aller Regel eine Mischung aus enger Verbundenheit mit und kritischer Distanz zur eigenen Religion, die dann in radikale Neuinterpretation bis hin zur Ablehnung der bisher gelehrten religiösen Lehren und Vorstellungen münden kann. Aufgrund dieser Haltung kann Prophetismus als Beispiel par excellence für religiösen Nonkonformismus gelten – zumindest hinsichtlich des Verhältnisses zur jeweils dominanten Mehrheitsreligion. Nonkonformismus muss deshalb religionswissenschaftlich immer als ein relationaler Begriff gesehen werden, in dem sich das Spannungsverhältnis zwischen etablierten und minoritären oder/und neuen religiösen Vorstellungen abbildet. Während aus einigen kleinen nonkonformen prophetischen Bewegungen, wie beispielsweise der JesusBewegung und der Gemeinschaft um den Propheten Mohammed, etablierte, domestizierte und schon lange nicht mehr als neu oder nonkonform zu bezeichnende Religionen geworden sind,3 lässt sich an dem Auftreten zeitgenössischer Propheten und Prophetinnen der religionswissenschaftlich spannende Prozess gesellschaftlicher und religiöser Reaktionen und Sanktionierungen untersuchen, mit denen die Umgebung auf solche – religionshistorisch gesehen – Normalfälle reagiert. In unserem Beitrag analysieren wir anhand von zwei Beispielen von rezentem Prophetismus die Dynamik dieser religiösen Gemeinschaften, die zur Nonkonformität mit der umgebenden Mehrheitsreligion führt. In beiden Fällen geht es um weibliche Protagonistinnen, die eine religiöse Neu-Offenbarung und Einsicht für sich reklamieren, mit einer kleinen Zahl von Anhängern und Anhängerinnen eine neue religiöse Gemeinschaft begründen und die bisherige Ausrichtung des Islam bzw. des Christentums für fehlgeleitet halten. Uns interessiert dabei die Frage, welche Faktoren dazu führen, dass 3 Seiwert, Wilde Religionen.
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die Prophetinnen und ihre Gemeinschaften als deviant oder gar bedrohlich wahrgenommen und sanktioniert werden, und welche Rollen dabei die neue religiöse Gemeinschaft selbst, die Mehrheitsreligion und die umgebende Gesellschaft einnehmen.
1. Lia Eden: Prophetin eines erneuerten Islam auf Java Mit Lia Eden geht es um die Begründerin einer neuen religiösen Gemeinschaft, die an vertraute, lokale Varianten eines mystisch geprägten Islam anknüpft und damit in die lange Tradition charismatischer religiöser Gelehrter und Propheten auf Java eingeordnet werden kann, die aber auch in den Kontext eines kosmopolitischen Prophetismus als Ausdruck globaler islamischer Diskurse über den Zusammenhang von Psychologie und Selbst, städtischer Kultur und Glaube, Nation und umma, gestellt werden kann.4
1.1 Lia Eden und die Eden-Salamullah Gemeinschaft Lia Aminuddin, mit späteren Namen Lia Eden, wurde 1947 in Surabaya auf Java als Tochter von Abdul Ghaffar Gustaman, einem Aktivisten der modernistisch orientierten islamischen Organisation Muhammadiyah, geboren. Sie ist Gründerin der religiösen Gemeinschaft Salamullah bzw. Kaum Eden/ Mahraja Eden. 1966 heiratete sie Aminuddin Day, einen Dozenten der Universitas Indonesia (UI), mit dem sie vier Kinder hat. Sie war zunächst Hausfrau und trat in indonesischen TV Sendungen als Kennerin und Arrangeurin von Blumen auf. Doch schon im Jahr 1974 habe sie ein besonderes religiöses Erlebnis gehabt: ein gelber Lichtball sei durch die Luft geschwebt und habe sich auf ihrem Kopf niedergelassen. Im Jahr 1995 schließlich sei ihr die Präsenz eines spirituellen Begleiters (Habib al-Huda) im Gebet bewusst geworden. Dieser habe sich ihr später als Erzengel Gabriel offenbart und durch ihn empfange sie seit 1997 Offenbarungen. Der Erzengel Gabriel geleite sie durch die Widerfahrnisse ihres Lebens und Glaubens; er reinige und belehre sie. Dieser Prozess inkludiere auch die Pflicht, die Botschaften des Erzengels Gabriel bekannt zu machen.5
4 Hoesterey, Prophetic Cosmopolitanism. 5 Al Makin, Pluralism. So fanden sich entsprechend auch Informationen auf der offiziellen Homepage der Gemeinschaft, früher zugänglich unter: http//:www.liaeden.info oder unter: http:// www.mahoni30.org. Bereits im Februar 2012 haben wir festgestellt, dass ein Zugriff auf diese Seiten nicht mehr möglich ist. Seitdem sind nur Teile der Homepage archiviert nur noch über andere Zugänge möglich, z.B. über den „ApologeticsIndex; Apologetics Reserach Resources on religious movements, cults and sects, world religions and related issues“, einer Datenbank, die
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Lia Eden versteht sich als Sprachrohr Gottes, dessen Weisheit ihr direkt durch den Erzengel eingegeben werde. In den Jahren nach den ersten Offenbarungen wurde Lia Eden bereits mehrfach von verschiedenen islamischen Gelehrten kritisiert, insbesondere durch den Rat der muslimischen Gelehrten Indonesiens (Majelis Ulama Indonesia/MUI). Zu dieser Zeit habe Lia Eden ihre Fähigkeit entdeckt, Kranke zu heilen und stellte sich damit in die Tradition javanischer Heiler (dukun).6 Sie begann, Gedichte, Lieder und auch ein Buch zu schreiben; das 232-seitige Buch mit dem Titel „Perkenankan Aku Menjelaskan Sebuah Takdir“ (Englisch: „Allow me to explain a destiny“) habe sie in 29 Tagen geschrieben.7 1998 erklärt sich Lia Eden zum Imam Mahdi, dem Nachfolger Mohammeds, der laut Prophezeiungen eines Tages auf der Erde erscheinen und der Welt Frieden und Gerechtigkeit bringen soll. Zugleich sieht sich Lia Eden aber auch als Inkarnation der Jungfrau Maria und als Mutter Jesu, der in ihrem Sohn Ahmad Mukti inkarniert sei.8 Der eingeschlagene Weg, so die Selbstdarstellung auf ihrer offiziellen Homepage, sei schwer und endlos. Gott habe sie zu Gabriels Gefährtin bestimmt, wie es in den heiligen Schriften prophezeit sei. Darüber hinaus habe Gott ihr einen neuen Namen, Eden, gegeben, der den alten Namen Aminuddin ersetze, und sei sie von Gott zu seiner himmlischen Inkarnation auf Erden bestimmt. Lia Eden habe außerdem, so lauten später Vorwürfe, einen ihrer Anhänger, Abdul Rachman, zur Inkarnation des Propheten Mohammed erklärt.9 In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends wird die Zahl der Anhänger Lia Edens, die nach einer Taufe als Mitglieder der Gemeinschaft galten, auf etwa 100 geschätzt, darunter viele Studenten, Intellektuelle und Menschen aus dem Show Business.10 Die Gemeinschaft um Lia Eden bezeichnete sich zunächst als Salamullah und erklärt sich im Jahr 2000 in einer Proklamation als eine neue, unabhängige Religion, die sich zu dem Glauben bekenne, dass Mohammed zwar der letzte Prophet gewesen sei, dass aber auch andere heilige Figuren wie Buddha Gautama, Jesus Christus und die chinesische Göttin Guan Yin (Kwan Im) reinkarniert werden. Seit 2003, so ein Zeitungsbericht, folge die Gruppe einer universalen Philosophie und damit einem Glauben, der von der Existenz universaler Glaubenssätze und Wahrheiten in allen Kulturen und bei allen Menschen ausgehe. In der Konsequenz werden alle Religionen für wahr gehalten. Die Gruppe nennt sich seitdem Kaum Eden oder auch
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von evangelikalen Christen herausgegeben wird (www.apologeticsindex.org). Zu Lia Eden und ihrer Gemeinschaft: http://www.apologeticsindex.org/74-lia-eden-salamullah. Zur Bedeutung des dukun in der javanischen Kultur: Woodward, Java, 69–112. Al Makin, Pluralism, 190. Ebd. So ein Artikel in der Jakarta Post vom 27. Februar 2006; s. auch Howell, Muslims, 483. So die Einschätzung von Al Makin, Pluralism, 190 und ein Bericht von Tantri Yuliandini „Lia treads a hazardous path from dried flower arrangement to Eden“ in der Jakarta Post vom 4. Januar 2006.
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Maharaja Eden (Königreich Eden), deren Führung Lia Eden obliege. Deren Wohnsitz in Zentral Jakarta, Jl. Mahoni 30, sei Sitz des Königreichs Eden.11 Ab 2003 war eine Webseite der Gemeinschaft sowohl auf Bahasa Indonesia als auch auf Englisch weltweit zugänglich. Sie warb mit der Ankündigung: „Welcome to Gabriel’s Voice Worldwide. The Archangel Gabriel’s Official Website on Earth through Lia Eden. / Ini adalah situs remisi Malaikat Jibril di Bumi.“12 Auf der Webseite der Gemeinschaft wurde auch bekannt gegeben, dass der Erzengel Gabriel Lia Eden beauftragt habe, eine multi-religiöse Gemeinschaft mit dem Namen Eden/Salamullah zu begründen, die Botschaften des Friedens, der Gerechtigkeit, der Einheit und vom Schöpfer des Lebens verkünden solle. Der Erzengel Gabriel wird auch selbst mit folgenden Worten zitiert: „Here I am now on www.liaeden.info“. Weiter wird erläutert, dass auf dieser Webseite Menschen die Botschaft Gottes durch ihren Mittler Gabriel empfangen können, weil dieser sich entschieden habe, das Internet zu nutzen, um auf diesem Wege möglichst vielen Menschen die Botschaft Gottes nahebringen zu können. Dies sei der kürzeste Weg zu Gott, mit liebenden Grüßen usw.13 Heute ist die Seite nur noch über andere Quellen, die Teile der Webseite archiviert haben, auffindbar.14 Im Jahr 2006 verbreitet Lia Eden die Botschaft, dass alle Religionen aufgelöst werden sollten, da sie nichtig seien15 und zog damit nicht nur Kritik orthodoxer Muslime auf sich.16 Die Gemeinschaft der Anhänger und Anhängerinnen, die Lia Eden um sich schart, rekrutiert sich vor allem aus der gebildeten, kosmopolitisch orientierten islamischen Mittelschicht.17 Die Gemeinschaft lebt in Lia Edens Haus in einem wohlhabenden Stadtteil Jakartas in einer ähnlichen Struktur der Gemeinschaft um einen religiösen Lehrer, wie es auch in javanischen Sufi-Gemeinschaften üblich ist.18 Mit der Überzeugung, dass sich der Heilige Geist Gottes in Gestalt des Erzengel Gabriels in ihr inkarniert habe, erklärte sich Lia Eden zum einzigen Sprachrohr Gottes in der Gegenwart und zum Souverän des Königreiches Eden. Auf ihrer Homepage stand im Jahr 2006 zu lesen:
11 Ebd. 12 S. Anmerkung 5: so auch festgehalten in Recherchen aus dem Jahr 2006. 13 „Official site of Archangel Gabriel founding Heaven on Earth, channeled by Lia Eminuddin in Kommunitas Eden-Salamullah“, so die Beschreibung auf der offiziellen Webseite mit dem Titel „LiaEden.info – Official Site of Archangel Garbriel“, für die die Adresse Jl. Mahoni 30, Senen, Jakarta Pusa, DKI Jakarta 10260 Indonesia angegeben wird. 14 http://archive.org/web/. 15 Vgl. dazu Artikel aus der Jakarta Post vom 20. April 2006 sowie 3. Juni 2009: „‚Angel Gabriel‘ Lia Goes on Trial for Blasphemy“ und „Lia Eden Sentenced to Prison, Again“. 16 Franke, Einheit, 139; s.a. Howell, Muslims, 483f 17 Howell, Muslims, 481. 18 Howell, Muslims, 480–485.
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Welcome to the Holy Throne of the Kingdom of Eden. This website – which belongs to the Holy Spirit, the Sovereign of the Holy Throne of the Kingdom of Eden – is the only website of the Archangel Gabriel that voices the Revelations from God the Lord of the kings in this era. His Majesty the Holy Spirit – an angel incarnate in Lia Eden – is represented in physicality by Lia Eden – Syamsuriati Lia Eden (Her Majesty the Sun Lia Eden), the Loyal and the Truthful. (c) 200619
Fotos von Lia Eden auf ihrer Homepage zeigen sie wie eine Herrscherin auf einem weißen Thron sitzend, in weiße Gewänder gekleidet, mit geschorenen Haaren und einen (Plastik-)Reif um den Kopf. In der Hand trägt sie eine Art Zepter, der Thron ist von Kerzen umgeben. Dieser Thron, so die Erläuterungen auf ihrer offiziellen Webseite, symbolisiere das Königreich Gottes; die schlichte Rattankrone symbolisiere die geistige Klarheit, das Zepter stehe für die Herrschaft des Heiligen Geistes und die zahlreich um sie herumstehenden Kerzen symbolisieren die Verbreitung der Wahrheit Gottes in der Welt. Bilder ihrer Anhänger und Anhängerinnen zeigen diese ebenfalls in weißer Kleidung, mit geschorenem Haar und auf dem Kopf einen weißen Reif tragend – so auch beim Auftreten von Lia Eden und ihrer Gemeinschaft während der Gerichtsprozesse. Diese Selbstdarstellung greift offenkundig Symboliken und Zeichen der Zugehörigkeit anderer Religionsgemeinschaften auf (z.B. die weiße Kleidung muslimischer Pilger und die Rasur des Haares in der monastischen Tradition des Buddhismus) und ist an eine breite Öffentlichkeit gerichtet. Im Jahr 2006 verkündete Lia Eden nicht nur auf ihrer Homepage, sondern auch auf weiträumig verteilten Flyern, in Schreiben an staatliche Behörden, an die indonesische Regierung und in verschiedenen Massenmedien die Botschaft des Erzengel Gabriels, dass Gott dazu aufrufe, alle etablierten Religionen aufzulösen. Sie seien angesichts der Verkündung der wahren Botschaft an Lia Eden nichtig; und nur im Mahraja Eden werde die wahre Botschaft Gottes gelebt.20
1.2 Reaktionen der religiösen und gesellschaftlichen Umgebung Lia Eden kann mit ihrem Auftreten in die lange, bis heute lebendige Tradition religiöser Lehrer und Propheten auf Java gestellt werden, die in der Gestalt von Sufi-Meistern oder den kyai, religiösen Gelehrten und Leitern von islamischen Internatsschulen, ihren Ausdruck findet und die im islamischen Umfeld 19 So nachzulesen unter: http://www.le2-34-77.info/indonesia/index.php?option=com_content. 20 So ein Artikel in der Jakarta Post vom 3. Juni 2009 von Andra Wisnu, „Lia Eden sentenced to prison, again“.
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große Achtung genießen. Der javanische Islamwissenschaftler Al Makin zählt in seiner Studie über modernen Prophetismus in Indonesien in der Zeit vom 19. Jahrhundert bis heute etwa 170 Neuprophetinnen und -propheten.21 Diese Propheten würden in der Regel eine breite lokale Akzeptanz erfahren und hätten oft eine mehr oder weniger große Anhängerschaft um sich geschart. Sie verstehen sich eigentlich alle als Sprachrohr Gottes und als Inkarnation verschiedener Gottheiten, so dass die Botschaften und Überzeugungen der Lia Eden keine Besonderheit darstellen – so die Einschätzung von Al Makin, der als einer der wenigen Forscher bis heute das Vertrauen von Lia Eden genießt und Zugang zu der mittlerweile sehr zurück gezogen lebenden Gemeinschaft und deren Archiven und Publikationen hat. Auch der frühere, erste Präsident Indonesiens, Sukarno, werde von einigen als Prophet gesehen und habe sich als solcher verstanden. Diese Zuordnung bezieht sich auf das weit verbreitete, traditionelle Konzept eines gerechten Herrschers/ratu adil.22 Al Makin ist der Auffassung, dass sich die Eden Gemeinschaft in ihren Inhalten und auch in ihrer Gruppenstruktur kaum von anderen mystisch geprägten Gemeinschaften um Propheten unterscheide. Ein wesentlicher Unterschied liege jedoch in der offensiven und massiven öffentlichen Verbreitung der als Wahrheit Gottes deklarierten Botschaften. Dass Lia Eden mit der öffentlichen Erklärung der Nichtigkeit aller etablierten Religionen in einem Land, das in seiner Verfassung den Glauben an eine höchste Göttlichkeit und damit die Protektion von monotheistisch orientierten Religionen festgelegt hat, nicht nur die Kritik orthodoxer Muslime auf sich zog, sondern auch staatliche Instanzen auf den Plan rief, ist leicht nachvollziehbar. Bereits im Jahr 1997 hatte der Rat der muslimischen Gelehrten (Majelis Ulama Indonesia/ MUI) eine Fatwa gegen Lia Eden und ihre Gemeinschaft ausgesprochen; darin wurden Lia Eden und ihre Schriften als deviant und häretisch eingestuft.23 In der direkten Umgebung wurde Salamullah zunächst als islamische Gemeinschaft wahrgenommen. Jedenfalls sind bis zum Jahr 2005 außer der Fatwa des MUI keine öffentlichen Kritiken an der Gruppe bekannt geworden. Erst 2005 kam es zu Protesten von Anwohnern, die auf die massenhaft verteilten Pamphlete der Eden Gemeinschaft reagierten, in denen die Eden Gemeinschaft zum einzigen wahren Ort der Weisheit Gottes erklärt wurde. Diese Flyer, die darüber hinaus dazu aufriefen, Mitglied in der Salamuallh Gemeinschaft zu werden, wurden an Nachbarn und auch in der nahe gelegenen Moschee verteilt. Offensichtlich geschürt durch radikale islamische Gruppierungen wie der Front Pembela Islam/FPI, zogen schließlich Tausende von Menschen vor das Haus der Eden-Gemeinschaft, um gegen sie zu protestieren. Die Polizei, 21 So die Auskunft von Al Makin im Februar 2013; die von ihm durchgeführte Studie ist bislang unveröffentlicht; Publikation bei ISEAS voraussichtlich 2014. 22 Schumann, Staat, 190. 23 Assyaukani, Fatwa; Howell, Muslims, 484.
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so Berichte der Jakarta Post, habe sich gezwungen gesehen, Lia Eden und Dutzende ihrer Anhänger zu „evakuieren“ und vor eventuellen Übergriffen in Sicherheit zu bringen. Faktisch wurden diese Personen inhaftiert, die meisten aber sehr bald frei gelassen. Gegen Lia Eden jedoch wurde Anklage erhoben.24 Diese Polizeiaktion und auch die folgende Anklage wurden in der indonesischen Presse intensiv diskutiert: während einige Stimmen in der Verhaftung und Verurteilung Lia Edens wegen Blasphemie eine Verletzung der verfassungsrechtlich gewährten Religionsfreiheit sehen, halten andere die Aktivitäten Lia Edens und ihrer Gemeinschaft für eine Störung der Harmonie und empfinden ihre Botschaften als Schmähung des Islam. Im Jahr 2006 wurde Lia Eden wegen Blasphemie, Verhöhnung und Verunglimpfung von Mitgliedern der indonesischen Gesellschaft zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.25 Schon dieser erste Gerichtsprozess und das Urteil wurden in der indonesischen Öffentlichkeit kontrovers kommentiert: Liberale Muslime, wie Assyaukanie,26 sahen in dem Urteil eine Einschränkung der in der indonesischen Verfassung garantierten religiösen Pluralität und führen die Verurteilung Edens auf den zunehmenden Einfluss des MUI und eines orthodoxen Islam zurück. Ganz offensichtlich, so Al Makin, hätten sich im Prozess gegen Lia Eden jedoch auch einflussreiche Personen für Lia Eden, die aus einer gut situierten javanischen Familie stamme, eingesetzt. Das Höchstmaß der Strafe wegen Blasphemie von fünf Jahren sei deutlich unterschritten worden. Kurz nach der Entlassung aus dem Gefängnis wurden Lia Eden und Dutzende ihrer Anhänger und Anhängerinnen im Dezember 2008 jedoch erneut verhaftet und der religiösen Blasphemie angeklagt. Saor Siagian, der Sprecher Lia Edens, erklärt, dass sich Lia Eden im Prozess auf göttliche Unterstützung bei der Verteidigung verlasse. Auch dieses Mal wird Lia Eden angeklagt, blasphemische und häretische Nachrichten verbreitet zu haben, die sie an Tausende von Institutionen, einschließlich des Polizeipräsidenten und des Präsidenten des Landes verschickt habe und die im Internet unter www.le2-34-777. info gepostet worden seien.27 Darüber hinaus wurde Eden angeklagt, Gebete in mehr als einer Sprache gesprochen, die Botschaft des Korans durch falsche Interpretationen verzerrt und den Verzehr von Schweinefleisch für halal erklärt zu haben. Die Anhänger und Anhängerinnen Lia Edens wurden sehr bald wieder frei gelassen, während Lia Eden selbst erneut zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt wurde. Am 11. April 2011 wurde Lia Eden aus der Haft entlassen. Lia Eden und viele ihrer Anhänger stammen, so Al Makin, aus wohlhabenden, gebildeten Familien; manche ihrer Anhänger seien Absolventen der 24 So eine Nachricht in der Jakarta Post vom 29. Dezember 2005 und ein Artikel von Abdul Khalik „Sect leader, followers arrested“ in der Jakarta Post vom 30.~12.~2005. 25 Al Makin, Pluralism, 103 sowie Arifin, Law enforcement, 11. 26 Assyaukanie, Fatwa; s.a. Al Makin, Pluralism, 195f 27 So eine Nachricht in der Jakarta Post vom 16. Dezember 2008.
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staatlichen islamischen Universität. Lia Eden selbst komme aus einer Familie, die mit dem früheren Staatspräsidenten Sukarno verwandt sei. Die Familie habe sich auch vor Gericht für sie eingesetzt. Nachdem die FPI zwei Mal versucht habe, ihr Haus nieder zu brennen, lebe die Gemeinschaft heute sehr zurückgezogen. Nach der Freilassung aus der zweiten Haftstrafe im April 2011 seien nur noch etwa 18 Personen als Anhängerinnen und Anhänger Lia Edens verblieben, im Jahr 2000 seien es noch 200 gewesen. Lia Eden selbst leide an Diabetes und habe sich vollkommen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Seit einigen Jahren würde Lia Eden ihre Botschaften nicht mehr veröffentlichen, auch wenn sie weiterhin Offenbarungen empfange. Gott habe sie aber angewiesen, Al Makin eine Einsicht in ihre Botschaften zu gewähren. Eine Botschaft beträfe beispielsweise den Rat der Islamischen Gelehrten Indonesiens/MUI, der sündhaft sei und keine Existenzberechtigung habe. Nach unseren Recherchen lassen sich seit 2012 weder die Webseite noch andere öffentliche Äußerungen oder Publikationen Lia Edens oder ihrer Gemeinschaft finden.
2. Gabriele Wittek: Prophetin eines erneuerten Christentums in Deutschland Während mit Lia Eden eine Neuoffenbarerin im Kontext einer islamischen Mehrheitsgesellschaft auftritt, die sich einerseits in die kulturelle Tradition stellt und andererseits eine vollkommene Restrukturierung der religiösen Landschaft fordert, die zu massiven religiösen Ausgrenzungen und gesellschaftlichen Sanktionierungen führen, möchten wir mit Gabriele Wittek und dem von ihr begründeten Universellen Leben (UL) eine entsprechende Fallstudie aus dem christlichem Kontext vorstellen, um in einem weiteren Schritt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu untersuchen.
2.1 Gabriele Wittek und das Universelle Leben (UL) Gabrielle Wittek, die Gründerin und Prophetin des Universellen Lebens (UL) wurde 1933 in Wertingen, einer Kleinstadt zwischen Augsburg und Dillingen in Bayern geboren und katholisch sozialisiert. Nach Heirat, Geburt einer Tochter und Umzug nach Würzburg, erlebte Wittek den Tod ihrer Mutter als Krise und besuchte in der Folge spiritistische Sitzungen, um Kontakt zu ihrer verstorbenen Mutter aufzunehmen.28
28 Hitziger, Weltuntergang bei Würzburg, 279.
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Ab ca. 1974, so ihre Wahrnehmung, offenbaren sich ihr Jesus Christus sowie der Geistlehrer „Bruder Emanuel“. Nach einer dreijährigen inneren Ausbildung durch Bruder Emanuel geht Wittek ab 1977 an die Öffentlichkeit, gründet das Heimholungswerk Jesu Christi und veröffentlicht erste Lehrbriefe, jeweils tituliert Geistiger Vortrag. Inspiration aus dem geistigen Reich, die in hektographierter Form verteilt werden. Überall in Deutschland entstehen Ortsgruppen, sogenannte „InnereGeist=Christus-Kirchen“, die sich in angemieteten Räumen trafen und dort gemeinsam den Offenbarungen der Prophetin von Tonbandkassetten lauschten. Ab 1987 wurden die verschickten Bänder von Direktübertragungen über Telefonleitungen abgelöst. Die lokalen Gruppen warben mit Ständen und Flugblättern um neue Anhänger, die zu den lokalen Gruppen eingeladen wurden. Der ausführliche Bericht von Michael Hitziger, der 17 Jahre mit der Gruppe lebte, macht deutlich, was damals faszinierte: Was mich, aber nach meinen Beobachtungen auch viele andere Anhänger der ‚frühen‘ Gabriele Wittek, am Heimholungswerk begeisterte, waren die Verkündigungen, dass ein authentisches, an der Bergpredigt orientiertes Christentum ohne Bindung an eine Institution gelebt werden könne, so wie es im Urchristentum gewesen sein soll.29
Die Lehre stellt eine Mischung aus biblischen Inhalten, theosophisch-fernöstlichem Gedankengut (wie z.B. den Glauben an Karma) sowie akuter Endzeiterwartung dar. Um die Lehren zu verwirklichen wird einerseits ein geistiger Schulungsweg in mehreren Schritten angeboten, die sich über mehrere Jahre hinziehen30, und andererseits die konkrete Unterstützung der Glaubensgemeinschaft erwartet. 1984 wurde das Heimholungswerk Jesu Christi in Universelles Leben umbenannt und die in Deutschland verstreut lebenden Anhänger wurden aufgefordert, in die Umgebung von Würzburg zu übersiedeln, um dort gemeinsam das Friedensreich aufzubauen. So heißt es 1983 in einer Offenbarung der Prophetin: Ich, der Herr, rufe die Meinen zur getreuen und selbstlosen Mithilfe auf, die Weltreligion und das Weltreich Jesu Christi aufzubauen, auf dass ein Weltreich werde, das von Mir regiert wird und in dem die Meinen auf Erden leben wir im Himmel, friedlich, harmonisch, zufrieden und glücklich.31
29 Ebd., 16. 30 Pöhlmann, Gott spricht wieder, 23. 31 Zitiert nach Hitziger, Weltuntergang bei Würzburg, 38.
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Eine Vielzahl von Anhängern folgte dem Aufruf und zog in die Umgebung von Würzburg, wo heute mehrere Tausend Anhänger in der Gemeinschaft nahe stehenden Betrieben arbeiten. Die Lehre des UL ist zunächst gekennzeichnet durch die göttliche Vollmacht, aus der Gabriele Wittek als Offenbarungsempfängerin spricht. Emanuel habe sie darauf vorbereitet. Die folgenden Zitate aus dem zentralen, über 1000 Seiten umfassenden Werk Witteks „Das ist mein Wort. Das Evangelium Jesu. Die Christusoffenbarung, welche die Welt nicht kennt“ zeigen den Anspruch der göttlichen Vollmacht: Ich bin dein Geistiger Lehrer Bruder Emanuel, und ich werde dich für das große, mächtige ‚Ich bin der Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit‘ vorbereiten, für das Prophetische Wort, das nie versiegt. Langsam und schlicht, mit Worten aus meinem einfachen Wortschatz, erklärte er [Emanuel] mir, dass das, was ich bis dahin als Katholikin glaubte, nicht Gottes Wort, nicht Gottes Wille ist. Er erklärte mir, dass das Gebet vom Herzen kommen, ja, dass das Gebet zur Sprache der Seele werden soll und dass ein Mensch, der den Namen ‚Jesus‘ in den Mund nimmt, auch ein Nachfolger des Jesus von Nazareth sein soll.
Die Botschaft Emanuels lautete: Der mächtige Geist, der bereits selbst in dich einspricht, möchte dich zu Seiner Prophetin ausbilden. Das Wort, das in dich einströmt, kommt aus dem Himmel. Es ist Gott, der Allmächtige, in Christus, Eurem Erlöser.32
Mit diesem Selbstverständnis als Prophetin Gottes gelten fortan alle Aussagen Witteks als göttlich inspiriert.
2.2 Reaktionen der gesellschaftlichen und religiösen Umwelt Ein Merkmal des Heimholungswerkes bzw. später Universellen Lebens ist die Massivität, mit der auf jede Art von Kritik juristisch reagiert wird. Die Rechtsanwälte des UL haben in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von kritischen Aussagen mit Unterlassungsklagen mit hohem Streitwert beantwortet. Der gemeinsame Tenor aller Klagen ist, dass eine neue religiöse Gemeinschaft aus religiösen Gründen verfolgt und diskriminiert werden soll. Der Staat, der mit den Großkirchen (evangelisch und katholisch) unter einer Decke stecke, wolle keine religiöse Konkurrenz. So wurde auch immer wieder die Unabhängigkeit von Richtern mit Befangenheitsanträgen in Frage gestellt, wenn diese Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche waren. 32 Alle Zitate aus Wittek: Das ist mein Wort, zit. nach Pöhlmann, Gott spricht wieder, 12.
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Wichtig ist es den Rechtsvertretern des UL immer wieder Aussagen zu unterbinden, die Formulierungen wählen, die das UL als Organ, als Religionsgemeinschaft, erscheinen lassen. Es wird immer wieder betont, das UL sei keine verfasste Religion, eine Mitgliedschaft sei nicht möglich. Es gebe nur dem UL nahe stehende Einzelpersonen. Was formaljuristisch richtig ist, nämlich dass es keine verfasste Mitgliedschaft gibt, ist in der Sache äußerst fragwürdig, da sich die Einzelnen natürlich als Anhänger der Gemeinschaft erleben und entsprechend verhalten. Doch die von Vertretern des UL mit den Großkirchen geführte Auseinandersetzung geht weit über die Abwehr von Vorwürfen hinaus. Im Gegenteil: die Kritik, bzw. der Kampf gegen die Großkirchen ist ein wichtiges inhaltliches Thema und damit Teil des Programms. Alfred Singer, der eine Übersicht zu diesem Thema gibt, spricht sogar von Kirchenhass.33 Nicht nur werden die Kirchen in vielen Schriften als unchristlich, korrupt und kriminell geschmäht, vielmehr hat das UL im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Aktivitäten initiiert, um gegen die Kirchen vorzugehen. Diese Auseinandersetzung wird als Kampf des David gegen Goliath bezeichnet. Interessanterweise ist es bei einer Reihe dieser Aktivitäten unklar, welche Impulse von Gabriele Wittek direkt kommen und welche aus ihrem engsten Umfeld. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen im Folgenden einige der Aktivitäten genannt werden, die zwar juristisch nicht erfolgreich waren, aber erhebliche Öffentlichkeit herstellten und Gerichte und Verwaltungen umfangreich beschäftigten. Auf Initiative von UL-Anhängern stellte der Anwalt des UL Dr. Christian Sailer beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Antrag, das Ministerium „möge bei der Prüfstelle für jugendgefährdende Schriften […] den Antrag stellen, die Bibel […] in die Liste der jugendgefährdenden aufzunehmen, solange darin kriminelle, grausame, lebensbedrohende und gegen die Menschwürde verstoßende Verhaltensweisen als gottgewollt oder verharmlosend dargestellt werden.“34 Eine von UL-Anhängern ca. 2002 gegründete Initiative „Ein Mahnmal für die Millionen Opfer der Kirche“35 möchte auf die Opfer der Kirchen hinweisen. Petra Duschner, die Sprecherin der Initiative wird auf der Webseite folgendermaßen zitiert: Zur Zeit meiner Nachforschungen [über die Verbrechen der Kirche] kam in den Nachrichten die Meldung, dass in Berlin ein Mahnmal für die Holocaust-Opfer errichtet werden soll, was ich eine sehr gute Sache finde. Man muss alles tun, damit sich dieser Abschnitt der deutschen Geschichte nicht wiederholt.
33 Singer, Gott ist aus der Kirche ausgetreten, 48–66. 34 Ebd., 52. 35 Vgl. http://kirchenopfer.de (letzter Zugriff 7.~10.~2013).
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Bei der Diskussion um das Holocaust-Mahnmahl musste ich immer auch an die Millionen Opfer der Kirche denken, die kaum im Bewusstsein der Bevölkerung sind. Auch hatte ich die Hetzreden Martin Luthers gegen die Juden gelesen, in denen er dazu aufruft, die Synagogen und Häuser der Juden niederzubrennen und die Juden zu verfolgen. Da sich die Nazis in ihrem Antisemitismus ausdrücklich auf Martin Luther bezogen, der in Hetzschriften zur Verfolgung der Juden aufrief, habe ich mich gefragt, ob nicht all die Holocaust-Opfer im Grunde auch indirekte Opfer der Kirche sind. Ich sprach also mit Freunden und Bekannten über diese Sache und wir sahen die Notwendigkeit, für die Kirchen-Opfer ein Mahnmahl zu errichten, damit sich solche Grausamkeit nie mehr wiederholen möge. So entstand die Initiative »Mahnmahl für die Opfer der Kirche«.36 [Hervorhebungen im Original]
Auf verschiedenen, von dem UL nahe stehenden Personen geführten, Webseiten, wird die Kirchenkritik inhaltlich mehr oder weniger sachlich ausgeführt. Zu nennen ist hier die inzwischen nicht mehr weiter geführte Seite www. revo.org, die sich an Jugendliche richtet sowie die Seite www.theologe.de, die sich als Online-Zeitschrift versteht. Die staatlichen Subventionen an die Großkirchen sowie die Kirchensteuer werden seit Jahren mit Plakaten, Flugschriften und Büchern angeprangert.37 Im Jahre 2009 beschäftigt eine dem UL nahe stehende Gruppe „Freie Christen für den Christus in allen Kulturen weltweit“ die Gerichte, indem sie die Katholische und die Evangelische Kirche Deutschland verklagte, mit dem Ziel ein Verbot zu erwirken, dass sich die Kirchen weiterhin „christlich“ nennen dürften. Die Klagen wurden ebenso abgewiesen wie die Befangenheitsanträge gegen die Richter (die ihre Konfession nicht offen legen wollten). Eindrucksvoll ist jedoch mit welcher Ausdauer und Hartnäckigkeit die Kläger diese Verfahren durch alle Instanzen führen.38 Was auffällt, ist, dass das UL, ganz anders als andere neu entstehende religiöse Bewegungen, nicht versucht, unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung Anhänger zu sammeln und die Gemeinschaft zu entwickeln, sondern von Anfang an der Kampf gegen die Großkirchen als Teil der Identität angesehen werden muss – ähnlich wie sich ja auch Lia Eden nicht scheut, die Nichtigkeit aller bisherigen Religionen breit zu propagieren.
3. Vergleich und Analyse Mit Gabriele Wittek und Lia Eden wurden zwei weibliche Neuoffenbarerinnen dargestellt, die in ihrem jeweiligen Kontext gleichermaßen einerseits an 36 Vgl. http://kirchenopfer.de/index.html (letzter Zugriff 7.~10.~2013). 37 Z.B. in der Broschüre „Regierung und Volk: Spart euch die Kirche“, 3. Aufl. 2005. 38 Zu den Details s. Singer, 2011, Gott ist aus der Kirche ausgetreten!, 60.
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die jeweils eigene kulturelle Tradition anknüpfen und andererseits durch ihren ausgeprägten Non-Konformismus in Bezug auf die vorherrschenden Strömungen, Konflikte mit der umgebenden Mehrheitsreligion nicht nur verursachen, sondern geradezu herausfordern. Im Folgenden zeigen wir einige Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede in der Dynamik der beiden Prophetinnen und ihrer Gemeinschaften auf. Sowohl Lia Eden als auch Gabriele Wittek entwickeln ihre Lehre aus der eigenen religiösen Tradition (Islam bzw. Christentum) heraus. Sie beziehen sich dabei auf immanente religiöse Muster und Vorstellungen (Prophetie, Verkündigung, Anknüpfung an spezifische religiöse Gestalten: Erzengel Gabriel). Auf dieser Basis betonen sie – auf der Grundlage des unmittelbaren Kontaktes zum Göttlichen – die bisherige Form des Islam bzw. Christentums zu vollenden bzw. zu den wahren und eigentlichen Ursprüngen zurückzuführen. Beide beziehen sich einerseits auf Prophetie als einen etablierten Bestandteil der religiösen Tradition, erweitern diese jedoch durch die jeweils spezifische, neue Botschaft, in deren Kern das göttliche Erwähltsein als Sprachrohr Gottes steht und mit einer neuen, einzig wahren Heilsbotschaft verbunden wird. Damit einher geht eine direkte und indirekte grundlegende Kritik an der etablierten Religion (den traditionelle islamischen Rechtsschulen und den institutionalisierten Religionen allgemein bzw. den christlichen Kirchen) als fehl geleitet und schuldig im Sinne einer falschen, misslungenen Umsetzung der göttlichen Botschaft. Diese Kritik führt beim Universellen Leben zu zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen gegen die Amtskirchen bis hin zur Initiative, die Bibel auf den Index der jugendgefährdenden Schriften zu setzen. Lia Eden dagegen verkündete öffentlich die Nutzlosigkeit der etablierten Religionen und propagierte deren Abschaffung. Dass sie damit den Zorn islamischer Gelehrter auf sich zog liegt auf der Hand. Während Lia Eden in diesem Sinne in Indonesien als tatsächliche religiöse Bedrohung wahrgenommen wird, wird das Universelle Leben in Deutschland nicht als religiöse Bedrohung wahrgenommen, sondern als (unbedeutende) „Sekte“, die zum einen von der lokalen Kirchengemeinde beobachtet wird,39 und über deren Entwicklung zum anderen regelmäßig die Evangelische Zentrale für Weltanschauungsfragen (EZW) berichtet.40 Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der gemeinschaftsbildenden Wirkung dieser charismatischen Prophetinnen. Beide gewannen zunehmend Anhänger, die im Falle von Lia Eden sogar in deren eigenem Haus zusammen wohnen. Im Falle von Gabriele Wittek wurden die Anhänger ermuntert, in die Umgebung von Würzburg zu ziehen, bzw. die Gemeinschaft konzipierte im 39 Vgl. http://www.michelrieth.de/ulsekte.htm (letzter Zugriff 7.~10.~2013). 40 Vgl. den Suchbegriff „Universelles Leben“ auf der Seite http://www.ekd.de/ezw/ (letzter Zugriff 7.~10.~2013).
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Stadtteil Heuchelhof eine eigene Siedlung für 300–500 Anhänger. Dies führte zu erbittertem Widerstand der lokalen Kirchen, Anwohner und Parteien, so dass die ursprünglichen Pläne nicht verwirklicht werden.41 Im formalen Sinne bestreiten beide Gruppierungen, eine eigenständige Religion zu sein. Das Universelle Leben ist organisatorisch nicht leicht zu fassen: organisiert im Kern als Verein, wirtschaftlich stark durch ein Geflecht von Wirtschaftsbetrieben und Anhängern geprägt, die zwar formal keine Mitglieder sind, durch ihre Arbeitskraft in den Betrieben aber zum Wachstum der Gemeinschaft beitragen. Auch die Gemeinschaft von Lia Eden sieht sich nicht vorrangig als neue Religion, sondern tritt als ideale, einzig wahre Lebensgemeinschaft an, in der die Strukturen und Legitimität herkömmlicher Religionen überwunden seien. Während beide Gruppierungen wiederholt in Rechtstreitigkeiten verwickelt waren, geht die Initiative dazu im Falle von Gabriele Wittek und dem Universellen Leben immer wieder von diesen selbst aus. Sie wollen auf rechtlichem Weg und mit Autorität der Gerichte die Legitimität der etablierten Religionsformen der evangelischen und der katholischen Kirche in Frage stellen. Lia Eden bleibt in dieser Hinsicht passiv, wird aber ihrerseits von Seiten des Staates wegen Verstoßes gegen das Blasphemie Gesetz angeklagt und von Vertretern des etablierten Islam, dem MUI, mit einer Fatwa belegt. Sie gilt als Häretikerin, die dann auch staatlicherseits mit einer Gefängnisstrafe sanktioniert wurde. Dem gegenüber genießt das Universelle Leben den Schutz des deutschen Rechtssystems und nutzt dieses für seine Zwecke.
4. Schlussbetrachtung und Fazit: Die vergleichende Betrachtung zweier ähnlicher Phänomene, nämlich prophetische Neuoffenbarung durch „einfache“ Frauen, die – in Abgrenzung zu ihrer jeweiligen Herkunftsreligion – göttliche Botschaften empfangen, die das Christentum in seiner konfessionellen Ausformung bzw. zentrale dogmatische Glaubensvorstellungen des Islam grundlegend in Frage stellen, lässt die Bedeutung des jeweiligen kulturellen Kontextes erkennen: Ob und inwieweit die herrschende Mehrheitsreligion bzw. staatliche Stellen religiöse Neuorientierungen als deviant und zu sanktionieren ansehen, wird insbesondere davon bestimmt, ob die rechtliche bzw. religiöse Ordnung als bedroht angesehen wird. Hier sind die Reaktionen im islamisch geprägten Indonesien deutlich heftiger als im pluralistisch liberalen Milieu der Bundesrepublik. Während die Lehren der Lia Eden als die gesellschaftliche und religiöse Ordnung gefähr41 Vgl. http://www.steinadler-schwefelgeruch.de/buch/kapitel-3–5.html aus der Sicht des UL (letzer Zugriff 7.~10.~2013).
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dende Blasphemie angesehen werden und entsprechend juristisch verfolgt werden, wird Gabriele Wittek zwar auf lokaler Ebene als kritisch angesehen und durch die Qualifizierung als „Sekte“ stigmatisiert, im Ganzen schwankt die gesellschaftliche Reaktion auf ihre Lehren aber zwischen Ignoranz und Pathologisierung. Die unterschiedlichen Reaktionen lassen sich nur im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Systeme verstehen. Der gesetzliche Rahmen für Religionsfreiheit in Indonesien findet seine Grenzen, wenn, wie hier, die islamische Religion angegriffen, als nicht mehr gültig erklärt wird und zentrale Glaubensvorstellungen (wie beispielsweise Mohammed als letzter gültiger Prophet) missachtet werden. Allerdings löste der Fall eine recht breite kontroverse öffentliche, auch akademische Debatte darüber aus, ob mit dem Gefängnisurteil gegen Lia Eden nicht auch gegen das geltende indonesische Recht der Religionsfreiheit verstoßen wurde. Ihre Unterstützer betonen, dass Lia Eden mit ihrer überwiegend als nonkonform wahrgenommen Haltung an lokale Traditionen anknüpft, die sonst nicht als deviant empfunden werden. Der gesetzliche Rahmen für Religionsfreiheit in Deutschland lässt die Offenbarungen von Gabriele Wittek als Freiheit für individuelle Glaubensäußerungen zu; eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihren Lehren findet nicht wirklich statt. Verstehen wir die Neuoffenbarungen als Ausdruck gesellschaftlich vorhandenen Unbehagens mit herrschenden Traditionen (der einerseits auf der historischen Tradition des Prophetismus fußt und andererseits in neue globale, kosmopolitische religiöse Formierungen mündet), so ist es spannend zu sehen, dass die Abgrenzung und Infragestellung der herrschenden Religion nicht durch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit spezifischen Doktrinen vorgenommen wird, sondern dass im „Schutzraum“ der Neuoffenbarungen – legitimiert durch die direkte göttliche Intervention – Kritik einerseits und Innovation andererseits untergebracht werden können. Spannend, wie bei allen religiösen Neugründungen, bleibt die Frage nach überdauernden Wirkungen. Was wird nach dem Tod der Gründerinnen aus Lehre und Gemeinschaft? Wird es eine Nachfolgeregelung geben und wie wird diese möglicherweise aussehen? Welche Streitigkeiten sind zu erwarten? Oder wird es zu einem Verschwinden der Gemeinschaften kommen, möglicherweise zu einer Integration einiger ihrer Lehren? Im Falle von Gabriele Wittek ist zu sagen, dass sie schon lange nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen wurde und wohl ein kleiner, sie umgebender Kreis die Angelegenheiten der Gemeinschaft verwaltet und bestimmt. Bei Lia Eden scheint die Entwicklung in eine ähnliche Richtung zu gehen. In beiden Fällen kann somit von einer personengebundenen, temporären Nonkonformität gesprochen werden. Damit wird deutlich, dass erst die Kontextualisierung religiöser Phänomene im Spannungsgefüge der umgebenden Kultur, Tradition und Mehrheitsreligion die Wahrnehmung von Konformität, Nonkonformität und Devianz sichtbar macht.
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Edith Franke, Sebastian Murken
Literatur Al Makin, Pluralism versus Islamic Orthodoxy: Public Debate over Lia Aminuddin, Founder of Salamullah Religious Cult, in: Th. J. Conners u.a. (Hg.), Social justice and rule of law: Adressing the growth of a pluralist Indonesian demoracy, Yale Indonesia Forum: International Conference Book Series, o.J., 187–205. Arifin, Saru, Law enforcement on blasphemy offense. Study case on Lia Eden Community, Yusman Roy and Ahmadiyah, Jurnal Millah (Jurnal Studi Agama), 7, 2, 2008, 1–17. Assyaukanie, Luthfi, Fatwa and Violence in Indonesia, Journal of Religion and Society 1, 2009, 1–21. Diemling, Patrick, Neuoffenbarungen: Religionswissenschaftliche Perspektiven auf Texte und Medien des 19. und 20. Jahrhunderts, Potsdam 2012. Ebach, Jürgen, Prophetismus, HrwG 4, 347–359. Franke, Edith, Einheit in der Vielfalt: Strukturen, Bedingungen und Alltag religiöser Pluralität in Indonesien, Wiesbaden 2012. Hitziger, Michael, Weltuntergang bei Würzburg: Ein Aussteiger berichtet von siebzehn Jahren in der Sekte Universelles Leben der Prophetin Gabriele Wittek, Berlin 2008. Hoesterey, James B., Prophetic Cosmopolitanism: Islam, Pop Psychology, and Civic Virtue in Indonesia, City and Society 24/1, 2012, 38–61. Howell, Julia Say, Muslims, the New Age and Marginal Religions in Indonesia: Changing Meanings of Religious Pluralism, Social Compass 52/4, 2005, 473–493. Pöhlmann, Matthias, „Gott spricht wieder“: Gabriele Wittek und die neuen Offenbarungen des Universellen Lebens., in: M. Pöhlmann (Hg.), Universelles Leben: Beiträge zu einer umstrittenen Neureligion, EZW-Texte 213, Berlin 2011, 9–26. Universelles Leben (Hg.), Das ist mein Wort. Das A und ?. Das Evangelium Jesu. Die Christus-Offenbarung, welche inzwischen die wahren Christen in aller Welt kennen, Marktheidenfeld 52008. Schumann, Olaf, Staat und Gesellschaft im heutigen Indonesien, Die Welt des Islams, n. s., 33/2, 1993, 182–218. Seiwert, Hubert, Wilde Religionen. Religiöser Nonkonformismus, kulturelle Dynamik und Säkularisierung in China, in: Edith Franke (Hg.), Religiöse Minderheiten und gesellschaftlicher Wandel, Wiesbaden 2014, 11–27. Singer, Alfred, „‚Gott ist aus der Kirche ausgetreten!‘? Zur Kirchenkritik des Universellen Lebens“, in: M. Pöhlmann (Hg.), Universelles Leben: Beiträge zu einer umstrittenen Neureligion, EZW-Texte 213, Berlin 2011, 48–66. Woodward, Mark, Java, Indonesia and Islam, Dordrecht u.a. 2011.
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Heinz Mürmel
„Die Religion liegt im Blut“ – sächsisch-arische Konzepte der Kaiserzeit Kurze Bemerkungen zur „arischen Lebensreform“ Ekkehard Hieronimus1 setzt die Reichsgründung im Jahre 1871 als einen markanten Wendepunkt für die völkisch-religiöse Bewegung an, wobei jene eine tiefgehende Wende erlebt habe: Pangermanismus, Antisemitismus und „und ein immer mehr an Gewicht gewinnender Sozialdarwinismus“2 seien in bestimmten Kreisen dieser Bewegungen eine Symbiose eingegangen, die „die Möglichkeit der Aufzucht – genauer: Rückzucht – einer reinen germanischnordischen Rasse als zukünftiger Trägerin des Deutschtums als realisierbar erscheinen“ lasse. Einige Protagonisten einer so definierten „artgerechten Religion“ agierten auch im sächsischen Raum: der aus dem Zittauer Raum stammende und – neben einer Reihe weiterer Reformprojekte – auch am „Projekt Gartenstadt Hellerau“3 maßgeblich beteiligte Bruno Tanzmann4, der Leipziger „Antisemitenpapst“ und Verleger Theodor Fritsch5 sowie Willibald Hentschel6, ein Biologe und einstiger Assistent Haeckels in Jena, der sein „Fachwissen“ sowie sein unbändiges Engagement einbrachte. In diesem Beitrag nicht behandelt werden soll der in unmittelbarer Nähe von Sachsen, in Artern, geborene, gleichfalls „multipel deviante“ Reformer Richard Ungewitter7, der vorwiegend im südwestdeutschen Raum wirkte. So sehr man Hieronimus zustimmen kann und muß, dass aus dieser „dreieinigen“ Symbiose, zu der, wie er gleichfalls angibt, sich noch eine „metaphysische Weihe“ gesellt, so scheint es wichtig zu sein, dieser ganzen „Bewegung“ einen weiteren Rahmen zu geben: den der „arischen Lebensreform“. 1 Hieronimus, Religiosität, 159–160. 2 Ebd., 160. Vgl. Weickart, From Darwin. 3 Zuletzt Nitschke, Geschichte. Dieses Buch beruht auf dessen Dissertation „Die Gartenstadt Hellerau“. 4 Biographisches bei: Brepohl, Tanzmann; Piefel, Tanzmann. 5 Fritsch publizierte auch vielfach unter den Pseudonymen Thomas Frey, Ferdinand RoderichStoltheim, Fritz Thor. Aus der zahlreichen Literatur hier nur Schubert, Gartenstadtidee; Herzog, Zeitschrift ‚Hammer‘; Bönisch, Hammer-Bewegung; vgl. aber auch (vom angeblich unehelichen Sohn Fritschs) Kramer, Ein totgeschwiegener Führer. 6 Hier nur Löwenberg, Hentschel; Pelger, Hentschel. 7 Ungewitter wirkte wie die oben genannten Autoren auf vielen Feldern, da er wie diese nur einen ganzheitlichen Ansatz für erfolgversprechend hielt. Weiten Kreisen wurde er durch seinen naturheilkundlichen und freikörperkulturbasierten Ansatz bekannt. Seine rassezüchterischen Beiträge waren jedoch gleichfalls von erheblicher Bedeutung. Vgl. Ungewitter, Nacktheit; ders., Kultur; ders., Deutschlands; ders., Judenknechtschaft; ders., Entartung.
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Heinz Mürmel
Mit anderen Worten: der Idee einer „artgerechten Haltung der Arier“ Beachtung zu schenken, was in der Literatur bisher kaum gewürdigt worden ist. Diese „arische Lebensreform“, die zu einer „artgerechten Haltung“ führen sollte, umfasst sehr viele Aspekte: neben einem Entwurf, was eine „artgerechte Religion“, mithin also eine „arische Religion“, sein könne, womit in Europa und Nordamerika Judentum und weitgehend auch Christentum auszuscheiden seien – Ansätze von einem arisierten Christentum8 wurden von allen möglichen Seiten (völkischer wie „kirchenchristlicher“) bekämpft und setzten sich nicht durch. Selbstredend musste die „artgerechte Religion“ von allgemeinen „artgerechten Lebensbedingungen“ (man ist versucht zu sagen: ‚Haltungsbedingungen‘) flankiert werden. So kommt es auch hier zum Phänomen der „multiplen Devianz“: man ist gleichzeitig nebeneinander Vegetarier, Impfgegner (Impfen sei eine Erfindung der „jüdischen Pharmaindustrie“ und der jüdischen Ärzte – wegen der zu erwartenden Einnahmen – und zugleich sei die ‚Minderung des arischen Rassenwertes‘ durch die gesteigerten Überlebenschancen von ‚Minderwertigen‘ intendiert), Tierschützer (vgl. die enorme Diskussion um das Schächten von Tieren), Schulreformer (‚Entjudung‘ bzw. ‚Entchristlichung‘ der Schulen) – in diesem Sinne hatte Bruno Tanzmann seine Volkshochschulkonzeption entwickelt9) –, Bekleidungsreformer (zur Überwindung „dekadenter“ bzw. „entarteter“, vor allem französischer, Mode, die den Frauenkörper, etwa durch Einschnüren, deformiere und fortpflanzungshindernd wirke), FKK-Anhänger (zur Überwindung der „prüden christlichen Moralvorstellungen)“10. Zugleich wurde hervorgehoben, dass sich nur hier |8 Vgl. Dinters Entwürfe: Evangelium [ein „entjudetes“ NT, wie es kurz später nochmals vom Eisenacher „Institut zur Erforschung (und Beseitigung) des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“, gegründet 1939, unternommen worden ist.]; ders., Entjudung; ders., War Jesus Jude? Letzteres Werk hat die bezeichnende Widmung: „Frau Eva Chamberlain, geb. Wagner [die Tochter Richard Wagners] in hoher und herzlicher Verehrung“. Siehe auch: Radmüller, Germanisierung. |9 Tanzmann, Volks-Hochschul-Gemeinde. 10 Vgl. Ungewitter, Nacktheit. Aus dem Vorwort, 6: „Unser Gedanken- und Ideenkreis weitet sich, neue Ideale scheiden sich als lauteres Gold von den Schlacken früherer Denkströmungen. ²Eine Umwälzung auf allen Geistesgebieten muß die Folge sein, und wir befinden uns im Übergange vom alten zum neuen Glauben. … Frei und offen werden heue Sachen besprochen, die in der ‚guten alten Zeit‘ als unantastbare Einrichtungen und Anschauungen – sehr zum Schaden unseres Geschlechtes – mit dem Mantel der Scheinheiligkeit und Sittenheuchelei umgeben, so recht üppig unter dem Schutze der Nacht gedeihen und viele ins Verderben reißen konnten. Hier muß kräftig zugefasst werden, um den stinkenden Sumpf, in den die ‚Krone der Schöpfung‘ hineingeraten, bis auf den Grund auszuschöpfen. Nicht vorwurfsfrei darf die Kirche bleiben, die den „nackten“ Körper als etwas S ü n d h a f t e s bezeichnete und damit die Verachtung des Fleisches predigte, wobei nicht nur der Körper verkümmerte und dahinsiechte als armer Geächteter, sondern auch der Geist in Fesseln geschlagen und durch starre Dogmen in seinem kühnen Fluge gehemmt, das Suchen nach Wahrheit erschwert wurde. ²Das Handwerk der Sittenheuchler und Moralprediger, die infolge e i g e n e r Unsittlichkeit bei anderen d e n s e l b e n Schmutz voraussetzen, muß gelegt werden. Freie, dem gesunden Empfinden entspringende sittlich-reine n a t ü r l i c h e Anschauungen müssen an deren Stelle treten als die gewaltigsten Triebkräfte unserer körperlichen und geistigen Höherentwicklung …“
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[beschnittene] Juden nicht „einschleichen“ könnten bzw. Körperkulturisten (gute physische Voraussetzungen seien Vorbedingung für geistig-seelische Stärke). Man erinnert in diesem Zusammenhang oft an die alten, arischen Römer und deren Grundsatz: „mens sana in corpore sano“, Bodenreformer und Großstadtflüchter (da die Großstadt sittlich und physisch, jedenfalls in den Arbeiterquartieren, verheerend wirke – Fritsch hatte in diesem Sinne bereits 1896 sein „Gartenstadtkonzept“ entwickelt11 – und auch Bestattungsreformer (die gute alte „arische“ Feuerbestattung wird vehement propagiert). Diese Liste ließe sich fortsetzen. Dieser multipler Ansatz muß vor allem deswegen betont werden, weil sich am Stellenwert der einzelnen Facetten innerhalb der arischen Lebensreformbewegung erhebliche Debatten entzündeten und weil gerade die „Rassezüchter“ unter den „arischen Lebensreformern“ neben dem grundlegenden Zuchtaspekt „unterstützende Maßnahmen“ als unverzichtbar ansahen. Als religiöse „arische“ Angebote kamen vor allem zunächst „östliche Importe“ aus der (gedachten) Heimat der Arier in Frage: Neohinduismus / Neovedanta, (Neo-)Buddhismus,12 Neo-Parsismus / Mazdaznan. Als große arische Propheten galten diesen Kreisen weithin der Buddha bzw. Zarathustra und als Quellen für einen solchen Import Avesta, Veda und Tripitaka. Einen frühen Dämpfer erhielt diese „Ostbegeisterung“ (ex oriente lux) von Houston Stewart Chamberlain, Richard Wagners Schwiegersohn, der auf die Szene einen starken Einfluss auszuüben vermochte.13 Man denke etwa an dessen Statement, dass der „Buddhismus unarisch sei“.14 Aber das ist ein Ansatz, der sich zunächst noch nicht entscheidend durchsetzen konnte, wenngleich er und ähnliche Einschätzungen dieser Art das Terrain für eine neue Sicht bereitete. Man muss aber zeitlich noch weiter zurückgehen, um diese „Osteuphorie“ auf religiösem Gebiet begreifen zu können. Eine Türöffnerfunktion für diesen „Einfall des [arischen] Ostens“ hatte die Theosophie ausgeübt – vor allem durch das Wirken Madame Blavatskys und des Colonel Olcott. In ihrer „Geheimlehre“15 entwickelt Frau Blavatsky eine Kosmologie bzw. Anthropologie, die der „arischen Rasse“, wie immer diese auch von ihr verstanden wurde, eine besondere Rolle zuwies. Da der Stammbaum der gegenwärtigen Fünften Menschheit, der der Vierten, der Ārya-Atlantier sei, meinten nicht wenige deutsche Theosophen (und nicht nur die), dass es zweckmäßig sei, 11 Fritsch, Stadt; vgl. auch ders., Freilandsiedlung. 12 Vgl. Mürmel, Arisches Leipzig. Zur buddhistischen Facette der „arischen Lebensreform“; ders., Buddhismus und Theosophie; ders., Beginn; Tischer, Einst suchte ich; Albrecht, Mit Hund und Esel. Zum Umfeld: Mürmel, Leipzig, Carl Huter; ders./Edenheiser, Okkulte Kräfte; Gross, Gottesmutterschaft.; dies., Huter. 13 Vgl. vor allem Chamberlain, Grundlagen (1919 erschien bereits die 13. Auflage, 1938 die 23.!) und ders., Arische Weltanschauung (5. Aufl., 1920). 14 Chamberlain, Arische Weltanschauung, 34–39. Kapitel: „Der Buddhismus ist unarisch“. 15 Blavatsky, Secret Doctrine; deutsche Ausgabe: Geheimlehre. Olcott, Katechismus. Es existieren weitere deutsche Ausgaben des Olcottschen Katechismus.
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auch „arisch“ zu leben. Colonel Olcott wirkte in seinem antichristlichen und probuddhistischen Wirken auf Ceylon Hand in Hand mit der erwachenden buddhistischen Erneuerungsbewegung gleichfalls „proarisch“ auf die europäischen und speziell deutschen Theravāda-Rezipienten. So ist es in der Tat kein Zufall, dass die Titelei einer deutschen Übersetzung des Olcott’schen „Buddhistischen Katechismus“ ein großes Hakenkreuz aufweist (das sich übrigens häufig in deutschen buddhistischen Publikationen vor allem bis zum 1. Weltkrieg finden lässt und dessen Gebrauch zu Kontroversen mit den Deutschvölkischen führte). Verhängnisvoll für die „arischen Ostimporte“ wirkte sich der Ausbruch des 1. Weltkrieges im August 1914 aus: die Hauptquartiere der diesbezüglichen Bewegungen lagen alle in „Feindesland“ und es gab gerade auch unter den deutsch-völkischen bzw. den zum Teil mit ihnen verbundenen okkulten Buddhismus-Konkurrenten Angriffe, die unterstellten, die deutschen Zweiggesellschaften seien Tarnorganisationen feindlicher Geheimdienste. Die Theosophen fielen unter diesen Verdacht (Hauptquartiere: New York, Madras), die Neo-Hindus (Ārya Samāj: Bombay), Neobuddhisten (Mahā Bodhi Scociety: Colombo, Calcutta) wie auch Mazdaznan (Chicago). Wichtige Repräsentanten dieser Bewegung in Deutschland, die nicht deutsche, sondern „feindliche Staatsbürger“ waren, wurden aus Deutschland ausgewiesen. So der buddhistische Führer, der die Kontakte nach Ceylon hielt, Karl Theodor / Charles Theodor Strauss16 und für die Mazadaznan-Bewegung ihr Repräsentant für Deutschland David Amman, letzterer noch vor Kriegsausbruch.17 Von dieser Situation erholten sich die betroffenen Bewegungen in Deutschland kaum. Die Stunde der Deutschvölkischen unter den arischen Lebensreformern war gekommen. Es sei nur kurz darauf verwiesen, dass ähnliche Überlegungen und Bewegungen keine „deutsche Angelegenheit“ war. Die Rassenfrage wurde weithin diskutiert: in Europa, Nordamerika und auch in Südasien (in Indien etwa stark inspiriert durch den „Ārya Samāj, in Ceylon durch die Führer der Mahā Bodhi Society18): immer spielten Ungleichheit der Rassen und eine dies in Rechnung 16 Strauss war am 26.~9.~1893 als erster „Weißer“ und wohl auch Jude auf dem Weltparlament der Religionen in Chicago Buddhist geworden. Der große singhalesische Reformer, der Anagārika Dharmapāla, der ihn dazu bewog, stand seitdem in ständigem Kontakt mit Strauss. Strauss war 1908 (?) von New York nach Leipzig übergesiedelt. Zu dessen Übertritt zum Buddhismus vgl. Fields, How the swans. 17 Ammann leitete zusammen mit seiner Frau Frieda ab 1907 in Leipzig den Aufbau der Mazdaznan-Bewegung. Er war bereits im Mai 1914 ausgewiesen worden. Eine außergewöhnlich gehässige Darstellung von diesem und der Bewegung, die er vertritt, findet sich beim extrem deutsch-völkisch orientierten Leipziger Theosophen-Führer und Verleger Vollrath; vgl. ders., Kurze Bemerkungen. Zu „Blut und Rasse“ bei Ammann; siehe ders., Rasse der Zukunft. Die ersten beiden Auflagen waren nach einer Angabe in der 3. Auflage innerhalb von 6 Tagen ausverkauft. 18 Dharmapālas antisemitische, d.h. hier antichristliche bzw. antimoslemische Ausfälle konnten sehr bemerkenswerte Schärfe annehmen. Ein vehement antichristliches Stück aus dem Jahre 1922: Repenting God of Horeb.
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zu stellen habende „artgemäße Lebensweise“ eine wichtige Rolle. Dabei stand für die meisten der am „Ariertum“ Interessierten (zu den Ausnahmen – arisiertes Christentum – siehe oben) fest, dass „Semitisches“ nicht „artgemäß“ sei. In Europa und Nordamerika bedeutete dies im Normalfall die Zurückweisung von Judentum und Christentum, in Südasien die Zurückweisung von Christentum und Islam (mangels „jüdischer Massen“ fallen diese als Objekte der Agitation zumeist weg). Für die diesbezügliche Entwicklung in Europa soll nur ganz kurz auf die Situation in Frankreich eingegangen werden. Seit Gobineaus „Essai sur l’inégalité des races humaines“19 wuchs die Zahl derer, die Rassen-ungleichheit entweder aus ideologischen, soziologisch-historischen oder biologischen Gründen für evident hielten. Dabei waren die Biologen / Anthropologen davon überzeugt, dass es sich bei dieser Einschätzung eben nicht um Ideologie handele, sondern „reine Naturwissenschaft“. In Frankreich muss man in dieser Hinsicht unbedingt auf Vacher de Lapouge20 hinweisen. Zahlreiche Veröffentlichungen berühren unsere Thematik, die für sein Schaffen zentral wird.21 Kurz: es soll angedeutet werden, dass es auch eine „arische Internationale“ bzw. „eingeschränkter“ eine „blonde Internationale“ gab.22 Von den drei zu Beginn genannten sächsischen Akteuren braucht Bruno Tanzmann nur kurz berührt zu werden. Wie manche der in der völkischgermanisch-nordischen Bewegung „Gelandeten“ hatte auch Tanzmann anfangs eine indische (wie andere eine buddhistische) Phase. Sein Lebenswerk in Hellerau, eine arische Siedlung23 zu schaffen, war durch seine Frontzeit im 1. Weltkrieg zusammengebrochen: seine nicht-arisch gesinnten Kontrahenten hatten das Heft in die Hand genommen. Tanzmann wandte sich einem neuen arisch-deutschvölkischen Siedlungs-Projekt zu, den Artamanen, bei denen er aber, im Gegensatz zu Willibald Hentschel, keine herausragende Rolle mehr spielte.24 19 Gobineau, Essai; deutsch vom Rasseanthropologen Schemann unter dem Titel: Versuch. Ein längerer (XVI, 108 Seiten) Auszug aus diesem Werk erschien noch 1935 unter dem Titel: Der arische Mensch, mit einem Vorwort von Richard Wagner. 20 Man gewinnt den Eindruck, dass die Durkheimianer nicht unbedeutende Teile ihres Soziologieentwurfes gerade gegen Lapouge entwickelt haben. Um 1900 stand man in erbitterter Fehde miteinander. Lapouge hatte eine breite deutsche Anhängerschaft: W. St. Chamberlain, L. Schemann, F. K Günther, O. Ammon. 21 Lapouge; Sélections sociales ; ders., L’Aryen ; ders., Race; auf Deutsch erschienen ist: ders., Arier. 22 Vgl. Kühl, Internationale, vor allem 66–70: „Von der ‚blonden Internationale‘ bis zum ‚Rassenbund europäischer Völker‘“. Den Begriff „blonde Internationale“ prägte Lenz. 23 Zum „Indischen“ siehe in seinem poetischen Werk „Vor dem Angesicht“, im Kapitel 11: „Der Leineweber und die Upanischaden“ (Bd. 1, 36–43).Vgl. zum Siedlungsprojekt: Tanzmann, Handbuch. Darin: ders., „Entwurf eines deutschen Siedlungswerkes“, 80–83. 24 Mitglieder bei den Artamanen waren u.a. Heinrich Himmler, der spätere Reichsbauernführer Richard Walther Darré und der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß. Zu den ersten 10 Jahren dieser Organisation siehe die einseitige Selbstdarstellung Rosenberg, Zehn Jahre. Vgl. auch Hoffmann, Artam.
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So sei im folgenden auf das „Menschenzuchtprogramm“ eingegangen, das Fritsch und Hentschel zusammen entwickelten und, das bleibt singulär, auch in die Tat umsetzten.25 Da die Zahl der Publikationen über die völkischen Bewegungen in letzter Zeit stark zugenommen hat,26 ist die Beschränkung auf die Vorbereitungen zur Rassezuchtsiedlung „Heimland“ leicht zu verschmerzen. Innerhalb der arisch-deutschvölkisch religiösen Erneuerungsbewegung gab es sehr heterogene Entwürfe. Diese reichten vom Konzept, die neue „artgemäße“ Religion auf alte Dokumente, etwa die Edda zu begründen, bis hin zu einer neu zu schaffenden „Germanen-Bibel“ als Grunddokument27 (In der „Jung-Germanen-Bibel“ sind als deutsch-völkische Seher28 / Propheten, die gewissermaßen „aus ihrem Blut heraus“ die arische, bzw. nordische oder germanische Religion verkünden u.a. angeführt: ‚Volkslieder‘, ‚Märchen‘, Goethe, Schiller, Chamisso, Körner, v. Fallersleben, Lenau, Freiligrath, Reuter, Storm, Fontane, C. F. Meyer, Liliencron, Hans v. Wolzogen, Löns) bzw. bis zum Entwurf „artgemäße“ Religion auf „reingezüchtetes Blut“ zu gründen. Willibald Hentschel und Theodor Fritsch sind überzeugt, dass es zu einer artgemäßen allgemeinen wie religiösen Erneuerung nur kommen könne, wenn die „mentale“ mit einer biologisch-züchterischen Hand in Hand gehe. Beide entwickeln ein Programm, das beiden Aspekten Rechnung trägt. Fritsch widmet sich vor allem dem Kampf gegen „artfremde“, d.h. für ihn „semitische“, Einflüsse auf allen möglichen Gebieten, Hentschel bringt vor allem seine biologische Kompetenz ein.29 Die Mobilisierung antisemitischer Gefühle sollte, abgesehen davon, dass Fritsch von der Notwendigkeit der „Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das öffentliche und religiöse Leben“ absolut überzeugt war, zugleich breitere Kreise ansprechen und gewinnen, die dem „Zuchtziel“ eher skeptisch gegenüberstanden.
25 Später wurde die abgewandelte Idee im „Lebensborn“ aufgenommen. 26 Cancik, Religions- und Geistesgeschichte; Puschner/Schmitz/Ulbricht, Handbuch; Kühl, Internationale der Rassisten; Kaupen-Hass/Saller, Wissenschaftlicher Rassismus; Puschner, Völkische Bewegung; Schnurbein, Ulbricht, Völkische Religion [U. a. mit Ulbricht, … gottfremde, prophetenlose Zeit; Heinemann, Rasse; Cancik, Puschner, Antisemitismus; Geulen, Wahlverwandte; Goodrick-Clarke, Wurzeln; Schmitz/Vollnhals, Völkische Bewegung; Puschner/Großmann, Völkisch und national; Puschner/Vollnhals, Völkisch-nationale Bewegung. 27 Schwaner, Germanen-Bibel; ders., Jung-Germanen-Bibel. 28 Zum geläufigen Topos „Seher“ bzw. „Seherin“ in diesem Umfeld siehe die Passagen des Freundes des Leiters vom SS-Ahnenerbe, Wolfram Sievers und Ernst Jüngers, Friedrich Hielscher, der selbst als Religionsstifter agierte. Hielscher beschreibt dies in seiner Autobiographie „Fünfzig Jahre unter Deutschen“, Hamburg 1954, mit Passagen zum „germanischen Seher“ Herman(n) Wirth bzw. dessen Frau und deren Tochter sehr prägnant. Vgl. den Abschnitt „Doberan“, S. 288– 294. 29 Er hatte in Jena bei Haeckel studiert, promoviert und war auch kurz als dessen Assistent tätig.
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„Die Religion liegt im Blut“
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Fritsch30 hatte sich deutschlandweit einen Ruf als antisemitischer Autor erworben. Aus den zahlreichen diesbezüglichen Veröffentlichungen seien folgende hervorgehoben: der „Antisemitenkatechismus“, der zwischen 1887 und 1893 25 Auflagen erlebte und dessen Neuausgabe mit veränderter Zielstellung als „Handbuch der Judenfrage“ ab 190731 erschien, dem zahlreiche oft z.T. stark überarbeitete Nachauflagen folgten.32 Von großem Einfluß auf die antisemitische Bewegung sollte Fritschs Zeitschrift „Hammer“ werden, die ab 1902 erschien.33 Fritsch führte auch den primär antisemitisch ausgerichteten „Hammer-Verlag“ in Leipzig, in dem zahlreiche Schriften von ihm selbst erschienen. Einige wenige seien genannt: „Zur Bekämpfung zweitausendjähriger Irrthümer“ (1886), „Anti-Semit oder Judenschimpfer?“ (1904), „Religiöse und soziale Nöte“ (1904), „Die Kultur der Entarteten“ (1905),34 „Wie ist die Judenfrage zu lösen?“ (1907), „Mein Beweismaterial gegen Jahwe“ (1911), „Geistige Unterjochung“ (1913), „Was lehrt der Talmud?“ (1919),35 „Der Kern der Judenfrage“ (1919), „Ursprung und Wesen des Judentums. Hebräische Praxis (Der Kahal)“ (1919), „Die Protokolle Zions. Das Programm der internationalen Geheimregierung. Mit einem Schlusswort von Theodor Fritsch“ (1924). Diese Schriften erregten weites Aufsehen und brachten ihm diverse Prozesse und Verurteilungen ein (1894, 1895, 1911, 1920, 1923). Mit dem Projekt der „Schaffung eines neuen Menschen“, das die Nöte der „Entartung“ lösen sollte beschäftigen sich vorwiegend Fritschs nachfolgend angeführten Arbeiten: „Der neue Glaube. Eine praktische Lebens-Philosophie und vernunftgemäße Sittenlehre“ (1904), „Erneuerungs-Gedanken“ (1908), „Die Erneuerungsgemeinde“ (1908), „Rassenfrage und Erneuerungsgemeinde“ (1908). Man kann um das Jahr 1904 für Fritsch, aber auch für Hentschel, auf den noch einzugehen sein wird, eine gewisse Zäsur ansetzen Dies schlägt sich in der Gründung der „Deutschen Erneuerungs-Gemeinde“, die die von Fritsch und Hentschel propagierten Ziele umsetzen soll, nieder. Mit der Gründung der „Rassezuchtsiedlung“ „Heimland“ in der Nähe von Rheinsberg (Brandenburg) 1908 folgt der Theorie die Tat. Im „Hammerflugblatt“ Nummer 243 30 Aus der zahlreichen Literatur über diesen „Antisemitenpapst“, oder wie ihn Piefel tituliert „antisemitischen Praeceptor Germaniae“; siehe zuletzt Piefel, Antisemitismus, vgl. auch: Bönisch, Hammer-Bewgung. 31 Irritierenderweise führt das „Handbuch“ die Auflagenzählung des „Antisemitenkatechismus“ fort, so dass die 1. Auflage des „Handbuches“ als 26. erscheint. 32 271910, 281919, 291923, 311932, 341933 (dem Todesjahr von Fritsch), 491944. 33 Zur Vorgeschichte siehe Fritsch, Entstehungszeit und Hentschel, Wie der Hammer entstand. 34 Fritsch schreibt dort (226): „Unsere Kultur ist nicht mehr deutsch, nicht mehr arisch, nicht mehr germanisch; sie ist eher orientalisch – asiatisch. Wir sind unterlegen gegen eine fremde Geistesmacht. Wir haben uns im Lebenskampfe auf ein Gebiet drängen lassen auf dem der Deutsche, der Germane schlecht zu Hause war und darum sicher unterliegen und der Asiate, der Chinese, der Semit, der Chasare sicher obsiegen musste.“ 35 Mit folgendem Eintrag auf Seite 1: „Vertraulich! Abzug für Mitarbeiter. Veröffentlichung im „Hammer“ von der Zensur als ‚zur Zeit nicht erwünscht‘ bezeichnet.“
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(1920) ruft Thor/Fritsch in einem dreiseitigen Pamphlet zu einer noch dringlicher gewordenen Erneuerung dieses Projektes nach dem Zusammenbruch des Weltkrieges auf. Er beginnt den Aufruf wie folgt: Wo soll der Wiederaufbau unseres zusammengebrochenen Volkstums beginnen? Uns dünkt: beim Innersten – bei der Seele. Geht unsere Niederlage nicht letzten Endes darauf zurück, dass unser Volk in seinem innersten Wesen verwirrt – zerspalten – zerrüttet – verwüstet und verwildert war?
In diesem Zusammenhang kommt er auch auf das Projekt von 1904 zu sprechen: Ansätze zu einer sittlich-religiösen Erneuerung sind in den letzten Jahrzehnten mehrfach unternommen worden. Es ist manches Treffliche dabei zutage gefördert, zu einer durchgreifenden Bewegung aber kam es noch nicht. Unter anderem hat eine ‚Deutsche Erneuerungs-Gemeinde‘ (Sitz Leipzig) im Jahre 1904 Leitsätze aufgestellt, die einem fortgeschrittenen neuzeitlichen Denken gerecht werden und das ganze Gebiet der heutigen geisteswissenschaftlichen Einsichten umfassen. Von der vernunftgemäßen Lebensweise, der Bedeutung der Bodenkultur und Bodenfrage, der Abwendung von einem rohen Materialismus und Mammonismus, der Erneuerung des Schul- und Erziehungswesens bis zur Erkenntnis des Rassetums und der züchterischen Auslese sind hier alle tieferen Probleme unserer Zeit erfasst und in harmonischen Zusammenhang gebracht. … Die neue Lehre gibt dem Menschen wieder Vertrauen zu sich und seinem Geschlechte; sie lehnt es ab, ihn als einen unverbesserlichen Sünder zu verleumden; sie fußt darauf, dass in allen Wohlgezeugten der Wille zum Guten und die Sehnsucht zur Läuterung lebendig ist.36 [Hervorh.M.]
Maßgeblich beteiligt am Projekt, vor allem an dessen „züchterischer“ Seite war Willibald Hentschel.37 Der Arierfrage bzw. Rassezuchtproblematik hatte er sich seit der Jahrhundertwende verschrieben. In diesem Zusammenhang müssen die folgenden Publikationen genannt werden: „Varuna. Eine Weltund Geschichtsbetrachtung des Ariers“ (1901), „Mittgart. Ein Weg zur Erneuerung der germanischen Rasse“ (1904), „Vom aufsteigenden Leben – Ziele der Rassenhygiene“ (1914), „Wege zur Höhe – Ein Beitrag zum Werke der Erneuerung deutschen Glaubenslebens“ (21920), „Rassehygiene oder Rassezucht?“ (1923) sowie zahlreiche kleinere Beiträge zur Menschenzucht. Hentschel übte mit seinem Ansatz einen starken Einfluß auf weitere „Menschenzüchter“ aus. Die allgemeine „technische“ Haltung in dieser Frage, zu der dann eine rasseideologische Komponente hinzutreten konnte, kommt prägnant in einer Aus36 Ebd., 2. 37 Zur Biografie siehe Löwenberg, Hentschel. Hentschel lebte im hier abzuhandelnden Zeitraum in der Nähe von Dresden. Fritsch und Hentschel besuchten sich gegenseitig. Hentschel war zudem wichtiger Autor am Hammer.
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führung des stark umstrittenen Leipziger Professors und „Jüngers“ Hentschels Ernst Bergmann zum Ausdruck: Nicht einmal die Fehlzüchtung durch negative Auslese, die unsere Kultur andauernd betreibt, sucht der Mensch zu verhindern, geschweige denn, dass er züchterische Ideale in positivem Sinne auf sich selbst anzuwenden wagte. Nur Tulpenzwiebeln und Karakulschafe darf man züchten, nicht aber den Züchter selbst, den menschlichen Kulturfaust, der einer künstlichen Zuchtwahl in hohem Grade bedürftig erscheint. … Die Lage ist also die, dass der Mensch auf dem Boden der geltenden Gesellschaftsordnung bisher zwar Viehzucht, niemals aber Menschenzucht getrieben hat und treiben konnte, obwohl er dies dringend nötig gehabt hätte, dringender vielleicht als sein Vieh. Die herrschenden Anschauungen von der Ehe hinderten ihn daran.38
In gleichem Geist argumentierten lange vorher Hentschel und Fritsch, die als „Zuchtziel“, wie Bergmann, den „arischen“ bzw. „germanischen“ Menschen proklamierten. Biologische Maßnahmen seien dafür unerlässlich, da andere „Methoden“ versagt hätten, wie Bergmann ganz im Sinne unserer Protagonisten ausführt: Fichte, dieser große Schwärmer, träumte davon, den Menschen gleichsam aus der Idee heraus zu züchten. Was dieser und andere Idealisten erreicht haben, liegt heute vor aller Augen. Der Mensch ist noch schlechter, elender und gemeiner geworden, als er es früher schon war, wo er noch sogenannte ‚Hemmungen‘ sittlicher Art hatte. Heute hat er sich diese Hemmungen weggezüchtet.39
Wichtigster Grund dafür sei „Blutmischung“, die es einerseits zu verhindern und andererseits „zurückzuzüchten“, d.h. das „fremde Blut sei züchterisch auszumerzen“, gelte. In seiner grundlegenden Abhandlung „Der neue Glaube“40 führt Fritsch aus: „… weil die Religion aus der Seele und den Blute eines Volkes entquellen muß, so kann sie auch nur diesem Volke eigen sein.“41 Und er fährt fort:
38 Bergmann, Erkenntnisgeist, 428 bzw. 443. „Negative Auslese“ wurde an deutschen Lehrstühlen weithin propagiert; vgl. z.B. Lenz und Ploetz. 39 Ebd., 431. 40 1904; hier zierte nach 21921. Selbstverständlich ist dieser Titel bereits in der ersten Ausgabe der „Liste der auszusondernden Literatur“ (1946) unter Nr. 3404 indiziert und deswegen aus den Beständen der öffentlichen Bibliotheken entfernt und vernichtet worden. Die Ausnahme bildete die „Deutsche Bücherei“ Leipzig als Depotbibliothek des deutschen Schrifttums. In der Regel wurden derartige Titel in der DDR mit einem Sperrvermerk versehen, so dass eine Benutzung nur unter strengen Vorgaben möglich war und kaum erfolgte. Dieser bis heute nachwirkenden Sachlage sind die längeren Zitate geschuldet. 41 Ebd., 122.
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Jede Religion ist verfehlt, die auf ein Allmenschentum spekuliert, das nicht vorhanden ist und nie vorhanden sein wird. Unsere Rassen-Erkenntnis lehrt uns, dass jedes Volk seiner Naturanlage gemäß seine besonderen Lebensgesetze, seine besonderen Ziele und Ideale eingeboren sitzt und besitzen muß. Es war die Schwäche der alten Religionen, ein Universal-Rezept für ein unwirkliches Allmenschentum darstellen zu wollen. Es ist die unheimliche Stärke der jüdischen Lehre, nur auf ein bestimmtes Volk, auf einen ausgeprägten Rassen-Charakter gemünzt zu sein. Daraus sollten wir endlich lernen!42
Fritsch, der glaubt, aus seiner Beschäftigung mit dem Judentum auf seine Weise, also nicht primär als „Biologe“, sondern als „Historiker“, grundlegende Erkenntnisse gewonnen zu haben ist sich sicher, dass diese vor allem auf die Bedeutung der Rassenfrage für Kultur allgemein und Religion im besonderen hinausliefen: Und heute ist das Heil unserem Geschlechte näher als je, denn wir haben eine Schicksalsmacht erkannt, die seither den Menschensinnen verborgen war, und die Heil und Verderben in ihrer Hand hält: es ist d a s G e h e i m n i s d e r e r b l i c h e n K r ä ft e [Hervorh. orig.]. Nicht durch Brandopfer und Gebete bestimmen sich das Geschick des Menschen, wohl aber durch die Art seines Geistes, und die wurzelt im Blut. Mit dem Blute können dem Menschen die herrlichsten Gaben verliehen sein – oder die düstersten Leidenschaften und finstersten Verhängnisse. Im Blute wohnt die Seele, im Blute wohnt Gott – oder der Teufel. Es gibt darum kaum einen größeren Frevel als den Frevel gegen das Blut; er ist die wahre Sünde wider den heiligen Geist, eine Todsünde. Die Art seines Blutes zu bestimmen, hat nun freilich keiner die Macht; es ist ein Geschenk unserer Erzeuger. Sie tragen die Verantwortung für die Beschaffenheit unseres Blutes – und für unser Schicksal … Gemeinhin bestimmt das Blut den Geist. … Auch der Wille hat seine Keime im Blut und lässt sich durch dieses übertragen. … Darum halte die Geistesluft rein um dich her, damit nicht verderbliche Keime sich dir in Blut und Seele lagern und dein Wesen vergiften – zu deinem Verderben und zum Verderben derer, die nach dir kommen.43
Wichtigstes Mittel, neben allen „unterstützenden Maßnahmen“ ist deswegen die Zucht, die von richtiger Gattenwahl abhängt. So geht Fritsch denn auch in einem eigenen Kapitel auf die „Ehe“ ein.44 Fritsch beschreibt zunächst den zeitgenössischen Zustand: Der rassische Verfall unseres Volkes, wie fast aller Kulturvölker, ist eine Tatsache … Wohlgemerkt: wenn hier von rassischen Kräften die Rede ist, so sind darunter nicht die rohen physischen Fähigkeiten der Individuen verstanden, als vielmehr die geistige 42 Ebd., 122–123. 43 Ebd., 135–137. 44 Ebd., 138–148.
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und seelische Artung derselben, die freilich im Blut begründet ist. Rasse bekundet sich viel mehr in der inneren Geistes-Verfassung als in äußeren Merkmalen. Das Ausschlaggebende [sic!] für den Rassen-Typus bleibt daher die Geistes-Richtung; sie ist von einer viel zäheren Vererblichkeit als die äußeren Merkmale. Ob der Geist idealistisch oder niedrig materialistisch, ob er heroisch oder geldgierig-spekulativ geartet ist, macht für das Wesen der Rasse mehr aus, als blondes oder dunkles Haar, als Langkopf oder Rundkopf. Allerdings hat der Rassegeist das Bestreben, den äußeren Menschen nach dem inneren zu modeln und so auch einen äußerlich festen Rassentypus heraus zu bilden. Das ist aber nur möglich, wo eine größere Volks-Gemeinschaft nicht fortwährend fremder Bluts- und Geistes-Einströmung ausgesetzt ist. … Der rassische Verfall zeigt sich deshalb zunächst weniger in der äußeren Entartung als in dem Versagen der seelischen und sittlichen Kräfte. Alle der germanischen Rasse bisher eigenen idealen Begriffe schwinden bei dem Entarteten: er verliert den Maßstab für alle sittlichen Werte; er weiß nicht mehr, was Tugend, Ehre, Sitte, Zucht, Anstand, Pflichtgefühl, Scham, Gewissen, Selbstbeherrschung, Treue, Gemeinsinn, Ordnung ist; sie werden ihm zu wesenlosen Vorstellungen. … Die heute überall hervorbrechenden sozialen Missstände und inneren Zerwürfnisse in Staat und Gesellschaft können durch bloße Regeln und Gesetze nicht beseitigt werden, denn sie haben ihre Quelle in der inneren Unvollkommenheit der heutigen Menschen, in dem Verlust der besten Menschen-Eigenschaften durch rassische Entartung. Der Degenerierte ist lebens-untüchtig … er macht Andere – seine Familien-Angehörigen [sic!], die Gesellschaft, den Staat und den lieben Gott verantwortlich für seine äußeren und inneren Nöte. … Und die Unzufriedenheit wird – trotz der weisesten Gesetze und Einrichtungen – wachsen mit dem zunehmenden Rasse-Verfall. … Es ist vergeblich, gesellschaftsfeindliche und entsittlichende Bestrebungen durch Belehrung oder Gesetzgebung beseitigen zu wollen; sie sind Erscheinungen der Entartung.45
Fritsch nennt weitere, minder grundlegende Faktoren, die aber dennoch beachtet werden und daher im umfassenden Reformprogramm ein Platz finden müssen: Sicher tragen falsche Ernährung, wie übermäßiger Fleischgenuß, Alkoholismus, entnervende Reizmittel (Tee, Kaffee, Tabak usw.), Geisteslähmung durch falsche Schulbildung, vergiftender Lesestoff, geschlechtliche Ausschweifung und andere moderne Unsitten vieles zur Entartung des lebenden Geschlechtes bei; in Wahrheit aber gehört bereits ein Mangel an geistigen und sittlichen Kräften dazu, um diesen Torheiten willenlos zu erliegen.46
Fritsch benennt auch den „praktischen“ Grund: „Forscht man aber nach dem Keime des ganzen Unheils, so endet man schließlich – bei der heutigen Ehe.“47 45 Ebd., 138–141. 46 Ebd., 141. 47 Ebd., 142.
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Hentschel wird dann die praktische Konsequenz ziehen und die Mittgart-Ehe entwickeln. Doch bevor auf diese eingegangen werden wird, soll Fritsch weiter zu Wort kommen. Wichtigstes Ziel der Ehe sei die Zeugung „lebenstüchtigen Nachwuchses“. Der Zeugung kommt somit eine zentrale Bedeutung zu, ein Topos, der zu dieser Zeit breit diskutiert wird.48 Fritsch bemerkt: Das Schicksal eines Menschen wird in der Stunde seiner Erzeugung entschieden. Nicht nur die Verfehlungen seiner Erzeuger werden dem Menschen als ‚Erbsünde‘ aufgebürdet, schon die Unvernunft und Unsittlichkeit der instinktlosen Eheschließung bildet einen belastenden Umstand schwerster Art. Eine Ehe, die ohne jede Spur von Zuneigung, vielleicht lediglich aus spekulativen Beweggründen geschlossen wird, die zwei Menschen von ganz ungleicher Art und Rasse zusammen fügt … kann nur Geschöpfen das Leben schenken, denen das innere Zerwürfnis eingeboren ist und die nur zu oft auch äußerlich das Gepräge der Ungereimtheit als Unschönheit zur Schau tragen. Solcher Art aber ist heute ein großer Teil der Ehen; was Wunder, wenn sie ein Geschlecht zeugen, das sich selbst zum Fluche wird … Staat, Kirche und Schule quälen sich vergeblich herum, aus diesen Missgezeugten brauchbare Bürger zu machen. Die heutige Durchschnittsehe ist ein Vergehen am Menschentume.49
Die christlichen Kirchen hätten in dieser Hinsicht besonders versagt bzw. „negative Auslese“ betrieben. Durch die Monogamie werde bereits quantitativ die Zahl der von „tüchtigen“ Männern und Frauen in die Welt zu setzende „Nachzucht“ erheblich eingeschränkt (ganz abgesehen vom Keuschheitsgebot für Priester und Ordensleute, die ihrerseits wohl besseres „Erbgut“ haben könnten als Durchschnittsproletarier, die sich kräftig vermehrten). Fritsch konzediert zwar: „Die lebenslängliche Einehe ist die idealste Form der menschlichen Paarung – unter der Voraussetzung, dass vollwertige Menschen sich zusammenfinden …“50 Aber: Freilich kann diese Vorbedingung heute nur in seltenen Fällen erfüllt werden. Die vollwertigen Menschen sind dünn gesät – in beiden Geschlechtern. Die Masse der Halb- und Viertelsmenschen von heute ist zu einer ordentlichen Ehe durchaus ungeeignet; und der Verfall der ehelichen Verhältnisse ist in einer entarteten Menschheit nicht aufzuhalten.51
Den Kindern, der „Nachzucht“, ist unter solchen Voraussetzung nur die schlechteste Prognose zu stellen: „Der Entartungs-Mensch, der nicht einmal
48 49 50 51
z.B. auch bei Mazadaznan; vgl. Martens, Verwirklichung. Der neue Glaube, 142–143. Ebd., 145. Ebd., 145.
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sittliche Kraft und Einsicht genug hat, sich selbst zu regieren, ist durchaus unfähig, andere Wesen vernünftig anzuleiten.“52 Freilich sieht Fritsch einen Ausweg: Die lebenslängliche Einehe wäre also das Richtige in einer Gesellschaft, wo jeder vollwertige Mann ein vollwertiges Weib zu finden vermöchte und umgekehrt. Diese Möglichkeit ist innerhalb der heutigen Gesellschaft nicht mehr vorhanden; so besteht die Gefahr, dass die wenigen vollwertigen und hochgearteten Elemente in ungünstiger Paarung gleichfalls noch verloren gehen und somit die letzten Rassenwerte schwinden. Der Lebenswille der Nation wird darum bald vor die Aufgabe gestellt sein, den wenigen leiblich und seelisch vorzüglichen Elementen eine größere Vermehrungs-Fähigkeit zu geben. [Hervorh. M.].53Er wirft jedoch rhetorisch ein: „Ob sich das mit der Sittlichkeit verträgt?“ Und beantwortet seine Frage sogleich: „Alles, was die Zucht zum Ziele hat, die Zucht erhöht, ist züchtig und sittlich.“54 Und weiter: Der Tag wird kommen, wo alle Einsichtigen rufen werden: Jeder Weg, der uns wieder zu echten, vollwertigen Menschen verhilft, muß willkommen sein. Und dieses neue bessere Menschentum kann nur aus einem Geschlechter-Verhältnis hervorgehen, das sittlich höher steht als die heutige gefühllose Spekulations- und Gewohnheits-Ehe.55
Und dieser neu gezüchtete Mensch werde dann auch über eine ihm art- und blutgemäße56 Religion verfügen, die nicht auf besondere Religionsurkunden begründet sein werde. Dann brauche man sich auch nicht darüber streiten, welches DIE arische Religionsurkunde sei: ob Avesta, Veda, Tripitaka, Edda oder Germanenbibel. Man müsse, dann nur noch „auf sein Blut hören“, um die richtigen sittlichen und religiösen Werte zu erkennen und ihnen gemäß zu leben. Willibald Hentschel entwickelt diese Gedanken in vielen Schriften ausführlich. Grundlegend und erstmalig geschieht das in seinem Werk „Mittgart“ (1904).57 Die Schrift beginnt mit 6 Leitsätzen, die auszugsweise vorgestellt seien:
52 53 54 55 56
Ebd., 146. Ebd. Ebd., 147. Ebd., 148. Eine religionswissenschaftliche Stimme dazu bei Baetke, Arteigene germanische Religion. Zur Arierdebatte in der Indologie siehe Schetelich, Bild. 57 Die erste Auflage hatte 14 Seiten, die hier zitierte, erweiterte 4. Auflage 34. Die 1. Auflage ist nach dem KVK nur in Göttingen, Kiel und Karlsruhe vorhanden. Die hier zitierte 4. in München, Berlin und Leipzig. Weitere frühe Ausgaben sind sporadisch vorhanden (1910 Berlin, 1911 Marburg). In den beiden ersten Listen der auszusondernden Literatur von 1946 und 1947 ist Hentschels Mittgart nicht verzeichnet sondern erst im 2. Nachtrag vom 1.~9.~1948 unter der Nummer 3176.
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1. Das Menschengeschlecht sondert sich nach Typen und Rassen, deren natürliche Artung ihnen verschiedene Aufgaben stellt. Einige neigen zu kultureller Entfaltung, während sich andere solcher beharrlich verschließen. … 2. Besonders ist die weiße Rasse die Trägerin der geschichtlichen Entwicklung. Die Kulturen von Griechenland und Rom, wie diejenigen Vorderasiens verdanken dieser Rasse ihre Entstehung. … 3. Alle Geschichtsprozesse beruhen auf der Auslösung rassischer Energie. Die Kultur gehört unter die dynamischsten Erscheinungen und ist den Energie-Gesetzen unterworfen. Wie Kohle unter Entbindung von Licht und Wärme verbrennt, so setzt sich aufgespeicherte rassische Energie in geschichtliches Leben um, am Ende bleiben hier wie dort Aschen und Schlacken zurück. 4. Daraus folgt, daß jeder Kulturprozeß durch einen Menschenstrom unterhalten sein will und daß auch die Städte als Kulturherde auf solche Menschenströme angewiesen sind. Ohne ländlichen Ersatz müssten sie in wenigen Generationen aussterben. … Das Land wird von dem wertvolleren Teile seiner Bevölkerung entblößt; an seine Stelle treten kulturell rückständige, konstitutiv unverbrauchte Völker, so bei uns die Polen, Galizier und Juden wie das alpine Südvolk. 5. Unter diesen Umständen kommt für jedes Kulturvolk die Stunde, wo es die Folgen einer so bedenklichen Entwicklung zu spüren bekommt; und da die oben genannten fremden Elemente sich nicht mit der ursprünglichen Bevölkerung Deutschlands messen können, so gehen auch wir einer kulturellen Minderung entgegen. So weit es sich um Juden handelt, kommt noch in Betracht, daß diese den in Dürftigkeit konservierten Abschaum älterer Kulturherde bilden.58
Unter diesen Voraussetzungen bzw. Bedrohungen, die sich neben der Rassenmischung vor allem durch den schädlichen Einfluss des Großstadtlebens, man denke an die Elendsviertel, sowie durch die damit einhergehende physische und psychische Degeneration der Bevölkerung bemerkbar machen, entwickelt Hentschel ein umfassendes Reformprogramm. Dies behandelt folgende Punkte: Bodenbesitzreform, Innere Kolonisation, Enthaltsamkeitsbewegung, andere Gesundheitsbestrebungen (Sozialhygiene, Sport, Gymnastik), sowie weitere Reformbestrebungen. Hentschel kritisiert in diesem Zusammenhang sozialdemokratische und bürgerliche Sozialreformansätze (genannt sind u.a. „Zurück zur Natur“, Naturheilkunde), aber auch nationale, denen er allesamt falsche Ansatzpunkte bzw. Versagen vorwirft. Dazu zählt er auch den herkömmlichen, d.h. für ihn, nur emotionalen, nicht historisch oder biologisch begründeten Antisemitismus: Der Antisemitismus, der sich wie ein einigendes Band um die Nachdenklichen und Ehrlichen zu schlingen schien, hat nach seiner Überflutung durch unsaubere Elemente und nach seinen politischen Misserfolgen eine starke Ernüchterung zurückgelassen … Die Judenschaft kann ihren Betrieb gelassen fortsetzen und ihren baldigen Sieg verkündigen.59 58 Hentschel, 4Mittgart, 3. 59 Ebd., 13.
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Weiterhin wird die Frauenfrage beleuchtet60 und auf das Christentum eingegangen.61 Dieses kanzelt er kurz und apodiktisch ab: Das Christentum war von jeher unbrauchbar, wenn es Erhaltung und Pflege rassischer Kräfte galt. Rasse und Volk sind für das Christentum gar nicht vorhanden … So viel steht also fest: Wer die Pflege der völkischen und rassischen Kräfte will, für den kann das Christentum bei aller Erkenntlichkeit nur noch geschichtliches Interesse erwecken und dieses gilt in gleicher Weise für alle christlichen Glaubensformen.
All dies erfordere eine andere, völlig neue Herangehensweise: die Erneuerung erfordere eine „neue Frau“ oder, wie er schreibt, „eine neue Mutter“ und „(Rasse-)Zucht“.62 Und in diesem Zusammenhang entwickelt er sein „Mittgart-Projekt“.63 Er beginnt mit grundsätzlichen Gedanken zur Menschenzucht: Wir haben Einsicht in das Wesen und Werden der Völker und Rassen gewonnen und erkannten besonders die weiße Rasse als das Ergebnis einer Hochzucht. … Wir haben … Grund zu der Annahme, daß die züchterische Praxis in vorgeschichtlicher Zeit weit verbreitet gewesen ist … Ist ein solcher Grundsatz aber einmal zur Anerkennung gelangt, maßen wir uns das Recht an, Menschen wegen ihrer abweichenden Eigenschaften von der Betätigung ihres Erwerbssinnes und mittel- oder unmittelbar von der Fortpflanzung zurück zu halten.64
Der Vorwurf, dass man den Menschen damit auf ein Tierniveau degradiere, sei aus der Luft gegriffen. Ein Blick in die Geschichte zeige, dass viele Kulturen, vor allem aber auch die arischen, züchterische Maßnahmen gekannt hätten und diese erst in Zeiten des Kulturverfalls aufgegeben hätten. Wenn es gelinge, den Rahmen derer abzustecken, die für eine erfolgreiche Zucht in Frage kämen „so läge für den Züchter im Hinblick auf die gemeinsame wertvolle Erbmasse aller Genossen gar kein Grund vor, sich nochmals mit der Auslese einzelner Paare zu befassen; er kann diese Einzelauslese gut und gerne … dem Empfinden der Liebenden überlassen.“65 Hentschel diskutiert auch den Gedanken mehrerer Zuchtziele, d.h. den einer Oberschicht und von niederen auf bestimmte Felder spezialisierte Schichten: Übrigens stünde auch gar nichts im Wege, statt eines einzigen Zuchtzieles deren mehrere aufzustellen, etwa neben einem feineren Typus einen solchen der Feld- und 60 61 62 63 64 65
Ebd., 14–16. Ebd., 16. Ebd., 16–22. Ebd., 23–34. Ebd., 16–17. Ebd., 18.
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Industriearbeiter oder Soldaten. … Kasten bilden einen Notbehelf für Völker, die in fremder Umgebung auf die Erhaltung ihres Blutes bedacht sein müssen.66
Er verwirft dies aber für die deutschen Bedingungen. Gleichfalls verwirft er die weit diskutierten rein eugenischen Programme als zu kurz gegriffen: Endlich ist auch das Wort: ‚Generative Hygiene‘ für rassische Zucht in Vorschlag gebracht worden … Alle jene Bezeichnungen lenken die Aufmerksamkeit … mehr auf die Bekämpfung öffentlicher Schädlichkeiten, des Alkoholismus, der Geschlechtskrankheiten; allenfalls erinnern sie an Ehebeschränkungen für Degenerierte, Schwindsüchtige, Geschlechtskranke, Säufer und Idioten. … Der eigentliche züchterische Gedanke kommt dabei zu kurz; derselbe ist mit dem anderen Gedanken positiver Auslese verbunden.67
Und Voraussetzung für eine sinnvolle „positive Auslese“ sei, und hier folgt er Professor Christian von Ehrenfels, Polygynie. Das erforderliche Verhältnis zwischen den Geschlechtern müsse so gestaltet werden, „daß zum Mindesten eine Gesamt-Ausleseziffer von 1:8 zustande kommt, das heißt, wenn der Zuchtkreis auf eine Minderheit auserlesener Männer gestellt wird, deren Zeugungskraft zur vollen Auswirkung gelangt.“68 Der Gedanke der MittgartEhe, die im Schnitt ein Verhältnis von 1 Mann zu 10 Frauen aufweisen sollte, war geboren. Der Mittgartbund hat noch vor dem Ausbruch des Weltkrieges bei der Reichsregierung den Antrag gestellt im Deutschen Reich neben der „bürgerlichen“ und „kirchlichen“ Ehe auch die „Mittgart-Ehe“ anzuerkennen; eine Reaktion ist bisher nicht bekannt geworden. Die Polygynie, so Hentschel sei eine alte germanische Einrichtung, die erst durch die christliche Ehe, sehr zum Schaden des Erbgutes, beseitigt worden sei: „Wo immer wir eine Blick in die germanische Vorzeit werfen, in Sage und Rechtsaltertümer, da erkennen wir, dass die Ehe regelmäßig zwischen einem Mann und einer Vielheit von Frauen geschlossen ward. Eine solche Ehe bildet ja die Voraussetzung eines konstitutiven Kräftehaushaltes. Noch im germanischen Mittelalter ist die Vielehe an der Tagesordnung.“69 Grundlage für die positive Genauslese, sei folgendes gewesen: „… die germanische Kampfauslese: rücksichtsloses Abschlachten aller überzähligen Männer und entsprechend – Vielweiberei.“70 D.h. „dem Tüchtigsten“ fielen die Frauen zu, seine Gene, sein „Blut“ wurde weiter vererbt. Die praktische Umsetzung einer Mittgart-Rassezucht-Siedlung sollte wie folgt aussehen: 66 67 68 69 70
Ebd., 19–20. Ebd., 20–21. Ebd. Hentschel, 3Aufsteigendes Leben, 147. Ebd., 150.
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[Sie] besteht aus einer ländlichen Siedelung, in der etwa Tausend Frauen und ein Hundert Männer Unterkunft fanden. Sie bilden eine Auslese …; diese Auslese erfolgte durch Sachverständige unter Berücksichtigung somatischer und gesundheitlicher Momente. Die Ansprüche an das stärkere Geschlecht waren in körperlicher Hinsicht zum mindesten denen gleich, welche die Heeresverwaltung an eine Elitetruppe stellt … Weniger Ansprüche konnten an den weiblichen Teil gestellt werden, weil hier das Vorurteil und die Kurzsichtigkeit die Wahl besonders erschwerten … Die Frauen erhielten je eine Gartenwirtschaft zugewiesen, jede durfte, wenn es ihr gefiel, eine ältere Person, Mutter, Muhme oder Freundin mit in ihr neues Heim bringen. Man hatte sie in die Absichten des Bundes eingeweiht, und sie gelangten in einer Periode der Vorbereitung und religiösen Verinnerlichung zu jener Festigkeit und Sicherheit, welche Frauen unter solchen Einflüssen gewinnen. Die Ehe wird in diesem Kreise zwischen je einem Manne und einer Frau, aber nur zu vorübergehender Angehörigkeit vor dem Gemeinderate geschlossen. Es fehlt nicht an Festfeiern und freundlicher Fürsorge. Der Mann bleibt nach seiner Verheiratung bei seinen Genossen im Männerhofe wohnen, wo er an der Bewirtschaftung eines Länderkomplexes teilnimmt. Er erscheint im Hause seiner Gattin nur als deren Gast. Sobald sich diese als Mutter fühlt, gilt die Ehe für gelöst; die Frau lebt nun an 21/2 bis 3 Jahre ihren engeren Mutterpflichten. … sind sich doch auch die Frauenärzte darüber einig, daß eine öfter als aller 2 bis 3 Jahre wiederkehrende Schwangerschaft der Mutter wie dem Kinde unzuträglich sind.71
So gezeugte und in entsprechendem Geist aufgezogene Kinder und die weiteren nachfolgenden Generationen seien dann in der Lage, „aus dem Blut heraus“ die „artgemäße Religion“ wieder zu „erhören“ und zu leben. Allerdings: Es ist kaum nötig, hervorzuheben, daß der züchterische Gedanke eine Vielheit solcher ländlicher Gemeinden zur Voraussetzung hat. Dreihundert derselben würden einen jährlichen Zustrom von hunderttausend ungebrochenen Menschenkindern von hervorragendem konstitutiven Werte in die Kulturstätten bewirken und von Stund an einen Umschwung in der ganzen Breite des nationalen Erlebens bewirken. … Es sei angenommen, daß alle Angehörigen der gleichen Mittgart-Gemeinde denselben (Heimats-)Namen tragen und daß sie stillschweigend einen neuen Adel bilden.72
Dass bereits die nie zu erreichende quantitative Dimension dieses Projektes den Keim des Scheiterns in sich barg, braucht nicht weiter hervorgehoben zu werden. Im Oktober 1908 hatte sich mit Fritsch und Hentschel an der Spitze in Leipzig die Siedlungsgesellschaft „Heimland“ gegründet, die, eng der 1904 gegründeten „Deutschen Erneuerungsgemeinde“ verbunden, dieses Projekt in die Tat umsetzen sollte. In der Nähe von Rheinsberg wurde 1909 ein Gut für diesen Zweck erworben und der bereits erwähnte W. Kramer mit der Führung beauftragt. Fritsch führt dazu aus: 71 Hentschel, 4Mittgart, 23. 72 Hentschel, 4Mittgart, 25.
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Die Deutsche Erneuerungs-Gemeinde hat sich im Jahre 1904 in Anlehnung an die vorstehend abgedruckten ‚Grundzüge‘ gebildet. Sie hat es seither vermieden, an die breitere Öffentlichkeit zu treten und für ihre Anschauungen zu werben. Vielmehr ist sie darauf bedacht gewesen, – eingedenk des Lagardeschen Wortes, dass das Gedeihen einer neuen sittlich-religiösen Gemeinde auch eine räumliche Abscheidung von dem verwüstenden Getriebe der modernen Entartungs-Kultur bedürfe – in stiller Waldund Landeinsamkeit ein Siedelungsgelände für ihre Mitglieder vorzubereiten. Zu diesem Zwecke hat sie die Siedelungs-Gesellschaft Heimland in’s Leben gerufen und ein Gut in der Ostprignitz erworben, wo nunmehr die Ansiedelung begonnen hat. Sie will mit der geistig-sittlichen Reform eine Neugestaltung der ganzen Lebensweise verbinden.73
Der Zuspruch blieb bescheiden. Der Ausbruch des Weltkrieges, zu dem auch die siedelnden Männer einberufen wurden, machte dem Projekt ein Ende, wenn es auch noch jahrelang (bis 1922 bzw. 1926) vor sich hindümpelte. Wenn auch das erste Projekt einer praktischen „positiven“ Rassezucht scheiterte, so spukte die Idee doch weiterhin in manchen Köpfen … Nota bene: Obwohl die reine germanische Kultur bzw. Religion eigentlich erst nach mehreren Generationen Menschenzucht „aus dem Blute“ erkannt werden könne, hatten Fritsch, Hentschel und deren Jünger, wie etwa Rudolf Linke74 recht deutliche Vorstellungen davon. Doch das wäre ein anderer Beitrag.
Literatur Quellen Ammann, David, Die Rasse der Zukunft und Rassenhygiene, Leipzig, Zürich 31914. Bergmann, Ernst, Erkenntnisgeist und Muttergeist: Eine Soziosophie der Geschlechter, Breslau 2., durchges.1933. Blavatsky, Helena Petrovna, The Secret Doctrine, the Synthesis of Science, Religion and Philosophy, London, Madras 1888. –, Die Geheimlehre: Die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Philosophie, 2 Bände. Aus dem Engl. der 3. Aufl. übers. von Robert Froebe, Leipzig 1899. Brehpohl Friedrich Wilhelm, Bruno Tanzmann zum Gedächtnis: Ein Nachruf und Freundeskranz aus Übersee, Leipzig 1940. Chamberlain, Houston Stewart, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, Hälfte 1 und 2, München 1899. – Arische Weltanschauung, Berlin [1905]. 73 Fritsch, Neuer Glaube, 234. 74 Linke, Freie Liebe, ders. Leitsätze.
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Dharmapala, The Repenting God of Horeb, in: A. W. Guruge (Hg.), Return to Righteousness: A Collection of Speeches, Essays and Letters of the Anagarika Dharmapala, Colombo 1991,401–425. [Zuerst Calcutta 1922.] Dinter, Artur, Das Evangelium unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus nach den Berichten des Johannes, Markus, Lukas und Matthäus im Geiste der Wahrheit neu übersetzt und dargestellt, Langensalza 1923. –, Die Entjudung der christlichen Religion durch Wiederherstellung der reinen Heilandslehre, in: Th. Fritsch (Hg.), Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des ‚Hammer‘. Den Mitstreitern zugeordnet, Leipzig 1926, 91–97. –, War Jesus Jude? Ein Nachweis auf Grund der Geschichte Galiläas, der Zeugnisse der Evangelien und Jesu eigener Lehre, Leipzig 1934. Fritsch, Theodor, Antisemit – oder Judenschimpfer?, in: Hammer Dezember 1904. [Neudruck bei P. Lehmann (Hg.), Neue Wege: Eine Sammlung. Aus Theodor Fritsch’s Lebensarbeit. Eine Sammlung von Hammer-Aufsätzen zu seinem 60. Geburtstag, Leipzig 1922, 288–291]. –, (unter dem Pseudonym Thomas Frey), Antisemiten-Katechismus: Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständnis der Judenfrage, Leipzig 1887 [251893]. –, (unter dem Pseudonym Thomas Frey) Zur Bekämpfung zweitausendjähriger Irrthümer, Leipzig 1886. –, Mein Beweismaterial gegen Jahwe, Leipzig 1910 [21911, 31913] [Die Ausgabe ist bis auf das Titelblatt identisch mit: Der falsche Gott, 81921]. –, Aus der Entstehungszeit des Hammer, in: Th. Fritsch (Hg.), Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Hammer, Leipzig 1926,7–17. –, Erneuerungs-Gedanken, in: Hammer Nr. 153 (1908) [Neuabdruck bei D. Schubert, Die Gartenstadtidee zwischen reaktionärer Ideologie und pragmatischer Umsetzung, Dortmund 2004]. –, Die Erneuerungsgemeinde, in: Hammer Nr. 147 (1908) [Neuabdruck bei D. Schubert, Die Gartenstadtidee zwischen reaktionärer Ideologie und pragmatischer Umsetzung, Dortmund 2004]. – (Hg.), Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Hammer: den Mitstreitern zugeordnet, Leipzig 1926. –, Zur Freilandsiedlung und Bodenfrage, in: P. Lehmann (Hg.), Neue Wege: Eine Sammlung. Aus Theodor Fritsch’s Lebensarbeit. Eine Sammlung von Hammer-Aufsätzen zu seinem 60. Geburtstag, Leipzig 1922, 168–175 [Ursprünglich: Hammer, Februar 1917]. – (unter dem Pseudonym Thor, Fritz), Der neue Glaube: Eine praktische LebensPhilosophie und vernunftgemäße Sittenlehre, Leipzig 1904 [21921]. – (Hg.), Hammer-Flugblätter (= Sonderdrucke aus dem: „Hammer: Parteilose Zeitschrift für deutsches Leben“), Leipzig 1902ff –, Wie ist die Judenfrage zu lösen?, in: Th. Fritsch (Hg.), Handbuch der Judenfrage, Hamburg 261907, 408–438. –, Der Kern der Judenfrage, in: Th. Fritsch (Hg.), Handbuch der Judenfrage, Hamburg 28 1919, 14–29.
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–, Die Kultur der Entarteten, in: Hammer Juni 1905. [Neuabdruck P. Lehmann (Hg.), Neue Wege: Eine Sammlung aus Theodor Fritschs Lebensarbeit, Leipzig 1922, 224– 230]. – (Hg.), Handbuch der Judenfrage: Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zur Beurteilung des jüdischen Volkes, Hamburg 261907 [ab 291923 Leipzig, Hammerverlag]. – (Hg.), Die Protokolle Zions: Das Programm der internationalen Geheimregierung. Mit einem Schlusswort von Theodor Fritsch, Leipzig 1924 [161935]. –, Rassenfrage und Erneuerungsgemeinde, in: Hammer Nr. 156 (1908) [Neuabdruck bei D. Schubert, Die Gartenstadtidee zwischen reaktionärer Ideologie und pragmatischer Umsetzung, Dortmund 2004]. –, Religiöse und soziale Nöte, in: in: P. Lehmann (Hg.), Neue Wege: Eine Sammlung. Aus Theodor Fritsch’s Lebensarbeit. Eine Sammlung von Hammer-Aufsätzen zu seinem 60. Geburtstag, Leipzig 1922, 168–175 [Ursprünglich: Hammer 1904]. –, Die Stadt der Zukunft, Leipzig 1896. –, Geistige Unterjochung: Zugleich eine Antwort an Dr. G. Lomer und Prof. W. Sombart, Leipzig 51913. –, Ursprung und Wesen des Judentums: Hebräische Praxis (Der Kahal), Leipzig 1919. [Nachdruck in: Th. Fritsch, Der falsche Gott. Mein Beweis-Material gegen Jahwe, Leipzig 18.–24. Tsd1920]. – P. Lehmann (Hg.), Neue Wege: Eine Sammlung aus Theodor Fritschs Lebensarbeit. Eine Sammlung von Hammer-Aufsätzen zu seinem 60. Geburtstage, Leipzig 1922. Gobineau, Arthur Comte De, Essai sur l’inégalité des races humaines, 4 vols., Paris 1853–55. –, Der arische Mensch in Weltgeschichte und Weltkultur: Herkunft, Weg, Einfluß mit einem Vorwort von Richard Wagner, Kampen 1935. –, Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, L. Schemann (Hg.), Stuttgart 1898ff Hielscher, Friedrich, Fünfzig Jahre unter Deutschen, Hamburg 1954. Hentschel, Willibald, Das „Artam“. Grund- und Leitsätze, in: Der Hüter. Blätter für Dienst am Leben, Leipzig-Schleußig 1 (1924), 1–9. –, Dionysos-Dienst und altarische Hochzucht, in: Neues Leben. Monatsschrift für deutsche Tüchtigkeit, Reichenberg (Böhmen) 10 (1916), 116–119. –, Wie der „Hammer“ entstand, in: Th. Fritsch (Hg.), Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Hammer, Leipzig 1926, 58–63. –, Mittgart: Ein Weg zur Erneuerung der germanischen Rasse, Leipzig 1904. [11904: 14 S., 41914: 34 S., 51916: 32 S., 61916: 54 S.]. –, Mittgartbund (Hg.), Vom aufsteigenden Leben: Ziele der Rassenhygiene, Leipzig 1914 [3, neubearb.1922]. –, Rassehygiene oder Rassezucht, in: Das Ziel 4 (1923), 1–7. –, Varuna: Eine Welt- und Geschichtsbetrachtung des Ariers, 2 Teile, Leipzig 1901. –, Varuna. Das Gesetz des aufsteigenden und sinkenden Lebens in der Geschichte, Leipzig 21907 [Eine umgearbeitete Auflage].
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–, Varuna: Das Gesetz des aufsteigenden und sinkenden Lebens in der Völkergeschichte, 3 Teile, Leipzig 31918. 1: Die allgemeinen Grundwesenheiten im Leben der Rassen und Völker; 2: Zweckbetrachtungen aus der Völkergeschichte; 3: Das Deutschtum, sein Werden, seine Not, und seine zukünftigen Sicherungen. –, Was soll nun aus uns werden? Artam, die heldische Landarbeitergarde, in: Blätter aus Niegard 2 (1923), 1–5. –, Wege zur Höhe. Ein Beitrag zum Werke der Erneuerung deutschen Glaubenslebens, Dresden 21920. Hoffmann, Fritz Hugo, Artam, Artamanen, in: H. Siemerling (Hg.), Die Deutschen Jugendverbände, ihre Ziele, ihre Organisation sowie ihre neuere Entwicklung und Tätigkeit, 3., neu bearb. Auflage des Handbuches „Die deutschen Jugendpflegeverbände“, Berlin 31931, 102–107. Kramer, Walther, Ein totgeschwiegener Führer des deutschen Volkes, in: Aufklärungsblätter, Nr. 146 (1924): 1–4. Lapouge, Vacher De, Der Arier und seine Bedeutung für die Gemeinschaft: Freier Kursus in Staatskunde, gehalten an der Universität Montpellier 1889–1890, Frankfurt a. M. 1939. –, L’Aryen : Son rôle social. Cours libre de science politique professé a l’Université de Montpellier (1889–1890), Paris 1899. –, Race et milieu social, Paris1909. –, Les sélections sociales, Paris 1896. Lenz, Fritz, Menschliche Auslese und Rassenhygiene, in: E. Baur/E. Fischer/F. Lenz, Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, 1921. [2., verm. u. verb. 1923]. = Band II von Erwin Baur/Eugen Fischer/Fritz Lenz, Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, München 1923. –, Bund zur Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft, in: Archiv für Rassenund Gesellschaftsbiologie 11 (1914), 555–557. Linke, Rudolf, Leitsätze des Mittgartbundes, in: Das Ziel. Stimmen vom Aufgang: Erstes Sendschreiben den Mittgart-Bundes, Leipzig-Schleußig 1 [1921], 1–6. –, Freie Liebe oder Zucht? Von Muck zu Mittgart, Leipzig, Hartenstein 1922 [Zuerst in: Der junge Deutsche, o.J.]. Martens, Anna, Die Verwirklichung des Friedensreiches auf Erden durch bewusste Zeugung & vorgeburtliche Erziehung: Ein Führer für angehende Eltern zur Veredlung kommender Geschlechter, Dresden 1925. Olcott, Henry Steel, H. S. Olcott’s Buddhistischer Katechismus, neu bearbeitet und stark erweitert nebst Appendices, Erläuterungen und Glossar von Karl Seidenstücker. Leipzig Buddhistischer Verlag [1908]. –, Ein buddhistischer Katechismus: nach dem Kanon der Kirche des südlichen Indiens, 1. dt. Ausgabe, Leipzig Grieben 1887. –, Der buddhistische Katechismus, 35. (2. dt.) Ausgabe mit besonderem Vorwort des Verfassers, Leipzig Grieben 21902. Ploetz, Alfred, Gesellschaften mit rassehygienischen Zwecken, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 6, 1909, 277–281. –, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen, Berlin 1895.
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Cancik, Hubert/Puschner, Uwe (Hg.), Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion, München 2004. Edenheiser, Iris (Hg.), Von Aposteln bis Zionisten: Religiöse Kultur im Leipzig des Kaiserreichs, Marburg 2010. Fields, Rick, How the Swans Came to the Lake: A Narrative History of Buddhism in America, Boston 31992. Geulen, Christian, Wahlverwandte: Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004. Goodrick-Clarke, Nicholas, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Wiesbaden 2004. Graul, Johannes, Mazdaznan im Visier der Polizei: Eine Fallstudie zum Umgang mit nonkonformen Religionen im Deutschen Kaiserreich, Diss. Univ. Leipzig 2012. [Als Publikation im Erscheinen]. Gross, Sandra, Von Gottesmutterschaft und „Entweibung der Weiber“: Völkische Frauenbilder im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik, in: D. Schuster/M. Bamert (Hg.), Religiöse Devianz in Leipzig: Monisten, Völkische, Freimaurer und gesellschaftliche Debatten. Das Wirken religiös devianter Gruppierungen im Leipzig des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2012, 85–107. –, Carl Huter – Selbsternannter Stifter einer neuen ‚Weltreligion‘ zwischen Eugenik und Gesichtsausdruckkunde, in: I. Edenheiser (Hg.), Von Aposteln bis Zionisten: Religiöse Kultur im Leipzig des Kaiserreichs, Marburg 2010, 138–147. Heinemann, Isabel, ‚Rasse, Siedlung, deutsches Blut‘: Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003. Herzog, Andreas, Theodor Fritschs Zeitschrift ‚Hammer‘ und der Aufbau des ‚ReichsHammerbundes‘ als Instrument der antisemitischen völkischen Reformbewegung 1902–1914, in: M. Lehmstedt/A. Herzog (Hg.), Das bewegte Buch: Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900, Wiesbaden 1999, 153– 182. Hieronimus, Ekkehard, Zur Religiosität der völkischen Bewegung, in: H. Cancik (Hg.), Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1981, 159–175. Kaupen-Haas, Heidrun/Saller, Christian, Wissenschaftlicher Rassismus: Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, Frankfurt a.M./ New York 1999. Kühl, Stefan, Die Internationale der Rassisten: Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 1997. Löwenberg, Dieter, Willibald Hentschel (1858–1947): Seine Pläne zur Menschenzüchtung, sein Biologismus und Antisemitismus, Mainz Universität FB 05 1978. Medizinische Dissertation. Mürmel, Heinz, Arisches Leipzig, in: A. Steinke (Hg.), Experimenteller Sammelband zum Abschied von Prof. [Bernhard] Streck, 27 S. [im Erscheinen]. –, Der Beginn des institutionellen Buddhismus in Deutschland.: Der Buddhistische Missionsverein in Deutschland (Sitz Leipzig), in: Universität Hamburg; Asien-
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Afrika-Institut (Hg.), Weiterbildendes Studium: Bd. 11: Buddhismus in Geschichte und Gegenwart – Erneuerungsbewegungen. Hamburg 2006, 157–173. –, Buddhismus und Theosophie in Leipzig vor dem ersten Weltkrieg, in: M. Hutter (Hg.), Buddhisten und Hindus im deutschsprachigen Raum: Akten des Zweiten Grazer Religionswissenschaftlichen Symposiums (2.–3. März 2000, Frankfurt a.M. u.a. 2001, 123–136. –, Leipzig, Carl Huter und die Schaffung einer neuen Weltreligion: Bemerkungen zu einer vergessenen Seite religiöser Devianz im Leipzig des späten Kaiserreiches, in: Stadtgeschichte. Mitteilungen des Leipziger Geschichtsvereins e. V. Bd. 2009, 2010, 89–115. Mürmel, Heinz/Edenheiser, Iris, Okkulte Kräfte, wahrsagende Medien und feinstoffliche Astralkörper – Das okkulte Leipzig, in: I. Edenheiser (Hg.), Von Aposteln bis Zionisten: Religiöse Kultur im Leipzig des Kaiserreichs, Marburg 2010, 195– 204. Nitschke, Thomas, Geschichte der Gartenstadt Hellerau, Dresden 2009. –, Die Gartenstadt Hellerau im Spannungsverhältnis zwischen weltoffener Reformsiedlung und nationalistisch gesinnter völkischer Gemeinde, Halle (Saale), Univ., Diss., 2007. Pelger, Gregor, Willibald Hentschel, in: I. Haar (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, 239–243. Piefel, Matthias, Antisemitismus und völkische Bewegung im Königreich Sachsen 1879–1914, Göttingen 2004. –, Bruno Tanzmann: Ein völkischer Agitator zwischen wilhelminischem Kaiserreich und nationalsozialistischem Führerstaat, in: W. Schmitz/C. Vollnhals (Hg.), Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus: Aspekte einer politisierten Kultur, Dresden 2005, 255–280. Puschner, Uwe, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich: Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. Puschner, Uwe/Grossmann, Ulrich, Völkisch und national: Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009. Puschner, Uwe/Schmitz, Walter/Ulbricht, Justus H. (Hg.), Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ 1871–1918, München, London, Paris 1996; 21999. Puschner, Uwe/Vollnhals, Clemens (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus: Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012. Radmüller, Angelo, ‚Zur Germanisierung des Christentums‘, Verflechtungen von Protestantismus und Nationalismus in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Zeitschrift für junge Religionswissenschaft 7, 2012, 100–122. Schetelich, Maria, Bild, Abbild, Mythos – die Arier in den Arbeiten deutscher Indologen, in: M. Bergunder, R.P. Das (Hg.), „Arier“ und „Draviden“: Konstruktion der Vergangenheit als Grundlage für Selbst und Fremdwahrnehmungen Südasiens, Halle 2002, 40–56. Schmitz, Walter/ Vollnhals, Clemens (Hg.),Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus: Aspekte einer politisierten Kultur, Dresden 2005.
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Schnurbein, Stefanie von, Die Suche nach einer „arteigenen“ Religion in „germanisch-“ und „deutschgläubigen“ Gruppen, in: St. v. Schnurbein/J.H.Ulbricht (Hg,), Völkische Religion und Krise der Moderne, Würzburg 2001, 172–185. –, /Ulbricht, Justus H., Völkische Religion und Krisen der Moderne: Entwürfe „arteigner“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001. Schubert, Dirk, Die Gartenstadtidee zwischen reaktionärer Ideologie und pragmatischer Umsetzung: Theodor Fritschs völkische Version der Gartenstadt, Dortmund, Institut für Raumplanung, Universität Dortmund, 2004. Tischer, Jacob, ‚Einst suchte ich in der Welt das Glück …‘: Buddhisten in Leipzig 1903 bis 1921, in: I. Edenheiser (Hg.), Von Aposteln bis Zionisten: Religiöse Kultur im Leipzig des Kaiserreichs, Marburg 2010, 205–215. Ulbricht, Justus H., „… in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit …“: Aspekte einer Problemgeschichte „arteigner“ Religion um 1900, in: St. v. Schnurbein, J.H. Ulbricht (Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne, Würzburg 2001, 9–39. Weickert, Richard, From Darwin to Hitler: Evolutionary Ethics, Eugenics, and Racism in Germany, New York 2004.
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Christoph Kleine
Praktischer Atheismus als religiöser Nonkonformismus Überlegungen zur Nenbutsu-Bewegung des japanischen Mittelalters Hubert Seiwerts schriftliche wie mündliche Beiträge zur Religionswissenschaft waren mir immer Inspiration, Ansporn und Maßstab. Sein systematisches Denken, die knappe Präzision seiner Argumente – das sind für mich kaum erreichbare Ziele (auch dieser Beitrag ist wieder zu lang geraten!). Stets orientiert habe ich mich an seiner Leitlinie, allgemeine und systematische Religionswissenschaft auf der festen Grundlage empirischer, z.B. religionshistorischer Daten zu betreiben. Über viele Jahre hat Seiwert sich nun intensiv mit dem Thema des religiösen Nonkonformismus und der ihm inhärenten kulturellen Dynamik beschäftigt und dabei beharrlich auf die Verschränkung von Theorie und Empirie geachtet. Manchmal hörte ich ihn diesbezüglich klagen, dass es inzwischen enorm schwierig sei, jemanden zu finden, der diesen Themenkomplex im Kontext zeitlich wie räumlich fernliegender (vom modernen europäischen Standpunkt gesehen) Gegenstände kompetent bearbeitet und aus dieser Perspektive die Diskussion über das Konzept des religiösen Nonkonformismus befruchtet. Der folgende Beitrag soll diesen Mangel wenigstens ein bisschen kompensieren.
Prolog Im Winter des jungen Jahres 1207 ereignete sich auf dem Richtplatz Rokujōgawara in der kaiserlichen Hauptstadt Kyōto ein ungewöhnlicher Vorgang. Ein Mönch namens Anraku-bō Junsai ⬱㤥思大 kniete nieder, legte die Handflächen zusammen und sprach – wie zuvor angekündigt – zunächst einige hundert Male die Formel „Namu Amida Butsu“; nach weiteren zehn Anrufungen trennte das Schwert des Offiziers Hideyoshi (1184–1240) auf Anweisung des Ex-Kaisers Go-Toba (1180–1239) seinen Kopf vom Rumpf. Der Überlieferung zufolge erschienen zu dieser Zeit purpurfarbene Wolken am Himmel – für die Umstehenden ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Enthauptete Geburt im Reinen Land des Buddhas Amida erlangt hatte.1
1 Hōnen Shōnin gyōjō ezu, Kap. 33; in: HD, 224–225.
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Praktischer Atheismusals religiöser Nonkonformismus
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Was war geschehen? Die Todesstrafe – noch dazu gegen Mönche – wurde in Japan selten verhängt. Neben Junsai wurden aber im Jahr 1207 sogar noch drei weitere Mönche hingerichtet: Jūren-bō ỷ咖, Zenshakūbō Saii ┬䵥 大シ und Shōgan-bō ⿏栀.2 Die Mönche Jōmon-bō 㳬倆, Zenkō-bō Chōsai 䤭㼬大, Kōkaku-bō ⤥奂, Hōon-bō 㱽㛔, Jōkaku-bō Kōsai ㆸ奂⸠大 und Zenshin-bō Shinran ┬ᾉ奒淆 wurden in die Verbannung geschickt, der Mönch Zen’e-bō [Shōkū] ┬〝[姤䨢] wurde unter die Aufsicht des früheren Ordenspräfekten vom Tempel Mudōji gestellt. Alle hatten eines gemeinsam: Sie waren Anhänger des Mönchs Hōnen-bō Genkū 㱽䃞㸸䨢 (1133–1212; kurz: Hōnen), der unter dem „Verbrechernamen“ (zaimei 伒⎵) Fujii Motohiko 喌ḽ⃫⼎ laisiert und in die Provinz Tosa auf Shikoku verbannt wurde.3 Die Ereignisse des Jahres 1207 bildeten den Kulminationspunkt einer sich über Jahre aufbauenden Eskalation zwischen einer religiös nonkonformistischen Bewegung und dem buddhistischen Establishment.
Hōnens Nonkonformismus Der Tendai-Mönch Hōnen war eine der populärsten, aber auch umstrittensten Figuren des japanischen Buddhismus im Mittelalter.4 Intensives Schriftstudium hatte ihn zu einer radikalen „buddhologischen Rationalisierung“ inspiriert, die in folgende Position mündete: Jeder Mensch, der gläubigen Herzens den Namen des Buddhas Amida in der Formel „Namu Amida Butsu“ (Ehre sei dem Buddha Amitābha/Amitāyus) ausspricht, wird nach dem Tod von diesem Buddha in sein Reines Land geholt, wo er garantiert das höchste Erwachen erlangt. Weder Tugendhaftigkeit oder religiöses Verdienst noch andere religiöse Übungen sind für die Errettung notwendig. Die von Hōnens Lehre inspirierte „Gemeinschaft von der hingebungsvollen und ausschließlichen Buddha-Vergegenwärtigung“ (ikkō senju nenbutsu shū ᶨ⎹⮪ᾖ⾝ṷ埮) schied die Gemüter. Während die einen Hōnen als charismatische Heilsgestalt par excellence und seine Lehre als einzigen Weg zur Befreiung in der Krisenzeit des ‚Endenden Dharma‘ (mappō 㛓㱽) sahen, betrachteten ihn andere als gefährlichen Häretiker. So schreibt im Jahr Ken’ei 2/2/18 (18.~03.~1207) ein unbekannter Hofbeamter in seinem Tagebuch: Genkū Shōnin (otherwise called Hōnen-bō) was banished to Tosa for his dissemination of the Nenbutsu [senju nenbutsu ⮪ᾖ⾝ṷ] doctrine. His disciples these days fill the city and the country, and under the name of Nenbutsu give themselves up to for2 Shūi kotoku den; 7; in: ebd., 628b. 3 Shūi kotoku den; 7; in: ebd. 4 Für Einzelheiten über Hōnen siehe Kleine, Hōnens Buddhismus; Repp, Hōnens religiöses Denken.
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nication and immoral association with the wives and daughters of good families. They set at naught all the laws of the Buddhas and the State, and daily practice shameful deeds. So the Government has ordered the proper officials to arrest them, and mete out suitable penalties, whether of imprisonment or execution, the women too being punished as they severally deserve. These punishments are inflicted, on the ground of due accusations by the priests of the established sects.5
Während die hier vorgetragenen Vorwürfe recht allgemein und stereotyp klingen, verdient der letzte Satz unsere Beachtung: Offenkundig wurde die Bewegung um Hōnen vor allem auf Betreiben der etablierten Institutionen des Buddhismus verfolgt. Tatsächlich hatten die Priester des mächtigen Tempels Kōfukuji in Nara den angesehenen Mönchsgelehrten Gedatsu-bō Jōkei 妋僙屆ㄞ (1155–1213) beauftragt, eine Petition für ein Verbot der NenbutsuBewegung zu verfassen. Die so genannte Kōfukuji-Petition (Kōfukuji sōjō [an] 冰䤷⮢⣷䉞[㟰]) wurde im 10. Monat des Jahres Genkyū 2 (11. 1205) eingereicht. Darin werden recht detailliert neun Fehler der Nenbutsu-Bewegung um Hōnen aufgelistet. Für diesen Beitrag ist vor allem der Fehler Nr. 5 von Interesse: Artikel 5: Der Fehler, sich von den numinosen Göttern abzuwenden (ha reishin shitsu 側暲䤆⣙)
Die Nenbutsu-Anhänger haben sich für immer von den Göttern losgesagt. Ungeachtet der Frage, ob es sich dabei um provisorische Erscheinungsformen oder um wirkliche [Vertreter der] Gattung [der Götter] (gonge jitsurui 㧑⊾⭇栆) handelt, erweisen sie weder den Mausoleen der Ahnen, noch den Großschreinen ihren Respekt. Sie sagen, man fahre zur Hölle, wenn man sich an die Götter wendet. Lassen wir zunächst die wirklichen Geister und Götter (jitsurui kishin ⭇栆櫤䤆) außen vor und reden nicht über sie. Wenn man aber zu den provisorischen Erscheinungsformen der Herabgelassenen Spuren (gonge suijaku 㧑⊾✪嶉) kommt, so handelt es sich hierbei um die [Manifestationen der] Großen Heiligen [Buddhas und Bodhisattvas]. […] Die Śramaṇas der Endzeit [des Dharma] respektieren Fürsten und Minister; um wie viel mehr sollten sie die numinosen Götter (reishin 暲䤆) [ehren]?! Derartig ungebührliche Äußerungen müssen unbedingt unterbunden werden.6
Der Vorwurf der „Nichtverehrung der Götter“ (shingi fuhai 䤆䣯ᶵ㊅) gehört zu den am häufigsten gegen die Bewegung Hōnens erhobenen und spielt, wie ich glaube, eine entscheidende Rolle für deren Etikettierung als Nonkon5 Kōtei kishō; in: HD, 973b; zit. nach Coates/Ishizuka, Hōnen the Buddhist Saint, 606, Fn 2.; Schreibweisen angepasst. 6 Kamata/Tanaka, Kamakura kyūbukkyō, 38–39/313b. Vgl. auch KI, Bd. 3, 258–259. Für eine englische Übersetzung siehe Morrell, Jōkei and the Kōfukuji Petition, 6–38. Die Übersetzung Morrells ist leider vollkommen anachronistisch (u. a. wenn er reishin 暲䤆, shinmei 䤆㖶!usw. mit „Holy Gods of Shinto“ übersetzt) und teils schlicht fehlerhaft.
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formisten durch das Establishment.7 Das mag all jene überraschen, die den Buddhismus mit W. James8 oder É. Durkheim9 als eine „atheistische Religion“ betrachten. Tatsächlich aber wurde die Verehrung der Götter im mittelalterlichen japanischen Buddhismus als Staatsbürgerpflicht betrachtet, was bedeutet, dass es bei der Frage der Verehrung oder Nicht-Verehrung nicht um eine private religiöse Entscheidung ging. Erst dadurch – so meine These –, dass nach Auffassung des Establishments von den Lehren und den darauf basierenden Handlungen (oder Nicht-Handlungen) der Nenbutsu-Anhänger schädliche Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft zu erwarten waren, wurde Hōnens Doktrin von einer im Rahmen einer pluralen Situation legitimen Option zu einem strafbewehrten Nonkonformismus. Noch präziser wird das Problem des intolerablen „praktischen Atheismus“ in einer Petition der Priester des Enryakuji formuliert, des Haupttempels des Sanmon-Ordens der Tendai-Schule, dem Hōnen und ein großer Teil seiner ordinierten Anhängerschaft selbst angehörte. Der Text wurde im Jahr Jōō 3/5/17 (5.~6.~1224), also 12 Jahre nach Hōnens Tod, verfasst, was auch zeigt, dass alle Verfolgungsmaßnahmen – 1217 und 1219 waren weitere kaiserliche Verbotserlasse ausgegeben worden – bis dahin nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt hatten. Es ist unangemessen, dass die Clique des Hingebungsvollen und Ausschließlichen [Nenbutsu] den Göttern den Rücken zuwendet: Unser Reich ist ein Land der Götter (shinkoku 䤆⚥). Man bringt den Gottheiten im Dienst des Staates Verehrung entgegen. Wenn man sorgfältig den Ursprung der hundert Götter abwägt, dann gibt es nicht einen, der nicht eine Spur der diversen Buddhas (shobutsu no shaku 媠ṷᷳ御) wäre. Der Großschrein von Ise, der Schrein des Wahren Hachiman, [die Schreine von] Kamo, Matsuo, Hiyoshi, Kasuga usw. sind sämtlich Erscheinungsformen Śākyamunis, Bhaiṣajyagurus, [A]midas, Avalokiteśvaras usw. Sie alle wählten Orte aus, die seit langer Zeit segensreich waren. Stets passten sie sich an die karmischen Bedingungen [der Menschen] an und ergründeten die karmischen Ursachen von Gut und Böse. Als provisorische Erscheinungen verteilen sie außerdem Lohn und Strafe (shōbatsu 岆优). Mal ist Licht, mal ist Schatten, aber die erhabene Erscheinung der verborgenen Herabgelassenen Spuren (suijaku ✪御) ist großes Mitgefühl und großes Mitleid. Wenn man tiefe Verehrung gegenüber der Mondscheibe der Urgründe (honji 㛔⛘) zeigt, dann folgt darauf innere Erleuchtung. Wenn man den Dharma verbreitet, die Schriften rezitiert und den göttlichen Zeichen folgt und die Welt Glauben fassen lässt, dann profitiert davon jeder Mensch. Doch nun verlas-
7 Siehe hierzu auch Kleine, Pluralismus und Pluralität. Zur Bedeutung der Haltung zum Götterglauben für eine Bewertung der Haltung buddhistischer Reformer gegenüber dem Staat siehe Sasaki, Chūsei kokka no shūkyō kōzō, 51. 8 James, The Varieties, 31. 9 Durkheim, Les formes élémentaires, 41.
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sen sich die Gefährten des Ausschließlichen [Nenbutsu] ganz auf das Nenbutsu und seit langem respektieren sie die strahlenden Götter (myōjin 㖶䤆) nicht mehr. Schon kommt es zu Unruhen zum Nachteil der Nation. Wie sollte das nicht die Strafe der Götter (kami no togame 䤆ᷳ) sein? Man muss wissen, dass die machtvollen Gottheiten (sei no jingi ⊊ᷳ䤆䣯) die Dämonen (kihaku 櫤櫬) im Zaum halten und bezwingen! Zudem wird hierzu im Mahāvaipulya-Sūtra erklärt, der Buddha habe die zu seinen Lebzeiten [verbreiteten] heiligen Lehren an die Götter und Geister der zehn Richtungen (jippō reishin ⋩㕡暲䤆) weitergegeben. Diese respektieren die Anweisungen des Buddha und schützen das Kleinod des Dharma (chingo hōō 捖嬟㱽 ⭅). Aus diesem Grund beschützen sie auf jeden Fall Leute, die die Lehren der Sūtras annehmen und bewahren. Leuten, die Verleumdungen dagegen erheben, wird großes Leid zuteil. Die Verleumder sollten von dieser Vergeltung wissen. Unter ihnen sind welche, wie man hört, die das Verhalten von Aufrührern zeigen, nach verzehrtem Fleisch riechend, in den heiligen Bezirken der numinosen Götter verkehren und die Schreine und Altäre der Herabgelassenen Spuren mit ihrem üblen Atem betreten.10 Die zehn Übel und fünf Perversionen werten sie als Vorbereitung auf die Aufnahme durch [A]mida und sie behaupten, die Götter (shinmei 䤆㖶) und Gottheiten (jindō 䤆 忻) behinderten die Hingeburt in das [Land des] Höchsten Glücks (gokuraku no ōjō 㤝 㤥ᷳ⼨䓇). Vernunftbegabte Menschen, hütet euch vor solchen Worten! Sie sind ein Kapitalverbrechen an den Gesetzen des Götterlandes (shinkoku no hō 䤆⚥ᷳ㱽), und ihr solltet besser vor der Strafe durch das Herrscherhaus fliehen.11
Die Petition hatte offenkundig Erfolg, denn schon knapp sechs Wochen darauf (Jōō 3/6/29) erließ der Tennō Go-Horikawa ⼴➨㱛⣑䘯 (r. 1221–1232) ein „Betätigungsverbot gegen die Nenbutsu[-Bewegung]“ (senju nenbutsu ji teihai ⮪ᾖ⾝ṷḳ ).12 In einer wenige Tage später (Jōō 3/7/5) verfassten Stellungnahme des Tennō an den Abt des Enryakuji wird darauf verwiesen, dass „die Aktivisten des ausschließlichen Nenbutsu die Ursache für den Verfall der verschiedenen [etablierten] Schulen [des Buddhismus] sind“.13 Weitere Verbote wurden 1227, 1234, 1235 und 1240 ausgesprochen.14 Die Zitate aus den Petitionen des Kōfukuji- und des Enryakuji-Klerus werfen eine Reihe von Fragen auf. Um zu verstehen, welche Stellung und welche 10 Offenkundig missachteten die Anhänger Hōnens systematisch die zahlreichen Tabus und Reinheitsgebote im Umgang mit den Göttern. Hōnen selbst betont in seinen Gesprächen [mit Gläubigen] in Hundertundfünfundvierzig Abschnitten (Ippyakushijūgo kajō mondō 䘦⚃⋩Ḽ䬯㜉⓷䫼) immer wieder, dass es im Buddhismus keine Tabus gebe (bukkyō ni ha imi to ifu koto nashi ṷ㔁 ̬̰̅̀[⽴]̶̩̅ḳ̫̘) und weder die Begegnung mit dem Tod, noch mit Geburt oder Menstruation am Umgang mit den Buddhas oder Kamis hindere und dass man sich über die Götter im Buddhismus keine Gedanken zu machen brauche. HZ, 648, 649, 654, 658, 659, 666. 11 KI, Bd. 5, 271–272. 12 KI, Bd. 5, 284. 13 KI, Bd. 5, 284. 14 Coates/Ishizuka, Hōnen the Buddhist Saint, 689.
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Funktion die Verehrung der Götter in der common religion des japanischen Mittelalters hatte, bedarf es eines kurzen historischen Exkurses.
Zur Entwicklung des Götterglaubens bis zur Kamakura-Zeit Mit der offiziellen Einführung des Buddhismus in Japan im 6. Jahrhundert stellte sich zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis der neuen Religion zu den einheimischen Kulten. Aus Sicht der Japaner waren die Buddhas, Bodhisattvas und Devas des Buddhismus zunächst schlicht „ausländische Götter“ (banshin 嚖䤆 / 哫䤆) und damit Konkurrenten der innerhalb lokaler oder familialer Grenzen eher unsystematisch verehrten Kami 䤆. Aus buddhistischer Sicht waren die Kami unerwachte, mithin erlösungsbedürftige Wesen, die der Segnungen des buddhistischen Erlösungsweges sowie der Befriedung durch buddhistische Rituale bedurften. Götter, Geister, Dämonen und Gespenster existieren nach buddhistischer Weltsicht in einer Sphäre, die zwar der Alltagswahrnehmung unzugänglich ist, die dessen ungeachtet aber als innerweltlich (seken ᶾ攻; Skt. laukika) eingestuft wird, da sie den karmischen Wirkgesetzen unterworfen ist und demnach zum Saṃsāra, zum leidvollen „Kreislauf der Wiedergeburten“ gehört. Aus etischer Sicht kann man hier von einer Sphäre „relativer Transzendenz“ sprechen, während aus buddhistischer emischer Perspektive dieser Bereich eher als „numinose Immanenz“ eingestuft wird. Einmal z.B. durch die Lektüre von Sūtras an extra eingerichteten Schreinen befriedete Kami wurden zu Schutzgottheiten (shugoshin ⬰嬟䤆) des Buddhismus. Seit dem 9. Jahrhundert entwickelte sich ein Interpretationsansatz, dem zufolge die einheimischen Gottheiten als lokale Manifestationen bzw. „herabgelassene Spuren“ (suijaku ✪御) der Buddhas und Bodhisattvas anzusehen seien.15 Um besser auf die Bedürfnisse der Menschen in diesem entlegenen Teil der Welt reagieren zu können, hätten die buddhistischen Heilsgestalten ihr Licht „abgemildert und sich so an den Staub [der Welt] angepasst“ (wakō dōjin ⎴⠝).16 In ihrer reinen Form als „Urgrund“ (honji 㛔⛘) wären die Buddhas und Bodhisattvas für die Japaner zu strahlend gewesen. Die Theorie von den „Urgründen und herabgelassenen Spuren“ (honji suijaku 㛔⛘✪御) hatte sich im 12. Jahrhundert voll etabliert. Besonders deutlich bringt der Mönch und Literat Mujū Ichi’en 䃉ỷ忻㙱 (1227–1312) die Idee von den Urgründen und den Herabgelassenen Spuren in seinem Shasekishū 㱁䞛普 zum Ausdruck:
15 Als frühe Quelle gilt eine Schrift des Tendai-Mönchs Eryō 〝Ṗ aus dem Jahr 859. Asai, Hōnen ni okeru shingi no mondai, 33. 16 Siehe z.B. KI, Bd. 2, 320. Vgl. ebd., Bd. 5, S. 362 und Bd. 44, S. 59.
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In Japan the illustrious native deities who soften their light (wakō no shinmei [Ά^ 䤆㖶) first manifested their traces (ato wo tarete 嶉Ϊ✪Τ;) – the Buddha using this skillful means (hōben 㕡ὧ) to soften the rough disposition of the people and to lead them to belief in the Law. If we rely on the profound efficacy of the Original Ground (honji 㛔⛘) while believing in the skillful means, close to hand, of gods who soften their light, we will realize our hope for peace and the end of calamities in this life, and attain the eternal enlightenment, not subject to birth-and-death, in the next. Those born in our land should be thoroughly aware of this fact.17
Hieraus ergeben sich schon mögliche Antworten auf zumindest eine der Fragen, die dieser Artikel beleuchten will. Bei diesen handelt es sich um die folgenden: Wie standen Hōnen, seine Anhänger und seine Nachfolger tatsächlich zum Götterkult? Warum war eine ablehnende Haltung zum Götterkult offenkundig ein so wichtiger Faktor bei der Zuschreibung von religiösem Nonkonformismus im mittelalterlichen Japan? Welche kulturelle Dynamik hat die von Hōnen eher ungewollt angestoßene Debatte um den Stellenwert der Götter ausgelöst, wobei zwei Unterfragen zu unterscheiden sind: Welche diskursiven Formationen auf Seiten des buddhistischen Establishments hat die unterstellte Ablehnung des Götterkultes durch die Nenbutsu-Bewegung ausgelöst? Welche Interpretationsstrategien haben die „Nonkonformisten“ gewählt, um für sich Konformität reklamieren zu können, ohne die Lehren ihrer Vordenker zu verraten?
Hōnens Haltung zum Götterkult In seinem berühmten Standardwerk zur Honjisuijaku-Theorie von 1974 betont Murayama Shūichi, dass sich in Hōnens Schriften keine expliziten Absagen an die Verehrung der Götter fänden. Zudem sei nicht dokumentiert, dass sich landesweit innerhalb der Gefolgschaft des Reinen Landes eine „atheistische“ Bewegung formiert habe. Er vermutet daher, dass der „Atheismus-Vorwurf“ ein der Realität nicht entsprechendes, stereotypes Element der Kritik von Seiten der etablierten buddhistischen Institutionen war.18 Eine ganz andere Haltung nimmt Ama Toshimaro in dieser Frage ein. Ama versucht anhand einer Analyse von Hōnens allgemeinem Denken zu zeigen, 17 Zitiert nach Morrell, Sand and Pebbles, 75. Japanisches Original in NKBT Bd. 85, S. 61. 18 Murayama, Honji suijaku, 174–175. Auch Martin Repp betont, dass Hōnen die Honji-SuijakuLehre nicht offen kritisiert und an die Möglichkeit von weltlichen Manifestationen eines Buddha glaubt, wenn er etwa Shandao als „Verwandlungskörper“ Amidas bezeichnet. (Z.B.: Zendō wa kore Mida no keshin nari to ┬⮶㗗旨⊾幓ḇ; HZ, 349). Repp, Hōnens religiöses Denken, 474. Hōnen zitiert hier allerdings nur – wenngleich offenbar zustimmend und für die Legitimation seiner eigenen Lehrauffassung nutzend – eine Überlieferung der Tang-Zeit. Für Hōnen scheint Repp zufolge „die Unterscheidung zwischen Amida und seinen Manifestationen einerseits, und den anderen Buddhas und der Manifestationen andererseits zu verlaufen.“ Ebd., 474.
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dass er zumindest implizit die Götterverehrung ablehnen musste. Zwar hielt Hōnen an der Auffassung fest, dass die „Götterkönige“ (shin’ō 䤆䌳) und ihr Gefolge von Dämonen und Geistern (kishin 櫤䤆) automatisch alle beschützen, die sich zum Buddha, zum Dharma und zum Saṅgha bekehrt haben.19 Gesonderte Gebete an die Götter sind für Hōnen jedoch unnötig20 – in Hōnens Denksystem würde es sich dabei um ablehnungswürdige „vermischte Übungen“ (zōgyō 晹埴) handeln.21 Insbesondere dürfen innerweltlichen Zwecken dienende Gebete nicht die zur Befreiung durch Hingeburt in Amidas Reines Land führende Praxis des Nenbutsu behindern, wobei nicht immer ganz klar ist, ob Hōnen solchen Gebeten innerweltliche Wirksamkeit abspricht. So schreibt er in einem Brief an einen wichtigen Laienanhänger: Was innerweltliche Gebete angeht, muss man sich über Gebete an die Buddhas und Götter keine Sorgen machen. Für die Hingeburt in die nächste Welt ist jedenfalls keine andere Praxis zu üben außer dem Nenbutsu. Wenn man es für innerweltliche Zwecke tut und nicht zum Zwecke der Hingeburt, dann muss man sich über Gebete an Buddhas und Götter keine Sorgen machen.22
Hōnen bestreitet hier also nicht offen die innerweltliche Wirksamkeit der Gebete,23 bestreitet aber zumindest die Sinnhaftigkeit innerweltlicher Ziele.24 Andere Quellen suggerieren indes, Hōnen habe sogar die Wirksamkeit von Gebeten an die Buddhas und Götter generell bezweifelt. Wie Ama zeigt, hat 19 Quelle: Jōdoshū ryakushō (HZ, 604), eine knappe Zusammenstellung der Lehren vom Reinen Land für die in den Nonnenstand eingetretene Hōjō Masako (1157–1225), die Witwe des ersten Shōguns Minamoto no Yoritomo (1147–1199). Wenn Hōnen von Schutzgöttern spricht, so betont Asai, sind allerdings ausschließlich diejenigen des indisch-buddhistischen Pantheon gemeint. Asai, Hōnen ni okeru shingi no mondai, 45–46. 20 Ama, Hōnen no shōgeki, 114–115; siehe auch Asai, Hōnen ni okeru shingi no mondai, 42–45. Eine einschlägige Aussage Hōnens in diesem Sinne findet sich in seinem Jōdoshū ryakushō (HZ, 604). 21 Asai, Hōnen ni okeru shingi no mondai, 39–40. Vgl. hierzu auch Ji’a Ryōshins ㊩旧列⽫ (–1314) diesbezügliche Erläuterungen in seinem Senchaku ketsugi shō kenmon 怠㉆㰢䔹㈬夳倆 (JZ 7, 791b8–14). Diesem Jōdo-Mönch zufolge sind Nenbutsu-Abhänger, die zu innerweltlichen Zwekken zu den Göttern beten als „Menschen zu bezeichnen, die das Wahre zusammen mit dem Vermischten praktizieren ⎗⎵㬋暄ℤ埴Ṣ“. 22 HZ, 504. 23 Itō Yuishin, der davon ausgeht, dass der Brief etwa in der Zeit zwischen 1204 und 1207 geschrieben wurde, d.h. schon unter dem Eindruck der einsetzenden Verfolgung gegen die NenbutsuAnhänger, vermutet, dass Hōnen hier schon angesichts des wachsenden Drucks auf seine Bewegung eine etwas moderatere Haltung gegenüber dem Götterkult einnimmt, nicht zuletzt um seine Laienanhänger nicht unnötigen Gefahren auszusetzen, die sich aus der Nichtbeachtung ihrer Pflichten hätten ergeben können. Siehe Itō, Hōnen no seiki, 134–135. 24 Man könnte hier mit Weber von einer paradoxen Korrelation zwischen der rationalen Systematisierung des Gottesbegriffs (hier i.S. Amidas und seiner Beziehung zu den Menschen) und der Irrationalisierung des Ziels des religiösen Sichverhaltens sprechen, das nun ausschließlich „außerweltlicher“ und „außerökonomischer“ Natur zu sein hat. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 259.
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Hōnen die traditionelle Auffassung vertreten, dass Krankheiten oder andere innerweltliche Beschwerden i.d.R. auf schlechtes Karma zurückzuführen seien.25 So betont Hōnen in der Tat in seinem Jōdoshū ryakushō, es sei unsinnig, zu den Buddhas und Bodhisattvas zu beten, um böse Geister abzuwehren, die damals für die meisten innerweltlichen Probleme verantwortlich gemacht wurden.26 Im gleichen Text stellt er denn auch eine aus damaliger Sicht wohl ungeheure rhetorische Frage: Wenn man infolge akkumulierten Karmas krank wird, dann mag man wohl zu allen möglichen Buddhas und Göttern beten, aber hiervon hängt [die Gesundung] nicht ab. Wenn aufgrund des Betens Krankheiten geheilt oder das Leben verlängert würden, warum ist dann auch nur ein Mensch krank und warum sterben die Menschen?27
Auch wenn Hōnen nicht offensiv zur Abkehr von den Göttern aufgerufen hat,28 so wurde seine Botschaft doch wohl von seinen Kritikern richtig verstanden. Die in der Literatur als jingi fuhai 䤆䣯ᶵ㊅ („die Götter nicht zu verehren“) bezeichnete Haltung provozierte auf Seiten des Establishments nicht nur massiven Widerstand, der sich in Verfolgungsmaßnahmen gegen Hōnen und seine Anhänger manifestierte, sondern zugleich auch eine Verstärkung des Diskurses um die Urgründe und ihre herabgelassenen Spuren und damit gewissermaßen eines frühen „Shintō-Diskurses“ (shintō ron 䤆忻婾).29 Teilweise als Folge der Herausforderung durch Hōnens „praktischen Atheismus“ (Folge seiner „buddhologischen Rationalisierung“) kann man wohl auch die Etablierung der Ideologie von Japan als „Götterland“ (shinkoku 䤆⚥)30 werten, die gewissermaßen ein Auswuchs der „theologischen Rationalisierung“ des Kami-Kultes war und Kuroda Toshio zufolge im 14. Jahrhundert das Ideologem von der „Interdependenz der Ordnung des Herrschers und der Ordnung des Buddha“ (ōbō buppō sō’i 䌳㱽ṷ㱽䚠ὅ) ablöste.31 Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Ideologie als solche – wie gesehen – schon im frühen 25 26 27 28
Ama, Hōnen no shōgeki, 114–115. Siehe hierzu Hōnens Jōdoshū ryakushō in HZ, 604. HZ, 604; vgl. Ama, Hōnen no shōgeki, 114. HZ, 604–605; Ama, Hōnen no shōgeki, 116. Asai meint sogar, dass man in Hōnens Antworten auf Fragen von Nonnen im Hyakushijūgo kajō mondō (HZ 660) einen Standpunkt der synkretistischen Vermischung von Kami- und BuddhaKult (shinbutsu shūgō no tachiba 䤆ṷ佺⎰̯䩳⟜) erkennen könne, wenn er etwa erklärt, ein Nenbutsu-Übender könne an einem Götter-Schrein auch das Nenbutsu anstelle eines Sūtras rezitieren. Asai, Hōnen ni okeru shingi no mondai, 55. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass Hōnen es seinen Laienanhängern allein aus taktischen Gründen gestattet, den rituellen Konventionen zu folgen, ohne deren ideologische Basis zu teilen. 29 Ama, Hōnen no shōgeki, 176. 30 Dass diese Idee noch immer in den Köpfen mancher Japaner herumgeistert, wurde der erstaunten Weltöffentlichkeit bewusst, als der Premierminister Mori Yoshirō vor einer Versammlung von Shintō-Vertretern sagte: „Japan ist das Land der Götter, mit dem Tennō im Zentrum 㖍㛔̰ ⣑䘯͓ᷕ⽫̩̘̠䤆̯⚥“. 31 Kuroda, The Discourse, 377ff
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13. Jahrhundert unter anderem von Jōkei32 gegen die Nenbutsu-Bewegung in Stellung gebracht wurde. Darüber hinaus würde ich nicht von einer Ablösung, sondern von einer Erweiterung und Zuspitzung sprechen, die noch deutlicher hervorhebt, dass die Ablehnung des Götterkultes eine klare politische Dimension hatte. Diese will ich im Folgenden skizzieren.
Ablehnung des Götterkultes als zentrales Element eines religiösen Nonkonformismus Der Glaube an die Götter und deren Macht zu strafen (shinbatsu 䤆优, meibatsu ⅍优, butsubatsu ṷ优) war im japanischen Mittelalter eines der wesentlichen Mittel zur „Domestikation der Massen“, die auf den zahlreichen Ländereien (shōen 匀⚺)33 der religiösen Institutionen lebten und arbeiteten. In der Kamakura-Zeit (1185–1333) wurden auf den Ländereien gezielt Tempel und Schreine errichtet, um die Kontrolle über die darauf lebenden Menschen zu verstärken. Die religiösen Großgrundbesitzer verbreiteten die Ideologie, das Land gehöre tatsächlich den Göttern oder Buddhas, und sie selbst seien lediglich Verwalter des heiligen Landes.34 Vor allem im Kontext des esoterischen Buddhismus wurden diesbezüglich ausgefeilte Rituale entwickelt, etwa das „Verfluchen des Namens“ (rōmyō 䰈⎵), wie zahlreiche Dokumente aus der Kamakura-Zeit beweisen. In der Zeit zwischen 1185 und 1333 wurden Dutzende so genannter „Schriftlicher Gelöbnisse“ (kishōmon 崟婳㔯) produziert, in denen all jenen, die gegen die Autorität der klösterlichen Grundbesitzer aufbegehrten – z.B. indem sie die als Opfergaben deklarierten Steuern nicht zahlten – mit der okkulten Strafe der Götter und Buddhas (shinbachi/ shinbatsu 䤆优 bzw. butsubachi ṷ优) und dem Sturz in die Avīci-Hölle gedroht wird.35 Zwischen der Etablierung der Honji-suijaku-Doktrin und der Verbreitung des Glaubens an die Strafe der Buddhas bzw. der Kami bestand offensichtlich ein enger Zusammenhang – „Butsubachi“, so Rambelli, „could in fact be understood as a by-product of honji suijaku“.36 Wenn also die „ex32 33 34 35
Hierzu Asai, Hōnen ni okeru shingi no mondai, 35. Zur Institution der shō’en siehe Ōyama Kyōhei. Medieval Shōen. Rambelli, Buddha’s Wrath, 59–60. ebd., 57ff. Manche dieser Texte enthalten auch das, was man in der biblischen Formgeschichte als „Formel der bedingten Selbstverfluchung“ bezeichnet. Offenbar ist die Idee der Strafe durch transzendente Mächte in Japan immer noch lebendig. So sprach der Gouverneur von Tokyo, Ishihara Shintarō, am 14. März 2011, unmittelbar nach dem verheerenden Tsunami, der Teile Japans verwüstete, unverhohlen von einer „Strafe des Himmels“ (tenbatsu ⣑优), welche die „egoistische Gier“ (gayoku ㆹ㫚) der Japaner reinwaschen sollte. The Asahi Shimbun Company, „‚Daishinsai wa tenbatsu‘, ‚Tsunami de gayoku haraiotose‘ – Ishihara Tochiji“. http://www. asahi.com/special/tokyo/TKY201103140356.html (letzter Zugriff: 6. Februar 2013). 36 Rambelli, Buddha’s Wrath, 56.
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trakanonische“ Praxis des Herbeirufens der Strafe durch übermenschliche Agenten ein „means of social control“ (Rambelli) – ganz im Sinne von Webers „Mittel der Domestikation der Beherrschten“37 – war, dann musste eine religiöse Lehre, die den Glauben an göttliche Strafen und Segnungen ablehnte, notwendigerweise als hochgefährlich eingestuft werden, denn „[i]f there had been no consensus on the status of the deities and their power to punish, such formulae would have been meaningless“.38 Vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum Mitgliedschaft in der Ikkō-Nenbutsu-Bewegung noch über 150 Jahre nach Hōnens Tod auf den Domänen des Saidaiji-Tempels von Nara als eines der schwersten Verbrechen galt.39 Folgt man dem Historiker Kuroda, provozierten die Reformbewegungen des 13. Jahrhunderts auf Seiten des buddhistischen Establishments neue Diskursformationen, die zumindest vordergründig eine „Resakralisierung“ der politischen Herrschaft intendierten und daher für unser Thema von höchster Relevanz sind.40 Kuroda sieht die „Götterland-Ideologie“, die Japan zum „Land der Götter“ erklärte, als direkte Reaktion des buddhistischen Establishments auf die Reformbewegungen der Kamakura-Zeit (1185–1333). Mit ihrer Verweigerung der Götterverehrung im Sinne der Honji-Suijaku-Doktrin bedrohten die Nonkonformisten die Kultzentren des etablierten Buddhismus und das gesamte feudalistische Machtgefüge, innerhalb dessen die buddhistischen Institutionen als Großgrundbesitzer einen von drei großen Machtblöcken bildeten. Nach Kuroda war die Shinkoku-Ideologie unmittelbar politisch motiviert,41 was möglicherweise von den ausgebeuteten Massen verstanden wurde, wenn sie sich zu den heterodoxen buddhistischen Bewegungen bekannten, die dem Kami-Kult und insbesondere der Götterland-Ideologie zumindest skeptisch gegenüber standen.42 Auffallend ist jedenfalls, dass die Angriffe des buddhistischen Establishments gegen die besonders aktive Nenbutsu-Bewegung im Anschluss an Hōnen v.a. mit deren staatsgefährdenden Ablehnung des Götterglaubens begründet werden.43 Kuroda sieht auch die Ikkō-Ikki-Aufstände des 15. und 16. Jahrhunderts als direkte Revolten gegen den auf der Ideolo37 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 701. 38 Rambelli, Buddha’s Wrath, 47. Interessanterweise verwendet Shinran rhetorisch eine sehr ähnliche Verwünschungsformel wie die etablierten buddhistischen Institutionen, wenn er in Verteidigung seines Schülers Jishin ヰᾉ schreibt: „If, while having told Jishin these things, I now lie and conceal it, or if I have taught him without letting others know, then may the punishment (bachi 优), first, of the Three Treasures, and of all the devas and benevolent gods [媠⣑┬䤆] in the three realms of existence, of the naga-gods and the rest of the eight kinds of transmudane beings [漵䤆ℓ悐] in the four quarters, and of the deities of the realm of Yama [散櫼䌳䓴̯䤆䣯 ⅍忻], the ruler of the world of death – all be visited on me, Shinran.“ Shinran Shōnin kechimyaku bunshū 奒淆俾Ṣ埨傰㔯普, in: CWS, 575–576; vgl. SS, 597. 39 Rambelli, Buddha’s Wrath, 43. 40 Kuroda, The Discourse, 377f 41 ebd., 382–383. 42 Rambelli, Religion, 387–425. Ders., Just Behave as You Like, 177. 43 Kleine, Hōnens Buddhismus, 22, 220–222. Ders., Pluralismus und Pluralität.
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gie des Shinkoku basierenden Feudalismus.44 Die Götterland- oder ShinkokuIdeologie ist allerdings durchaus nicht ganz konsistent und einheitlich.45 Teile des Shinkoku-Diskurses sakralisieren die Herrschaft des Kaisers, indem sie diesen als Abkömmling der Kami oder des „Ur-Buddha“ Mahāvairocana erklären. Das Shinkoku-Konzept, so Kuroda, „enabled the systematization and religious justification of the secular order and the ethical code“.46 Mit der politisch beabsichtigten, aber im Rahmen des religiösen Symbolsystems formulierten Götterland-Ideologie versuchten die klerikalen Großgrundbesitzer auch, gegen den Trend der Bildung autonomer kommunaler Identitäten (diese waren wiederum nicht selten religiös markiert) eine umfassende kollektive Identität zu setzen, gemäß derer z.B. die Gottheiten Sannō oder Tenshō Daijin (Amaterasu) zu „overlords“ avancierten.47
Hōnens Nachfolger und das Problem des Götterkultes Der in Hōnens Lehre zumindest implizierte „praktische Atheismus“ zwang die unter Verfolgungsdruck stehenden Nachfolger zu einer Positionierung. Dabei ist allgemein der Trend zu beobachten, sich mit der Götterverehrung zu arrangieren, indem man die Honji-Suijaku-Doktrin wieder aufgriff. Dass Hōnens ablehnende oder zumindest indifferente Haltung zum Honji-SuijakuGlauben schon bald innerhalb der Bewegung des Reinen Landes aufgegeben wurde, zeigt sich unter anderem in der offiziellen Standardbiographie Hōnens, dem knapp 90 Jahre nach seinem Tod angefertigten Hōnen Shōnin gyōjō ezu, in dem sich mehrere Hinweise auf eine Akzeptanz der Ideologie von den Urgründen und den Herabgelassenen Spuren finden.48 Doch was hat Hōnens bekanntester Schüler Shinran über den Honji-Suijaku-Glauben und den Götterkult gedacht? Shinran 奒淆 (1173–1262)49 Wie schon Hōnen äußert sich Shinran kaum zu diesem heiklen Thema. In seinen Japanischen Hymnen auf das Reine Land (Jōdo wasan 㳬⛇嬫) findet 44 45 46 47 48
Rambelli, Religion, 401. Kuroda, The Discourse; Rambelli, Religion. Kuroda, The Discourse, 375. Rambelli, Religion, 403. Ama, Hōnen no shōgeki, 168–170. Hōnen und sein berühmtester Schüler Shinran wurden von ihren Nachfolgern sogar selbst in dieses heilsgeschichtliche Konzept eingewoben. Siehe z.B. das von Kakunyo herausgegebene Kudenshō (T83, Nr. 2663, S. 745a11–17). Auch innerhalb der Jōdoshū war es üblich, die Großmeister der eigenen Tradition als herabgelassene Spuren Amidas oder seiner begleitenden Bodhisattvas zu betrachten. So galt es als ausgemacht, dass Hōnen eine herabgelassene Spur Mahāsthāmaprāptas sei, also des Bodhisattvas, der wie Avalokiteśvara an der Seite Amidas im Reinen Land sitzt. Vgl. z.B. Shōgeis 俾ℷ (1341–1420) Ōhara dangi kikigaki shō kenmon ⣏⍇婯佑倆㚠憼夳倆 (JZ 14, 789a5–8). 49 Folgende Artikel geben weitere Auskunft zu Shinrans Sicht auf die Kami, konnten aber nicht
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sich zunächst einmal eine Passage die feststellt, dass Brahma und Indra, die großen Könige der vier Himmelsrichtungen und alle Götter des Himmels und die Götter der Erde (tenjin chigi ⣑䤆⛘䣯), d.h. die guten Geister und Götter (zen kishin ┬櫤䤆), einem Nenbutsu-Praktizierenden folgen wie ein Schatten und ihn bei Tag und bei Nacht beschützen.50 In einem Brief warnt Shinran sogar davor, die Götter und Numina (shingi, myōdō 䤆䣯51ί⅍忻52) zu verachten. Er begründet dies damit, dass die Götter des Himmels und der Erde (tenchi no kami ⣑⛘̯䤆) alle gläubigen Buddhisten beschützen.53 Daraus zu schließen, Shinran habe sich das Honji-Suijaku-Denken zu Eigen gemacht, scheint mir jedoch verfehlt. Weder lässt sich aus seinen Worten eine Anerkennung des Glaubens an die Manifestation der Buddhas und Bodhisattvas in Gestalt lokaler Gottheiten herauslesen, noch ist hieraus die Aufforderung zu einer aktiven Verehrung der Götter abzuleiten.54
50 51
52
53 54
mehr im Einzelnen berücksichtigt werden: Hayashi, Shinran no shingikan; Honda, Shinran no shingikan (1); ders., Shinran no shingikan (2); ders., Shinran no shingikan (4) Hosokawa, Shinran no shingikan; Tashiro, Shinran no shingikan. SS, 487–488. Vgl. Murayama, Honji suijaku, 177. Shingi ist eine Abkürzung von „tenjin chigi ⣑䤆⛘䣯“, d.h. „Götter des Himmels und Götter der Erde“. Das Nakatomi harae kunge ᷕ冋䣻妻妋, ein zentraler Text des mittelalterlichen KamiDiskurses, erklärt dazu: „heavenly spirits are called shin 䤆, earthly spirits are called gi 䣯, and human spirits are called ki 櫤; therefore one speaks of heavenly shin [⣑䤆], earthly gi [⛘䣯] and human ki [Ṣ櫤].“ Teeuwen/van der Veere, Nakatomi Harae Kunge, 25. Diese Einteilung findet sich schon in den Riten der Zhou (Zhou li ␐䣤). Im Zuge der Taika-Reform, die Staat und Gesellschaft Japans nach chinesischem Vorbild umgestalten sollte, wurde zur rituellen Betreuung der Götter des Himmels und der Erde eigens eine Behörde, das „Amt für die Götter [des Himmels und der Erde]“ (jingikan 䤆䣯⭀) eingerichtet und dem „Amt für Staatsgeschäfte“ (dajōkan ⣒ 㓧⭀) gegenübergestellt (nominell sogar übergeordnet). Hier spiegelt sich eine Konzeption von einem staatlichen Territorium wieder, das eine sichtbare/immanente und eine unsichtbare/transzendente Sphären umfasst. Für die Regelung von Angelegenheiten in der sichtbaren Sphäre war das dajōkan zuständig, für die unsichtbare Sphäre das jingikan. Vgl. Grapard, The economics, 68–69. Ab dem 9. Jahrhundert und mit der zunehmenden Kontrolle der buddhistischen Institutionen über die Götterkulte wurde dieses duale Konzept politischer und ritueller Herrschaftsausübung zunehmend durch das buddhistische Prinzip der „Interdependenz der Ordnung des Herrschers und der Ordnung des Buddha“ (ōbō buppō sō’i 䌳㱽ṷ㱽䚠ὅ) symbolisch repräsentiert. Vgl. hierzu Kuroda, The Imperial Law; Kleine, Wie die zwei Flügel; ders. Autonomie und Interdependenz. Siehe auch Grapard, The economics, 76. Myōdō, wörtl. „dunkler Weg“, verweist allgemein auf überempirische oder geistige, d.h. [relativ] transzendente Wesen. Nach klassischer buddhistischer Kosmologie zählen dazu die Höllenbewohner, die Hungergeister (preta) und die „Titanen“ (asura) in Abgrenzung zur vierten Klasse „geistiger Wesen“, den Göttern (deva). Die übrigen beiden „empirischen“ Gattungen sind Menschen und Tiere. CWS, 563. Original: SS, 571. Vgl. auch Dobbins, Jōdo Shinshū, 58–59. Ich habe nur eine Passage bei Shinran finden können, die dazu Anlass geben könnte, dass er die Theorie der Manifestation transzendenter Heilsgestalten in der Immanenz dem Grunde nach akzeptiert. So schreibt Shinran am Ende seiner Japanischen Hymnen auf das Reine Land über seinen Meister Hōnen: „Der Bodhisattva Mahāsthāmaprāpta ist der ehrwürdige Urgrund Genkū Shōnins.“ SS, 489. Dass ein großer buddhistischer Meister als Inkarnation oder Avatāra (gongen 㧑䎦) eines Bodhisattva betrachtet wird, ist indes keineswegs neu und hat nicht unmittelbar etwas mit der Honji-Suijaku-Theorie zu tun.
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Wie fern Shinran das Honji-Suijaku-Denken und die aktive Götterverehrung lagen, bringt eine der Japanischen Hymnen über den Wahren, den Imitierten und den Endenden [Dharma] (Shōzōmatsu wasan 㬋⁷㛓嬫) deutlich zum Ausdruck: Traurig, traurig, dass Priester wie Laien günstige Zeiten und glückliche Tage wählen, die Himmelsgötter (tenjin ⣑䤆) und die Erdgeister (chigi ⛘䣯) verehren, Wahrsagerei (bokusen ⌄⌈) und religiöse Feste (saishi 䤕䣨) ausüben.55
Wie Hōnen, der die Einhaltung von Tabus gegenüber den Göttern als nichtbuddhistische Angelegenheit der Yin-Yang-Meister betrachtet,56 leugnet auch Shinran, dass die Verehrung der Götter eine legitime buddhistische Praxis sei. Weiter schreibt er: Als Leute, die sich wie Nicht-Buddhisten, Brahmanen oder Anhänger Nirgraṇṭhas [d.i. der Gründer des Jainismus; CK] benehmen, tragen sie die Dharma-Roben des Tathāgata und verehren doch sämtliche Geister und Götter (issai kishin ᶨ↯櫤䤆).57
Traurig, traurig, dass dieser Tage die Priester und Laien des Reichs Yamato [d.i. Japan; CK] allesamt, das Zeremoniell des Buddhismus [äußerlich?; CK] in den Mittelpunkt stellend, die Geister und Götter des Himmels und der Erde (tenchi no kishin ⣑⛘̯櫤 䤆) verehren.58
Diese Aussagen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Shinran propagiert wie Hōnen ganz offensiv nicht nur eine „Entzauberung“ im Sinne der „Ausschaltung der Magie als Heilsmittel“59, sondern erklärt Praktiken der Götterverehrung für nicht-buddhistisch. Dementsprechend fragwürdig sind Überlieferungen, die Shinran als Vertreter des Honji-Suijaku-Denkens darstellen, allen voran zunächst die seines Urgroßenkels Kakunyo 奂⤪ (1270–1351). Kakunyo 奂⤪ (1270–1351) Kakunyo wird innerhalb der Tradition der Jōdoshinshū als dritter Monshū betrachtet, also als Vorsteher der Gemeinde, die sich um das Mausoleum Shinrans in Kyōto gebildet hatte. Ihm gelang es eine Shinshū-Orthodoxie in Abgrenzung gegen andere Strömungen des Buddhismus vom Reinen Land 55 SS, 509; vgl. CWS, 422. In seinem Kyōgyōshinshō warnt Shinran mit einem Zitat aus dem Hongan Yakushi kyō 㛔栀啔ⷓ䳴 offen vor den Folgen unbuddhistischer Praktiken der Divination, des Gebets an Götter (shinmei) und das Herbeirufen von Geistern (mōryō 櫵櫶), die nicht nur unwirksam, sondern sogar schädlich seien. SS, 386; CWS, 274. 56 HZ, 659. 57 SS, 509; vgl. CWS, 422. 58 SS, 509; vgl. CWS, 423. 59 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 114.
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und eine auf Blutsverwandtschaft mit Shinran basierende hierarchische Organisation zu etablieren. Ferner war er erfolgreich in seinem Bemühen, die Grabstätte seines Urgroßvaters in einen Tempel namens Honganji umzuwandeln und einen Gründerkult um Shinran einzuführen. Kakunyo verfasste unter anderem eine Biographie Shinrans – das Honganji Shōnin den’e 㛔栀 ⮢俾Ṣễ䴝 (kurz: Godenshō ⽉ễ憼) –, in der dieser einem Laien namens Heitarō gleichsam die Erlaubnis erteilt, eine ihm von Amtswegen auferlegte Verehrungshandlung gegenüber der Gottheit von Kumano durchzuführen. Die Begründung, die Kakunyo Shinran hier zuschreibt, repräsentiert lupenreines Honji-Suijaku-Denken, indem er Amida als „Urgrund (honji 㛔⛘) der [Gottheit von der] „Halle der Erleuchtung“ (shōjōden 姤婈㭧)“, d.h. des zentralen Heiligtums des Hauptschreins von Kumano, interpretiert. Aus dem tiefen Wunsch heraus, eine karmische Verbindung mit den fühlenden Wesen zu knüpfen, habe Amida „sich hier als herabgelassene Spur in gedämpftem Licht“ (wakō no suijaku ̯✪嶉) manifestiert. Die ursprüngliche Absicht seines Aufenthalts als herabgelassene Spur bestehe „einzig und allein darin, alle Wesen, die eine karmische Verbindung mit ihm haben, in den Ozean des Gelübdes zu ziehen.“60 Bemerkenswert ist vor allem, dass Shinran in diesem Zusammenhang (angeblich) die Erfüllung der Dienstpflicht als legitimes Argument für die Verehrung der Götter genannt habe. Wer im Dienst seines Fürsten einen Schrein besucht und nicht aus eigenem Antrieb, handelt rechtens.61 In diesem Abschnitt werden Shinran also Worte in den Mund gelegt,62 die einerseits die äußerliche Verehrung der Götter im Rahmen der innerweltlichen Pflichterfüllung erlauben, zugleich aber wohl verhindern sollen, dass die Akzeptanz der Honji-Suijaku-Doktrin als Vorwand für einen aktiven Kami-Kult aus eigenem Antrieb benutzt wird. Wir haben es hier mit einer typischen Kompromissformel zu tun, die eine Anpassung an die Gegebenheiten erlaubt, ohne die dogmatischen Grundsätze der Tradition aufzugeben. Zugleich aber wurde die Honji-Suijaku-Doktrin innerhalb der Shinshū-Dogmatik durch Kakunyo wieder hoffähig. Kiriyama sieht daher bereits in der Frühzeit der Honganji-Gemeinde unter Kakunyo eine deutliche Tendenz zur Rehabilitation der HonjiSuijaku-Theorie.63
60 SS, 735. 61 SS, 735. Vgl. hierzu auch Kiriyama, der hierin einen Beleg für seine These sieht, dass schon die frühe Honganji-Gemeinde eine klare Tendenz zur Anerkennung der Honji-Suijaku-Lehre erkennbar sei. Kiriyama, Shoki Honganji kyōdan ni okeru shingikan, 23–24. 62 Die Historizität des Berichts ist mehr als fraglich. Kiriyama, Shoki Honganji kyōdan ni okeru shingikan, 24. 63 ebd., 23. Eine parallele Entwicklung hat es offenbar in der Jōdoshū gegeben, wie z B. Shōgeis Haja kenshō shōgi 䟜恒柽㬋佑 zu entnehmen ist (vgl. JZ 12, 811).
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Grundlage dieses Anpassungsvorganges war die Anerkennung der Dualität von weltlicher und religiöser Ordnung64 gemäß dem Dogma von der „Interdependenz der Ordnung des Herrschers und der Ordnung des Buddha“, die es ermöglichte, sich gegenüber der weltlichen Ordnung konform zu verhalten, ohne die eigentlich im Kern nonkonformistische, weil „atheistische“ Dogmatik aufzugeben. Zonkaku ⬀奂 (1290–1373)65 Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Honji-Suijaku-Doktrin findet sich bei Kakunyos ungeliebtem Sohn Zonkaku, dessen Bestreben es weniger war, die Lehre Shinrans rein zu halten, als vielmehr die verschiedenen Strömungen innerhalb der Bewegung zusammenzuführen.66 In seinem Shoshin hongai shū bestätigt er zunächst vollumfänglich die Honji-Suijaku-Theorie: Die Buddhas sind die Urgründe der Götter (shinmei no honji), die Götter sind die Herabgelassenen Spuren der Buddhas (budda no suijaku). Wenn es keinen Urgrund gibt, werden keine Spuren herabgelassen; wenn es keine Spuren gibt, wird der Urgrund nicht sichtbar. Wenn man von Göttern spricht und wenn man von Buddhas spricht, so handelt es sich um Vorderseite und Rückseite, die gemeinsam Heilsgüter (riyaku ⇑䙲) spenden. Wenn man von Herabgelassenen Spuren spricht und wenn man von Urgründen spricht, dann handelt es sich um Provisorisches (gon 㧑) und Wahres (jitsu ⭇), die gemeinsam zur Erlösung (saido 㶰⹎) führen.67
Allerdings solle jemand, der den Urgrund verehrt, sich keinesfalls zur Herabgelassenen Spur bekehren.68 Bezüglich dieses Problems gelte es, drei Lehrpositionen zu vertreten: 1. Lehren, dass man die numinosen Götter der provisorischen Schreine (gonja no reishin 㧑䣦Ά暲䤆) offenbart und die Segnungen des Urgrundes (honji no rishō 㛔⛘Ά ⇑䓇) verehrt; 2. Empfehlen, dass man damit aufhören sollte, das Geheimnis der üblen Götter der wahren Schreine (jissha no jashin ⭇䣦Ά恒䤆) zu lüften und ihnen dienen zu wollen;
64 Ebd. 65 Zu Zonkakus Götterauffassung siehe Honda, Zonkaku ni okeru shingi und Kiriyama, Shoki Honganji kyōdan ni okeru shingikan. 66 Dobbins, Jōdo Shinshū, 86. Zonkaku äußert sich in drei Texten ausführlich zu den Göttern und dem Umgang mit ihnen, nämlich im Shoshin hongai shū 媠䤆㛔ㅸ普, im Jimyōshō ㊩⎵憼!und im Haja kenshō shō 䟜恒柽㬋㈬. 67 NST 19, 182. 68 Bemerkenswerterweise betrachtet Shōgei scheinbar analog zu den Göttern auch die Bodhisattvas als herabgelassene Spuren: „Der Ur[grund] ist hoch, die [herabgelassene] Spur ist niedrig. Man sollte sich nicht den Bodhisattvas zuwenden, sondern man sollte sich allein dem Ur[grund] des Buddha zuwenden“ (JZ 12, 813a11–12).
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3. Bekanntmachen, dass man die ursprünglichen Absichten der Götter (shoshin ni hongai 媠䤆Ά㛔ㅸ) offenbaren, den Buddha-Dharma praktizieren und das Nenbutsu üben wollen muss.69
Zonkaku akzeptiert also die Theorie, dass sich die Buddhas in Gestalt der Götter in Japan manifestiert haben, um sich den Menschen zu offenbaren und sie zum Heil zu führen. Allerdings leitet er daraus nicht die Folgerung ab, man müsse die Herabgelassenen Spuren verehren. Besser wendet man sich gleich den Urgründen zu, d.h. hier insbesondere Amida. Dies entspricht einer in buddhistischen Diskursen über „Provisorisches“ und „Wahres“ weit verbreiteten Haltung: das Provisorium, das einen zum Wahren geführt hat, verdient für diese Funktionserfüllung Respekt und Anerkennung. Da es aber seine Funktion bereits erfüllt hat, ist es nun funktionslos und damit praktisch irrelevant. Bemerkenswert ist Zonkakus Unterscheidung zwischen den „numinosen Göttern der provisorischen Schreine“ (gonja no reishin) und den „üblen Göttern der wahren Schreine“ (jissha no jashin), der wir in ähnlicher Form bereits in Jōkeis Petition gegen die Nenbutsu-Bewegung begegnet sind.70 Jōkei hatte den Nenbutsu-Anhängern vorgeworfen, sich von den Göttern abgewandt zu haben, ohne sich um den Unterschied von „provisorischen Transformationen“ (gonge 㧑⊾) und „wahren Gattung[sangehörig]en“ (jitsurui ⭇栆) zu kümmern. Man könne die „Geister und Götter wahrer Gattungszugehörigkeit“ (jitsurui kishin ⭇栆櫤䤆) beiseitelassen, aber bei den „herabgelassenen Spuren der provisorischen Erscheinungen“ (gonge suijaku 㧑⊾✪ 嶉) handelt es sich um die „großen Heiligen“ (daishō ⣏俾), d.h. Buddhas und Bodhisattvas, die natürlich unbedingt zu verehren sind. Auch in seinem Jimyō shō greift Zonkaku das Problem dieser beiden Arten von Göttern auf. Zur Frage, wie sich ein Nenbutsu-Praktizierender zur Verehrung der Götter (shinmei 䤆㖶; zu Skt. devatā) stellen sollte, empfiehlt er unter Verweis auf Shinrans Kyōgyōshinshō, dass „jemand, der sich zum Buddha-Dharma bekehren will, die Götter des Himmels und die Geister der Erde nicht verehren sollte.“ Dieses Prinzip beschränke sich also nicht auf die Praktizierenden des Nenbutsu, sondern betreffe grundsätzlich alle, die den Budddha-Dharma praktizieren.71 Hier wird allerdings wieder zwischen Göttern unterschieden, die von ihrer Gattungszugehörigkeit her eigentlich keine Götter sind, sondern die ihrem Wesen oder Urgrund nach Buddhas bzw. Bodhisattvas sind, und solchen, die als „echte“ Götter gelten müssen. Während die „numinosen Götter der provisorischen Schreine“ (gonja no reishin 㧑䣦 ̯暲䤆) als Herabgelassene Spuren in Wahrheit Buddhas sind und das bud69 ebd. 70 Möglicherweise war Jōkei in der Tat der erste, der diese Unterscheidung explizit in einem Text vornimmt. Vgl. Rambelli, Re-Positioning the Gods, 314. 71 SS, 1009–1010.
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dhistische Heilswerk vollbringen helfen,72 sind die „üblen Götter der echten Schreine“ (⭇䣦̯恒䤆) von ganz anderer Art. Im Shoshin hongai shū heißt es dazu weiter, die „Empfehlung, dass man damit aufhören sollte, die üblen Götter der echten Schreine zu offenbaren und ihnen dienen zu wollen,“ beziehe sich „auf die Schreine für die Geister von Lebenden oder von Verstorbenen (䓇暲ί㬣暲䫱Ά䤆).“ Diese seien „keine Herabgelassenen Spuren eines Tathāgata.“ Es gebe welche, die der Gattung der Menschen (jinrui Ṣ栆) angehören, und welche, die der Gattung der Tiere (chikurui 䔄栆) angehören. Diese könnten Flüche hervorbringen und Leid verursachen, weswegen man sie wie Götter verehrt, um sie zu besänftigen.73 Überaus bemerkenswert ist die negative Bewertung der „wahren Götter“ durch Zonkaku deshalb, weil es genau diese Götter (z.B. repräsentiert durch Füchse und Schlangen) waren, die im wirkmächtigen tantrischen Kami-Diskurs der Kamakura-Zeit mit der Sonnengöttin Amaterasu und entsprechend mit den Tennōs, ihren Abkömmlingen, identifiziert wurden.74 Ähnlich wie Kakunyo bemüht sich Zonkaku offenkundig darum, eine Position zu formulieren, die zwar konform zu den Lehren Shinrans bezüglich der Götterverehrung ist, andererseits aber die Anhänger der Glaubensgemeinschaft auf ein sozial konformes Verhalten einschwört. Er akzeptiert alle politisch gebotenen Positionen: (1) das Dogma von der Interdependenz der Ordnung des Herrschers und der Ordnung des Buddha,75 (2) die Lehre von den Urgründen und ihren Herabgelassenen Spuren und (3) die GötterlandIdeologie. Allerdings versucht er, die Lehre von den Urgründen und ihren Herabgelassenen Spuren im Sinne des Amida-Buddhismus zu interpretieren. Nach seiner Auffassung sind die beiden zentralen Nationalgötter Tenshō Daijin ⣑䄏⣏䤆 (=Amaterasu Ōmikami) vom Ise-Schrein und Susano-o-noMikoto 枰Ỹᷳ䓟␥ vom Izumo-Schrein Manifestationen von „Avalokiteśvara als Himmelsherrscher der Sonne“ (Nittenshi Kannon 㖍⣑⫸奛枛) und 72 Das bedeutet nicht, dass sie zur Durchsetzung ihrer soteriologischen Ziele nicht auch auf rabiate Mittel zurückgreifen könnten. Siehe Rambelli, The dangerous Kami, 147–169, 158–162. 73 NST 19, 190. Es wäre an dieser Stelle interessant, die Haltung der Apologeten des Reinen Landes zu den Göttern und Dämonen mit der der Puritaner zu vergleichen. Wie Weber (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 513) betont, haben letztere die innerweltliche Wirksamkeit von Magie ebenso wenig bestritten wie die Nachfolger Hōnens und Shinrans. Allerdings wurde die innerweltliche Zwecke verfolgende Magie im Buddhismus des Reinen Landes nicht explizit dämonisiert wie im Puritanismus. Das könnte sich – wenn man den Argumentationslinien in Webers Protestantismus-These folgt – als Hemmschuh für die Rationalisierung und Modernisierung Japans erwiesen haben. Wenn an der magischen Manipulierbarkeit der Welt festgehalten wird, hemmt das tendenziell die Entwicklung der Naturwissenschaften und anderer innerweltlicher Mittel der rationalen Weltbeherrschung. 74 Dahinter stand das tantrische Konzept der Umwertung buddhistischer Werte: die „drei Gifte“ etwa – d. h. Gier, Verblendung und Zorn – wurden mit dem reinen Geist des Erwachens gleichgesetzt. Teeuwen, The Kami, 105–111. Für weitere Informationen zu den mittelalterlichen KamiTypologien siehe Rambelli, Re-Positioning the Gods, 307–309. 75 Siehe hierzu Zonkakus Haja kenshō shō, 376–381; vgl. Kuroda, The Imperial Law, 271–285; Kleine, Wie die zwei Flügel, 193.
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„Mahāsthāmaprāpta als Himmelsherrscher des Mondes“ (Gattenshi Seishi 㚰 ⣑⫸⊊军). Die beiden Bodhisattvas Avalokiteśvara und Mahāsthāmaprāpta werden im authoritativen Schrifttum als die beiden Begleiter des Buddha Amitāyus/Amitābha präsentiert. Zonkaku geht hier einen Schritt weiter und erklärt sie gleichsam zu Manifestationen Amidas. Als Emanationen Amidas sind die beiden zentralen Staatsgottheiten Japans natürlich verehrungswürdig.76 Rennyo 咖⤪ (1415–1499) Wegen seiner überragenden Bedeutung für die Etablierung der Jōdo Shinshū als größte aller buddhistischen Denominationen in Japan wird Rennyo, der stark unter dem Einfluss der Lehren Zonkakus stand, auch als 2. Gründer der Shinshū bezeichnet. Sein politisches Ziel, die Anhänger der Lehren Shinrans unter dem Dach des Honganji zu vereinen, sie zur Loyalität gegenüber der Führung dieses Tempels zu verpflichten und den Ruch des Nonkonformismus loszuwerden, verlangte weitgehende Anpassungsmaßnahmen. Gerade weil Anhänger des Honganji in diverse Bauernaufstände involviert war, galt es, jeden Anschein von Ketzerei und Subversion zu vermeiden und die Gefolgschaft des Tempels als gute Staatsbürger zu präsentieren. Ein Mittel Rennyos war die Produktion von Briefen, in denen die Anhänger des Honganji gleichsam auf Linie gebracht wurden. Wie Zonkaku fordert auch Rennyo, ein guter Gläubiger müsse sich äußerlich in der Welt der Ordnung des Herrschers beugen, innerlich aber stets das Gelübde Amidas im Herzen tragen.77 Und wie Zonkaku akzeptiert er die Honji-Suijaku-Doktrin und legitimiert auf dieser Basis die Verehrung der Götter. In einem Brief datiert auf Bunmei 6/5/13 (28.~05.~1474) betont er, dass alle Kamis, Buddhas und Bodhisattvas Manifestationen Amidas seien. Dementsprechend seien sie alle im Akt des Nenbutsu eingeschlossen und dürften nicht herabgewürdigt werden.78 In einem weiteren Brief schreibt er, die Buddhas und Bodhisattvas hätten sich als Götter offenbart, um „den fühlenden Wesen schließlich den Eintritt in den Buddha-Dharma zu empfehlen.“79 Da einem dies als Nenbutsu-Praktizierendem bewusst sei, respektiere man die Götter, „auch wenn man sich zu dem barmherzigen Gelübde des einen Buddhas [A] mida bekehrt und die Götter nicht gesondert verehrt oder an sie glaubt.“80 Das gleiche gilt für den inneren Respekt vor den Buddhas und Bodhisattvas, denn es sei zu erkennen, dass, „wenn man sich von ganzem Herzen ausschließlich nur zum Tathāgata Amida bekehrt, die Weisheit und die Tugendverdienste
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Vgl. hierzu auch Rambelli, Re-positioning, 308. T83, Nr. 2669, S. 819 b05–06. T83, Nr. 2668, S. 783c03–12. Vgl. BDK, 47. T83, Nr. 2668, S. 792a18–23. T83, Nr. 2668, S. 792a27–b03.
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sämtlicher Buddhas und Bodhisattvas eins sind mit [A]mida und es daher nicht möglich ist, sich nicht [auch zu ihnen] zu bekehren.“81 Rennyos Einlassungen zur Honji-Suijaku-Lehre lassen eine Doppelstrategie erkennen, die bereits bei Kakunyo und Zonkaku sichtbar ist: Die Theorie als solche wird akzeptiert und den Anhängern des Honganji damit nahegelegt, sich nicht aktiv gegen die Götterverehrung zu stellen. Andererseits ist für diejenigen, die sich auf die Andere Kraft des Buddhas Amida verlassen, eine aktive Beteiligung am Götterkult vollkommen unnötig, da die Verehrung der Götter in der Verehrung des verabsolutierten Amida eingeschlossen sei. So konnte sich die notorisch der Insubordination verdächtigte Honganji-Gefolgschaft nach außen hin gemäßigt und angepasst geben – d.h. der „Ordnung des Herrschers“ entsprechen –, ohne die „reine Lehre“ – d.h. die „Ordnung des Buddha“ in der Interpretation des Honganji – zu verraten. Rennyos Haltung zur Honji-Suijaku-Doktrin ist damit gewissermaßen das theologische Korrelat zur Shinshū-Interpretation der Theorie von der Interdependenz von weltlicher und religiöser Ordnung. Man könnte hier von einer strategischen Akkomodation sprechen, die der Shinshū einen vergleichsweise sanften Übergang in die Moderne ermöglichte. Der seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend als „Aberglaube“ (meishin 徟ᾉ) diffamierte Glaube an „relative Transzendenzen“82 war zwar nicht aktiv bekämpft und abgelehnt worden, bildete aber auch keinesfalls ein konstitutives Element der Shinshū-Orthodoxie und Orthopraxie – er war damit verzichtbar. Dessen ungeachtet sieht auch Rennyo, wie scheinbar schon Hōnen und laut Kakunyo auch Shinran, in seiner Antwort auf die Anfrage eines Laienanhängers, kein Problem darin, sich zum Zwecke des Empfangs innerweltlicher Heilsgüter an die Götter zu wenden, solange man sich hinsichtlich der Erlangung außerweltlichen Heils (d.h. Geburt im Reinen Land) allein auf die Gnade Amidas verlässt. Dies ist noch heute eine weit verbreitete Haltung unter Anhängern der Jōdo Shinshū.83 In dem Maße jedoch, indem der Glaube an die Götter und ihre Fähigkeit, innerweltliche Heilsgüter zu spenden, im Zuge moderner Diskurse über Religion und Wissenschaft als „Aberglaube“ diffamiert wurden, kann ein Gläubiger der Jōdo Shinshū diesen theoretisch auch ganz aufgeben – was in der Realität wohl eher selten passiert –,84 ohne damit ein konstitutives Element der eigenen Religion zu verleugnen. Der Glaube an die Götter und eventuelle Ritualhandlungen ihnen gegenüber ist für das Lehrsystem des Reinen Landes strukturell vollkommen irrelevant.
81 SS, 808.; vgl. BDK, 72–73. Siehe auch T83, Nr. 2668, S. 792b04–15. 82 Wobei einer der Protagonisten der Unterscheidung von Religion (shūkyō) und Aberglauben (meishin), Inoue Enryō, die Verehrung der bekannten Shintō-Götter nicht als „Monster“ (yōkai ⤾⿒) betrachtete und ihren Kult daher auch nicht als „Aberglauben“. Vgl. Josephson, When Buddhism became a ‚Religion‘, 156. 83 Kiriyama, Shoki Honganji kyōdan ni okeru shingikan, 21–22. 84 Ebd. 22.
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Fazit Der Götterglaube spielte zu Beginn der Kamakura-Zeit eine zentrale Rolle für die buddhistische Orthodoxie. Er diente den Klöstern und Tempeln zur Legitimation ihres Großgrundbesitzes wie zur Domestikation der auf diesen tätigen Menschen.85 Um ihre Besitz- und Kontrollansprüche plausibel begründen zu können, bedurfte es der Assimilation der Götter in das Pantheon der buddhistischen Heilsgestalten. Diese erreichte man dadurch, dass man auch die ursprünglich nicht-buddhistischen Götter als lokale Manifestationen der buddhistischen Heilsgestalten interpretierte. Die Doktrin von den „Urgründen und ihren Herabgelassenen Spuren“ erweiterte zugleich den Zuständigkeitsbereich der Götter. Waren diese ursprünglich lediglich für innerweltliche Heilsgüter zuständig, wies man ihnen nun auch eine soteriologische Funktion für die seit der späten Heian-Zeit immer wichtiger gewordene Befreiung des Individuums aus dem Kreislauf der Wiedergeburten zu. Die konkreten Heilsangebote der etablierten buddhistischen Institutionen blieben jedoch vage und in ihrer Vielfalt verwirrend. Darüber hinaus war die Verweltlichung der als Feudalherren agierenden, moralisch vielfach verkommenen Priesterschaft unübersehbar. Dementsprechend wurde ihnen das durch Tugendhaftigkeit und intensive Praxis zu erwerbende Charisma i.S. der Fähigkeit, Heilsgüter zu spenden, von vielen abgesprochen – ihr Amtscharisma war verblasst. Charismatiker vom Schlage Hōnens wurden demgegenüber von einer großen Zahl von Menschen aller Schichten als Befreier gefeiert. Hōnens Versprechen, allen Menschen einen einfachen und sicheren Weg zur Befreiung zu weisen, stieß auf so große Begeisterung, dass sich das Establishment mit diesem Mönch auseinandersetzen musste. In seinem Lebenswandel war Hōnen gemessen an den kodifizierten Normen des Ordensrechts wesentlich konformer als die etablierte Priesterschaft. Ein aktives Fehlverhalten war ihm niemals nachzuweisen. Und doch wurde er als gefährlicher Nonkonformist mit Exkommunikation und Verbannung bestraft. Die Gründe hierfür sind relativ einfach anzugeben: Hätte Hōnen lediglich gegen die geltenden Normen verstoßen, ohne deren Legitimität in Frage zu stellen, wäre wohl kaum etwas passiert. Hōnen leugnete aber explizit die soteriologische Funktion normgerechten Verhaltens und damit implizit die geltende Ordnung selbst. Dass sich die Kritik an Hōnen nicht zuletzt an seiner Ablehnung des Götterkultes manifestierte, ist auf den ersten Blick verwunderlich, waren die Götter für Hōnen doch kaum ein Thema. Berücksichtigt man jedoch die überragende Bedeutung des Götter-Kultes für die Legitimierung und Durchsetzung der herrschenden Ordnung, wird leicht ersichtlich, 85 Neben dem Götterglauben hatten die Lehren der Nonkonformisten weitere ökonomische Implikationen, die die buddhistischen Institutionen unmittelbar tangierten, so etwa die Auffassung Hōnens, religiöse Stiftungen und Spenden an die Tempel und Klöster seien soteriologisch irrelevant und daher verzichtbar. Für Einzelheiten siehe Repp, Economic Impacts.
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warum der „praktische Atheismus“ ein zentrales Element der Nonkonformismus-Vorwürfe war. Hōnens (impliziter) Nonkonformismus hat auf verschiedenen Ebenen eine ganz erhebliche kulturelle Dynamik entfaltet. Die religiösen Institutionen verstärkten unter anderem ihre Anstrengungen, die Götter als heilsrelevante, zugleich aber auch strafende Manifestationen buddhistischer Heilsgestalten aufzubauen. Es ist wohl keine allzu gewagte These, wenn man annimmt, dass die Verstärkung des Kami-Diskurses als Reaktion auf Nonkonformisten wie Hōnen mit dazu beigetragen hat, dass sich allmählich die Idee eines unabhängigen „Weges der Götter“ (Shintō) durchsetzte. Die Auseinandersetzung könnte also durchaus „religionsproduktiv“ gewirkt haben. Auf der anderen Seite haben Hōnen und seine Nachfolger ein Programm einer auf absolute Transzendenz hin orientierte „Entzauberung“ aufgelegt, das sich in der Vormoderne zwar nie gänzlich durchzusetzen vermochte, als Idee aber unterschwellig wirksam blieb.86 Es ist denkbar, dass hier einer der vielen Einflussfaktoren für den ungewöhnlich schnellen Säkularisierungsprozesses liegt, den Japan spätestens seit dem 19. Jahrhundert durchlaufen hat. Es ist sicher kein Zufall, dass es in erster Linie Repräsentanten und Institutionen der Shinshū-Tradition waren, die schon während der Meiji-Zeit eine Entzauberung und Modernisierung des japanischen Buddhismus und der japanischen Gesellschaft insgesamt befördert haben.87 Dass die nonkonformistischen Sekten und Schulen in der Nachfolge Hōnens allerdings überhaupt überleben konnten, setzte auf deren Seite Kompromissbereitschaft voraus. Ein wesentliches Mittel der Konfliktvermeidung bestand in der Anerkennung zentraler Dogmen des Mainstream-Buddhismus sowie der sozialen Normen. Die Lehre von den Urgründen und ihren Herabgelassenen Spuren wurde offiziell akzeptiert, ohne dass damit die eigene Praxis hätte verändert werden müssen. Das Klischee von der vermeintlich überragenden Bedeutung der Orthopraxie gegenüber der Orthodoxie im japanischen Buddhismus88 erscheint demnach fragwürdig. Gerade die Auseinandersetzung des Establishments mit den Nonkonformisten in der Nachfolge Hōnens und Shinrans zeigt, dass die Theorie oft wichtiger war als die Praxis. Die tonangebenden religiösen und weltlichen Institutionen störten sich weniger daran, dass die Nenbutsu-Anhänger in der Praxis ausschließlich dem Amida-Kult frönten; problematisch wurde es erst, als die Wortführer der Bewegung in der Theorie die soteriologische Wirksamkeit anderer Kultformen leugneten und damit letztlich das etablierte religiöse Gesamtsystem doktri86 Vgl. Bellah, Japan, 124: „Transcendence was a vital possibility in the Japanese value system, a live option so to speak“. 87 Immerhin hatte schon Weber erkannt, dass „die in „bürgerlichen“ Kreisen überaus zahlreiche Sekte […] zu denjenigen Schichten [gehörte], welche der Aufnahme abendländischer Kulturelemente am freundlichsten gegenüberstanden. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie II, 304. 88 Vgl. etwa Grapard, Medieval Shintō Boundaries, 2 und 12.
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när delegitimierten. Schon Shinran begann damit, die Lehre seines Meisters Hōnen an den ideologischen Mainstream seiner Zeit anzupassen und damit Druck von der Bewegung zu nehmen. In Bezug auf die Akzeptanz der Lehren von den Urgründen und Herabgelassenen Spuren sowie der Ideologie von der Interdependenz der weltlichen und der religiösen Ordnung verstärkte sich der Trend zur Anpassung unter Kakunyo, Zonkaku und Rennyo. Ein entscheidendes Mittel zur Vermeidung kognitiver Dissonanzen innerhalb der Nenbutsu-Gemeinden lieferte hier das Ideologem von den zwei Ordnungen: der Ordnung des Herrschers und der Ordnung des Buddha. Die auf einer scharfen Trennung von Immanenz und Transzendenz basierende Behauptung der Irrelevanz innerweltlichen Handelns für das außerweltliche Heil korrespondierte hervorragend mit diesem Strukturprinzip. Sie erlaubte es den Gläubigen, ihr Handeln an der weltlichen Ordnung auszurichten, ihre innere Haltung aber an der Orthodoxie nach Shinran. In dem unvermeidlichen Fall eines Konflikts zwischen weltlichen und religiösen Normen galt Rennyos Diktum vom Primat der weltlichen Ordnung im Kontext innerweltlichen Handelns. So konnte sich die Shinshū in der Nachfolge Rennyos staatskonform geben und sich in den buddhistischen Mainstream integrieren, d.h. das Etikett des Nonkonformismus abstreifen, ohne die Lehren Shinrans zu verraten. Mir scheint hier ein geradezu idealtypisches Muster für den Umgang mit der Koexistenz verschiedener „Wertreihen“ infolge einer scharfen Ausdifferenzierung der Religion innerhalb des Gesamtsystems der Gesellschaft vorzuliegen. Die Ausdifferenzierung der Religion verschärft einerseits den Gegensatz zwischen religiöser und weltlicher Ordnung und provoziert damit religiösen Nonkonformismus, liefert aber zugleich eine epistemologische Basis für die Lösung des Konflikts. Diese besteht in einer scharfen Trennung der Zuständigkeits- und Geltungsbereiche weltlicher und religiöser Ordnung, welche wiederum einen Ermöglichungsrahmen für die Säkularisierung der Gesellschaft bereitstellt: individuelle religiöse Überzeugungen und Praktiken werden gleichsam privatisiert und der „außerweltlichen“ Lebensordnung und Wertsphäre des Buddha zugeordnet und von der säkularen, „innerweltlichen“ Ordnung des Herrschers abgekoppelt.89 Die kulturelle Dynamik, die der hier skizzierten Konfliktkonstellation zwischen religiösen Nonkonformisten und dem Establishment und vor allem den Ansätzen einer Entschärfung des Konflikts inhärent ist, wurde m. E. bislang viel zu wenig beachtet, nicht zuletzt im Kontext der Suche nach funktionalen Äquivalenten zur protestantischen Ethik im vormodernen Japan.90 89 Siehe hierzu auch Kleine, Autonomie und Interdependenz; ders., Zur Universalität; ders. Religion and the Secular. 90 Bekanntermaßen wurde die Frage, „was there a functional analogue to the Protestant ethic in Japanese religion“, an prominenter Stelle von Robert N. Bellah 1957 in seinem Werk Tokugawa Religion (S. 2–3) aufgeworfen, ist aber bis heute nicht befriedigend beantwortet worden.
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Christoph Kleine
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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540374 — ISBN E-Book: 9783647540375
Praktischer Atheismusals religiöser Nonkonformismus
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Peter Schalk
Semantische Devianz religiöser Metaphern in der Sprache Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉs
Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ (1954–2009) ist der Welt als talaivar ‚Anführer‘ einer Guerillastreitmacht namens LTTE (Liberation Tigers of Tamil Ealam) bekannt, die sich von 1972 bis 2009 zu einer regulären Streitmacht entwickelt hatte in Verbindung mit dem Heranwachsen von Institutionen und territorialer Kontrolle im Norden und Osten Īlams (Sri Lankas).1 Seine Organisation als (tēciya) iyakkam ‚(nationale) Bewegung‘ bekannt, etablierte seit den 1990ger Jahren einen de facto-ähnlichen Staat,2 aber ohne Anerkennung als solcher in der Weltgemeinschaft, denn ein Makel war, dass dieser Staat Forderungen nach Menschenrechten nicht entsprach. Sein Ziel war diesen angeblichen de facto Staat auf der Insel sogar zu einem de jure Staat namens Tamilīlam (Tamil Ealam/Tamil Eelam)3 zu verwandeln, aber es gelang ihm nicht.4 Er starb im bewaffneten Kampf gegen die lankesischen Streitkräfte am 18. Mai 2009, wobei auch seine Streitkräfte aufgerieben wurden, aber ein transnationaler Widerstand, der politisch sein Endziel Tamilīlam zu etablieren versucht, setzt sein Werk heute fort.5 Die Bewegungsgründe seiner Mobilisierung von Tamilsprechenden Īlams im Norden und Osten sind oft geschildert worden.6 Im Bildnis der lankesischen Regierung und von Vertretern von Staaten, die sich im Kielwasser von 9/11 der pax americana7 bewegten, war er als „Terrorist“ verrufen. Im Bildnis seiner Gefolgschaft, reflektiert im Fahneneid an ihn, war er aber als valikāṭṭi
1 Īlam wird als Name der ganzen Insel von Tamilsprechenden seit dem 1. Jahrhundert n.~Chr. verwendet. Siehe Schalk, Īlam