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German Pages 471 [472] Year 1989
Inka Bach und Helmut Galle Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von
Stefan Sonderegger
95 (219)
w DE
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1989
Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung von
Inka Bach und Helmut Galle
w G_ DE
Walter de Gruyter • Berlin • New York
1989
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)
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der Deutschen Bibliothek
Bach, Inka: Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert : Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung / von Inka Bach u. Helmut Galle. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1989 (Quellen und Forschungen zur Sprach-, und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N.F.,95 = 219) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss. I. Bach, H. Galle, 1987/88 ISBN 3-11-012162-X NE: Galle, Helmut:; G T
ISSN 0481-3596 © Copyright 1989 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Vorwort Wir hoffen, mit dieser Arbeit Anregungen geben zu können für weitere Untersuchungen zur Psalmendichtung. Sie konnte nicht mehr als ein Anfang sein. Die Arbeit wurde im Wintesemester 1987/88 vom Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Ohne die Fürsprache von Frau Prof. Dr. Anke Bennholdt-Thomsen, die uns von Anfang an inhaltlich und organisatorisch zur Seite stand, wäre es uns nicht möglich gewesen, das Gemeinschaftsprojekt durchzuführen. Wir sprechen ihr unseren herzlichen Dank aus. Auch von den Herren Dr. Niko Oswald, Prof. Dr. Werner Röcke, Dr. Friedrich Rothe und Herrn Prof. Dr. Peter Welten haben wir in vielfältiger Weise Rat und Unterstützung erfahren und möchten ihnen hiermit danken. Berlin, im September 1989
I.B.
H.G.
Inhalt Vorwort
V
Einleitung
1
Zur Problemstellung Gliederung Individuell und gemeinsam verfaßte Teile Der Psalm als Gattung Heuristische Definition Zur Methode: Interpretation und Vergleich Teil I. Die biblischen Psalmen
1 3 4 5 8 12 17
1. Historischer Überblick Verfasser und Sammlung Entstehung der einzelnen Psalmen Gattungen Hymnen Danklieder Klagelieder Sondergattungen
19 20 21 23 24 24 25 28
2. Literarische Merkmale der biblischen Psalmen Metrum und Rhythmus Parallelismus membrorum Stil Inhaltliche Struktur Hymnus Ein^elklage Dialogisches Prinzip Motive
30 31 32 37 39 39 40 43 44
3. Das Ende antiker Psalmendichtung
46
4. Biblische und klassische Lyrik
50
5. Zu den Übersetzungen Septuaginta und Vulgata Lutherbibel
54 54 57
VIII
Inhalt
Exkurs 1. Die Psalmen im Mittelalter Lateinische Liturgie, Psalterhandschriften und -kommentare Deutschsprachige Psalmen im Mittelalter Der Althochdeutsche Psalm 138 Poetische Bearbeitungen aus mittelhochdeutscher Z e i t . . . .
61 61 66 69 73
Teil II. Metrische und gereimte Paraphrasen von der Reformation bis zum Ende der Barockzeit
79
1. Psalmen unter dem Einfluß der Reformation Zur Forschungslage Übersetzung und Auslegung des Psalters in der Reformation Martin Luthers Psalmlieder Psalmlieder von Burkard Waldis, Nikolaus Seinecker und Ludwig Helmbold Psalmlieder mit Tendenz zu wortgetreuer Textwiedergabe. . Katholische Psalmlieder Reimpsalter Übertragungen des Hugenottenpsalters Eine orthodox-lutherische Antwort auf den Lobwasserpsalter Ein Psalter in jambischen Reimpaaren
99 107 110 113 114 117 120
Exkurs 2. Lateinische Psalterien des 16. Jahrhunderts in klassischen Versmaßen Helius Eobanus Hessus Johann Spangenberg Nikolaus Seinecker Sebastian Hornmolt Nachtrag: Deutsche Psalmlieder in lateinischer Übertragung
126 128 134 135 137 143
2. Die Barockzeit Sprach- und Dichtungsreform des 17. Jahrhunderts Der Psalter des Martin Opitz Paul Flemings Bußpsalmen Georg Rudolf Weckherlins Psalmoden Psalmgedichte in den Odenbüchern des Andreas Gryphius Wolfgang Helmhard von Hohberg: Ein Psalter mit Emblemen Constantin Christian Dedekind Der Psalter eines „Pegnesischen Blum-Genossen" Katholische Psalmlieder Albert Curt£ Friedrich Spee
81 81 87 89
147 147 158 162 168 173 188 190 196 201 201 202
Inhalt
Paul Gerhardts „Geistliche Andachten" Der „Kühlpsalter" Johann Christian Günther Amphibrachische Psalmen-Cymbel und Zusammenfassung . Teil III. Psalmen und A u f k l ä r u n g
IX
204 207 213 216 223
1. Religiosität und Rationalismus Pietismus und Psalmen Psalmlieder als kirchliche und private Gebrauchstexte im 18. Jahrhundert Gottsched. Klassizistische Geringschätzung der Bibelpoesie
225 225
2. Metrische Formen Hymnen auf die Schöpfung Albrecht v. Haller (1708-1777) Johann Adolf Schlegel (1721-1793) Christian Fürchtegott Geliert (1715-1769) Die Psalmen Davids als vorbildliche Oden Psalmen in antikisierenden Odenformen Johann Andreas Cramer Sturm und Drang Johann Kaspar Lavater Christian Daniel Schubart
236 236 236 240 243 246 252 256 260 260 263
3. Ablösung von poetischen und theologischen Traditionen . . „Der Herr im Gewitter". Der Psalm als Paradigma für prosaische Oden und freirhythmische Hymnen Johann Andreas Cramer Friedrich Gottlieb Klopstock Christoph Martin Wieland Mendelssohn und Herder
268 268 268 271 283 286
4. Chauvinismus und der Gott der Psalmen
297
229 232
Teil IV. Deutsche Psalmendichtung des 20. J a h r h u n d e r t s . . 305 Einleitung
307
1. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra
310
2. Rainer Maria Rilke und Else Lasker-Schüler: Privatreligion und Psalmenform 314 3. Psalmendichtung des Expressionismus
321
X
Inhalt
4. Bertolt Brecht: Psalmen
334
5. Martin Buber: Das Buch der Preisungen
347
6. Psalmengedichte christlicher Lyriker
350
7. Psalmendichtung nach 1945
354
8. Nelly Sachs: In den Wohnungen des Todes und Sternverdunkelung 360 9. Paul Celan: Psalm Schlußbetrachtung Verschiedene Anknüpfungspunkte für psalmische Dichtungen Alter und Historizität Inspirationscharakter Literarische Form . . Motivationen für psalmische Dichtung Vom Gebet %um Konstatieren der Immanen% Psalmen als Paradigma für eine Sprache des Leidens und des kollektiven Gedenkens
378 409 409 409 411 413 416 417 418
Literaturverzeichnis
421
Bibelstellenregister
455
Namensregister
458
Einleitung Zur Problemstellung Psalmen haben noch in diesem Jahrhundert zahlreiche Dichter geschrieben, darunter so bedeutende wie Bertolt Brecht und Paul Celan. Die meisten dieser modernen Psalmen sind weder religiöse Lyrik, noch parodieren sie ihre biblischen Vorbilder. Vielmehr verwenden diese Gedichte Elemente der spezifischen Form und Redeweise der Psalmen, um auf sehr unterschiedliche Art lyrische Aussagen zu treffen. Das Spektrum ist breit: Es reicht von Brechts Augsburger Gedichten, die in der prosanahen parataktischen Versbindung der Psalmen den Alltag und das Diesseits besingen, bis zu Paul Celans „Psalm" aus dem Gedichtband „Die Niemandsrose", in dem psalmtypische Sprachgebärden (Anrufung, Klage und Lobpreis aus der Perspektive eines Sprecherkollektivs) aufgegriffen und modifiziert werden und als historische jüdische Form die Klage der im Dritten Reich getöteten Juden ermöglichen, jedoch ohne etwa Trost in religiösen Zusagen zu suchen. Religionskritik, Sozialkritik und Klage um den Verlust der Transzendenz sind Themen der modernen Psalmen; sie suchen nach Möglichkeiten lyrischen Sprechens überhaupt in einer Zeit, in der die überlieferten Ausdrucksformen fragwürdig und unglaubwürdig geworden sind. Die Nachblüte einer aus religiösem Kontext stammenden lyrischen Form in einer säkularisierten Zeit verwundert, zumal es sich nicht um Produkte einer partikularen Nostalgie oder Frömmigkeit handelt, sondern um zentrale literarische Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit und den geschichtlichen Erfahrungen unseres Jahrhunderts. Die dichterische Verwendung des Psalms als Ausdrucksmuster stellt Fragen an die Literaturwissenschaft, die bisher noch nicht einmal zur Kenntnis genommen, geschweige denn beantwortet wurden. Die Verwunderung über das Phänomen moderner Psalmgedichte führt zunächst zu der Frage nach den Gründen, die den einzelnen Dichter zur literarischen Auseinandersetzung mit dem Psalm führten und nach den Absichten, die hinter dem Aufgreifen psalmischer Elemente stehen. Beides läßt sich — vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen und biographischen Umstände — in der sorgfaltigen
2
Einleitung
Interpretation der Gedichte erschließen, einer Interpretation freilich, die besondere Aufmerksamkeit der Funktion jener Elemente zuwenden muß, die — wie modifiziert auch immer — den Psalmen entlehnt sind, denn diese Elemente sind konstitutiv für die spezifische Aussage des Gedichts. Der Titel „Psalm" evoziert nämlich (anders als Titel wie etwa „Eden", „Pfingsten" oder „David") eine Gattungsvorstellung, und zwar eine schärfer umrissene Gattungsvorstellung als „Gebet" oder „Klage" oder „Hymne". An die Gattungvorstellung des Lesers appelliert das Psalmgedicht, seine Aussagen wollen mit Hilfe inhaltlicher oder formaler Anspielungen in Übereinstimmung oder in Widerspruch zu den Aussagen der Psalmen gelesen und interpretiert werden. Eine wissenschaftliche Interpretation muß nun zwar mit einem eher emphatischen und diffusen Psalmbegriff auf Seiten des Lesers — schon weniger auf Seiten des Autors — rechnen, kann aber selbst nicht ohne ein genaues und fundiertes Verständnis der Gattung Psalm auskommen. Ein solcher Gattungsbegriff, über den der Germanist im Falle der antiken Gedichtarten Ode, Elegie etc. ohne weiteres verfügen kann, muß aufgrund der Besonderheit der biblischen Literatur erst erarbeitet werden, da diese noch heute vielfach nur unter der Perspektive des Sakralen gesehen wird und die Eingliederung der Bibel in die „Weltliteratur" bislang wenig praktische wissenschaftliche Konsequenzen hatte. Die ebenso traditions- wie umfangreiche alttestamentliche Forschung zu den biblischen Psalmen ist unter literarischen Gesichtspunkten auf die Gattungsmerkmale zu befragen und daraus ein Instrumentarium zur Interpretation der Psalmgedichte zu entwickeln. In dem emphatischen Psalmbegriff eines modernen Lyrikrezipienten und in dem Psalmverständnis des Dichters können neben dem biblischen „Original" ebenso vorangegangene literarische Psalmenbearbeitungen wirksam sein, was bei der Interpretation zu berücksichtigen wäre. Solche älteren Psalmendichtungen haben wir in den zahlreichen Psalmenparaphrasen in metrischer und gereimter Form vor uns, die vom frühen 16. bis zum späten 18. Jahrhundert einen wichtigen, heute meist unterschätzten Literaturzweig ausmachen. Dieser zur Gebrauchslyrik gerechnete und daher kaum beachtete Zweig kann — wie die moderne Psalmendichtung — einige bekannte Namen unter den Verfassern aufweisen: Martin Luther und Burkard Waldis in der Reformationszeit, Paul Fleming und Andreas Gryphius im Barock. Noch im Aufklärungsjahrhundert haben sich Autoren wie C. F. Geliert und J. G. Klopstock in ihren Gedichten auf die Psalmen bezogen. Abgesehen von einigen neueren Monographien zu einzelnen Zeitabschnitten und besonders eingegrenzten Untergattungen ist das „Phänomen" Psalmenparaphrase in der Germanistik bisher noch kaum
Einleitung
3
behandelt worden. Es ist weder in seinen Einzelheiten erforscht, noch als Ganzes eingeschätzt worden. Dies aber wäre notwendig, nicht nur, um die Anteile der Gattungstradition für die moderne Auffassung vom Psalm genauer eingrenzen zu können. Vielmehr erscheint es sinnvoll, die moderne Psalmendichtung nicht nur als losgelöste Erscheinung zu betrachten, sondern die Veränderungen dichterischer Einstellung zum Religiösen und Weltlichen an dem wechselnden Umgang mit einer ursprünglich religiösen Gattung zu verfolgen. Die eingehende Betrachtung der älteren und der neueren Psalmendichtung wird zeigen, daß die dichterischen Auseinandersetzungen mit dem Psalm weder im Sinne eines dualistischen (damals religiös/heute säkular) noch eines ahistorisch-monistischen Schemas (zeitloser Ausdruck der Hinwendung zur Transzendenz) sich reduzieren lassen. Es läßt sich vermuten, daß in allen Perioden das literarische Ausdrucksmodell der Psalmen von den Dichtern als Grundlage und Anregung für eine modifizierte, neu intendierte Ausdrucksform verwendet wurde. Die Gesamtheit dieser Ausdrucksformen, die von den biblischen Psalmen ihren Ausgang und Anstoß nehmen, wollen wir als die Gattung Psalm in der deutschen Lyrik bezeichnen.
Gliederung Die Schwerpunkte und Hauptabschnitte dieser Untersuchung zur Geschichte der Gattung Psalm in der deutschen Literatur sind in der methodischen Reihenfolge: — Historische, gattungstheoretische Untersuchung der biblischen Psalmen als Grundlage für die Interpretation deutscher Psalmgedichte (Teil I) — Uberblick über die Psalmenübersetzungen des Mittelalters, die für das Bild und die Entwicklung der Gattung von Interesse sind (Exkurs 1) — Literaturgeschichtliche Darstellung und Beurteilung der älteren Psalmendichtung, den metrischen und gereimten Paraphrasen, anhand einzelner Dichter und Gedichtinterpretationen von M. Luther bis J. C. Günther (Teil II) — Teil II enthält außerdem einen Exkurs über die Psalmendichtung der Neulateiner — Darstellung der Entwicklung von metrischer Psalmenparaphrase und freier Psalmendichtung seit Beginn des 18. Jahrhunderts (Teil III)
4
Einleitung
— Überblick über die moderne Psalmendichtung in „freien" Psalmgedichten anhand einzelner Dichter und Gedichtinterpretationen von F. Nietzsche bis P. Celan (Teil IV) — Ergebnisse und Überblick (Schlußbetrachtung) Individuell und gemeinsam verfaßte Teile Der untersuchte Zeitabschnitt der deutschen Literatur (etwa von 1500 bis 1980) und die Zahl der in Frage kommenden Texte sind zu umfangreich, als daß sie ein einzelner Autor in angemessener Weise „bewältigen" könnte. Zudem erfordern die verschiedenen poetologischen Voraussetzungen der älteren und der neueren Psalmendichtung ein jeweils anderes methodisches Vorgehen. Aus diesen Gründen haben wir die Komplexe der metrischen Paraphrase von Luther bis zum Ende der Barockzeit und die moderne Psalmendichtung, welche die wesentlichen Abschnitte in der Geschichte der Gattung darstellen, getrennt und zum Gegenstand individuell verfaßter Teiluntersuchungen gemacht. — Autor von Teil II (Die ältere Psalmendichtung) mit dem Exkurs zur neulateinischen Psalmenparaphrase ist Helmut Galle. — Der Abschnitt über die neuere Psalmendichtung (Teil IV) wurde von Inka Bach verfaßt. Die Vorarbeiten über die biblischen Psalmen als Gattung (Teil I) beziehen sich auf die Untersuchung als Ganzes und sind daher von den beiden Autoren gemeinsam erstellt worden. Ebenso wurden der Exkurs zu den Psalmen im Mittelalter und Teil III in Zusammenarbeit behandelt. Die Psalmgedichte des 18. Jahrhunderts sind ein Phänomen des Übergangs und zeigen sowohl noch Merkmale der früheren Paraphrase, als sie auch schon auf Momente der freien Psalmgedichte des 20. Jahrhunderts vorausweisen. Teil III soll die „Krise" der Psalmendichtung um die Mitte des 18. Jahrhunderts aufzeigen. Im Rahmen dieser Untersuchung lassen sich allerdings nicht alle Fragen beantworten, die durch das Zurücktreten der Gattung Psalm gegen Ende des Aufklärungsjahrhunderts gestellt werden. Wir versuchen, die „Krise" in der Interpretation der damaligen Psalmgedichte zu erkennen und zu beschreiben. Es lag aber nicht in unserer Absicht, darüber zu spekulieren, welche Folgen sich für die Psalmendichtung aus der Interferenz der verschiedenartigen historischen Erscheinungen jener Epoche ergeben — historische Erscheinungen, die wir mit den Schlagworten Säkularisierung und Atheismus, Dichtungsautonomie und Ende der Normpoetik andeuten wollen. Das Schlußkapitel faßt die Ergebnisse der gesamten Untersuchung zusammen und war daher ebenfalls gemeinsam zu formulieren.
Einleitung
5
Der Psalm als Gattung Man hat unter deutscher Psalmendichtung in der Germanistik bisher die Übersetzung und die Paraphrase der hebräischen Psalmen verstanden. 1 Mit dem Begriff Paraphrase verbindet man meist eine „freie Übersetzung" oder die „erweiternde und erläuternde Umschreibung" eines „Schriftwerks". 2 In einer Paraphrase ändert sich die äußere Form eines Textes, seine sinnliche Erscheinungsweise, also z.B. die Sprachform von einer altertümlichen in eine modernere oder von der Prosa zum Vers. Der Inhalt, der Aufbau und die Aussage des Textes — so meint man — sollten in der Paraphrase weitgehend erhalten bleiben. Im Unterschied zur puren Übersetzung räumt man der Paraphrase freilich ein, daß sie sich formal vom Ausgangstext weiter entfernen darf, ohne aber den Inhalt in entscheidender Weise zu verändern. Solche „formalen" Veränderungen am Text sind etwa die exegetisch erläuternden Zusätze in Luthers Psalmliedern und die rhetorisch-poetischen Erweiterungen in den barocken Psalmoden. Beide entfernen sich z.T. recht weit vom Ausgangstext, den biblischen Prosapsalmen. In einem barocken Psalmgedicht kann sich zuweilen die Umschreibung eines einzigen Bibelverses über eine achtzeilige Strophe erstrecken. Schon diese quantitative Proportion läßt vermuten, daß die Veränderungen, die vom Ausgangstext zur Paraphrase vor sich gegangen sind, mehr berühren als nur „Formales". Jede Psalmbearbeitung schafft einen neuen Text mit eigenen Bedingungen, der für sich interpretiert und gewürdigt werden will. Wie bei aller Literatur der mittleren Periode — also bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein — ist in der Interpretation von einer rhetorisch geprägten Dichtung auszugehen. Die Texte sind also auf die entsprechenden Dispositionsmuster und Stilmittel zu untersuchen. Eine Psalmparaphrase wäre also schon aus sprachlich-poetischen Gründen etwas anderes als der Ausgangspsalm — selbst wenn sie aus derselben historischen Situation erwachsen wäre. Nun besteht aber eine erhebliche Differenz schon zwischen der Lebenswelt der Psalmisten im antiken Israel und den christlichen Dichtern im frühneuzeitlichen Deutschland. Waren die individuellen Klagepsalmen Gebetsformulare, 1
2
Vgl. den Artikel im Reallexikon: Joseph Götzen, Arthur Hübner, Erich Trunz: Psalmendichtung. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. P. Merker u. W. Stammler. Neu bearbeitet v. W. Kohlschmidt u. W. Mohr. 5 Bde. Berlin 1958ff. Bd. 3. S. 2 8 3 - 2 8 5 . Gero v. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 6. verbesserte u. erweiterte Aufl. Stuttgart 1979. S. 583.
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Einleitung
deren Vortrag einen Elenden wieder in die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen einsetzten, so stehen Luthers Psalmlieder und Gryphius' Oden in ganz anderen Funktionszusammenhängen. Luther etwa ging es darum, das Gemeindemitglied in seinem Gottvertrauen zu bestärken, Gryphius andererseits hatte die Absicht, seine gebildeten Leser emotional und rational zur gelassenen Erkenntnis metaphysischer Heilsaussichten zu bewegen. Diese unterschiedlichen Intentionen prägen, wie sich in den Interpretationen zeigen wird, die Struktur von Lied und Ode, so daß sich in der Paraphrase die alte Psalmstruktur und die neue Gedichtstruktur durchdringen. Je nach Willen und Geschick vermochte ein Dichter seine eigene Intention so gleichsinnig mit der Psalmstruktur zu verquicken, daß eine Verstärkung oder auch eine Abschwächung der biblischen Gattungsmerkmale eintritt. In jedem Falle aber ist die Paraphrase ein neues literarisches Gebilde, das von der Vorlage zu unterscheiden ist. Dieser Sachverhalt wird leicht verdeckt, wenn die reformatorische und barocke Psalmendichtung pauschal als „gereimte Paraphrasen" eingestuft werden, ohne den gegenüber den Ausgangstexten veränderten Aussagemodus der Gedichte wahrzunehmen. Um einem heutigen Leser die Bedeutung solcher Gedichte verständlich zu machen, sei auch daran erinnert, daß im 17. und 18. Jahrhundert das Paraphrasieren von Gedichten des Horaz und des Vergil vielfach geübt wurde und daß man solche Dichtungen durchaus als eigenständige poetische Leistungen würdigte. Man kann im Bereich der klassischen Gattungen wie Ode und Elegie Übergänge von Übersetzung, Paraphrase und „Nachahmung" sehen, die sich in ähnlicher Weise — mit anderen Schwerpunkten — in der Psalmendichtung zeigen. Am Übergang vom paraphrasierenden zum freien Nachdichten von Psalmen stehen seit dem 16. Jahrhundert Lieder und Gedichte, die von einem einzelnen Psalmvers oder -motiv ausgehen (mit Titeln wie „Aus dem 18. Psalm" oder „Ps LXX.v.20" o.ä.). Auch finden sich unter den geistlichen Gedichten des 17. Jahrhunderts manche als „Klag" oder „Loblied" betitelte Stücke, denen zwar nicht der Bezug auf einen bestimmten Psalm, wohl aber eine auf dem Klage- bzw. Lobpsalm basierende Grundstruktur anzusehen ist. Im 18. Jahrhundert entstehen dann neben den eigentlichen Paraphrasen zahlreiche freie Hymnen wie das „Lob der Gottheit, nach Anleitung des 104ten Psalms" in den „Bremer Beiträgen" oder die ganz frei verfahrenden religiösen Gesänge Klopstocks. Das heißt, es zeichnet sich eine bewußtere Nachdichtung der Psalmen als Gattung ab, die nicht mehr auf einen einzelnen konkreten Text fixiert ist. Dennoch ist solche generische Psalmendichtung nicht unbedingt auch immer schon als solche ausgewiesen. Wieland, der 1755 die „Empfindungen eines Christen" hatte erscheinen lassen, wagte — offenbar aus Rücksichten
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auf die orthodoxe Geistlichkeit — erst im Abdruck der Gesamtausgabe (1798), seine Gedichte „Psalmen" zu nennen, wie er es ursprünglich beabsichtigt hatte. Die Scheu der Dichter, den „heiligen Namen" über ihre eigenen Schöpfungen zu setzen, selbst wo diese offenkundig den Psalmen nachfolgten, mag zusammen mit der Aussparung dieser Gattung in den Gattungskatalogen der Regelpoetiken von Scaliger bis Gottsched dazu geführt haben, daß auch die deutlichen Ansätze der älteren Psalmendichtung zu einem gattungshaften Nachdichten bislang übersehen wurden, und statt dessen lediglich von Paraphrasen oder aber von Zitaten und Einflüssen gesprochen wurde. Weil man nun für die Psalmendichtung nur die Rubriken Paraphrase und Übersetzung zugrundelegte, übersah man zwangsläufig, daß in neuerer Zeit zahlreiche Psalmgedichte entstanden sind, die sich keiner dieser beiden Sparten zuordnen lassen. Wo sich die Forschung mit diesen befaßt, sieht sie entweder Parodien (etwa im Falle Bertolt Brechts) oder sie reduziert das Verhältnis zu den biblischen Psalmen auf Einflüsse, Motive und Zitate. Inwiefern es ungenau ist, Brechts Psalmen als Parodien zu bezeichnen, wollen wir unten im einzelnen nachweisen. Da bei Gedichten, die im Titel als „Psalm" (Celan, Bachmann, Bernhard), „Märzpsalm" (Schürer) oder „Psalm im Frühjahr" (Brecht) ausgewiesen sind, programmatisch auf die biblische Gattung angespielt wird, sollte man in diesen Gedichten mehr Generisches suchen als lediglich „Einflüsse" oder „Zitate". Es ließen sich an den modernen Gedichten in Einzelinterpretationen die formalen Bezüge zu den biblischen Psalmen als Gattung nachweisen. Denn indem ein Autor den Gattungsbegriff in die Überschrift setzt, will er beim Leser gattungshafte Vorstellungen wecken, die in die Lektüre und in das Verständnis eingehen sollen. Für den Leser und für den Interpreten entsteht erst vor dem Hintergrund seines eigenen Psalmbegriffs die spezifische Aussage des Gedichts. Es kann daher dem Interpreten nicht darum gehen, lediglich einzelne Motive zu benennen, von denen Einflüsse auf das jeweilige Gedicht ausgingen, sondern vielmehr darum, das Gattungshafte herauszuarbeiten, auf das sich der Dichter bezieht. Ohne den Begriff von der Gattung Psalm mißrät nicht allein die Interpretation des einzelnen Psalmgedichts. Der Literaturhistoriker verkennt so auch gleichartige Erscheinungen in der Lyrik einer Epoche, zu schweigen von der geschichtlichen Kontinuität der Gattung mit ihren Umwertungen und Brüchen. 3 3
„Das Unvermögen der Einflußforschung, gleiche Phänomene in verschiedenen Zeiten aus der Einheit der Gattung zu begreifen, drückt sich in der Überraschung aus, mit der solche Ähnlichkeiten konstatiert werden." Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1971. S. 3. Anm. 4.
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Wir behaupten also, dem literaturwissenschaftlichen Verständnis der älteren und neueren Psalmdichtung wäre geholfen, wenn man die einzelnen Gedichte unter dem Gesichtspunkt einer Gattung sieht und vergleicht. Dies freilich hat mit aller gebotenen Vorsicht zu geschehen, denn ein barockes und ein modernes Gedicht haben so verschiedene poetologische Voraussetzungen, daß sie zunächst kaum vergleichbar sind. Und dennoch weisen beide Gedichte eine epochenübergreifende Gemeinsamkeit auf: Sie beziehen sich auf die biblischen Psalmen. Die Verschiedenheiten und die Ähnlichkeiten dieser Beziehungnahme gilt es herauszuarbeiten und dabei den unterschiedlichen poetologischen Prämissen methodisch Rechnung zu tragen.
Heuristische Definition Wir wollen der Gattung Psalm jedes Gedicht zurechnen, das sich deutlich als Ganzes — inhaltlich oder formal — auf einen bestimmten Psalm oder auf eine abstrakte generische Vorstellung vom Psalm bezieht, unabhängig davon, welche Intention der Autor mit dem Gedicht verfolgt. (Also: keine „bloßen" Übersetzungen und auch keine Gedichte mit vereinzelt eingeflochtenen Psalmzitaten) Auf den ersten Blick mag unsere Definition an das Vorgehen der Regelpoetiken erinnern, die unter einer Gattung die Nachahmung kanonischer Muster verstanden. Wie erwähnt, waren in den Regelpoetiken die Psalmen weder unter den alten, klassischen Gedichtarten (Ode, Elegie, Epigramm etc.) noch unter den neueren Formen (Sonett, Kanzone, Rondel) aufgeführt, obwohl eine Nachahmung der Psalmen praktisch geübt wurde. Unsere Definition hat denn auch nur eine gewisse Ähnlichkeit mit den Regelvorschriften der Poetiken, denn sie soll nicht in einem normativen, sondern in einem empirischen Sinne gelten. Anstatt den alttestamentlichen Psalm als Gattungsmuster und Richtschnur zu nehmen und die Nachahmungen daran zu messen, wollen wir die konkreten historischen Ausprägungen von Psalmennachahmung erfassen und beschreiben. Freilich werden auch wir die Paraphrasen mit ihren Vorlagen, die freien Psalmgedichte mit dem generischen Psalmbegriff vergleichen, aber nicht, um die Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zur Gattung zu konstatieren oder die „Mängel" aufzuzeigen, sondern um die Abweichungen und Besonderheiten der historischen Konkretisationen in das Bild der Gattung aufzunehmen. Für den Vergleich zwischen Gedicht und Psalm benötigen wir im Fall der Paraphrase die konkrete Textvorlage des Dichters, im Fall des
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freien Gedichts müssen wir auf die Summe der Merkmale zurückgreifen, die sich aus den biblischen Psalmen abstrahieren lassen. Diese Merkmale sollen sowohl Inhaltliches als auch Formales betreffen. Denn in der Zeit vor 1750 wurde die Form der Psalmen noch kaum bewußt wahrgenommen. Der Inhalt spielt in der damaligen Paraphrase die vorherrschende Rolle, während die Form nur in Stil und Aufbau berücksichtigt werden konnte. Um die psalmtypischen Aufbaustrukturen in der Abstraktion erfassen zu können, ermitteln wir an zwei repräsentativen Psalmen die einzelnen Sprachgebärden, die in ihrer bestimmten Abfolge konstitutiv für den Psalm sind. Solche Sprachgebärden sind z.B. die Anrufung der Transzendenz, Klagen über eigenes Leiden, Erinnern früheren Wohlergehens, Bitten um Erhörung, Jubeln über die Errettung, Lobpreisen der Transzendenz. Der Begriff der Sprachgebärde wurde von André Jolles für typische Redeweisen in den „einfachen Formen" Witz, Märchen, Legende etc. verwendet. 4 Bei Jolles steht die einzelne Sprachgebärde für einen ästhetischen Weltentwurf, dessen Ausdruck die jeweilige einfache Form ist. Für Jolles haben die Sprachgebärden eine nahezu überhistorische allgemein-menschliche Funktion. Er sieht z.B. Witz und Rätsel als anthropologisch weitgehend konstante Ausdrucksformen an. Davon abweichend, wollen wir in den psalmischen Sprachgebärden Rekurse auf eine in der Bibel vorgegebene Redeweise sehen und nicht eine autonome anthropologische Konstante. Wir setzen also keineswegs voraus, daß ein Barockdichter oder ein Moderner die „Anrufung" und die „Klage" mit derselben Intention verwenden könnte wie die alten Psalmisten. Vielmehr sind die Intentionen der einzelnen Gedichte zunächst in der Interpretation zu ermitteln, die Bedeutung der Sprachgebärde aus dem Kontext zu verstehen. Erst im Anschluß an die Einzelinterpretationen und deren Vergleich untereinander ließe sich ermitteln, welche Funktion das Psalmgedicht in einer jeweiligen Periode in einer bestimmten Ausprägung erfüllt hat. Zu den Sprachgebärden als inhaltlichen Merkmalen treten die Kennzeichen der äußeren Form, 5 vor allem der Parallelismus membrorum, 4
5
A n d r é Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. (1932) Tübingen 6 1982. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, daß die pragmatische Untersuchung an einzelnen Gattungen sowohl mit formalen als auch mit inhaltlichen Merkmalen arbeitet. Vgl. z.B. Klaus Grubmüller: Zur Pragmatik der Fabel. Der Situationsbezug als Gattungsmerkmal. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg v o m 1. bis 4. April 1979. Berlin 1983. S. 473. Heinz Schlaffer geht in seinem erwähnten Buch zur Anakreontik zwar vorrangig von inhaltlichen Kriterien aus, betont aber, daß die Formen durchaus nicht arbiträr sind. „Dennoch sind die äußeren Formen, in denen sie [die Gattung] sich realisiert, weder
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der, weniger regelmäßig als die antiken Odenmaße, dennoch eine gut erkennbare spezifische Art der Versbindung darstellt. Der Parallelismus wird „unbewußt" schon in den Prosaübersetzungen seit Luther weitgehend nachgebildet, er regt im 18. Jahrhundert die Entstehung der freirhythmischen Form an und kann von nun an auch als Versbindung im deutschen Psalmgedicht verwandt werden, wovon aber erst im 20. Jahrhundert ausgiebiger Gebrauch gemacht wird. Es sei also nochmals betont, daß die aus den biblischen Psalmen gezogenen Inhalts- und Formkriterien nicht das Wesen der Gattung Psalm in der deutschen Lyrik konstituieren sollen. Sie sind ein Hilfsmittel, um einen Vergleich von Psalmen und Psalmgedichten überhaupt zu ermöglichen. Die Gattung konstituiert sich aus den individuellen historischen Konkretisationen; deren Merkmale bestimmen das Gesicht der Gattung in einer Periode; die Summe typischer Merkmale einzelner Epochen fügt sich schließlich zum Gesamtbild der Gattung. Auch innerhalb einer einzigen Geschichtsperiode können sich verschiedene Arten der Psalmendichtung herausbilden. Die Psalmlieder Luthers und der Reimpsalter des Johann Claus haben ein sehr verschiedenes Aussehen, und dies nicht — wie man früher anzunehmen geneigt war —, weil Claus unbedingt ein schlechterer Dichter als Luther gewesen wäre. Während Luther die Psalmtexte in Liedstrophen exegetisch paraphrasierte und auf seine Theologie hin zuspitzte, folgte Claus dem Text der Prosaübersetzung fast wortgetreu in fortlaufenden, achtsilbigen Reimpaaren, unter schweren syntaktischen Inversionen. Die verschiedenen Intentionen, die den beiden Dichtungen zugrundelagen, lassen sich für Luther aus Vorreden und Briefen, für Claus schon aus dem Titel seines Buches entnehmen. Ging es Luther um dogmatisch einwandfreie Texte für den Gemeindegesang und die häusliche Andacht, so hatte Claus den Psalter zum leichteren Auswendiglernen mit Reimen versehen, um ihn einer nahezu analphabetischen Bevölkerungsschicht im „Wortlaut" verfügbar zu machen. Luther und Claus stehen mit ihren besonderen Weisen der Psalmendichtung nicht allein. Beide gehören zu spezifischen Gruppen von Dichtern, bei denen Intentionen, Adressatenkreis und anvisierter Verwendungszweck jeweils weitgehend identisch sind. Im 16. und 17. Jahrhundert wandeln sich solche gemeinsame Merkmale aufweisenden Bearbeitungsformen nur sehr allmählich. Sie haben ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten und Traditionen, die sich mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden lassen. Wir bezeichnen gleichgültig noch beliebig; vielmehr das erste Kriterium für den, der Exemplare dieser Gattung finden will." H. Schlaffer, Musa iocosa, a.a.O., S. 10.
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solche Bearbeitungen mit ähnlicher Vorgehensweise als „Textsorten" und unterscheiden sie damit von unserem anders definierten Überbegriff der Gattung. Textsorten im Verständnis der neueren germanistischen Gattungsforschung sind „spezifizierte Typen kommunikativer Interaktion", 6 und zwar jeglicher Interaktion, nicht nur literarischer. Es ist vorgeschlagen worden, im Bereich der Alltagskommunikation von Textsorten, im Sonderbereich der Literatur von Gattungen zu sprechen, aber in beiden Fällen dasselbe Definitionsmodell vorauszusetzen. 7 Wir weichen von dieser Empfehlung ab, um das literarische Gesamtphänomen der Psalmendichtung mit dem Terminus Gattung belegen zu können und von dieser übergeordneten Gruppe die in ihrem Funktionszusammenhang schärfer umrissenen historischen Textsorten abzuheben. Die Textsorten (z.B. reformatorische Psalmlieder, textgetreue Gesamtpsalter, Reimpsalter, barocke Psalmoden, „elegische" Bußpsalmen) sind für sich betrachtet „literarische Konventionen oder Traditionen von begrenzter geschichtlicher Dauer", 8 aber auch von unterschiedlicher Relevanz für die konkrete Praxis der Psalmendichtung in den verschiedenen Epochen. Denn es versteht sich, daß in der Periode strenger Konventionalität und fester sozialer Einbindung der Literatur das Psalmgedicht sehr viel festgelegteren Produktions- und Rezeptionsmustern gerecht werden mußte, es sich deshalb auch leichter klassifizieren läßt als das Psalmgedicht der Moderne. Dieses ist, losgelöst von der sozialen Kommunikation, kaum noch durch konventionale Textmuster gebunden — es sei denn durch solche, die der Autor aus subjektiven Gründen wählt, um eine spezifische Rezeption seiner Aussagen zu erzielen. So lassen sich denn die modernen Psalmgedichte weniger zu eindeutigen Textsorten typisieren, als vielmehr zu Gruppen, in denen jeweils eine bestimmte Intentionalität der Verfasser vorherrschend ist (so z.B. die expressionistischen Antikriegspsalmen, die Psalmgedichte deutsch-j üdischer Dichter nach 1945). Anders als die großangelegten morphologischen Gattungsgeschichten der 20er und 30er Jahre 9 hält es die neuere Gattungsforschung für sinnvoll, nur einen möglichst genau umgrenzten Zeitraum und einen 6
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Hugo Steger: Über Textsorten und andere Textklassen. In: Textsorten, a.a.O., S. 2 5 - 6 7 . S.49. Vgl. a.a.O. S. 39 und Horst Steinmetz: Historisch-strukturelle Rekurrenz als Gattungs-/Textsortenkriterium. In: Textsorten, a.a.O., S.68 —88. S. 70. Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre — Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977. S. IX. Karl Vietor: Geschichte der deutschen Ode. München 1923. Günther Müller: Geschichte des deutschen Liedes. Vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. (1925) Reprint: Darmstadt 1959. Wolfgang Kayser: Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936.
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funktional streng definierten Kommunikationsausschnitt zu untersuchen. 10 In diesem Sinne haben die jüngeren Arbeiten zur Psalmenparaphrase ihr Untersuchungsgebiet abgesteckt, 11 mit dem Erfolg, immer nur einen Ausschnitt des Gesamtphänomens zu behandeln. Zweifellos hat dieses Vorgehen zunächst seine Berechtigung und seinen Nutzen, doch muß ihm notwendigerweise auch der Blick auf das Ganze folgen, und zwar auf das Ganze der Psalmendichtung im synchronen Schnitt durch die Epoche ebenso wie auf das Ganze in der diachronen Abfolge. Dies versucht unsere Arbeit, will aber im großen Uberblick auch nicht den konkreten Einzeltext verkennen. Daher sind zwar die Gattungsdefinitionen großzügig, der Zeitabschnitt und der Textkorpus weiträumig angelegt, aber die Darstellung fokussiert sich immer wieder auf die Interpretation konkreter Einzelgedichte. Es war erforderlich, den Terminus Gattung für diese Untersuchung sehr weit zu fassen, um die Psalmgedichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert trotz ihrer Verschiedenheit in einem historischen Spektrum anzuordnen und so den Wandel der literarischen Bezugnahme auf diese biblische Gattung deutlich werden zu lassen. Die Berechtigung dieses Vorgehens kann letztlich nur die Arbeit als Ganzes erweisen.
Zur Methode: Interpretation und Vergleich Die Interpretation eines Psalmgedichts kommt nicht ohne einen Vergleich mit den Bibelpsalmen aus. Dieser Vergleich ist am einfachsten da, wo ein Gedicht sich eindeutig als Paraphrase eines bestimmten Psalmes zu erkennen gibt, wie die meisten älteren Psalmgedichte. Hier gilt es vor allem zu beachten, welche Textversion ein Autor seiner Paraphrase zugrundelegt: So mag etwa ein katholischer Psalmliedautor sich weitgehend an Luthers Verdeutschung orientieren, aber strittige Textstellen nach der Vulgata formulieren. Methodisches Hilfsmittel des Vergleichens ist ein paralleles Lesen von Vorlage und Paraphrase, bzw. der parallele Abdruck, der allerdings bereits Interpretation voraussetzt, da in vielen Fällen durchaus nicht offenkundig ist, welche Aussage der 10 11
Vgl. besonders den zitierten Aufsatz von Hugo Steger. Peter Fricke: Evangelische Psalmliedbücher von Einzelautoren im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen, Theol. Diss., 1967. Klaus-Peter Ewald: Engagierte Dichtung im 17. Jahrhundert. Studie zur Dokumentation und funktionsanalytischen Bestimmung des „Psalmdichtungsphänomens". Stuttgart 1975. (Auch Phil. Diss., Stuttgart 1973) Angelika Reich: Übersetzungsprinzipien in den deutschsprachigen liedhaften Gesamtpsaltern des 16. und 17. Jahrhunderts. Regensburg, Phil. Diss., 1977.
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Paraphrase zu welcher Stelle im „Original" gehört. Sind im Vergleich die Abweichungen, Erweiterungen, Verkürzungen, Umschreibungen deutlich geworden, so sind diese als einzelne für sich und im Gesamtzusammenhang des Gedichtes zu interpretieren. Alle älteren Gedichte, die noch im Zeichen der humanistischen Regelpoetik stehen — das gilt für Luthers Psalmlieder ebenso wie noch für J. A. Cramers Oden — sind in Stil und Aufbau von der Rhetorik geprägt. Dies ist in der Interpretation besonders zu berücksichtigen. Ferner sind in vielen Fällen theologische Überzeugungen (Luthers Gnadenlehre, die Christologie), philosophische Strömungen (Neostoizismus im Barock, Physikotheologie in der Frühaufklärung) oder poetologische Richtungen (romanische Gedichtformen bei Opitz, die Vorstellung vom „Erhabenen" bei den empfindsamen Dichtern) in den Text der Paraphrasen eingegangen; solche Prägung ist im einzelnen zu benennen und zu beurteilen. Schließlich stehen die Psalmgedichte im sozialgeschichtlichen Kontext, der sich ihnen in unterschiedlicher Weise aufprägt: Ein protestantischer Pfarrer der Reformationszeit, der Psalmlieder für leseunkundige Gemeindemitglieder schreibt, wird sich anderer Stilmittel und Strophenformen bedienen als ein humanistisch gebildeter Advokat des 17. Jahrhunderts, der mit seinen Psalmoden vor ein Literatenpublikum tritt; wieder anders wird ein Psalter ausfallen, den ein Handwerksmeister aus mnemotechnischen Gründen „bereimt". In enger Verbindung mit dem sozialhistorischen Kontext steht die Textsorte, in die sich eine Psalmendichtung einordnet: Handelt es sich um exegetische Einzelpsalmlieder für das Gemeindegesangbuch, einen Reimpsalter, eine „elegische" Bußpsalmenparaphrase oder Psalmoden nach individueller Auswahl im Rahmen einer Sammlung geistlicher Gedichte? Die Textsorte, in der die Paraphrase den Lesern angeboten wird, bestimmt stark den Charakter der Dichtung und läßt Rückschlüsse auf den geplanten Verwendungszweck auch dort zu, wo programmatische Aussagen des Verfassers fehlen. Ist die Interpretation so weit gediehen, muß nochmals nach der Vorlage gefragt werden — allerdings nun nicht mehr nach dem konkreten paraphrasierten Text, sondern nach den Charakteristika der Gattung, die anhand der biblischen Psalmen aufgestellt wurden. Man wird das Gedicht daraufhin beurteilen müssen, was von der Psalmstruktur in seine eigene eingegangen ist, welche neuen Merkmale hinzugetreten sind, welche Veränderungen gegenläufig zur Psalmästhetik sind und welche gleichsinnig-verstärkend. Vor dem Hintergrund der anderen zeitgenössischen Gattungen wird dann der spezifische Beitrag der Gattung Psalm zur deutschen Lyrik dieser Epoche sichtbar. Ein wichtiges formales Gattungsmerkmal, das erst um 1750 entdeckt wurde, der Parallelismus membrorum, konnte in der älteren Psalmen-
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paraphrase noch nicht zum Tragen kommen und läßt sich daher auch nur sehr eingeschränkt als Formkriterium für die metrischen Psalmgedichte heranziehen. Wo kein Bewußtsein von der freien Form der Versbindung war, konnte sie auch nicht absichtlich nachgeahmt werden. Dennoch wird sich zeigen, daß sogar hier vereinzelt Psalmtypisches in der Wahl bestimmter Vers- und Strophenformen zum Ausdruck kommt. Bisher war hauptsächlich von der Interpretation der Psalmparaphrasen die Rede, und zwar nicht nur, weil eine Paraphrase ein anderes Herangehen erfordert als ein freies Psalmgedicht, sondern auch, weil die ältere Lyrik sehr viel stärker in die gesellschaftliche Kommunikation einbezogen war als die moderne Poesie und daher auch eher ein (vorsichtig) generalisierendes Vorgehen ermöglicht. Schulrhetorik und Gattungskonventionalität formen die vorklassische deutsche Literatur in hohem Maße und damit auch die in dieser Zeit entstehende Psalmendichtung. Was in der Folgezeit aus Gründen religiöser Tradition an die ältere Psalmenparaphrase anknüpfte, geriet immer mehr ins Abseits und wurde schließlich zu einem Sonderbereich, der von der eigentlichen Entwicklung der Literatur abgekoppelt blieb und seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchte. Während also die Psalmenparaphrase sich als religiöse, zweckgebundene Dichtung noch im 19. Jahrhundert fortsetzt, aber nun nicht mehr teil an den relevanten literarischen Entwicklungen hat, entstehen seit Beginn unseres Jahrhunderts freie Psalmgedichte, die ebenso autonome und zweckfreie Aussagen enthalten wie die moderne Lyrik überhaupt. Für die psalmische Dichtung im 20. Jahrhundert ist gerade das Fehlen einer bindenden Gattungskonvention charakteristisch. Dichterische Freiheit tritt damit an die Stelle der mehr oder weniger geregelten Psalmenparaphrase. Tendenziell verschiebt sich das Interesse von den Glaubensinhalten der biblischen Texte zugunsten einer literarischen Wertschätzung mit unterschiedlichen Präferenzen. Bei Brecht hat der Rekurs auf den Psalm einen wesentlich anderen Charakter als etwa bei den Expressionisten. Es ist daher notwendig, in der Interpretation des einzelnen Gedichts die Art des Bezuges auf den Psalm herauszuarbeiten und ihre Funktion für die Aussage jeweils zu bestimmen. Bezug auf den Psalm — das heißt für die modernen Dichter meist Bezug auf die biblischen Gedichte und kaum jemals Bezug auf die Psalmparaphrase seit Luther. Die Interpretation der Psalmendichtung des 20. Jahrhunderts hat dieser veränderten Situation Rechnung zu tragen und aus dem Spektrum der verschiedenen Gattungsmerkmale diejenigen zu benennen, die in einem bestimmten Gedicht aufgegriffen werden und es zum Psalmgedicht werden lassen. Insbesondere die eingehende Analyse eines Psalmgedichtes von Paul Celan bemüht sich, die Möglichkeit
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der formalen Bestimmung eines lyrischen Phänomens „Psalm" in der Moderne exemplarisch zu erweisen. In der Absicht, uns weitgehend auf die literarisch relevanten Erscheinungen zu beschränken, konnten wir zwangsläufig eine große Zahl von Psalmendichtungen nicht berücksichtigen, einige nur recht kursorisch behandeln. Um eine vollständige Geschichte des deutschen Psalms zu schreiben, wäre ein Forschungsaufwand notwendig gewesen, der den Rahmen (und die Zielsetzung) dieser Untersuchung bei weitem gesprengt hätte. Es wäre auch fraglich, ob eine umfassende Gattungsgeschichte in diesem Fall überhaupt wünschenswert wäre und ob nicht gerade eine exemplarische Würdigung dieser Gattung sehr viel eher gerecht wird.
Teil I Die biblischen Psalmen
1. Historischer Überblick Die hebräische Poesie ist sehr alt. 1 Ihre Anfänge reichen wenigstens drei Jahrtausende zurück und bezeugen einen frühen Zusammenhang von sakraler Sprache und Dichtung. Manche alten poetischen Stücke finden sich verstreut in den prosaischen Teilen der jüdischen Bibel, dem Alten Testament der Christen, viele sind zu gesonderten Büchern zusammengefaßt wie die Psalmen, die Sprüche, die Klagelieder und das Hohelied. Der Psalter, hebräisch tehillim (Lobgesänge), zeichnet sich unter den anderen poetischen Büchern der Bibel durch seine Vielfalt an lyrischen Formen und seine fortwährend enge Beziehung zum Kultus aus. Unsere Wörter „Psalm" und „Psalter" sind den Bezeichnungen griechischer Bibelübersetzer entlehnt und verweisen auf den Zusammenhang von Psalmen und Musik: psalmos (Lied) wurde wahrscheinlich als Entsprechung für das hebräische mizmor (Lied) gewählt; dem psalterion entsprach wohl das hebräische nebel (ein Saiteninstrument). 2 Daß die Übersetzer der Septuaginta dem Buch diesen mit der Musik verknüpften Titel gaben, läßt einen gesanglichen und wohl auch instrumental begleiteten Vortrag der Psalmen in jener Zeit vermuten. Die Psalmen waren also Lied, Dichtung und Gebet zugleich. Aus dem Gottesdienst Israels hervorgegangen, wurden sie zunächst nur gesungen, im Gesang auch überliefert und erst nach einer langen Zeit mündlicher Überlieferung schriftlich festgehalten und gesammelt. Die Art des kultischen Psalmengesanges der alten Hebräer kann heute kaum noch rekonstruiert werden, dennoch müssen wir uns diesen Zusammenhang mit der Musik und dem Gottesdienst vergegenwärtigen, wenn wir die Psalmtexte lesen. 1
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In der folgenden Zusammenfassung der Erkenntnisse alttestamentlicher Forschung beziehen wir uns hauptsächlich auf: Otto Kaiser: Einleitung in das Alte Testament. Eine Einführung in ihre Ergebnisse und Probleme. 5., überarbeitete Aufl. Gütersloh 1984. — Rudolf Smend: Die Entstehung des Alten Testaments. 3., überarbeitete A u f l . Stuttgart 1983. — Hans Joachim Kraus: Psalmen. (Biblischer Kommentar X V ) 5., überarbeitete A u f l . Neuenkirchen 1978. Bibelzitate nach: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Berlin 1949 (u.ö.) Vgl. H. J. Kraus, a.a.O., S. 2 u. 15ff.
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Wie Beten und Singen hier noch eins waren, so bezeugen die frühen Psalmen eine Einheit vom Leben des einzelnen mit Sippe, Stamm und Volk, in dessen Zentrum der Gottesdienst stand. Sie waren Ausdruck gemeinsamer religiöser Erhebung und erwuchsen aus dem gemeinsamen Leben. Verfasser und Sammlung Die Forschung ist sich heute weitgehend einig, daß die Psalmen kultischen Ursprungs sind und sich nicht individuellen Verfassern zuschreiben lassen. Bis ins vorige Jahrhundert aber hielt man die in den Psalmüberschriften angegebenen Namen (David, Söhne Korah etc.) für Verfasserbezeichnungen, wenngleich sich daraus auch seit jeher Unstimmigkeiten mit der Abfolge geschichtlicher Ereignisse, wie sie in den anderen Büchern der Bibel mitgeteilt werden, ergaben. So gilt David zwar als Sänger und Dichter (1. Sam 15,18 — 23 u.ö.), doch wurde der Tempel, der in einigen dem David „zugeschriebenen" Psalmen erwähnt wird, erst unter seinem Nachfolger Salomo erbaut (Vgl. Ps 5,8 u.ö.). Ob tatsächlich einige Psalmen von David selbst stammen (etwa Ps 18), hat die Forschung nicht mit Sicherheit ausmachen können. Jedenfalls sind die Psalmenüberschriften späteren Datums als die eigentlichen Texte. Wahrscheinlich handelte es sich bei der Formulierung in den Psalmtiteln (le-david) anfangs um eine liturgische Zueignung, die in späterer Zeit in eine historische Autorschaft umgedeutet wurde. 3 Ähnliches gilt wohl für die Psalmen, die den Namen des Mose und des Salomo tragen. Die Namen Asaph, Korah, Heman, Ethan und Jeduthun bezeichneten ebenfalls zunächst nicht die Verfasser der Lieder, sondern die Sängergilden, welche zur Zeit des zweiten Tempels (nach dem babylonischen Exil) mit dem Vortrag dieser Psalmen betraut waren. Diese Gilden lassen sich zum Teil auf noch ältere, vorexilische Einrichtungen zurückführen. 4 Der Psalter ist nach und nach aus verschiedenen selbständigen Sammlungen zusammengefügt worden. Diese kleineren Sammlungen sind verschiedentlich noch in der Einteilung des Psalters in fünf Bücher 5 3 4
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Vgl. O. Kaiser, a.a.O., S. 352f. Vgl. Hartmut Gese: Zur Geschichte der Kultsänger am zweiten Tempel. In: Ders.: Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie. 2., durchgesehene Aufl. München 1984. S. 147ff. 1. Buch: Ps 1 - 4 1 ; 2. Buch: Ps 4 2 - 7 2 ; 3. Buch: Ps 7 3 - 8 9 ; 4. Buch: Ps 9 0 - 1 0 6 ; 5. Buch: Ps 1 0 7 - 1 5 0 .
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erkennbar. So enden das erste Buch der Psalmen und die Sammlung der Davidspsalmen mit dem Ps 41, das dritte Buch beginnt mit einer Gruppe von Asaphspsalmen (Ps 73) und schließt mit dem Anhang zum „Elohistischen Psalter" (Ps 89). Als Markierung für diese Einteilung dienten Lobpreisungen (Doxologien), die an einige Psalmen angefügt waren. Allerdings nimmt man an, daß erst in der Endredaktion die bewußte Einteilung des Psalters in fünf Bücher erfolgte. In noch späterer Zeit (seit dem 4. Jahrhundert n. Chr.) sah man dann in der Zahl der Psalmbücher eine Analogie zum Pentateuch. Entstehung der einzelnen Psalmen Die ersten Psalmen der Israeliten entstanden wahrscheinlich noch vor dem 10. Jahrhundert v. Chr., abgeschlossen wurde die Sammlung wohl spätestens Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts. 6 Religiöse Lieder, Gebete und Hymnen in der Art der Psalmen sind nicht auf Israel und den genannten Zeitraum beschränkt. Sie finden sich ebenso in den anderen antiken Kulturen des Vorderen Orients und sind dort zum großen Teil älter als die hebräischen. Die sprach- und religionsgeschichtlichen Vergleiche mit den Dichtungen von Sumerern, Akkadern, Kanaanäern und Ägyptern ergaben weitreichende Übereinstimmungen mit den biblischen Psalmen. 7 Diese Ähnlichkeiten belegen, daß sich die israelitische Religion in ihren Anfangen nicht allzu scharf von den Vorstellungen der Nachbarn abhob: Bei der engen kulturellen Verflechtung der vorderasiatischen Völker und der nahen Verwandtschaft der semitischen Sprachen lagen solche Formentlehnungen nahe. Trotz der Ähnlichkeiten haben sich die hebräischen Psalmen auf eine so einzigartige Weise weiterentwickelt und von den gemeinsemitischen Grundmustern entfernt, wie sich die jüdisch-israelitische Religion selbst zunehmend von den anderen Kulten unterschied. Die ältesten erhaltenen Psalmen Israels sind hymnisch. Sie sind nicht im Psalter, sondern im Zusammenhang mit den historischen Ereignissen 6
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Vgl. R. Smend, a.a.O., S. 189f. Kaiser datiert den Abschluß noch ins vierte Jahrhundert v. Chr. S. O. Kaiser, a.a.O., S. 355. Vgl. Godfrey Driver: Die Psalmen im Lichte babylonischer Forschung. (1926) In: Zur neueren Psalmenforschung. H g . v. Peter A. Neumann: Darmstadt 1976. S. 62—133 sowie Erhard Gerstenberger: Der bittende Mensch. Bittritual und Klagelied des Einzelnen im Alten Testament. Neukirchen-Vluyn 1971 und W. Beyerlin (Hg.): Religionsgeschichliches Textbuch zum Alten Testament. ( A T D Ergänzungsreihe 1) 1975.
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mitgeteilt, auf die sie sich beziehen. Das „Lied der Miriam" (Ex 15, 21 f.) und das „Deborahlied" (Ri 5) feiern Siege über Ägypter bzw. Kanaanäer. Sie dürften außerhalb einer festeingerichteten Kultstätte zum Dank für die gerade erfolgte göttliche Rettung des Volkes entstanden sein. So heißt es im Deborahlied: Da die Schützen schreien zwischen den Schöpferinnen, da sage man von der Gerechtigkeit des Herrn [...] Da zog das Volk herab zu den Toren. (Ri 5,11)
Noch einige weitere Psalmen lassen sich — mit einiger Vorsicht — aufgrund ihres archaischen Stiles und kanaanäischer Motive in die Zeit datieren, die dem davidischen Königtum vorausging — sie müßten also schon vor dem ersten Jahrtausend existiert haben (Ps 29; 68). 8 Es erweist sich allerdings allgemein als schwierig, eine genauere Datierung vorzunehmen und einzelne Psalmen konkreten historischen Ereignissen zuzuordnen. Lediglich Ps 137 (An den Wassern zu Babel...) spricht deutlich vom babylonischen Exil (586 — 538 v.Chr.) und sehnt dessen Ende herbei. Daher läßt sich dieser Psalm recht sicher in die Exilszeit datieren. In Ps 137 heißt es auch: „Singet uns ein Lied von Zion" (Ps 137,3). Man darf daher annehmen, daß viele Psalmen, insbesondere solche, die Kultstätten wie dem Zion in Jerusalem zugeordnet waren, bereits vor dem Exil entstanden sind, also in der Zeit der Könige Judas und Israels. Mit der Zerstörung Jerusalems und der Verbannung wurden die bis dahin geübte Dichtung und der Gebrauch der Psalmen problematisch. Weil Tempel und andere Kultstätten ebenso fehlten wie das Königtum, ließen sich die damit verknüpften Feste nicht mehr in der gewohnten Form durchführen; die Aussagen der Psalmen zu den kultischen Begehungen waren nicht mehr glaubwürdig angesichts der Katastrophe. So kam es während des Exils und in der Zeit danach zu Neuinterpretationen und Neufassungen der überlieferten Psalmen und einer Modifikation in der Psalmendichtung. Zwar gab es auch schon in der Königszeit Psalmen, die nicht dem offiziellen Kult am Tempel, sondern privaten Zeremonien dienten, auch wurde schon vor dem Exil in den Psalmen Kritik am Opfer formuliert, doch erst die späten, nachexilischen Psalmen geben der Reflexion über die Wirksamkeit des Kultes und über die Theodizee breiteren Raum. Noch werden für den Kult am zweiten Tempel Psalmen geschaffen, aber dieser Kult feiert nicht mehr die immerwährende Gegenwart des Gottes; er besteht vielmehr im Nachvollzug von Jahwes geschichtlichen Taten und in eschatologischer
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Vgl. H. J . Kraus, a.a.O., S. 70.
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Erwartung einer Wiederkehr des „eigentlichen" Kultes und der Gottesherrschaft. Der Selbstverständlichkeit der Gotteserfahrung in den frühen Jahrhunderten steht die stete, aus Unsicherheit resultierende Vergewisserung der späten Dichtungen gegenüber. Das Wissen um den göttlichen Plan der Welt wird in dieser Spätzeit nicht mehr von der gesamten Gemeinschaft geteilt, es wird dem Einzelnen durch die Unterweisung vermittelt. Solche Unterweisungen enthalten viele Psalmen aus dieser Periode. 9 Sie sind meist auch durch eine besondere äußere Form (Spruch, Akrostichon) erkenntlich. 10 Der Psalter vereinigt also Stücke aus einem Entstehungszeitraum von fast einem Jahrtausend und weist eine entsprechende Formen- und Themenvielfalt auf. Viele der älteren Lieder wurden im Laufe der Zeit den veränderten historischen Bedingungen angepaßt und überarbeitet oder in neuem Zusammenhang „zitiert". In der vorliegenden Gestalt war der Psalter das Gesangbuch der nachexilischen Gemeinschaft der Juden und wurde bei Abschluß des hebräischen Bibelkanons an den Anfang der ketubim (Schriften) gestellt. Aber auch in nachkanonischer Zeit entstanden noch Psalmendichtungen, die nicht mehr unter die heiligen Schriften aufgenommen wurden. 11
Gattungen Wichtigere Einsichten als aus den oftmals sehr umstrittenen Datierungsversuchen hat die Psalmenforschung durch die Theorie der Gattungen erhalten. Das heutige wissenschaftliche Verständnis der Psalmen geht wesentlich von Hermann Gunkels Erkenntnis aus, daß jeder Psalm seinen „Ort" in Leben und Kultus der Gemeinschaft hatte. 12 Indem Gunkel und seine Nachfolger diesen „Sitz im Leben" erfaßten, gelangten sie zu Gattungsbestimmungen, die Form, Zweck und Herkunft der einzelnen Lieder erhellen konnten. Häufig stellte sich ein Zusammenhang zu konkreten kultischen Begehungen her.
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Vgl. Fritz Stolz: Psalmen im nachkultischen Raum. (Theol. Stud. 129) Zürich 1983 sowie Rainer Albertz: Persönliche Frömmigkeit und offizielle Religion. Religionsinterner Pluralismus in Israel und Babylon. Stuttgart 1978. Vgl. H. J. Kraus, a.a.O., S. 73. S.u. Hermann Gunkel: Die Psalmen. (1913) In: Zur neueren Psalmenforschung, a.a.O., S. 19 — 54 sowie ders.: Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels. (1933) Göttingen 2 1966.
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Hymnen Bei allen Festen und Gottesdiensten sang die Gemeinschaft bzw. der Chor Hymnen, auch ohne daß ein bestimmter Anlaß vorlag. Die Hymnen nehmen einen so hohen Rang in der Achtung der Juden ein, daß sie — obwohl zahlenmäßig eine Minderheit — dem Psalter seinen hebräischen Namen geben: tehillim. Das zugehörige Verb hallel (lobpreisen) hat in einer seiner Aktionsformen die Bedeutung „leuchten lassen". Als ein solches Leuchtenlassen muß man die Hymnen an Jahwe verstehen. Das wohl älteste und knappste Beispiel für einen Hymnus, das erwähnte Lied der Miriam, steht außerhalb des Psalters. An ihm läßt sich deutlich die Struktur eines einfachen Hymnus ablesen. Der Aufforderung zum kollektiven Lob Gottes folgt eine ihn beschreibende Begründung und das Preisen seiner Tat. Laßt uns dem Herrn singen; denn er hat eine herrliche Tat getan, Roß und Mann hat er ins Meer gestürzt.
(Ex 15,21)
Daneben besingen zahlreiche Hymnen auch die Eigenschaften Jahwes, sein mythisches oder sein zukünftiges Handeln, das Gericht über die Völker. 13 Meist wird er in der dritten Person geschildert, seltener in der zweiten Person angesprochen. Danklieder Ähnlichkeiten und Überschneidungen mit dem Hymnus zeigt das Danklied. Allerdings dankt hier fast immer ein einzelner für eine konkret erfahrene Rettung, um die er zuvor in einem Klagelied gebeten hatte. Klage- und Danklied sind also komplementäre Gattungen, die zum Bittbzw. Dankritual gehören. Die Bezeichnung todah steht sowohl für das Danklied wie für das Dankopfer. Einige Psalmen thematisieren polemisch die Ablösung des Dankopfers durch das bloße Gebet: Opfer und Speisopfer gefallen dir nicht; aber die Ohren hast du mir aufgetan. Du willst weder Brandopfer noch Sündopfer.
(Ps 40,7)
Das Danklied beginnt mit einer dankenden Anrede des Gottes. Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen und erzähle alle deine Wunder. Ich freue mich und bin fröhlich in dir und lobe deinen Namen, du Allerhöchster,
(Ps 9,2f.)
» Weitere Hymnen: Ps 8; 19; 29; 33; 4 6 - 4 8 ; 65; 67f.; 76; 84; 87; 93; 9 6 - 1 0 0 ; 1 0 3 - 1 0 5 ; 1 1 1 ; 113f.; 117; 135f.; 1 4 5 - 1 5 0 .
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Darauf folgt meist ein Bericht, der den zuhörenden Zeugen in einem Rückblick die Not des Dankenden, seinen Hilferuf und die auf die Erhörung folgende Rettung schildert. Ich harrte des Herrn; und er neigte sich zu mir und hörte mein Schreien und zog mich aus der grausamen Grube und aus dem Schlamm und stellte meine Füße auf den Fels, daß ich gewiß treten kann; und hat mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben, zu loben unsern Gott. Das werden viele sehen und den Herrn fürchten und auf ihn hoffen. (Ps. 4 0 , 2 - 4 )
Hier können sich dann auch noch zahlreiche Betrachtungen (etwa über göttliche Eigenschaften) anschließen, die das Danklied dem Hymnus annähern. Der Vortrag des Dankpsalms vor einer Versammlung von Gläubigen erfüllt zumeist ein in der Krise geleistetes Gelübde und besiegelt die Wiederaufnahme des Geretteten in die Gemeinschaft. 14 Neben dem Danklied des einzelnen scheint es ein Danklied des Volkes — als Komplement zur Volksklage — kaum gegeben zu haben, 15 was sich damit erklären läßt, daß für kollektive Dankgottesdienste ohnehin die Hymnen zur Verfügung standen. Zudem gab es nach der Zeit des Exodus zusehends weniger Anlässe, Gott für ein sichtbares rettendes Eingreifen in die Geschichte Israels zu preisen. Klagelieder Neben dem Grundklang des Lobens dominiert im Psalter als Gegenpol das Flehen. Es umfaßt Klage und Bitte, reicht aber über sie hinaus — so wie das Lobpreisen auch mehr ist als ein Danken. Die Polarität von Preisen und Flehen ist weitaus stärker als die von Danken und Bitten. 16 Mit dem hebräischen Terminus (tefilla) lassen sich die Klagepsalmen auch als Gebetslieder bezeichen.17 Sie stellen die überwiegende Mehrzahl der Psalmen. 14
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Danklieder des einzelnen: Ps 18; 30; 32; 34; 41; 66; 92; 116; 118; 138; Jes 3 8 , 1 0 - 2 0 ; Jona 2 , 3 - 1 0 . Als Danklieder des Volkes ansprechen ließen sich eventuell Ps 67; 124; 129. Dies ist besonders von Claus Westermann betont worden, der um des Benennens dieser Polarität willen f ü r Hymnen und Danklieder die Termini „beschreibendes" und „berichtendes" Lob vorgeschlagen hat, damit aber in der alttestamentlichen Forschung wenig Anhänger fand. Vgl. Claus Westermann: Der Psalter. Stuttgart 1967 sowie sein aktuelles Buch, ders.: Ausgewählte Psalmen. Göttingen 1984. Vgl. H. J. Kraus, a.a.O., S. 49.
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Das Flehen des Volkes ist im Zusammenhang mit den gottesdienstlichen Klagefeiern besonders anschaulich. Das ganze Volk, auch Frauen und Kinder, kam zum Fasten (som) am Heiligtum zusammen — im Exil an der entsprechenden Versammlungsstätte. Zum Fasten gehörten die Opfergabe, die Heiligung der Festgemeinde, Trauerkleidung (Umgürten des Sacks), das Bestreuen des Hauptes mit Staub und Erde, Gebärden der Demütigung und das „Weinen vor dem Herrn": psalmodisches Flehen. 18 Eine solche Volksklage über das zerstörte Jerusalem ist das fünfte der Klagelieder Jeremiae. Die Anfänge dieser Gattung liegen wahrscheinlich noch in der Zeit der Wüstenwanderung. Sicherlich gab es mehr als die im Psalter enthaltenen Volksklagen. 19 Sie entstanden spontan bei Katastrophen und waren für jeden Israeliten verknüpft mit schweren Erfahrungen. Zur Zeit der Psalmensammlung begann jedoch bereits eine Theologie der Buße zu dominieren, so daß die Klagefeiern in der Spätzeit einen neuen Charakter annahmen. Der Verfasser der Chronikbücher schildert noch den Ablauf einer nachexilischen Klagefeier (etwa 400 v. Chr.) als historische Projektion in die Zeit der Könige (2 Chr 10). Das etwa zu gleicher Zeit entstandene Buch Esra enthält ein Gebet in „Wir"-Form, das deutlich den Übergang von der Volksklage zu Buße anzeigt (Esra 9,5f.). Die Volksklagepsalmen sind eng mit dem Schicksal Israels verknüpft, während sie in der christlichen Tradition eine geringere Rolle spielen. Anders die Klagelieder des Einzelnen — sie sind gerade für die Christen sehr wichtig geworden, so besonders die Klagen der sieben „Bußpsalmen". Die Klagelieder des Einzelnen sind die zahlenmäßig stärkste Gattung des Psalters (ca. 50); durch die häufige Überarbeitung bis in die späte Zeit wurden sie den verschiedenen Anlässen angepaßt. Im Gottesdienst wie im privaten Bereich fanden sie Verwendung. Ihre eindringlichen Schilderungen von Not und Verzweiflung waren von nicht geringerem Einfluß auf spätere Literatur als das überschäumende Preisen der hymnischen Psalmen. [...] meine Tage sind vergangen wie ein Rauch, und meine Gebeine sind verbrannt wie ein Brand. Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie ein Gras, daß ich auch vergesse mein Brot zu essen. Mein Gebein klebt an meinem Fleisch v o r Heulen und Seufzen. Ich bin gleichwie eine Rohrdommel in der Wüste; Ich bin gleichwie ein Käuzlein in den verstörten Stätten.
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Vgl. C. Westermann, Der Psalter, a.a.O., S. 29f. Volksklagen sind: Ps 44; 60; 74; 79; 80; 90; Hos 6 , 1 - 3 ; 63,11-64,11.
Joel 1 , 1 8 - 2 0 ;
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Historischer Überblick Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache. Täglich schmähen mich meine Feinde; und die mich verspotten, schwören bei mir. Denn ich esse Asche wie Brot und mische meinen Trank mit Weinen [...] (Ps 1 0 2 , 4 - 1 0 )
Die Struktur der individuellen Klagepsalmen ist meist wie folgt: Auf die Anrufung Jahwes folgt eine bewegende Klage über die Notsituation (Krankheit, Anklage, Nachstellung); daran schließt sich die Bitte um Erhörung und Hilfe an, häufig mit dem Versprechen, eine Errettung mit Dankopfer und Danklied zu beantworten. Nicht selten kommt es auch noch innerhalb des Klageliedes zu einem Stimmungsumschwung-. Der Beter geht unmittelbar von der Klage zum Dank über. Vermutlich geht dieser Umschwung darauf zurück, daß die Klagepsalmen Gebetsformulare darstellten, die für einen Bittsteller rezitiert wurden. Als Antwort auf seine Bitte erfolgte ein konkreter Orakelspruch durch einen Priester oder Kultpropheten — der im Formular nicht enthalten ist — und im Anschluß an dieses Orakel ging dann der Klagende zum (wiederum formularischen) Dank für die verheißene Rettung über. 20 Allerdings ließ sich Trost in späterer Zeit zweifellos auch ohne kultische „Antwort" allein aus dem Sinnzusammenhang des Psalms ziehen. In die Klage über eigene Not mischen sich nicht selten Anklagen, Verwünschungen und sogar Rufe nach Vergeltung, die den „Feinden" des Beters gelten. Deine Zunge trachtet nach Schaden und schneidet mit Lügen wie ein scharfes Schermesser.
(Ps 52,4)
Darum wird dich Gott auch ganz und gar zerstören und zerschlagen und aus deiner Hütte reißen und aus dem Lande der Lebendigen ausrotten. (Ps 52,7)
Diese Feinde sind im Psalm meist die Verfolger und Verleumder des Klagenden. Ihre Beschreibungen sind so allgemein gehalten, daß sie als Schablone für Gegner aller Art dienen könnten, seien es politische Widersacher, auswärtige Mächte oder Ankläger im sakralen Gericht. Gegenüber den zahlreichen Hypothesen, die sich mit der Konkretion der „Feinde" in den Psalmen beschäftigen, ist wohl der Hinweis von H. J. Kraus am vertretbarsten, daß es sich bei den Feinden um Menschen handelt, die den Typus des „Bösen" komplementär zum Typus des „Armen" vertreten. 21 Der gelegentlich in den Feindklagen mit20 21
Vgl. O. Kaiser, a.a.O., S. 337f. Vgl. H. J. Kraus, a.a.O., S. 116.
28
Die biblischen Psalmen
schwingende Ruf nach Vergeltung hat besonders die christliche Exegese immer wieder vor Probleme gestellt, weil er sich mit dem neutestamentlichen Nächstenliebegebot kaum in Einklang bringen ließ. Sondergattungen Uber die vier Grundgattungen des Lobens und Klagens hinaus lassen sich einige Sondergattungen aufstellen — gemäß typischen Inhaltselementen. So werden als Schöpfungspsalmen die Hymnen auf die Erschaffung der Welt (mit deutlichen Parallelen in sumerischer und ägyptischer Dichtung, vgl. Ps 104 und den Sonnenhymnus Echnatons) und auf Jahwe als Herrn der Geschichte bezeichnet. Wo der geschichtliche Zusammenhang ausgeführt wird, weisen diese Psalmen meist auf die Sünden der Väter und deren Bestrafung hin, um in Belehrung und Mahnung der Lebenden zu gipfeln (Ps 78). Es handelt sich häufig um Mischformen mit Übergängen zur Volksklage, zum beschreibenden oder berichtenden Loblied. Die Wallfahrtslieder wurden am heiligen Ort bei der Ankunft und beim Aufbruch gesungen. Am deutlichsten prägt sich diese Gattung in Ps 122 aus, sonst geht sie oft in andere Formen über. 22 In diesen Zusammenhang gehören auch die Segenspsalmen, die den vom Heiligtum Abschiednehmenden galten. Alle wichtigen Kulthandlungen endeten mit dem Austeilen und Empfangen des Segens. 23 In den Zionsliedern ist nicht mehr die Wallfahrt nach Jerusalem, sondern die Bewahrung der heiligen Stadt vor den Feinden zum Thema gemacht. Man sang sie auf Prozessionen für die Siege Jahwes und seiner Stadt. Die Königspsalmen wurzeln wahrscheinlich im Königskult, der bei den nichtisraelitischen Bewohnern Kanaans verbreitet war. Die Amtseinsetzung des neuen Königs durch Gott wurde später messianisch umgedeutet. Ebenso werden die Thronbesteigungspsalmen als Ankündigung des Welterlösers interpretiert. Ob diese beiden Gattungen auf ein jährlich abgehaltenes Inthronisationsfest mit Fruchtbarkeitsriten schließen lassen, soll hier nicht entschieden werden. 24
22 23 24
Weitere Wallfahrtspsalmen (Luther: Stufenpsalmen) sind: Ps 1 2 0 — 1 3 4 . Vgl. Ps 121,7f.; 128,5f.; 134,3. Dieser Standpunkt wird von den zahlreichen Vertretern der sog. skandinavischen Schule eingenommen, die sich hauptsächlich beruft auf: Sigmund Mowinckel: Psalmstudien. Bd. I —IV. Oslo 1921 - 2 4 . Die in Frage kommenden Pss sind 47; 93; 9 6 - 9 9 . Weitere Königspsalmen: Ps 2; 18; 20; 21; 45; 72; 89; 101; 110; 132; 144.
Historischer Überblick
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Die sogenannten liturgischen Psalmen weisen deutlicher als andere auf den kultischen Zusammenhang, in dem sie gebraucht wurden. So spricht Ps 24,3 — 6 (auch Ps 132) von einer Zeremonie um die Bundeslade; die Umrisse einer Dankesfeier werden in Ps 66 erkennbar. Andere Psalmen lassen durch ihre formalen Merkmale auf die Art des Vortrages schließen: Kehrverse (Ps 42; 46; 67; 80; 99) und die litaneiartige Wiederholung einer Zeile (Ps 136) wurden wahrscheinlich von der „Gemeinde" bzw. speziellen Chorgruppen gesungen. 25 Die Weisheitspsalmen enthalten erbauliche, fromme Betrachtungen. Die Weisheitslehre entstand unter den Schreibern des Königshofes und war eine im alten Orient verbreitete Erscheinung. Die gelehrten Schreiber gaben — ausgehend von der Einsicht in eine von Gott wohlgeordnete Welt — ihre Anleitungen zum glücklichen Leben des Einzelnen. Weisheitliche Frömmigkeit existierte lange in eigenständiger literarischer Form (vor allem den Sprüchen) neben der Psalmendichtung. In einer Zeit, als beide Gattungen problematisch zu werden begannen, weil viele Menschen weder im Kult, noch in der „Ordnung" der Welt mehr eine unbezweifelbare Gegenwart Gottes erfahren konnten, kam es zu einer Vermischung der Formen. Weisheitliche Rede drang in die Psalmen ein — aber ebenso griff der Verfasser des Buches Hiob psalmische Redeweisen auf und stellte die Klage skeptisch den weisheitlichen Welterklärungen gegenüber. Reflexion, rationale Kritik der überlieferten Aussagen mit dem Ziel der Vergewisserung und Unterweisung sind ein wesentliches Moment der weisheitlichen Psalmen, insbesondere jenen der Spätzeit. 26 Der lehrhafte Charakter der unterweisenden Psalmen hat oft seine formale Entsprechung in einer alphabetischen oder akrostichischen Anordnung der Verse, die ein Erlernen erleichterte (Ps 119). In diesen Psalmen ist der Grundton abgeklärter als in den älteren Gattungen. Wie die anderen Weisheitsschriften wenden sie sich meist didaktisch an die Gläubigen. Eine spezifische Zuordnung zu einer bestimmten Kulthandlung ist bei den Weisheitspsalmen kaum möglich, wohl auch nicht angebracht.
25 26
Vgl. Smend, a.a.O., S. 200. Vgl. F. Stolz, Psalmen im nachkultischen Raum, a.a.O., S. 23f. und S. 73ff.
2. Literarische Merkmale der biblischen Psalmen Bisher haben wir hauptsächlich die Entstehung und das soziologische Umfeld der Psalmen betrachtet. Um Gesichtspunkte für die Möglichkeiten eines späteren literarischen Aufgreifens dieser Texte zu erhalten, sollen nun die sprachlichen Besonderheiten genauer untersucht werden. Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die Psalmen von der prosaischen, fortlaufenden Rede anderer Bücher der Bibel durch ihre Versbindung. Welcher Art jedoch die „Bindung" in der hebräischen Poesie ist, darüber gab es verschiedene Auffassungen. Von Hexametern und anderen klassischen Maßen, welche die Bibelapologeten von Philo und Hieronymus bis zu den Barockautoren immer wieder in den Texten zu finden behaupteten, konnte seit einer literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem hebräischen Text keine ernsthafte Rede mehr sein. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde allgemein der Parallelismus membrorum als die eigentliche Bindung der hebräischen Poesie angesehen. 1 Auf die Frage, ob der Parallelismus nun tatsächlich als Versbindung oder nur als rhetorisches Stilmittel aufzufassen ist, werden wir noch eingehen. Die Erforschung einer hebräischen Metrik ist jedenfalls nicht mehr denkbar ohne die Beachtung paralleler Vershälften im Text. Wir wissen nichts über die Rezitation, den Gesang der Psalmen in antiker Zeit, und müssen uns daher auf die lexikalische Akzentuierung der Worte und die im Mittelalter erfolgte Punktation durch die Masoreten stützen. Immerhin war die Konsantenschrift der Hebräer keine historische, sondern eine Lautschrift, so daß sie eine hinreichend solide Grundlage für Hypothesen über das Klangbild bietet. 2 Uber die metrische und stilistische Form hinaus bieten die Psalmen einen weiteren formalen Aspekt: die Struktur, die sich aus der Abfolge der Sprachgebärden ergibt. Solche Strukturen haben ein unterschiedliches Aussehen, je nachdem, welcher Untergattung sie zugehören. Ein weiteres literarisches Kennzeichen der Psalmen sind Motive, die sich als besonders charakteristisch für diese Gattung erwiesen haben. 1 2
S.u. Vgl. Luis Alonso-Schökel: Das Alte Testament als literarisches Kunstwerk. K ö l n 1971. S. 14. (Spanische Originalausgabe: Estudios de Poética Hebrea. Barcelona 1964.)
Literarische Merkmale der biblischen Psalmen
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Metrum und Rhythmus Zur Beschreibung der hebräischen Metrik ist es ratsam, nicht von einer strengen Unterscheidung zwischen Prosa und Vers auszugehen, sondern die Zwischenstellung des Parallelismus zu berücksichtigen. So schreibt Luis Alonso-Schökel in „Das Alte Testament als literarisches Kunstwerk", dem wohl wichtigsten neueren Beitrag zum Thema: Die Periodizität, in der das dominierende Element wiederkehrt, kennt Grade. [...] Ist sie mehr unregelmäßig, so haben wir den Rhythmus der gewöhnlichen Prosa; ist sie deutlich regelmäßig, so haben wir den Vers. [...] Zwischen den beiden deutlichen Extremen können w i r die Zwischenformen der künstlerischen Prosa — cursus — und den freien Vers ansetzen. 3
Das „dominierende Element" der Versbindung kann die Silbendauer oder -stärke, den Ton oder klangliche Eigenschaften zur Grundlage haben. Zu ihm gehören als weitere wichtige Bestandteile die Zahl und die Pause. Ein Element der Versbindung in den Psalmen ist die Silbenstärke. Allerdings erschwert die historische Distanz die Entscheidung, ob sie als alternierende oder akzentuierende Dichtung einzuschätzen sind. In der alttestamentlichen Forschung haben beide Ansichten Schule gemacht, 4 den größeren Anklang hat aber das akzentuierende System des Germanisten Eduard Sievers gefunden, das von vierzeitigen Takten mit anapästischem Grundcharakter ausgeht. 5 Nach der Zahl der Akzente pro Zeile werden Zweier, Dreier und Vierer unterschieden. In Parallelismen finden sich Doppelzweier, Doppeldreier, Doppelvierer, Siebener (3+4 oder 4+3), Fünfer (3 + 2, nach ihrem Vorkommen in der Leichenklage qina genannt). Darüber hinaus erscheinen in dreigliedrigen Parallelismen: 3 + 3 + 3, 4 + 4 + 4 , 3 + 3 + 2, etc. Es gibt Psalmen, die fast durchweg ein Metrum aufweisen, aber sie sind nicht die Regel. Meist wechseln die aufgezählten Versmodelle sich ab, indem sie, vom natürlichen Satzrhythmus ausgehend, sich einer metrischen Regelmäßigkeit annähern. Die ältere Forschung neigte dazu, eine „ursprüngliche" Gleichmäßigkeit anzunehmen und das Irreguläre der Textverderbnis anzulasten. Um den fiktiven „ursprünglichen" Text wiederherzustellen, wurden dann zahlreiche Korrekturen nötig. Die Untersuchung vergleichbarer kanaanäischer Texte hat allerdings erhärtet, „daß Mischmetren in der frühen Dichtung überall vorauszusetzen sind". 6 Außerdem
3 4 5 6
L. Alonso-Schökel, a.a.O., S. 99. Vgl. H. J. Kraus, a.a.O., S. 32ff. Eduard Sievers: Studien zur hebräischen Metrik. Leipzig 1901. Vgl. H. J. Kraus, a.a.O., S. 33.
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Die biblischen Psalmen
zeichnet sich immer mehr die Erkenntnis ab, daß der Psalter aus historisch gewachsenen Gebrauchstexten besteht, die nicht von einem mythischen Anfang zur überlieferten Form heruntergekommen sind, sondern nach den jeweils veränderten Bedürfnissen aus bewährten alten Stücken neu zusammengesetzt wurden. Den Redaktoren fiel die Angleichung von Liedern verschiedener Herkunft um so leichter, als die ungeschriebene hebräische Ästhetik keine Strenge der Form kannte. Für eine Organisation der Verse zu Strophen gibt es keine metrischen Anhaltspunkte. Zwar zeigt Psalm 119 einen strophischen Aufbau, aber dieser entsteht durch die akrostichische Anordnung, in der jeweils acht Verse mit einem der zweiundzwanzig Buchstaben des AlephBeth beginnen. Andere Stropheneinteilungen sind durch Kehrverse zu erschließen (Ps 42; 46; 67; 80; 99); ansonsten aber handelt es sich, wo Strophen abgesetzt werden, meist um inhaltliche Sequenzen, welche aus der willkürlichen Interpretation des jeweiligen Forschers oder Ubersetzers folgen. 7 Wenn man von der qina absieht, die für die Totenklage typisch ist (Klgl 1; 2; 4), so finden sich im metrischen Bau der Psalmen keine festen Schemata — etwa in Analogie zu den klassischen Odenmaßen. Daher ist die metrische Struktur als gattungsbildendes Modell nicht relevant. Sie scheint bei den alten Hebräern eher die Begleiterscheinung jener anderen Art der Bindung poetischer Rede gewesen zu sein, eben des Parallelismus. „Alle Bemühungen um das Metrum sind Versuche", schreibt Kraus, 8 und dabei wird es vermutlich auch bleiben.
Parallelismus membrorum 1753 veröffentlichte Lordbischof Robert Lowth seine „Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer". 9 Er gab einem Phänomen, das er bei der Untersuchung und Übersetzung des Jesaja gefunden hatte, den Namen „Parallelismus membrorum". Der Emanzipationsprozeß der Bibelforschung war im Klima der Aufklärung so weit gediehen, daß der Blick auf die Eigenart der Bibelsprache nicht mehr verstellt wurde von den Urteilen der Patres. 7
8 9
So finden sich in neuen Übersetzungen auch immer wieder neue Stropheneinteilungen. Auch Kraus sieht ein „kaum noch übersehbares Gewirr von Meinungen und Vermutungen" in dieser Frage. Ders., a.a.O., S. 35. H. J. Kraus, a.a.O., S. 31. Robert Lowth: Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews. Translated from the Latin of the late Right Rev. Robert Lowth by G. Gregory, to which are added the Principal Notes of Professor Michaelis, and Notes by the Translator and others. London 3 1835.
Literarische Merkmale der biblischen Psalmen
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So fand auch in die christliche Bibelwissenschaft eine Erkenntnis Eingang, die schon in jüdischen Psalmenkommentaren des Mittelalters zu finden war. 10 Lowth's Theorem des Parallelismus und seine Differenzierung sind heute fester Bestand der sprachlichen Erforschung des Alten Testaments und anderer Texte des antiken Vorderen Orients. Die Entdeckung ging aus von der auffalligen Verdoppelung der Aussagen in den poetischen Schriften, also von einem logischen Phänomen. Die neuesten Forscher tendieren zwar zu einer formalen Einteilung der Texte in Kurzglieder von relativ gleicher Konsonantenzahl, kommen aber auch nicht ohne eine vorherige Strukturierung nach logisch und syntaktisch sinnvollen Einheiten aus. 11 Der Parallelismus ist also immer noch als ein primär logisches Phänomen aufzufassen, das von einer bestimmten Form begleitet wird. Der Parallelismus bezeichnet das Auseinandertreten eines Verses in zwei Hälften oder besser die Verdopplung eines Gedankens, die einen zweigliedrigen Vers ergibt. In der althebräischen Poesie ist er ein Grundprinzip, das fundamentaler als jedes andere stilistische Phänomen wirkt. Eduard Norden bezeichnete den Parallelismus als eine „Urform der Poesie" und betonte: Wer ihn zusammenwirft mit dem griechisch-lateinischen, oder gar den Parallelismus im Stil jüngerer lateinischer Autoren (z.B. des Apuleius oder Augustin) aus dem hebräischen ableitet, beweist, daß er von der A r t des hebräischen Parallelismus gar keine Vorstellung hat. 1 2
Die Versglieder werden auch Stichen oder Kola genannt. Den Ursprung der Zweigliederung vermutet L. Alonso-Schökel im Bereich magischen, beschwörenden Sprachgebrauchs, hält aber auch einen Zusammenhang mit chorischer Responsion für möglich. 13 Kraus schreibt: „Der Dichter sah sich veranlaßt, das jeweils zur Rede Stehende in zwei Versstichen, d.h. aber auch in zwei Aspekten [...] zum Ausdruck zu bringen." 14 Neben dem zweigliedrigen Parallelismus tritt auch Drei- und Vierglie-
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13 14
Zu den Vorläufern Lowth's und seinen zeitgenössischen Kollegen, die der Erfassung des Sachverhalts ebenfalls nahekamen, siehe: Aelred Baker: Parallelism: England's Contribution To Biblical Studies. In: The Catholic Biblical Quarterly. Vol 35. (1973) S. 429 - 440. Vgl. Oswald Loretz: Die Analyse der ugaritischen und hebräischen Poesie mittels Stichometrie und Konsonantenzählung. In: Ugarit-Forschungen. Internationales Jahrbuch für die Altertumskunde Syrien-Palästinas. Bd. 7. Neukirchen-Vluyn 1975. S. 265-269. Eduard Norden: Die antike Kunstprosa. Vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance. (1898) Nachdr.: Darmstadt 1958. 2. Bd. S. 8 1 3 u. 817. L. Alonso-Schökel, a.a.O., S. 14. H.J. Kraus, a.a.O., S. 30.
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drigkeit auf, in den älteren, ugaritischen Dichtungen ist diese Mehrgliedrigkeit sogar noch häufiger anzutreffen. 15 Die Aussage der ersten Vershälfte kann in der zweiten wiederholt, kontrastiert, ergänzt oder gesteigert werden. Dementsprechend unterscheidet man — synonymen Parallelismus — sofern in den Gliedern Gleiches ausgesagt wird, — antithetischen Parallelismus — bei gegensätzlicher Aussage, — synthetischen (oder konstruktiven) P. — wenn der Gedanke ergänzend fortgeführt wird und — klimaktischen P. — in welchem die zweite Hälfte ein Wort der ersten aufgreift und den Satz vervollständigt. Die Grenze zwischen synonymem und synthetischem Parallelismus ist zuweilen unscharf. Bei manchen Versen ist schwer zu entscheiden, ob es sich noch um einen synthetischen Parallelismus handelt oder ob eine prosaische Erweiterung (ohne Rücksicht auf die parallele Struktur) vorliegt. Zur Illustration von paralleler und rhythmischer Anlage eines Psalms geben wir auf den nächsten Seiten den hymnischen Psalm 96 wieder, und zwar in Transkription 16 und Interlinearübersetzung. 17 Die Verse sind numeriert, die Versglieder im Transkript und in der Übersetzung sind mit den Buchstaben des Alphabets gekennzeichnet. Im deutschen Text wurde die Wortfolge weitgehend beibehalten. Das Verb ist eingeklammert, um zu signalisieren, daß im Ausgangstext ein Nominalsatz steht. 96 la ß 2a ß 3a ß 4a ß
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sirü l'jahwe sir hädäs sirü l e jahwe kol-hä'äres sirü l e jahwe bärkü smö bass e rü mijjöm-l e j6m j c sü'ät6 sapp c rü baggojim k e bödö b c kol-bä'ammim nifP'otajw kl gädöl jahwe üm'hulläl m c 'öd norä' hü' 'al-kol- c löhim
Vgl. O. Loretz: Die Psalmen II. Beitrag der Ugarit-Texte zum Verständnis von Kolometrie und Textologie der Psalmen. Psalm 9 0 — 1 5 0 . Neukirchen-Vluyn 1979. S. 329. Nach dem Text der Biblia Hebraica Stuttgartensia. Ed. K(arl) Elliger et W(ilhelm) Rudolph. Stuttgart 1967/77. S. 1177f. Die Transkription wurde v o n uns erstellt. Die Übersetzung folgt weitgehend der des Psalmenkommentars von H. J. Kraus, a.a.O., S.833.
Literarische Merkmale der biblischen Psalmen 5a ß 6a (3 7a ß 8a ß 9a ß 10a ß y IIa ß 12a ß 13a ß y 8
kl kol- e löhe hä'ammim e lilim wa jahwe sämajim 'äsä hod-w e hädär l c fanäjw öz w'tif eret bcmiqdäSo häbü l'jahwe misp'höt 'ammim häbü l c jahwe käböd wo'oz häbü l'jahwe k e böd smö se°ü-minhä übö'ü l e hasrötäjw histah'wü l'jahwe b e hadrat-qöres hilü mippänäjw kol-hä'äres 'imrü baggöjim jahwe mäläk 'af-tikkön tebel bal-timmöt jädin 'ammim b e mesärim jism e hü hassämajim w e tägel hä'äres jir'am hajjäm ü m l ö ' o ja'*löz sädaj w c kol-' 1 ser-b6 äz j e rann c nü kol-' a se jä'ar lifne jahwe ki ba' ki-bä* liSpöt hä'äres jispöt-tebel bcsedeq w c ammim be' e münätö
Psalm 96 l a Singt Jahwe ein neues Lied, ß singt Jahwe, alle Lande! 2 a Singt Jahwe, huldigt seinem Namen, ß verkündet von Tag zu Tag sein Heil! 3a Erzählt unter den Heiden seine Herrlichkeit, unter allen Völkern seine Wunder! ß 4 a Denn groß (ist) Jahwe und hoch zu loben, ß furchtbar (thront) er über allen Göttern 5a Denn alle Götter der Völker (sind) Nichtse, aber Jahwe hat den Himmel gemacht. ß 6a Hoheit und Pracht (sind) um ihn her, ß Macht und Glanz in seinem Heiligtum. 7a Bringt Jahwe, ihr Geschlechter der Völker, ß bringt Jahwe Ehre und Macht! 8a Bringt Jahwe die Ehre seines Namens! ß Tragt Gaben herzu, kommt in seine Vorhöfe! 9a Fallt nieder vor Jahwe bei „seiner" heiligen Erscheinung ß Zittert vor seinem Antlitz, alle Lande! 10a Kündet unter den Völkern: Jahwe (ist) König! ß y Fürwahr: fest ward gestellt die Erde, daß sie nicht wankt. 6 Er richtet die Völker nach Gebühr. I I a Es freue sich der Himmel, es jauchze die Erde, ß es brause das Meer und was es füllt! 12a Es juble das Feld und was darauf wächst, ß „auch" sollen jauchzen die Bäume des Waldes 13a vor Jahwe, denn er kommt, ß denn er kommt, zu richten die Erde, y Er richtet die Welt in Gerechtigkeit 6 und die Völker nach seiner Treue.
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Das Metrum dieses Palms ist „unregelmäßig und bewegt". 18 Es finden sich Beispiele für alle vier Arten des Parallelismus: — — — —
synonym, Vers 12 antithetisch, Vers 5 synthetisch, Vers 2 und klimaktisch, Vers 7 und 13.
Vers 10 hat drei (bzw. vier) Versglieder, allerdings nicht als genuin poetische Verdreifachung einer Aussage wie in Psalm 93,3: es erhoben Ströme, Jahwe, es erhoben Ströne ihr Tosen; es erhoben Ströme ihr Brausen.
In Psalm 96,10 wurde wahrscheinlich das dritte (vierte) Glied von einem Redaktor eingefügt (oder der ganze Vers), um das aus verschiedenen älteren Stücken bestehende Lied in sich auszugleichen. Vers 10 weist als einziger keinen inhaltlichen Parallelismus auf, verklammert aber die drei Themen des Psalms in der formalen Gegenüberstellung. Hier dient also der formale Parallelismus dazu, drei verschiedene Inhalte miteinander zu assoziieren. In Vers 13 steigern vier klimaktische Versglieder die hier ausgesprochene Endzeiterwartung. In Vers 11 und 12 sind nicht nur die Glieder untereinander parallel: Vers 12 ist eine Verdopplung der Idee von Vers 11. Ähnlich verhält sich Vers 2 zu Vers 1 und Vers 8 zu Vers 7. Der Parallelismus ist also nicht nur das Maß des Verses, indem er seine Teile auseinander entwickelt und durch eine Zäsur voneinander trennt, er wirkt auch einheitsstiftend über die Versgrenzen hinaus. 19 Die anfangs gestellte Frage, ob der Parallelismus lediglich ein Stilmittel sei, wäre damit an sich schon beantwortet. Betrachten wir aber zum Abschluß noch eine Stelle aus Aristoteles' Rhetorik, wo unser Phänomen als „Parisosis" bezeichnet wird. 20 Diese Redefigur war in den klassischen Sprachen mit ihren verschachtelten Perioden und ihrem hypotaktischen Aufbau nur ein Stilmittel unter vielen. Eine ganz andere Bedeutung mußte der Parallelismus in den semitischen Sprachen einnehmen, in denen sich kurze Wortblöcke parataktisch aneinanderreihen. Hier wurde er das beherrschende Charakteristikum gebundener poetischer Sprache. Ihn als bloßes Stilmittel zu bezeichnen, hieße etwa den vers- und strophenbildenden Endreim in deutschen Gedichten (gemäß
18 19 20
H. J. Kraus, a.a.O., S. 834. Zur Zusammengesetztheit des Psalms s. H. J. Kraus, a.a.O., S. 837. Aristoteles: De Rhetorica. III, 9,9.
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rhetorischen Kategorien) als schmückendes Homoioteleuton anzusehen. Daß in der Antike noch die metrisch gliedernde Funktion des Parallelismus bewußt war, zeigen die Funde von Psalmtexten aus Qumran, in denen dieser „durch einen Zwischenraum zwischen den Halbversen gekennzeichnet wurde", wie Kraus bemerkt. 21 Er zieht das Fazit: „Es handelt sich also um eine poetische Grundform, die als Unterscheidungsmerkmal von Poesie und Prosa unbezweifelbar ist." 22 Ähnlich äußert sich Alonso-Schökel: „Die literarische Bibelanalyse kann ihre Problematik unschwer auf die Alternative ,Metrik oder Parallelismus' reduzieren. Diese beiden sind allem Anschein nach die einzigen grundlegenden Formprinzipien der hebräischen Dichtung [...]." 2 3 Auch in der Germanistik sollte sich die Erkenntnis allgemein durchsetzen, daß der Parallelismus nicht nur als Stilfigur in prosaischer Rede, sondern auch als Versbindungsprinzip in poetischer Rede auftreten kann.
Stil Der Klang der semitischen Sprachen ist durch die Vielfalt von Gutturalen, Palatalen und Velaren in Verbindung mit gedehnten dunklen Vokalen von einer eigentümlichen massiven Schwere und Härte. Der jambisch-anapästische Grundrhythmus der Wortbetonung dagegen versetzt die Wortmassive in eine Bewegung, die die innere Erregtheit der Psalmen verursacht. 24 Sie wirkt gemeinsam mit den Unregelmäßigkeiten des rhythmischen Aufbaus der Monotonie entgegen, die vom durchgängigen Parallelismus auszugehen droht. Für Abwechslung sorgen auch die vier verschiedenen Typen des Parallelismus. Zusätzliche Kunstmittel sind Assonanz und Alliteration (sehr selten der Endreim). Sie ergeben sich häufig aus der Gleichheit der grammatischen Formen parallel stehender Worte oder aus der bewußten Verwendung von Ausdrücken mit etymologischer Verwandtschaft. Daneben kommt es häufig zu Wortwiederholungen. In der Spätzeit erfreute sich offenbar das Akrostichon größerer Beliebtheit: die Kunst, je einen oder mehrere Verse mit den fortlaufenden Konsonanten des Alphabets beginnen zu lassen (z.B. Ps 34 und 119). Obwohl auch dieses Kunstmittel auf eine
21 22 23 24
H. J. Kraus, a.a.O., S. 30. Ebenda. L. Alonso-Schökel, a.a.O., S. 204. Vgl. Poesie, hebräische. Art. in: Jüdisches Lexikon. Berlin 1927—30. Bd. IV,1. Sp. 973.
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lange Tradition bei den Schreibern der vorderasiatischen Königshöfe zurücksehen konnte, ist es wohl ein Signal für den Übergang von mündlicher zu schriftlicher Tradierung der Gedichte, da es eher den Leser als den Hörer anspricht. Die althebräische Sprache ist arm an Abstrakta. An ihrer Stelle stehen Ausdrücke für konkrete Phänomene der sozialen und physikalischen Umwelt, Körperteile, Organe etc. Auch die reichen und oftmals dunklen Bilder der Psalmen waren zu ihrer Zeit noch allgemein verständlich, denn sie stammten aus dem täglichen Leben. 25 Nur der historische Abstand läßt sie dunkel und exotisch erscheinen, wie es bei den meisten alten Dichtungen der Fall ist, deren Lebenswelt versunken ist. Im Zusammenhang mit dem Parallelismus steht sicherlich der Merismus, die Eigenart, eine Ganzheit durch zwei polare Begriffe auszudrücken. 26 Denn in seiner Hand ist, was unten in der Erde ist; und die Höhen der Berge sind auch sein. (Ps 95,4)
Man beachte die Bedeutung, die gerade diese polare Ausdrucksweise zur Bezeichnung des Transzendenten in der späteren jüdischen und christlichen Mystik spielt, für die der Psalter immer eine Hauptquelle der Anregung gewesen ist. 27 Wie erwähnt, ist die hebräische Syntax vorwiegend parataktisch. Prosa und Poesie zeichnen sich durch konzise Knappheit aus; alles Wichtige wird ohne schmückende Beiworte gesagt. Auch die Sätze in den Psalmen sind meist von lapidarer Kürze. Figuren der Auslassung wie die Ellipse und die Aposiopese sind nicht selten. Aber die knappen Formeln bergen in ihrem Aufbau komplizierte Kommunikationsstrukturen, die die innere Dichte der Psalmen erhöhen; bei aller Naivität und Einfachheit der Syntax enthalten die Psalmtexte den Versuch zum Dialog mit der Transzendenz.
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Der Band von Othmar Keel illustriert im Wortsinne die Metaphern der Psalmen anhand v o n zeitgenössischen Darstellungen aus dem Vorderen Orient. Ders.: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. A m Beispiel der Psalmen. Zürich, Einsiedeln, K ö l n 1977. S. L. Alonso-Schökel, a.a.O., S. 215. Vgl. auch: Walter Bühlmann und Karl Scherer: Stilfiguren der Bibel. Ein kleines Nachschlagewerk. Fribourg 1973. S. 79f. Vgl. etwa Angelus Silesius (d.i. Johannes Scheffler): Cherubinischer Wandersmann. Krit. Ausg. hg. v. Louise Gnädinger. Stuttgart 1984: Ich weiß nicht was ich bin/Ich bin nicht was ich weiß; Ein ding und nit ein ding: Ein stüpffchin und ein kreiß. (S. 27) Mein G O t t wie groß ist G O t t ! Mein G O t t wie klein ist GOtt! Klein als das kleinste ding/und groß wie alls/von noth. (S.77)
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Inhaltliche Struktur Die bisher aufgeführten Eigenschaften betrafen die Gesamtheit der Psalmen. Aus ihrem inhaltlichen Aufbau lassen sich typische Grundmuster ablesen, die ebenso wichtig, aber spezifischer für die einzelnen Gattungen sind. Die Sprachgebärden, vor allem Klage und Lob, bedingen den unterschiedlichen Aufbau von Hymne, Dank- und Klagelied. Weniger relevant ist hier die Unterscheidung zwischen Liedern des Einzelnen und denen des Volkes. Daher beschränken wir unsere Beispiele auf eine Hymne, den bereits behandelten Psalm 96, und eine Einzelklage, Psalm 142. Diese beiden Typen sind repräsentativ für sehr viele Psalmen und zugleich wichtig als Vorbilder für spätere Dichtung. Hymnus Psalm 96 setzt ein mit dem Imperativ „Singt Jahwe ein neues Lied" und nimmt damit bereits den Zweck des Psalms vorweg: Er ist ein gemeinsam angestimmter Jubel für den gemeinsamen Gott. Ein solcher Jubel wird diesem dargebracht wie ein Opfer. Er nimmt sogar später die Stelle des Opfers ein: Der Lobgesang soll die Nähe zwischen dem Volk und seinem Gott herstellen. 28 Er setzt ohne Vorspiel unmittelbar mit hohem hymnischem Ton ein, der bis zum Schluß durchgehalten, ja sogar gesteigert wird. Die Verse 1—3, 7 — 9, 11 und 12 stehen im Imperativ. Die Sprachgebärde „Aufforderung zum Lob" stellt eine Verdopplung des Tuns der Sänger dar, die ja tatsächlich mit diesem Psalmengesang Gott loben und preisen. Dadurch entsteht eine Verstärkung des hymnischen Tones. Mehr noch, das Gotteslob soll sich ausdehnen auf allen Raum und alle Zeit. Nur so kann es zur universalen Antwort des Menschen auf die Universalität Gottes werden. Vers 4, 5 und 13 begründen die imperativischen Sätze. Hier haben wir es mit der Sprachgebärde des „beschreibenden Lobs" zu tun. Es gibt Hymnen, die fast nur solch erzählendes und beschreibendes Lob enthalten, beispielsweise die Geschichtspsalmen. Typisch ist allerdings eher der Wechsel wie in unserem Beispiel. Vers 4 und 5 thematisieren Jahwes Schöpfungstat, die polemisch gegen die anderen „Götter-Nichtse" ausgespielt wird. Das imperativische Lob der Verse 7 — 9 nimmt ein neues Thema auf: die Vorstellung von Jahwe als König, die zugleich den sehr alten Psalm 29 zitiert. Vers 10, der schon in metrischer Hinsicht aus dem Rahmen fiel, ist gewissermaßen der Angelpunkt, in dem die Grundmotive des Hymnus verklammert sind: Jahwe als Schöpfer, als König und 28
Die Ersatzfunktion der Psalmen für das Opfer wird in Ps 40; 50; 141 ausgesprochen.
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als Richter. Damit sind auch drei absolute Zeiten angesprochen: Der Anfang, die Gegenwart und die Endzeit. Auf diese Endzeit, in der das versprochene und ausgebliebene Heil anbricht, hofft der prophetische Vers 13. Diesem geht noch eine Steigerung voraus, indem die Aufforderung zum Lob auf alles von Jahwe Geschaffene ausgedehnt wird. Die einzelnen Sprachgebärden in diesem Psalm haben folgende Anordnung: — — — — —
Imperativisches Lob (V. 1—3) beschreibendes Lob (V. 4—6) imperativisches Lob (V. 7 — 10) Anrede der Natur (V. 11, 12) Prophezeiung (V. 13)
Der durchgehende Ton des Psalms ist ekstatischer Jubel, in dem Schöpfungstat, Königtum und Richteramt Jahwes, drei Theologeme aus verschiedenen Perioden Israels, zu einer neuen Einheit zusammengefaßt sind. Gerade das eschatologische Ende qualifizierte diesen Psalm später besonders für den christlichen Gottesdienst. 29 Ein^elklage^ Als Beispiel für die Einzelklage haben wir auf den folgenden Seiten Ps 142 wiedergegeben. 31 142 1 2a ß 3a ß 4a ß y 5 5a ß y 5
29 30
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maskil Pdäwid bih e j6tö bamm c ärä t'fillä qöü 'el-jahwe 'ez'äq qoli 'el-jahwe 'ethannän 'espök l e fanäjw sihi säräti l'fanäjw 'aggid b'hit 'atef 'älaj rühi w e 'attä jäda'tä n e tibäti b e 'örah-zü ' a hallek täm e nü pah Ii habbet jämin ür'e w e 'en-li makkir 'äbad mänös mimmeni en döres l c nafsi
Vgl. auch J . S. Bachs Motette „Singet dem Herrn ein neues Lied", B W V 190. Der folgende Abschnitt verdankt entscheidende Gedanken dem Buch von Ottmar Fuchs. Ders.: Die Klage als Gebet. Eine theologische Besinnung am Beispiel des Psalms 22. München 1982. Der biblische Text folgt: Biblia Hebraica, a.a.O., S. 1220. Die deutsche Übersetzung folgt: H. J. Kraus, a.a.O., S. 1 1 1 1 .
Literarische Merkmale der biblischen Psalmen 6a ß y 7a ß y 8 8a ß y S
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zä'aqti 'elekä jahwe ämarti attä mahsi hel c qi b e 'eres hahajjim haqsibä el-rinnäti ki-dallöti m e 'öd hassileni merödfaj ki'ämsü mimmenni hosi'ä mimmas'ger nafsi l'hodöt 'et-smekä bi jaktiru saddiqim ki tigmol 'aläj
Psalm 142 l a Ein maskil Davids, als er in der Höhle war. Ein Gebet. 2a Laut schreie ich zu Jahwe, ß laut flehe ich Jahwe an. 3a Vor ihm schütte meine Sorge aus, ß meine Not tue ich vor ihm kund. 4a Wenn mein Geist in mir verschmachtet — ß du weißt um mein Ergehen! — y Auf den Pfad, den ich wandle, 5 legten sie mir heimlich Netze. 5a Blicke ich nach rechts und schaue — ß da ist niemand, der auf mich achtet, y Entschwunden ist mir jede Zuflucht, 6 niemand fragt nach meinem Leben. 6a So schreie ich, Jahwe, zu dir; ß ich spreche: Du bist meine Zuflucht! y Mein Teil im Land der Lebendigen! 7a Vernimm doch mein Flehen! ß Denn ich bin sehr schwach, y Errette mich vor meinen Verfolgern, 5 denn sie sind mir zu stark! 8a Führe mich heraus aus dem Kerker, ß auf daß ich deinem Namen danke! y Denn es erwarten die Gerechten, 5 daß du mir Gutes tust.
Auch dieser Psalm setzt unmittelbar mit intensivster lyrischer Stimmung ein, aber mit umgekehrtem Vorzeichen: statt Jubel — Wehklage. Wieder finden wir die sprachliche Verdopplung des Handelns; der Sprecher beschreibt sein Tun, sein Klagen. In dieser typischen Sprachgebärde drückt er zunächst seinen verzweifelten Gemütszustand aus (V. 2) und deutet dann seine extreme Situation an (V. 3 und 4). In den ersten zwei Versen wird Jahwe als möglicher Gesprächspartner nur erwähnt, in Vers 4 wird dann seine Gegenwart in der zweiten Person direkt angesprochen. Nachdem das „Du" zum Kommunikationspartner gefunden ist, schildert der Sprecher in einer weiteren Sprachgebärde die Ausweglosigkeit seiner Not, seine Verlassenheit, die ihn ganz auf Jahwe, seine
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Die biblischen Psalmen
einzige Rettung, wirft. In Vers 6 kann sich dann der ganze Schmerz dem nun mit Namen angerufenen Gott mitteilen. Die Sätze 6 ß und y haben aber keinen auffordernden Charakter, sondern faktischen: Sie vergewissern sich an den gegebenen Heilszusagen Jahwes. Indem die Gewißheit der Rettung durch Jahwe konstatiert wird, übernehmen diese Aussagen innerhalb des Psalms die Funktion einer Zusage und Antwort Jahwes. Den sich so anbietenden Bündnispartner kann der Klagende nun um Erhörung und Hilfe bitten. Für diese Hilfe wird das Danklob versprochen und auf die Erwartung der Gerechten, der Zaddikim, verwiesen. Mit diesem Ausblick auf die Reintegration in die Gemeinschaft und das dort dargebrachte Lobsingen endet der Psalm, der in völliger Verlassenheit und Wehklage begonnen hatte. Die Reihenfolge der Sprachgebärden in diesem Psalm ist: — — — — — — — —
Beschreibung des Klagens (V. 2 — 4(3) Beschreibung der Not (V. 4y-5) Anrufung (V. 6a) Erinnern der Heilszusage (V. 6ß,y) Bitte um Erhörung (V. 7a, ß) Bitte um Errettung (V. 7y-8a) Gelöbnis (V. 8ß) Begründung (V. 8y,5)
Die Errettung, die hier nur als Erwartung aufscheint, ist in vielen anderen Klagepsalmen schon eingetroffene Realität: Sie schlagen abrupt um in Jubel über die Hilfe des eben noch angeflehten Gottes. Unvermittelt ist diese Wendung jedoch nicht. Auch in diesen Psalmen entwickelt sich die Kommunikation allmählich aus der isolierten, verzweifelten Klage über die Anrufung und das Erinnern früheren Heils auf eine „Antwort" Gottes hin. In einer erneuten Bitte um Beistand entsteht dann nach und nach eine Nähe und eine Zuversicht, schließlich eine Gewißheit, die in den hymnischen Jubel mündet. Der Trost, den ein Beter durch einen solchen Psalm erfahren konnte, liegt in dieser speziellen, auf Herstellung eines Dialoges zielenden Struktur. Ottmar Fuchs sieht in den Klagepsalmen den Vorgang einer „Kommunikationsheilung". 3 2 Sie nimmt ihren Ausgang von einer in existentielle Not eingebundenen Störung der Kommunikation zu Mitmenschen und Gott. Mittels eines Gebetsformulares (wie des beschriebenen Psalms) wird das Gespräch mit Gott wiederhergestellt als Voraussetzung für Hoffnung, existentielles Heil und Wiederaufnahme der sozialen Beziehungen. Das in Ps 142 vorliegende Muster kann erweitert und variiert sein durch 32
Vgl. O. Fuchs, a.a.O., S. 127f.
Literarische Merkmale der biblischen Psalmen
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die Frage nach dem Grund der Not, eine Anklage gegen die „Feinde", ein Sündenbekenntnis oder einen abschließenden Dankhymnus. Die Stärke und Polarität der Sprachgebärden korrespondiert der jeweiligen Extremsituation: Schreien aus tiefster Not, Jubeln über höchstes Heil. Leisere Zwischentöne sind (in diesen beiden Gattungen) kaum anzutreffen. So präzise auch einzelne Bilder sein mögen („sie legten mir Netze auf den Weg"), so drastisch auch das geschilderte Leiden erscheint, so allgemein bleibt doch in fast allen Psalmen die Schilderung der Lage, in der sich der Klagende tatsächlich befindet. Zwar ist häufig von Todesnot, Krankheit, Verfolgung, Gericht oder Kerker (Grube) die Rede, aber Ort, Zeit und Personen werden fast nie erwähnt. Die realen Begleitumstände bleiben im Dunkel. So entsteht der eigentümliche Formularcharakter der Psalmen: Sie stehen über dem konkreten Einzelfall und können von verschiedenen Individuen in ähnlicher Lage wieder angewendet werden. Wahrscheinlich wurden sie bis zur schriftlichen Fixierung oder bis zur Kanonbildung auch noch ständig hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit überarbeitet. Psalm 96 ist ja ein solches Beispiel für eine Zusammenfügung heterogener Stücke und dafür, daß dies nicht einfach Wiederverwertung von Textteilen, sondern Rettung alter Theologeme in neue Zusammenhänge, synthetische Anknüpfung an die Tradition bei gleichzeitiger Umwertung war. Auch unter den Klagepsalmen sind zahlreiche Stücke, deren überraschende Brüche vor dem Hintergrund ihrer Entstehung verständlicher werden. Solche „Brüche" haben im übrigen das Bild von den Psalmen mitgeprägt und gehören zu der antiklassischen „Unordnung" des biblischen Stiles. Der Wechsel zwischen den einzelnen Sprachgebärden ist allerdings nur auf der logisch-argumentativen Ebene als ein Bruch zu (mißverstehen. Eine „Stufe" dagegen stellt er im Kontext der Anbahnung des Dialogs dar, ebenso in der emotionalen Entwicklung von der Verzweiflung bis zum Vertrauen. Dialogisches
Prinzip
Fast alle Psalmen tragen das Signum des Dialogs, des Dialogs zwischen Volk und Gott, des Dialogs zwischen dem einzelnen und Gott. Das Dialogische prägt den Hymnen wie den Klagen die Form auf: Es sind Rollentexte für die sprechenden Menschen, fragend-bittende Texte und antwortend-dankende Texte. Der Anteil des transzendenten Gesprächspartners ist in diesen Texten nur in indirekter Weise enthalten: in der stufenweisen Entwicklung. Diese Eigenschaft hat einerseits dazu geführt, daß die Psalmen immer wieder zur Vorlage für Gebete genommen werden konnten. Im Unter-
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Die biblischen Psalmen
schied jedoch zu den jeweils gültigen kirchlichen Gebeten, die sich durch ihre Funktionalität — und eben gerade nicht durch poetische Abundan2 — auszeichnen, liegen im Psalter so vielfältige literarische Variationen vor, daß die Psalmen überall da rezipiert und verarbeitet wurden, w o Dichter den Dialog mit der Transzendenz zu thematisieren suchten.
Motive Schließlich sei noch auf einige wichtige Motive in den Psalmen hingewiesen: In Ps 142 ist die Rede von Feinden und Gerechten. Die Frage nach der Erklärung für die Leiden des Gerechten und das Wohlergehen der Gottlosen findet sich nicht nur im Buch Hiob, sondern auch in einigen Klage- und Weisheitspsalmen. Während im „Hiob" der Versuch einer theologischen Antwort unternommen wird, bieten die Psalmen ein literarisches Gebetsformular an, das aus der Verzweiflung retten soll, in einer Zeit, da Jahwe nicht mehr in seinen Wundern gegenwärtig ist und seine Heilszusage bereits auf ein kommendes Eschaton bezogen wird. 3 3 Die Klagepsalmen können auch als Ausdruck einer bestimmten sozialen Gruppe verstanden werden, nämlich der Armen, die keine andere Hilfe zu erwarten haben als von ihrem Gott. 3 4 Sie leben getreu ihren Gesetzen und haben Vertrauen in seinen Beistand. Dieses Gottvertrauen, für das zehn verschiedene Ausdrücke belegt sind, 35 ist ein weiteres Leitmotiv des Psalters. 33 34
35
Vgl. O. Fuchs, a.a.O., S. 322, 330, 337. Max Weber glaubte, im „Rachebedürfnis der Psalmenreligiosität" einen Wesenszug des Judentums ausmachen zu können. Eugène Fleischmann schreibt dazu: „Weber geht so weit in der Betonung dieses religiösen Rachegedankens, den er hauptsächlich in den Psalmen zu finden meint, daß er die Idee der Auserwähltheit Israels, derzufolge diese Rache noch in dieser Welt sich erfüllt, zur wichtigsten Ursache für den Fortbestand der jüdischen Glaubensgemeinde erhebt. Als natürliche Folge — ,natürlich', wenn man sich auf den Boden der nietzscheanischen Religionskritik stellt — kommt hinzu eine ,miserabilistische' Pariaethik, d.h. eine Theodizee und eine Apotheose des Leidens." E. Fleischmann: Max Weber, die Juden und das Ressentiment. In: Max Webers Studie über das antike Judentum. Hg. v. Wolfgang Schluchter. Frankfurt a. M. 1981. S. 270. Zweifellos ist von Weber übersehen worden, daß die Verwünschung des Gegners kein Spezifikum der jüdischen (bzw. israelitischen) Religion war, sondern in sehr vielen Kulturen eine ethisch unangefochtene Rolle spielt. Inwiefern das christliche Gebot der Feindesliebe das soziale Leben tatsächlich konfliktfreier gestaltet hat als der Schadenszauber und die Verfluchung der Feinde in anderen Gemeinschaften, ist auch noch keine entschiedene Frage. Vgl. Hermann Cohen: Jüdische Schriften. 1. Bd. Ethische und religiöse Grundfragen. Berlin 1924. S. 240.
Literarische Merkmale der biblischen Psalmen
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Die Rettung vor dem Tode, die häufig erbeten wird, muß im jüdischen Kontext verstanden werden als Abwendung von Gefahr für das irdische Leben — sei es Krankheit, gerichtliche Verfolgung oder materielle Not. Denn solche lebensfeindlichen Umstände wurden als Einflußsphäre des räumlich-dynamisch gedachten Todesreichs gesehen. 36 Die Umdeutung zur Bitte um ewiges Leben liegt erst im christlichen Verständnis (und den damit in Zusammenhang stehenden Tendenzen im Spätjudentum). Das Motiv des Sündenbekenntnisses gehört, zusammen mit der Idee vom gerechten Gott, zur jüdischen Spätzeit und zum Christentum. Beide Motive finden sich nur in jüngeren Psalmen und haben eine wichtige Konsequenz: Vor dem gerechten Gott wird nicht mehr geklagt, man kann nur bei sich selbst die Verfehlung suchen und um Vergebung bitten, bzw. büßen. Hier liegt sicher ein Grund für das Verstummen der exzessiven Klage in christlicher Zeit. 37
36 37
Siehe O. Fuchs, a.a.O., S. 246. A.a.O., S. 341.
3. Das Ende antiker Psalmendichtung Die Endredaktion des Psalters bedeutete keineswegs, daß etwa schon damals außer den kanonischen 150 Liedern kein anderes Gedicht mehr als Psalm aufgefaßt worden wäre, noch daß man von nun an keine weiteren Psalmen mehr geschaffen hätte. Neben den eigentlichen Psalmen wurden zahlreiche andere Lieder schon im jüdischen Gottesdienst gleich hoch geachtet und liturgisch auf gleiche Weise verwendet und vorgetragen: so etwa das Meerlied des Mose (Ex 15), das Lied der Deborah (Ri 5) und das Danklied der Hannah (1 Sam 2). 1 An diesen Stamm von Psalmen außerhalb des Psalters knüpften die frühen Christen an und erweiterten ihn noch um einige andere alttestamentliche und apokryphe Stücke, die dann „Oden" oder „Cantica" genannt wurden. Außerdem waren in apostolischer Zeit eine Reihe eigener christlicher Psalmendichtungen entstanden, die zum Teil Eingang ins Neue Testament fanden: das „Magnificat" der Maria (Luk 1, 4 6 - 5 5 ) , das „Benedictus" (Luk 1, 6 7 - 7 9 ) und das „Nunc dimittis" (Luk 2, 29 — 32). Alle diese „Gesänge" weisen große Ähnlichkeit zu den Stücken des Psalters auf und wurden in derselben Vortragsart, „psalmodisch", im Gottesdienst dargeboten. In der kirchlichen Tradition setzte sich allmählich eine Reihe von vierzehn biblischen Oden (gegen eine andere Überlieferung von neun Oden) durch. Sie findet sich als Anhang in den meisten mittelalterlichen Psalterhandschriften und wurde seit der Reformation nicht selten ebenso paraphrasiert wie die Psalmen. So führten die ersten Christen die Psalmendichtung fort, aber auch im Judentum waren eine Reihe „nachkanonischer" Psalmen im Umlauf. Die erste griechische Bibelübersetzung, die Septuaginta, enthält einen 151. Psalm auf den Kampf Davids mit Goliath, der später in den hebräischen Kanon nicht aufgenommen wurde, ebenso wie die fünf „syrischen" Psalmen, die vermutlich aus frühhellenistischer Zeit stammen. 2 Die Gemeinde von Qumran bewahrte ihre besonderen Psalmen 1
2
Vgl. Heinrich Schneider: Die biblischen Oden im christlichen Altertum. In: Biblica 30. (1949) S. 2 8 - 6 5 . Vgl. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. Hg. v. W. G. Kümmel. Bd. IV. Poetische Schriften. Lieferung 1 und 2. Gütersloh 1973.
Das Ende antiker Psalmendichtung
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auf, die jetzt zum Teil aufgefunden wurden; aus pharisäischen Kreisen stammen die „Psalmen Salomos", 3 die „Oden Salomos" dagegen aus einer gnostischen Sekte. Noch im vierten Jahrhundert n. Ch. sah sich Augustinus veranlaßt, die Form des abecedarischen Psalms für polemische Lehrgedichte zu verwenden, um gegen ähnliche Psalmen der häretischen Donatisten vorzugehen. 4 Allerdings weist dieser lateinische Psalmus des Augustinus eine feste Silbenzahl pro Vers auf; 5 wenngleich er nicht nach dem klassischen (quantitierenden), sondern nach dem rhythmischen Prinzip gebildet ist — wohl in Nachahmung der punischen (also mit den hebräischen verwandten!) Psalmen, die bekämpft werden sollten, — so handelt es sich hier doch nicht um eine Übertragung des Parallelismus membrorum in die lateinische Poesie. Es scheint also in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten noch sehr verschiedenartige Weiterbildungen der hebräischen Psalmendichtung gegeben zu haben. Alle diese Gedichte standen im Kontext der jüdisch-christlichen Religion und der verschiedenen Häresien. Aus diesem Zeitraum ist leider nicht allzu viel erhalten geblieben, und das mag damit zusammenhängen, daß nur wenige der „neuen" psalmodischen Dichtungen, die in den Gemeinden gesungen wurden, zu allgemein anerkannter liturgischer Würde kamen (wie das Sanctus, das Gloria und das Alleluja in der katholischen Messe). 6 Fortgeführt wurden die für die Psalmen charakteristischen Formen und Inhalte auch noch in der hebräischen Lyrik des Mittelalters, in der synagogalen „Pijut"-Dichtung und, besonders eindrucksvoll, in den Hymnen des Jehuda Halevy (Cordoba ca. 1080—1145).7 In der lateinischen Kirche der Spätantike kam es jedoch zu einem deutlichen Bruch mit der psalmodischen Poesie, als die Hymnen des Ambrosius von der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts an zum Vorbild geistlicher Lyrik wurden. Der akatalektische jambische Dimeter in Strophen von je vier Versen („Deus creator omnium") und der im fließenden Übergang darauf folgende achtsilbige akzentuierende Vers 8 3
4 5
6
7
8
Vgl. Leonhard Rost: Einleitung in die alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen. Heidelberg 1971. Walter Bulst: Hymni Latini Antiquissimi L X X V . Psalmi III. Heidelberg 1956. S. 2 1 f f . Vgl. Paul Klopsch: Einführung in die mittellateinische Verslehre. Darmstadt 1972. S. 5ff. Vgl. Josef Szöverffy: Die Annalen der lateinischen Hymnendichtung. Ein Handbuch. 1. Die lateinischen Hymnen bis zum Ende des 11. Jahrhunderts. Berlin 1964. S. 42-46. Jehuda Halevy: Zweiundneunzig Hymnen und Gedichte. Deutsche Übersetzung und hg. v. Franz Rosenzweig. Berlin 1927. Vgl. P. Klopsch, a.a.O., S. 8ff.
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Die biblischen Psalmen
zeigen bei aller christlichen Einfachheit der Syntax eine antike Klarheit und Formstrenge, die in denkbarem Kontrast zur Ästhetik der Psalmen stehen. Auch die spezifischen inhaltlichen Aufbauformen des Psalms kommen in der ambrosianischen Hymnik nicht mehr zum Tragen: Neutestamentliche Offenbarung und die kirchlichen Sakramente lassen andere Strukturen entstehen und bringen neue Motive mit sich. Selbst die spätere, mittelalterliche Sequenzendichtung ist u. E. — trotz aller äußerlichen Ähnlichkeit — nicht mehr mit der psalmodischen Gedichtform zu vergleichen, denn die Dichter mußten ihre Texte genau auf eine vorgegebene Melodie (die Verzierung des Schluß-a im Allelujagesang der Messe) abstimmen, sie waren also alles andere als frei in der Wahl der metrischen Form. 9 Gleichwohl zeigt die Sequenz noch stärkere Parallelen zum Psalm als die meisten der sogenannten Psalteria rhythmica, 10 die nur in den seltensten Fällen tatsächlich paraphrasierend vom Psalter als Grundtext ausgehen, sondern sich im allgemeinen mit einer Anspielung auf den entsprechenden Psalm begnügen. Wo beispielsweise im ersten Psalm allegorisch vom Holz des Baumes die Rede ist, das seine Frucht bringt wie der Gerechte, da beginnt ein Psalterium mit einem Lob auf Maria, die Pforte des Paradieses, denn aus ihr wächst die „Frucht des Heils", sie ist das „Holz des Lebens". Ave, porta paradisi, Lignum vitae, quod amisi, Per te mihi iam dulcescit Et salutis fructus crescit." Man vergleiche dazu Ps 1,3 (Vulgata): Et erit tamquam lignum, quod plantatum est secus decursus aquarum, quod fructum suum dabit in tempore suo.
Später wurden sogar diese Anspielungen aufgegeben, und die einzige Analogie zum Psalter bestand nun in der Zahl der 150 Strophen. Angesichts der so unübersehbar reichen geistlichen Lyrik des lateinischen Mittelalters ist es einigermaßen verwunderlich, daß die metrische
9
10
11
Wolfram v o n den Steinen sieht dagegen in den Sequenzen Notkers und seiner Vorgänger einen Rückgriff auf psalmodische Formen. Vgl. ders.: Notker der Dichter und seine geistige Welt. Darstellungsband. Bern 1948. S. 140ff. Guido Maria Dreves (Hg.): Psalteria Rhythmica. Gereimte Psalterien des Mittelalters. (Leipzig 1900f.) Unveränd. Nachdr.: Frankfurt a.M. 1961. (Analecta Hymnica Bd. 35 u. 36) G. M. Dreves, a.a.O., S. 5.
Das Ende antiker Psalmendichtung
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Psalmenparaphrase so selten geübt wurde — im Unterschied zur späteren humanistischen und reformatorischen Epoche. 12 Es bleibt festzuhalten, daß die Tradition der Psalmendichtung zwar erst in den ersten Jahrhunderten des Christentums endete, daß jedoch das Bild von der Gattung in der Folgezeit im wesentlichen durch die im Psalter vorliegende Auswahl geprägt wurde — aus Gründen der Kanonbildung religiösen Schrifttums und der daraus resultierenden Überlieferungsbedingungen, aber wohl auch, weil sich die genuin semitische Poesie auf dem Boden der griechisch-römischen Kultur und Sprache nicht ohne weiteres durchsetzen konnte.
12
Wenige Ausnahmen enthalten die Bände 50 und 51 der Analecta Hymnica Medii Aevii. Vgl. Bd. 50 (1907), S. 4 8 - 5 2 und S. 2 1 3 - 2 1 5 sowie Bd. 51 (1908) S. 293f.
4. Biblische und klassische Lyrik In Alexandria, der Metropole der hellenistischen Welt, zugleich aber auch der bedeutendsten jüdischen Ansiedlung außerhalb Palästinas, suchte um die Zeitenwende der jüdische Gelehrte Philo nach einer geistigen Synthese von griechischer Philosophie und biblischer Offenbarung. Mittels allegorischer Auslegung der Heiligen Schriften und durch Betonung ihrer ethischen Aussagen zeigte Philo Parallelen zu den griechischen Denkern, ja er bemühte sich, mit dem höheren Alter der biblischen Autoren eine Abhängigkeit der Griechen von den Juden zu belegen. Um aber den feinsinnigen Hellenen auch den ästhetischen Wert der — vermeintlich barbarischen — hebräischen Sakralliteratur begreiflich zu machen, mußte er sie in den (ungeeigneten) Kategorien griechischer Poetik beschreiben, zumal die semitischen Literaturen wohl keine eigene, brauchbare Theorie der Dichtkunst hervorgebracht hatten. Philo und nach ihm Flavius Josephus führten die Heilige Schrift der Juden als hexametrische, jambische etc. Poesie in der gebildeten Welt der Antike ein, um dem heiligen Buch ihres Volkes ein höheres Ansehen zu geben, und sie verwischten damit zugleich die offenkundigen Differenzen zwischen griechisch-römischer und biblischer Literatur. In gleichem Sinne bemühten sich die Kirchenväter um eine Harmonisierung der ästhetischen Ideale der Antike mit der Bibelsprache. Die Bibel, so meint der Vulgataübersetzer Hieronymus, sei nicht roh und unkultiviert, sondern nach den Gesetzen der klassisch-lateinischen Poesie verfaßt, sie enthalte rhetorische Figuren und Tropen, der sprachliche Schmuck der Propheten erinnere an vergilische Hyperbeln, die Bücher Hiob, Jeremia und der Psalter seien in Versen abgefaßt. Alle Psalmen seien in Metren geschrieben, in der Art des Horaz oder Pindars, manche in Trimetern oder Tetrametern. 1 Mit solchen Urteilen, die bis zum 18. Jahrhundert kaum nachgeprüft wurden und gültige Lehrmeinung im ganzen Abendland blieben, hat Hieronymus den Christen die theologische Lizenz für die Anerkennung 1
Zur Geschichte der Bibelaplogie vgl. Joachim Tradition der argumentativen Verknüpfung von Jahrhundert. München 1977. S.27ff. sowie Dieter tungen zu ihrer Entdeckung im 18. Jahrhundert.
Dyck: Athen und Jerusalem. Die Bibel und Poesie im 17. und 18. Gutzen: Poesie der Bibel. BeobachPhil. Diss. Bonn 1972. S. 25ff.
Biblische und klassische Lyrik
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und Nutzung heidnischer Bildung geliefert, aber auch den Psalter theoretisch unter die Formprinzipien der klassischen Poesie subsumiert. Angesichts der selbst heute noch bestehenden Schwierigkeiten, metrische Phänomene (nicht nur hebräischer Poesie) wissenschaftlich genau zu beschreiben, und auch angesichts der nicht sehr verbreiteten Kenntnis des Hebräischen (das schon zu Hieronymus' Zeit keine gesprochene Verkehrssprache mehr war), ist es nicht erstaunlich, daß sich die Lehrsätze der Bibelapologeten so uneingeschränkt und lange behaupten konnten. Den jüdischen Schriftgelehrten, die einiges zum Thema hätten beisteuern können, traute man auf Seiten christlicher Theologen jahrhundertelang zu wenig, als daß man auf diesem Wege Aufschlüsse über die Eigenart hebräischer Poesie hätte erhalten mögen. Was die Figuren und Tropen angeht, so lassen sich in der Tat viele Termini der antiken Rhetorik auf poetische Formulierungen, speziell in den Psalmen anwenden. Das konnte jedoch schon im Altertum kaum darüber hinwegtäuschen, daß wesentliche Unterschiede zwischen klassischem und biblischem Stil bestehen. Dem Vorwurf gebildeter Heiden, die Bibelsprache sei roh und kunstlos, begegnete man nämlich nicht nur mit dem Hinweis auf den Redeschmuck einzelner Stellen in den poetischen Büchern und mit der Behauptung metrischer Durchformung. Man bekannte andererseits bereitwillig, daß der biblische Stil in der Tat schlicht und einfach sei, mit der Begründung, daß die Wahrheiten der Christen auch und gerade für die Unwissenden und Ungebildeten bestimmt wären. Der Gott, der in Gestalt eines armen Fischers erschienen sei, habe sich auch der einfachsten und niedrigsten Worte bedient, um allen Menschen verständlich zu sein. Dieses Stilideal des Sermo humilis (der schlichten, parataktischen Reihung von wesentlichen Aussagen ohne alles schmückende Beiwerk) ist, wie Erich Auerbach glänzend gezeigt hat, noch heute ein deutliches Unterscheidungsmerkmal von biblischer und klassischer Prosa und läßt sich in seinen literarischen Metamorphosen von der Spätantike bis ins neuzeitliche Abendland verfolgen. 2 Die beiden genannten Argumentationsweisen der Bibelapologie schließen sich nun nicht einmal gegenseitig aus. Hieronymus konnte den Schmuck der Psalmen preisen und zugleich den Sermo humilis verteidigen — entscheidend war für ihn, daß in beiden Fällen die Form nur eine Funktion der verkündeten Wahrheit darstellte.
2
Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Literatur. Bern 3 1964.
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Die biblischen Psalmen
Dies war auch die wesentliche Differenz zur „nur" schönen heidnischen Literatur mit ihren „falschen" Göttern. Für Hieronymus — und die ganze mittelalterliche Theologie — bestand die Überlegenheit einer Psalmmetapher in deren verborgenem Sinn, den die Tropen und Figuren der heidnischen Elegien und Oden nicht besaßen. Selbst der abecedarische Beginn von Verszeilen oder gar die Anzahl der Worte in einem Gedicht mußte eine Bedeutung haben, weil vom göttlichen Urheber nichts Sinnloses zu erwarten war. Bis zur Aufklärungszeit und den Anfangen der Bibelkritik wurde also der wesentliche Unterschied von klassischer und biblischer Dichtung im Gehalt an metaphysischer Wahrheit gesehen. Der Form nach, so glaubte man, seien die Psalmen Oden und Elegien, wie man sie von den Griechen und Römern kannte. Seit Lowth, Michaelis und Herder ist nun der Gegensatz von halbprosaischer und fester, metrischer Versform nicht weniger deutlich geworden als die stilistischen Unterschiede. Daneben sollte aber die verschiedenartige Beziehung der klassischen und der biblischen Autoren zum Sakralen nicht außer Acht gelassen werden. Auch wenn man die Inspirationslehre beiseite läßt — ein so enger Zusammenhang von Lyrik und kultischem Geschehen wie in der Bibel findet sich weder in der griechischen, noch in der römischen Lyrik. Zwar dürften in Griechenland ebenfalls die Anfange der Dichtung eng mit dem Sakralen verknüpft gewesen sein, Päan und Dithyrambus waren sicher nicht weniger emphatische Gebete zu den Göttern als die alten israelitischen Hymnen. 3 Doch die griechische Dichtung trat schon recht früh aus dem rituellen Rahmen heraus, die „homerischen" Hymnen waren bereits unterhaltsam gefaßte Göttermythen, die vom Rhapsoden vor dem Heldenepos vorgetragen wurden. Nur selten, etwa in der Liebesklage der Sappho, wird von griechischen Lyrikern der Gottheit (?) ein Gefühl so heftig und ungemildert mitgeteilt wie in den Psalmen. 4 Die meisten Oden und Elegien reden ohnehin nicht, oder nur kurz, die Götter an; sie wenden sich an die Gemeinschaft oder einen einzelnen Menschen. Pindars Preislieder, wegen der archaischen Dunkelheit ihrer Bilder und wegen der scheinbar regellosen Form oft mit den Psalmen verglichen, erweisen sich als in Metrum und Komposition überaus
3
4
Vgl. R(ichard) Wünsch: Hymnos. Artikel in : Pauly's Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Hg. v. Wilhelm Kroll. Stuttgart 1894ff. Bd. 9,1. Sp. 1 4 0 - 1 8 3 . Sp 148. Bezeichnenderweise wurde gerade dieses Gedicht der Sappho in der „Schrift vom Erhabenen" des Pseudolonginus überliefert, die ja selbst einen besonderen Stellenwert in der Abwendung vom „klassischen" Stil einnimmt.
Biblische und klassische Lyrik
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durchdachte Gebilde. Der Dichter, seine Kunst und seine persönliche Version des Mythos stehen hier — ganz anders als in den Psalmen — im Vordergrund. Horaz, der „klassische" Lyriker par excellence, wirkt in seinen Gedichten stets besonnener und distanzierter als der anonyme Psalmist, der seine ganze existentielle Betroffenheit herauszuschreien scheint. Die Freiheit, über den Gegenstand des Gedichtes zu reflektieren, läßt dem klassischen Dichter auch den Raum zum formalen Experiment, zur Spielerei. Der Psalmist dagegen wird vom Impetus seiner Klage oder seines Jubels gleichsam über alle ästhetischen Bedenken hin weggetragen. Name und individuelles Schicksal des Dichters ist in den Psalmen selten greifbar, nie von Bedeutung. Die klassische Lyrik dagegen lebt vom subjektiven Ausdruckswillen des selbstbewußten Künstlers. Hegel hat diesen wesentlichen Unterschied treffend beschrieben. Für ihn enthält die lyrische Erhebung in den Psalmen ein Außersichsein und wird deshalb weniger zu einem Sichvertiefen in den konkreten Inhalt, so daß die Phantasie in ruhiger Befriedigung die Sache gewähren ließe, als sie sich vielmehr nur zu einem unbestimmten Enthusiasmus steigert, der das dem Bewußtsein Unaussprechliche zur Empfindung und Anschauung zu bringen ringt. 5
5
G e o r g Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 15. Frankfurt a.M. 1970. S. 453.
5. Zu den Übersetzungen Septuaginta und Vulgata Unsere Bezeichnung Psalm stammt aus der ältesten Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta. 1 Sie wurde im dritten Jahrhundert v. Chr. begonnen und war für die griechisch sprechenden Juden Alexandrias bestimmmt. Mit dieser ersten Übersetzung war allerdings die Frage aufgeworfen, ob der Text in dieser neuen Gestalt überhaupt noch als „Heilige Schrift" gelten konnte. Die Entstehungslegende aus dem Aristeasbrief überbrückt mythographisch die Kluft zwischen dem Menschenwerk der Übersetzung und dem „göttlichen Ursprung" des Wortes. 2 72 Übersetzer nämlich (fünf von jedem Stamm Israels) sollen vom jüdischen Oberpriester nach Ägypten entsandt worden sein, um in 72 Tagen, eingeschlossen auf der Insel Pharos, die Thora zu übersetzen. Der magisch-rituelle Rahmen, in den die Entstehung der Septuaginta gestellt wird, soll ihre sakrale Qualität verbürgen, soll sie über die profane Literatur stellen. Die Septuaginta verbreitete sich rasch unter den Juden der hellenistischen Diaspora. Ihrem Wortlaut folgen die meisten Zitate des Neuen Testaments, und so wurde sie zur Bibel des antiken Christentums, während die (griechisch sprechenden) Juden nun gezwungen waren, sich in der Kontroverse mit der neuen Religion andere Übersetzungen zu schaffen, bzw. dem hebräischen Urtext wieder ein neues Gewicht zu geben. Auf der Synode von Jabne (90 n. Chr.) legten sie ihren eigenen Kanon fest, dessen Textgestalt von der christlichen Überlieferung zum Teil abweicht und einige spät entstandene Bücher ausschließt. Auch die Zählung der Psalmen und die Lesart zahlreicher Stellen unterscheidet sich in der christlichen (katholischen) und der jüdischen Tradition, da
1
2
Die aramäischen Targume können nicht als eigentliche Übersetzungen verstanden werden, da sie eher erläuternde Paraphrasen sind, die den hebräischen Urtext nicht ersetzen, sondern lediglich erschließen sollten. „Aristeasbrief. Hg. v. Norbert Meisner. In: Jüdische Schriften aus hellenist.-röm. Zeit, a.a.O., Bd. II, 1. S. 35 — 85. Vgl. auch: Carsten Colpe: Aristeas-„Brief". Art. in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. München 1979. Bd. 1, Sp. 555f.
Zu den Übersetzungen
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die Septuaginta die Psalmen 9 und 10 sowie 114 und 115 zu jeweils einem zusammenzieht, Psalm 116 und 147 dagegen als je zwei Lieder auffaßt. Stark an die Septuaginta angelehnt ist die lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus, die als Vulgata zur Bibel der katholischen Kirche wurde. Hieronymus nahm auch noch eine Psalterrevision gemäß dem hebräischen „Urtext" vor, das Psalterium iuxta Hebraeos; diese Version konnte sich aber gegen das liturgisch eingebürgerte Psalterium Gallicanum nicht durchsetzen. Auf den folgenden Seiten ist der Vulgatatext unserer beiden Beispielpsalmen wiedergegeben, nach der katholischen Zählung die Psalmen 95 und 141. 3 Die graphische Hervorhebung des Versaufbaus wurde von uns vorgenommen, um die formale Kongruenz mit dem hebräischen Vorbild deutlich zu machen. Die Überschrift zu Ps 95 entstammt der Septuaginta-Überlieferung. Absicht der christlichen Übersetzer war es, den Wortsinn der hebräischen Lieder in möglichst getreuer Prosa wiederzugeben. Auf diesem Wege gelangte die Versbindung der Psalmen, der Parallelismus, in die lateinischen Texte. Nur in manchen Versen ist die parataktische Gliederung durch die lateinische Periode verwischt, wie in der zweiten Hälfte von Ps 141. Der ausgeglichene Rhythmus der klassischen Sprache läßt die Psalmen gemessener, feierlicher wirken als in ihrer Urgestalt, was auch dem veränderten liturgischen Kontext entspricht. Der inhaltliche Aufbau aber kommt auch hier zur Geltung: Beschreibendes und aufforderndes Loben, dialogische Entwicklung der Klage und Stimmungsumschwung finden sich wie im hebräischen Psalm. Einzelne Motive erfahren eine christliche Umdeutung. Jahwe wird zu Dominus, der gesalbte König wird als Prophezeiung Christi verstanden u.s.w. Gemessen an den Gedichten der heidnischen Griechen und Römer, mußten die lateinischen Psalmen zwar wie Prosa erscheinen (wenngleich sie für eine „klassische" Prosa zu monoton waren); daß man sie von dieser jedoch zu unterscheiden wußte, zeigt die Form ihres liturgischen Vortrags. Im prosaischen Lesevortrag wurde nur das Ende eines Sinnabschnittes melodisch verschnörkelt. In einer reinen Gesangsdarbietung war die Sprache ganz der Musik untergeordnet. Die Psalmodie dagegen stand zwischen diesen beiden Arten: Vershälfte und -ganzes wurden
3
Der Text folgt der Biblia Sacra. Iuxta Vulgatam Versionem. Editio altera emendata. Tomus I. Genesis - Psalmi. Stuttgart 1975. S. 890f. und S. 945f.
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Die biblischen Psalmen
von Melodieansätzen eingerahmt. 4 Wenn auch sehr ungewiß ist, ob sich in der gregorianischen Kunst der Psalmodie Elemente der alten hebräischen Vortragsart erhalten haben, so hat sie gewiß deren lyrische Eigenart zu wahren geholfen. Der Eindruck, den der Psalmenvortrag in der lateinischen Messe selbst auf ungebildete Menschen machte, mag seine allgemeine Wertschätzung noch unterstützt haben, auch wenn der Wortsinn den meisten verborgen blieb. Martin Luther betont diesen heiligen „Geruch", der vom Psalter ausgeht (indem er ihn als Lektüre anstelle der verbreiteten Heiligenlegenden empfiehlt): Das der Psalter die weil vnter der banck, vnd in solchem finsternis lag, das man nicht wol einen Psalmen recht verstund, Vnd doch so trefflichen edlen geruch von sich gab, daß alle frome hertzen auch aus den vnbekandten Worten andacht vnd krafft empfunden, vnd das Büchlin darumb lieb hatten. 5 95 Quando domus aedificabatur post captivitatem canticum huic David
2 3 4 5 6 7 8 9 10
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Cantate Domino canticum novum cantate Domino omnis terra cantate Domino benedicite nomini eius adnuntiate diem de die salutare eius adnuntiate inter gentes gloriam eius in omnibus populis mirabilia eius quoniam magnus Dominus et laudabilis valde terribilis est super omnes deos quoniam omnes dii gentium daemonia at vero Dominus caelos fecit confessio et pulchritudo in conspectu eius sanctimonia et magnificentia in sanctificatione eius adferte Domino patriae gentium adferte Domino gloriam et honorem adferte Domino gloriam nomini eius tollite hostias et introite in atria eius adorate Dominum in atrio sancto eius commoveatur a facie eius universa terra dicite in gentibus quia Dominus regnavit etenim correxit orbem qui non movebitur iudicabit populos in aequitate laetentur caeli et exultet terra commoveatur mare et plenitudo eius gaudebunt campi et omnia quae in eis sunt tunc exultabunt omnia ligna silvarum
Diese Vortragsform teilen die eigentlichen Psalmen mit den Oden oder Cantica (s.o.). Vgl. H. A. Köstlin: Psalmodie. Art. in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Leipzig 1905. Bd. 16. S. 219. S. a. den Exkurs zur mittelalterlichen Psalmenübersetzung. Martin Luther: Vorrede auf den Psalter. (1545) Weimarer Ausgabe (zit. WA), II. Abteilung: Die deutsche Bibel (zit. DB) Bd. 10, 1. S. 99.
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13 a facie Domini quia venit quoniam venit iudicare terram iudicabit orbem terrae in aequitate et populos in veritate sua 141 1 Intellectus David cum esset in spelunca oratio 2 Voce mea ad Dominus clamavi voce mea ad Dominum deprecatus sum 3 effundo in conspectu eius deprecationem meam tribulationem meam ante ipsum pronuntio 4 in deficiendo ex me spiritum meum et tu cognovisti semitas meas in via hac qua ambulam absconderunt laqueum mihi 5 considerabam ad dexteram et videbam et non erat qui cognosceret me periit fuga a me et non est qui requirit animam meam 6 clamavi ad te Domine dixi tu es spes mea portio mea in terra viventium 7 intende ad deprecationem meam quia humiliatus sum nimis libéra me a pesequentibus me quia confortati sunt super me 8 educ de custodia animam meam ad confitendum nomini tuo me expectant iusti donec rétribuas mihi
Lutherbibel Kennzeichen der mittelalterlichen Bibelübersetzung in die Volkssprache ist die Unselbständigkeit des deutschen Textes: Er war nicht dazu bestimmt, die Vulgata zu ersetzen, sondern lediglich deren Bedeutung zu erschließen. Unter den zahlreichen Psalmenübersetzungen vor Luther ragt als das eigenständigste Werk der kommentierte Psalter von Notker Labeo hervor, eine der bedeutendsten Leistungen in althochdeutscher Sprache. 6 Anders als alle seine Vorgänger greift Luther über die griechisch-lateinische Texttradition hinaus auf die hebräischen Grundlagen zurück. Indem er seine Sprache von lateinischen Strukturen ablöst, gelingt ihm ein selbständiger Bibeltext, eine „Eindeutschung". Nicht nur in der Zählung der Psalmen, sondern auch an vielen strittigen Stellen hält er sich an den masoretischen Text, die hebraica veritas. Kongenial ist seine Übersetzung im Umprägen von hebräischen Redeweisen und Bildern in die Sprache und die Vorstellungswelt des Volkes.
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Vgl. hierzu den Exkurs über die mittelalterliche Psalmenübersetzung.
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Dem Ton der Originalpsalmen kommt seine Prosa wahrscheinlich noch näher als Septuaginta und Vulgata. Unsere Beispiele zeigen, wie auch in Luthers deutscher Ubersetzung Parallelismus und Sprachgebärden zum Ausdruck kommen. 7 Allerdings ist die Parallelität der Aussagen nicht so konsequent durchgeführt wie in der modernen Übersetzung von H. J. Kraus. In Ps 96,10 und 142,4 — 8 lassen sich die parallelen Kola nicht mehr ohne weiteres erkennen. Bei diesen Versen ist die in Vulgata und masoretischem Text tradierte Markierung der Vershälften nach neueren Erkenntnissen problematisch, denn eine sinnvolle parallele Reihung würde andere, kürzere Versglieder ergeben (wie sie in der modernen Übersetzung erscheinen). Luther hat an solchen Stellen die tradierte Versgliederung nicht in Frage gestellt; daher bilden 96,10 a und ß bei ihm ein Kolon, auch in Ps 142 stehen häufig zwei Kola in einer Verszeile. Durch solche „Überlängen" nähert sich Luthers Psalmenversion der Prosa, denn die relative Regelmäßigkeit der gleichlang aufeinander folgenden Sätze und Satzteile wird — zumindest im Schriftbild — unterbrochen, die poetische Struktur verwischt. An manchen Stellen tritt zu dieser Unklarheit der Versgliederung noch eine Unklarheit der syntaktischen Gliederung hinzu, vor allem dort, wo eine knappe hebräische Nominal- oder Partizipialkonstruktion sich im Deutschen nur durch eine längere, hypotaktische Periode wiedergeben läßt (vgl. Ps 96,10). Solche „prosaischen" Einschübe sind häufig in Luthers Psalmenübersetzung anzutreffen, an ihnen läßt sich ablesen, daß es Luther im Zweifelsfall mehr um inhaltliche Treue und um Verständlichkeit zu tun war als um die Beibehaltung der Form. Für die spätere literarische Psalmenrezeption in Deutschland, deren wichtigstes Medium die Lutherbibel wurde und wohl bis heute geblieben ist, bedeutet die verstärkte Tendenz zu Prosa freilich nicht, daß die poetische Struktur der Psalmen nicht mehr erkennbar gewesen wäre. Vielmehr ergibt sich gerade aus dem Nebeneinander von Parallelismus, parataktischer Reihung und prosaischen Einschüben eine charakteristische Gestalt: Die Emphase der hymnischen Anrufung löst sich unvermittelt auf, gleichsam wie in einer diskursiven Glosse; der hohe Ton der mit starkem Atem herausgepreßten kurzen Kola wird plötzlich von einer ausholenden, stimmlich sanfteren Periode unterbrochen. Manche Nachdichtungen des 20. Jahrhunderts (s. Brecht) scheinen gerade dieses Phänomen der Lutherschen Psalmen zu imitieren. Luther wollte mit seinem Psalter dem einzelnen Gläubigen ein Gebetbuch in die Hand geben, um ihn nach dem Vorbild der „Heiligen" mit 7
Text des Psalters von 1545; DB, 10, 1. S. 419/421 und S. 567/569.
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seinem G o t t s p r e c h e n zu lassen. 8 I n s o f e r n k o m m t d e r dialogischen S t r u k t u r der K l a g e p s a l m e n f ü r d e n christlichen G e b r a u c h n o c h eine e r h ö h t e B e d e u t u n g zu. L u t h e r s W e r t s c h ä t z u n g f ü r die P s a l m e n zeigt sich s o w o h l darin, d a ß er die lateinische P s a l m o d i e in d e n N e b e n g o t t e s d i e n s t e n beibehalten w o l l t e — zur Ü b u n g u n d A n d a c h t d e r J u g e n d — als auch in seinen m e h r f a c h e n B e m ü h u n g e n u m die Ü b e r s e t z u n g u n d A u s l e g u n g dieses Buches; i n d e m er einzelne P s a l m e n in m e t r i s c h e r F o r m auf die M e l o d i e n v o n v o l k s t ü m l i c h e n L i e d e r n setzte, s c h u f e r ü b e r d i e s die G r u n d l a g e des d e u t s c h s p r a c h i g e n G e m e i n d e g e s a n g s u n d w u r d e d e r A n r e g e r f ü r die reiche B l ü t e m e t r i s c h e r P s a l m p a r a p h r a s e n des 1 6 . u n d 1 7 . J a h r h u n d e r t s . XCVI 1 SINget dem HERRN ein newes Lied, Singet dem HERRN alle Welt. 2 Singet dem HERRN vnd lobet seinen Namen, Prediget einen tag am andern sein Heil. Erzelet vnter den Heiden seine Ehre, Vnter allen Völckern seine Wunder. 4 Denn der HERR ist gros vnd hoch zu loben, Wunderlich vber alle Götter. 5 Denn alle Götter der Völcker sind Götzen, Aber der HERR hat den Himel gemacht. 6 Es stehet herrlich vnd prechtig für jm, Vnd gehet gewaltiglich vnd löblich zu in seinem Heiligthum. 7 Ir Völcker bringet her dem HERRN, Bringet her dem HERRN Ehre und Macht. 8 Bringet her dem HERRN die Ehre seinem Namen, Bringet Geschencke, vnd kompt in seine Vorhöfe. 9 Betet an den HERRN jnn heiligem Schmuck, Es fürchte jn alle weit. 10 Sagt vnter den Heiden, das der HERR König sey, Vnd habe sein Reich, so weit die Welt ist bereit, das es bleiben soll, Vnd richtet die Völcker recht. 11 Himel frewe sich vnd Erde sey fröhlich, das Meer brause, vnd was drinnen ist. 12 Das Feld sey fröhlich, vnd alles was drauff ist, vnd lasset rhümen alle Bewme im walde. 13 Für dem HERRN, denn er kompt, Denn er kompt zu richten das Erdreich. Er wird den Erdboden richten mit Gerechtigkeit, Vnd die Völcker mit seiner Warheit. CXLII. 1 Eine Vnterweisunge Dauids zu beten, Da er jnn der Hülen war. 2 ICh schrey zum HERRN, mit meiner stimme, Ich flehe dem HERRN mit meiner stimme.
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Vgl. die Vorrede auf den Psalter, a.a.O., S. 103.
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Die biblischen Psalmen 3 Ich schütte meine Rede für jm aus, Vnd zeige an, für jm meine Not. 4 Wenn mein Geist jnn engsten ist, so nimpstu dich meiner an, Sie legen mir Stricke auff dem wege da ich auff gehe. 5 Schaw zur Rechten, vnd sihe, da wil mich niemand kennen, Ich kan nicht entfliehen, Niemand nimpt sich meiner Seelen an. 6 HERR zu dir schrey ich, vnd sage Du bist meine Zuuersicht, Mein teil jm Lande der lebendigen. 7 Mercke auff meine Klage, denn ich werde seer geplagt, Errette mich von meinen Verfolgern, Denn sie sind mir zu mechtig. 8 Füre meine Seele aus dem Kercker, das ich dancke deinem Namen, Die Gerechten werden sich zu mir samlen, wenn du mir wol tust.
Exkurs 1 Die Psalmen im Mittelalter Lateinische Liturgie, Psalterhandschriften und -kommentare Vom jüdischen Gottesdienst übernahmen die frühen Christengemeinden die Einrichtung des Psalmengesangs für ihre eigene Liturgie; viele Textstellen schienen den Messias anzukündigen (Ps 2,7),' und Christus selbst hatte am Kreuz in Psalmworten gebetet. Schon in der ältesten Zeit wurden in den lateinischen Kirchen einzelne Abschnitte des Meßrituals von verschiedenen Formen der Psalmodie begleitet beziehungsweise umrahmt und erhielten ihren Namen gemäß den zugehörigen Handlungen (Introitus, Communio, Offertorium, Graduale, Tractus). 2 Vermutlich entsprach die ältere Form der Psalmodie, die responsorische, noch weitgehend dem synagogalen Vortrag: Auf einen oder mehrere Verse des Vorsängers antwortete die Gemeinde mit einem Refrain. An die Stelle der Gemeinde trat schon früh ein ausgebildeter Chor (die Schola), der als Doppelchor auch die antiphonische Psalmodie vortrug. Neben diesen beiden ,wechselweisen' Vortragsarten wurde auch noch eine fortlaufende Psalmenrezitation geübt, der cantus directaneus, und zwar hauptsächlich im Tractus und im Stundengebet (Offizium, Chorgebet). Die Psalmengesänge in der Meßliturgie wurden bald musikalisch so ausgestaltet und ausgeweitet, daß sie textlich auf wenige Verse bzw. einen einzigen Vers beschränkt werden mußten (ambrosianischer und gregorianischer Gesang). Den vollständigen Text des Psalters beteten die Welt- und Ordensgeistlichen nach der Benediktinerregel in den gemeinsamen Stundengebeten, verteilt über die Tageszeiten im Verlauf einer Woche.
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Im gesamten Exkurs zu den mittelalterlichen Psalmen geben wir die Psalmenzählung nach der Vulgata. Vgl. hierzu: Peter Wagner: Geschichte der Messe. 1. T.: Bis 1600. (Leipzig 1913) Reprogr. Nachdr. Hildesheim 1963. S. 2ff. A n t o n Baumstark: Ecclesia Orans. Vom geschichtlichen Werden der Liturgie. Freiburg i. Br. 1923. — Suitbert Bäumer: Geschichte des Breviers. Freiburg i. Br. 1895. — K . Dienst: Stundengebet I, 2. Art. in: R G G 2 , Bd. 6. Sp. 432f.
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Die geistlichen Gedichte der ersten Christen, die im Lukasevangelium überlieferten Gebete der Maria, des Zacharias und des Simeon (die Cantica), lehnten sich formal noch an die hebräischen Psalmen an; ein Weiterleben dieser Gattung bezeugen auch noch die jüdischen und gnostischen Apokryphen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. 3 In der Überlieferung hingegen und in den westlichen Liturgien behaupteten sich vom 4. Jahrhundert an die metrischen lateinischen Hymnen, die von Hilarius und Ambrosius eingeführt worden waren. 4 Diese einfachen strophischen Choralformen (vierzeilige Strophen aus jambischen Dimetern) schlössen die geistliche Dichtung des Abendlandes an die klassisch-antike Poesie an. Mit den Tropen und Sequenzen traten vom 9. Jahrhundert an auch kompliziertere Gebilde zu dem Kanon der christlichen Hymnik, allerdings sind deren unregelmäßige Formen nicht auf die Psalmen zurückzuführen, sondern auf eine sprachlich-poetische Ausgestaltung von Melismen auf dem Schluß-a des Halleluja. 5 Das Spektrum der Inhalte mittellateinischer geistlicher Dichtung umfaßt in erster Linie die christliche Heilsgeschichte und die katholischen Glaubenssätze einschließlich der Heiligen Verehrung. Aus den Psalmen werden allenfalls einzelne Motive und Bilder entlehnt. Was unter der Bezeichnung „Psalterium" von mittelalterlichen Dichtern geschaffen wurde, bezieht sich auf den Psalter lediglich durch die Zahl der 150 Strophen. 6 Nur die ersten Beispiele dieser ehemals beliebten Gattung weisen zusätzlich eine inhaltliche Anspielung auf den der Strophe entsprechenden Psalm auf. Der biblische Psalter ist, hauptsächlich wegen seiner Funktion in Liturgie und Offizium, das am häufigsten in mittelalterlichen Abschriften überlieferte Buch des Alten Testaments; als Textvorlagen dienten verschiedene altlateinische Übersetzungen, das auf der iberischen Halbinsel gebräuchliche Psalterium Mozarabicum, das Psalterium Romanum
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Vgl. das Kapitel über die antike Psalmendichtung. Eine Ausnahme, der keine Nachfolge beschieden war, sind die abecedarischen Psalmen gegen die häretischen Donatisten; sie sind nicht metrisch gebaut und folgen wahrscheinlich einer lokalen punischen Gattungstradition. Ähnliche Psalmen theologischpolemischen Inhalts gab es zu dieser Zeit in Nordafrika, Syrien und vereinzelt wohl auch in Gallien. Vgl. Walter Bulst: Hymni Latini Antiquissimi L X X V . Psalmi III Heidelberg 1956. S. 21ff. — Paul Klopsch: Einführung in die mittellateinische Verslehre. Darmstadt 1972. S. 5ff. Vgl. P. Klopsch, a.a.O., S. 50ff. Vgl. G u i d o Maria Dreves: Psalteria Rhythmica. Gereimte Psalterien des Mittelalters. (Leipzig 1900f.) Unveränd. Nachdr. Frankfurt a. M. 1961. 1. u. 2. Folge. (Analecta Hymnica 35,36)
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der römischen Liturgie, das Psalterium Gallicanum der fränkischen Liturgie und der Vulgata sowie das Psalterium iuxta Hebraeos, die letzte Psalterrevision des Hieronymus — die letztere allerdings nur in wissenschaftlichen' Handschriften mit mehreren Textversionen nebeneinander. Da2u gab es noch die verschiedensten Mischungen aus diesen Texttraditionen, welche durch lokale Überlieferung wiederum eigene Typen herausbilden konnten. 7 Ein in der ganzen katholischen Kirche verbindlicher Psaltertext wurde erst vom Tridentinum erstellt und 1592 durch Papst Klemens VIII. für gültig erklärt. Da der gesondert abgeschriebene Psalter hauptsächlich in der Liturgie und im Offizium gebraucht wurde, enthalten die Handschriften meist auch noch die neu- und alttestamentlichen Cantica, verschiedene katechetische Texte (Glaubensbekenntnis, Allerheiligenlitanei etc.) und Hymnen. Das eigentliche Brevier, in dem alle Bestandteile des Stundengebets in einer praktischen Anordnung versammelt sind, entstand allerdings erst im 11. Jahrhundert. Einige Psalterien geben auch den apokryphen syrischen Psalm 151 wieder. 8 Die Vorrede des Hieronymus ist dem Psalter der vollständigen Bibelhandschriften häufig vorangestellt. Den Text der einzelnen Psalmen begleiten in vielen Handschriften erklärende und zusammenfassende Zusätze, die ,Tituli' 9 (Überschriften) und die ,Collecten' 10 (Schlußgebete). Eine Gliederung des Psalmenbuches wurde meist mit Hilfe von besonders geschmückten Initialen oder ganzseitigen Illustrationen durchgeführt. Dabei wurden verschiedene Gliederungsprinzipien angewandt: die heute noch übliche Teilung in 5 Bücher (die Augustin ablehnte), die Dreiteilung in je 50 Psalmen und die ,liturgische' bei den Psalmen 26, 38, 52, 68, 97, 109. 11 Nicht selten kam es auch zu Mischungen der verschiedenen Gliederungstypen, die im übrigen mit lokalen Illustrationstraditionen in Verbindung gebracht werden können (so stammen Psalter mit der ,liturgischen' Teilung meist aus einer römischgallikanischen Überlieferung, die drei-geteilten aus der irischen, die Teilung bei Ps 51 und 77 aus den byzantinischen Codices). 7
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Vgl. Bonifatius Fischer: Zur Überlieferung altlateinischer Bibeltexte im Mittelalter. Nederl. Arch. v. Kerkgeschiedenis. N.S. LVI. (1975/76) S. 19—34; sowie den Überblick in: Klaus Kirchert: Der Windberger Psalter. Bd. 1: Untersuchung. München 1979. S. l l l f f . Vgl. das Kapitel über die antike Psalmendichtung. Vgl. Paul Salmon: Les „tituli psalmorum" des Manuscripts Latins. Rom 1959. (Collectanea Biblica Latina 12) Louis Brou: The Psalter Collects f r o m 5th-6th centuries' sources. London 1949. Vgl. G. Suckdale-Redlefsen: Psalmen, Psalterillustration. In: Lexikon der Ikonographie. Hg. y. E. Kirschbaum. Freiburg i. Br. 1968ff. Bd. 3. Sp. 4 6 6 - 4 8 1 . Sp. 468.
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Viele Psalterien waren mit Miniaturen geschmückt, mit ganzseitigen Darstellungen, Randillustrationen, ausgezierten Initialen oder Bildern zwischen den Textzeilen. 12 Die Illustrationen der Psalter dienten nicht allein der Ehre Gottes, sondern auch zur Freude und zum Verständnis der Betrachter, denn die Psalterien gelangten auch in die Hände von (hochgestellten) Laien. 13 Anders als die epischen Bücher der Bibel erschwerten die lyrischen Texte der Psalmen die bildliche Darstellung ihres Inhalts, daher zeigen die Psalterillustrationen häufig Szenen aus dem Leben Davids, Darstellungen zur christlichen Heilsgeschichte, oder aber sie setzen Metaphern in Bilder um. 1 4 Der Psalter war das ganze Mittelalter hindurch das bevorzugte Objekt theologischer Kommentare. 1 5 Das lag zum einen an der liturgischen Bedeutung, zum anderen an der großen Bedeutung der Psalmzitate für die neutestamentlichen Schriften und zum dritten an der Auslegungsbedürftigkeit der hebräischen Psalmen. Die Psalmen standen zunächst im Kontext der israelitischen und jüdischen Religion und mußten, um für die Christen und ihre Religion verständlich zu werden, gedeutet werden.
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Vgl. den Art. von G. Suckdale-Redlefsen sowie: R. L. Wyss: David. Art. in: Lex. d. ehr. Ikonogr. a.a.O., Bd. 1. Sp. 477—490. — Florentine Mütherich: Die verschiedenen Bedeutungsschichten in der frühmittelalterlichen Psalterillustration. In: Frühmittelalterliche Studien. Jahrb. d. Inst, für Frühmittelalterforschg. d. Univ. Münster. 6. Bd. Hg. V. K. Hauck. Berlin, New York 1972. S. 2 3 2 - 2 4 4 . - Hugo Steger: David rex et propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herrschers und Dichters im Mittelalter, nach Bilddarstellungen des achten bis zwölften Jahrhunderts. Nürnberg 1961. Vgl. Carl Nordenfalk: Rezension zum „Stuttgarter Bilderpsalter". In: Zeitschrift f. Kunstgeschichte. 32 (1969) S. 1 5 8 - 1 7 0 . S. 170. Vgl. hierzu den erwähnten Aufsatz von F. Mütherich. Zu den Wortillustrationen besonders: Heinz Meyer: Metaphern des Psaltertextes in den Illustrationen des Stuttgarter Bilderpsalters. In: Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste im Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. v. Chr. Meier u. U. Ruberg. Wiesbaden 1980. S. 1 7 5 - 2 0 8 . Die (lateinischen) Kommentare sind abgedruckt in der alten Reihe von: J . P. Migne (Hg.): Patrologiae cursus completus, series latina ( = P L ) Paris 1844ff. und in: Corpus Christianorum opera, series latina. (CCL) Augustinus: Ennarationes in psalmos, PL 36/37, CCL 38—40. Cassiodor: Expositio in Psalterium, PL 70, CCL 97. Hieronymus: Commentarioli in Psalmos, CCL 72. Ders.: Tractatus in Psalmos, CCL 78. Beda Venerabiiis: De libro Psalmorum exegesis, PL 93. Bibliogr. Angaben zu den einzelnen Kommentaren enthält: Friedrich Stegmüller (Hg.): Repertorium Biblicum medii aevi. Madrid 1940ff. — Vgl. auch: Edward A. Gosselin: The King's Progress to Jerusalem: Some Interpretations of David during the Reformation Period and their Patristic and Medieval Background. Malibu 1976.
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Außerdem war der Psalter als poetische Schrift reich an Metaphern, die ebenfalls mit einem theologischen Sinn zu erfüllen waren. Unter den zahlreichen Kommentatoren seien hier nur Augustinus, Cassiodorus und Beda Venerabiiis genannt, die. im Mittelalter immer wieder zur Auslegung herangezogen wurden. Absicht der Kommentatoren war, die unverständlichen Stellen zu erklären und die im Text enthaltenen christlichen Prophezeiungen zu benennen. Nach der Theorie vom vierfachen Schriftsinn ließen sich die Psalmen 1. buchstäblich (historisch) als Gebete Davids, 2. allegorisch als Vorausdeutung auf die Heilsgeschichte und die christliche Ära, 3. tropologisch (moralisch) als Unterweisungen für die fromme Lebensführung und schließlich 4. anagogisch (mystisch) als Hinweise auf die ,letzten Dinge' verstehen. 16 Freilich wurden nicht alle Psalmen gleich systematisch nach den vier sensus befragt, wie überhaupt die Allegorese nicht von allen Theologen in gleichem Maße geübt wurde. Zwar standen die meisten westlichen Kommentatoren in der Allegorese-Tradition der alexandrinischen Schule, doch wurde daneben auch die typologische Auslegung geübt — hauptsächlich in der Ostkirche, aber auch in dem einflußreichen Kommentar des Nikolaus von Lyra. Die Typologie, die von der Schule in Antiochia ihren Ausgang genommen hatte, ließ zunächst nur den historisch-literalen Sinn der alttestamentlichen Texte gelten, sah jedoch in den historischen Ereignissen und Personen der israelitischen Zeit Präfigurationen des christlichen Heilsgeschehens. Die typologische Auslegung der Texte richtete sich also weniger auf die Bedeutungsebenen der Sprache als auf die Bedeutung der dargestellten Situationen und Menschen. Die typologische Exegese ließ dem Kommentator daher weniger Spielraum als die Allegorese. Beide hermeneutischen Methoden fließen in vielen mittelalterlichen Kommentaren ineinander. In der Präfatio zu den „Ennarationes in Psalmos" des Augustinus wird hervorgehoben, warum das Psalmenbuch die anderen alttestamentlichen Schriften übertrifft: Es ,prophezeit die Zukunft, erinnert an die Vergangenheit, gibt den Lebenden ein Gesetz und stellt Regeln zum Handeln auf'. 1 7 Der Psalter vermag alle Leidenschaften zu beruhigen, die Tugenden zu stützen und die Laster zurückzutreiben. Er verjagt
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Vgl. hierzu: Gerhard Ebeling: Hermeneutik. Art. in: R G G 3 . Bd. 4. Sp. 2 4 2 - 2 6 2 . Erich Auerbach: Figura. (1939) In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie. München 1967. S. 55 — 92. — Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. Z f d A . 89. (1958/59) S. 1 - 2 3 . „Futura praedicit, vetrum gesta commemorat, legem viventibus tribuit, gerendorum statuit modum". PL 36, Sp. 63.
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die Dämonen und lädt die Engel ein, ist ein Schutz in nächtlichen Ängsten und eine Erquickung bei täglicher Arbeit. Er beschwichtigt die Traurigkeit und erweicht das verhärtete Herz zu Tränen. 18
Deutschsprachige Psalmen im Mittelalter 19 Vom 8. Jahrhundert bis zu Luthers Deutscher Bibel hat es immer neue Versuche gegeben, den lateinischen Text der Psalmen in einzelnen Glossen, in fortlaufenden Interlinearversionen oder kommentierenden Paraphrasen zu erschließen, bzw. mit selbständigen Übersetzungen einem volkssprachlichen Adressatenkreis zugänglich zu machen. Im Verhältnis zu den übrigen biblischen Schriften ist gerade die Psalmenübersetzung in der Überlieferung besonders reich dokumentiert. Durchgehendes Kennzeichen der ,reinen' Übersetzung von den Interlinearversionen bis zu den gedruckten Psalterien ist die Anonymität der Verfasser. Fast alle stützen sich auf einen oder mehrere Vorgänger, so daß die Übersetzungsliteratur einen breiten Überlieferungszusammenhang bildet, in dem mehr kompiliert als selbständig oder gar originell übertragen wurde. Hinter der gleichsam kollektiven Leistung treten die Namen der Bearbeiter und Abschreiber zurück. Ausnahmen bilden lediglich die kommentierenden Übersetzungen des Notker und 18 19
Vgl. Ennarationes, a.a.O. Sp. 64. Allgemeine Literatur: Die bislang umfassendste Darstellung zur mittelalterlichen Bibelübersetzung ist: Wilhelm Walther: Die deutsche Bibelübersetzung des Mittelalters. (Braunschweig 1889 — 1892) Nachdr. Nieuwkoop 1966. — Bibliogr. reichhaltiger, aber ohne Untersuchungen der einzelnen Psalter: Hans Rost: Die Bibel im Mittelalter. Augsburg 1939. — Die Publikationen des Hamburger Bibelarchivs zeichnen sich in erster Linie durch ihre synoptischen Abdrucke der verschiedenen Übersetzungen der Bußpsalmen aus: Hans Vollmer: Die Psalmenverdeutschung von den ersten Anfangen bis Luther. 2 Bde. (Bibel u. deutsche Kultur 2 u. 3) Potsdam 1932f. Die weiteren Veröffentlichungen des Bibelarchivs enthalten meist nur kurze Nachträge. Trotz der umfassenden Darstellung eines Teilbereichs der mittelalterlichen Psalmenübersetzung ist die Monographie Schöndorfs unbefriedigend, weil hier die Übersetzer jeweils an den „Höchstleistungen" des Genres (Notker und Luther) gemessen werden, ohne daß nach den Funktionen der untersuchten Handschriften gefragt wird: Kurt Erich Schöndorf: Die Tradition der deutschen Psalmenübersetzung. Untersuchungen zur Verwandtschaft und Übersetzungstradition der Psalmenverdeutschung zwischen Notker und Luther. (Mittelhochdeutsche Forschungen 46) Köln, Graz 1967. Einen guten aktuellen Überblick und zahlreiche Literaturangaben bietet: Stefan Sonderegger: Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen in Grundzügen. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hg. v. W. Besch u.a. Erster Halbband. Berlin, New York 1984. S. 129-185.
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des Heinrich von Mügeln. Man ist leicht geneigt, dieses Kontinuum von Jahrhunderte währender Weiterbearbeitung der deutschen Psalmenund Bibelfassung im Sinne einer Entwicklung aufzufassen, die von ,tastenden Anfangen' (Sonderegger) über immer vollkommenere Zwischenstufen zu ihrem Höhepunkt, der Lutherbibel, fortschreitet. Das jedoch würde dem Befund der überlieferten Texte nicht gerecht werden. Wenn man überhaupt von einer Entwicklung sprechen sollte, dann wohl am ehesten mit den vorsichtigen Formulierungen Sondereggers, der eine „polygenetische Aufbauphase" vom 8. bis 11. Jahrhundert und eine „vielfaltige Experimentier- und Ausbauphase" vom 11. bis 14./15. Jahrhundert ansetzt; 20 in dieser letzten Phase zeichnet sich deutlich eine Tendenz zur Vollbibel ab. Eine entscheidende Neuorientierung fand erst in der Ubersetzung des 16. Jahrhunderts statt, als humanistische Textkritik und reformatorische Theologie sich der volkssprachlichen Bibel annahmen. Wichtig für eine angemessene Beurteilung mittelalterlicher Psalmenverdeutschung ist ferner, daß die früher meist als ,sklavisch wörtlich' und ,ungelenk' denunzierten Interlinearversionen nicht auf mangelnde Fähigkeiten der Autoren schließen lassen. „Sollten sich", so fragt Klaus Kirchert, „siebenhundert Jahre lang nur mindere Geister darum bemüht haben, die Heilige Schrift ins Deutsche zu übertragen?" 21 Die Erklärung für die „Schwächen" der Interlinearversionen (regelwidrige Wortstellung, unübliche Wortformen, „unnatürliche" Ausdrucksweise) liegt in der Autorität der Sakralsprache des Originaltextes. Selbst die äußerliche, materielle Seite der Schrift war so ehrwürdig und geheimnisreich, daß man das ganze Mittelalter hindurch dem großen Vorbild aller Ubersetzungskunst, Hieronymus, folgt, der nach eigenem Bekunden seine Bibelrevisionen nach dem Prinzip „verbo de verbo" vorgenommen hatte. In der Übersetzung anderer Schriften habe er hingegen „sensum de senso" wiedergegeben. 22 Diese Ehrfurcht vor dem heiligen Wortlaut und der überlieferten Wortfolge leitet die Interlinearübersetzer, Wort für Wort ihre Entsprechungen zu geben, ohne Rücksicht auf den deutschen Sinn der so entstehenden Sätze. Der Bezugspunkt bleibt der Ausgangstext. Die scheinbar von dieser Methode abweichenden, .freien' Psalterübersetzungen des Mittelalters, insbesondere die Notkers III. wurden 20 21
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St. Sonderegger, a.a.O., S. 130. Klaus Kirchert: Grundsätzliches zur Bibelverdeutschung im Mittelalter. In: ZfdA 95 (1984) S. 6 1 - 7 8 . S. 61. Saint Jérôme: Lettres. Tome III. Texte établi et traduit par Jérôme Labourt. Paris 1953. S. 59.
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in der älteren Forschung meist als besonders gelungene Werke gegen die Interlinearversionen ins Treffen geführt. Dabei unterschlug man jedoch, daß Notkers Psalter eben keine Übersetzung ist, sondern ein Kommentar. Ziel dieser Arbeit ist es, einiges vom unerschöpflichen Bedeutungsgehalt der Texte zu vermitteln. Die Interlinearversion dagegen schmiegt sich so eng wie möglich an die Vorlage an, um auch von deren äußerer Gestalt möglichst wenig verloren gehen zu lassen. Freie, sinngemäße Übertragung ist eben immer schon Interpretation, die nirgends weniger am Platze ist als da, wo das offenbarte Wort Gottes in seiner eigenen Gestalt mitgeteilt werden soll. Sowohl die kommentierende Übertragung als auch die interlineare Übersetzung bezeugen die Achtung der mittelalterlichen Theologen und Übersetzer vor der Vulgata als der Bibelversion der Kirche. Sie sind nicht etwa als Belege für unterschiedliche Geisteshaltungen oder gar für unterschiedliche Sprachgewalt anzusehen. 23 So aufschlußreich auch die zahlreichen Psalmenübersetzungen des Mittelalters für die sprachgeschichtliche Forschung sein mögen — zur Geschichte deutscher Psalmgedichte tragen sie wenig bei. Weder die Interlinearversionen, noch die Kommentare versuchen, der poetischen Form der biblischen Gedichte Rechnung zu tragen. Eigenartigerweise sind aber gerade poetische Bearbeitungen der Psalmen im Mittelalter ausgesprochen rar — zumindest nach dem Zeugnis der Überlieferung. Während epische Bücher der Bibel und auch das Hohelied recht häufig in der Volkssprache nachgedichtet wurden, 2 4 scheint die anspruchsvolle Psalmenparaphrase jahrhundertelang die Ausnahme gewesen zu sein, bis sie durch die Reformation in den Mittelpunkt des Interesses rückte. Die beiden wichtigsten Ausnahmen poetischer Psalmversionen finden sich bereits in Ph. Wackernagels Kirchenliedsammlung. Die erste stammt aus althochdeutscher, die zweite aus mittelhochdeutscher Zeit.
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D a ß hinter beiden Übersetzungsmethoden die gleiche theologische Vorstellung steht, ist von Dieter Kartschoke betont worden. Vgl. ders.: Biblia versificata. Bibeldichtung als Übersetzungsliteratur betrachtet. In: Vestigia Bibliae 4. (1982) S. 2 3 — 4 1 . In ähnlicher Weise argumentieren Klaus K i r c h e r t in seinem zitterten Aufsatz und Marianne Wallach-Faller. Dies.: Dichterische Interlinearität als Ideal mittelalterlicher Psalmenverdeutschung. In: Fimfchustim. Festschrift für Stefan Sonderegger. Bayreuth 1978. S. 2 0 7 - 2 1 7 . Zur Bibeldichtung vgl. M a x Wehrli: Sacra Poesis. Bibelepik als europäische Tradition. In: Die Wissenschaft von deutscher Sprache und Dichtung. Festschrift für Friedrich Maurer. Stuttgart 1963. S. 2 6 2 — 2 8 3 . — Dieter Kartschoke: Altdeutsche Bibeldichtung. Stuttgart 1975. — Achim Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters. Berlin 1976.
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Der Althochdeutsche Psalm 138 An einen Wiener Codex des 10. Jahrhunderts angeheftet ist ein beidseitig beschriebenes Pergamentblatt mit einer Paraphrase auf den 138. Psalm (Luther: Ps 139). 2 5 Der althochdeutsche Text wurde wahrscheinlich Anfang des 10. Jahrhunderts in bairischer Mundart abgefaßt. Die graphische Gestaltung der Handschrift und die poetische Form des Gedichts lassen auf eine enge Beziehung zu der Freisinger Handschrift von Otfrids Evangelienbuch und auf eine Entstehung im Kloster Freising schließen, 2 6 wo noch weitere geistliche Dichtungen in althochdeutscher Sprache aufgezeichnet wurden (Petruslied), angeregt durch Waldo, den Erzbischof von Freising in den Jahren 884 —906. 2 7 Es wird aber auch angenommen, daß ein alemannisches Original Vorbild der bairischen Version gewesen ist. 2 8 Wie Otfrids Evangelienbuch und einige kürzere poetische Stücke ist die Paraphrase eine Endreimdichtung in (achtunddreißig) Langversen; in einigen Zeilen klingen auch noch Reminiszenzen an die germanischen Stabreime mit (Z. 3, 5, 8 , 1 5 , 1 7 ) . J e zwei aufeinanderfolgende Halbverse reimen sich und formen den Langvers, je zwei — mitunter auch drei — Langverse bilden eine Strophe. Aus welchem Grunde die 3 dreiteiligen Strophen zwischen die zweizeiligen gestellt wurden, ist nicht recht erkennbar — anders als etwa in der Dichtung „Christus und die Samariterin", in der die dreizeilige Strophe je eine längere Äußerung des Dialogs faßt und so eine inhaltliche Berechtigung erhält. 2 9 Als Vorlage ist die Vulgata anzusehen. 30 Umgesetzt wurde das lateinische Vorbild in bemerkenswert freier Weise. Mehrere Verse des bibli25
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Bl. 6 9 I + V , Wien Cod. 1609 ÖNB. Abdruck: Wilhelm Braune: Althochdeutsches Lesebuch. 15. Aufl. bearb. v. E. A. Ebbinghaus. Tübingen 1969. Nr. 38, S. 138. Fotogr. Wiederg: Hermann Menhardt: Zur Überlieferung des ahd. 138. Psalms. In: ZfdA. 77 (1940) S. 7 6 - 8 4 . Für eine Datierung zum Anfang des 10. Jahrhunderts und die Herkunft aus der ,nächsten Umgebung des Freisinger Otfrid' votiert vor allem Menhardt, ders., a.a.O., S. I i i . und S. 84. Vgl. auch: D. Kartschoke, Altdeutsche Bibeldichtung, a.a.O., S. 75. Vgl. die Angabe nach den Gebeten des Sigihard am Ende der Freisinger Otfridhandschrift: „UUaldo episcopus istut evangelium fieri iussit." Braune, Ahd. Lesebuch, a.a.O., S. 177. Diese Ansicht wurde in letzter Zeit vor allem von Willy Krogmann vertreten, vgl. ders.: Der althochdeutsche 138. Psalm. Forschungsgeschichtlicher Überblick und Urfassung. Hamburg 1973. Vgl. Braune, Ahd. Lesebuch, a.a.O., S. 136. Albert Leitzmanns Ansicht, Zeile 8 des Gedichts („den vech furiuorhtostu mir, daz ih mih cherte after dir") ließe sich nur auf eine Psaltervorlage nach dem hebräischen Originaltext zurückführen, weil dieser, und nicht die Vulgata, eine Entsprechung
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sehen Psalms wurden ausgelassen; andererseits enthält das althochdeutsche Gedicht Zusätze, die keine Entsprechung in der Vorlage haben. Die Zeilen 22 — 24 sind wahrscheinlich eine Umschreibung von Psalm 139,5. 31 Wie Ehrismann hervorhob, hat der Dichter die bedeutungstragenden „Kernworte" aus dem Lateinischen übertragen und häufig als Reimworte verwendet. 32 Die Kernworte bilden das Gerüst für den deutschen Text, der syntaktisch und oft auch lexikalisch durchaus eigenständig vorgeht. Die folgenden Beispielverse verdeutlichen die Paraphrasetechnik; die Kernworte wurden durch Kursivschrift hervorgehoben. Ahd. Psalm:33 3 Ia gichuri du mih, trohtin, [•••] 5f. Ne megih in gidanchun du ichennist allo stiga,
inte ichennist uuer ih pin.
fore dir giuuanchon: se uuarot so ih ginigo:
Vulgata (1) Domine, probasti me et cognovisti [...] 2
me.
Intellexisti cogitationes meas de longe: semitam meam et funiculum meum investigasti
Fritz Willems hat auf die sprachliche Originalität des Gedichtes hingewiesen, die sich tendenziell als Auflösung von Parallelismen in Perioden sowie als Konkretisierung von Metaphern äußert. 34 Noch freier als die Übertragung der einzelnen Verse hat der Dichter — oder der Aufzeichner — die Gedankenfolge des Vulgatapsalms gestaltet. Nach alter germanistischer Auffassung ist die Reihenfolge der Gedichtverse erheblich gestört und ergibt keinen „tauglichen Sinn". 35 Als Grund für die Vertauschung der Verse nimmt man Gedächtnisschwäche oder Abschreibefehler an. Zahlreiche Versuche, den „ursprünglichen" Text
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35
zum ahd. Text biete (Vulgata: „Et omnes vias meas praevidisti"; H. J. Kraus, Psalmen, a.a.O., S. 1091: „Von hinten und von vorne umschließt du mich, legst auf mich deine Hand"), scheint uns nicht stichhaltig. Denn der ahd. Dichter verfahrt generell zu frei, als daß solche Schlüsse aus einer einzigen Stelle gezogen werden dürften. Vgl. Albert Leitzmann: Die Quelle des 138. Psalms. In: Beiträge z. Gesch. d. dt. Spr. u. Lit. 39 (1914).S. 5 5 9 - 5 6 3 . Vgl. Krogmann, a.a.O., S. 52. Vgl. Gustav Ehrismann: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. 1. Teil. Die althochdeutsche Literatur. (1932 2 ) Nachdr.: München 1954. S. 212. Braune, Ahd. Lesebuch, a.a.O., S. 138. Vgl. Fritz Willems: Psalm 138 und althochdeutscher Stil. In: DVjS. 29 (1955) S. 4 2 9 - 4 4 6 . S. 435ff. Die Reihe reicht von Müllenhoff und Scherer bis Krogmann. Vgl. Krogmann, a.a.O., S. 47ff.
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wiederherzustellen, stützen sich im wesentlichen auf die gedankliche Ordnung im Vulgatapsalm; außerdem strich man die Verswiederholungen in der ahd. Handschrift und die offenbar aus Ps 139,5 herrührenden Verse 2 2 - 2 4 . 3 6 Dagegen haben andere Interpreten in der Gedankenfolge der Handschrift eine bewußte Abweichung von der Vorlage gesehen. Der Verfasser, so meinten sie, habe keine Paraphrase, sondern eine „Umdichtung" vorgenommen. Zwar ist diese Ansicht wegen der Auslassungen und Zusätze des althochdeutschen Dichters durchaus nicht abwegig, aber die Reihenfolge, besonders die thematischen Wiederholungen der Handschrift sind — zumindest heute — nicht recht plausibel. Auch Ehrismann hielt diesen Aufbau für wenig einleuchtend: v. 1 — 12 Herr, Du kennst mich, v. 13—15 wohin ich ich mich auch wende; v. 16—21 ich will die Schlechten von mir tun; v. 25 — 28 Du hast mich geschaffen; v. 29 — 35 wohin ich mich auch wende. 37
Andererseits bleibt gegen die Verbesserungsversuche an der Versreihenfolge einzuwenden, daß die Nachdichtung insgesamt frei genug ist, um eine wirklich authentische Rekonstruktion nach der Vulgatavorlage auszuschließen. Unverständlich ist daher die Sicherheit, mit der Krogmann seine — auch noch ins Alemannische umgesetzte — „Urfassung" vorträgt. 38 Der Inhalt und die stilistische Haltung des biblischen Psalms erscheinen in der althochdeutschen Nachdichtung gewandelt. In der ersten Strophe (ohne biblische Entsprechung) wird ein Publikum aufgefordert, Davids geheime Weisheit und seine Anrufung des Herrn anzuhören: Uellet ir gehören Daviden den guoton, den sinen touginon sin? er gruozte sinen trohtin:
Der angerufene Herr ist Christus (Z. 11), das alttestamentliche Totenreich ist — wie in der Vulgata („infernum") — als Hölle („hello", Z. 14) aufgefaßt. In diesen beiden Abweichungen äußert sich (eher zufallig) die im Mittelalter selbstverständliche christliche Leseweise des Alten Testaments. Der Dichter hat keine auslegenden Erklärungen in den Text eingeflochten, obwohl er als gebildeter Christ (Kleriker?) wahrscheinlich den einen oder anderen Kommentar kannte. Allgegenwart und Allwissenheit Gottes, wie sie in der Vorlage (einem späten Vertrauenslied mit weisheitlichen Passagen) besungen werden, sind in der Nachdichtung in vergleichbarer Anschaulichkeit geschildert. Willems
36 37 38
Vgl. Krogmann, a.a.O., S. 39ff. Ehrismann, a.a.O., S. 212, Anm. 3. Vgl. Krogmann, a.a.O., S. 54f.
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und andere haben der althochdeutschen Dichtung sogar eine deutlichere, ,szenisch bewegte' Darstellung bescheinigt, durch die „auch der Mensch in seiner raumzeitlichen Wirklichkeit zur Geltung" komme. 39 Vokabeln aus dem Alltag des Kriegers („zoum", „herie", „mansleccun" „piduuingan" „fienta", „gifeh") tragen zu dieser Anschaulichkeit bei, jedoch scheint es uns konstruiert, aus diesem „germanisch-kriegerischen Zug" und der Gedankenfolge der Handschrift auf eine konkrete Missionsabsicht zu schließen, wie es Otto Ludwig getan hat. Er faßt den althochdeutschen Psalm und ebenso Otfrids Evangelienbuch als christliche Missionsdichtungen auf, die „sich an Hörer (bzw. Leser) wenden, die entweder noch Heiden sind oder zumindest noch nicht ganz dafür [das Christentum] gewonnen werden konnten". 40 Der Auffassung, mit den althochdeutschen Bibeldichtungen seien konkrete Missionsabsichten verbunden gewesen, ist von D. Kartschoke und anderen widersprochen worden. Seiner Ansicht nach ist ein Heiden- ja sogar ein Laienpublikum für Otfrids Evangelienharmonie auszuschließen wegen seiner „Anlage (Marginalien) und paraphrastische[n] Durchführung (Kommentare ad litteram), die den didaktisch-exegetischen Impetus Otfrids so deutlich heraustreten lassen, daß an ein nichtgeistliches, leseunfahiges Publikum nicht eigentlich gedacht werden kann" 41 . Zwar fehlen im Psalm 138 solche exegetischen Zusätze, doch wenn die „Missionsdichtungsthese" hinsichtlich des Evangelienbuches nicht zutrifft, dann ist sie auch für die damit verknüpften kleineren Endreimgedichte hinfällig. Dementsprechend wäre auch der ahd. Psalm möglicherweise als klösterliche „Unterhaltungs"-Literatur einzuordnen. Er wäre dann im klösterlichen Bereich entstanden und dort auch rezipiert worden, um den Fratres eine poetische (vielleicht sogar musikalische) Unterhaltung in ihrer Muttersprache zu bieten, die aufgrund des biblischen Ausgangstextes zugleich gottgefällig und nützlich erschien. Die einführende Strophe, die sich an ein Auditorium wendet und das biblische Gebet in einen schmalen epischen Rahmen stellt, bestärkt die Annahme, daß die Dichtung auch vorgetragen wurde, um zu belehren („den touginon sin" mitzuteilen); die poetische Form, Reim und Vers sollten diese Lehre den Ohren angenehm machen. Das alttestamentliche Gebetsformular mit weisheitlichem Preis der Allgegenwart Gottes und einer angehängten Feindklage wurde in der Paraphrase mit Begriffen
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40 41
Otto Ludwig: Der althochdeutsche und der biblische Psalm 138. Ein Vergleich. In: Euphorion 56 (1962) S. 4 0 2 - 4 0 9 . S. 403. Vgl. O. Ludwig, a.a.O., S. 408f. D. Kartschoke, Altdeutsche Bibeldichtung, a.a.O., S. 70.
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ausgestaltet, die den Zuhörern die Rede Davids anschaulich werden ließen. Im Unterschied zu den interlinearen Übersetzern der Zeit ging es dem Verfasser nicht um Studium und Erkenntnis aus dem Wortlaut der Schrift, sondern um eine poetisch adäquate Umsetzung des Inhalts, freilich aus einem mittelalterlich-christlichen Verständnis heraus, demzufolge auch David (prophetisch) zu Christus betet. Ob die Zeilen 22 — 24 Fragment einer vollständigen Paraphrase des 139. Psalms sind oder ob gar ein ganzer Psalter in dichterischer Bearbeitung existiert hat, wie Krogmann annimmt, wird sich, solange keine weiteren Textzeugen auftauchen, wohl kaum glaubhaft machen lassen. 42 Poetische Bearbeitungen aus mittelhochdeutscher Zeit Erst aus dem 13. Jahrhundert stammen die nächsten erhaltenen poetischen Psalmbearbeitungen. Die gereimte Paraphrase aus Klagenfurt ist so fragmentarisch überliefert, daß alle Angaben über die Art der Übersetzung und Bereimung ins Spekulative streifen. 43 Immerhin lassen die Bruchstücke der Psalmen 58, 59 und 61 erkennen, daß der deutsche Text nicht für sich stand. Die Reimpaare wechselten vielmehr in unregelmäßiger Weise mit lateinischen Psalmversen. Menhardt hat die Handschrift dem 13. Jahrhundert zugeordnet, meint jedoch aus der „freiheit des versbaus" und einigen anstelle von Reimen gesetzten Assonanzen schließen zu müssen, daß die Dichtung noch dem 12. Jahrhundert angehört. 44 Die genannten poetischen „Mängel" ließen sich jedoch auch auf gattungsbedingte Probleme zurückführen: Es könnte sein, daß der Dichter dem Übersetzungstext, den er da bereimte, nicht allzu große Gewalt antun wollte. Ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammt der Psalm 51: „Miserere mei deus". 45 Das Gedicht ist in drei Handschriften bezeugt; es wurde 1542 von Joachim Camerarius als Vorläufer reformatorischer Psalmlieder interpretiert und in seiner Vorrede zu Johann Claus'
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Vgl. Krogmann, a.a.O., S. 52. Hermann Menhardt (Hg.): Frühmittelhochdeutsche Bruchstücke aus Klagenfurt. In: Z f d A 67 (1930) S. 2 5 7 - 2 6 2 . A.a.O., S. 258. Abgedruckt in: Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied. Von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts. 5 Bände. Leipzig 1865—77. Bd. II, Nr. 45. Hier finden sich auch die Textvarianten der anderen Handschriften.
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Reimpsalter abgedruckt. 46 Die offensichtliche Verbreitung des „Miserere" hat ihren Grund wahrscheinlich in der zentralen Stellung, die der 4. Bußpsalm in der altkirchlichen Bußliturgie einnahm. Der Psalm galt als Gebet des büßenden David nach seinem Ehebruch mit Bathseba und dem Mord an Uria. Der Bearbeiter kannte diese Verknüpfung mit der Vita Davids, aber er gestaltete den Psalm als Rede für einen christlichen Beter, der auf die Erhörung Davids durch Gott verweisen kann: 22 Gip mir ein herze reine einen geist, der dich meine, , 23 Als dv davide sande, do dv sin riwe erkande. 47
Vulgata: 12 Cor mundum crea in me, Deus, et spiritum rectum innova in visceribus meis r
Die Stelle kann auch als Beleg für die syntaktisch und inhaltlich freie Paraphrasierung der Vorlage dienen (besonders Verspaar 22). Hier und da sind Zusätze eingestreut (Verspaar 23), die den Psalm in christlichem Verständnis präzisieren. So ist die einfache Anrede im Auftakt des Bibelpsalms zu einer dreifachen (Trinität!) anaphorischen Anrufung Christi ausgebaut, selbst der Teufel findet an dieser Stelle Erwähnung:
2
HErre got, erbarme dich dvrch dine gnade vber mich. , ,. i_ i j T, Herre, nach dinen hvlden, ., . . , ,, niht nach minen schvlden.
3
Herre, nach dines vater rat verteile mine missetat.
4
Daz der tevfel iht entvinde, daz ich si sin gesinde. 48
3 Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam; et secundum multitudinam miserationum tuarum, . . . . . dele lniquitatem meam. ^
Wenn der Psalmist auf die Wiederherstellung seiner geschundenen Knochen hofft, so legt der christliche Bearbeiter dies als einen Hinweis auf das letzte Gericht aus, welches die vom Tode auferstandenen Gerechten vor der ewigen Pein bewahren wird: 17 Herre, von den himelischen koren in dich vernemen mine oren.
10 Auditui meo dabis gaudium et laetitiam, (et exsultabunt ossa humiliata.)
18 Swenne dv ladest die dinen hin in daz ewige riche din, 19 So laze mich ir einen sin, beware mich vor dem ewigen pin. 49
46 47 48 45
Vgl. das Kapitel über die Reimpsalter in Teil II. WK, Bd. II, Nr. 45, S. 45. A.a.O. A.a.O.
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Eine auch stilistisch bemerkenswerte Umformung zeigen die Verspaare 30-33. 30 S w o ich ie missetaete von des tevfels raete,
16 Libera me de sanguinibus, Deus, Deus salutis meae, (et exsultabit lingua mea justitiam tuam.)
31 Daz mir daz verbrinne in dem fiwer diner minne
17 (Domine, labia mea aperies;) et os meum annuntiabit laudem tuam.
32 Herre, mensch vnde got, din lop vnd din gebot 33 Reinige in minem munde mit des heiligen geistes vnde. 5 0
Das ,Feuer der Liebe' (Vers 31) ist eine Zutat des mittelhochdeutschen Dichters, ebenso die ,Woge des heiligen Geistes'. Anlaß für diese Assoziationen zu „labia mea aperies" ist wohl die Pfingstgeschichte mit der Ausschüttung des Geistes auf die Jünger (Apg 2). Der Dichter hat die geistliche Reinigung bildkräftig dargestellt, indem er bewußt metaphorischen Gebrauch von den Elementen Feuer und Wasser machte — ohne irgendeinen Anstoß hierzu in der Vorlage zu finden. Folgerichtig übergeht das mittelhochdeutsche Gedicht die im letzten Psalmvers ausgesprochene Hoffnung auf eine Wiedereinsetzung der rituellen Tempelopfer im neuerbauten Jerusalem (Ps 50, 21). Anstelle dieser jüdischen Thematik bittet der christliche Dichter erneut um Schutz vor dem Höllenabgrund (Leviathan) und um ewige Auferstehung. Eine Doxologie bildet den Schluß. Das Gedicht ist stilistisch wie ein Gebetsformular gehalten, mit dem ein christlicher Sünder sich reuig an Christus wenden könnte. Es sind zahlreiche theologische Zentralbegriffe eingeflochten („triwe", „riwe", „diemut" V. 35f.), jedoch in unsystematischer und anspruchsloser Form. Die Funktion des Gedichts dürfte in einem außerliturgischen, erbaulichen Rahmen zu suchen sein. Schöndorf nennt vier weitere poetische Bearbeitungen der Bußpsalmen, die jüngste (mitteldeutsch) aus dem 13./14. Jahrhundert, die anderen (niederdeutsch bzw. mittelniederländisch) aus dem 14. Jahrhundert. 51 Von keinem dieser Texte existiert u. W. bislang ein Abdruck. Eine Probe aus dem Mahrenberger Psalter, einer Handschrift des 15. Jahrhunderts, erweist diese Arbeit als eng gebunden an den Ausgangstext; Verszeilen verschiedener Länge sind mit paarigen Endreimen versehen. Laut Schöndorf enthielt der Mahrenberger Psalter auch den vollständigen lateinischen Text, doch ist aus dem abgedruckten Beispiel 50 51
A.a.O. Vgl. K . Schöndorf, a.a.O., S. 28f. u. S. 150f.
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nicht ersichtlich, in welcher Form die deutschen und die lateinischen Verse aufgezeichnet wurden. 52 Ähnlich den Übersetzungen der Psalmen dürften auch diese poetischen Bearbeitungen der Bußpsalmen im wesentlichen eine erklärende Funktion hinsichtlich der lateinischen Originaltexte gehabt haben. Immerhin weisen die Reime und die Verspaare bereits auf eine größere Eigenständigkeit der deutschen Übersetzungstexte. Auch an dem volkssprachigen Psalmtext wollte man nun offenbar einen gewissen Schmuck anbringen. Insgesamt gesehen sind die poetischen Bearbeitungen der Psalmen aus dem Mittelalter so rar und stehen so vereinzelt, daß sich hier kaum eine produktive Wirkung der biblischen Gattung erkennen läßt. Es wundert daher, daß Samuel Singer die religiöse Lyrik des Mittelalters als ein „Nachleben der Psalmen" bezeichnet. 53 Dies umfaßt seiner Ansicht nach allerdings auch die gesamte christliche und jüdische Hymnik bis zur Reformation. Zweifellos hat die religiöse Hymnik der Spätantike und des Mittelalters in stilistischer Hinsicht sich stark auf die Bibelsprache bezogen und sich in der Stilhöhe an der Forderung nach dem sermo humilis orientiert. 54 Doch sind die christlich-lateinischen Hymnen und Sequenzen des Mittelalters hinsichtlich ihres Aufbaus, ihrer Motive und ihrer metrischen Form so eigenständig, daß hier kaum noch von einer deutlichen „Nachahmung" der Psalmen gesprochen werden kann. Singers Begriff von den Psalmen umfaßt emphatisch alle Texte, von den Psalmen bis zu den spätmittelalterlichen Gedichten, da sie alle in den Lobpreis Gottes einstimmen, wie es von Juden und Christen gefordert ist. Anders als die religiöse Hymnik der Kirche 52 53
54
A.a.O., S. 29 und S. 32. Dies ist der Untertitel eines Buches, das man als ein letztes Bekenntnis zur jüdisch-deutschen Kultursymbiose auffassen kann, die kurz darauf einseitig aufgekündigt und endgültig zunichte gemacht wurde. Samuel Singer: Die religiöse Lyrik des Mittelalters. Das Nachleben der Psalmen. Bern 1933. (Neujahrsblatt der Liter. Gesellsch. Bern, der neuen Folge 10. Heft) Diese ging auf Augustinus zurück (De doctrina christiana) und wollte die klassische Stillehre auf geistliche Reden nicht angewandt wissen, da es hier ohnehin immer um hohe Dinge gehe, denen also eigentlich immer das genus sublime angemessen sei. Die drei Stilhöhen seien v o m christlichen Redner stattdessen danach einzusetzen, ob der Zweck im Belehren, im Loben oder Tadeln bzw. im Rühren und im A u f r u f e n zum Handeln bestehe. Im Anschluß an Augustin kam es jedoch wesentlich zu einer Verabsolutierung der „Herzenssprache" im niedrigen Stil, wobei meist die Treue zum Bibeltext als Argument angeführt wurde. Vgl. Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern. München 1976. S. 407ff., S. 4 1 0 und S. 4 1 8 f .
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hat sich die religiöse Lyrik der Juden im Mittelalter weit stärker auf die literarische Form der Psalmen bezogen, wie etwa die Gedichte des Jehuda Halevi zeigen, die in Motiven und im Aufbau deutlich an die Psalmen anknüpfen. 5 5 Dies allerdings gehört nicht mehr in unseren Zusammenhang.
55
Vgl. Jehuda Halevi: Zweiundneunzig Hymnen und Gedichte: Deutsche Übersetzung hg. v. Franz Rosenzweig. Berlin 1926.
Teil II Metrische und gereimte Paraphrasen von der Reformation bis zum Ende der Barockzeit
1. Psalmen unter dem Einfluß der Reformation 1 Zur Forschungslage Die Psalmendichtung in deutscher Sprache beginnt — abgesehen von wenigen vereinzelten Gedichten aus dem Mittelalter — in der Reformationszeit und bleibt über zwei Jahrhunderte eine bevorzugte literarische Betätigung. Ein großer Teil der Werke ist eingegangen in die umfangreichen Gesangbücher jener Zeit und liegt heute in Sammelwerken vor, die dem Fleiß von Gelehrten des 19. Jahrhunderts zu verdanken sind. 2 Viele Psalmendichtungen wurden als Gesamtpsalter separat gedruckt und sind heute nur noch in wenigen alten Ausgaben zugänglich. Die Psalmgedichte des Barockjahrhunderts, die in den zeitgenössischen Drucken meist unter der Rubrik der geistlichen Poemata erscheinen, sind teilweise in die neueren Werkausgaben der einzelnen Dichter aufgenommen worden. Da in den Anfängen Psalmen- und Kirchenlieddichtung zusammenfallen, wurden die Psalmlieder lange Zeit ausschließlich als Gegenstand der hymnologischen Forschung angesehen, die (unter wechselnden theologischen Forderungen an das Gemeindelied) zu wechselnder Beur1
2
Wenn in diesem Teil der Untersuchung aus den Originaldrucken zitiert wird, so ist grundsätzlich die ursprüngliche Schreibweise beibehalten; das gilt nicht für die Unterscheidung von Fraktur und Antiqua sowie für die Großschreibung in den Titeln. Ligaturen und Kürzel (für den Buchstaben n u.ä.) werden aufgelöst. Ebenfalls aus drucktechnischen Gründen wird die neue Schreibweise für die Umlaute (ä, 6 und ü) gegeben. Bei unpaginierten Texten ist, soweit möglich, die Bogensignatur oder in eckigen Klammern die ergänzte Bogensignatur angegeben. Das wohl wichtigste dieser Sammelwerke besteht in den fünf Bänden von Philipp Wackernagel, die mit den lateinischen Hymnen beginnen und die Gesangbücher bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auswerten. Ders: Das deutsche Kirchenlied. Von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts. 5 Bde. Leipzig 1864—1877. (zit. WK). Der anschließende Zeitraum wird abgedeckt von: Albert Fischer und Wilhelm Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. 6 Bde. Gütersloh 1904-1916. (zit. FT). Die Lieder von katholischen Autoren enthält: Joseph Kehrein: Katholische Kirchenlieder, Hymnen, Psalmen. Aus den ältesten deutschen gedruckten Gesang- und Gebetbüchern. 3 Bde. Würzburg 1859-1863 (Neudruck: Hildesheim 1965). (zit. KK).
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Von der Reformation bis zum Ende der Barockzeit
teilung der Psalmlieder und der Kirchenlieder überhaupt gelangte. Die protestantischen Hymnologen vom Beginn des 20. Jahrhunderts werteten Luthers und seiner „Mitstreiter" Dichtungen als vorbildlich, die der „zweiten Generation" (etwa 1550—1600) schätzten sie weniger hoch ein, aber ganz niedrig rangierten die „individualisierten" Kirchenlieder der folgenden Jahrhunderte. 3 Nach einem ersten Hinweis von Leopold Cordier 4 ist die früheste germanistische Arbeit zur Psalmlieddichtung die Dissertation von Helmut Lerche. 5 Sie ist noch geprägt von einer gewissen konfessionellen Voreingenommenheit gegenüber den nicht-lutherischen Dichtern. Lerche stützt sich nahezu ausschließlich auf die bei Wackernagel abgedruckten Lieder. Seiner Ansicht nach war es den „kraftvollen Dichterpersönlichkeiten" (wie Luther und Waldis) weniger um Treue zum Bibeltext zu tun als um dichterischen Ausdruck ihrer inneren Anliegen. In der Folgezeit wären jedoch in erster Linie Bearbeitungen entstanden, die sich sklavisch an die Textvorlage gehalten hätten und formal nur Geringes leisteten. Lerche geht fast gar nicht darauf ein, inwiefern die „freiere" Behandlung der Vorlagen durch exegetische Prämissen getragen wird. „Texttreue" und „freie Paraphrase" bleiben in Lerches Ausführungen unspezifizierte Begriffe, von denen gleichwohl eine voreilige Bewertung des dichterischen Vermögens der Autoren abgeleitet wird. Viele der Ansichten Lerches erscheinen noch in dem Sammelartikel des Reallexikons zur Psalmendichtung 6 sowie in einem Festschriftaufsatz von Erich Trunz. 7 Beide bringen im wesentlichen dieselben (z.T. veralteten) Informationen, bieten aber einen akzeptablen ersten Über3
Carl-Alfred Zell hat sich in einem sehr ausführlichen Exkurs mit der Geschichte der hymnologischen Forschung beschäftigt und sie mit der jeweils gleichzeitigen germanistischen Bewertung der Lieder verglichen. Ders.: Untersuchungen zum Problem der geistlichen Barocklyrik mit besonderer Berücksichtigung der Dichtung Johann Heermanns < 1 5 8 5 - 1 6 4 7 ) . Heidelberg 1971. S . l l - 5 8 . Vgl. auch: Martin Doerne: Kirchenlied. Artikel in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 3 1959. Bd. 3. Sp. 1 4 5 4 - 1 4 6 5 . Sp. 1455f.
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Leopold Cordier: Der deutsche evangelische Liedpsalter — ein vergessenes Liedgut. Gießen 1929. Helmut Lerche: Studien zu den deutsch-evangelischen Psalmendichtungen des 16. Jahrhunderts. Phil. Diss. Breslau 1936. Joseph Götzen, Arthur Hübner und Erich Trunz: Psalmendichtung. Art. in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hg. von P. Merker und W. Stammler. Neu bearbeitet von W. Kohlschmidt u. W. Mohr. 5 Bde. Berlin 1958ff. Bd. 3. S. 2 8 3 - 2 8 9 . Erich Trunz: Über deutsche Nachdichtungen der Psalmen seit der Reformation. In: Gestalt, Gedanke, Geheimnis. Festschrift für Johannes Pfeiffer. Berlin 1967. S.365 —380. Trunz hat offenbar die Lexikonartikel seiner Vorgänger Götzen und Hübner überarbeitet und seinen eigenen übernommen.
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blick zur Psalmenparaphrase und -Übersetzung. Die Kontinuität der Vsaimerulichtung vom 16. bis ins 20. Jahrhundert, wie sie von Hübner und Trunz gezeichnet wird, ist nämlich im Grunde die Kontinuität der poetischen Psa\mcnäbersei^ung. Der Psalter erscheint hier als ein literarischer Stoff, der zu allen Zeiten die Dichter reizt und an dem man „jeden Wandel des liter. Stils [...] ablesen kann". 8 Was unter „freien Ausgestaltungen" zu verstehen ist, die es „immer wieder" gegeben haben soll, bleibt hier ebenso Undefiniert wie bei Lerche. 9 Trunz sieht keinen wesentlichen Unterschied zwischen reformatorischen Kirchenliedern, metrischen Paraphrasen der Barock- und Aufklärungszeit und den späteren, freirhythmischen Übertragungen. Die freien Psalmgedichte (ohne Paraprase auf den Bibeltext) finden nicht einmal Erwähnung. Die germanistischen Kriterien zur Beurteilung des literarischen Wertes metrischer Psalmparaphrasen des 16. und 17. Jahrhunderts waren lange Zeit die gleichen wie in der hymnologischen Forschung, jedoch mit den entgegengesetzten Schlußfolgerungen. Meinte man in einem Lied einen persönlicheren Ton, eine individuellere Behandlung der Vorlage erkennen zu können, so war es für den Gemeindegesang disqualifiziert, als literarisches Zeugnis subjektiven religiösen Erlebens dagegen hatte es einen besonderen Rang. 10 Diese — von der Annahme einer „Erlebnisdichtung" ausgehende — Sichtweise teilen alle älteren Untersuchungen, auch die Gattungsgeschichten der Ode und des Liedes von Carl Vietor und Günther Müller. 11 Doch schon der Befund, der die Grundlage dieser Wertung ist, wird der untersuchten Lyrik nicht gerecht, denn die Psalmlieder und -gedichte des 16. und 17. Jahrhunderts sind noch weniger als die andere Poesie jener Zeit als gefühlvolle Aussprache des Subjekts, eben als Erlebnislyrik, zu verstehen. 12 8 9 10 11 12
E.Trunz, Psalmendichtung, a.a.O., S. 288. Ebenda. Vgl. C.-A. Zell, Untersuchungen, a.a.O., S. 15ff. Vgl. Einl. Anm. 9. A u f grundsätzliche Weise behandeln diese Problematik zahlreiche Werke der letzten Jahrzehnte. Vgl. etwa: Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des Barock. Bonn 1962. — Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1966. — Ludwig Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968. Diese Untersuchungen sind zwar allenthalben auf Zustimmung gestoßen, doch hat sich in der Interpretation von Gedichten der mittleren deutschen Literatur noch keine durchgängige Ablösung von der falschen Prämisse „Erlebnislyrik" vollzogen. Vgl. hierzu: Harald Steinhagen: Didaktische Lyrik. Über einige Gedichte des Andreas Gryphius. In: Festschrift für Friedrich Beissner. Bebenhausen 1974. S. 406—435.
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Erst drei neuere Arbeiten berücksichtigen konsequent den Gebrauchszusammenhang der Psalmendichtung: die Dissertationen von Peter Fricke, Klaus-Peter Ewald und Angelika Reich. 13 Frickes Untersuchung — die leider nicht gedruckt wurde — ist wohl die erste wirklich umfassende Sichtung des Materials zu verdanken. Allerdings sind hier die bibliographischen Arbeiten, das Paraphrasieren der Vorreden, die Beschreibung der Bücher und Lieder sowie die Wiedergabe von Beispielen so umfangreich geraten, daß Fricke eine Auswertung nicht vornehmen konnte, sondern sich mit einer Einordnung seines Materials in die (unhinterfragten) geistesgeschichtlichen Zusammenhänge begnügte. Die Menge der zu untersuchenden Texte zwang ihn zu einer Begrenzung, die sachlich nicht voll gerechtfertigt scheint. Sinnvoll ist es zweifellos, die Zeit von der Reformation bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts als ein literarhistorisches Kontinuum aufzufassen und mit dem Beginn der Aufklärung auch in der Psalmendichtung eine Zäsur zu setzen. Grundlos scheint uns allerdings das Aussparen der Psalmlieder katholischer Autoren zu sein; auch daß die sogenannten Reimpsalter allzu scharf von den Liedpsaltern unterschieden und daher ausgeklammert wurden, ist in Anbetracht der fließenden Übergänge zwischen diesen beiden Textsorten wohl kaum gerechtfertigt. 14 Andere Lieder dagegen sind von Fricke mit einbezogen worden, obwohl sie deutlich erkennbar keine Psalmparaphrasen darstellen. 15 Insgesamt gesehen, hat Fricke wertvolle und notwendige Vorarbeit zur Erforschung der Psalmlieder geleistet. Darauf konnte die Dissertation von K.-P. Ewald aufbauen, dem es allerdings weniger um die schlichte Auswertung als um eine soziologische Erklärung des „Psalmdichtungsphänomens" geht. Ausgehend von Adornos Begriff des „Engagements", will Ewald nachweisen, daß bei der Psalmendichtung des Barock — wie in der Moderne — eine „engagierte Dichtung" vorliegt. „Formal betrachtet ist Psalmdichtung eine auf Wir13
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Peter Fricke: Evangelische Psalmliedbücher von Einzelautoren im 16. und 17. Jahrhundert. Theol. Diss. (Masch.), Göttingen 1967. — Klaus-Peter Ewald: Engagierte Dichtung im 17. Jahrhundert. Studie zur Dokumentation und funktionsanalytischen Bestimmung des „Psalmdichtungsphänomens". Stuttgart 1975. (Auch Phil. Diss., Stuttgart 1973). — Angelika Reich: Ubersetzungsprinzipien in den deutschsprachigen liedhaften Gesamtpsaltern des 16. und 17. Jahrhunderts. Phil. Diss. Regensburg 1977. Fricke schreibt sogar selbst: „Der Unterschied zwischen Lied- und Reimpsalter ist in mancher Hinsicht fließend [...]." Warum aber klammert man ihn dann ganz aus der Untersuchung aus? Siehe: Ders., a.a.O., S 21. Die beiden von Fricke abgedruckten Liedchen aus Johannes Trautschels „Cithara Poenitentiae" (1643) weisen dieses Werk in jene Gruppe der Bibeldichtungen, die sich den Gehalt jeweils eines einzelnen Verses zum Ausgang nehmen, und nicht wie die Psalmlieder auf die poetische Wiedergabe des ganzen Psalmtextes abgestellt sind. Siehe P. Fricke, a.a.O., Anhang, S. 30.
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kung und Verhaltensorientieung hin gemachte und für den Gebrauch bestimmte Publikumsansprache. Ihre Zielsetzung ist es, die Rezipienten im Sinne der vertretenen Inhalte zu beeinflussen." 16 Zur Unterscheidung von moderner kritischer Literatur führt er an: „Eine Besonderheit der ,engagierten Psalmdichtung' kann nur darin gesehen werden, daß die Autoren in dem, was sie vertreten, an vorgegebene gesellschaftssichernde Normen gebunden sind. Ein,affirmatives' Engagement also." 17 Die Wirkabsicht ist jedoch ein genereller Zug der Barockdichtung und vermag kaum zu erklären, warum gerade die Psalmenparaphrase so intensiv betrieben wurde. Im übrigen läßt sich die Wirkabsicht eines rhetorisch durchgeformten Textes nur entfernt mit den manipulativen Techniken der Moderne vergleichen (was Ewald versucht), denn von den gebildeten zeitgenössischen Lyrikrezipienten wurde die Rhetorik vorausgesetzt, erwartet und auch in anderer Weise aufgenommen und verstanden als von heutigen Lesern. Ewald scheint moderne soziale Funktionsmechanismen unbesehen auf das 17. Jahrhundert zu übertragen. 18 Von der Psalmendichtung des 16. Jahrhunderts grenzt Ewald die barocke Paraphrase negativ ab, indem er die Reformation a priori als eine „religiöse und latent gesellschaftspolitische Erneuerungsbewegung" wertet und in Gegensatz zur konservativen Tendenz des 17. Jahrhunderts bringt. 19 — Aufschlußreich sind die statistischen Auswertungen, die Ewald zur Erhärtung seiner Thesen anführt, nicht nur im Hinblick auf die historisch-soziale Einordnung der Autoren, sondern auch als Übersicht über die textlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Psalmendichtung, soweit diese sich tabellarisch ausdrücken lassen. Die Dissertation von Angelika Reich knüpft an eine wichtige Untersuchung von Gerhard Hahn an, die sich mit der Rolle Luthers in der Entwicklung des deutschen Kirchenliedes befaßt. 20 Das Untersuchungsgebiet von A. Reich ist sinnvoll definiert und beschränkt sich auf die Textsorte des liedhaften Gesamtpsalters im 16. und 17. Jahrhundert, ohne die konfessionelle Eingrenzung Frickes zu wiederholen. Die Autorin vermag so einen guten Uberblick über diese Textsorte zu geben. Exegetisch-theologische Prämissen vernachlässigt sie ebensowenig wie 16 17 18
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K.-P. Ewald, a.a.O., S. 17. A.a.O., S. 18. So ist zum Beispiel der Begriff der „Nachfrage" auf literarische Produkte des Barock nicht so ohne weiteres anzuwenden. Ähnlich problematisch erscheint Ewalds A n nahme der „Existenzsicherung bzw. -Verbesserung" als Motiv für die Psalterautoren. Ders., a.a.O., S. 1 5 und 18. A.a.O., S. 39. Gerhard Hahn: Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes. München 1977.
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poetische Intentionen und die sozialhistorischen Grundlagen; sorgfältig analysiert sie bei allen Büchern die Vorreden und einzelne Psalmlieder. Selbst der alttestamentliche Gehalt des Ausgangstextes wird immer wieder vergleichend herangezogen — kaum jedoch dessen Form. Für die umfangreiche Gattung der liedhaften Gesamtpsalter werden durch diese Arbeit solide und differenzierte Forschungsergebnisse geliefert, auf die wir im weiteren zurückgreifen können. Ausgespart wurden auch in A. Reichs Arbeit die nicht vollständigen, auswählenden Psalmparaphrasen und die nicht zum Gesang bestimmten Psalmendichtungen. So sinnvoll das genaue Definieren und Abgrenzen einer einzelnen Textsorte für eine erste eingehende Untersuchung ist (zumindest in Anbetracht der in Frage kommenden Menge von Texten), so vermag eine solche Vorgehensweise doch nicht die Psalmendichtung als Gesamtphänomen zu erfassen. Gerade die Gedichte der bedeutenden Barockautoren (Gryphius, Fleming, Weckherlin) müssen in einer so konzipierten Monographie fehlen (weil sie entweder nicht „liedhaft" sind und/oder die Autoren keinen Gesamtpsalter verfaßt haben), obwohl sie literarisch erheblich relevanter sind als die meisten der sangbaren Gesamtpsalter. Neben diesen Arbeiten mit umfassenderem Untersuchungsgebiet existieren noch einige Monographien zu einzelnen Psalmendichtern. Luthers Psalmlieder werden unter dem Gesichtspunkt seiner theologischen und liturgischen Absichten ausführlich in der erwähnten Habilitationsschrift von Gerhard Hahn interpretiert. Die Psalter von Waldis 21 und Ayrer 22 behandeln zwei ältere Dissertationen, knappe Kommentare wurden zu Schönborn 23 und Hohberg 24 verfaßt, einige Aufsätze stellen die deutschen Versionen des Hugenottenpsalters dar. 25 Zu den meisten Autoren jedoch fehlen bislang Einzelstudien, die Textsorte der Reimpsalter wurde bislang noch gar nicht behandelt. Trotz des neuerlichen Interesses, das in der Germanistik in den letzten zwei Jahrzehnten immerhin drei Dissertationen hervorgebracht hat, ist es doch sehr
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Max Horn: Der Psalter des Burkhard Waldis. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes im X V I . Jahrhundert. Phil. Diss., Halle 1 9 1 1 . Karl Joseph Gantert: Der Psalter des Jakob Ayrer. Phil. Diss. (Masch.), Heidelberg 1924. Johann Philipp von Schönborn: Die Psalmen des Königlichen Propheten Davids. Mainz 1658. (Nachdruck: New York/London 1972. Hg. und eingeleitet v. G o r d o n Marigold) Albrecht Schöne: Hohbergs Psalter-Embleme. In: DVjs. 44. (1970) S. 6 5 5 - 6 6 9 . Erich Trunz: Die deutschen Übersetzungen des Hugenottenpsalters. In: Euphorion 29. (1928) S. 7 0 - 8 8 . Gerhard Schumacher: Der beliebte, kritisierte und verbesserte Lobwasser-Psalter. In: J b L H 12. (1967) S. 7 0 - 8 8 .
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zweifelhaft, ob in absehbarer Zeit die Forschungslücken hinsichtlich der Psalmendichtung gefüllt werden können. Bei unserer literarhistorischen Bestandsaufnahme werden wir diese lükkenhafte Forschunsgslage dadurch auszugleichen versuchen, daß wir nicht eine einzelne Textsorte vollständig und erschöpfend bearbeiten, sondern Beispiele für möglichst alle Erscheinungsformen der Psalmendichtung in repräsentativer Auswahl darstellen. Das schließt jedoch beim Stand der Dinge nicht aus, daß eine einzelne Textsorte unzureichend berücksichtigt wird. Dennoch hoffen wir, der Gefahr einer allzu summarischen, oberflächlichen Beurteilung dadurch zu entgehen, daß wir in jedem Fall von der Interpretation konkreter Beispieltexte ausgehen. Die Interpretationen fallen bei solchen Autoren ausführlicher aus, deren Werke richtunggebend für die Gattungs als ganzes wurden, oder deren Gedichte wegen ihrer besonders originellen Ausprägung eine eingehendere Behandlung erfordern. Gattungsbegriff und Interpretationsmethode sind im übrigen in der Einleitung bereits ausgeführt worden.
Übersetzung und Auslegung des Psalters in der Reformation Die Absicht, dem Laien die Heilige Schrift im Wortlaut zu erschließen, führte die Reformatoren zur Übersetzung der Bibel. Besondere Sorgfalt wurde auf die Psalmenübertragung verwendet; Luther erstellte allein drei vollständige deutsche Psalter. 26 Nicht nur wegen seiner persönlichen Vorliebe für die Psalmen beschäftigte sich Luther so häufig mit diesem „ihm aus dem klösterlichen Stundengebet vertrautesten und infolge der Geladenheit mit geistlichem Affekt ihn am unmittelbarsten ansprechenden biblischen Buch". 27 Es kam hinzu, daß der Psalter schon seit Augustinus als kleine Bibel, als eine Zusammenfassung der großen, angesehen wurde, 28 was Luther zu dem Schluß brachte: A u f das, wer die gantzen Biblia nicht lesen kündte, hätte hierin doch fast die ganzte Summa verfasset in ein klein Büchlin. 29
Um die bloße Übersetzung dem Laien auch wirklich nutzbar zu machen, mußte man jedoch auch eine Anleitung zum Verständnis derselben geben. 26
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Sie erschienen in den Jahren 1524, 1528 und 1531. Vgl. die Synopse der verschiedenen Fassungen in: DB, Bd.10,1. S. 1 0 6 - 5 8 9 . Siehe Gerhard Ebeling: Luther. Eine Einführung in sein Denken. Tübingen 3 1973. S. 46. „Unde hic Psalmorum Uber registrum est totius sacrae Scripturae, et totius theologiae paginae [...]." Aurelius Augustinus: Ennarationes in Psalmos. PL Bd. 36 — 37. Sp. 63. M. Luther, Vorrede auf den Psalter, DB, Bd. 10,1. S.101.
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Solange im Mittelalter die Auslegung in den Händen institutioneller Autoritäten gelegen hatte, war die allegorische Schriftauslegung ein Mittel gewesen, alle kirchlichen Einrichtungen, die Geschichte, die Jenseitsvorstellung und Morallehren aus dem Schrifttext zu entwickeln; 30 Tradition und Hierarchie garantierten eine orthodoxe Auslegung des vierfachen Schriftsinnes. Als nun der Bibeltext den theologisch ungebildeten Laien zugänglich gemacht wurde, mußte zugleich die hermeneutische Methode so festgelegt sein, daß niemand durch die freie Allegorese zur Schwärmerei und Häresie verführt werden konnte. Deshalb rückten die Reformatoren allmählich, aber immer entschiedener, vom vierfachen Schriftsinn ab. 31 Für Luther ist in dieser Entwicklung der Psalter wiederum das wichtigste alttestamentliche Buch, auf dessen Auslegung er immer wieder zurückkommt. 32 Es ist zugleich das erste biblische Werk, das er in deutscher Sprache für breitere Kreise erläutert. 33 An die Stelle des vierfachen Schriftsinnes setzen die Reformatoren einen einzigen: Der genuine Schriftsinn ist ein einziger, der literale, und er ist als solcher von der Sache der Schrift her geistlich. Die Rechtfertigung der Allegorese durch 2. Kor. 3,6 wird nun scharf verworfen. Zwar kann Luther, allerdings mit abnehmender Häufigkeit, sich v o r allem in den Predigten der Allegorese als eines homiletischen Mittels zu anschaulicher Textanwendung bedienen, aber hermeneutisch ist ihr das Recht genommen [...]. 3 4
Zum Prinzip der Auslegung wird nun, daß jede Deutung an anderer Stelle der Schrift expressis verbis formuliert sein muß. Die alttestamentlichen Bücher, voran der Psalter, erhalten ihren vollen geistlichen Sinn erst durch die „Erfüllung" im neuen Testament. So sind die Psalmen zwar Gebete Davids zu Gott, aber zugleich schon Weissagung auf das Kommen Christi und seine Erlösungstat. Als rein historische Texte sind sie für Luther nicht
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Zur Hermeneutik der christlichen Bibelexegese vgl.: Gerhard Ebeling: Hermeneutik. Art. in: R G G , Bd. 3. Tübingen 3 1959. Sp. 2 4 2 - 2 6 2 . Luthers erste Psalmenvorlesung (1513/15) steht noch ganz im Zeichen des vierfachen Schriftsinnes. Siehe: W A , Bd. 3 - 4 . Vgl. auch G. Ebeling, Luther, a.a.O., S. 1 1 1 . Gerhard Ebeling hebt hervor, wie sich Luthers Theologie in der Exegese des Psalters und der Paulinischen Schriften herausbildet, die er beide in Zeitabständen immer wieder neu aufgreift. Vgl. ders., Luther, a.a.O., S. 46. Die Entwicklung von Luthers Psalmenexegese behandeln auch verschiedene Beiträge in: Lutheriana. Zum 500. Geburtstag Martin Luthers von den Mitarbeitern der Weimarer Ausgabe. Hg. von G. Hammer und K . H. z. Mühlen. (Archiv zur W A der Werke M.L.s Bd. 5) Ausführliche Zusammenstellung der Auslegung jedes einzelnen Psalms enthält: Erwin Mühlhaupt: D Martin Luthers Psalmen-Auslegung. Göttingen 1959. 3 Bde. Siehe die Auslegung der sieben Bußpsalmen (1517) in: W A , Bd. 1. S. 1 5 4 - 2 2 0 . G. Ebeling, Luther, a.a.O., S. 117.
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denkbar, er betont ihren christologischen Gehalt stärker als die anderen Reformatoren, was sich gegen Ende des Jahrhunderts in einem Streit zwischen reformierten und lutherischen Psalmliedautoren auswirken wird. Von allen Psalmenauslegungen Luthers sind die „Summarien über die Psalmen" 35 (1531) am populärsten geworden: Diese knappen Zusammenfassungen des Sinnes jedes Psalms und die (von Luther allerdings nicht als vollständige und systematische gedachte) Einteilung in fünf Kategorien (Weissage-, Lehr-, Trost-, Bet- und Dankpsalmen) gehen bald in viele protestantische Psalmliedbücher ein. Die Abwendung vom vierfachen Schriftsinn vollziehen auch die übrigen Reformatoren; sie sind eher noch radikaler als Luther, was die historisierende Tendenz angeht. 36 Das Prinzip „sola scriptura" erlangt — außer bei den katholischen Theologen — allgemeine Geltung. 37 Martin Luthers Psalmlieder Luther teilt gegen Ende 1523 in einem Brief an Georg Spalatin seinen Entschluß mit, .deutschsprachige Psalmen für das Volk' zu dichten, und bittet ihn, sich ebenfalls dieser Aufgabe anzunehmen, 38 mit der die Wittenberger Reformatoren wahrscheinlich bereits beschäftigt waren. 39 Der Kommentar der kritischen Ausgabe merkt an, daß diese Entscheidung eine Reaktion auf die Lieder der Täufer gewesen sein dürfte. 40 Luther befürchtete offenbar, daß durch Müntzers deutsche Hymnen die „reine Lehre" beim Volk an Boden verlieren könnte. Wenn er aber vom Vorbild der Kirchenväter und Propheten schreibt und bei Spalatin anfragt, ob nicht dieser vielleicht ein Heman, Assaph oder Iedithun sei (also einer der alten hebräischen Dichter und Tempelsänger), 41 so will er die entstehende Lieddichtung dadurch in der hebräischen und altkirchlichen Tradition begründen. Der Zweck der Lieder wird in einer 35
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M. Luther: Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens. (1531) W A , Bd. 38. Vgl. G. Ebeling, Hermeneutik, a.a.O., Sp. 252. Die Psalmenübersetzung des Schwenckfelder Theologen Adam Reußner beschränkt sich sogar in der Kommentierung ausschließlich auf Schriftzitate, um ihre spirituelle Exegese vorzutragen. Siehe: Adam Reußner: Psalm-Buch/Darinn hundert und Fünffzig Psalmen Davids/Auß dem Hebräischen Grund von Wort zu Wort fleissig verteutscht. [...) Frankfurt 1683. (Neudruck der Ausg. v o n 1568. Vollst. Titel s. Bibliogr.) „Consilium est, exemplo prophetarum & priscorum patrum Ecclesiae psalmos vernáculos condere pro vulgo [...]". Luther, W A , Briefe (WAB) Bd. 3. S. 220. Vgl. den Kommentar des Herausgebers, a.a.O., S. 221. Ebenda. „Itaque tentabo, si tu vel Heman vel Assaph vel Ieditun sis." Ebenda.
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allgemeinen Formulierung mitgeteilt: ,Das Wort Gottes soll auch durch den Gesang unter dem Volke bleiben', 42 die Lieder sollen also neben Lesung und Predigt treten. Luther verwendet die Ausdrücke „psalmus" und „cantilena" teils synonym, zur Bezeichnung deutscher Kirchenlieder, teils meint er mit „psalmus" den Bibelpsalm als Ausgangstext. In dem Brief ist jedoch überhaupt nur die Rede von Psalmliedern, nicht von Hymnen oder freien geistlichen Liedern (entsprechend Eph. 5,19 und Kol. 3,16). In solcher Weise ist auch in der Folgezeit der Name „Psalm" meist für die Psalmparaphrasen verwandt worden, seltener jedoch im übertragenen Sinn für geistliche Lieder schlechthin. Ein Beispiel für die Übertragung eines Psalms in Liedform, wie sie Luther vorschwebte, muß bereits vorgelegen haben, 43 er empfiehlt Spalatin, sich daran zu orientieren. Im übrigen sollen die Lieder ,in der einfachsten und volkstümlichsten Sprache' und dennoch ,fein und angemessen', in ,durchsichtigen Sätzen' geschrieben sein, vor allem aber der Vorlage ,so getreu wie möglich'. 44 Luther fordert also die Beachtung der rhetorischen Grundprinzipien, des aptum und der perspicuitas, er schließt jedoch jede allzu modische poetische Form („aulicas voculas") aus, die vom Inhalt ablenken könnte. Die Lieder sollen gerade dem ungebildeten Volk verständlich sein. Bei aller Texttreue soll Spalatin jedoch beachten, daß der Sinn nicht verloren gehen darf, das heißt, die Psalmlieder sollen nicht nach dem Wortlaut, sondern nach dem christologischen Verständnis gedichtet werden. Damit Spalatin den Sinn der Psalmen richtig erfasse, weist ihn Luther auf seine deutschsprachige Bußpsalmenauslegung hin, die jener im Zweifel zu Rate ziehen soll. Luthers Richtlinien für die (Psalm)lieddichtung — soweit sie in diesem Brief zum Ausdruck kommen — lassen sich also folgendermaßen zusammenfassen: — Treue zum Bibeltext, aber nicht dem Buchstaben nach, sondern nach dem — exegetischen Verständnis, — einfache, volkstümliche Formen, — verständliche (niedere) Stilebene, — angemessene Ausdrucksweise. 42 43
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„[...] Quo verbum dei vel cantu inter populos maneat." Ebenda. Der Kommentar vermutet, daß Luthers Lied „Es soll uns G o t t genädig sein" etwa zur Zeit der Abfassung des Briefes als Einblattdruck erschienen war. A.a.O., S. 221. „Velim autem nouas & aulicas voculas omitti, quo pro captu vulgi quam simplicissima vulgatatissimaque, tarnen munda simul apta verba canerentur, deinde sententia perspicua & psalmis quam proxima redderetur." A.a.O., S. 220.
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Der Spalatin-Brief hat die von Luther erwünschte Wirkung offenbar nicht gezeitigt — der Adressat beteiligte sich nicht an der Lieddichtung des Wittenberger Kreises. Aus dem Dokument wird jedoch hinlänglich deutlich, daß die von Luther angestrebten Lieder nichts mit „persönlichem" Ausdruckswillen zu tun haben. Es ist daher auch nicht sinnvoll, sie an irgendwelche biographischen Stationen des Reformators zu knüpfen und sie von dort her zu beleuchten, wie dies in der älteren Forschung geübt wurde. Vielmehr sind Luthers Lieder in der Perspektive seiner theologischen Absichten entstanden und haben von dort ihre Prägung erhalten. Es ist das Verdienst Gerhard Hahns, eingehend gezeigt zu haben, wie Luthers Lieder auf eine konkrete Funktion hin geschrieben wurden und bis in formale Einzelheiten auf ihren Zweck abgestellt sind, wobei unter Funktion mehr zu verstehen ist, als nur ein bestimmter Ort in der Liturgie. Selbstverständlich gehören die Psalmlieder in ihrer Mehrzahl zu den Texten, aus denen schon bald der deutschsprachige Gottesdienst zusammengestellt werden sollte. Man ordnete nun die Lieder in den bald entstehenden Gesangbüchern bestimmten Kirchenfesten oder bestimmten theologischen Kernsätzen zu. Es kam ihnen somit die Aufgabe zu, der Gemeinde das jeweilige (Heils-)Geschehen verständlich zu machen, die Lesung und die Predigt in einer besonders eindringlichen — durch Musik und Vers gesteigerten — Form zu ergänzen. Doch waren noch fast alle Lieder zunächst als Einblattdrucke in Umlauf gebracht worden und haben auf diesem Wege sicher mehr zur Verbreitung der protestantischen Lehre beigetragen als andere, theoretische Texte. Besonders die fahrenden Handwerksgesellen sorgten in den Städten für die Ausbreitung der Psalmlieder, die so unter den leseunkundigen Bürgern kursierten und gesungen wurden — nicht ohne Sanktionen von weltlicher und geistlicher Obrigkeit herauszufordern. 45 Gegenüber der mittelalterlichen Liturgie, in der dem volkssprachigen Gesang keine liturgische Würde zukam, war der volkssprachige Choral etwas völlig Neues. Zwar gab es auch vor Luther „kirchliche Lieder", Strophen zu verschiedenen Sakramenten und Kirchenfesten. Doch diese hatten im sakramentalen Vollzug einen rein additiven Charakter: Auch ohne den akklamativen Gesang des Volkes hatten die lateinischen 45
Vgl. hierzu den Aufsatz von Inge Mager, die den Spuren der frühen Rezeption von Luthers Psalmliedern in den alten Chroniken und Aufzeichnungen nachgegangen ist und bemerkt: „ E i n Großteil der Anhänger Luthers hat sich in das, was er wollte, nicht hereingedacht, sondern hereingesungen." Inge Mager: Lied und Reformation. Beobachtungen zur reformatorischen Singbewegung in norddeutschen Städten. In: Wolfenbütteler Forschungen Bd. 31. Das protestantische Kirchenlied im 16. und 17. Jahrhundert. H g . v. A. Dürr u. W. Killy. Wiesbaden 1986. S. 2 5 - 3 8 . S. 28.
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Riten ihre sakrale Gültigkeit. 46 Luther dagegen ersetzte die zentralen lateinischen Texte durch deutsche Übertragungen. Das theologische Gewicht war ganz vom materiellen Vollzug (dem „Austeilen" der Sakramente) auf das Evangelium, auf das „Hören der göttlichen Botschaft" verlegt. Wie Hahn richtig betont hat, sind die Kirchenlieder — wie die Einrichtung der deutschen Messe überhaupt — vor allem im Zusammenhang mit der Theologie des Wortes zu verstehen. 47 Wie in dem Brief an Spalatin gibt Luther den Zweck seiner Lieder in den Gesangbuchvorreden als ein „Treiben" und „in Schwang bringen" des Evangeliums an, 48 daher muß er auch besonders bei den alttestamentlichen Liedern darauf sehen, daß die christologische Botschaft nicht dem wortwörtlichen Umschreiben aufgeopfert wird. Wie die Predigt haben die Lieder die Aufgabe, dem einzelnen das „Heil" im Medium der Sprache zu vermitteln, aber sie tun es auf eine besonders prägnante und einprägsame Weise. Luthers eigene Lieddichtung (die in den Gesangbüchern der Folgezeit von den anderen Autoren getrennt abgedruckt wurde) umfaßt Psalmen und andere biblische Paraphrasen, die Übertragung altkirchlicher Hymnen, katechetische Stücke und freie geistliche Lieder. Während die Übertragung der lateinischen Hymnen deren metrische Form aufgreift (paarreimende vierzeilige Strophen aus sieben/achtsilbigen Versen), 49 verwendet Luther für die Psalm- wie für die „freien" Lieder zumeist eine volkstümliche Form, die später als „Reformations-" oder „Lutherstrophe" bezeichnet wurde: zwei gleichgebaute Stollen mit einem Abgesang von drei (fünf) Versen, in denen Vierheber mit männlichem Reim und Dreiheber mit weiblichem Reim abwechseln (Beispiel s.u.). Einen
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Die mittelalterliche Rolle des Gemeindegesanges ist erschöpfend zuletzt in der Dissertation v o n Johannes Janota untersucht worden. Er hat im wesentlichen versucht, die These zu stützen, daß der vernakulare Gemeindegesang nur in den Randbereichen der Liturgie geübt wurde und (nicht ganz so überzeugend) daß ihm kirchenrechtlich auch damals keine liturgische Funktion zukam. Ders.: Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter. München 1968. (Münchener Texte u. Untersuchungen zu dt. Lit. des M A s Bd. 23)
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Vgl. auch neben der Habilschrift den thesenhaften Vortrag. Ders.: Zur Dimension des Neuen an Luthers Kirchenliedern. In JbLH, Bd. 26. (1982) S. 9 6 - 1 0 3 . A.a.O., S. 98. Zwar stehen die Lieder Luthers (wie der Choral des 16. Jahrhunderts überhaupt) noch weitgehend unter dem Zeichen der silbenzählenden Metrik, doch sind bei dem Reformator häufig auch die Wortakzente berücksichtigt und zu alternierenden Zeilen geordnet, so daß man teilweise auch von jambischen oder trochäischen Versen sprechen könnte. In den Poetiken des Barock werden immer wieder Beispiele aus Luthers Kirchenliedern zum Beweis und Exempel angeführt, daß man auch in früherer Zeit die Gesetze der Alternation kannte und anwandte.
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besonderen Akzent trägt die abschließende Waise. 50 Nach W. Stapel sind die Hymnen in „knappe, gedrängt volle Verse gepreßt", die Psalmen dagegen erscheinen in „breiterem klingendem Strom". 5 1 Obwohl die Reformationsstrophe für verschiedene Stoffe Verwendung fand, könnte sich hier schon ein Gespür für die zwei unterschiedlichen literarischen Traditionen ankündigen: Die metrische Formtradition der Römer wird in deutscher Sprache fortgeführt und nachgebildet, die parallelistische „Prosa" der Psalmen in einer unregelmäßigen Strophenform wiedergegeben. Allerdings wird es Luther kaum bewußt um eine poetisch adäquate Gestaltung gegangen sein. Die „bauende" Strophe kam ihm in den freien ebenso wie in den paraphrasierenden Dichtungen entgegen. Der 130. Psalm, das Lied „Aus tieffer not schrey ich zu dyr", sei hier als Beispiel für Luthers Psalmlieder angeführt 5 2 (zum Vergleich wird rechts die Palmenübersetzung von 1524 wiedergegeben). 5 3 In der ersten Strophe füllt noch häufig ein Psalmkolon eine oder zwei Verszeilen. Aus tieffer not schrey ich zu dyr, Herr Gott erhör meyn ruffen. Deyn gnedig oren ker zu myr und meyner bitt sie offen. Denn so du willt das sehen an, was sund und unrecht ist gethan, wer kan Herr für dyr bleyben?
1 AVs der tieffen, Ruffe ich H E R R zu dyr 2 H E R R höre meyne stym, Las deyne oren mercken auff die stym meines flehens. 3 So du willt acht haben auff missethat, H E R R wer wird bestehen?
Lediglich der dritte Vers ist etwas ausführlicher wiedergegeben, indem die geminatio „Sünd und Unrecht" für „Missetat" gesetzt wurde. In der zweiten Strophe dagegen wurden zwei Psalmkola zu einer ganzen Liedstrophe erweitert. Bey dyr gillt nichts den gnad und gonst die sunden zu vergeben. Es ist doch unser thun umb sonst auch ynn dem besten leben. Für dyr niemant sich rhumen kan, des mus dich furchten yderman Und deyner gnaden leben.
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Denn bey dyr ist Vergebung,
Das man dich furchte.
Der biblische Parallelismus ist hier aufgelöst. Allerdings entsteht dadurch, daß das Enjambement vermieden wird, eine neue parallele Form Eine Ausnahme ist „Wol dem der ynn Gottes furcht steht" (Ps 128); es besteht aus paarreimenden Achtsilblern in vierzeiligen Strophen. Siehe WA, Bd. 35. S. 437f. Siehe Wilhelm Stapel: Luthers Lieder und Gedichte. Mit Einleitung und Erläuterung. Stuttgart 1950. S. 178. Wir verwenden hier die fünfstrophige Fassung, die wahrscheinlich die authentische Version ist und vermutlich Ende 1523 entstand, also etwa gleichzeitig mit dem Brief an Spalatin. Vgl. WA, Bd. 419ff. und 97ff. Siehe DB, Bd. 10,1. S. 540.
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von regelmäßiger Silbenzahl, die im Gesang unterstrichen wird, da die ersten beiden Stollen auf die gleiche Melodie gesungen werden. Wie sich schon an diesen beiden Strophen zeigt, ist das quantitative Verhältnis von Bibel- und Liedtext sehr unterschiedlich: Eine Strophe kann bis zu drei Psalmverse enthalten. Der Grund für diese Ungleichmäßigkeit liegt nicht in der Länge der Psalmverse, sondern in ihrem Inhalt. Die Stellen, die Luther für besonders erklärungsbedürftig hält, werden ausführlicher wiedergegeeben als die anderen. So enthält die zweite Strophe einen Exkurs zur Rechtfertigungslehre, der sich um die Stichworte des Psalmverses rankt. Doch tritt diese zweite Strophe dadurch nicht in formalen Gegensatz zur ersten, denn auch dort sind die Veränderungen am Ausgangstext aus dem exegetischen Verständnis des Psalms heraus entstanden. Die Konkreta „Tiefe" und „hören" wurden im Lied zu „tiefer N o t " und „erhören"; das hinzugefügte Epitheton „gnädig" steht bereits im Zusammenhang mit der im folgenden entfalteten Lehre. Anthropomorphismen wie „wende deine Ohren zu mir" wurden dagegen stehen gelassen und das Bild sogar um der Anschaulichkeit willen weiter ausgemalt. Die dritte Strophe entspricht wieder einem einzigen Psalmvers und fahrt in dem exegetischen Kommentar fort. Trotzdem vollzieht das Lied wie der Psalm den Wechsel in der Redeperspektive vom bisherigen „du" zum „er". Darumb auff Gott will hoffen ich, auff meyn verdienst nicht bawen, Auff yhn meyn hertz sol lassen sich und seyner guete trawen, Die myr zu sagt seyn werdes wort, das ist meyn trost und trewer hört, des will ich allzeyt harren.
5
Ich harre des H E R R N ,
meyne seele harret,
Und ich warte auff seyn wort.
Hier ist der konkrete Inhalt des Psalms, das Warten des Klagenden auf eine Antwort, ganz eingegangen in den auslegenden Sinnzusammenhang des Liedes: Erlösung wird nur gewährt durch die Gnade, Gnade findet man nur im Glauben, und der Glaube wird vermittelt und gestützt durch das Wort. Das „Verdienst" des Menschen, so fügt Luther gegen die katholische Rechtfertigungslehre hinzu, ist kein Mittel, um vor Gott zu bestehen. Während der Psalmist noch auf eine tatsächliche Erwiderung und eine Erhörung wartet, weiß sich der Liedsänger bereits geborgen in dem „Wort", das mit dem Evangelium an alle Menschen ergangen ist. Der Betende braucht nicht mehr auf eine ihn persönlich ansprechende Offenbarung zu warten, er findet Trost in der Bibel, und dieser Trost läßt ihn „allzeyt harren". Aus dem Warten auf göttliche Rettung ist ein Ausharren in der Not geworden. In diesem Sinne fahren die vierte und fünfte Strophe fort:
Psalmen unter dem Einfluß der Reformation Und ob es wert bis ynn die nacht und widder an den morgen, Doch sol meyn hertz an Gottes macht verzweyfeln nicht noch sorgen. So thu Israel rechter art, der aus dem geyst erzeuget ward Und seynes Gotts erharre. Ob bey uns ist der sunden viel, bey G o t t ist viel mehr gnaden, seyn hand zu helffen hat keyn ziel, wie gros auch sey der schaden. Er ist alleyn der gute hirt, der Israel erlosen wirt Aus seynen sunden allen. 54
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6Meyne
seele wartet auff den HERRN, Von eyner morgen wache bis zur andern. 'Israel warte auff den HERRN,
Denn guete ist bey dem HERRN, vnd viel erlösunge bey yhm.
8Vnd
er wird Israel erlösen, Aus aller seyner missethat.
Ist es im Psalm noch die konkrete Spanne des Wartens, die anschaulich dargestellt wird (möglicherweise ein ritueller, bis zum Sonnenaufgang währender Aufenthalt im Heiligtum), so haben „Tag" und „Nacht" in der Paraphrase nur mehr eine bildliche Bedeutung: Dem Warten des Glaubenden sind keine Fristen mehr gesetzt; vielmehr bewährt er sich, indem er ausharrt und vertraut, auch wenn „Gottes Macht" keine direkte Antwort mehr gibt. Der Abgesang der vierten Strophe übernimmt die imperativische Wendung und den Namen aus dem Psalmvers, aber die Bedeutung wird präzisiert. Denn das „Israel" des „Alten Bundes" ist nur die Figur — die Erfüllung ist Christus und der geistgezeugte „Neue Bund". Luther hat den Namen des Bibeltextes nicht einfach ersetzt, sondern den Wortlaut und die christliche Bedeutung gleichermaßen gegeben — wie er es in seinem Brief gefordert hatte. Die letzte Strophe faßt noch einmal die wichtigsten Aussagen des Liedes zusammen; aber auch sie braucht vom Verlauf des Ausgangstextes nicht abzuweichen, der ebenfalls in eine Prophezeiung mündet. Luther hat hier das beliebte Motiv des „Hirten" aus dem 23. Psalm eingeflochten, das auch im Neuen Testament als Bezeichnung für Christus verwendet wird. So ist eine Anspielung auf den christologischen Sinn gegeben, ohne den Namen des Erlösers direkt zu nennen und damit etwa das bisher geübte Maß an exegetischem Kommentar zu überschreiten. Nachdem in der vorangehenden Strophe schon die Bedeutung von „Israel" festgelegt wurde, kann nun die Weissagung des 8. Verses ohne weitere Erklärung bleiben, denn der christliche Leser versteht sie als eine Verkündigung — nicht nur (in der Figur) für die
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Hier folgen in manchen Gesangbüchern noch ein bis zwei Strophen, die dem Gloria der lateinischen Liturgie entsprechen, mit dem Psalm aber nichts zu tun haben.
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Juden — sondern auch für die christliche Kirche. Am Schluß ist der Text des Liedes wieder sehr eng an den Psalm herangerückt und unterstreicht damit, daß es dem Dichter nicht um freie Ausgestaltung gegangen ist, sondern um eine erläuternde Nachdichtung. Der 130. Psalm hat als sechster Bußpsalm („De profundis clamavi") eine große Bedeutung in der katholischen Bußliturgie. Es war schon daher naheliegend, daß Luther gerade in diesem Psalmlied seine theologische Differenz zur hergebrachten Rechtfertigungslehre deutlich machte. (Als Reaktion darauf erschien in einem katholischen Gesangbuch (1537) ein sehr ähnlich formuliertes Psalmlied, das den römischen Standpunkt betont.) 55 Aber auch alle anderen Psalmlieder Luthers geben sein exegetisches Verständnis des Bibeltextes wieder, auch wenn sie weniger ausführlich kommentieren wie „Es sprich' der unweysen mund wol" (Ps 14), „Wer Gott nicht mit uns diese zeyt" (Ps 124) und „Wol dem, der ynn Gottes furcht steht" (Ps 128). 56 Schon unser Beispiel zeigt, wie ungleichmäßig das quantitative Verhältnis von Lied- und Bibeltext von einer Strophe zur anderen gestaltet wird. Ebenso differieren die Psalmlieder untereinander in der „Ausweitung" der Vorlage, ohne daß dadurch verschiedene Arten von Psalmennachdichtung angezeigt würden. Wenn in der Forschung von teils „enger Bindung an den Text" und teils „freier Paraphrase" in Luthers Psalmliedern geschrieben wurde, so ist das — wenn nicht falsch — so doch zumindest mißverständlich. Auch die enge Anlehnung an den Ausgangstext geht vom christologischen Verständnis aus, und die „freie" Paraphrase ist nicht frei, sondern an das exegetisch Notwendige gebunden. Sogar das zum eigentlichen Reformationslied der Lutheraner gewordene „Ein feste Burg ist unser Gott", 57 das meist als ganz persönliche Schöpfung Luthers bezeichnet wurde, läßt sich in einem psalmenexegetischen Kontext verstehen. Max Doerne nannte es zutreffend eine „christlich-eschatologische Paraphrase" auf Psalm 46,2—8. 58 Aus dem Dankpsalm der Israeliten wurde ein Loblied der christlichen Gemeinde, die von ihrem Gott „widder das wüten aller Teuffei, der Rottengeister, der weit, des fleisches, der sunden des todes etc." erhalten wird. 59 Im Unterschied zu den andern Psalmliedern Luthers scheinen hier zunächst keine direkten Entsprechungen zum Ausgangstext zu bestehen. Zieht man jedoch seine früheste Psalmenvorlesung heran, so zeigt sich, daß 55 56 57 58 59
Vgl. WA, Bd. 35. S. 105f. A.a.O., S. 441ff.; S. 440f.; S. 437f. WA, Bd. 35. S. 455ff. Zur Entstehungszeit siehe S. 186ff. Doerne, a.a.O., Sp. 1459. Kommentar zu diesem Psalm in den Summarien, a.a.O., WA, Bd. 38. S. 35.
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das Lied trotz seiner späten Entstehung (wahrscheinlich um 1528) noch Motive aus der mittelalterlichen Auslegung enthält, die Luther in dieser Zeit als Mittel der Hermeneutik längst verwarf. Wird das „Wüten des Meeres" (V. 3.4) in der Vorlesung als das „Toben der Juden und Heiden" gegen die missionierenden Apostel verstanden, 60 welche wie die „Berge" im Psalm vom „Meer" bedroht werden, so ist es im Psalmlied der „Fürst dieser Welt", der die neuen Apostel des Evangeliums zu vernichten droht. Offenbar hat die allegorische Erklärung noch bis in diese späte Zeit nachgewirkt und den Inhalt des Psalmliedes bestimmt. Die „Brünnlein" des Psalms finden ihre Entsprechung im „Wort", ganz wie in der entsprechenden Glosse von 1513 und der Stelle der Summarien. Auch in diesem Lied hat sich Luther nicht „frei" dichtend vom Ausgangstext gelöst, sondern den Liedtext mittels aktualisierend-ausdeutender Umschreibung aus dem Wortlaut entwickelt. Es war ihm allerdings hier nicht um eine Paraphrase des ganzen Psalms zu tun, sondern nur um einen Ausschnitt, 61 und solche (von nur wenigen Versen ausgehenden) Dichtungen wurden allgemein weniger strikt am Ausgangstext orientiert, (s.u.) Die Unterschiede der alttestamentlichen Psalmengattungen sind in Luthers Nachdichtungen nicht mehr deutlich auszumachen. Zwar scheinen seine eigenen Kategorien aus den (allerdings später erschienen) Summarien oft der jeweiligen alttestamentlichen Gattung zu entsprechen, 62 da aber alle Lieder mit der Absicht der Lehrverbreitung geschrieben wurden, verwischt sich der Gattungscharakter in dem allgemeinen, belehrenden Grundton exegetischer Erweiterung des Textes, obwohl die Modi, Redeperspektiven und Sprachgebärden fast überall nachgeformt wurden. Diese stehen nun nicht mehr im Kontext eines immer neu angesponnenen Dialogs mit dem Gott, dessen Antwort den heilen Weltzustand wiederherstellen kann. Die Klage erstrebt nicht mehr die Aufhebung der Not, denn das Leiden in der Welt gehört zur Nachfolge Christi. Die Antwort Gottes an den klagenden Beter besteht in der Verheißung der Evangelien und muß, um wirksam zu werden, vom Christen im beständigen Glauben aufgenommen werden. 60 61
62
Vgl. W A , Bd. 3. S. 265. Es ist allerdings auch zu bedenken, daß keine der anderen Liedvorlagen mehr als neun Verse hat, Ps 46 dagegen zwölf. Außerdem stellt der achte Vers eine formale Zäsur dar, da er refrainartig am Schluß des Psalms wiederholt wird. Die letzten Verse wurden möglicherweise auch deshalb nicht paraphrasiert, weil der Autor nicht noch konkreter als in den vorangehenden Strophen die Vision von dem eintretenden Weltgericht heraufbeschwören und damit in die Nähe „schwärmerischen" Gedankenguts geraten wollte. Die beiden Klagelieder Ps 12 und 130 werden z.B. v o n Luther als „Bet Psalmen" verstanden. Vgl. W A , Bd. 38. S. 18, 21 u. 60.
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Der Zusammenhang von ausharrendem Leiden und Offenbarungswort wird besonders deutlich in dem Lied „Ach Gott von hymel sich dareyn" (Ps 12). 63 In der fünften Strophe heißt es: Das sylber durchs feur sieben mal bewert wird lautter funden, A m Gottes w o r t man wartten sal des gleichen alle stunden. Es will durchs creutz beweret seyn, Da wirt seyn krafft erkand und scheyn und leucht starck ynn die lande. 6 4
Die rede des HERRN sind lautter, wie durchfewrt sylber ym erdenem tigel, bewerd sieben mal.
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Im Psalm bekräftigt und veranschaulicht der Vergleich mit dem Silber die Verläßlichkeit der Worte des Bundesgottes. Im Lied wird der Vergleich zu einer Allegorie auf die Passion, denn das Material Erde und das siebenfache Wiederholen des Läuterungsvorgangs stehen für irdisches Leben und irdische Zeit (7 Tage). Der Christ ist der Tiegel, sein Leiden das Feuer, und Gottes Wort (die reine Lehre) ist das Silber. So heißt es in den Summarien zu diesem Psalm: Sondern wie silber ym feur geleutert wird, also müssen sie auch drüber leiden und dadurch jhe lauterer werden, und die warheit deste klerlicher erkennen. 6 5
So ist die Klage über das Leiden eine uneigentliche geworden: Eine Änderung wird nicht mehr „von oben" erhofft, sondern muß sich „im eigenen Herzen" vollziehen. Die Klage gegen die Feinde wird dagegen erfreut aufgegriffen. In der dritten Strophe des eben zitierten Liedes wird gefordert: Gott wollt ausrotten alle lar, die falschen scheyn uns leren! Da zu yhr zung stoltz offenbar
Die gottlosen Verleumder des Gerechten und die äußeren Feinde Israels waren schon in den altkirchlichen Auseinandersetzungen als Figur der Ketzer und Heiden aufgefaßt worden. Nunmehr sahen die feindlichen Lager der Reformationszeit in ihrem jeweiligen Gegner die Erfüllung des Feindtypus'. Für die Protestanten wurde Rom zu Babylon; seine 63
64 65
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Gedruckt wurde das Lied 1524, aber wahrscheinlich schon früher mündlich verbreitet. Vgl. W A , Bd. 35. S. 109f. A.a.O., S. 4 1 6 f . W A , Bd. 38. S. 22. Noch deutlicher wird dies in der Nachschrift v o n Luthers Auslegung der ersten fünfundzwanzig Psalmen auf der Feste K o b u r g (1530): „,Sicut argentum probatum in vasis fictilibus.' Vasa terrae seu terrena et fictilia vasa nos sumus, qui hunc thesaurum portamus. In uns exercet unser herr Gott das verbum: je mehr es angefochten wird, je lauterer und reiner es wird." W A , Bd. 3 1 , 1 . S. 305. W A , Bd. 35. S. 416.
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Priester und die „Schwarmgeister" vertraten die „falsche Lehre", um deren Ausrottung Gott angefleht wurde. Die exzessiven Feindklagen in den Psalmen, die heutigen christlichen Ohren so befremdlich klingen, paßten noch sehr gut in die dualistische Weltsicht der Reformatoren, die allenthalben das Wirken des „Bösen" witterten, sich selbst aber auf der „richtigen Seite" wähnten. Ein Charakteristikum haben die Lutherschen Kirchenlieder mit den Psalmen gemein: das Formularische. Die exegetische Konkretisierung des Inhaltes ist immer nur so andeutungshaft durchgeführt, daß den Zeitgenossen die gemeinten Bezüge klar wurden. Die Namen von Personen und Institutionen, exakte Zeitangaben und dergleichen fehlen. So konnten die Texte jahrhundertelang in der evangelischen Kirche gesungen und dabei mit immer neuem konkretem Zeitverständnis erfüllt werden. Es war sogar mit nur geringfügigen Umformulierungen möglich, Luthers Lied auf Ps 12 zu einer katholischen Kontrafaktur wider die Protestanten zu wenden.
Psalmlieder von Burkard Waldis, Nikolaus Seinecker und Ludwig Helmbold Wir haben Luthers Psalmlieder aus zwei Gründen an den Anfang der Betrachtung gerückt: Sie gehören mit zu den ersten Dichtungen dieser Art und haben als Exempla für die im Spalatinbrief formulierten Regeln Einfluß auf die gesamte Gattung ausgeübt, nicht zuletzt kraft Luthers Autorität. 67 Auf der anderen Seite ließ sich an Luthers Liedern am deutlichsten zeigen, wie sich das christliche (evangelische) Verständnis der Psalmen in der Paraphrase niederschlägt. Die Werke der anderen Dichter sollen nun aber nicht an denen des Reformators gemessen werden, um etwa ihre Qualität an einer durch Luther aufgestellten Norm zu überprüfen. Vielmehr wird zu zeigen sein, welche der bislang ermittelten Prinzipien allgemein beachtet wurden und welcher Art die Abweichungen und Neuerungen der anderen Psalmendichter sind. Um die ungeheure Masse von Psalmliedern und -gedichten der Reformationszeit ordnend beschreiben zu können, wurden von der
67
Noch die „Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubt-Sprache" (1663) des Justus Georg Schottel zitiert den Brief fast vollständig als maßgebliche Anweisung zur geistlichen Dichtung. S. den fotomech. Neudr., hg. v. Wolfgang Hecht, Tübingen 1967. S. 1258.
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germanistischen Forschung meist drei Kriterien gewählt (die sich teilweise auch überlagerten): 1. die literarische Qualität der Texte und die dichterische „Persönlichkeit" des Autors (hauptsächlich noch bei H. Lerche), 68 2. die zeitliche Unterscheidung von Liederdichtern der „ersten" und „zweiten" Generation, die einen qualitativen Verfall parallel zur orthodoxen Erstarrung der Reformation impliziert (so z.B. A. Hübner), 69 3. Differenzen aufgrund der verschiedenartigen Psalmenauslegung in den konfessionellen Lagern (betont besonders bei P. Fricke). 70 A. Reich hat darüber hinaus auf die Gruppe der „wortgetreuen Psalterbearbeitungen" als eine besondere Textsorte aufmerksam gemacht, die bis ins 17. Jahrhundert hinein verbreitet war. 71 Für die Barockzeit unterscheidet sie vor allem Autoren, die vorrangig von poetischen bzw. theologischen Intentionen geleitet werden. 72 Daß die Psalmenparaphrase nicht aus subjektivem Erleben fließt, zeigte sich bereits an Luther, der wohl am vehementesten für diese These reklamiert worden ist. 73 Zu den „dichterischen Persönlichkeiten, deren stark ausgeprägtes Temperament Spuren persönlichsten Erlebnis [!] in ihren Dichtungen hinterlassen hatte", 74 zählt H. Lerche auch Burkard Waldis, Ludwig Helmbold, Ambrosius und Thomas Blaurer, Nikolaus Seinecker und andere. 75 Von diesen Autoren rechtfertigt die Annahme, persönliches Erleben sei in die Dichtung eingegangen, noch am ehesten Burkard Waldis (1495 — 1557), der den Großteil seiner Psalmlieder in einer langjährigen Kerkerhaft dichtete (zwischen 1536 und 1540). Der Psalter Waldis' wurde erst im Jahre 1553 vervollständigt gedruckt, es dürfte mithin schwerfallen, einzelne Lieder direkt dem Eindruck der Haft zuzuschreiben. Wir wollen eines untersuchen, dessen biblisches Vorbild als Einzelklage wohl geeigneten Anlaß zu einer „individuellen" Behandlung hätte geben können. Der Text der Lutherschen Psalmenübersetzung von 1545 ist wieder zum Vergleich neben die Paraphrase gerückt. 76 68 69 70 71 72 73
74 75 76
Vgl. H. Lerche, a.a.O., S. 43ff. Vgl. A. Hübner, a.a.O., S. 285. Vgl. P. Fricke, a.a.O., S.6ff. Vgl. A. Reich, a.a.O., S. 16ff. A.a.O., S. 281 ff. und s. 304ff. Es kann daher auch keine Rede davon sein, daß diese Lieder „als für den Kultus ungeeignet gehalten wurden", wie H. Lerche meint. Ders., a.a.O., S. 44. A.a.O., S. 58. Vgl. a.a.O., S. 43ff. Diese (endgültige) Version verwenden wir auch bei den weiteren Textbeispielen.
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Psalm XIII. Vsquequo domine.
XIII.
Gebetspsalm wieder schwermütigkeyt des geists, daß Gott trösten vnd helffen wolle.
' Ein Psalm Dauids, vor zu singen.
ACh, Herr, wie lang wiltu ietz mein so gar vnd gantz vergessen? Verbirgst das fröhlich antlitz dein, weil mich vnfal besessen? Wie lang sol sich ängsten teglich mein seel vnd hertz verschmachten? Wie lang sol doch der feind mir nach stellen vnd gar verachten vnd vber mich erheben?
2 HERR,
2 Ach, HERR, schaw doch auff mein elend, wölst mein gebet erhören, Dein gnedig ohren zu mir wend, dein antlitz zu mir keren, Mein angesicht laß trawren nicht vnd halt mein äugen offen. Daß mich die not nit senk inn todt, für leyd nit werd entschloffen, HERR, schaff, daß ich mög leben.
4
3 Ach, hilff mir, HERR, machs nit zu lang daß meine feind nit bochen, Sprechen, wie wirt jm ietz so bang! wir haben vns gerochen.' Wann ich on sig darnider lig, als hetstu mein vergessen, Dann werden sie jmmer vnd ie hoffertig vnd vermessen sprechen, jn sei gelungen.
5 Das
4 Ich aber hoff auff deine gnad vnd weyß, du hilffest gerne. Mein hertz sich des gefrewet hat, dein trost ist mir nit ferne, Darumb sol dir all zeit von mir so lang ich leb auff erden, Weil deine güt wol an mir thuot, dein ehr verbreytet werden vnd ewig lob gesungen.
6 ICh
wie lang wiltu mein so gar vergessen? Wie lange verbirgestu dein Antlitz für mir? 3 Wie lange sol ich sorgen in meiner Seele? vnd mich engsten in meinem hertzen teglich? Wie lange sol sich mein Feind vber mich erheben? SChaw doch vnd erhöre mich, HERR, mein Gott Erleuchte meine äugen, 77 das ich nicht im Tode entschlaffe.
nicht mein Feind rhüme,
Er sey mein mechtig worden,
Vnd meine Widersacher sich nicht freuen das ich darniderliege. hoffe aber dar auff, das du so gnedig bist, Mein hertz frewet sich, das du so gerne hilffest. Ich wil dem HERRN singen,
Das er so wol an mir thut.
Luthers Randglosse zu ,Augen': „Mach mir das angesicht frölich." A.a.O..
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Der Titel des Liedes zeigt an, daß der Psalm im Sinne Luthers als Gebet gegen die Schwermut, nicht gegen materielle Not verstanden wurde. 78 Die ersten drei Zeilen sind noch nahezu wörtlich aus Luthers Prosa übernommen. Der „Unfall" ist keine zufällige Notsituation, sondern die Anfechtung, die Sünde, und entstammt dem Bereich des Bösen. 79 Daher ist in der ersten Strophe das Possessivpronomen bei „feind" ausgelassen, denn die Nachstellungen kommen nicht von menschlichen Feinden, persönlichen Gegnern, sondern von dem „Feind" schlechthin, dem Erbfeind. Auf dieses geistliche Elend der Anfechtung zu schauen, bittet der Beter in der zweiten Strophe seinen Gott und es durch Zuwendung aufzuheben. Der alttestamentliche Sänger verlangte mit der „Erleuchtung der Augen" eine Theophanie, die als Gottesurteil die Anklage seiner Feinde zunichte machen würde, während es im Lied nur noch um das Abwenden des Gemütszustandes und um Wachsamkeit („halt meine Augen offen") gegen teuflische Versuchung geht. 80 Behielte diese die Oberhand, so wäre der Beter „in den Tod gesenkt", in einen spirituellen Tod, der sich auf dieses Leben wie auch auf das „Leben nach dem Tode" erstrecken würde. 81 Obwohl Waldis hier nicht ausdrücklich von geistlichem Leben und Tod spricht, scheint uns das Ende der zweiten Strophe auf diesen Sinn gerichtet zu sein. Eine Predigt Luthers aus dem Jahre 1533 zeigt übrigens, daß man sich den Sieg des Bösen, den geistlichen Tod, durchaus als Ursache des körperlichen Ablebens vorzustellen vermochte. 82
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in den Summarien heißt es zu Ps 13: „[...] ein Betpsalm wider die Schwermut des Geistes [...]". W A , Bd. 38. S. 22. Das Grimmsche Wörterbuch führt zu „Unfall" eine Stelle aus Luthers Werken an (WA, Bd. 23. S. 402), w o er schreibt:" Ich habe mir lengest furgenommen [...] zu schreiben [...] trost widder den vnfal, so euch der satan zugefugt hat, durch den mord [...] an dem magister [...] Georgen. Deutsches Wörterbuch v. J. und W. Grimm. Bearbeitet v. K . Euling. Bd. 11,111. Leipzig 1936. Sp. 524. Auch für Luther ist die Schwermut eine Anfechtung: (Fortsetzung der Summarie zu Ps 13) „welches zuweilen v o m Teufel selbst, zuweilen auch von Menschen kommt, die wider uns handeln mit bösen Tücken und Praktiken [...]". A.a.O. In der Auslegung der ersten 25 Psalmen (erst 1559 gedruckt) heißt es: „Dieser Psalm handelt von persönlicher Anfechtung. Er ist gerichtet gegen den Geist der Traurigkeit, und dies ist eine sehr große Anfechtung." W A , Bd. 3 1 , 1 . S. 306. „Die Anfechtung macht nämlich einen Menschen ganz schläfrig und faul [...]." W A , Bd. 31,1. S. 307. Vgl. Luthers „Operationes in psalmos" (1519): „[...] d.h. daß ich nicht sterbe und im ewigen Tode bleibe." W A , Bd. 5. S. 389. „Schon manche sind so im Bett gestorben, wenn der Teufel sie auf seinen Platz gebracht hat." W A , Bd. 37. S. 187.
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In der dritten Strophe wird von „Feinden" und „Widersachern" im Plural gesprochen — entsprechend dem Plural des Psalmverses bei „Widersacher". Das ist kein Widerspruch zu dem Verständnis von „Feind" als Satan. Auch Luther hatte hier ein Nebeneinander von Teufel und Menschen angenommen. Zudem ist die Dämonenfurcht der Menschen des 16. Jahrhunderts nahezu ein Gemeinplatz, die Widersacher könnten also auch das Gefolge Satans darstellen. Plausibler ist aber noch die Annahme, mit den „Feinden" seien Papisten und Ketzer gemeint, diejenigen nämlich, die alle sich zum „wahren Wort" Haltenden verlästern und verfolgen. Diesen Feinden wäre die Traurigkeit des Beters schon Sieg und Rache, da sie als Zeichen für dessen Gottesferne angesehen werden müßte. Folglich ist ihre Niederlage denn auch dadurch besiegelt, daß der Beter in der letzten Strophe — wie die Psalmvorlage im 6. Vers — sich zur Hoffnung auf Gottes Gnade und zum Lobversprechen durchringt. Die Erweiterungen des Psalmtextes sind in diesem Liede Waldis' weit geringer als in dem oben angeführten Beispiel Luthers. Sie lassen sich aber ebenfalls als exegetische Erläuterung hinreichend erklären und enthalten keinerlei Anhaltspunkte für eine „subjektive Einfühlung". Neben der Lutherschen Prosaübersetzung des Psalters haben dem Verfasser zumindest die Summarien vorgelegen, was ihm an Auslegungen sonst noch bekannt war, als er das Lied schrieb, ist im einzelnen schwer auszumachen. 83 Im Unterschied zu Luthers Psalmliedern ist die exegetische Erläuterung hier so gering gehalten, daß der Gebets- und Klagecharakter noch sehr deutlich ist. Es scheint Waldis speziell bei den Bet-, Trost-, und Dankpsalmen darum gegangen zu sein, die sinnliche Sprache und die dialogische Kohärenz der Vorlagen zu erhalten, 84 und nicht in zu ausführlichen „lehrhaften" Exkursen zu verwischen, was er bei den Liedern auf „Weissagungspsalmen" durchaus tat. 85 Allerdings ist diese „Regel" nicht allzu schematisch befolgt worden, wie ja auch Luther seine Unterscheidung der Psalmenarten nur unter Vorbehalt angegeben hatte. Die christologischen und aktualisierenden
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Waldis immatrikulierte sich 1541 in Wittenberg und wurde 1 5 4 4 evangelischer Pfarrer, war aber schon seit etwa 1524 „Überzeugter Anhänger der Glaubenslehre Luthers". Vgl. Adalbert Eischenbroich (Hg): Deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts. 2 Bde. München 1981. Bd. 2. S. 1213. Zur Biographie von B. Waldis vgl. auch die Angaben bei A . Reich, a.a.O., S. 34. Schon f ü r die erste Psalmparaphrase (auf den Ps 127) hatte Waldis den Anstoß durch eine Auslegung Luthers bekommen. Vgl. M. Horn, a.a.O., S. 25.
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Beispiele sind die Lieder auf die Ps 103; 116; 121; 126; 142. Vgl. W K , Bd. 3. Nr. 774; 776; 779; 781; 786. Beispiele sind Ps 93 und 98. A.a.O., Nr. 772 und 773.
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Hinweise fehlen in unserem Beispiel. Sie sind in Waldis' Psalter jedoch nicht seltener anzutreffen als bei Luther. Besonders an den Stellen, deren Literalsinn den Christen des 16. Jahrhunderts unverständlich gewesen wäre (etwa den Gewittertheophanien) und die als Prophezeiung Christi galten, findet sich auch bei Waldis die auslegende Nachdichtung, ebenso überall dort, wo sich kontrovers-theologische Erläuterungen der lutherischen Rechtfertigungslehre und Worttheologie anboten. Die Psalmlieder Waldis' haben sich das Lob der Germanisten besonders dadurch erworben, daß sie verhältnismäßig wenig Tonbeugungen aufweisen, also weitgehend alternierend gelesen werden können. 86 In prosodischer Hinsicht sind die Psalmlieder Waldis' also „fortschrittlich"; auch eine große Anzahl von verschiedenen Strophentypen und Melodien läßt den Psalter poetisch anspruchsvoll erscheinen. 87 In der Stilebene und der einfachen Syntax schließt er sich jedoch an Luthers Verständlichkeitsgebot an. Die Nähe zum Bibeltext ist ebenso gewahrt wie die Beachtung des christlichen Sinns. Durch affektive Verstärkungen (wie das dreimalige „ach" in unserem Beispiel) hat Waldis seine Lieder dem Gebrauch durch einen Betenden ebenso anbequemt, wie er sie durch das Anhängen von doxologischen Schlußstrophen für den Gemeindegesang qualifizierte. Als wesentlichsten Unterschied zum Reformator bezeichnet A. Reich die bei Waldis veränderte Zielgruppe: Waldis' Lieder wenden sich „nicht mehr an die gesamte reformbedürftige Christenheit, sondern an die etablierten evangelischen Gemeinden, die sich gegen die politischen und ideologischen Angriffe der römischkatholischen Kirche behaupten müssen". 88 Ansonsten aber hat kaum ein Psalmliedautor konsequenter im Sinne Luthers paraphrasiert. Das Psalmlied des Burkart Waldis vereinigt in sich die Funktionen Schriftlesung, Predigt bzw. Schriftauslegung, Hymnus und Gebet und kommt so in beispielhafter Weise der Aufforderung Luthers nach, ,das heylige Evangelion, so itzt von Gottes gnaden widder auffgangen ist, zu treyben vnd ynn schwanck zu bringen'. 89
Wie Waldis war Nikolaus Seinecker evangelisch-lutherischer Geistlicher, und zwar in der Hochburg der Orthodoxie, Leipzig. Seine Psalm86
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Vgl. M. Horn, a.a.O., S. 53. P. Fricke hat herausgehoben, daß Waldis an der Poetik Paul Rebhuhns orientiert war und ihn daher als literarisch ambitionierten Autor an die Seite von Schede und Lobwasser gestellt. Vgl. P. Fricke, a.a.O., S. 207. Dagegen ist jedoch einzuwenden, daß die Intention Waldis' deutlich im theologisch-gemeindebezogenen Bereich liegt, daß auch sein Konzept der Paraphrase von Luther ausgeht, und nicht — wie Schede und Lobwasser — von Calvins historisch-wörtlichem Psalmenverständnis. Vgl. A. Reich, a.a.O., S. 33. A.a.O., S. 64. A.a.O., S. 65.
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lieder erschienen in verschiedenen Büchern in der zweiten Jahrhunderthälfte. 90 Er zählt deshalb eigentlich zur „zweiten Generation", wird aber — wie erwähnt — meist im Zusammenhang mit Luther und Waldis genannt. Erich Trunz hebt ihn als Beispiel für „freie Ausgestaltung" in der Nachfolge von „Ein feste Burg" heraus.91 Das von Trunz zitierte Lied (auf den Ps 23) beginnt so: Der Mäye/der Mäye bringt vns der Blümlein viel/ich trag ein frey gemüte/mein Hertz ist frisch und still/mein Hertz ist frisch vnd still. 92
Diese erste Strophe erweckt in der Tat den Anschein, als handele es sich hier um eine ganz freie Nachdichtung des bekannten Psalms („Der Herr ist mein Hirte"). Etwas Vergleichbares findet sich weder bei Seinecker selbst noch sonst in Psalmliedern des 16. Jahrhunderts. Beachtet man aber, daß der „Ton" (Melodie), auf den dieser Psalm zu singen ist, ebenfalls mit „Der Mäye, der Mäye" angegeben wurde, 93 muß man schließen, daß Seinecker sowohl die Melodie als auch die erste Strophe eines Volksliedes94 übernommen hat, um seine Psalmparaphrase einzuleiten. Die zweite Strophe fährt nämlich weit weniger „frei" in der bekannten Weise christologischer Nachdichtung fort: Christus der wäre GOttes Sohn ist jetzt mein Trewer Hirt. Ich war ein armes Scheflein/in Sünden gar verirrt/in Sünden gar verirrt.
Ungewöhnlich ist an dieser Paraphrase allenfalls die Vereinigung von einem deutschen Maienlied mit den bukolischen Motiven dieses Vertrauenspsalms.95 Das Anfügen von Strophen an die eigentliche Para90
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Das erste erschien (nach WK, Bd. 4. S. 212) 1563. Wackernagel nennt auch einen Gesamtpsalter, der in zwei Ausgaben (1572 u. 1578 in Leipzig) herausgekommen ist. Siehe WK, Bd. 3. S. 211. E. Trunz, Nachdichtungen, a.a.O., S. 368. Nikolaus Seinecker: Christliche Psalmen/Lieder und Kirchengesenge [...]. Leipzig 1587. S. 26f. (Vollst. Titel s. Bibliogr.) Die meisten Gesang- und Psalmliedbücher des 16. und 17. Jahrhunderts enthalten keine gedruckten Noten (was drucktechnisch aufwendig und teuer war), sondern Angaben der „Töne": Die Anfangszeile eines eingebürgerten und bekannten Liedes — profan oder geistlich — gab den Hinweis auf die Melodie in der auch dies neue Lied sich singen ließ. In den einschlägigen Sammlungen war dieses Lied leider nicht auszumachen. Vgl. hierzu auch die Ausführungen Lerches (an die sich Trunz wahrscheinlich anlehnt). Lerche meint, „die Strophenform und auch einzelne Wendungen" eines Maienliedes von Hans Sachs wiederzuerkennen. (Ders., a.a.O., S. 57f.) Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Seinecker die erste Strophe eines Reihenliedes übernommen hat, wie schon vor ihm Jakob Klieber in seinen „Vier geistlichen Reyenliedern" (1535). Vgl. die Hinweise in WK, Bd. 3. Nr. 887 und Bd. 4. Nr. 308 sowie in: Albrecht Friedrich Wilhelm Fischer: Kirchenliederlexikon. Hymnologisch-literarische Nachweisungen über ca. 4.500 der wichtigsten und verbreitetsten Kirchenlieder aller Zeiten in alphabetischer
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Von der Reformation bis zum Ende der Barockzeit
phrase wurde jedoch vielfach prakti2iert, allerdings handelte es sich dabei meist um Gloriastrophen und keine weltlichen Gedichte. Christologische Exegese im Sinne Luthers betreibt Seinecker sowohl in diesem wie in seinen anderen Psalmliedern. Auch in den Strophenformen lehnt er sich an den Reformator an. Neben den 24 eigentlichen Psalmparaphrasen enthält sein Buch aber noch sechs Stücke, deren Titel abweichend formuliert ist: nicht „Der 18. Psalm", sondern „Aus dem 18. Psalm". Dazu ist dann noch ein Thema angegeben: „Vom vertrawen auff Gott." In diesen Liedern ist der Psalmtext behandelt wie eine beliebige andere Stelle aus dem Alten Testament, wenn man sie zum Ausgangspunkt einer gedichteten geistlichen Betrachtung machte. Diese wurde dann ebenso überschrieben: „Aus Esaia", „Aus Mose" etc. 96 Seinecker hat mit diesen modifizierten Titeln deutlich diejenigen Lieder abgehoben, die nur einige Verse in der üblichen Paraphraseweise übertragen, dann aber sich vom Ausgangstext lösen und ihr „eigenes" Thema entfalten. So entsprechen im Lied „Aus dem 18. Psalm" die Strophen 2 — 5 den Bibelversen 2—7, dann aber folgt im Psalm eine Gewittertheophanie, während das Lied in sechs weiteren Strophen vom Gottvertrauen handelt. 97 Diese Form von geistlichen Liedern, die nicht nur bei Seinecker auftaucht, muß von der eigentlichen Psalmenparaphrase deutlich abgegrenzt werden. Der andersartige Titel signalisierte dem Leser, daß er es nicht mit „übersetztem" Bibeltext zu tun hatte, sondern mit einer anderen Textsorte, in der sich Bibelzitat und freie geistliche Betrachtung des Autors mischen; ein solcher Text kann weniger sakrale Autorität für sich in Anspruch nehmen und ist daher möglicherweise auch weniger „wirksam". Die Vermischung der beiden Textsorten hat dazu geführt, daß ein Autor wie Ludwig Helmbold von Lerche für die „reine Erlebnisdichtung" reklamiert wurde, weil eines seiner Lieder (auf Ps 73, 23 — 28) sich scheinbar in die Tendenz freier exegetischer Wiedergabe des Textes einordnet. Dabei halten sich gerade die eigentlichen Psalmparaphrasen Helmbolds aus seiner Liedersammlung von 1589 ausgesprochen wörtlich an den Ausgangstext (Luthers Prosaübersetzung) — so wörtlich, daß Helmbold eher einer anderen Gruppe zuzuordnen ist als den Autoren der direkten Luthernachfolge wie Waldis und Seinecker. 98
96 97 98
Folge nebst einer Übersicht der Liederdichter. 2 Bde. (Gotha 1878) Nachdruck: Hildesheim 1967. Bd. I. S. l l l f . W K , Bd. 4. Nr. 407, 408, 412 u.a. Vgl. Seinecker, a.a.O., S. 25. Siehe auch W K , Bd. 4, Nr. 306. A. Reich rechnet auch den lutherischen Diakon Gregor Sünderreiter zur Gruppe der an Luthers Psalmliedkonzept orientierten Autoren, und zwar aufgrund ihrer Untersuchung der 1581 in Augsburg erschienenen „Dauids Himlische Harpffen".
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Psalmlieder mit Tendenz zu wortgetreuer Textwiedergabe Das Bestreben, den Text der Psalmen möglichst ohne irgendwelche Erweiterungen und Veränderungen in Liedform zu übertragen, ist schon an den frühesten vollständigen Psalterparaphrasen ( = Gesamtpsaltern) zu bemerken, wenn es auch nicht bei allen Autoren absolut befolgt wird. Die wortgetreue Tendenz zeigt sich aber auch an zahlreichen einzelnen Psalmliedem in anderen Sammlungen. In der germanistischen Forschung wurden die meisten Gesamtpsalter dieser Art wegen mangelnder Originalität und sprachlicher Mittelmäßigkeit kritisiert. Lerche sieht in den Psaltern von Hans Gamersfelder (1542), Johann Magdeburg (1565), Jakob Ayrer (1574) und Cyriakus Spangenberg (1582) ein „sklavisches Festhalten am Text". 99 Auch Hübner meint offenbar diese Autoren, wenn er von den „gröbsten und ledernsten Arbeiten" unter den Gesamtpsaltern spricht, die über das „Niveau des Handwerkmäßigen" nicht hinausreichen. 100 A. Reich fügt dieser Gruppe noch weitere Autoren hinzu: Joachim Sartorius (1591), Franciscus Algerman (1604), Friedrich Gundelwein (1615), Johannes Thönniker (1621) und Georg Werner (1638). 101 Im Unterschied zu den früheren Urteilen gesteht sie den wortgetreuen Bearbeitern immerhin ein eigenes „poetologisches Konzept" zu, 102 mißt aber ihr Vorgehen an Luthers praecepta im Spalatin-Brief und stellt fest: So verletzen gerade durch den Versuch, am Text der Schrift festzuhalten, viele Psalterautoren das von Luther im Spalatinbrief aufgestellte Postulat nach Verständlichkeit, von der dort geforderten Berücksichtigung des Gemeindebezugs durch eine auslegende, „biblische" Übersetzung ganz zu schweigen. 103
Luther ist für diese Autoren zwar die Autorität in Sachen Bibelübersetzung, und auch seine Psalmlieder werden häufig in den Gesamtpsaltern mitabgedruckt, aber die Anweisungen des Spalatinbriefes — sofern dieser überhaupt schon öffentlich bekannt war — hatten offenbar keine allgemein verbindliche Wirkung. In der Vorrede zu seinem in Nürnberg gedruckten Gesamtpsalter (der erste, dessen Lieder durchweg von einem einzigen Autor stammen) 104 wird die Absicht des Verfassers klar ausgedrückt:
99 100 101 102 103 104
Diesem Buch war jedoch 1574 das „Psalterium" desselben Verfassers vorausgegangen, das u. E. trotz der nachträglich angehängten Melodieangaben eher in die Gruppe der Reimpsalter gehört. Vgl. A. Reich, a.a.O., S. 66ff. H. Lerche, a.a.O., S. 36. A. Hübner, a.a.O., S. 285. A. Reich, a.a.O., S. 18f. A.a.O., S. 29. A.a.O., S. 18. Zuvor waren schon einige Gesamtpsalter mit Sammlungen verschiedener Psalmlieddichter erschienen (s. u.).
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Ich habe mich auch des blossen Text (so allein durch den Geyst Gottes dictiert vnd angegeben ist worden) als viel als mir jmmer müglich gewesen/beflissen/auch alle circumstantz/vnnd vmbschwaiffende rede viler Wort/ausser desselbigen/mit höchstem fleyß vmbgangen vnnd vermitten/wiewol es sonst der art vnd sprach nach/dieweyl es gebundene Reymen sind/leychter vnd besser durch vmbschweyffende wort/het mögen circumloquirt vnd dargebracht werden. 105
Der Wortlaut des Psalters („der bloße Text") ist inspiriert und muß in eine metrische Form gebracht werden, damit er sich „fein vnd lieblich singen" 106 lasse. Gamersfelder steht damit nicht unbedingt im Gegensatz zu Luthers Forderung, sondern nur an einem Pol des Spielraums, der durch die beiden Gebote „quam proxima" und „accepto sensu" gegeben ist. Gamersfelder hat seinen eigenen Vorsatz streng befolgt, wie schon ein Blick auf die erste Strophe von Ps 96 zeigt. 107 CANTATE DOMINO. Psalmus XCVI.
XCVI.
SInget/vnnd bringet alle her Ein newes lied dem Herren. Singet dem Herren also sehr/ Alle Welt hie auff erden. Singet dem Herren inn der gmein/ Vnd lobet auch den namen sein Sein heil predigt all tage. 108
'SINget dem HERRN ein newes Lied, Singet dem HERRN alle Welt 2 Singet
dem HERRN vnd lobet seinen Namen, Prediget einen tag am andern sein Heil.
Die Wortwahl („gmein") zeigt, daß auch die Texttreue ein aktualisierend-exegetisches Verständnis einschließt und nicht etwa auf den historisch-buchstäblichen Sinn abzielt. Von der theologischen Prämisse her differieren die wortgetreuen Psalter nicht von Luthers direkten Nachahmern, ihre Auffassung vom Psalmlied ist nicht grundsätzlich verschieden von der des Waldis oder des Seinecker. 109 Aber ihr Augenmerk ist eben darauf gerichtet, die Erweiterungen der Vorlage möglichst gering zu halten, das „Menschenwerk" an der Bereimung des Gotteswortes stark einzuschränken. Daß sie gerade in dieser strengen Rücksicht auf den Ausgangstext eine nicht eben leichte Kunstübung sahen, auf die sie stolz sein konnten, ist dem Zitat aus der Vorrede Gamersfelders anzumerken.
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Hans Gamersfelder: Der gantz Psalter Dauids/in gesangs weyse gesteh [...]. Gedruckt zu Nürnberg [...] 1563. (erste Ausgabe 1542, vollst. Titel siehe Bibliogr.) S. A4' u. A4V. A.a.O., Titel. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, daß der Verfasser häufig die Lieder anderer „benutzte", was schon Wackernagel anmerkt. Vgl. WK, Bd. 3, S. 900. H. Gamersfelder, a.a.O., S. 100v. Den Mangel an Erklärung im Lied selbst gleichen zudem einige Bücher (Spangenberg, Thönniker und Werner) durch das Anhängen der Lutherschen Summarien aus. Vgl. A. Reich, a.a.O., S. 23.
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Indem sich der Verfasser an den Bibelwortlaut gebunden sieht, ist er zu Inversionen gezwungen und zu zahlreichen Einfügungen und „Flickwörtern", die lediglich durch das Strophenschema und den Reimzwang gerechtfertigt sind, aber kaum inhaltlich Neues bringen oder auch nur „poetisch" wirken. Zudem achtete Gamersfelder nicht sonderlich auf die Reinheit der Reime, das prosodische Konzept ist eher silbenzählend als alternierend, was sich für einen heutigen Leser zusätzlich störend auswirkt (im Gesang dagegen sind solche „Tonbeugungen" weniger auffallig). In dem Psalter Gamersfelders ist ausschließlich die Reformationsstrophe verwendet, der Autor gibt auch nur zwei Singweisen für seine Lieder an. Diese durchgehende Anspruchslosigkeit, die der Gesamtpsalter mit den anderen Werken dieses Genres teilt, disqualifiziert die Arbeit für den modernen Lyrikrezipienten. Im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert jedoch ist diese Art der Psalmennachdichtung gepflegt und offenbar auch geschätzt worden. Man sollte deshalb nicht die von heutiger Warte aus konstatierten Mängel dem Unvermögen und dem Unverständnis der Autoren zuschreiben, auch wenn sie sicher nicht mit dem „Genie" Luthers begabt waren. Die Gründe für das Auftreten der Tendenz zur Texttreue sind sehr wahrscheinlich verknüpft mit dem Übergang vom einzelnen Psalmlied zum Gesamtpsalter. Das erste Gesangbuch dieser Art, das Lieder zu allen hundertfünfzig Psalmen anbot, war 1537 von Joachim Aberlin und Sigmund Salminger herausgegeben worden, die durch eigene Stücke ergänzten, was bereits an Psalmparaphrasen vorlag und sich in den Gemeinden durchgesetzt hatte. 110 Dieser erste Psalter enthielt bereits 42 Lieder von Jakob Dachser, der im folgenden Jahr noch ein eigenes Buch drucken ließ. In beiden ist bereits an den meisten Texten dieselbe Tendenz zu beobachten, die wir in der Arbeit Gamersfelders, dem ersten Gesamtpsalter von einem Einzelautor, feststellen konnten. Diese Spielart der wortgetreuen „Übersetzung", A. Reich spricht von „Transkodierung", scheint die im 16. Jahrhundert vorherrschende Tendenz gewesen zu sein; dieser Eindruck entsteht bei einer Durchsicht der bei Wackernagel versammelten Lieder. Lutheraner, Zwinglianer und Täufer ebenso wie später die Reformierten haben gleichermaßen diese Bearbeitungsform gewählt, ungeachtet aller theologisch-exegetischen Differenzen. Gegen Ende des Jahrhunderts kommt es lediglich auf lutherischer Seite zu einer etwas forcierteren Abgrenzung gegen die anderen Konfessionen, als man in der allzu 110
Der New gesang psalter. [...] MDXXXVIII. o.O. und Angabe des Herausgebers; offenbar die zweite Ausgabe des Aberlinschen Gesangbuches. (Vollst. Titel s. Bibliogr.)
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wörtlichen Wiedergabe eine Vernachlässigung des christologischen Gehalts erkennt, und daher zu einer etwas ausfühlicheren Form übergeht. 111 Auch die zahlreichen Psalmlieder des Hans Sachs, die zum Teil noch heute nicht ediert vorliegen, lassen sich der wortgetreuen Bearbeitungsform zurechnen, wie schon Lerche gezeigt hat. 112 Katholische Psalmlieder Während der volkssprachige Kirchengesang bei den Protestanten ein wesentlicher Bestandteil der Heilsvermittlung wurde, so blieb es in der katholischen Kirche auch nach der tridentinischen Reform bei dem sakramentalen Vollzug der Messe, der dem deutschen Kirchenlied keinen Stellenwert einräumte. Nicht im Verstehen der Worte, sondern im Akt der heiligen Handlung selbst wurde die den Menschen erlösende Wirkung angesetzt. Daher konnte es im katholischen Bereich auch kaum zu einer so ausgreifenden und anhaltenden Lieddichtung kommen wie in den protestantischen Städten und Ländern. Aber wenngleich die wesentliche theologische Motivation fehlte, begann man um die Mitte des Jahrhunderts damit, 113 deutschsprachige Lieder nach dem Muster der protestantischen Kirchengesänge in Gesangbüchern zu sammeln und zu drucken. In diesen Sammlungen fanden sich durchaus auch die Arbeiten von protestantischen Autoren, sofern diese nicht dem Lehrstandpunkt der alten Kirche widersprachen. Das 1562 gedruckte Gesangbuch des Johann Leisentritt von Olmutz, das bereits einige Psalmlieder enthält, führt in der Widmung an Kaiser Maximilian „Klage über die Ketzer und ihre Gesänge". Die hier zusammengebrachten Kirchengesänge und Psalmen sollen dienen: erstlich zu lob/ehr vnd preis GOTtes/damach zur auffnemung vnd erhaltung der Altgleubigen/wahrer Apostolischer/Christlicher Kirchen/letzlich vnd sonderlich zu forderung der menschen Seelen selickkeit. 114
Die Absicht dieser Gesangbücher lag also wohl am ehesten in der Abwehr der sich immer weiter verbreitenden Lieder der Protestanten 111
1,2
113
1,4
Dies gilt f ü r das Buch Spangenbergs. Siehe: Cyriakus Spangenberg: Der gantze Psalter Dauids [...]. Franckfurt am Mayn M . D . L X X X I I . Vgl. H. Lerche, a.a.O., S. 23f. Die ersten 13 Psalmlieder v o n Hans Sachs erschienen 1526, also schon sehr bald nach den ersten Wittenberger Stücken. Siehe W K , Bd. 3, Nr. 8 8 - 1 0 0 . Das erste katholische deutschsprachige Gesangbuch von Michael Vehe erschien schon 1537 in Halle. Vgl. Wilhelm Bäumker: Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen. Freiburg 1886. Bd. 1. Johann Leisentritt von Olmutz (Hg.): Geistliche Lieder vnd Psalmen [...]. Budissin (Bautzen) M.D.Lxij. (Widmung ohne Paginierung)
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und der darin enthaltenen Lehre; dem sollte auf katholischer Seite etwas (im gleichen Medium) entgegengesetzt werden. Da aber an der lateinischen Form der Liturgie nichts geändert wurde, bedurften die katholischen Kirchenlieder und damit auch die Psalmlieder weder der liturgischen Würde noch derselben intensiven Vermittlung der biblischen Botschaft wie ihre evangelischen Pendants. Wenn Leisentritt seine Lieder in erster Linie „in vnd vor den heusern" oder allenfalls „vor vnd nach der Predigt" gesungen wissen will, deutet er damit auf den außerliturgischen Bereich, in dem schon während des Mittelalters der Gemeindegesang seinen Raum fand. 115 Die in Leisentritts Gesangbuch enthaltenen Psalmlieder folgen weitgehend dem Text der Dietenbergerbibel 116 und lassen sich ohne weiteres der Gruppe der wortgetreuen Bearbeitungen zuordnen. Hier findet sich auch die Kontrafaktur des Lutherliedes „Ach Gott von hymel" (Ps 12) mit den entsprechenden Veränderungen, zu denen auch die Psalmenzählung nach der Septuaginta/Vulgata-Tradition gehört. Allerdings sind hier alle Psalmlieder mit dem einschränkenden Titel „Aus dem ... Psalm" versehen, was möglicherweise auf die unterschiedliche Bewertung der deutschen Bibel zurückzuführen sein dürfte. Sakrosankter und inspirierter Text war für den gläubigen Katholiken schließlich nach wie vor die Vulgata und keine wie immer geartete Übersetzung, folglich konnte auch ein deutsches Psalmlied nicht als „der soundsovielte Psalm" ausgegeben werden. Die konfessionelle Polemik gegen die „Ketzer" ist jedoch in diesen Texten eher gering ausgefallen. Hermeneu tisch knüpfen sie nicht etwa an die mittelalterliche Exegese des vierfachen Schriftsinnes an, sondern zeigen durchaus die von den Protestanten vorgegebenen Gattungsmerkmale. Einen Anklang an die überkommene Schriftauslegung enthält lediglich eine dem 23. Psalm (Vulgata 22.) beigegebene Figur, die allegorisch den Hirten des Psalms in der Auseinandersetzung zwischen den göttlichen und höllischen Mächten zeigt.
115
116
Vgl. hierzu Johannes Janota: Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter. München 1968. Zwar ist der Liturgiebegriff Janotas für das Mittelalter aufgrund des erst später kirchenrechtlich genau definierten Terminus der Liturgie nur mit großen Vorbehalten anzuwenden, jedoch legt der A u t o r überzeugend dar, daß die volkssprachlichen Gesänge nur in den liturgischen Randbereichen zur Anwendung kamen. Die katholischen Korrekturbibeln v o n Dietenberger (1534) und Eck (1537) sind in der Sprachform wesentlich von Luther abhängig, was schon der Reformator selbst als Plagiat monierte. Dennoch lassen sich neben den Korrekturen gemäß der Vulgataversion auch dialektische Veränderungen feststellen. Vgl. Stefan Sonderegger, Bibelübersetzung, a.a.O., S. 1 7 t f f .
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Der 1582 erschienene Gesamtpsalter des Caspar Ulenberg läßt sich ebenfalls den wortgetreuen Liedpsaltern zurechnen, wenn auch verschiedentlich exegetische Erläuterungen eingeflochten sind. Für die Entstehung dieses ersten katholischen Gesamtpsalters mag von Bedeutung gewesen sein, daß Ulenberg (geb. 1542) ursprünglich in evangelisch-lutherischer Umgebung aufgewachsen war und auch in diesem Glauben erzogen wurde, also mit dem Gemeindegesang (und Luthers Bibelübersetzung) sehr vertraut war. Nachdem er bereits ein Studium an der Wittenberger Universität aufgenommen hatte, konvertierte er 1572 zum Katholizismus und wurde schon 3 Jahre später zum Priester geweiht. 117 Ulenberg, der die Wirkung des Gemeindegesangs aus eigener Erfahrung kannte, sah nach seiner Konversion deutlich die von den deutschen Kirchenliedern der Protestanten ausgehende Gefahr, weil diese allerlei Teutsche gesenge mit feinen melodeien zugerichtet/darin ihre falsche lehr auff vorteil hin vnd wider eingemenget; auch bisweilen verfürische Catechismen neben ihren schismatischen Kirchensatzungen dabei drucken lassen vnd dieselben also dem gemeinen volcke in die hende geben. Und ist ihnen zwar dieser anschlag zu grossem nachteil gemeiner Christenheit nicht vbel gelungen.
Ulenberg kritisiert scharf die ketzerischen Textabweichungen in vielen protestantischen Liedern, die den Gläubigen unter der Maske des Bibeltextes ihre falsche Lehre präsentieren. 118 Für seine eigene Bearbeitung dagegen nimmt er philologische Genauigkeit in Anspruch. Wo er zur Auffüllung des Strophenschemas gezwungen war, hat er — aus dem Fundus humanistischer Rhetorik schöpfend — den Kontext eher intensiviert als interpretiert. Bemerkenswert scheint aber, daß er in einem Lied (Ps 96), das ansonsten sehr dem Wortlaut der Dietenbergerbibel verpflichtet ist, 119 in der sechsten Strophe unvermittelt einen einzelnen Vers kommentiert — und damit polemisch gegen Kopernikus Stellung nimmt: Der X C V Psalm. Cantate Domino 1. Singet ein newes lied dem Herren, Singet ihm alle weit gemein, Lobsinget ihm, thuot höchlich ehren Den lieben tewren namen sein, Verbreitet sein heil on auffhören, macht kund den heiden seine ehr, Lasst seine wunder rhümlich hören Bei allen völckern hin vnd her.
117 118 119
Vgl. Joseph Kehrein ( K K ) , a.a.O., S. 65f. Vgl. A . Reich, a.a.O., S.195ff. Siehe Fußnote 116. Ulenberg hat die Dietenbergersche Bibel einer Revision unterzogen und als neue Übersetzung für die altgläubige Kirche herausgegeben.
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6. Er hat das fundament der erden Zuo festem stände zuobereit, Daß sie nicht mag beweget werden, So hat er ihren grund geleit, Er wirt fürwar die völcker richten, Wenn nu wirt kommen seine zeit, Wirt ihre sachtn wol entschlichten, Durch recht vnd alle billigkeit. 120
Der enstsprechende Vers der Lutherbibel in Ps 96,10, lautet: „Sagt vnter den Heiden, das der HERR König sey, vnd habe sein Reich, so weit die Welt ist bereit, das es bleiben soll [...]", die Rede ist hier also nicht von der materiellen Erde, sondern dem Gottesreich. In der Vulgata heißt es: „Dicite in gentibus quae Dominus regnavit etenim correxit orbem qui non movebitur iudicabit populos in aequitate". 121 Ulenberg hat hier auf den ursprünglichen schöpfungsmythischen Gehalt des Verses zurückgegriffen und die Aussage offenbar bewußt gegen ein neuartiges ketzerisches Weltbild ins Treffen geführt, gegen das die interpretierende Version Luthers schon kein biblisches Argument mehr liefern konnte. Ulenbergs Psalter mit seinen ca. 80 Melodien hat sich im deutschkatholischen Bereich durchgesetzt, wurde von Orlandi di Lasso noch einmal vertont und erfuhr bis ins 19. Jahrhundert hinein zahlreiche Auflagen. 122 Reimpsalter Im gleichen Jahr wie der erste Liedpsalter eines Einzelautoren erschien auch der erste Reimpsalter. Der Verfasser, Johann Claus, ließ seine Arbeit in Leipzig drucken und gewann Joachim Camermeister für eine Vorrede. Darin spricht dieser die Hoffnung aus, das dieses Büchlein bey jungen Leuten frommen schaffen werde/dieweil denen die Reimen beheglicher zu lesen/vnd darinnen verfaste meinung in gedechtnis leichter vnd beyfelliger zu bringen/Vnd sie aus heimlicher kraffte des Gedichtes/der Sprüchen vnd Lieder zu forderst begirig sind.
Ähnlich wie die Melodie wurde auch die bloße metrische Form als ein mnemotechnisches Mittel verstanden, und zudem empfand man die K K , Bd. 3. S. 299ff. 121 Vg] den lateinischen Text unseres Beispielpsalms 96. 122 A . Reich nennt 1 7 Auflagen, (unter Berufung auf Nikola Esser: Rutger Edinger und Kaspar Ulenberg als Kirchenlieddichter. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes im 16. Jahrhundert. Diss., Bonn 1913.) Vgl. A. Reich, a.a.O., S. 205. 120
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Versform als angenehmer als die Prosa. Es lag also nahe, dem Volk — und besonders der Jugend — beim Erlernen der vielgelobten Psalmen Davids behilflich zu sein, indem man sie in eine eingängigere Form brachte. Auch zahlreiche Liedpsalter dürften in erster Linie für diesen Zweck (und keineswegs nur für den Gemeindegesang) konzipiert worden sein. In diesem Sinne hat etwa Gregor Sünderreyter seinem Psalter, welcher der Form nach zunächst aus unstrophigen Gedichten bestand, Anweisungen mitgegeben, wie man diese Gedichte auf bekannte Kirchenweisen singen könnte. Dies dürfte er kaum zum Zwecke kirchlichen Gemeindegesanges getan haben (wofür zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon eine Unmenge von Liedern vorlag), sondern vielmehr, um die Eingängigkeit der Texte noch zu verbessern. Weitere Reimpsalter verfaßten Rutger Edinger (1574), ein katholischer Autor, der, wie A. Reich feststellt, seine Psalmgedichte zum Mitlesen während der lateinischen Psalmodie vorschlug, 123 Vitus Abel Entter (1599) und Melchior Guldin (1610), 124 auch dieser letztere offenbar ein Katholik. Von den Liedpsaltern unterscheidet die Reimpsalter im wesentlichen nur die metrische Form. Sie sind fast durchweg in acht- bis neunsilbigen Reimpaaren mit männlichem Versschluß gehalten und wirken heute verhältnismäßig monoton und ungelenk. Die Bearbeitungsweise entspricht der Tendenz zu getreuer Textwiedergabe. Das christologische Textverständnis ist auch hier für lutherische Autoren die Ausgangsbasis und wird zuweilen durch das Zufügen von Summarien unterstützt.
Übertragungen des Hugenottenpsalters Eine Zäsur in mehrfacher Hinsicht stellt für die reformatorische Psalmendichtung ein (von Calvin als einziger Kirchengesang zugelassenes) Werk in französischer Sprache dar, das meist als „Hugenottenpsalter" bezeichnet wird. Es wurde 1533 von dem Dichter Clément Marot begonnen und nach dessen Tod durch den Theologen Théodore de Bèze beendet. Zu der — weit über den bisher behandelten deutschen Arbeiten stehenden — sprachlichen Eleganz der Lieder kam eine her-
123 124
Vgl. A. Reich, S.188ff. Dessen Werk wurde sogar eine ganze Reimbibel angebunden, „in summarische Rhymen/zu sterckung Menschlicher schwachen Gedächtnuß/versetzt". Siehe das Exemplar der Staatsbibliothek Berlin.
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vorragende Vertonung; beides begründete die jahrhundertelange Beliebtheit des Hugenottenpsalters. 125 Wie Luther hatte Calvin bei seinen liturgischen Neuerungen in Genf und Straßburg großes Gewicht auf die Verständlichkeit gelegt und daher den lateinischen Chorgesang durch volkssprachige Lieder ersetzt. Mittels einfacher, klarer Sprache und homophoner Vertonung sollte der französische Choral ein Mittel sein, die biblische Botschaft auf eine Weise zu vermitteln, die besonders auf das „kalte" Gemüt einwirkte. Eine spezielle Bedeutung maß Calvin auch der Gemeinsamkeit und der Öffentlichkeit dieser gesungenen Gebete bei. 126 Die entscheidende literarische Qualität der Psalmlieder von Marot und Beze liegt weniger in der sprachlichen Eleganz und den zahlreichen verschiedenen Strophenformen, als in den poetischen Konsequenzen der reformierten Hermeneutik. Im Unterschied zu Luther verstand Calvin den Psalm nicht unmittelbar christologisch, sondern historisch — als Gebet Davids und der anderen Psalmisten. Auch die Paraphrase sollte sich an dem alttestamentlichen Kontext orientieren und nicht ausdeutend über die Vorlage hinausgehen. Die Folge war eine neue Aufmerksamkeit, mit der man die poetische Gestalt der Psalmen berücksichtigte und diese in die Nachdichtung zu integrieren versuchte. Eine Metapher war nun — frei von spiritueller Bedeutung — auf ihre poetische Funktion im Textzusammenhang zurückgeführt. 127 Erich Trunz schreibt hierzu: „Ein Psalm wurde nicht mehr als Lehrgedicht aufgefaßt, sondern als lyrisches Lied." 128 Als kurzes Beispiel sei hier die Anfangsstrophe auf Ps 96 herangezogen, die Paraphrase stammt von Th. de* Beze. CHantez ä Dieu chanson nouuelle, Chantez, o terre vniuerselle, Chantez, & son nom benissez, Et de iour en iour annoncez Sa deliurance solenelle. 129
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Laut E. Trunz gab es nicht weniger als 1.400 Ausgaben und Übersetzungen in 22 Sprachen. Vgl. E. Trunz: Die deutschen Übersetzungen des Hugenottenpsalters. In: Euphorion 29. (1928) S. 5 7 8 - 6 1 7 . S. 579. Vgl. hierzu A. Reich, a.a.O., S. 94ff. Freilich verzichten auch die calvinistischen Theologen nicht völlig auf eine Deutung der Psalmen. Diese ist aber nun vom Liedtext streng geschieden und wurde verwiesen auf die vorangestellte Erläuterung des alttestamentlichen Zusammenhanges (durch Calvin) und ein nachfolgendes christliches Gebet. Nach Trunz arbeitete Marot mit dem Psalmenkommentar des Straßburgers Martin Bucer. E. Trunz, Die deutschen Übersetzungen, a.a.O., S. 580. Clément Marot et Théodore de Bèze: Les Pseaumes en vers français avec leur mélodies. Fac-similé de l'édition genevoise de Michel Blanchier. Droz 1986. S. 319f.
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Der Bibeltext ist nahezu ohne Erweiterungen gegeben, die Parallelismen der ersten Verse sind in Verszeilen überführt, die wirkungsvolle dreifache Anapher wurde übernommen. Anstelle des trockeneren Tones der deutschen Lieder ist hier trotz der Einfachheit eine hohe hymnische Stillage erreicht, wie sie dem Gotteslob angemessen ist. Da sich der Ruf von der Schönheit des französischen Psalmengesanges schnell verbreitete, bestand in den Kreisen der deutschen Reformierten schon bald ein starkes Interesse an einem deutschen Hugenottenpsalter. Kurfürst Friedrich III., der in Heidelberg den Calvinismus eingeführt hatte, beauftragte zunächst den (neulateinischen) Dichter und Humanisten Paul Melissus Schede mit der Übertragung, übernahm dann aber die Version des Ambrosius Lobwasser. Auch die dritte Übersetzung des Hugenottenpsalters in dieser Zeit wurde aus konfessionellen Gründen vorgenommen, und zwar von dem reformierten Freiherrn Philipp von Winnenberg. 130 1572 erschienen die ersten fünfzig Psalmen von Schede Melissus. 131 Schede hielt sich in der Strophenform und in der Silbenzahl der Verse genau an seine Vorlage, übersetzte auch die Zusätze der französischen Ausgabe (Summarien und Gebete). Als humanistischer Dichter war er aber ehrgeizig genug, an dieses Projekt zu große Ambitionen hinsichtlich einer literarischen Aufwertung seiner Muttersprache zu knüpfen. Die Lieder sind leider poetisch so überfrachtet, daß sie (nicht nur für den Verwendungszweck als Choräle, sondern auch als anspruchsvolle Leselyrik) kaum noch verständlich sind. Allein der Wortschatz Schedes ist so groß und schließt so viele altertümliche und dialektale Vokabeln ein, daß er den Psalter für einen volksgemäßen und überlandschaftlichen Gebrauch disqualifizierte. Hinzu kommt die humanistisch geprägte Syntax mit Satzkonstruktionen, die für die Liedform entschieden zu lang und zu verschachtelt sind. Obendrein versah Schede seine Texte auch noch mit einem überaus komplizierten Akzentsystem, das die prosodische Wertung von Silben erleichtern sollte, stattdessen aber die Texte vollends unlesbar macht. 132
130
131
132
Der 1588 in der Pfalz erschienene Psalter Winnenbergs ist weder in literarischer noch in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht so relevant wie die Arbeiten von Schede und Lobwasser. Daher gehen w i r nicht weiter darauf ein. Vgl. den Art. von E. Trunz und A . Reich, a.a.O., S. lOlff. Paul Schede Melissus: Di Psalmen J n Teutsche gesangreymen/nach Französischer melodeien uont sylben art mit sonderlichem fleise gebracht von Melisso. Heidelberg 1572. Neuabdruck in: Max Herrmann Jellinek (Hg.): Die Psalmenübersetzung des Paulus Schede Melissus (1572). Halle a. d. S. 1896. Vgl. hierzu den Kommentar Jellineks und den erwähnten Artikel von Erich Trunz.
Psalmen unter dem Einfluß der Reformation
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Schon im folgenden Jahr veröffentlichte der Lutheraner Ambrosius Lobwasser seine vollständige Übertragung des Hugenottenpsalters, die sich so schnell verbreitete, daß Schedes Werk nicht ein zweites Mal aufgelegt wurde und auch keine Fortsetzung fand. Als der Humanist feststellen mußte, daß der Kurfürst die Lobwassersche Version der seinen vorzog, sah er wohl die literarischen Hoffnungen zunichte gemacht, die er mit einer Verbreitung seiner anspruchsvollen Gedichte verbunden hatte. Lobwasser dagegen stand bei der Abfassung seines Buches ganz unter dem Eindruck des französischen Psalmengesanges, den er auch den deutschen Protestanten zugänglich machen wollte. Da er sich — anders als Schede — stilistisch an die Tradition des deutschen Kirchenliedes anschließt, ansonsten aber sehr getreu die französische Vorlage nachformt (ohne irgendwelche konfessionellen Veränderungen, immerhin war er Lutheraner), hat sich der Lobwasserpsalter sehr rasch bei den deutschen Reformierten verbreitet. Sicher war für die allgemeine Aufnahme auch nicht unwichtig, daß Lobwasser neben dem französischen Text Rücksicht auf den Wortlaut der Lutherschen Psalmenübersetzung nahm, seine Psalmparaphrasen also mit der deutschen Bibel „übereinstimmten". Nicht zuletzt diese doppelte Rücksichtnahme führt in den Liedern nicht selten zu Inversionen und gezwungenen Reimen, ganz abgesehen von den prosodischen Unebenheiten, die allerdings in jener Zeit noch allgemein üblich waren. Als Beispiel mag die dritte Strophe zu Ps 96 genügen: Der Heiden Götter zubetrachten/ Allem für Götzen seind zuachten/ A b r Gott den Himmel schaffen thet/ Für ihm ein grosse macht hergeht/ Ein herrligkeit mit schönen prachten. 1 3 3
Aus den genannten Gründen bleibt der Lobwasserpsalter weit hinter dem französischen Original zurück, hat aber dennoch das Verdienst für sich, die poetische Wiedergabe des Wortsinnes der Psalmen in Deutschland eingeführt zu haben. Das Gesangbuch war bald auch in manchen lutherischen Gemeinden so beliebt, daß es zu heftigen Reaktionen bei den orthodoxen Geistlichen kam, was jedoch den bis ins 18. Jahrhundert reichenden Gebrauch nicht aufhalten konnte. Eine orthodox-lutherische Antwort auf den Lobwasserpsalter Der Leipziger Theologe und Pastor Cornelius Becker (1561 — 1601) wurde „wegen seiner .scharfen Predigten' 1601 seines Amtes entsetzt", 133
Ambrosius Lobwasser: Psalmen Deß Königlichen Propheten Davids [...]. Heidelberg M . D . L X X 1 I I I . (zweite Aufl.) S. CCCCLIIII.
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aber schon nach einem halben Jahr wieder rehabilitiert. 134 Die kurze Unterbrechung seiner Kanzelreden gegen die „Kryptocalvinisten" hat C. Becker genutzt, um auch auf dem Gebiet des Gesangs den Kampf gegen diese Form der „Ketzerei" zu führen. Er wollte eine Alternative zum beliebten „Lobwasser" schaffen, damit nicht schließlich auf dem Wege über den Gesang der hugenottischen Psalmlieder auch die Lehre Calvins in lutherische Gemeinden einziehe; Beckers Psalter bietet daher eine theologisch „einwandfreie" Bearbeitung auf die alten evangelischen Singweisen an. Das 1602 erschienene Werk ist der sächsischen Kurfürstin gewidmet, deren Hofprediger Leiser eine zusätzliche Vorrede beisteuerte: Signale für die bald vom Herzog von Sachsen eingesetzte liturgische Verwendung der Beckerschen Psalmen. Sie wurden mehrfach neu vertont, unter anderem von Heinrich Schütz (1628 und 1661) und blieben mehr als hundert Jahre lang die maßgebliche sächsische Psalmenbearbeitung. 135 In seiner Vorrede lobt Becker an den Psalmliedern seines Vorbildes Luther, daß sie den wahren Glauben vielen Menschen zugänglich gemacht haben, welche diesen sonst hätten entbehren müssen, „wegen das sie weder schreiben noch lesen können". 136 Die Psalmlieder Luthers und vier weiterer evangelischer Autoren haben sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits so eingebürgert, daß sie von Becker in sein Gesangbuch (anstelle eigener Bearbeitungen) übernommen werden. Er gesteht den Liedern Lobwassers immerhin zu, gut übersetzt zu sein, 137 lehnt jedoch die französische Vorlage ab, insbesondere deren Summarien, in denen nicht angemessen auf das christologische Zentrum der alttestamentlichen Heilsbotschaft gewiesen wird. 138 Die Vorrede des Hofpredigers Leiser würdigt, daß Becker gerade auf die Stellen geachtet habe, „wo David in seinen Psalmen von dem HErren Christo handelt/das er solches mit fleiß illustriere vnd erleutere". 139 Der Lobwasserpsalter wird getadelt, weil er auf „frembde/ Frantzösische vnd für den Weltlüsternen Ohren lieblich klingende Melodeyen gesetzt" ist. 140
134 135 136
137 138 139 140
Franz Brümmer: Deutsches Dichterlexikon. Bd. 1. 1878. (zitiert nach D B A ) Vgl. A. Reich, a.a.O., S. 131. Cornelius Becker: Der Psalter Davids Gesangweis/auff die in Lutherischen Kirchen gewöhnliche Melodeyen zugerichtet [...]. Leipzig 1602. (Titelangabe nach K . P. Ewald, da das untersuchte Exemplar kein Titelblatt aufweist) A.a.O., S. )a( T. A.a.O., S. )a( 6 v f . A.a.O., S. )b( v v . A.a.O., S. )b( 6 r .
Psalmen unter dem Einfluß der Reformation
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Die Zugehörigkeit des orthodoxen Lutheraners Becker zur humanitas literaria bezeugen zwei lateinische Ehrengedichte von E. Lauterbach und V. Schmuck, in denen der neue deutsche Psalter gepriesen wird. Jedem Psalmlied ist ein Titulus, eine gereimte Summarie (symbolum) und die Angabe des „Thons" vorangestellt. Im Titel wird das (christlich verstandene) Thema des Psalms meist zusammengefaßt und in der Summarie genauer erklärt, auch zuweilen auf aktuelle Verhältnisse bezogen. A. Reich hat in dieser Anordnung „eine gleichsam emblematische Struktur" gesehen, wobei der Titel dem Motto, die Summarie der Subscriptio und der Psalmliedtext der Pictura entspräche. 141 Abgesehen davon, daß eine solche Analogie vom Autor an keiner Stelle angedeutet wird, ist die Rezeptionsform beim Emblem eine andere als bei den Beckerschen Psalmbeigaben. Das Emblem präsentiert zunächst das Motto und das meist rätselartige Bild, dann erst folgt die geistreiche Erklärung. In Beckers Psalter dagegen wird zunächst in Titel und Summarie festgestellt, welcher Sinn dem nachfolgenden Text eingeschrieben ist. Es fehlt gerade das spielerische Element des Emblems, die Verwunderung angesichts einer unerwarteten Beziehung etwa zwischen physikalischer und moralischer Welt. 142 In welchem Ausmaß sich evangelische Christologie, Worttheologie und Rechtfertigungslehre in den Summarien (bedeutend verhaltener auch in den Psalmliedern selbst) entfalten, ist von A. Reich ausführlich dargestellt worden. 143 Mit der niederen Stillage und den einfachen, gemein verständlichen Sätzen orientiert sich Becker ebenfalls an Luther. Wenn der Reformator jedoch die Bibelvorlage predigtartig einem theologischen Anliegen entsprechend ausgestaltet hatte, so hält sich sein Bewunderer Becker in den Psalmliedern doch bedeutend strenger an den biblischen Wortlaut. Hier wirkt stärker als das praktische Beispiel der Lutherschen Psalmlieder die Scheu vor den Fähigkeiten des Kirchengründers, mit dem sich der Jüngere nicht messen will. 144 Beckers Verse sind vorwiegend jambisch, enthalten aber wie noch die meisten Kirchenlieder dieser Zeit eine Unmenge von Tonbeugun141 142
143 144
A . Reich, a.a.O., S. 130. Vgl. Albrecht Schöne und Arthur Henkel: Emblemata. Supplement. Stuttgart 1976. S. X l l f f . Vgl. A . Reich, a.a.O., S. 119ff. Siehe auch Beckers Vorrede: „Aber wir müssen vns an den verliehenen Gaben Gottes begnügen lassen/vnd hernach stoppeln so gut als wir können/vnd do w i r auff den gelegten Prophetischen vnnd Apostolischen grund nicht mit wacken vnd Werckstükken/wie der Her Lutherus/bawen können/so müssen wir mit kleinen Füllsteinen die lücken vollents ausflechten/so gut als G o t t das vermögen durch die gaben seines H. Geistes darreicht. S. )a( v v f .
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gen. Auch die Reimreinheit ist stark vernachlässigt. Die Strophenformen sind — mit den Melodien — älteren Vorbildern entlehnt, die sich bereits einer gewissen Beliebtheit erfreuten. Vorherrschend ist die Reformationsstrophe. Poetische Besonderheiten berücksichtigt Beckers Übertragung nur nach Maßgabe inhaltlicher Entsprechung, so etwa den wiederholten, litaneiartigen Refrain in Ps 136. Die wichtige Rolle der Fürsten für den Bestand der evangelischen Kirche spiegelt sich in den Tituli und Summarien einer Reihe von Psalmen, die von der Obrigkeit handeln: Ps 20 „Segen vber Kirch vnd Regiment", Ps 61 „Glück zu dem Könige", Ps 82 „Der Obrigkeit Latein", Ps 144 „Gebet der Obrigkeit" und andere. Die Lieder auf Klagepsalmen sind von Becker deutlich im Hinblick auf Gebetsvorlagen geschrieben und wirken daher kohärenter in ihrer Stimmung als andere, dennoch können auch sie den etwas lehrhaften, spruchartigen Unterton des ganzen Psalters nicht ganz verdecken. Sowohl der Beckersche Psalter als auch der 1621 gedruckte „Lutherisch Lobwasser" des Johann Wüstholz 145 belegen, daß für den Bereich des Gemeindeliedes noch bis ins 17. Jahrhundert konfessionelle Streitereien eine beachtliche Rolle spielten, während sich zu gleicher Zeit bereits eine andere, stärker literarisch motivierte Form der Bearbeitung durchzusetzen begann. Ein Psalter in jambischen Reimpaaren „Einer der frühesten Verskünstler des 17. Jhdts." 146 ist nach Ansicht Karl Goedekes der gelehrte Dichter Sebastian Hornmolt, Rat des württembergischen Herzogs. 147 Goedeke geht wohl vom recht frühen Datum des 1604 in Tübingen erschienenen Psalters „von reinen/klaren vnnd gantzen Iambis" (Titel) aus und legt mit seiner Formulierung nahe, Hornmolt sei als Vorläufer des Martin Opitz einzustufen. Dadurch wird verdeckt, daß Hornmolts Auffassung der deutschen Prosodie noch an den quantitierenden Konzeptionen des 16. Jahrhunderts (etwa von Konrad Geßner und Clajus) 148 orientiert ist. Auch seinem Alter nach dürfte Hornmolt eher der Generation zwischen 1550 und 1600 zuzurech145
146
147
148
Eine orthodox lutherische Bearbeitung, in der die Melodien des Hugenottenpsalters übernommen wurden. Vgl. A . Reich S. 1 3 1 f f . Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Aus den Quellen. 2. A u f l . Bd. 3. S. 149. Zedier: Universal-Lexicon, Bd. 13. Sp. 893 und Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexikon. Leipzig 1 7 5 0 - 1 8 9 7 . Sp. 1714. Vgl. Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte, a.a.O., Bd. 3, 959, 960, 970.
Psalmen unter dem Einfluß der Reformation
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nen sein — wie Paul Schede und Lukas Osiander, die Beiträge zu dem Psalter ihres Kollegen lieferten. 149 Den Verfasser hatte seine 1596 gedruckte Version der Psalmen in lateinischen Jamben 150 dazu ermutigt, einen ähnlichen Versuch „auch in vnserer allgemeinen/Hochdeutschen Mutter Sprach" zu wagen. Die Absicht Hornmolts läßt sich also durchaus den Bemühungen um eine deutsche Literatur zuordnen, die im 17. Jahrhundert unter den Gelehrten eine so große Rolle spielte. Die Mittel, mit denen er diese Absicht zu verwirklichen suchte, weisen jedoch eher ins vergangene als in das gerade angebrochene Jahrhundert. Wie die Psalmenbearbeitung von Schede ist Hornmolts deutscher Psalter daher als ein früher poetischer Versuch anzusehen. Das Buch 151 ist dem württembergischen Fürstenpaar Friedrich und Sibilla gewidmet; an die Herzogin Sibilla richtet sich auch die Vorrede des Verfassers. Hier entschuldigt Hornmolt mit der neuartigen poetischen Form seine Vermessenheit, trotz zahlreicher vorzüglicher Psalterbearbeitungen auch selbst noch eine solche unternommen zu haben. Unter seinen Vorgängern hebt der Autor besonders Luther hervor, der nicht nur „mit sonderbarer/wunderlichen Erleuchtung" begabt gewesen sei, sondern auch „vil füglicher/ bequemer vnnd leichter/als andere/sonderlich Weltliche/einen gantzen Sentenz in einem Versicul" habe verfassen können. 152 Hornmolt selbst hingegen habe als weltliche Person weder „paraphrasieren, noch außlegen" dürfen. 153 Er habe sich an die Luthersche Übersetzung gehalten und sei „auff das genähest zum Text geschritten". 154 Dem „gemeinen Mann" gebe er die Psalmen „zu richtigem verstand/piano sensu, die [!] es aber verstehen/richten vnd vnterscheiden können/zu zwifachem Lust vnd Nutzen". 155 Luthers Psalmlieder werden zwar gutgeheißen und hoch geschätzt, doch kann der Verfasser die dichterische Freiheit des quasi inspirierten Reformators für sich nicht in Anspruch nehmen. Hornmolt schließt sich damit an die wortgetreuen Bearbeiter und die reformierten Psalmliedautoren an, weist aber zugleich auch voraus auf die Haltung der eher an poetischen als an exegetischen Fragen interessierten Barockautoren. 149
150 151
152 153 154 155
Die bei Zedier und Jöcher angeführten Angaben enthalten nur äußerst spärliche biographische Daten. Siehe den Exkurs zur neulateinischen Psalmenparaphrase. Sebastian Hornmolt: Deß königlichen Propheten Dauids Psalter/von reinen/klaren vnnd gantzen Iambis, auff eine newe/besondere A r t bereit vnd verfertiget [...] Tübingen 1604. A.a.O., Vorrede, S. A iij'f. A.a.O., S. A vij r . A.a.O., S. A vj v . A.a.O., S. A vij r.
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Hornmolts Psalter ist nicht für den Gemeindegesang bestimmt — ein denkbarer Verwendungszweck wäre eher die private Andacht; auch aus diesem Grunde kann der Autor sich von der evangelischen Liedtradition entfernen und sich an der Art von Paraphrase orientieren, die er in seinem lateinischen Opus bereits vorgeführt hatte. Beide Werke zeigen deutlich die poetischen Interessen Hornmolts. Seine „newe/ besondere Art", in der er „lauter reine vnd klare Iambi, mit abgetheilten kurtzen vnd langen Syllaben/zu gleichen Stellen" verfaßt habe, wird auch in der zweiten Vorrede von dem lutherischen Theologen Lukas Osiander gelobt. 156 Die zahlreichen lateinischen Ehrengedichte — dazwischen auch der Versuch einer deutschen alkäischen Ode — bezeugen ebenfalls, wie aufmerksam Hornmolts Arbeiten von den befreundeten Humanisten verfolgt und begrüßt wurden. Auch das Fehlen von exegetischen Symbola und Summarien weist das Buch eher der privaten Andacht des Gebildeten als dem Gebrauch in der Gemeinde zu. Die Tituli der Gedichte Hornmolts sind der Vulgataversion entnommen, sie rufen beim humanistisch gebildeten Leser die lateinischen Texte ins Gedächtnis, so daß er die dichterischen Veränderungen bemerken und genießen kann. Dabei wird er geleitet von den am Rande vermerkten Nummern der entsprechenden Bibelverse. Am Rande hat Hornmolt auch zuweilen notiert, wenn er direkt aus Luthers Prosaübersetzung einen Vers übernehmen konnte, weil dieser bereits durchweg jambisch war. Eine fromm-erbauliche Verwendung — wenngleich keine vorrangige — war aber auch mit diesem Werk beabsichtigt. Das beweist das „Wochengebet" Johann Habermans, das von Hornmolt in Reimversen bearbeitet und den Psalmen angehängt wurde. Dennoch wird der Adressatenkreis kaum den „gemeinen Mann" (s.o.) eingeschlossen haben, sondern vielmehr hohe Standespersonen, humanistische Gelehrte und Pastoren, wie die Widmung und die zahlreichen carmina honoraria nahelegen. Der lateinische Psalter war — als Humanistenpoesie — nur den höheren Ständen zugedacht, die Wendung zur vernakularen geistlichen Dichtung verlangte vom Verfasser, sich — zumindest topisch — an die ganze Gemeinde zu wenden und eben auch den „gemeinen" Mann anzusprechen, auch wenn diesem mit dem sensus planus sicher weniger gedient war als dem Gelehrten. Hornmolts Psalmgedichte in jambischen Vierhebern mit teils männlicher teils weiblicher Paarreimbindung ohne Strophenabteilung folgen Luthers Prosapsalmen inhaltlich recht getreu und entsprechen also den
156
A.a.O., 2. Vorrede, S. A 9V
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Versicherungen des Verfassers in der Vorrede. Am Anfang des Psalters ist das metrische Schema in der Haken-Strich-Manier angegeben: V — V — V — V — V — V — V— V —
In dem Bemühen, seine Prosodie diesem Wechsel kurzer und langer Silben anzupassen, mußte der Verfasser zwangsläufig seine Worte und Wendungen eher nach metrischen als inhaltlichen Gesichtspunkten wählen. Infolgedessen sind seine Psalmgedichte reich an Zufügungen und Auslassungen, die zwar den Inhalt nicht gravierend verändern, aber sowohl den theologischen Gehalt als auch die alttestamentliche Textstruktur verwässern. Anstatt die vorgebenenen Sprachgebärden zu intensivieren und zu vertiefen, bewirken die Erweiterungen eher eine Abschwächung. Der affektive Gehalt von Hymnus, Danklied und Klagepsalm weicht dem allgemeinen Mitteilungscharakter eines Lesetextes. Vor allem aber die absichtsvoll gewählte Form des jambischen Reimpaares erweist sich als ausgesprochen gleichförmig. Sämtliche Psalmen erscheinen in einer mittleren Stillage. Eine einzige Stelle fand sich, in die offenbar eine christologische Präzisierung eingeflossen ist: Psalmus II. Quare fremuerunt gentes. 1. W A s ist doch? ey! warumb? warumb Thun also grimmig v m b vnd v m b Di grosse Leut von allen Orten 2. Der Heideschafft? di sich beworten Gar vffgeblasen ohne Frucht Mit andern Herrn/dahin gesucht/ Biß ettwa der gesalbte Sohn/ Der heiige Christ von E h m mit höhn Gestossen vnd gestürtzet ist/ Da seind gegrüblet alle List. 1 5 7
W A r u m b toben die Heiden,
Vnd die Leute reden so vergeblich. 2 D i e Könige im Lande lehnen sich auf [...] Wider den H E R R N vnd seinen Gesalbeten.
Nimmt man diese Stelle aus, die als Beweis „guten lutherischen Willens" zum Auftakt des Psalters gemeint sein könnte, fehlen entsprechende christologische Präzisierungen selbst in jenen, nach Luther besonders signifikant auf Christus weisenden Psalmen (etwa Ps 68). Auch sonst ist dem Text keinerlei Rücksicht auf dogmatisch umstrittene Psalmstellen anzumerken, aus denen sich eine deutlich beabsichtigte Parteinahme ablesen ließe. Dafür enthalten die Gedichte zu Ps 12 und 46 Anspielungen auf die entsprechenden Psalmlieder Luthers. Die gleichsam kanonischen Verse des Reformators werden von Hornmolt zitiert wie von anderen Humanisten die lateinischen Klassiker. 158 157 158
A.a.O., S. l f . „So rott/HER/auß die falsche Lehr." S. 13'. „Die vöste Burg", S. 64 r.
124
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In Ps 68, 29 ist von einem König die Rede, den die Lutheraner meist mit Christus indentifizieren. Im Unterschied dazu scheint Hornmolt hier einen weltlichen Herrscher zu sehen. Die dem Vers 26 entsprechenden Reimpaare enthalten eine eigenartig anschauliche Ausschmückung. 26. Di Singer alle gehn vorher/ Darauff so folgen auch daher V f aller Instrumenten A r t Wol abgerichte Leuth: Da part Sich je zwo Rott/die Musicanten Von heimbschen vnnd von abgesandten. Das hochgeborne Frawe Zimmer Di paucken vnd die sungen immer: 1 5 9
2 6 Die
Senger gehen vorher,
Darnach die Spielleute
vnter den Megden die da paucken.
Die Beschreibung wirkt wie eine Mischung aus morgenländischen und höfisch barocken Festumzügen (zu denen die gekrönten Häupter, wie man weiß, mit Vergnügen in Kostüme schlüpften). In Vers 29 wird vollends deutlich, daß Hornmolt das weltliche Reich vorschwebt und nicht die endzeitliche Herrschaft Christi. 29. G o t hat dir vffgericht die Reich/ Di Fürstethumb/das er zugleich Zuschützen ihm für hat genommen/ Wa wir Regenten han bekommen/ Di fromb/gerecht wi tapffre Leut Sich halten: also wolst noch heut Vnd allezeit dis arm Gemecht Erhalten [...]. 1 6 0
DEin G o t t hat dein Reich auffgerichtet,
Das selbe woltestu G o t t uns stercken, Denn es ist dein Werck.
Anstatt diese Stelle — nach dem hergebrachten geistlichen Sinn — zur Betonung des konfessionellen Standpunktes zu verwerten, hat Hornmolt eine Apologie des von Gott eingesetzten Herrschers eingeflochten. Dies steht in Einklang mit der historischen Entwicklung (unter Friedrich I. wurde in Württemberg eine absolutistische Stellung des Herzogs gegen die Landstände durchgesetzt) und huldigt der neugewonnenen Macht des Fürsten. Der herzogliche Rat Hornmolt bekundet damit seine pflichtschuldige Achtung vor dem Landesherrn. Der Autor elidiert häufig Vokale, bzw. fügt solche ein, um die Wörter seinem jambischen Metrum anzupassen. Auch syntaktische Umstellungen, unter denen die Klarheit und die rhetorische Organisation der Sätze leiden, sind nicht selten. Aber diese „Unreinheiten" finden sich bei ihm nicht in dem gleichen Ausmaße wie noch in den Dichtungen zahlreicher Vorgänger. Hornmolt ist gewissermaßen auf dem Wege zur Versreform, hat jedoch noch nicht den entscheidenden Schritt zu stren159 160
A.a.O. S. 96". Ebenda.
Psalmen unter dem Einfluß der Reformation
125
ger Sprachrichtigkeit und akzentuierender Prosodie getan wie 22 Jahre später Opitz. Bezeichnend für Hornmolts Stil (in seiner lateinischen und deutschen Poesie) sind dreigliedrige Variationen vom Typ „zu gnüge/reichlich/ vngemessen". Mitunter finden sich parallele Verse: (Ps 59) 4 Si lauren v f f di Seele mein/ Si flicken allerhand hinein. Si rotten args Gesind zu sich So doch nit hab beschuldet ich. 1 6 1
4 [...]
Sie lauren auff meine seele,
Die Starcken samlen sich wider mich, ohne meine Schuld vnd missethat.
Weit häufiger jedoch ist schweres Enjambement. An vielen Stellen hat der Autor die Parallelismen der Vorlage aufgelöst, wenn ihm das zweite Glied dem Sinn des ersten nichts hinzuzufügen schien. Die Verwendung der Parallelismen ist also bei Hornmolt kaum auf ein bewußtes Aufgreifen der biblischen Besonderheiten zurückzuführen. Der bildkräftige Ps 42 („Wie der Hirsch schreyet nach frischem Wasser") weist im 6. und 12. Vers eine wiederkehrende Formulierung auf. Diesen Kehrvers wandelte Hornmolt in drei fast identisch wiederholte Paarreime um. Darüber hinaus hat er den Anfangsversen einige Zeilen hinzugefügt, die ebenfalls das Motiv dieses Refrains enthalten. Es handelt sich um eine Modifikation, welche die Plastizität der psalmischen Metaphern hinter das abstrakte christliche Thema „Sehnsucht nach dem ewigen Leben" zurücktreten läßt. Dagegen hat Hornmolt in seiner lateinischen Version desselben Psalms die Kehrverse der Vorlage nicht wiedergegeben, sondern durch Variationen ersetzt. Offenbar ließ sein Stilgefühl im Lateinischen ein geringeres Maß an Wiederholung und Monotonie zu als im deutschen Gedicht. Auch fehlt im deutschen Buch die im lateinischen Psalter vielfältig herangezogene heidnische Mythologie. Auch in diesem literarisch ambitionierten Humanistenpsalter ist die Tradition des deutschen Kirchenliedes noch wirksamer als die stilistischen Regeln der klassizistischen Poetik.
161
A.a.O., S. 83 r .
Exkurs 2 Lateinische Psalterien des 16. Jahrhunderts in klassischen Versmaßen Die ersten von der Reformation angeregten Psalmlieder in deutscher Sprache entstehen in den zwanziger und dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts. Zur selben Zeit beginnt eine breitere Beschäftigung der neulateinischen Dichter mit den Psalmen, eine Beschäftigung, die sich sowohl in den katholischen wie in den protestantischen Regionen verbreitet. Es erscheinen lateinische — vereinzelt sogar griechische — Bußpsalmen und Gesamtpsalter in verschiedenen antiken Versmaßen, häufig in elegischen Distichen. Gemessen an der Vielzahl dieser metrischen Psalmenbearbeitungen und den häufigen Neuauflagen, erfreute sich diese Gattung einer kaum geringeren Nachfrage und Beliebtheit als die vernakularen (volkssprachlichen) Reim- und Liedpsalter. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts jedoch scheint sich die Zahl der lateinischmetrischen Neubearbeitungen und Nachdrucke zu verringern, bis sie nach 1620 unbedeutend wird. 1 Wie die neulateinische Dichtung insgesamt wurden auch diese Werke bisher von der Germanistik weitgehend ignoriert, unter der Forschungsliteratur zu den Psalmen erwähnt sie nur der Artikel im Reallexikon. 2 Nachdem die ältere Humanismusforschung die neulateinische Bibeldichtung aufgrund gattungsästhetischer Verdikte nur am Rande behandelt hatte, 3 bemühten sich in den letzten Jahrzehnten einige wenige Renaissanceforscher um eine Sichtung des umfangreichen Mate1
2 3
Johannes A . Gaertner gibt f ü r die Gattung den Zeitraum von etwa 1520 bis 1620 als den wesentlichen an. Vgl. Johannes A . Gaertner: Latin Vers Translations of the Psalms 1 5 2 0 - 1 6 2 0 . In: Harvard Theological Review. Vol. 49. (1956) S. 2 7 1 - 3 0 5 ; S. 271. Vgl. A . Hübner, a.a.O., S. 286. So schreibt Ellinger in seinem Standardwerk über die „Mischung" von biblischen und klassischen Gattungen mit einem prinzipiell ablehnenden Tenor. Vgl. G e o r g Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert. 3 Bde. Berlin u. Leipzig 1 9 2 9 - 3 3 . Ähnlich wie Ellinger urteilte auch bereits der Biograph des Eoban Hess: Carl Krause: Helius Eobanus Hessus. Sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Cultur- und Gelehrtengeschichte des 16. Jahrhunderts. 2 Bde. Gotha 1879.
Lateinische Psalterien des 16. Jahrhunderts in klassischen Versmaßen
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rials, allerdings nicht im Zusammenhang mit dessen gleichzeitigen vernakularen Pendants, sondern mit Blickrichtung auf die anderen Gattungen der Neulateiner und auf die weitere Entwicklung und Bedeutung der Bibeldichtung. 4 Auch liegen bisher noch keine Studien zu Stil und Inhalt der einzelnen Werke vor. Man hat in den letzten Jahren immer wieder auf den lange vernachlässigten Bereich neulateinischer Dichtung und deren kaum beachteten Zusammenhang zur deutschsprachigen Literatur hingewiesen. 5 Erst jetzt beginnt man allmählich der Zweisprachigkeit der damaligen Gelehrten stärker Rechnung zu tragen und auch die lateinischen Werke der deutschen Autoren stärker einzubeziehen. In der Psalmendichtung ist der Zusammenhang von vernakularer und lateinischer Poesie besonders auffällig. Der etwa zeitgleiche Beginn der Gattungen wurde bereits erwähnt. Während des 16. Jahrhunderts scheinen die volkssprachlichen Psalmlieder und die lateinischen Psalmgedichte nebeneinander produziert worden zu sein, manche Autoren (Seinecker) schufen Werke in beiden Genres. Als dann aber im 17. Jahrhundert mit Martin Opitz das literarische Interesse der Humanisten sich der deutschsprachigen Poesie annahm und nun auch anspruchsvolle deutsche Psalmgedichte entstanden, begann die neulateinische Psalterparaphrase zu stagnieren. In einer Übergangsphase widmeten sich bereits einige neulateinische Autoren dem deutschen Psalmgedicht, so etwa Paul Schede und Sebastian Hornmolt. Es läßt sich daher vermuten, daß die deutschsprachigen Psalter im 17. Jahrhundert die gleichen oder ähnliche Funktionen erfüllten wie zuvor die neulateinischen — zumal beide Gattungen von derselben Schicht gebildeter Humanisten hervorgebracht und rezipiert wurden. 4
5
Neben dem erwähnten Artikel von J. A. Gaertner sind das: W. Leonard Grant: European Vernacular Works in Latin Translation. In: Studies in the Renaissance. Vol. 1. (1954) S. 120—156. — Ders.: Neo-Latin Vers-Translations of the Bible. In: Harvard Theological Review. Vol. 52. (1959) S. 2 0 5 - 2 1 1 . - Lowell C. Green: The Bible in Sixteenth-Century Humanist Education. In: Studies in the Renaissance. Vol. 19. (1972) S. 1 1 2 - 1 3 4 . Eine Art kommentierte Bibliographie wurde bereits zur Jahrhundertwende erstellt: M. Hugue Vaganay: Les Traductions du Psautier en Vers Latin au XVIe Siècle. Fribourg (Suisse) 1899. — Weitere Titel enthält: Verzeichnis der im deutschen Sprachgebiet erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts. (VD 16) Hg. v. d. Bayerischen Staatsbibliothek in Verbindung mit d. Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Stuttgart 1983ff. Bd. 1.2. Stichwort „Bibel". Vgl. etwa Karl Otto Conrady: Die Erforschung der neulateinischen Literatur. Probleme und Aufgaben. In: Euphorion 49. (1955). S. 413—445 und ders.: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962.
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Diejenigen poetologischen Interessen, die im vorangegangenen Jahrhundert noch an den neulateinischen Werken verarbeitet worden waren, zogen nun die nach denselben rhetorischen Regeln verfertigten deutschen Psalmoden und -elegien auf sich. Stilistische Differenzen zwischen den lateinischen Psalmgedichten und den deutschen Psalmliedern der Reformationszeit einerseits und Gemeinsamkeiten von lateinischen und deutschen Psalmgedichten des 16. und 17. Jahrhunderts andererseits können einen solchen Ubergang der literarisch anspruchsvollen Psalmgedichte von der lateinischen in die deutsche Sprache belegen, es erscheint daher angebracht, die Neulateiner in die Untersuchung einzubeziehen. Die im Rahmen dieser Darstellung erforderliche Beschränkung auf wenige Beispiele ließ uns vier Psalterien auswählen, die einen repräsentativen Zeitraum abdecken und sämtlich von deutschen Autoren stammen. Zwar ist die neulateinische Dichtung ein übernationales Phänomen, und ihre Rezeption ist nicht durch die sonst geltenden Sprachgrenzen eingeschränkt, weshalb es durchaus wahrscheinlich ist, daß auch in Deutschland die Psalterien von anderen europäischen Autoren gelesen wurden, wie der Psalter des berühmten Schotten Paul Buchanan (1564) und das Buch der Italiener Antonius Flaminius und Franciscus Spinula (1561). Doch interessieren uns hier stärker die Arbeiten jener Autoren, die zugleich in der deutschsprachigen Literatur engagiert waren und solche Psalter, von denen exemplarische und normative Wirkungen ausgingen. Das letztere gilt für prominente Autoren der Reformationszeit wie Hessus und Spangenberg, das erstere für Seinecker und Hornmolt, zwei Autoren der zweiten Jahrhunderthälfte, von denen sowohl lateinische als auch deutsche Psalmparaphrasen überliefert sind.
Helius Eobanus Hessus Eine der ersten und wichtigsten Bearbeitungen ist das Werk des Helius Eobanus Hessus (eigentlich: Koch, 1488 — 1540), der als Humanist und Dichter weithin berühmt war. 6 Er hatte diesen lateinischen Psalter nach seiner Berufung an die Universität Marburg abgeschlossen und das Buch dem Stifter dieser ersten protestantischen Neugründung gewidmet, dem Landesherrn Philipp von Hessen. 6
PSALTERIVM VNIVERSVM CARMINE ELEGIACO REDDITVM AQVE EXPLICATVM, AC NVPER IN SCHOLA MARPVRGENSI AEDITVM. Per Helium Eobanum Hessum, publicum eius Academiae professorem. [...] Marpurgi ex officina Eucharij Ceruicorni Aggripinatis, ANNO M.D.XXXVII.
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Vorausgegangen waren dem Gesamtpsalter kleinere Sammlungen von lateinischen „Psalmelegien", die Hessus auf Anregung von Melanchthon und Luther angefertigt hatte (1527 und 1530). So hatte Luther 1529 seine Scholie zum 118. Psalm mit der Bitte an Hessus gesandt, diese poetisch zu paraphrasieren, ,denn dieser Psalm sei ihm ein Heilmittel gegen viele Fallen und Listen des Teufels gewesen; daher liebe Luther den Text so, daß er ihn in allen Sprachen, mit allen Künsten und Figuren veredeln und bekannt machen möchte'. 7 In einem Brief Melanchthons an Hessus wird das Wohlgefallen der Wittenberger an den bereits angefertigten Psalmgedichten ausgesprochen. Melanchthon sieht neben dem ästhetischen auch den pädagogischen Wert dieser biblischen Elegien: Er will sie im Schulunterricht verwenden. 8 Von der zweiten Ausgabe des Gesamtpsalters an (1538) wurden dem Psalterium Empfehlungsbriefe von Luther, Melanchthon, Jonas und Spalatin vorangestellt. Außerdem waren nun vierzeilige Argumenta zu jedem Psalm gesetzt; später kam noch je ein Prosakommentar hinzu. Diese Beigaben vervollständigten den Psalter zum Schulbuch, 9 aus dem gleichermaßen antike Dichtkunst und biblische Wahrheit aufgefaßt werden konnten. Doch war das Buch nicht weniger qualifiziert zur ebenso erbaulichen wie genußreichen Lektüre für gebildete Erwachsene, wie aus den angeführten Briefen Luthers und Melanchthons bereits deutlich wurde. Die Zeitgenossen, etwa Hessus' Freund Camerarius, stellen den Psalter über die profanen Dichtungen des Autors und nennen diesen den hessischen David. 10 Vergleicht man die briefliche Bitte Luthers an Hessus mit den viel ausführlicheren und detaillierteren Anweisungen zur deutschsprachigen Psalmlieddichtung im Spalatinbrief (s.o.), so fallt auf: Das deutsche Psalmlied soll zwar ,einfach und volkstümlich dem Psalmtext so getreu wie möglich' folgen, das lateinische Psalmgedicht dagegen soll die ,neuen und höfischen Töne' gerade nicht meiden, sondern die Psalmen 7
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„Nam hic Psalmus mihi saepe fuit praesentissimo remedio contra multas insidias et machinas diaboli, hoc est cur eum sie amem et in omni lingua, omnibus artibus et figuris cupiam exeoli et inclarescere." W A B 5, S. 201f. Nr. 1506. „[...] sed cupio exercitare iuventutem, ne hoc genus exercitationis intermittat". Philippi Melanchthoni Opera quae supersunt omnia. Edidit Karl Gottlieb Bretschneider. Halle 1834ff. (Nachdruck 1963) Vol. 1. Sp. 1 0 8 1 f . Als Beleg für eine tatsächliche Verwendung des Psalters als Schulbuch läßt sich ein aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts stammender Buchkatalog der protestantischen Lateinschule in Weiden anführen, in welchem Eobanus' Werk enthalten ist. Vgl. Michael Hackenberg: Zu christlichen Schulen verwandelt werden: the catalogue of the Lateinschule at Weiden in the Oberpfalz. Archiv f. Reformationsgeschichte. 67. (1976) S. 2 3 2 - 2 5 3 . S. 244. Vgl. C. Krause, a.a.O., S. 101 und 207.
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unter Anwendung aller Künste und Figuren zur Geltung bringen. Luther empfiehlt das genus humile und die einfache Strophenform für den Gemeindegesang, für die fromme Poesie des Gelehrten jedoch das genus grande und kunstvolle (also antike) Metren. Offenbar ging man davon aus, daß die Adressaten der lateinischen Psalmen gebildet genug waren, um auch in einer komplizierteren Sprachform den Sinn der Psalmen richtig zu erfassen. Ein einfacher Stil erübrigte sich also. Die hohe künstlerische Form, die gefordert wurde, entspricht den volkstümlichen Formen (Reim und Choralmelodie) der Psalmlieder: Den Affekt des Gelehrten sprach die metrische Formung der antiken Oden und Elegien eher an. Außerdem scheint die lateinische Psalmendichtung weniger auf die Verbreitung von Gotteswort und wahrer Lehre festgelegt gewesen zu sein, denn bei ihren Lesern konnte man ohnehin einige Grundkenntnisse in der Theologie voraussetzen. Dem neulateinischen Dichter stand es daher frei — oder vielmehr war es ihm nahegelegt — alle seine Künste auf die Verschönerung des Gotteswortes zu verwenden. Für das theologisch richtige Verständnis, etwa an den Lateinschulen, wurde dann gesorgt, indem man die Gedichte gemeinsam mit Summarien, Kommentaren etc. abdruckte. Die untersuchte erste Ausgabe von Hessus' Psalterium enthielt jedoch außer den Gedichten zunächst nur eine Dedikation in Distichen, eine Elegie über Frucht und Nutzen des Psalmenlesens (beide vom Autor) und einen alphabetischen Index. Die sonst in den Werken der Humanisten üblichen Ehrengedichte fehlen. In der Widmung würdigt Hessus den Landgrafen Philipp von Hessen als Fürsten und Anreger der Künste. Er wehrt sich im voraus gegen die mögliche Kritik, er habe mit seinem Psalter ein größeres Werk als üblich und ziemlich unternommen. 11 Die Empfehlung an den Leser enthält die bekannten Topoi von der trostspendenden Kraft der Psalmen, die wirksam seien gegen alle Nöte, welche den Menschen treffen können. Es wird darauf hingewiesen, daß durch Luthers Übersetzung dieses „Heilmittel" nunmehr allen zugänglich sei. Hessus numeriert die Psalmelegien wie Luther nach der hebräischen Überlieferung, gibt aber als Titel jeweils die Anfangsworte nach der Vulgata wieder. Diese Anfangsworte dienten vermutlich neben der Psalmnummer als Gedächtnisstütze und Überschrift; dem Gebildeten dürften sie automatisch den Text der Vulgatapsalmen in Erinnerung gerufen haben. „Dixerit audaces aliquis fortasse Camoenas Aggressus maius quam decuisset opus."
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Hessus' Paraphrasekonzept soll im Einzelnen am Beispiel von Ps 142 erläutert werden (zum Vergleich haben wir links die Nummern der entsprechenden Bibelverse angegeben). PSALMVS CXLII. Voce mea ad dominum clamaui V. 2 V. 3 V. 4
V. 5
V. 6
V. 7
V. 8
Assiduis dominum lachrymis et uoce precabar, Diuinam assidua uoce precabar opem. Ante ipsum mea verba gravesque effundo dolores, Ipsi quae patior uulnera saeua queror. Mens mea cum duris iacet obruta et anxia rebus, Quae sequar et fugiam me deus ipse uides. Quae saepe fuit pedibus uia trita, sub illa Fallaces laqueos occuluere mihi. Hac illac oculos uertens per cuncta ferebam, Nemo qui misero uellet adesse fuit. Iam fuit optatae spes omnis adempta salutis, Nemo fuit placidam qui mihi ferret opem. Tunc tua supplicibus uenerabar numina uerbis mi deus, o mea spes, tu mea certa salus. Tu mihi praesidium deus es, per te mihi uitae Pars est, continget quantulacumque super. His lachrymis precor intendas, moueare querelis, Nam miser exhaustus pene dolore fui. Erue ab hoste odio qui me insectatur acerbo, Nam mihi nunc nimium praeualere mali. Detrahe uincla animae quibus hoc in carcere pressa est Vt nomen celebret libera facta tuum. Tunc mihi iustor, iungent socia agmina coetus, Si mihi praestiteris quae bona tanta rogo. 1 2
Zunächst fallt auf, daß Hessus sich in keiner Weise an den Vulgatawortlaut anlehnt; nur einzelne wenige Worte sind in das Gedicht übernommen, und unter diesen sind so gebräuchliche wie „voce", „via", „spes" und „anima". Lediglich „laqueos" und „effundo" sind seltenere Vokabeln. (Möglicherweise soll die Verwendung von „laqueos " unterstreichen, daß Hessus hier mit Luther den Plural setzt, im Gegensatz zum Singular „laqueum" der Vulgata.) 13 Es geht dem Autor nicht um die Ähnlichkeit, sondern um die Variation, die Umschreibung des bekannten Textes. Die Umschreibung dient nicht wie in Luthers deutschen Paraphasen dazu, theologische Inhalte zu unterstreichen — die theologi12
13
Psalterium universum, a.a.O., S. 187f. Abkürzungen wie dum für dominum, pcabar für precabar, vba für verba wurden aufgelöst. Vgl. den Vulgatatext unseres Beispielpsalms. Hessus war nach Ansicht seines Biographen Kramer zwar nicht des Hebräischen mächtig, aber es lagen ihm Luthers Übersetzungen vor. Vgl. C. Kramer, a.a.O., S. 100.
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sehen Zentralbegriffe fehlen in der lateinischen Elegie. Nur in Vers 6 findet sich eine Stelle, die als christologische Verdeutlichung aufgefaßt werden könnte: ,durch dich (Christus) habe ich Teil am (ewigen) Leben'. Kein Abschnitt ist besonders gewichtet: Die (kürzeren) Verse 2 und 3 sind mit je einem, alle weiteren Verse mit je zwei Distichen wiedergegeben. Das expressive „clamavi" mildert Hessus zu „precabar". Die lapidare Ausdrucksweise der Vulgata weicht einer wortreicheren Sprache, die Adjektive, Tropen und Figuren zuläßt, 14 wenn auch in Maßen. In der Diktion scheint sich Hessus stärker an das Latein der klassischen Dichter anzulehnen als an die kirchlichen Schriftsteller und die Bibelsprache, allerdings dürften hier auch metrische Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben. Geht man (wie allgemein üblich) nicht von den drei, sondern eher von zwei Stillagen aus, so tendiert der Text deutlich zum genus grande. Das schließt nicht aus, daß Hessus' Psalmstil im Vergleich mit anderen, zumal späteren neulateinischen Psaltern eher schlicht wirkt. Individual- und Zeitstil prägten stark die jeweilige Auffassung von einer dem genus grande angemessenen Stilhöhe und erschweren heute oft die Bewertung. 1 5 Es lassen sich drei Gründe vermuten, die den Autor zur Wahl des elegischen Versmaßes veranlaßten. Erstens ist die Elegie unstrophig wie die Psalmen; zweitens kommt die Paarigkeit des Distichons dem Parallelismus membrorum entgegen; drittens läßt sich die Klage (als häufigstes Psalmthema) durchaus mit dem traditionellen Kanon von Elegiestoffen vereinbaren, insbesondere mit der mittelalterlichen Trauer- und Klageelegie. Überhaupt aber wies die Elegie als die häufig-
14
15
Man muß bedenken, daß eine im hebräischen Kontext noch „eigentliche" Mitteilung („sie legten mir Stricke auf den Weg") in Hessus' Text eine metaphorische Bedeutung erlangt. Eine solche Figur dürfte in einem streng dem genus humile folgenden Gedicht nicht „unübersetzt" bleiben. Wenn Karl Otto Conrady bei der Beurteilung neulateinischer Gedichte lieber von einem „,mittleren Niveau' der Stilhöhe" spricht (hauptsächlich bezogen auf Petrus Lotichius), so hat er dabei weniger das damalige Gattungsgefüge und dessen Stillehre im Auge, als vielmehr die diachrone Stilentwicklung in der zweiten Jahrhunderthälfte. Vgl. K . O. Conrady: Lateinische Dichtungstradition, a.a.O., S. 120. An das Urteil Conradys schließt sich noch Eckart Schäfer in seiner Habilschrift über die Horaznachfolge deutscher Neulateiner an. Vgl. E. Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands. Wiesbaden 1976. S. 22 und 68. Wie aber kann man Hessus und die anderen Dichter der ersten Jahrhunderthälfte an einer Stilhöhe messen, die zu ihrer Zeit noch gar nicht geübt wurde? U. E. empfiehlt sich die Unterscheidung zwischen einem niederen (Prosa-) und einem gehobenen Stilniveau. Die Psalmgedichte lassen sich wie die übrige neulateinische Lyrik der zweiten Klasse zuordnen.
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ste Gedichtform der Neulateiner eine sehr große Bandbreite von möglichen Themen auf. 16 Der syntaktische Parallelismus der Psalmverse, schon in der Vulgata zum Teil durch den Chiasmus variiert (V. 3), wird von Hessus zwar formal wiedergegeben, indem fast alle Distichen aus zwei einander zugeordneten syntaktischen Kola bestehen, deren Grenze mit der Versgrenze zusammenfallt (Enjambement nur in Zeile 9/10 und 17/18). Doch diese Parallelität wird aufgelockert mit Hilfe von Wortwahl und -Stellung. Werden, wie in Zeile 4, im Pentameter drei Wörter des Hexameters wiederholt („assiduus", „vox", „precari"), so ist die Reihenfolge variiert. Solche massierte Wiederholung findet sich jedoch ohnehin nur am Beginn des Gedichtes und vielleicht auch nur als Entsprechung für den synonymen Parallelismus im Psalmvers. Die Variationen in Wortwahl und -Stellung unterscheiden den Stil der Psalmelegie deutlich von der Psalmensprache (und vom deutschen Psalmlied). Sie lassen sich erklären mit dem klassisch-antiken Stilideal, andererseits aber auch mit dem bereits im Metrum der Elegie vorgegebenen kräftigen Parallelismus, der, noch unterstützt von paralleler Syntax, das Gedicht übermäßig monoton werden ließe. Daß Hessus Monotonie als ästhetischen Effekt nicht schätzte, zeigt sich besonders an seiner Paraphrase zur Litanei von Ps 136. Hier hat er den in jedem der 26 Verse auftretenden Refrain („denn seine Güte währt ewiglich") 26 mal mit einer anderen Umschreibung ausgedrückt. Es ist klar erkennbar, daß dem Autor als Stilideal für seine Psalmelegien die Lyrik der Goldenen Latinität vorschwebte — und nicht das Latein der Vulgata. Um so bemerkenswerter ist aber, daß in unser Beispielgedicht trotz programmatischer Klassizität ein wichtiger Archaismus des Psalmstils eingegangen ist: die asyndetische Reihung gleichwertiger Hauptsätze. Die Zeilen 3 — 6 und 11,12 weisen solche unverbundenen Sequenzen von Hauptsätzen auf, die im biblischen Latein zwar fast durchgängig, in klassischer und spätantiker Prosa jedoch sehr selten sind. Wie Conrady feststellt, sind asyndetische Reihungen von Hauptsätzen, die in deutscher Barocklyrik eine so wichtige Rolle spielen werden, selbst in den späten neulateinischen Dichtungen kaum bezeugt. 17 Wir haben es hier also offenbar mit einem Reflex des biblischen Stils zu tun, der möglicherweise auch in den späteren deutschen Psalmgedichten ähnlich sichtbar wird. Das Psalterium des Eobanus Hessus ist eine der erfolgreichsten lateinischen Bearbeitungen des Psalters gewesen, was sich deutlich an 16 17
Vgl. E. Schäfer, a.a.O., S. 39. Vgl. K . O. Conrady, Lateinische Dichtungstradition, a.a.O., S. 148f.
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der großen Zahl von Neu- und Nachdrucken ablesen läßt. C. Kramer zählt 50 Ausgaben allein bis zum Ende des Jahrhunderts, 18 28 Editionen nennt das Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts. Diese Gedichte, die sich in der Reformationszeit einer so großen Beliebtheit und Wertschätzung erfreuten, waren für den Literarhistoriker Kramer vor hundert Jahren „nichts als eine elegante, verwässerte Paraphrase". 19 Wir halten Hessus' Psalter für recht gelungen, verglichen mit anderer neulateinischer Bibelpoesie. Ein gerechtes Urteil von den Fachphilologen bleibt abzuwarten.
Johann Spangenberg Nur sieben Jahre nach Hessus ließ Johann Spangenberg seinen ebenfalls in Distichen abgefaßten Psalter in Magdeburg drucken. 20 Spangenberg (1484—1550), Vater des Cyriakus Spangenberg (s.o.), war seit 1524 protestantischer Pfarrer und Begründer der Lateinschule in Nordhausen. 1546 wurde er zum Generalinspekteur des Mansfelder Kirchenund Schulwesens ernannt. 21 Mit der erzieherischen Tätigkeit Spangenbergs scheint auch sein Psalter verknüpft zu sein. In seiner Vorrede schreibt der Geistliche, er habe die Arbeit teils der Jugend wegen, teils aus Liebe zu wahrer Frömmigkeit und zu eigener Übung unternommen und lobt die auch in schwerster Not wirkenden Tröstungen der heiligen und prophetischen Gedichte. 22 Außer der Vorrede des Autors ist den Gedichten eine zweite Präfatio vorangestellt, deren Verfasser Ambrosius Lucanus, Schulmeister in Nordhausen, seine Zöglinge mahnt, das folgende Werk zu eigenem Nutzen wieder und wieder zu lesen. Spangenbergs Elegien sind ohne weitere Zusätze (Argumenta etc.), nur mit Psalmnummer und Vulgatatitel abgedruckt. Der Titel bildet auch den Anfang des jeweiligen Gedichtes, darüber hinaus sind die Anleihen bei der Vulgata eher spärlich. Dafür hat sich Spangenberg mehrmals an Hessus' Arbeit angelehnt, die er ja auch in seiner Vorrede
18 19 20
21 22
Vgl. C. Kramer, a.a.O., S. 205. C. Kramer, a.a.O., S. 100. PSALTERIVM CARmine Elegiaco redditum per Ioannem Spangebergium, Vrbis Northusanae Ecclesiasten. (Am Ende:) Anno M.D.XLIIII. M A G D E B V R G A E EX officina Michaelis Lottheri. Siehe RGG 3 , Bd. 6, S. 223. „CVM partim iuuentutis gratia, partim ac maxime uerae pietatis amore, privatim exercitii causa, Psalmos Dauidis latino carmine donassem [•••]"• A.a.O., S. A 2 r .
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als vorbildlich gelobt hat. Ähnlichkeiten sind besonders deutlich in den Zeilen 5, 8, 13, 15 und 18 unseres Beispieles. P S A L M V S CXLII. Voce mea ad dominum clamaui V. 2 V. 3 V. 4
V. 5 V. 6 V. 7
V. 8
Voce mea ad dominum clamaui, uoce precabar, Effundo et maestas ad tua sancta preces. Anxia cum grauibus mea mens iacet obruta curis. Tu mihi coelestem fers pie fautor opem. Abscondere mihi laqueos, uia plena periclis, Nusquam tuta fides, tu mihi certa salus. Non est quae fugiam spes omnis adempta salutis, Nullus adest misero tu modo confer opem. Ad te clamo Deus tu spes mea cura salusque, Tu solus uitae portio certa meae. Tu moueare meis lachrymis grauibusque querelis, Nam misero insultant fraude dolisque mihi. Erue me ä cunctis qui me insectantur iniquis, Diuino illorum robore frange manum. Quaeso meam educas animam de carcere tetro, Vt laudet nomen libera facta tuum. Ad me convenient iusti, et tua facta loquentur, Cum mihi praestiterit quae benefacta rogo. 2 3
Stilistisch und inhaltlich unterscheidet sich Spangenbergs Psalm kaum von Hessus' Paraphrase. Spangenbergs Text ist kürzer, da die Verse 2, 3, 5, 6 gerafft wurden. Die Stilhöhe tendiert ebenfalls zum hohen Stil, theologische Inhalte sind nicht stärker als bei Hessus betont; auch ist keine lehrhaftere Tendenz erkennbar.
Nikolaus Seinecker Seinecker (1530—1592), lutherischer Geistlicher und Theologe der „zweiten Generation", 24 ließ 1573 seinen lateinischen Psalter gemeinsam mit seinen Grabschriften auf berühmte Zeitgenossen erscheinen. 25 Vorangestellt wurden: ein Widmungsgedicht an den Herzog Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg, ein poetisches Vorwort, Erläuterungen zum
23 24
25
A.a.O., S. 92"f. Zur Biographie Selneckers vgl: Nikolaus Seinecker 1530 — 1592. Herausgegeben im Gedenkjahr zum 450. Geburtstag 6. 12. 1980 von Alfred Eckert und Helmut Süß. Hersbruck 1980. D. NICOLAI SELNECCERI P A R A P H R A S I S PSALTErij: Sive CarmiNVM DAVIDICORVM Libri quinqué. EPITAPHIA V I R O R V M insignium inserta Psalmo nonagésimo. POEMATVM SACRORVM PARS PRIMA. HENRICOPOLI. M.D.LXXIII.
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Verständnis der Psalmen und Ehrengedichte von Nikodemus Frischlin und Martin Crusius. Seinecker verwandte zur Psalmenparaphrase verschiedene Metren, darunter das sapphische Odenmaß (Ps 76) und andere strophische Formen. Viele Psalmen stehen aber auch im elegischen Distichon, so unser Beispielpsalm 142. VERSIO PSALMI CXLII. Voce mea ad Dominum clamaui V. 2 V. 3 V. 4
V. 5
V. 6
V. 7
V. 8
Voce mea ad Dominum clamaui, uoce sonora Ad Dominum supplex fundo refundo preces. Effundo mea uerba sinu concepta paterno, Angores recito, mente pauento, meos. Spiritus ille meus quando est nimis aeger et orbus Tu mihi fers promta mente salutis opem. Insidias D E V S ecce, struunt et retia tendunt, Quas sulcem sanctas, impediuntque vias. Ad dextra mihi spectanti non restat amicus, Et tristi nullus tempore adest. Exitus heu nusquam, fuga nulla, sed haereo spretus, Nemo animae curam suscipit ipse meae. Ergo D E V S tibi sto supplex, teque invoco solum, Tu mihi praesidium, pars mea, uita salus. Vivorum in regione mihi das gaudia uitae, Vnum si te habeam, caetera curo nihil. Accipe quas fractus iam multa clade, querelas Ingemino, nimia nam ratione premor. Oderunt qui me, tumido sunt uentre potentes, Eripe me, sine te vis mea strata iacet. Duc animam diro dirae de carcere mortis, Et uitae serues iusque decusque meae. Sic nomen laudabo tuum, sie saneta Corona Iustorum unanimi carmina corde dabit. Sic socios spectabit meos tibi gratia canentes Carmina qui mihi fers mitis et aequus opem. 26
Wie bei Spangenberg beginnt das Gedicht mit den Worten des Vulgatatextes. Die Stilhöhe entspricht dem genus grande, in der Wortwahl bemüht sich der Autor um Originalität gegenüber seinen Vorgängern und der lateinischen Bibel. Vers 8 ist noch um ein Distichon ausführlicher wiedergegeben als bei Hessus. Deutlicher als in den Gedichten der beiden anderen Autoren ist bei Seinecker erkennbar, daß die Psalmbilder in einem christlichen Sinne aufgefaßt werden: In Zeile 10 hat der Psalmist nicht unter allgemeinen Nachstellungen seiner Verfolger zu leiden, sondern die ,Netze und Fallen' sind auf den ,heiligen Wegen' ausgelegt — ein Bild für die Anfechtung und Versuchung des Frommen durch teuflische Mächte. In ähnlicher Weise hat Seinecker das Bild 26
A.a.O., S. n l v ff.
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aus Vers 8 ins Spirituelle gewendet: ,Führe (meine) Seele aus dem schrecklichen Kerker des schrecklichen Todes' (Zeile 23). Auch in anderen Psalmgedichten weicht Seinecker mit einer theologisch orientierten Paraphrase von der Praxis seiner Vorgänger Hessus und Spangenberg ab. Der Bußpsalm 130 ist in zwei Versionen wiedergegeben, von denen die erste stärker die emotionale Situation des Beters markiert, während die zweite Fassung Luthers Theologeme berücksichtigt. 27 In Ps 29 sind die mythischen Wasserfluten nach althergebrachter Allegorese als die Wasser der Taufe dargestellt; der Weinstock in Ps 80 und die Braut in Ps 45 sind in deutliche Beziehung zur Kirche gesetzt. Diese exegetischen Absichten Selneckers sind in den lateinischen Psalmgedichten aber doch nur verhalten angedeutet, vergleicht man sie mit der entschiedenen Aktualisierung etwa des 142. Psalms in der entsprechenden deutschen Liedparaphrase des Verfassers. Durch den Titel „Aus dem 142. Psalm" als freies geistliches Lied auf das Psalmthema ausgewiesen, wenden sich die zwölf vierzeiligen Strophen durchgängig und ausführlich gegen „menschliche Rottengeister vnd falsche Lehrer", ganz im Geiste von Luthers „Ach Gott son hymel sich dar eyn", das in den ersten Versen auch zitiert wird. 28 Trotz der freieren Ausgestaltung des Inhalts ist die deutsche Paraphrase syntaktisch und stilistisch einfacher und im Ausdruck konkreter als das lateinische Psalmgedicht. Beispielsweise taucht das Psalmbild des ,Ausgießens der Rede' im lateinischen Text dreimal, aber im deutschen gar nicht auf. Die jeweilige Stilhöhe läßt sich wegen des unterschiedlichen sprachlichen Mediums nur schwer vergleichen; sie scheint nicht sehr weit zu differieren, jedoch beschränkt sich die Paraphrase im Deutschen stärker auf die Ebene der sachlichen Mitteilung, im lateinischen Gedicht dagegen zielt sie auf eine verschönernde Gestaltung des Ausgangstextes. Sebastian Hornmolt Der letzte der hier betrachteten lateinischen Psalter erschien 1596 in Tübingen und war Kaiser Rudolph II. gewidmet. 29 Sein Verfasser war Eine Erweiterung zu Vers 4 lautet: „Qui tibi confidit, qui te timet, ille benignium Te puro Christi sanguine purus habet." A.a.O., S. (1 l l ' f f . ) 28 Siehe W K , Bd. 4. Nr. 342. » Dauidis REGII P R O P H E T A E P S A L M I , P V R I S ac perpetuis Iambis sine elisione expressi, PER S E B A S T I A N V M H O R N M O L D V M , I.V. DOctorem, et Poetam coronatum. Cum Hymnis quibusdam itidem purè Iambicis. [...] T V B I N G A E , Typis Georgij Grupenbachij. A N N O 1596.
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der Doktor und gekrönte Poet Hornmolt, Rat des württembergischen Herzogs. Wenngleich selbst die älteren Nachschlagewerke kaum biographische Angaben über Hornmolt enthalten, bezeugen die zahlreichen carmina honoraria die damalige Bekanntheit und Beliebtheit des Verfassers. Ein Dutzend verschiedene Gelehrte, darunter Paul Schede, Johannes Posthius und Ulrich Bollinger, haben in verschiedenen Metren die Ehrengedichte geschrieben, mit denen das Werk und seine fünf Bücher eingeleitet werden. Dem Psalter selbst folgen noch einige lateinische Hymnen in den Strophenformen der altkirchlichen Gesänge, angeordnet nach den Anlässen des Kirchenjahres. Hornmolt hat seine Psalmgedichte in ,reinen und fortlaufenden Jamben' wiedergegeben, in dem Metrum der ersten neun Epoden des Horaz — einer Form, die gleich dem elegischen Distichon durch Paarigkeit und fehlende Strophengliederung der Psalmenparaphrase entgegenkommt. Allerdings bemühte sich Hornmolt (wie Horaz), die Grenzen der Verse und Verspaare durch häufiges und radikales Enjambement zu überbrücken — die bisher behandelten elegischen Psalmgedichte dagegen zeigten alle ein vorwiegendes Zusammenfallen von Distichon und syntaktischem Kolon. Schon durch dieses Stilelement heben sich Hornmolts Gedichte stärker von den biblischen Parallelismen ab und versuchen, sich der klassischen Poesie anzunähern. Unser Beispiel ist wiederum der 142. Psalm (die Verszählung stammt von Hornmolt selbst). P S A L . CXLII. 3 0 Voce mea ad Dominum clamaui. 2. 3. 4.
5.
6.
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D E V M meä fatigo voce clamitans In alta tecta nubium. Et omne quod subhaeret intus explico Profusione fluminum Vado. Quid hic fit? aspicis tumultuans Meum cor, hostis at dolos Locat, uiamque munit usque fraudibus, A d utra tendo compita. Vbi latus prehendo forte dexterum, Labasco totus, aduena, Homoque dicor undecunque barbarus. Ob id parare nescio Fugam uel hinc uel inde. Tute solus es Meum IEHOVA, gaudium Es una turris agminisque uiuidi In orbe pulchra portio.
A.a.O., S. 285f.
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7. At annuas mihi; frequenter obruor Viris ab inquinantibus. Et eruas ab hostium tyrannide, Minisque praeualentium 8. Meis subinde uiribus. Repente nunc Refringe uincla carceris. Et euehere laudibus: nec exteros Latebit ista gratia.
Die Betitelung mit Nummer und Vulgataworten deckt sich mit den vorangegangenen Beispielen (wenngleich Hornmolt vom Wortlaut der Vulgata in einigen Titeln geringfügig abweicht, als würde er ungenau aus dem Gedächtnis 2itieren). Anders und neuartig an Hornmolts Gedicht ist aber nicht nur das Metrum, sondern vor allem die verfremdende Umschreibung. Hornmolt ist in seiner Wortwahl bestrebt, weder an die Vulgata, noch an seine Vorgänger zu erinnern; seine Paraphrase möchte originell sein. Statt der zwei Kola des zweiten Bibelverses bildet Hornmolt ein einziges, dem er ein Partizip (clamitans) und eine metaphorische Ortsangabe („in alta tecta nubium") hinzufügt. Eigenwillige Metaphern wie dieses ,Wolkendach' finden sich bei Hessus, Spangenberg und Seinecker nicht und gehen weit über das Bildangebot der Vorlage hinaus; zudem erinnern solche Wortfügungen an die spätere Poesie der deutschen Barockdichter. Der Autor bemüht sich, die Stilhöhe und die Schönheit des Textes zu steigern, indem er sie mit Tropen und gewählten Vokabeln ausschmückt. Wörter wie „barbarus" und mythologische Namen hat er auch in vielen anderen Psalmen angebracht. In Ps 10,2 figurieren die Schrecken der Charybdis und die ,safranfarbene' Chimära für Übermut und Tücken des Gottlosen: 2. Charybdis heu profunda cladis asperae, Et horror ingruit grauis. Chimaera seu crocuta quando confremit, tonat, crepat, potentiä Et euehi cupit: sed ecce dorruit, Vt arte diluatur ars. 31
In dem späteren, deutschen Psalter Hornmolts lautet die Stelle so: 2. Diweil der Heid sich überhebt/ Bin auch ich hin/dann hergeschlept. Des arg Geschlecht wil vil vngelück Probieret allen augeblück. Weil der Gottlose vbermut treibet, mus der Elende leiden, Sie hengen sich aneinander vnd erdencken böse Tück. (Ps 10,2. Luther)
31
A.a.O., S. 18.
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Diese deutschen Verse sind zwar auch freie dichterische Umschreibung des Ausgangstextes, doch ohne den mythologischen Apparat und die manieristischen Wendungen der lateinischen Gedichte. Selten ist das quantitative Verhältnis von Vorlage und Paraphrase so gleichmäßig wie im Beispielpsalm 142. Meist sind einzelne Verse stark erweitert, aber diese amplificatio hat Hornmolt im lateinischen Psalter fast immer an anderen Stellen vorgenommen als in der deutschen Version. Besonderes Interesse wendet er der Ausmalung der Schöpfungspsalmen (z.B. Ps 104) zu; auf Ps 137 dichtete er zwei verschiedene lateinische Paraphrasen, von denen die zweite fast dreifache Länge hat. Das Prinzip der variatio hat Hornmolt in den lateinischen Psalmen sehr häufig angewandt, während er in den deutschen Gedichten Wiederholungen weniger scheute, wie ein Vergleich von Ps 42, 6.12 zeigt. Das christliche und theologische Element tritt bei Hornmolt noch stärker in den Hintergrund als bei Hessus und Spangenberg. (Das gilt mit einigen wenigen Ausnahmen auch für die deutschen Psalmen.) Die sprachliche Überformung der Texte scheint in erster Linie eine schmückende Funktion zu erfüllen. Hornmolts Poesie wirkt allerdings gerade durch ihre ambitionierte Bemühtheit kraftloser und blasser als die seiner Vorgänger. Auch wenn die vier dargestellten Beispiele nicht als statistisch repräsentative Auswahl gelten können und einer gründlicheren Untersuchung der neulateinischen Psalmenparaphrase nicht vorgreifen sollen — einige vorsichtige Schlüsse lassen sich aus den vorangegangenen Beobachtungen ziehen. Die metrischen, lateinischen Psalmen versuchen den Bibeltext in eine gehobene, poetische Sprache zu übersetzen, ohne sich dabei des Wortmaterials der Vulgata oder anderer kirchlicher Bibelversionen zu bedienen. Die lateinischen Psalmgedichte paraphrasieren — wie die deutschen Psalmlieder — den vollständigen Inhalt der Psalmen Vers für Vers. Von den deutschen exegetischen Psalmliedern unterscheiden sich die lateinischen, indem theologische Anliegen nicht oder nur in geringerem Maße (bei Seinecker) berücksichtigt werden. Von den „wortgetreuen" deutschen Psalmen hebt sich die lateinische Dichtung durch Ausführlichkeit und durch Variation des Ausgangstextes ab. Beiden volkssprächlichen Paraphrasekonzepten, dem exegetischen und dem wortgetreuen, ist das Stilideal der Einfachheit und der Verständlichkeit gemeinsam. Die humanistische Bibelpoesie dagegen strebt nach Eleganz und Redeschmuck. An die Verwirklichung des hohen Stils scheinen sich im Laufe des Jahrhunderts steigende Ansprüche geknüpft zu haben. Die Psalter von Hessus und Spangenberg sind
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vergleichsweise nüchtern und „gewöhnlich" neben Hornmolts Werk. 32 Gewisse Tabus (wie der Gebrauch der heidnischen Mythologie und ihrer Figuren) sind wohl in der humanistischen Bibelpoesie schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts durchbrochen worden. In den volkssprachlichen Gattungen setzt sich das Interesse für eine höhere Stillage und die anspruchsvolle poetische Form erst in der Folgezeit durch. Wie im Falle der vernakularen Psalmendichtung stellt sich auch bei der neulateinischen Paraphrase die Frage nach den Gründen für die erstaunlich umfangreiche Produktion. 33 Man ist heute geneigt, den Vorreden wenig Glauben zu schenken, wenn diese immer wieder die Trostfunktion der Psalmen als Grund für Paraphrase und Lektüre herausheben. Gaertner weist darauf hin, daß eine rein religiöse Befriedigung ebensogut aus der Vulgata oder den volkssprachlichen Ubersetzungen hätte gezogen werden können. 34 Andererseits bestreitet auch er nicht, daß die häufige Auswahl der Bußpsalmen scheinbar auf eine ,besondere psychologische Genugtuung für Leser und Übersetzer' zurückzuführen sei. 35 Offenbar enthält der Topos von der konsolatorischen Funktion der Psalmen doch etwas Wahres, und schon Luthers erwähnte briefliche Äußerungen an Hessus zeigen deutlich, daß selbst für den sonst so rigorosen Reformator Andacht und Poesie sich nicht immer ausschlössen, jedenfalls nicht in der Gattung der lateinischen Psalmenparaphrase. Zwar wird man bei Hornmolt die Frömmigkeit nicht im gleichen Maße als Movens der Bearbeitung erkennen können wie bei den anderen drei Autoren, aber man geht sicherlich nicht fehl, bei sämtlichen Psaltern die consolatio als einen ganz wesentlichen Zweck vorauszusetzen. Um diese Funktion zu erfüllen, bedarf es der Einhaltung von Gestaltungsprinzipien, die auf die Fähigkeiten und Erwartungen des anvisierten Publikums abgestimmt sind. Ein wortgetreuer deutscher Psalter mag auf einen Humanisten ähnlich „befremdend" gewirkt haben wie die 32
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Wie schon Georg Ellinger konstatiert auch K . O. Conrady im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts eine gesteigerte Metaphorik und den exzessiven Gebrauch von Periphrasen und Hyperbeln durch humanistische Dichter wie Paul Schede und Johann Posthius. Vgl. Conrady, a.a.O., S. 167f. Bei Gaertner werden knapp hundert Bearbeitungen zwischen 1 5 0 0 und 1 6 2 0 aufgelistet, eine ältere Quelle soll sogar von 1 5 0 verschiedenen Werken berichtet haben. Siehe Gaertner, a.a.O., S. 293 und Vaganay, a.a.O., S. 4. „[•••] the fact remains, that the purely religious content of the Psalms could have been gotten equally well f r o m either the Vulgate or any of the vernacular translations which especially towards the end of the 16th century existed in abundance in virtually all European languages." Gaertner, a.a.O., S. 274. „[...] they seem to have given a particular psychological satisfaction to the reader and translator." A.a.O., S. 278.
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lateinische Psalmelegie auf den Bürger oder den Bauern, und dennoch könnten beide ganz gleichartige Befriedigung aus der „Lektüre" ihrer jeweiligen Bearbeitung gezogen haben. Ein zweiter Aspekt, unter dem die lateinischen Psalter zu verstehen sind, ist der Lehrbetrieb an den Lateinschulen. Die Psalter des Hessus und Spangenberg, aber auch der des Schotten Buchanan haben als Lehrbücher Verwendung gefunden, sind sogar vertont und in bestimmten Zyklen von den Schülern gesungen worden (wie ja auch die Kleriker verpflichtet waren, den Psalter in festgelegten Zeitabschnitten durchzubeten). 36 Als dritter Gesichtspunkt mag hinzukommen, daß viele Humanisten vom Ehrgeiz geleitet wurden, in einer weiteren, eigenständigen Version ihr poetisches Vermögen unter Beweis zu stellen. Gaertner berichtet von einer regelrechten Fehde unter schottischen Gelehrten über die rechte metrische Bearbeitung. 37 Auch die beobachtete Stilentwicklung könnte ein Ergebnis von Wettbewerb und gegenseitiger Überbietung sein. Für Drucker und Verleger scheint sich das Geschäft mit den Psalmbüchern jedenfalls gelohnt zu haben; es wären sonst kaum ständig neue Texte gedruckt und die alten immer wieder aufgelegt worden. Gaertner nimmt an, daß das große Interesse an den Psalmen- und anderen Bibelparaphrasen wach gehalten wurde durch die Freude am Wiedererkennen des bekannten Originals in immer neuen Verkleidungen. 38 Das ist durchaus wahrscheinlich, besteht doch der größte Teil der Literatur dieser Zeit nicht aus originalen Schöpfungen, sondern aus Bearbeitungen bekannter Vorbilder. Lassen sich für das Aufkommen der Gattung noch eine Reihe plausibler Gründe anführen — die Erklärung für den Rückgang fallt schwerer. Vaganay führt an, die konfessionellen Kämpfe würden sich um 1620 auf eine andere Ebene verlagern, und die Kanonisierung der heiligen Texte ließe weitere Anstrengungen überflüssig werden. 39 Doch scheint die konfessionelle Polemik ohnehin selten in den lateinischen Psalterien geführt worden zu sein, und selbst die frühen Humanisten dürften kaum in der Hoffnung gedichtet haben, die Autorität der HieronymusÜbersetzungen in Frage stellen zu können. Gaertner meint, der exzessive Gebrauch der Psalterien in der Ausbildung der humanistischen Lehrstätten hätte die Gattung schließlich als
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Vgl. Gaertner, a.a.O., S. 290f., Grant, a.a.O., S. 206 und Green, a.a.O., S. 125. Gaertner, a.a.O., S. 282. A.a.O., S. 274. Vaganay, a.a.O., S. 23.
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Objekt der Beschäftigung Erwachsener disqualifiziert. 40 Dagegen ist immerhin zu bedenken, daß — zumindest damals — auch die ausdauerndste schulische Horazlektüre nur wenige Gelehrte von späteren eignen Übungen in den Odenmaßen abgehalten hat. Unserer Ansicht nach ist für den Rückgang der neulateinischen Psalmendichtung die Umorientierung verantwortlich, die das poetologische Interesse der deutschen Gelehrten zu Anfang des 17. Jahrhunderts von der lateinischen auf die deutsche Poesie verlagert. Ein Vorläufer dieser Entwicklung war Paul Schede, der neben seiner lateinischen Dichtung auch schon Versuche in einer hohen deutschen Psalmenparaphrase wagte, die allerdings noch nicht klar genug die Unterschiede zwischen deutscher und französischer Prosodie erfaßte und berücksichtigte. Auch mußten die Gedichte Schedes zwangsläufig im Genre des Kirchenliedes gegen die Konkurrenz der traditionelleren Übersetzungen Lobwassers unterliegen. Hornmolt unternimmt ebenfalls den Versuch, die anspruchsvolle deutschsprachige Poesie voranzubringen, indem er sich der als Gattung allenthalben respektierten Psalmenparaphrase bedient. Die Rücksichten auf eine vom Gemeindelied dominierte Stiltradition sind deutlich, täuschen aber nicht über die literarische Intention der Bearbeitung hinweg. Hornmolts Gedichte wenden sich bereits an ein humanistisches, gelehrtes Publikum, an dasselbe, das zuvor auch den Adressaten seines lateinischen Psalteriums darstellte. Zum Durchbruch verholfen haben dem volkssprachlichen Psalmgedicht in hohem Stil und kunstvollen Versmaßen dann wenige Jahre später Weckherlin und Opitz. Nachtrag: Deutsche Psalmlieder in lateinischer Übertragung Wir wollen an dieser Stelle noch auf eine Sonderform lateinischer Psalmen in jener Zeit hinweisen, die zwar auch von humanistischen Gelehrten geschrieben wurden, aber nicht in antiken Metren, sondern in der Art mittellateinischer Rhythmen: akzentuierend und gereimt. Wolfgang Ammon 41 und Johann Lauterbach 42 ließen in den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts ihre Gesangbücher erscheinen, in denen 40 41
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Gaertner, a.a.O.S. 291. Wolfgang Ammon: Neuw Gesangbuch Teutsch vnd Lateinisch/darinn die fürnemste Psalmen vnnd Gesänge der Kirchen Augsp. Confession/mit einerley Melodeyen vnnd gleichen Reimen in beyden Sprachen gefaßt/sampt etlichen alten gewöhnlichen geistlichen Liedern in vier Bücher außgeteilet. PSALMODIA NOVA GERMANICA ET LATINA [...] (Frankfurt 1583) Johann Lauterbach: Cithara Christiana PSALMODIARVM SACRARVM LIBRI SEPTEM [...] Christliche Harpffen Geistlicher Psalmen vnd Lobgeseng sieben Bücher [...] Leipzig 1585/86.
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jeweils der Grundstock evangelischer Kirchenlieder — darunter auch ein Kapitel mit Psalmliedern — enthalten war. Der deutsche Text und die vers-, Strophen- und inhaltsgetreue lateinische Übertragung waren in den Büchern synoptisch abgedruckt. Die beiden lateinischen Versionen von Luthers Psalmlied „Aus tieffer not" beginnen folgendermaßen: Ammon: D E PSALMO CENTESIMO TRIGESIMO. De profundis clamaui ad te Domine. Predicatio et consolatio, de remißione peccatorum ex gratia per fidem in Christum. O D A X X V . Dicolos Heptastrophos communis. 1. E X inferis acclamo te, Audi D E U S , vocantem: Aures benignas admoue, Ad supplicem precantem. Iniqua nam si respicis, Nobis patrata singulis: Quis ante te manebit? 43
Lauterbach: PSAL C X X X . De profundis clamaui ad te Domine Doctrina de peccato, et iustificatione 1. T E de profundis inuoco Rerum D E V S parentem, Aures benignas postulo, Audi bonus gementem: Examinare si cupis Admissa foeda pectoris, Te nemo sustinebit. 44
Luther: Aus tieffer not schrey ich zu dyr, Herr Gott erhör meyn ruffen. Deyn gnedig oren ker zu myr und meyner bitt sie offen. Denn so du willt das sehen an, was sund und unrecht ist gethan, wer kan Herr für dyr bleyben? 45
Bei Lauterbach finden sich sogar Rückübersetzungen des von Luther erst in deutsche Verse übertragenen „Te D e u m " und der Sequenz 43 44 45
W. Ammon, a.a.O., S. 134. Lauterbach, a.a.O., S. 40. WA, Bd. 35, S. 419.
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„Media vita in morte sumus". Dem Autor ging es bei diesen „Neufassungen" nicht um originelle Paraphrasen (wie etwa Hessus), sondern vielmehr um eine möglichst genaue Wiedergabe von Form und Inhalt der evangelischen Choräle in lateinischer Sprache. Die Absicht der Verfasser war, mit diesen Übertragungen die Verbreitung evangelischen Kirchengesanges über die Grenzen des deutschen Sprachraumes hinaus zu fördern. Ermöglicht wurde diese Mission durch die internationale Gelehrtensprache. Ammon weist in seiner Vorrede auf die europäische Bekanntheit der fundamentalen reformatorischen Prosatexte hin, die entweder schon zweisprachig verfaßt worden waren oder später übersetzt wurden. Ebenso hat er nun die Kirchenlieder übersetzt, Damit auch frembde Nationen die warhafftige vnd allein seligmachende Religion vnd Lehr/so in vnsern Kirchen gepredigt/erkennen möchten. Also ist es von vielen hohes vnd niders standts Personen vorlengst für rathsam vnd nützlich geachtet/daß auch die Kirchengesäng/in massen sie bey uns in den reformirten vnd Euangelischen Gemeinen vnnd Versamlungen gesungen werden/gleicher gestalt transferirt vnnd Lateinisch gemacht würden/daß auch ander Völcker nit weniger verstünden vnd vernemen/wie wir täglich Gott mit Psalmen vnd geistlichen Liedern dienen/anruffen vnd preisen. 46
Ähnlich spricht die Vorrede Lauterbachs die Missionsabsicht aus: Tum Nationes exterae Cognoscerent ut commode, Quibus Deum modis piae Nostris canant Ecclesiae Terris, frequens ut concio Dei per omnes filio, Gentes ubique dulcibus Accommodetur nexibus: Contra furores Daemonum Quae cantet ore, carminum Paßim piorum cantica Cum iudicet mortalia. 4 7
Darüber hinaus mochten die beiden Verfasser wohl auch hoffen, bei den eigenen Glaubensgenossen auf Interesse für ihre zweisprachigen Gesangbücher zu treffen. Ammon nämlich meint, auch den deutschen Liedern mit seiner Übertragung einen Dienst erwiesen zu haben, weil „der Teutschen [Sprache] aber selbs herwiderumb die Lateinische ein zierde/vnd an ethlichen orten ein fein liecht geben" könne. Die altgläubigen Völker Europas mit der volkssprachlichen Hymnik der deutschen Protestanten bekannt zu machen, war also das Hauptan-
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Ammon, a.a.O., S. 9 r f. Lauterbach, a.a.O., S. )?( 2 r f.
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liegen dieser Autoren, sei es zur Missionierung, sei es auch nur zur eigenen Rechtfertigung. So kam es, daß der Choral — vor wenigen Jahren erst aus der katholischen Liturgie eingedeutscht, in veränderter Form wieder in den Kosmos lateinischer Literatur zurückkehren durfte. Zur mittellateinischen Hymnen- und Sequenzendichtung stehen die Übertragungen Ammons und Lauterbachs in enger Beziehung: Sie sind wie „Rhythmen" gedichtet und lehnen sich stilistisch an die herbe und lakonische Sprache der katholischen Liturgie an. Beide Gesangbücher enthalten neben den besagten zweisprachigen Kirchenliedern der Protestanten auch ein Kapitel mit bekannten altkirchlichen Hymnen; diese sind ebenfalls zweisprachig gedruckt: Sofern keine geeignete Übertragung vorlag, wurde sie von den Verfassern selbst erstellt. Diese Kapitel mit den seit Jahrhunderten in ganz Europa gesungenen Stücken passen nicht recht zu der missionarischen Funktion. Sie sollen aber unter Beweis stellen, daß die Protestanten nicht mit der christlichen Tradition gebrochen haben, sondern an die liturgischen und theologischen Gebräuche anknüpfen.
2. Die Barockzeit Sprach- und Dichtungsreform des 17. Jahrhunderts Den Psalmendichtern der Reformationszeit war es noch in erster Linie um das Verbreiten von Texten gegangen, die Gottes Wort und vorbildliche Menschenrede zu Gott enthielten. Treue zum Bibeltext und auslegende Paraphrase waren das 16. Jahrhundert hindurch die wichtigsten Kennzeichen der deutschen Psalmgedichte. Eine literarisch anspruchsvolle Psalmenpoesie schufen lediglich die neulateinischen Dichter, die sich allerdings vereinzelt — wie Schede und Hornmolt — auch schon an ambitioniertere deutsche Psalmparaphrasen heranwagten. An den Psalmendichtungen seit etwa 1620 läßt sich vestärkt ein Interesse an der poetischen Form der Werke feststellen. Dies gilt auch für viele der noch in diesem Jahrhundert erscheinenden Gesamtpsalter (P. Fricke zählt insgesamt 23), 1 aber vor allem gilt es für die anspruchsvollen Psalmgedichte und -lieder der bedeutenden Barockautoren. Auf diese letzteren konzentrieren sich die folgenden Ausführungen. Daneben besteht eine stärker an der kirchlichen Tradition und deren Gebrauchszusammenhängen orientierte Psalmlieddichtung fort, die ebenfalls in Gesamtpsaltern sowie in Gesangbüchern Ausdruck findet. Der eigentliche (protestantische) Kirchengesang des 17. Jahrhunderts war wesentlich getragen durch den festen Bestand der Lieder aus den ersten Jahrzehnten der Reformation. Für diese liturgischen Choräle wäre also der Terminus „Kirchenlied" durchaus angebracht; doch auch sie waren, wie man weiß, nicht alle von vornherein für die Liturgie 1
A. Reich unterscheidet bei den liedhaften Gesamtpsaltern neben den katholischen Arbeiten und den Versionen des Hugenottenpsalters drei Gruppen: 1. Psalterübersetzer mit vorrangig poetischer Intention (Vogel, Buchholtz und Hohberg), 2. Psalterübersetzer mit vorrangig theologischer und politischer Intention (Metzger und Zimmermann) und 3. Psalterübersetzer mit poetischer und theologischer Intention (Dedekind, Stechow, Sieber und Negelein). Vgl. A . Reich, a.a.O., S. 281ff., S. 304ff. und S. 365ff. Auch die Bücher mit „theologischen" und „politischen" Intentionen ordnen sich jedoch dem allgemeinen Zug des Jahrhunderts ein, der deutschsprachigen Dichtung zu neuem Ansehen zu verhelfen; alle sind (wenigstens prosodisch) der mit Opitz' Namen verknüpften Versreform verpflichtet, auch wenn nicht alle Autoren explizit die deutsche Poesie zu fördern beabsichtigen.
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konzipiert worden, sondern in diesen Gebrauch hineingewachsen. Für die Zeit des Barock hat Irmgard Scheitler versucht, das geistliche Lied deutlicher von dem liturgisch verwendeten Lied abzugrenzen und zu zeigen, daß die geistlichen Lieder und Gedichte der Barockdichter „der persönlichen Andacht des einzelnen oder eines homogenen Kreises von Hausgenossen bzw. Freunden" diente. 2 Zweifellos läßt sich in der geistlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts „ein ,kirchenorientiertes' und ein ,poesiebestimmtes' Lied" unterscheiden, doch besteht auch hier die Möglichkeit, wie H.-G. Kemper bemerkt, daß das poetisch anspruchsvolle Lied allmählich in den liturgischen Gebrauch hinüberwandert. 3 Neben den strophisch gegliederten Psalmparaphrasen, die meist auch nach dazu angegebenen Melodien gesungen werden konnten, schufen die Barockdichter auch Psalmgedichte in paarigen Alexandrinern oder in „pindarischen" Odenformen, die eindeutig nicht für den Gesang, sondern nur zum Lesen bestimmt waren. Die anspruchsvolleren Psalmlieder und diese Psalmoden weisen starke stilistische Ähnlichkeiten auf. Beide erschienen meist unter der Überschrift „Geistliche Poemata" in den zeitgenössischen Sammlungen, wurden also als Gattungen begrifflich nicht scharf unterschieden. Sie zielten zweifellos auf dieselbe Adressatengruppe von Gebildeten höherer Stände und ließen sich eher in der privaten Andacht rezipieren — ähnlich den lateinischen Psalterien des 16. Jahrhunderts. In unserem Zusammenhang sind zunächst hauptsächlich diese literarisch ambitionierten Bearbeitungen von Interesse, wir werden jedoch auch auf die stärker traditionsgebundene Psalmendichtung eingehen. Aus heutiger Sicht besteht ein wesentlicher Mangel aller Psalmbearbeitungen des 16. Jahrhunderts in ihrer prosodischen Form. Der Psalter Lobwassers büßt viel von der poetischen Qualität seiner französischen Vorlage ein, weil er von einer silbenzählenden Metrik ausgeht, die zwar den „melodischen" romanischen Sprachen, nicht aber dem Deutschen angemessen ist. Auch die Versuche, das wägende System der Griechen und Lateiner auf deutsche Poesie zu übertragen (Hornmolt), konnten noch nicht überzeugen. Der grundlegende Anstoß zu einer „stimmigen" deutschen Prosodie kam von der Erkenntnis, daß diese nicht von der Länge der Silben getragen wird (wie die klassischen Sprachen der 2 3
Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982. (Schriften zur Literaturwissenschaft Bd. 3) S. 403. Hans-Georg Kemper: Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des frühen 17. Jahrhunderts. In: Wolfenbütteler Forschungen. Bd. 31. Das protestantische Kirchenlied im 16. und 17. Jahrhundert. a.a.O. S. 8 7 - 1 0 8 . S. 91.
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Griechen und Lateiner), sondern vom Druckakzent. Diese Erkenntnis wurde von Martin Opitz im „Buch von der deutschen Poeterey" 4 prägnant und folgenreich formuliert, so daß die metrischen Experimente auf der Basis der Silbenzählung und der Silbenlänge nun zunächst aufhörten und in Vergessenheit gerieten (bis zu Klopstock). In Süddeutschland, in den katholischen Regionen befolgte man die Opitzsche Versreform nur vereinzelt. Manche katholischen Psalmbearbeitungen sind daher prosodisch und poetisch eher konservativ. 5 Das durch die Reform bedingte „Veralten" der bis dahin entstandenen Psalmennachdichtungen gab Anlaß für die Entstehung vieler neuer Bearbeitungen und ging als Argument in die Vorreden der Psalter ein. 6 Daß die Psalmlieder in „neuer Manier" die älteren Versionen im Gesang der Gemeinden noch für lange Zeit nicht verdrängen konnten, dürfte zum einen an der beharrenden Tendenz liturgischer Gebräuche, zum zweiten an der Vortragsweise des Chorals liegen, die anderen Gesetzen gehorcht als die Rezitation: In der Kirche gesungen, erscheinen selbst heute die Verstöße gegen die Wortbetonung in den alten Liedern kaum als störend. Der Psalter als Buch erfreute sich unverändert hoher Wertschätzung, was nicht nur aus der großen Zahl der Paraphrasen deutlich wird. Als Johannes Kepler in seinen „Hamonices mundi libri V" (1619) die Komponisten seiner Zeit zu einem vielstimmigen Lobgesang auf die (eigene) Entdeckung der Harmonie der Planetenbewegungen und -abstände ermutigte, da empfahl er als Text für eine solche Universalmusik, die auf wunderbare Weise den Zusammenklang der Welten im Zusammenklang der Töne hörbar machen sollte, die Psalmen des biblischen
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Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. (Breslau 1624) Hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1970 (u.ö). Irmgard Scheitler führt aus (im Anschluß an: Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565 — 1650. Deutsche Literaturgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979), daß in den katholischen Territorien „gerade seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine verstärkte Zuwendung bzw. Rückkehr zum oberdeutschen Idiom zu beobachten" sei. Der gegenreformatorische Impetus habe auch im sprachlich-poetischen ein Bedürfnis zur Abhebung vom protestantischen Norden bewirkt. Die poetische Form wäre so zu einem konfessionellen Unterscheidungsmerkmal geworden. Daher hätten aber auch in Süddeutschland lebende protestantische Dichter (wie der Psalterautor Hohberg) die Versreform des Opitz befolgt. I. Scheitler, a.a.O., S. 108f. So betont Bernhard Derschov in seiner Vorrede zu den „Fünffzig Psalmen Davids" des Georg Werner (Königsberg 1638), daß der Autor „ein jedes Genus Carminis, in seinen Strophen, versickeln und Caesuren, darzu die Wörter und Syllaben/ihre beschaffenheit und Endungen immerdar so gnaw observiret" habe. Zit. nach P. Fricke, a.a.O., S. 184f.
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Königs David als die wohl angemessenste Dichtung. Folgerichtig schloß er sein eigenes Werk auch mit einem psalmischen Hymnus ab. 7 Angesichts der großen Bedeutung, die im 17. Jahrhundert der Psalmennachdichtung zugemessen wurde, sollte man annehmen, daß in der Poetik des Opitz und in denen der späteren Barockautoren sich Hinweise auf diese spezielle Art von Liedern und Gedichten finden ließen. Bemerkens werterweise enthalten jedoch die Poetiken des Barock keine praecepta, die explizit die Psalmenparaphrase betreffen. Die biblischen Psalmen werden lediglich angeführt, um Dichtung schlechthin zu rechtfertigen. 8 Im Kanon der Gattungen fehlen sie. Das liegt vermutlich daran, daß die Ursprünge der „barocken" Wissenschaft von der Dichtung auf die antiken Poetiken des Aristoteles, Horaz und Quintilian zurückgehen, vermittelt durch Renaissancehumanisten wie Julius Caesar Scaliger. 9 Als Erbe der an den literarischen Gattungen der heidnischen Antike gebildeten Terminologie muß Opitz die Psalmen entweder übergehen oder unter die „klassischen" Kategorien subsumieren. Das letztere unternimmt er, indem er das christliche Lied zu den Hymnen rechnet: Hymni oder Lobgesänge waren vorzeiten, die sie ihren Göttern vor dem Altare zu singen pflagen, und wir unserem GOtt singen sollen. 1 0
Weder in diesem noch in einem anderen Zusammenhang seines Buches kommt Opitz auf die eigentlichen Psalmen zu sprechen, während Gat7
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„Ist es unverschämt von mir, wenn ich von den einzelnen Komponisten unserer Zeit eine kunstgerechte Motette für meinen Lobpreis fordere? Einen geeigneten Text könnten der königliche Psalmist oder die übrigen Hl. Bücher liefern. Doch merkt wohl, daß am Himmel nicht mehr als sechs Stimmen zusammenklingen. Denn der Mond summt für sich seine einstimmige Weise, bei der Erde wie an deiner Wiege sitzend." Johannes Kepler: Weltharmonik. Übersetzt u. eingel. v. Max Caspar. München 1973. S. 310. Zu der Umkehrung der alten patristischen Argumente, die nun nicht mehr die Schönheit der Bibelsprache belegen, sondern die Schönheit der neuen Dichtung rechtfertigen sollten, vgl. vor allem: Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977. Zur Abhängigkeit Opitz' von Scaligers Poetik vgl.: L u d w i g Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968. S. 99ff. M. Opitz, Poeterey, a.a.O. S. 29. Irmgard Scheitler führt an, daß neben dem Begriff „Hymni" auch der Terminus „Threni" in den Poetiken auftaucht (bei Georg Neumark). Eine Unterscheidung zwischen antikem Hymnus und modernem christlichem Lied würde nur der Jesuit Pontanus in seiner lateinischen Poetik (1594) und dann erst wieder Daniel J a k o b Morhof (Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. 1669) vornehmen. Vgl. I. Scheitler, a.a.O., S. 114f.
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tungen wie Satyra, Epigramm, Ekloge, Elegie, Echo, Hymne, Sylve, lyrisches Gedicht und Ode teils mehr teils weniger ausführlich behandelt werden. Dieser ausschließliche Blick auf die Antike ist umso auffalliger, als Opitz mehrmals Zeilen aus Psalmliedern zitiert. Diese Zitate führt er jedoch nur als typische Beispiele für richtige bzw. falsche Lösungen verstechnischer Probleme an. 11 Die Psalmlieder sind so geläufige Texte, daß er sie wie jedes andere Gedicht — ja sogar bevorzugt — als formales Muster heranziehen kann. Eine literarische Gattung eigener Art hingegen sind die Psalmlieder für ihn ebensowenig wie die biblischen Psalmen. Diese „partielle Blindheit" der Opitzschen Poetik ist nicht etwa eine Folge der lapidaren Kürze des Buches. In den ausführlicheren Arbeiten Harsdörffers, Schottels, Buchners und Birkens äußert sich ganz analog dieselbe Dichotomie von „wissenschaftlicher" und „apologetischer" Haltung gegenüber der Dichtung überhaupt und den Psalmen im besonderen. 12 Im ersten Teil seines „Poetischen Trichters" führt Harsdörffer zwei Psalmlieder des Opitz an, um verschiedene Vers- und Strophenformen zu erläutern. 13 An anderer Stelle gibt er mehrere Zeilen aus Luthers Prosapsalter als Beispiele dafür, wie man schon in „ungebundner Rede" „mehrmals rechtgemässne Reimzeilen" finden könne (er meint damit durchgehend alternierende Sätze). 14 Die Beispiele zielen jedoch nicht darauf, die poetische Qualität der Prosapsalmen zu erweisen, sondern vielmehr auf die Unfähigkeit mancher Poeten, denen das Bilden prosodisch korrekter Verse noch Schwierigkeiten bereite. Die Hinweise zur Übertragung aus anderen Sprachen, die Harsdörffer im zweiten Teil des „Trichters" gibt, beziehen sich offenkundig nicht auf die Psalmennachdichtung, sondern nur auf griechische und lateinische Gedichte sowie auf die Poesie der übrigen europäischen Kultursprachen. 15 Immer wenn die „Technik" des Dichtens behandelt wird, ist der poetische Charakter des Psalters gleichsam außerhalb des Gesichtskreises. Wenn dagegen die Dichtkunst und der hohe affektive Stil
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A.a.O., S. 48f. Die apologetische Argumentation mit Hilfe der Psalmen findet sich auch bei Opitz. Allerdings nicht in der „Poeterey", sondern in der Vorrede zu seinem Gesamtpsalter. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst/ ohne Behuf der Lateinischen Sprache/in VI. Stunden einzugiessen. Drei Teile in einem Band. (Nürnberg 1648 — 53) Reprogr. Nachdr. Hildesheim, New York 1971. Erster Teil. S. 60f. A.a.O., S. 120. A.a.O., 2. Teil. S. 8; auch 3. Teil. S. 37.
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argumentativ begründet und gerechtfertigt werden sollen, steht David, der königliche Poet, an erster Stelle: Wann aber die Gemüter zuerregen/die Hertzen zubewegen/und in demselben Hoffnung oder Furcht auszuwürken ist/da findet man alle Rednerische Poetische übertreffe lichkeit in den Psalmen/in Job/in den Propheten/in dem Hohenlied Salomonis/und sonderlich in den Episteln deß H. Pauli/der unter den XII. Aposteln zu den Füssen Gamaliels allein das Gesetz studieret gehabt/daß gewießlich der vollständige Nachdruck der Grundsprache/auch dem aller geübtesten Dolmetscher zu schaffen machet/ hiervon urtheilet August.1.4. de Doctr. Christiana.c.I. 16
Harsdörffer betont (mit seinem Gewährsmann Augustinus), daß ja auch Paulus seine Briefe rhetorisch-poetisch durchgeformt habe, was er kaum getan hätte, wenn er solche stark auf die Affekte einwirkende Rede nicht schon im Alten Testament (dem „Gesetz") gefunden hätte. Dies aber habe ihm als einzigem schriftgelehrten Apostel (Schüler des Gamaliel) noch in der ursprünglichen Fassung vorgelegen. Da sich aber der „vollständige Nachdruck" des Hebräischen in der bloßen Übersetzung nur schwer wiederherstellen läßt, so könnte man für die Psalmenparaphrase folgern, ist auch eine zusätzliche poetisch-rhetorische Bearbeitung und Verstärkung der Prosaübersetung nicht nur sinnvoll, sondern geradezu angezeigt, damit dem deutschen Leser die Kraft der Psalmen in ihrem vollen Ausmaß fühlbar werde. Daß Harsdörffer sich bei Augustinus und Paulus absichert, um seine Ansicht von der poetischen Qualität der Bibel zu belegen, ist im 17. Jahrhundert kein Zeichen von Unsicherheit, denn der Autoritätsbeweis galt noch allemal mehr als der empirische Augenschein. So werden auch noch immer Flavius Josephus, Hieronymus, Eusebius und weitere patristische Autoren zitiert, wenn die Rede auf die metrische Form der hebräischen Psalmen kommt. 17 Zahlreiche Autoren von Gesamtpsaltern führen die Meinung an, die Psalmen hätten ursprünglich eine poetische Form gehabt, vergleichbar den Oden und Elegien der Griechen und Römer; die Kenntnis von der Art dieser Versbindung sei jedoch mit dem jüdischen Reich untergegangen; weder auf dem Wege der Analogie noch mit den Erklärungen der Rabbiner könne sie nun erschlossen werden. 18 Noch 1690 schreibt Enoch Hanmann in seinen „Anmerckun16 17 18
A.a.O., 3. Teil. S. 22. Vgl. hierzu besonders J. Dyck, a.a.O., S. 28f. Schon C. Spangenberg schreibt in seiner Vorrede: "So ists auch gewiß/daß David und die anderen Heyligen Gottes vnd Sangmeister/beyde im alten vnd newen Testament/ihre Psalmen also mit gewissen Syllaben vnd Reimen abgesetzt vnnd gestellt haben/daß man dieselbigen auff gewöhnliche oder sonderliche Thon oder Melodias hat singen können [...]". C. Spangenberg, a.a.O., S. )( iii v . Weitere Beispiele enthalten Frickes Paraphrasen zu den Vorreden der v o n ihm untersuchten Psalter. Vgl. P. Fricke, a.a.O., S. 53f.
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gen Jn die Teutsche Poesie", die einer Ausgabe der Opitzschen „Prosodia Germanica" angebunden wurde: Allezeit scheinet es, daß schon zu König Davids Zeiten man nicht allein hat gereimet, sondern auch gewisse Zahlen der Sylben in acht genommen, und nicht als im Lateinischen und Griechischen, auf quantität oder länge und kürtze der Sylben gesehen, nach welcher sie hernach ihre Verse einrichten und nach Gelegenheit bald mehr bald weniger Sylben in Verß gebracht; [...] Und wiewohl unter den Gelehrten ein großer Streit, und bis auf diese Stunde noch nicht ergründet, wie der alten Hebreer Poesie gewesen: So ist doch dieses gewiß auß den Psalmen zu erweisen, daß schon damals bisweilen auf die gleichlautende Endung und Anzahl der Sylben gesehen worden. Wie solches aus nachfolgenden Exempeln zu erweisen. 19
Davids schöpferischer Anteil an der poetischen Form der Psalmen bleibt häufig unklar, denn er empfing — so meinte man — die Texte vom Heiligen Geist. Dennoch wird der König, Prophet und Dichter zur Stifterfigur und zum Vorbild des geistlichen Poeten, dessen Tätigkeit auf diese Weise gegenüber rigoristischen Kritikern in Schutz genommen ist. 20 Die wahre Dichtkunst ist ihrer Herkunft nach Lehre vom Göttlichen, so hatte schon Opitz behauptet. 21 Weltlichen und verderblichen Charakter nimmt sie — nach Ansicht der betont religiösen Barockautoren — an, wo sie sich in den Dienst des Teufels stellt. Siegmund von Birken hat in seiner Poetik (1679) die heidnisch-antike Poesie als teuflische Nachahmung gebrandmarkt; die wahre Weisheit sei nicht auf dem heidnischen Parnaß und Helikon zu finden gewesen, sondern in der Schule Davids auf dem Berg Zion. 22 Dies scharfe Urteil hindert Birken jedoch ebensowenig wie seine minder rigorosen Kollegen, all sein konkretes Wissen über die Beschaffenheit und die Verfertigung von Gedichten aus den neulateinischen Poetiken zu schöpfen und damit aus der „wiedererweckten" heidnischen Antike. Zwar hatte man seit Opitz akzeptiert, daß die unterschiedlichen Sprachen einen unterschiedlichen prosodischen Ansatz erfordern, aber die Gesetze der Dichtkunst nach Anleitung des Aristoteles und Horaz hatten dadurch nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt, im Gegenteil: Das „prodesse" und das „delectare" des Horaz galten verbindlicher denn je. Denn wie die Poesie von alters 19
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Zitiert nach: Gerhard Schuhmacher: Der beliebte, kritisierte und verbesserte Lobwasser-Psalter. In: JbLH 12 (1967) S. 7 0 - 8 8 . S. 73. Vgl. J. Dyck, Athen und Jerusalem, a.a.O., S. 138. Harsdörffer, a.a.O., 3. Teil. S. 381. „Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie/vnd vnterricht von Göttlichen Sachen." M. Opitz, Poeterey, a.a.O., S. 12. Vgl. auch A. Reich, a.a.O., S. 264ff. Vgl. Siegmund von Birken: Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst [...] Reprogr. Nachdr. Hildesheim, New York 1973. S. ):( ):( iij*.
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her ein „vnterricht von Göttlichen Sachen"23 war, soll sie es auch noch jetzt sein. Das gilt um so mehr in den Psalmparaphrasen, die ja göttliche Weisheit vorzüglich zu vermitteln vermögen. Daß auch die deutsche Sprache in allen Gattungen Meisterwerke hervorbringen könne wie die „Alten", das wollten die Barockpoeten nun unter Beweis stellen, ja sie gedachten sogar, die antike Dichtung zu übertreffen. Die Psalmen wurden diesen Gattungen nicht als eigenes Genre zugeordnet, sie standen außerhalb der literarischen Diskussion, sobald es nicht mehr um Apologetik, sondern um „Anleitung zur Praxis" ging. Da die Prosapsalmen als inspirierte Texte und nicht als lyrische Gattung verstanden wurden, 24 standen der deutschen Nachdichtung mehrere Gedichttypen zur Verfügung. Das äußert sich in einer Formenvielfalt der Paraphrasen: die Übertragung des Opitz aus dem Französischen mit ihren vielen Strophen- und Versformen, Flemings unstrophige Alexandrinergedichte, die verschiedenen mehr oder weniger komplizierten Odenformen bei Weckherlin und Gryphius und daneben auch noch die traditionellen Kirchenliedstrophen. Die Psalmenbearbeitung des Barock läßt sich daher auch nicht mit der Gattung des (sangbaren) Hymnus abdecken, wie A. Reich zu glauben scheint — zweifellos eine Folge ihrer ausschließlichen Beschäftigung mit dem Psalmlied. 25 Die durch Luther begründete Tradition des geistlichen Liedes wirkt in der barocken Psalmenparaphrase spürbar nach. In der ausführlichen Poetik Schottels (1663) wird noch immer Luthers Brief an Spalatin als Anweisung für geistliche Dichtung zitiert — nahezu vollständig. 26 Zuvor würdigt Schottel die in der deutschen Dichtung erreichte Höhe, zumal auf dem Gebiet des geistlichen Liedes. Er glaubt sogar, daß das Niveau eines Pindar oder Horaz mittlerweile erreicht sei. Unter den gereimten Übertragungen des Psalters lobt er besonders die des Opitz, der „unser Anliegen" am meisten vorangebracht habe. 27 Wenn dieses Anliegen auch im Einklang mit den Interessen der Reformation zu stehen scheint, so wird nun doch der volkstümliche, niedere Stil, den Luther für die Psalmlieder gefordert hatte, obsolet — bzw. er erscheint 23 24
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M. Opitz, Poeterey, a.a.O., S. 12. Die literarische Betrachtungsweise der Psalmen setzt in Deutschland eigentlich erst im 18. Jahrhundert ein, als man sie zunächst (Gottsched) als urtümliche, orientalische Form der Ode begreift; erst im Zuge der Aufklärung wird der Psalm überhaupt vergleichend neben andere, nicht inspirierte literarische Texte gestellt. Vgl. A . Reich, a.a.O., S. 265ff. Justus G e o r g Schottelius: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. (Braunschweig 1663) Neudr. Tübingen 1967. Hg. v. Wolfgang Hecht. S. 1258. A.a.O., S. 1179.
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nicht mehr als die einzig mögliche Stilhöhe. War für das Gemeindelied mit seinem ungebildeten Adressatenkreis das genus humile angezeigt, so benutzt Schottel nun die patristischen Argumente der Bibelapologie zur Rechtfertigung des genus grande in geistlicher Dichtung. Alsdenn hat er [David] mit nichten gemeine Reden und Worte geführet/sondern seine Gedanken nach Poetischer Kunst hocheingerichtet/und mit solcher himmelischen Süssigkeit und hochsteigender Bewegung seinen Gesang/und zugleich sein Hertz darin/gefasset; Welcher zugleich seinen G o t t zu so gnädiger Erhörung/und uns annoch zu verwunderlichem Tröste und Zuversichte in unserem Anliegen/bewogen hat und bewegen kan. 2 8
Aus dieser Stelle erhellt zugleich, wie der Psalm und seine Bearbeitung nun nicht mehr als Gebet zu und Gespräch mit Gott verstanden werden, sondern als Lesetext mit Trostwirkung. Daß geistlicher Dichtung der niedere Stil angemessen sei, wirkt als Topos fort in den Vorreden der Gesamtpsalter, wo immer wieder behauptet wird, die Texte seien in schlichter Weise verfaßt, 29 was jedoch zusehends zu dem tatsächlichen reichen ornatus der Lieder und Gedichte in Widerspruch gerät. A. Reich zitiert mehrere Barockautoren (darunter selbst der fromme Birken), die den Gebrauch von Tropen und Figuren für die geistliche Dichtung rechtfertigen und damit auch theoretisch von der älteren Stiltradition abgehen. 30 Sie bringt zu Recht die Wahl der Stilhöhe in Zusammenhang mit der anvisierten Adressatengruppe: Psalmlieder mit Gemeindebezug werden sich weiterhin einer gemäßigten Anwendung rhetorischer Wirkmittel bedienen, während die kunstvollen Psalmoden und -elegien den gebildeten Ständen vorbehalten sind, „die den hohen, schwierigen Stil zu verstehen und zu goutieren" wissen. 31 Es sind aber erst die Autoren der Mitte des Jahrhunderts, die den hohen Stil für „geistliche Sachen" befürworten, so die angeführten Harsdörffer, Birken und Schottel. 32 Sehr nachdrücklich hat Gryphius den eigenen hohen Stil aus der Psalmenpoesie begründet und so das genus grande für das Psalmgedicht gerechtfertigt. 33 In seiner Vorrede auf das vierte Odenbuch unterscheidet Gryphius die Gedichte dieses
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A.a.O., S. 115. Vgl. A . Reich, a.a.O., S. 269. A.a.O., S. 270f. A.a.O., S. 272. Vgl. auch I. Scheitler, a.a.O., S. 122f. Zum Problem der Stilhöhe in geistlicher Barockliteratur vgl. auch: Joachim Dyck: Ornatus und Decorum im protestantischen Predigtstil des 17. Jahrhunderts. In: Z f d A 94. (1965) S. 2 2 5 - 2 3 6 ; sowie: Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966. S. 130ff. und S. 363ff.
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Bandes als schlichtere Poesie von den Oden der drei vorangegangenen Bücher: Die Stilhöhe der neuen Sammlung sei tiefer angesetzt, weil sie stärker an „die Worte der heiligsten Geschichte gebunden" seien, womit hier das Evangelium gemeint ist. 34 Dagegen würden die früheren Odenbücher nicht die Heilsgeschichte nacherzählen und daher „poetische Erfindungen" und „Farben" enthalten, was geistlicher Lyrik auch durchaus angemessen sei: Denn ich der Meynung gar nicht zugethan/die alle Blumen der Wolredenheit und Schmuck der Dichtkunst auß Gottes Kirche bannet/angesehen die Psalmen selbst nichts anders als Gedichte/derer etliche Übermassen hoch vnd mit den schönesten Arten zu reden/die himmlischen Geheimnüß außdrucken [...]". 35
Konkrete Aussagen über das praktische Vorgehen bei der Psalmenparaphrase enthalten die Psaltervorreden ebensowenig wie die Poetiken. Es ist schon selten, wenn ein Autor über die topischen Bemerkungen hinausgeht und die Fachausdrücke der Rhetorik auf seine Arbeit anwendet. Eine solche Ausnahme ist der evangelische Pfarrer Johann Neukrantz, der 1650 in Hamburg sein „Königs + DAVIDS Psalter = Spiel" erscheinen ließ. Peter Fricke referiert die Ausführungen aus der Verfasservorrede folgendermaßen: 36 Die .Gesänge (odae) bestehen in zweyen Dingen': den .Sachen (Materia)' und der ,Art und Weise (Forma)'. Der Sache nach seien die vorliegenden Lieder geistlich, und zwar aus dem Psalter Davids. [...] Wenn also der Leser ein rechter Christ sei, so müsse er sich die vorliegenden Lieder der Sache nach wohl lieb und angenehm sein lassen. Auch werde der Leser bald merken, daß N. [Neukrantz] sich an den Luthertext gehalten, die ,Kern=Wort (verba emphatica)' wenn irgend möglich immer wörtlich übernommen habe, wenn auch die Poesie ihn gelegentlich zu einer ,Umbsätzung (anastrophe) der Wörter=fügung (constructionis)' gezwungen habe. [...] Was die Form angehe, so handle es sich im Vorliegenden um gebundene Poesie, wie man sie in Teutschen Liedern und Gesängen gemeinlich pflegt zu gebrauchen'.
Der Bibeltext ist die res oder materia, der eine poetische Form erst gegeben werden muß. Der Respekt vor der himmlischen Herkunft des Psalters verlangt weiterhin eine vollständige Wiedergabe des Inhalts, wenn möglich sogar der Kernworte — dies Vorgehen entspricht noch ganz dem Verfahren des vorangegangenen Jahrhunderts. Doch die Wiedergabe erfolgt nun nach den geltenden Prinzipien der Wirkungspoetik, daher wird der im Psalm vorgefundene Stoff der dispositio und der elocutio unterworfen, das heißt neu angeordnet und in wirkungsvol34
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Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. v. Marian Szyrocki und Hugh Powell. Tübingen 1963ff.. Bd 2. S. 98. A.a.O., S. 98. Der Psalter konnte leider nicht eingesehen werden, wir zitieren daher nach P. Fricke, a.a.O., S. 174.
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len Periphrasen umschrieben. Damit tritt die Psalmennachdichtung aus dem religiösen Liturgie- und Andachtskontext der Refomationszeit heraus und geht in den Bereich literarischer Rezeptionsweisen ein. Denn wie alle Barockpoesie sind die Psalmgedichte auf einen Leser hin verfaßt, der mittels emotionaler und rationaler Beeinflussung dazu gebracht werden soll, die vom Autor intendierte Aussage als allgemeine Wahrheit zu akzeptieren. Fast unbemerkt bleibt noch im 17. Jahrhundert nach dem Zeugnis der Texte die Differenz zwischen klassischem und biblischem Stil. Ausnahmsweise geht der Jesuit Albert Curtz, dessen Psalter 1659 in Augsburg gedruckt wurde, in seiner Vorrede auf die Unregelmäßigkeiten des Stiles in den Psalmen ein. Er erklärt sie einerseits mit der Emotionalität des heiligen Propheten, zum andern mit der Eigenlogik der Eingebungen des Heiligen Geistes. Es setzet der heylig Prophet immermaln in seinen Psalmenbetrachtungen etwas vor/ oder nach: wiederholet/in seinem heyligen Eyfer jetzt da/jetzt dort seine Gottseelige Anmuthungen/vnd Begirden:redet jetzt in seiner/jetzt in frembder Person/bald in dem Namen deß Allerhöchstens der ihne erleuchtet/bald an statt deß Gottvergessnen Sünders: bricht ab/jetzt da/jetzt dorten: giesset sich hingegen auß/jetzt mehrer jetzt/ weniger: Dieses aber in der teutschen Sprach/gleichermassen anordnen/vnd an die schnür zu stellen/ist ja nicht thunlich/und allerorthen möglich gewesen. 3 7
Ein deutscher Dichter, der nicht in der Situation des biblischen Propheten ist, hat auf die Regeln deutscher Gedichte Rücksicht zu nehmen: Nun gibt es die erfahrnuß bey einem jeden/der mit disem beschawlichen wesen vmbgeht/daß dergleichen Göttliche heilige Bewegnussen/ja nit ordentlich vnd nach der schnür/sondern wie es dem H. Geist/als erthailer aller Gnaden/gefallig ist/herfliessen [...]. Gleichwol aber erfordert der Schick/vnd Faden eines jedlichen Liedgedichts/ daß eines auß dem andern erfolge vnd nicht vngefahr vnd ohne vrsach gesetzt seye/ dahero dann vonöthen gewesen/jtzt da/jetzt dorten sich eines andern zu bedienen/ gähling mit einer außlaufenden frag/gähling mit einem beygestellten gegenwurff/ gähling mit einem vndergemischten Clagseüfftzer/eines mit dem andern zuuerknüpffen/ vnd also dem heyligen erleüchten Propheten mit dergleichen sorgfältiger Freyheit/ vnd schuldiger Ehrerbietung/souil es nur möglich gewesen/von weitem nachzutretten. 3 8
Die Argumentationsbrüche und Ellipsen in den Psalmen waren mit einer folgerichtigen Disposition, wie sie die Barockdichter aus der Rhetorik übernommen hatten, kaum vereinbar. Das dürften auch die meisten anderen Psalmenbearbeiter bemerkt haben, wie sich an der dispositio ihrer Paraphrasen ablesen läßt. Aber nur wenige sprachen ihre Beobachtungen so offen aus wie der Jesuit Curtz — wahrscheinlich hatten auch nur wenige Autoren eine plausible Erklärung für das 37 38
Albert Curtz: Harpffen Dauids. [...] Augspurg M . D C . L I X . S. A 8'. A.a.O., S. A 9 r f .
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„Unklassische" der Psalmen, das sich mit der hergebrachten apologetischen Topik nicht recht in Einklang bringen lassen wollte. Mit wachsender Skepsis gegenüber der. Offenbarung und gleichzeitig wachsender Wertschätzung für die klassizistische Ästhetik mußten solche Überlegungen später in den Standpunkt einmünden, den dann im 18. Jahrhundert Gottsched einnahm — einen Standpunkt der Geringschätzung für die „ungeregelte" Bibelpoesie. Die gegenläufige Tendenz scheint sich schon bei einem Autor wie Gryphius anzudeuten. Auch er sieht die stilistischen Differenzen zwischen biblischer und klassischer Poesie, doch versucht er gerade, das Expressive der Psalmensprache in seine Oden zu integrieren (s.u.). Zwar ist auch bei Gryphius die Anlage des Gedichts eine rational disponierte, aber in einigen Oden verwendet er bewußt den Aufbau der Klagepsalmen (mit der plötzlichen Wendung vom Klagen zum Vertrauen und Lobpreisen). Außerdem gebraucht er die starken, auf die Emotion wirkenden Figuren so extensiv, daß sich seine Oden der Psalmenästhetik anzunähern scheinen. Gleichwohl ist auch bei der Interpretation seiner Psalmparaphrasen davon auszugehen, daß es sich hier nicht um den „Ausdruck persönlicher Empfindungen" handelt, sondern um Aussagen „über einen allgemeinen Weltzustand" wie in der Barockliteratur überhaupt. 39
Der Psalter des Martin Opitz Die prosodischen und poetologischen Regeln, die Opitz (1597—1639) in seiner „Poeterey" aufstellte, hat er selbstverständlich in den eigenen Psalmliedern beachtet, denn wie alle seine Dichtungen, kann Opitz' Psalter als exemplum für die praecepta seiner Poetik gelten. Der Fortschritt des 1637 erstmals vollständig erschienenen Buches gegenüber dem „Lobwasser" ist offenkundig, vor allem wegen der syntaktischen Natürlichkeit der Verse. 40 Opitz hatte (neben seinem eigenen dichterischen Anliegen) drei „Vorgaben" zu beachten: die Strophen- und Reimschemata der Franzosen, die Prosaübersetzung Luthers und den Literalsinn der Texte. Der Dichter rühmt sich in seiner Vorrede außerdem, eine unglaubliche Zahl von Kommentaren und einen im Hebräischen
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Siehe Wilhelm Emrich: Deutsche Literatur der Barockzeit. Königstein/Ts. 1981. S. 20. Opitz hatte zuvor bereits mehrfach Psalmen paraphrasiert (1626, 1630, 1634) die in die „Geistlichen Poemata" von 1638 eingingen. Diese Bearbeitungen sind allerdings weniger eng an die französische Vorlage angelehnt und wurden nicht in den Gesamtpsalter aufgenommen. Vgl. auch: I. Scheitler, a.a.O., S. 175f.
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und in rabbinischen Schriften erfahrenen Berater hinzugezogen sowie „die alten vnd newen Verdolmetschungen gegen einander gestellt" zu haben.41 Damit hofft er „bey friedliebenden unpartheyischen gemütern zu verfahren", weil er „also von den worten deß heiligen Königs nirgend abgewichen" sei.42 Sein Psalter soll nicht die Meinung einer einzelnen Konfession wiedergeben, sondern den buchstäblichen Sinn der Psalmen. Dies entsprach nun allerdings mehr der calvinistischen Lehre als der orthodox-lutherischen Auffassung, die literalen und christologischen Sinn nicht trennen wollte. Den Reformierten hat Opitz auch in der Tat näher gestanden als den streitbaren Lutheranern.43 Dennoch blieb der „Lobwasser", der ja eigentlich aus der Feder eines Lutheraners stammte, das Gesangbuch der deutschen Gemeinden und konnte sich trotz der offenkundigen sprachlichen, stilistischen und poetischen Verbesserungen der Opitzschen Psalmlieder behaupten.44 Opitz' Psalter wurde also trotz sechs Neuauflagen (bis 1685) nicht in den Gebrauch der Kirche übernommen,45 und es sei dahingestellt, ob dies Folge einer überkonfessionellen Haltung 46 oder der weltlich kühlen Eleganz ist, welche die gesamte Dichtung des Schlesiers kennzeichnet.47 Opitz bemerkt zum Stil seiner Psalmen: Poetische vmbschweiffe vnd färben zugebrauchen wil sich in solchen Schriften anders nicht schikken/als in beschreibungen der weltgeschöpffe/zeiten/Landschafften vnd dergleichen: welches ich mir aber auch nur wo es sich gefüget/vnd sehr sparsam zugelassen. 48 41
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Martin Opitz: Die Psalmen Davids. Nach den Frantzösischen weisen gesetzt. Danzig 1639. S. ):( viiii y . (Die Erstausgabe war leider nicht zugänglich.) A.a.O. S. ):( 10r. Vgl. A. Reich, a.a.O., S. 142. Es kam wegen der poetischen Vorbildlichkeit einerseits und der (für orthodoxe Lutheraner inakzeptablen) calvinistischen Weisen andererseits auch noch zu einer lutherischen Überarbeitung des Opitzpsalters durch Christian von Stökken. Ders.: Neugestimmte Davids = Harfe/Oder Di Psalmen Davids guten teihls aus des Opizzen übersezzung dergestalt eingerichtet/daß si auch nuhnmehr nach den in Lutherischen Kirchen üblichen Gesangweisen andächtig können gesungen werden. Schleßwig M D C LVI. Vgl hierzu vor allem A. Reich, a.a.O., S.149ff. Die geringe Rezeption des Psalters im Gemeindegesang beklagte schon Schottel, wie A. Reich bemerkt. I. Scheitler führt als Grund an, daß „der starre Traditionalismus der Gemeinden [...] den ,Lobwasser' noch bis 1798 unverändert fortschleppte". Dies., a.a.O., S. 179. Vgl. Marian Szyrocki: Martin Opitz. Berlin 1956. S. 124. Marian Szyrocki zufolge atmet schon die Vorrede „den Geist der Irenik". A.a.O., S. 123. Hugo Max kritisiert Opitz' Psalmen als „abgemessene und kunstvolle, aber kalte Verse". Ders.: Martin Opitz als geistlicher Dichter. Heidelberg 1931. S. 112. M. Opitz, Psalmen, a.a.O., S. ):( 10".
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Dies scheint noch eine Konzession an die in Kirchenliedern bis dahin übliche Schlichtheit zu sein, es nimmt den von den Patres über Luther in die Psaltervorreden gelangten Topos vom genus humile auf und wandelt ihn zugleich ab: Wo die Psalmen von der Welt sprechen, dürfen sie stärker ausgeschmückt werden als in den rein geistlichen Aussagen. Wie Schede und Lobwasser hat Opitz eine Übertragung der französischen Lieder in deutsche Texte vorgenommen. Er berücksichtigt den Wortlaut seines Ausgangstextes und übernimmt vor allem die französischen Strophenformen für den jeweiligen Psalm. Als Beispiel geben wir wieder Ps 96: 1 Singt GOtt ein newes lied zu ehren/ O erdenkreiß/laß dein lob hören/ Jauchtzt jeder wie er kan vnd mag/ Laßt ewre stimme tag auff tag Von seinem heil' vnd Namen lehren. 49
Schon die erste Strophe zeigt, wie auch Opitz durchaus bestrebt ist, den Text des Psalms Kolon für Kolon wiederzugeben, daß aber die Stilmittel der Hebräer mit seinen eigenen ästhetischen Vorstellungen schwer zu vereinbaren sind. So vermeidet er die dreifache Wiederholung des Imperativs „Singet!" und variiert die Aufforderung durch Periphrasen wie „Laß dein Lob hören" und „Jauchzt jeder". Die Parallelismen sind fast immer aufgelöst in hypotaktische Konstruktionen. Die hymnische Höhe des Stils liegt nun im Gebrauch von Interjektionen wie „o" und „ach"; vor allem aber setzt Opitz Figuren und Tropen für „zu farblose" Ausdrücke ein. Sowohl „Welt" als auch „prediget" erschienen dem Dichter zu blaß, daher ersetzte er sie durch Metonymien: „Erdenkreis" und „laßt eure Stimme lehren". Wo sich Opitz vom Luthertext löst (der im übrigen durchaus sein sprachliches „Ausgangsmaterial" bildet, wie der Vergleich zeigt), tut er es nicht in erklärend-auslegender Absicht, sondern um „poetische vmbschweife" anzubringen. Die rhetorische Durchformung des Ausgangstextes erscheint ihm nicht ausreichend: Bevor ein Psalm wirklich als Gedicht gelten kann, muß Opitz dessen sprachlicher Gestalt jene kunstvoll-elaborierte Form geben, die seit der Antike von einem rhetorischen und poetischen Text gefordert wurde. Opitz hat diese Forderung an die deutsche Dichtung gestellt, und er will sie nun auch auf die deutschen Psalmlieder angewandt wissen.
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A.a.O., S. 391f.
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So vermeidet Opitz durchaus die Wortwahl der Lutherbibel, um metaphorische und metonymische Umschreibungen für zu schlichte Wörter einzusetzen. Wo die Vorlage bildliche Ausdrücke enthält, faßt er diese auch als poetische Bilder auf (und nicht als geistliche Allegorien) und integriert sie als solche in den Text. Zwar übernimmt Opitz im großen und ganzen die Struktur der Sprachgebärden von den Ausgangstexten, aber der psalmenspezifische Aufbau geht hier eine eigentümliche Verbindung ein mit einem klassizistischen Stilgefühl, in dem Gleichmaß, Symmetrie und Geradlinigkeit eine ebenso wichtige Rolle spielen wie Abwechslung und Fülle des Ausdrucks. Die eindrucksvoll wuchtige Steigerung des klimaktischen Parallelismus in Ps 96,13 schrumpft bei Opitz zum zierlichen Chiasmus: Er kömpt daß er die erde richte: Recht wird er richten diese weit.
So werden auch die expressiven Gefühlsausbrüche der Psalmen stilistisch (und gut christlich) relativiert: In höchster angst bin ich mit beten getrost zum HERREN hin getreten [-]50
Wie hier das „getrost" die Formulierung „höchste Angst" wieder aufhebt, ist auch die Klage in Ps 142 in christlichem Sinne gemildert. Ich schickte meine stimme hin zum H E R R E N wie ich schuldig bin: Den H E R R E N der mir helfen kan floh ich mit meinem ruffen an. 51
Auch durch diese Abschwächung der Ausdrucksintensität entfernen sich die Psalmlieder des Opitz vom Gebetscharakter der Psalmen in Richtung auf eine fromme Belehrung, die eher für eine häusliche Andacht als für die liturgische Hinwendung zu Gott geeignet ist. Trotz der klaren und durchsichtigen Diktion, richten sie Texte sich nicht an den einfachen, ungebildeten Mann, denn die perspicuitas war eine Grundforderung der Rhetorik. Dementsprechend dürfte die Rezeption dieser sprachlich und poetisch anspruchsvollen Dichtung auch eher in „Gelehrtenkreisen" zu suchen sein, wie A. Reich anmerkt. 52 Obwohl die Psalmen mit Gesangsnoten abgedruckt wurden, muß man damit rechnen, daß sie ebenso als Lesewerk aufgefaßt und rezipiert wurden.
50 51 52
Ps C X X , a.a.O., S. 518f. A.a.O., S. 577f. A . Reich, a.a.O., S. 149.
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Einen direkten Einfluß hatte der Psalter auf die deutsche Lyrik vor allem durch die Vielzahl der Strophenformen, die so aus der französischen in die deutsche Poesie verpflanzt wurden. 53 Paul Flemings Bußpsalmen Neben den Gesamtpsaltern erscheinen im 17. Jahrhundert auch einige Arbeiten, die keine beliebige Auswahl, sondern den thematisch einheitlichen Zyklus der sieben Bußpsalmen paraphrasieren. Zu den Autoren gehören so wichtige Barockdichter wie der Opitzfreund Dietrich von dem Werder, 54 der durch seine mystischen Schriften bekannt gewordene Daniel Czepko 55 und der früh verstorbene Paul Fleming (1609 —1640).56 Im Unterschied zu den strophischen Dichtungen der beiden ersteren ist die Paraphrase Flemings in paarreimenden Alexandrinern gehalten, einem Versmaß, dem im Barock eine besondere Würde zugesprochen wurde. Daher war es den anspruchsvollsten Gattungen (z.B. dem Trauerspiel) vorbehalten und forderte den hohen Stil. Im vorangestellten Widmungssonett an die Gräfin Katharina von Schönburg entschuldigt sich Fleming, daß sie hier „der Wörter schönen Schein" nicht finden werde, da doch „der angeschminckte Glanz der Reden" die Sünde nicht bessern könne. 57 Dies ist (wie schon bei Opitz) eine rein topische Erwähnung des genus humile in geistlicher Poesie; mit hinein mischt sich hier wohl auch die angebrachte Bescheidenheit. Denn nicht weniger großartig als etwa in einem weltlichen Fürstenlob entfaltet der Dichter in den folgenden Texten den vollen ornatus des genus sublime. 53
Die 1 1 4 verschiedenen Strophenmuster des französischen Psalters, die von Opitz nicht nur durch die Psalm- sondern auch durch andere Gedichte in Deutschland einbzw. vorgeführt wurden, sieht der amerikanische Forscher C. Grant Loomis als einen Formenkanon an, der das 17. und noch das 18. Jahrhundert hindurch von den verschiedensten Dichtern benutzt wurde. Er schränkt allerdings ein, daß die vielfache Aufnahme der Schemata das Bewußtsein von der Herkunft dieser Formen schon bald ausgelöscht haben dürfte. Vgl. C. Grant Loomis: The Genesis and the influence of the metrical psalms of Martin Opitz. In: University of California Publications in Semitic Philology. Vol. XI. (1951) S. 2 8 5 - 2 9 6 .
54
Ders.: Die BußPsalmen/in Poesie gesetzt. [...] Leipzig 1632. Sieben-Gestirne königlicher Busse. (Posthum: Brieg 1671) In: Ders.: Geistliche Schriften. Hg. v. Werner Milch. (Breslau 1930) Nachdr. Darmstadt 1963. S. 174ff. Ders.: Davids des Hebreischen Königs und Propheten Bußpsalme/Und Manasse/des Königs Juda Gebet/als er zu Babel gefangen war. (1631) In: ders.: Deutsche Gedichte. Kritische Ausg. Hg. v. J . M. Lappenberg. Stuttgart 1865. S. 3ff. A.a.O., S. 683.
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Obwohl die nachdrückliche Schilderung von körperlichem Schmerz und Verfall bei späteren Lesern leicht den Eindruck erwecken konnte, hier werde persönliches Erleben zum Ausdruck gebracht, handelt es sich nicht um subjektiv aktualisierte Gebetsvorlagen, sondern um Lehrgedichte. Dies kündigt Fleming schon im einführenden Widmungssonett an: Was uns den Himmel sperrt, die Welt zu enge macht Die lasse Seele zwängt, den kranken Leib verzehret, [...] Das klagt und lehrt diß Buch. [...] 5 8
Die lange Aufzählung von umschreibenden Relativsätzen (von der das Zitat lediglich die ersten beiden Verse wiedergibt) muß der Leser selbst „übersetzen": Gemeint ist mit all diesen Periphrasen die Sünde. Als Lehrbeispiele für den Zusammenhang von Sünde und Leiden in der Welt will also Fleming die nun folgenden Paraphrasen verstanden wissen. Da keiner unserer Beispielpsalmen zu den Bußpsalmen zählt, wählen wir den ersten Bußpsalm, der als Einzelklage mit Ps 142 zu vergleichen wäre (zur Übersicht sind links die entsprechenden Nummern der Bibelverse ausgegeben). Der VI. PSALM. V. 1 V. 2
V. 3 V. 4
V. 5 V.6
V. 7
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Ein Psalm Davids, vorzusingen auff acht Seiten. ACh schone/grosser HErr/Ach schone mich zu straffen/ Wenn deine Huld und Gunst bey dir ist gantz entschlaffen Und du für Zorne brennst. HERR/züchtige mich nicht, Wenn dir die Grimmes-glut aus Mund und Augen bricht Die niemand tragen kan. Um so viel mehr laß blicken Dein Gnaden-Angesicht/indem mich unterdrücken Viel tausend Schmertz und Angst. HErr/heile/heile mich, Weil ich voll Schwachheit bin. O Artzt erweise dich! Die Seele zittert mir. Ach HErr! ach HErr, wie lange? Das Marek verschwindet aus/das reissen macht mir bange/ Das meine Beine kreischt. HERR/wende dich einmal/ Und hilff mir/so du wilst/aus dieser Seelenqual. Wer wird dir/wenn du mich nun wirst getötet haben/ Für deine Hülff vnd Treu' erlegen solche Gaben/ Wie ich bißher gethan? wer wil dir danken doch/ Und dencken deiner Ehr' in jenem finstern Loch/ In welches du wirffest? Das Hertzenswehe Seuffzen Macht mich so laß und matt/daß ich auch kaum kan geuffzen. Der Angstschweiß schwemet mir durch manche gantze Nacht Mein müdes Lager aus. Das Qual der Thränen macht
Ebenda.
164 V. 8
V. 9 V. 10
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Von der Reformation bis zum Ende der Barockzeit Mein Bett' als eine Bach. Wo ist mein' erste Blüte/ Da ich so schöne war? das frewdige Gemüthe? Die Augen dunckeln mich, die außgefleischte Haut Wird schlaff und runtzelt sich/daß mir selbst für mir graut. Ich bin bey Leben todt. Man drängt mich forn und hinden. Hier ädert mich dein Grimm/den ich durch meine Sünden Gehäuffet hab' auff mich. Dort ängstet mich ein Mann/ (Ach wer' es Einer nur!) dem ich kein Leid gethan. Weg/ihr verruchtes Volck/ihr Vbelthäther/weichet. Mein JammerSeufftzen hat die blaue Burg erreichet Und ihren Printz bewegt zu müssen gnädig seyn. Das Wetter ist vorbey. Nun hab' ich Sonnenschein. Mein Flehen ist erhört. Ich habe GOtt zum Freunde. Wie ist euch nun zu muth'/ihr Schlangen arge Feinde? Erschrecken müsset ihr für meinem GOtt und mir/ Und plötzlich kehren umb mit Schanden für und für. 59
Fleming hat die „Kernworte" der Lutherüberset2ung weitgehend beibehalten: „Herr", „strafen", „Zorn", „züchtigen", „Grimm". Nur leicht abgewandelt sind „Gnade"/„gnädig", „Schwachheit"/„schwach" und so fort. Auch wo Fleming umschreibt, gibt er (in der inhaltlichen Substanz) die Luthersche Psalmenversion wieder. Die Reihenfolge der Verse und die Sprachgebärden sind beibehalten; die Struktur des Klagepsalms scheint im Gedicht sogar verstärkt — und das, obwohl die Paraphrase dem Umfang und der Textveränderung nach weit über das von Opitz geübte Maß hinausgeht. In der ersten Zeile wird die knappe Bitte „strafe mich nicht" durch die Periphrase „schone, mich zu strafen" ersetzt; der Imperativ kann so leichter wiederholt und (verstärkt durch die Interjektion „Ach") an den Anfang gerückt werden. Das Wort „Grimm" ist Fleming noch zu schwach, an seine Stelle tritt das alliterierende „Grimmes-glut", was ebenso wie „brennen" den Gotteszorn metaphorisch zum Feuer in Beziehung setzt. 60 Es entsteht ein überaus wirkungsvolles Bild. Die zahlreichen Tropen und Figuren, 61 die allein schon in den ersten fünf Zeilen (dem 2. Vers) angewandt werden, steigern die Ausdruckskraft der bittenden Sprachgebärde und statten den strafenden Richtergott mit elementarer Gewalt aus. Die zweite Zeile enthält mit der Nennung von „Huld und Gunst" ein retardierendes Element — ähnlich den Opitzschen Klageliedern — , aber die inhaltliche Entwicklung wird 59 60
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Ebenda. Was übrigens in der astrologischen Lehre von den Entsprechungen seinen Ursprung hat: Der Zorn, ausgelöst vom Körpersaft der gelben Galle, beherrscht das trocken/ warme Temperament des Cholerikers und steht in Analogie zum Element des Feuers. Schon eine erste Durchsicht ergibt: Wiederholung, Hyperbel, Epitheton, Synonymie, Alliteration, Merismus, Geminatio u.a.
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dadurch nicht gestört, denn diese (fürstliche) Gnade Gottes „schläft". Auf diese Weise hat Fleming den launischen Gott der Psalmen mit der christlichen Vorstellung von der immer gleichen Güte des Vaters vermittelt. In den Zeilen 5 und 6 wählt Fleming anstelle von „sei mir gnädig" die Periphrase „Laß blicken dein Gnadenangesicht". Das Kern wort „gnädig" ist mit dem imperativischen Modus hinübergenommen in ein anthropomorphes Bild, an dem die Antithese von Strafe und Gnade anschaubar wird: das zornige und das milde Gesicht. Im Psalm folgt nun eine Begründung der Bitte: „Denn ich bin schwach". Diese verteilt Fleming auf zwei Nebensätze und modifiziert den Sinn ins Geistliche: „Voll Schwachheit" meint die menschliche Anfälligkeit gegen die Sünde. Doch diese geistliche Sinnebene wird nicht weitergeführt. Das geistliche Verständnis spielt lediglich hinein in die Wahl der Metaphern und Periphrasen. Die Bitte des Psalmisten um Heilung wird von Fleming ausgeweitet, indem er Gott als Arzt anredet und damit auf einen allegorischen Zusammenhang verweist, der nicht erst seit der Patristik ein beliebtes Mittel zur Darstellung des Verhältnisses von Gott und Mensch war; 62 die Psalmen selbst, die dem „Patienten" gegen alle erdenklichen Leiden als Medizin dienen sollten, führen im Barock oft so anspruchsvolle Titel wie „Pharmaceutice Davidica" 63 oder „Lust- und Arzeney-Garten". 64 Fleming gibt keine Erläuterung zu dem Vergleich; er fügt die Metapher in knapper Form in die Gebärde des Flehens ein. Spannungsvoll stellt er die Angstbeschreibung gegen die Bitte um Errettung. Im Psalmtext ist die Seele „erschrocken", als wäre sie eine Kreatur für sich, bei Fleming zittert sie gar. Auch die schon bei Luther eindrucksvolle Ellipse 65 „Herr, wie lange?" hat Fleming nicht gescheut, sondern sie effektvoll gegen die nachfolgende Elendsschilderung abgesetzt. Hier zeigt sich ein anderes Stilideal als bei Opitz, der solche Figuren als „dunkel" und unausgewogen angesehen und „verbessert" hat. Fleming dagegen erkennt ihre affektive Wirksamkeit an und übernimmt sie daher. In Ps 6,3 heißt es „meine Gebeine sind erschrocken". Dieser Parallelismus zu „meine Seele ist erschrocken" wird von Fleming als ein körperliches Verfallen beschrieben. Das „Mark" verschwindet aus den 62 63 64 65
Vgl. P. Fricke, a.a.O., S. 14. Jonas von Elverfeld (1609), vgl. K.P. Ewald, a.a.O., S. 338. Wolfgang Helmhard von Hohberg, s.u. Diese Stelle wird auch als Aposiopese („Verstummen") bezeichnet. Vgl. W. Bühlmann u. K. Scherer, a.a.O., S. 54f.
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Knochen, ein „Reißen" ist in seinen Beinen. Diese Vorgänge sind sehr expressiv in der mehrfachen Assonanz des schrillen „ei" dargestellt („reißen", „meine Beine kreischt"). Und doch wird hier nicht ein subjektives Gefühl unmittelbar ausgesprochen, wie es den Anschein haben könnte. Vielmehr steht das lyrische Ich gleichsam den Beinen und der Seele gegenüber und beobachtet sie wie Personen eines Schauspiels. Dies Schauspiel macht ihm Angst, nicht die Not selbst, nicht der körperliche Schmerz. Die Bitte, daß Gott aus dieser Seelenqual erretten möge, wird wieder christlich eingeschränkt. Das einräumende „so du willst" steht der christlichen Ergebung in Gottes Vorsehung besser an als das ermahnende „um deiner Güte willen" des Psalmisten. Unvereinbar mit dem Auferstehungsglauben ist für Fleming die Psalmformel „bei den Toten gedenkt man dein nicht" in Vers 6. Er hat hier die sonst häufige Gleichsetzung von Totenreich und Hölle nicht vorgenommen, sondern er schwächt die Aussage ab, indem er sie ganz in eine rhetorische Frage überführt, wie sie auch in der zweiten Vershälfte im Psalm steht. Fleming setzt den ganzen Vorgang ins Futur und ins Irreale, während für den Psalmisten feststeht, daß die Toten Gott nicht danken — das ist den Lebenden vorbehalten. Selbst in dieser aus christlichem Verständnis genährten Periphrase sind noch die Kernworte des Psalms übernommen („danken" und „gedenken"), zur Figura etymologica zusammengezogen und in eine Folge von anlautenden Dentalen gestellt („dir dancken doch/Und dencken deiner Ehr'"). Auch die vom Psalmisten in Vers 7 geschilderte Müdigkeit und sein „Weinen" werden von Fleming aufgegriffen und die Ausdruckskraft mit dem Arsenal der Tropen und Figuren zusätzlich gesteigert. Die Klage über vorzeitiges Altern und einen durch Not bedingten körperlichen Verfall (V. 8) ist für ihn ein Anlaß, den Gegensatz von Jugend und Alter anzuführen und in dem Paradoxon „Ich bin bei Leben tot" gipfeln zu lassen. Dies Paradox überführt die Klage über das Leiden in das Vanitasmotiv und weist auf den geistlichen Tod. Für den Psalmisten sind geistlicher und körperlicher Verfall eine Einheit, eines ist das Symptom für das andere. Bei Fleming dagegen werden Gesundheit und Krankheit gegenübergestellt, um die Wandelbarkeit und das Scheinhafte der diesseitigen Welt vorzuführen. Um diese Vanitassequenz zu entwickeln, beansprucht die textliche Entsprechung zu Vers 8a schon verhältnismäßig viel Raum; gemeinsam mit der Wiedergabe der zweiten Vershälfte erstreckt sich der Umfang dieser Zeilen über das Doppelte des sonst in diesem Gedicht Üblichen. Das hat neben der Ausschmückung des Vanitasgemäldes seinen Grund darin, daß mit der Erwähnung der „Feinde" in diesem Vers der „Stim-
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mungsumschwung" angebahnt wird, der in der Paraphrase „besser vermittelt wird" als im Psalm. Den Übergang bildet Fleming, indem er das „Ungemach" räumlich aufspaltet und es nicht allenthalben, sondern von zwei Seiten auf das lyrische Ich anstürmen läßt; es kommt von der Seite des zu Recht strafenden Gottes, gegen die sich der Sprecher bisher gerichtet hat, und von Seiten der Welt und der Menschen, die ihn grundlos peinigen. Durch eine Drehung um 180 Grad wendet sich der Sprecher zu seinem irdischen Peiniger um: Er hat nun Gott als Schutz im Rücken und wechselt zugleich mit der Lage den Gemütszustand. Dennoch ist sprachlich der Übergang von abgrundtiefer Verzweiflung zu felsenfestem Vertrauen in seiner harten Fügung stehen geblieben. Zu Beginn dieser Interpretation hatten wir die These aufgestellt, daß es sich bei den Gedichten Flemings nicht um Gebetsvorlagen handle. 66 Der hohe Stil (wenngleich ihn der Dichter in seinem Widmungsgedicht verleugnete) und die für Psalmendichtung bis dahin etwas ungebräuchliche Form der paarreimenden Alexandriner sind in einem geistlichen Gebrauchstext, der als Gebet verwandt werden soll, unangebracht und störend. Auch läßt sich feststellen, daß die eingesetzten Sprachmittel nicht zur Verstärkung des Gebetscharakters dienen: Das Leiden ist nicht deshalb drastischer vorgeführt, damit der Beter desto eher „Gehör finde"; das Loben ist nicht höher hinausgeschwungen, um den Betenden hymnisch mitzureißen. Die rationale Anlage der Bilder und Vergleiche disqualifiziert das Gedicht als Medium der Kommunikation zwischen einem Gläubigen und seinem Gott. Die gedankliche Arbeit, die der Betende zum Verständnis des Gedichts aufwenden müßte, würde seine Andacht und seine Hinwendung nur behindern. Dieselbe gedankliche Arbeit bildet aber für einen Leser gerade den Reiz, sich mit der Psalmbearbeitung zu beschäftigen und dem Dichter in der Darstellung der vollkommenen göttlichen Weltordnung zu folgen. Die pathetischen Figuren unterstützen beim rationalen Nachvollzug die affektive Aufnahme und bestärken den Leser in seiner Zustimmung. Die tröstende Wirkung entfaltet der Psalm Flemings nicht nur durch die Hebung des Gefühls, sondern in der fortschreitenden Erkenntnis, geleitet von den ineinandergreifenden Bildern, die unter der existentiellen Errettung zugleich die geistliche Errettung zu verstehen geben. 66
Paul Böckmann scheint etwas derartiges anzunehmen, wenn er von einer „pathetischen Sprachgebärde" in der Dichtung Flemings (und Dietrich v. Werders) spricht, die ihre „Herkunft aus der kirchlichen Gebets- und Andachtsliteratur mit aller Deutlichkeit" zeige. Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. 2 Bde. Hamburg 1949. Bd. 1. S. 331.
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Fleming hat den Psalmtext Kolon für Kolon in eine Sprache übersetzt, die die affektiven Gehalte intensiviert. Die Affekte des Ausgangstextes bleiben erhalten, obwohl sie nun verbunden sind mit der bildlichen Darstellung des allgemeinen Weltzustandes, und nicht mit den in den Psalmen so überaus konkreten Beschreibungen der alttestamentlichen Lebenszusammenhänge. So entsteht eine eigenartige Mischung aus Didaktik und Klage.
Georg Rudolf Weckherlins Psalmoden Psalmenparaphrasen in Odenform waren ein wesentlicher Bestandteil der geistlichen Gedichte in den Sammlungen, die Georg Rudolf Weckherlin (1584—1653) 1641 und 1648 erscheinen ließ. 67 Die ersten dreißig in der älteren Ausgabe (entsprechend den ersten dreißig Bibelpsalmen) scheinen noch auf einen vollständigen Psalter hin gedichtet zu sein, während die in der zweiten Sammlung hinzugekommenen dreißig Gedichte eine freie Auswahl aus dem Psalter darstellen. 68 Trotz der komplizierten Strophenformen dieser Psalmoden hat der Autor den Lesern anheimgestellt, die entsprechenden Melodien (zumeist Weisen aus dem Hugenottenpsalter) 69 zu den einzelnen Gedichten zu finden und die Psalmen auch zu singen. Stilistisch sind sie allerdings so anspruchsvoll, daß sie im Gesang kaum verstanden werden können. Wie die Alexandrinergedichte Flemings dürften sie am ehesten als Lektüre rezipiert worden sein. 70
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I. Scheitler weist auf die geringe Rezeption der Gedichte Weckherlins im Barock hin; der A u t o r lebte vorwiegend in England und war so von der deutschen Entwicklung weitgehend abgeschnitten. Vgl. I. Scheitler, a.a.O., S. 153. Zum vermutlichen Plan, den ganzen Psalter nachzudichten, vgl. Max Eitle: Studien zu Weckherlins geistlichen Gedichten. Phil. Diss., Tübingen 1 9 1 1 . S. 6. Vgl. Max Eitle, a.a.O., S. 3 3 - 3 9 . Zu der anfangs an der französischen Prosodie und Metrik orientierten Verskunst Weckherlins, die dieser nach Erscheinen der „Deutschen Poeterey" zunehmend gemäß den Opitzschen Regeln revidierte, vgl. den Rekonstruktionsversuch von Christian Wagenknecht. Ders.: Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie. Mit einem Anhang: Quellenschriften zur Versgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. München 1971. Unser Beispielpsalm zeigt allerdings v o n der zweiten Strophe an deutlich die Vernachlässigung des Wortakzents, wie er in der silbenzählenden Metrik üblich war. I. Scheitler bemerkt dazu, daß die in den weltlichen Gedichten erfolgte metrische Überarbeitung in der geistlichen Poesie „kaum irgendwo feststellen" läßt. I. Scheitler, a.a.O., S. 154, Anm. 2.
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Zum Vergleich mit Fleming führen wir die ersten drei von insgesamt zehn Strophen auf den sechsten Psalm an. Der sechste Psalm Domine, ne in furore & c. 1. VErzieh/Herr/deinen schweren grim Außgiessend vber mich/in diser vngestim dich wider mich zu rechen. Verzieh dein urtheyl/Herr/biß die Gerechtigkeit Zuvor mit der Barmhertzigkeit Rahtschlaget/außzusprechen. 2.
Ach mein Got! schaw an die trangsal Vnd meines leibs vnd gaists vnleidentliche qual/ Daß sie einander hassen: Gedenckend wie schwach Ich/Wie schmertzlich meine noth Wie schröcklich/mächtig Du O Got/ Vergiß mein thun vnd lassen! 3. Ach weh mein leib/gesicht vnd mund/ Schier gantz lahm/blind vnd stum (von deinen pfeilen wund) Bezeugen meine schmertzen: Vnd meiner sünden heer/mit mir in stehter Schlacht/ hat leyder! weder tag noch nacht Anstand in meinem Hertzen. 71
Der Stil wirkt ausgeglichener, weniger aufgewühlt als der Flemings und scheint eher den Opitzschen Psalmen vergleichbar. Die rhetorische Erweiterung des Textes geschieht hier nicht so sehr zur Steigerung der affektiven Figuren als vielmehr zur Ausschmückung. 7 2 Emphatische Wiederholungen, Hyperbeln und Klangfiguren sind bedeutend verhaltener eingesetzt als bei Fleming. Das quantitative Verhältnis zum Ausgangstext ist ein proportionales. Jede Strophe nimmt thematisch einen Psalmvers auf. 7 3 In unserem Beispiel besteht jede Strophe aus zwei Perioden, die gleichmäßig auf
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Georg Rudolf Weckherlin: Gaistliche vnd Weltliche Gedichte. Amsterdam 1648. S. 17f. Text nach: Ders.: Gedichte. Hg. v. Hermann Fischer. 3 Bde. Tübingen 1894-1907. 1. Bd. S. 315. Ingrid Laurien, die den Psalmen Weckherlins ein Kapitel ihrer Arbeit widmet, spricht von „reflexiver Amplificatio der Vorlage". I. Laurien: ,Höfische' und .bürgerliche' Elemente in den „Gaistlichen und weltlichen Gedichten" Georg Rudolf Weckherlins