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German Pages 478 Year 1995
MAGDALENA
BONK
Deutsche P h i l o l o g i e i n M ü n c h e n
MÜNCHENER
UNIVERSITÄTSSCHRIFTEN
Universitätsarchiv
LUDOVICO
MAXIMILIANEA
Universität Ingolstadt-Landshut-München Forschungen u n d Quellen Herausgegeben v o n L a e t i t i a B o e h m Forschungen B a n d 16
Deutsche Philologie i n München Z u r Geschichte des Faches u n d seiner V e r t r e t e r an der Ludwig-Maximilians-Universität v o m A n f a n g des 19. J a h r h u n d e r t s bis z u m E n d e des Z w e i t e n Weltkrieges
Von
Magdalena B o n k
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Bonk, Magdalena: Deutsche Philologie in München : zur Geschichte des Faches und seiner Vertreter an der Ludwig-Maximilians-Universität vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges / von Magdalena Bonk. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Ludovico Maximilianea : Forschungen ; Bd. 16) Zugl.: München, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08229-X NE: Universität (München): Ludovico Maximilianea / Forschungen
Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7662 ISBN 3-428-08229-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der A N S I - N o r m für Bibliotheken
Zum Geleit Es ist überaus begrüßenswert, daß mit diesem 16. Band der Forschungen zur Ludovico Maximilianea ein neuerliches Zeichen interdisziplinärer Zusammenarbeit gesetzt werden kann. Gerade die Geschichte der Seminare oder Institute der Universität bedarf für die fachliche Seite neben dem Rüstzeug historischer Methode insonderheit auch der fachwissenschaftsgeschichtlichen Kompetenz. Die hiermit veröffentlichte Untersuchung konkretisiert das Bestreben der seinerzeitigen Herausgeber der Sammelbände „Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten" ( 1972, 1980), weitergreifende Forschungsbemühungen zur Geschichte von Fakultäten und Instituten zu aktivieren, was für den Bereich der Germanistik zunächst seitens des Universitäts-Archivs Rainer A. Müller mit vorläufigen „Aspekte(n) zur Geschichte der Deutschen Philologie" (II, 1980) intoniert hatte. Dis bisherigen disziplingeschichtlichen Monographien der Reihe liegen schwergewichtig auf der Frühzeit der Ingolstädter Epoche mit Forschungen zum historischen Lehrbetrieb (Band 2, 1971 ), zur Geschichte der Juristischen und der Theologischen Fakultät (5, 1971; 6, 1974; 9, 1977) sowie der Artistenfakultät (13, 1994). Band 14 (1994) zur Völkerkunde leitet über zum 19./20. Jahrhundert. Um so erfreulicher ist es, daß der Darstellung von Stefanie Seidel-Vollmann über „Die romanische Philologie an der Universität München 1826 -1913" (Band 8, 1977), die sich unter anderer Zielsetzung der Genese der philologischen Seminare widmete, nunmehr die Untersuchung von Magdalena Bonk folgt: eine zukunftsweisende exemplarische Pilotstudie zur institutionellen und wissenschaftlichen Fachspezialisierung der Deutschen Philologie bis in die Anfangsjahre nach 1945, also unter Ausschöpfung archivalischen Materials bis an die Grenze von derzeit geltenden Personenschutzbestimmungen. Die Grundlage vorliegender Monographie bildet eine Dissertation, die von den Professoren Erich Kleinschmidt (jetzt Köln) und Wolfgang Harms (München) betreut bzw. begutachtet und im Wintersemester 1993/94 von der Philosophischen Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften II der Ludwig-Maximilians-Universität angenommen wurde. Auch wenn die Studie vornehmlich aus dem institutionellen Blickwinkel des „Deutschen Seminars'4 erfolgt, so geht es der Verfasserin zugleich um eine Analyse der Fach- und Forschungsgeschichte im Sinne des von ihr zu Recht betonten Gesichtspunktes, daß Wissenschaftsgeschichte auch für Geistes- nicht minder als für die Natur- und Technikwissenschaften „als unabdingbare Rück- und Selbstbesinnung einer Disziplin" notwendig erscheint. Die Fachvertreter der Münchener Germanistik im 19. und 20. Jahrhundert, teils Persönlichkeiten von höchster Reputation, werden in ihrer
Zum Geleit
6
amtsbezogenen Lehr- und Forschungstätigkeit vorgestellt, wobei der Rahmen des Untersuchungsprojekts natürlich nicht jeweils gesamtbiographische Würdigungen implizieren, wohl aber vielfach neue Lichter zur Gelehrtengeschichte als Institutsgeschichte setzen konnte. Übrigens wird es wohl der nächsten Generation vorbehalten bleiben zu eruieren, welche bürokratische Wertvorstellung bei der Hochschulreform 1974/75 manche Bundesländer - auch Bayern - dazu verleitete, den geschichtlich bewährten Traditionsbegriff des „Seminars" abzuschaffen, der seit der Prägung durch Pioniere ihres jeweiligen Faches wie den Altphilologen Christian Gottlob Heyne in Göttingen, den Begründer der modernen kritischen Geschichtswissenschaft Leopold von Ranke in Berlin, den Mathematiker Philipp Ludwig von Seidel und den Physiker Philipp von Jolly in München oder den Historiker Heinrich von Sybel in München / Bonn immerhin länger als eineinhalb Jahrhunderte eine zentrale Trägerfunktion innehatte bei der weltweit wirksamen Entfaltung der deutschen Universitätsidee mit ihrem Charakteristikum der Vereinigung von Forschung und Lehre. Die hier vorgelegte, auf intensivem Studium von heterogenen gedruckten und vor allem ungedruckten Quellen beruhende, in ihrer Art erstmalige monographische Darstellung des Weges akademischer Etablierung der Germanistik seit rund 1800 über die Geschicke des 1891/92 gegründeten Münchener Seminars für Deutsche Philologie bis zum Ausgang des Dritten Reiches wird für die künftige Forschung ein wertvolles Fundament bleiben. Da der Anhang ein höchst verdienstvolles Biobibliographisches Lexikon der Münchener Dozenten der Deutschen Philologie bietet, sei der Verfasserin schon jetzt auch für ihre Bereitschaft gedankt, an dem in Vorbereitung befindlichen Biographischen Handbuch des Lehrkörpers der Universität Ingolstadt/Landshut/München mitzuwirken. Im Februar 1995 Laetitia Boehm Vorstand des Universitcits-Archivs
Vorwort
Ohne die tatkräftige Unterstützung vieler Mitarbeiter in wissenschaftlichen Archiven, Bibliotheken und Instituten wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Allen, die mir namentlich bekannt geworden sind, gilt mein Dank: Frau Irmgard Böttcher, Μ . Α., Institut für Literaturwissenschaft der Universität Kiel Dr. Elke Donalies, Institut für deutsche Sprache, Mannheim Bibliotheksamtmann Walter Fiedler-Barth, Universitätsbibliothek Würzburg Prof. Dr. Monika Glettler, Sudetendeutsches Archiv, München Dr. Klaus Klauß, Zentrales Akademie-Archiv, Berlin Amtsrätin Kristin Landwehr, Universitätsbibliothek Stuttgart Archivoberrat Dr. Lauchs, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Dr. Michael Neumüller, Sudetendeutsches Archiv, München Herrn Edgar Pscheid, Sudetendeutsches Archiv, München Dr. Christian Renger, Archiv der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Herrn Peter A. Süß, Μ . Α., Kommission für die Geschichte der JuliusMaximilians-Universität Würzburg Dr. Jutta Weber, Zentralkartei der Autographen, Berlin. Allen weiteren, deren Name mir unbekannt blieb, spreche ich hier meinen Dank aus. Gesondert erwähnen möchte ich die Mitarbeiter des Universitätsarchivs München, einschließlich aller wissenschaftlichen Hilfskräfte. Frau Hedwig Spin hob für mich bereitwillig zahllose Akten aus. Herr Dr. Wolfgang J. Smolka unterstützte mich nach Kräften, vor allem in der Phase der Drucklegung. Aufrichtig danken möchte ich Herrn Professor Dr. Erich Kleinschmidt, Köln, der die Anregung zu dieser Untersuchung gab und ihre Entstehung stets interessiert und verständnisvoll begleitete und förderte.
Vili
Vorwort
Mein Dank gilt aber nicht zuletzt Frau Professor Dr. Laetitia Boehm, der Herausgeberin der "Ludovico Maximilianea: Forschungen". Sie erklärte sich sofort bereit, meine Arbeit in diese Reihe aufzunehmen, und ließ ihr jegliche Unterstützung zuteil werden.
M.B.
Inhalt
1. Zur Einführung: Gegenstand, Methode, Probleme
1
2. Der Prozeß der Institutionalisierung der Deutschen Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität
6
2.1. Zur Geschichte der Universitätsseminare 2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung in München 2.2.1. Die Anfänge in Ingolstadt (1799) 2.2.2. Die Landshuter Periode (1800 - 1826) 2.2.3. Die Universität in München (ab 1826) 2.2.3.1. Die erste außerordentliche Professur für altdeutsche Sprache und Literatur (1828): Johann Andreas Schmeller 2.2.3.2. Das erste Ordinariat für "Ältere deutsche Sprache und Literatur" (1835): Hans Ferdinand Maßmann 2.2.3.3. Konrad Hofmann - Ordinarius für Germanistik (1856) und Romanistik (1869) 2.2.3.4. Die erste ordentliche Professur für "neuere Literatur" (1874): Michael Bernays 2.2.3.5. Ansätze zur Gründung eines Deutschen Seminars (1874/75) 2.2.3.6. Die Deutsche Philologie im Kreise der Neuphilologien: die Errichtung des Seminars für neuere Sprachen (1876) 2.3. Die Gründung des Seminars für Deutsche Philologie durch Matthias von Lexer (1891/92) 2.4. Die Auf- und Ausbauphase des Instituts (bis 1933) 2.4.1. Lehrstuhlbesetzungen 2.4.1.1. Hermann Paul (1893) 2.4.1.2. Franz Muncker ( 1896) 2.4.1.3. Carl von Kraus (1917) 2.4.1.4. Waither Brecht (1927) 2.4.2. Theaterwissenschaft innerhalb des Instituts für Deutsche Philologie 2.4.3. Volkskunde im Rahmen des Deutschen Seminars 2.5. Die personelle und finanzielle Ausstattung des Deutschen Seminars im Überblick 2.6. Nationalsozialistische Personalpolitik am Seminar für Deutsche Philologie 2.6.1. Die Zwangsemeritierung von Walther Brecht ( 1937)
8 12 12 14 19 20 23 27 33 39 45 47 53 53 54 60 65 67 72 74 77 81 81
χ
Inhalt
2.6.2. Die Berufung von nationalsozialistisch orientierten Germanisten 2.6.2.1. Erich Gierach (1936) 2.6.2.2. Herbert Cysarz (1938) 2.6.2.3. Otto Höfler (1938) 2.7. Die ersten Jahre nach der Hitler-Diktatur (bis ca. 1950) 3. Das Spektrum der Deutschen Philologie an der LMU im Spiegel ihrer Vertreter: Inhalte, Methoden, Schulen (bis 1933) 3.1. Zum Begriff der wissenschaftlichen Schulen 3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde 3.2.1. Der bayerische Germanist Johann Andreas Schmeller 3.2.2. Die "'philologisierte' Disziplin" unter Hans Ferdinand Maßmann 3.2.3. Ansätze zur Komparatistik bei Konrad Hofmann 3.2.4. Der Seminargründer Matthias von Lexer 3.3. Die ältere deutsche Philologie 3.3.1. Der Junggrammatiker Hermann Paul 3.3.2. Rekurs auf Lachmann durch Carl von Kraus 3.4. Die neuere deutsche Philologie 3.4.1. "Die philologische Begründung der neueren Literaturgeschichte" durch Michael Bernays 3.4.2. Franz Muncker als Vertreter der philologisch-historischen Methode 3.4.3. Waither Brecht - der erste "Literaturwissenschaftler" in München 3.5. Rückblick
83 84 88 91 93 99 101 104 107 118 136 150 159 160 181 197 198 222 240 254
4. Germanistik im Dritten Reich: Die Deutsche Philologie an der LMU von 1933 bis 1945 258 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.
Erich Gierach - Wissenschaftler im Volkstumskampf Zwischen deutscher Literaturgeschichte und Philosophie: Herbert Cysarz Otto Höfler als Künder eines neuen Germanenbildes Fazit
261 290 321 345
5. Zusammenfassende Schlußbemerkungen
347
Anhang
353
Tabellen und Abbildung
355
Tabelle 1 : Anzahl der am Deutschen Seminar entstandenen Dissertationen je Dozent und Jahr (1877 - 1950) Tabelle 2: Summe der betreuten Dissertationen je Ordinarius (1877 - 1950) Tabelle 3: Die Habilitationen am Institut für Deutsche Philologie ( 1862 - 1945) Tabelle 4: Der Seminaretat im Vergleich zum Jahresgehalt eines Ordinarius Tabelle 5: Berufungen von Germanisten zwischen der LMU und anderen Hochschulen Abbildung: Habilitationen und Beförderungen am Institut für Deutsche Philologie in München ( 1860 - 1951 )
355 358 358 361 362 363
Inhalt
Quellen- und Literaturverzeichnis
XI
364
1. Personalbibliographie: Die Dozenten für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität 364 1.1. Die Ordinarien für Deutsche Philologie 364 1.2. Die Ordinarien für andere Fächer 385 1.3. Die Nicht-Ordinarien für Deutsche Philologie 386 1.4. Die Nicht-Ordinarien für andere Fächer 396 2. Quellenverzeichnis
397
2.1. Ungedruckte Quellen 397 2.1.1. Ungedruckte Quellen in Archiven und Bibliotheken 397 2.1.2. Ungedruckte Quellen in Privatbesitz 401 2.1.3. Sonstige ungedruckte Quellen 401 2.2. Gedruckte Quellen 401 2.2.1. Promotions- und Habilitationsordnungen LMU 401 2.2.2. Studiengesetze, Studienpläne, Vorlesungsverzeichnisse und Seminarstatuten 402 2.2.3. Rektorats- und Akademiereden 402 2.2.4. Politische Erklärungen von Hochschullehrern 403 2.2.5. Lehrbücher aus der Frühzeit der Germanistik (Allgemeine Literärgeschichte, Ästhetik, Klassische Philologie etc.) 404 2.2.6. Germanistische Fachbücher (Grammatiken, Texteditionen etc.)...404 2.2.7. Theoretische Schriften zur Literaturwissenschaft 405 2.2.8. Brief- und Tagebucheditionen 406 2.2.9. Autobiographisches 406 2.2.10. Von Münchner Ordinarien betreute Dissertationen 407 2.2.11. Weitere Quellen 407 3. Literaturverzeichnis 3.1. Nachschlagewerke, Verzeichnisse, Bibliographische Hilfsmittel 3.2. Literatur
409 409 413
Biobibliographisches Lexikon für die Dozenten der Deutschen Philologie an der LMU 429
Abkürzungen
AA AAVCR Ab. ADB ADW AfdA Ahd./ahd. ao. api. BayHStA BBB BDC Beitr(r). DA DA Prag DBJ DVjs FS HA Hon.Prof. HZ IdS IfZ ILK Jb(b). KuMi LMU MAuß ME Mhd./mhd. MInn MNN
Auswärtiges Amt Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag Abschrift Allgemeine Deutsche Biographie Akademie der Wissenschaften, Zentrales Akademie-Archiv, Berlin Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Litteratur Althochdeutsch/althochdeutsch außerordentlich außerplanmäßig Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Bosls Bayerische Biographie Berlin Document Center Beitrag (Beiträge) Deutsche Akademie München Deutsche Akademie Prag Deutsches Biographisches Jahrbuch Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Festschrift Hauptamt Honorarprofessor Historische Zeitschrift Institut für deutsche Sprache, Mannheim Institut für Zeitgeschichte, München Institut für Literaturwissenschaft der Universität Kiel Jahrbuch/Jahrbücher Kultusministerium Ludwig-Maximilians-Universität Ministerium des Äußern Ministerial-Entschließung Mittelhochdeutsch/mittelhochdeutsch Ministerium des Innern Münchner Neueste Nachrichten
Abkürzungen
NDB NS NSDAP o. ÖBL PA PBB PD plm. REM RSHA SD SdA SdP Sitz.prot. SS StB SWS Tr. TW/tw UAM UB W Wb. WS ZBLG ZfdA ZfD ZfdPh ZfG
XIII
Neue Deutsche Biographie Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ordentlich Österreichisches Biographisches Lexikon Personalakte Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Privatdozent planmäßig Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Berlin Reichssicherheitshauptamt Sicherheitsdienst Sudetendeutsches Archiv, München Sudetendeutsche Partei Sitzungsprotokoll Sommersemester Bayerische Staatsbibliothek, München Semesterwochenstunde(n) Trimester Theaterwissenschaft/theaterwissenschaftlich Universitätsarchiv München Universitätsbibliothek Vorlesungsverzeichnis(se) Wörterbuch Wintersemester Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für deutsches Altertum Zeitschrift für Deutschkunde Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für Germanistik
1. Zur Einführung: Gegenstand, Methode, Probleme
Vor fast 200 Jahren gab es die ersten Vorlesungen über deutsche Sprache und Literatur an der Universität Ingolstadt, der Vorgängerinstitution der Ludwig-Maximilians-Universität München. Über 100 Jahre liegt die Gründung des Instituts für Deutsche Philologie zurück. Den Ausschnitt von den Anfängen bis etwa 1945, also das Geschehen in einem Zeitraum von anderthalb Jahrhunderten, behandelt die vorliegende Arbeit. 1 Nicht nur arbeitstechnische Gründe bedingten es, die Grenze am Ende des Zweiten Weltkriegs zu ziehen. Zum einen blieb die ungeheuere Materialfülle dadurch wenigstens einigermaßen überschaubar, zum andern erfordert jede historische Darstellung eine gewisse zeitliche Distanz zu ihrem Thema. Der Abstand erleichtert insbesondere die Einordnung und Bewertung der geschichtlichen Ereignisse. Hinzu kommen noch gesetzliche Bestimmungen für die Benutzung von Archivalien. 2 Ein weiterer Grund für die zeitliche Begrenzung bestand in der Wertung des Dritten Reichs als Zäsur in der Geschichte des Fachs Germanistik wie auch der Universität. 3 Punktuelle Ausblicke in die Nachkriegsjahre verstehen sich als
1 Literatur wird i.d.R. nach folgendem Schema zitiert: Verfasser bzw. Herausgeber (Auflagenzahl) Erscheinungsjahr, Bandzahl, Seitenzahl(en). Der vollständige Titel kann über das Literaturverzeichnis erschlossen werden. In den Fällen, in denen eine eindeutige Identifizierung wegen mehrerer Veröffentlichungen im gleichen Jahr nicht möglich ist, wird zusätzlich der Titel in Kurzform angegeben. Es ist nicht bloß Zufall, daß diese Untersuchung über die Geschichte des Instituts für Deutsche Philologie an der LMU München nicht in einem Jubiläumsjahr des Deutschen Seminars zum Abschluß kommt. Vielmehr signalisiert es, daß die Entwicklung objektiv, d.h. gegebenenfalls auch kritisch verfolgt wurde - eine Zielsetzung, die sich im Rahmen von Festschriften meist verbietet. 2 Vor allem der Persönlichkeitsschutz bliebe für den Zeitraum nach 1945 nicht immer gewahrt, da viele der damaligen Germanisten noch leben bzw. seit ihrem Tod noch eine zu kurze Frist verstrichen ist. 3 Die völkisch-nationale Ausrichtung der Wissenschaften und der Autonomieverlust der Hochschulen kennzeichneten die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Diese Erscheinungen fanden im Nachkriegsdeutschland ihr Ende, wenn man einmal von den personellen Kontinuitäten an den Universitäten absieht. Mit diesen Bezugspunkten steht diese Aussage auch nicht im Widerspruch zu Wilhelm Voßkamp, der aufgrund anderer Kriterien - vor allem methodologischer Art - das Jahr 1945 nicht als Einschnitt in der Fachgeschichte beurteilt (vgl. Voßkamp 1991, S.18).
2
1. Zur Einführung: Gegenstand, Methode, Probleme
Anregung, der wichtigen Frage nach dem (Neu-)Anfang der Disziplin in einer separaten Studie nachzugehen. Die Untersuchung der Deutschen Philologie in München gliedert sich in drei Hauptteile. Einleitend wird jeweils die individuelle Zielsetzung eingehend erörtert, ebenso der Forschungsstand und das methodische Vorgehen. Die folgenden Ausführungen zum Aufbau und Inhalt der Arbeit können sich deshalb auf eine kurze Übersicht über die großen Strukturen beschränken. Kapitel 2 bietet einen Überblick über die Geschichte des Deutschen Seminars als Institution. Im Zentrum steht die Seminargründung von 1891/92, die den Etablierungsprozeß der Germanistik als wissenschaftliche Disziplin in München offiziell abschließt. Die einzelnen Stufen auf diesem Weg bestehen in der Errichtung von Extraordinariaten bzw. Ordinariaten. Indem die innerund außeruniversitären Vorgänge um die Errichtung und Besetzung der Lehrstühle verfolgt werden, lassen sich Widerstände und Förderer aufdecken. Der Vergleich mit anderen deutschen Universitäten gibt den Rahmen vor, um diesen lokalen Institutionalisierungsprozeß zu charakterisieren und zu bewerten. Nach der Institutsgründung konzentriert sich das Interesse auf Lehrstuhlbesetzungen, Habilitationen und die Entstehung neuer Disziplinen im Rahmen des Deutschen Seminars. Ein Überblick über dessen personelle und finanzielle Ausstattung soll verdeutlichen, von welchen Faktoren der Ausbau des Seminars abhing. Ein eigener Abschnitt beschäftigt sich mit den Auswirkungen der nationalsozialistischen Personalpolitik am Institut für Deutsche Philologie. Abschließend folgt ein Ausblick auf die ersten Nachkriegsjahre bis etwa 1950. Getrennt von der Geschichte der Institution wird die innere Entwicklung des Fachs Germanistik in München bis 1933 untersucht, wie sie sich in Lehre und Forschung der jeweiligen Ordinarien widerspiegelte (Kapitel 3). Zwar wird nicht verkannt, daß institutioneller und innerdisziplinärer Fortgang zusammenhängen, wofür vor allem die Doppelrolle der Lehrstuhlinhaber als Repräsentanten des Instituts und des Fachs signifikant ist. Andererseits soll die Trennung eine gezielte Analyse institutions- bzw. fachgeschichtlicher Aspekte ermöglichen. Zahlreiche Querverweise stellen die notwendige Verknüpfung zwischen beiden Strängen her. Wichtige Leitfragen bilden in diesem Abschnitt die Kontinuität von wissenschaftlichen Inhalten und Methoden, die Neigung zur Innovation durch Ausweitung des Forschungsspektrums oder neue theoretische bzw. methodische Ansätze, die Kongruenz zwischen Lehre und Forschung, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und die Begründung bzw. Tradierung von wissenschaftlichen Schulen. Zur Abrundung dieses personengeschichtlichen Ansatzes werden auch außeruniversitäre Aspekte, zum Beispiel die politischen Aktivitäten der Professoren, berücksichtigt. Resümierend wird jeweils
1. Zur Einführung: Gegenstand, Methode, Probleme
versucht, das individuelle Profil vor dem Hintergrund des Instituts und des Fachs zu konturieren. Dieselben Gesichtspunkte sind prinzipiell auch für den letzten Hauptteil (Kapitel 4) maßgeblich, der die Deutsche Philologie in München in der Zeit des Nationalsozialismus analysiert. Hier verschieben sich die Akzente deutlicher auf politische Aspekte. Anhand umfangreichen Materials, dessen Zusammensetzung bei den drei Ordinarien variierte, wird nach ihrem Verhalten im Dritten Reich gefragt, wie es sich im persönlichen, universitären und wissenschaftspolitischen Bereich äußerte. Zu dieser Diskussion gehört auch der Aspekt, welche Rolle sie speziell als Germanisten im Nationalsozialismus spielten. Daß dies in einem eigenen Abschnitt geschieht, trägt der besonderen Entwicklung der Ereignisse während dieser Zeit Rechnung. Das Schlußkapitel bietet einen knappen Überblick über die Hauptresultate der Untersuchung. Als Anhang beigefügt sind eine Reihe von Tabellen, die statistisches Material - z.B. über die Zahl der in München entstandenen Dissertationen pro Dozent und Jahr bzw. pro Lehrstuhlinhaber - übersichtlich bereitstellen. Demselben Zweck dient das biobibliographische Lexikon, das über Lebenslauf, Veröffentlichungen und Forschungsliteratur aller Münchner Germanistik-Dozenten im Untersuchungszeitraum informiert. Die gesamte Arbeit basiert auf umfassenden Quellen- und Literaturrecherchen.4 Einschlägig waren die Personal-, Senats- und Fakultätsakten im Universitätsarchiv München, Personal- und Sachakten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München und Professorennachlässe, die zum Teil weit verstreut in Archiven, Bibliotheken und Instituten lagern. Von den gedruckten Quellen erwiesen sich vor allem die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Ordinarien, die Vorlesungsverzeichnisse (nicht nur von der LMU), aber auch Briefeditionen und Autobiographien als ergiebig. 5 Die Bandbreite der Forschungsliteratur reichte vom knappen Artikel im Biographischen Lexikon bis zur detaillierten Professorenbiographie. 6 Da die Ausgangssituation für die einzelnen Professoren relativ unterschiedlich ist, muß hier ein gemeinsamer Nenner gefunden werden, der der individuellen Bedeutung des Germanisten und gleichzeitig dem Anspruch auf möglichst umfassende Information gerecht wird. Darstellungen zur allgemeinen, politischen und sozialen Geschichte im Untersuchungszeitraum, zur Geschichte der Universitäten (allgemein und spe-
4
Vgl. die Personalbibliographie das Quellen- und Literaturverzeichnis. Zur Bedeutung der Arbeit mit Quellen auch in der Fachgeschichtsschreibung vgl. König 1988, S.390. - Zur Bedeutung von VV als Quelle vgl. Seidel-Vollmann 1977, S.143. 6 Vgl. die Personalbibliographie, die Quellen und Literatur separat für jeden Münchner Germanisten auflistet. 5
4
1. Zur Einführung: Gegenstand, Methode, Probleme
ziell für München), zur Geschichte der Germanistik sowie zu einzelnen germanistischen Methoden lieferten die notwendigen Hintergrundinformationen. 7 In dieser Materialfülle ist gleichzeitig eins der Hauptprobleme bei der Entstehung dieser Untersuchung zu sehen. Obwohl prinzipiell für jeden Ordinarius eine eigene Monographie denkbar wäre, machte die Gesamtanlage der Arbeit eine Auswahl und Beschränkung nötig. Vorrangiges Ziel war es nämlich nicht, eine Geschichte einzelner Germanisten zu schreiben, sondern die Professoren vor allem als Verband zu analysieren, wie er sich durch die Institution "Deutsches Seminar" konstituiert. Die Untersuchung erfolgte in erster Linie aus dem Blickwinkel einer Institutsgeschichte. Im Fokus steht zwar das Münchner Deutsche Seminar, das schließt aber den Blick auf andere Universitäten nicht vollständig aus, ganz im Gegenteil. Nur durch den Vergleich gelingt es, die Stellung der Deutschen Philologie an der L M U innerhalb Deutschlands überhaupt zu erfassen und zu bewerten. Im Sinne eines "mehrdimensionalen Fragerasters" ergänzen sich dabei verschiedene Perspektiven, etwa institutions- und methodengeschichtliche, fach- und allgemeingeschichtliche, politische und biographische Fragestellungen, was der Komplexität des Untersuchungsgegenstands angemessen ist und "eine unzulässige Vereinfachung und Verkürzung der Fachgeschichte vermeiden" hilft. 8 Im Prinzip wäre für diese Untersuchung auch die Konzentration auf andere Leitgedanken möglich gewesen. Aus dem Blickwinkel der Studenten oder des wissenschaftlichen Nachwuchses ergäbe sich sicher ein anders akzentuiertes Bild dieses Zeitraums. Auch eine frauenbezogene Institutsgeschichte wäre denkbar. 9 Mit Rücksicht darauf, daß die Vorarbeiten zur Münchner Institutsgeschichte noch als spärlich anzusehen sind, sollte mit dieser Arbeit aber ein allgemeines Fundament für weitergehende, spezialisierte Forschungen gelegt werden, wie sie eben angedeutet wurden. 10 Außerdem ist ein Beitrag angestrebt im Hinblick auf die noch immer ausstehende Gesamtgeschichte der Deutschen Philologie. Warum eine solche überhaupt wünschenswert ist, mag auf den ersten Blick nicht sofort einleuchten. Konkret heißt das: Ist Wissenschaftsgeschichte - und um diese handelt es sich letzten Endes - notwendig? Es fällt auf, daß Wissen7
Erst nach Abschluß der Arbeit erschien folgender Band: Brenner 1993. s Voßkamp 1991, S.27 9 Sie würde erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzen, als Frauen erstmals als Gasthörerinnen und nur nach individueller Genehmigung durch den Dozenten und das Ministerium zu Vorlesungen zugelassen wurden (vgl. BayHStA MK 11119 und UAM Sen. 10). Ein offizielles Frauenstudium gab es in Bayern erst 1903. 10 Zum Forschungsstand für das Deutsche Seminar in München vgl. Kap. 2.
1. Zur Einführung: Gegenstand, Methode, Probleme
schaftsgeschichte bislang vorrangig Sache der Natur- und Technikwissenschaften war. 11 Damit widmen sich im Prinzip ahistorische und dem Fortschritt verpflichtete Wissenschaften einem ausgesprochen historischen Gegenstand. Für die "historisch geprägten" Geisteswissenschaften gilt es hier, verlorenen Boden gutzumachen. Darüber hinaus lassen sich noch andere Gründe ins Feld führen. Sicher sind die Wissenschaften ein Bestandteil unserer kulturellen Identität. Diese entwickelte sich nicht sprunghaft, sondern in einem fortschreitenden Prozeß. 12 Dahinter steht die Auffassung, daß die Entwicklung in der Vergangenheit bis zur Gegenwart, ja bis in die Zukunft nachwirkt. 13 Es ist Aufgabe des Historikers, auch des Fachhistorikers, sich diese Strukturen bewußt zu machen. Nur so können sie für die Gegenwart und Zukunft nutzbar gemacht werden, indem der Status quo differenziert betrachtet und die Weiterentwicklung bewußter gesteuert wird. In diesem Sinn erscheint Wissenschaftsgeschichte nicht als Gegenwartsflucht, sondern als unabdingbare Rückund Selbstbesinnung einer Disziplin.
11
Vgl. die Beiträge in der 1978 gegründeten Fachzeitschrift "Berichte zur Wissenschaftsgeschichte", 1978ff. - An der Technischen Universität München gibt es einen eigenen Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte (Inhaber: Volker Bialas). 12 Diese Auffassung widerspricht auch nicht der Theorie des Paradigmen wechseis von Thomas S. Kuhn (vgl. Kuhn 1967), denn das völlig Neue kann nur im Vergleich mit dem "Alten" als neu erkannt werden. 13 Vgl. auch das "Editorial" von Fritz Krafft in Bd.l der "Berichte zur Wissenschaftsgeschichte" (1978, S.3): "Und so sind es gerade die bedeutendsten Vertreter medizinischer, natur- und geisteswissenschaftlicher und technischer Disziplinen, die immer deutlicher erkennen, daß die Geschichte der/ihrer Wissenschaft auch für die Wissenschaftler selbst nicht 'Geschichte' im Sinne von abgeschlossener, musealer Vergangenheit sein wird, daß sie vielmehr wieder 'Gegenwart' im Sinne von prägender Tradition werden muß." 2 Bonk
2. Der Prozeß der Institutionalisierung der Deutschen Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität
Die Etablierung eines Fachs als wissenschaftliche Disziplin an einer Hochschule nachzuvollziehen bedeutet, sowohl Wissenschafts- als auch Universitätsgeschichte zu schreiben. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar, da die Entwicklung des Fachs vom Fortschritt der Hochschule abhängt wie auch umgekehrt. Sich auf eine einzige Universität zu beschränken bringt zwangsweise mit sich, sich auf einen bestimmten Teil der Fachentwicklung zu konzentrieren. Interuniversitäre Tendenzen, Vorgänge außerhalb der Hochschule oder die Gesamtentwicklung der Disziplin werden gezielt auf die spezifische Fragestellung hin geprüft, d.h. nur insoweit berücksichtigt, sofern sie zur Beurteilung der Münchner Verhältnisse relevant sind. Unter dieser Voraussetzung soll die Entwicklung der Deutschen Philologie speziell an der Universität München verfolgt werden - von ersten Ansätzen, die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert festzustellen sind, bis zum Ende des Untersuchungszeitraums, also etwa bis 1945.1 Noch darüber hinausgehend schließt sich ein Ausblick bis 1950 an. Als Zielpunkt dieser Entwicklung wird die Gründung des Seminars für Deutsche Philologie angesehen, denn: "Unter institutionsgeschichtlichem Aspekt gelten die Seminargründungen als Indikator der endgültigen Integration des Faches Germanistik in den Universitätsbetrieb oder doch zumindest als vorläufiger Abschluß des durch regelmäßige Vorlesungs1
Für andere Universitäten im deutschsprachigen Raum liegen bereits vergleichbare Untersuchungen vor. Der Grad der Ausführlichkeit variiert, je nachdem, ob sie innerhalb einer Universitätsgeschichte oder monographisch erschienen sind. - Basel: Staehelin 1959, S.93-96; Bonjour 1960, S.660-671. - Berlin: Roethe 1910; Das Germanische Seminar 1937; Richter 1960; 100 Jahre German. Sem. 1987; Höppner 1988. Bonn: Meissner 1933; Siebs, Deutsche Sprache und Literatur, 1911; Siebs, Zur geschichte der germanistischen Studien, 1911; Siebs 1929. - Erlangen: Heibig 1975. Freiburg: Burkhardt 1976. - Göttingen: Hunger, Germanistik zwischen Geistesgeschichte, 1987. - Graz: Leitner 1973. - Greifswald: Tschirch 1956. - Halle: Lemmer 1956 und 1958/59. - Heidelberg: Lehmann 1967; Burkhardt 1976. - Jena: Germann 1954. - Kiel: Vogt 1940; Bülck 1951; Hofmann 1969. - Köln: Das Deutsche Seminar 1936; Heimbüchel/Pabst 1988. - Leipzig: Marquardt 1988. - Rostock: Bechstein 1883; Pischel 1983. - Tübingen: Burkhardt 1976. - Würzburg: Polster 1987; Brückner 1988.
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
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angebote eingeleiteten und durch Einrichtung von Fachprofessuren gefestigten Institutionalisierungsprozesses."2 Im folgenden wird der Institutionalisierungsprozeß in München von "außen" her rekonstruiert, vor allem anhand der Akten des Universitätsarchivs München sowie des Bayerischen Hauptstaatsarchivs München. Den ersten knappen Überblick über die Geschichte des Instituts lieferte Eduard Hartl anläßlich des hundertsten Jubiläums der Verlegung der Universität nach München.3 Im Rahmen seiner Untersuchung über "Das höhere Lehramt in Bayern im 19. Jahrhundert" behandelte Karl Neuerer in aller Kürze auch "Die Ausbildung im Fach Deutsch", die zwischen den beiden Extrempolen "Stilistische Schulung" und "fachwissenschaftliche Ausbildung" diskutiert wurde. 4 Die Kontroversen in dieser Frage belegt er vorrangig mit Beispielen von der Ludwig-Maximilians-Universität, genauer gesagt: aus der (Vor-)Geschichte des Deutschen Seminars in München. Weitere Vorarbeiten leistete Rainer Albert Müller in einem Aufsatz, der allerdings in manchen Details der Korrektur bedarf. 5 Mehrfach wird aus den Akten des Universitätsarchivs München nicht exakt zitiert, wodurch Sachverhalte und Zusammenhänge unkorrekt dargestellt werden. Auf einige exemplarische Stellen wird in den Anmerkungen hingewiesen. Aus diesem frühen Befund ergab sich die Notwendigkeit, für diese Untersuchung die Quellen selber eingehend zu sichten und auszuwerten. Zwei weitere Aufsätze datieren aus den letzten beiden Jahren und wurden jeweils aus aktuellem Anlaß publiziert. Das hundertjährige Jubiläum der Seminargründung gab im Jahr 1992 den Anstoß zu einem kurzen Abriß der Seminargeschichte. 6 Zum 50. Jahrestag der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten erschien ein knapper Überblick über die Münchner "Germanistik unterm Hakenkreuz", der sich speziell mit den Folgen dieses politischen Ereignisses am Institut für Deutsche Philologie in München auseinandersetzte.7
2 3 4 5 6 7
2*
Meves 1987, S.69*. Vgl. Hartl 1926. Vgl. Neuerer 1978, S.161-168, Zitate aus der Kapitelüberschrift. Vgl. Müller 1980. Vgl. Harms 1992. Vgl. Hobelsberger 1993.
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
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2.1. Zur Geschichte der Universitätsseminare Der Begriff "Seminar" bezeichnet zum einen ein Institut als wissenschaftliche Einrichtung im schulisch-universitären Bereich, zum andern eine Lehrveranstaltung an ebendiesem Institut. 8 Etymologisch leitet sich das Wort vom lateinischen "seminarium" für Pflanz- oder Baumschule ab.9 Der modernen Bedeutung liegt somit eine metaphorische Übertragung von "Anstalt zur (Heran-)Bildung" auf das Gebiet der (Hoch-)Schulausbildung zugrunde. 10 Die ersten Seminare gab es im 16. Jahrhundert speziell für die Ausbildung von Theologen. 11 Ihre Entstehung ging zurück auf das Konzil von Trient (1545-63), das - ganz im Zeichen der Gegenreformation - die Einrichtung von Klerikalseminaren beschloß.12 Vermutlich in Anlehnung an diese geistlichen Seminare wurden seit dem 18. Jahrhundert pädagogische Seminare geschaffen, um die nachweislich mangelhafte Vorbildung von Lehrern zu verbessern. 13 Als Pionier auf diesem Gebiet gilt August Hermann Francke, der mit seinen Erziehungsanstalten in Halle/Saale ein Zentrum des Pietismus gründete. Zu den Franckeschen Stiftungen zählte auch das Pädagogium für Adlige mit Internat (gegr. 1697), in dem die Studierenden pädagogisch unterwiesen wurden, während sie bereits Lehrverpflichtungen übernahmen. Das Seminarium philologicum, das Johann Mathias Gesner 1737 in Göttingen eröffnete, unterschied sich von der Franckeschen Einrichtung durch die 8
Vgl. Duden, Fremdwörter, S.709. Vgl. Kluge 221989, S.667, und Grimm/Grimm, Bd.10, 1984, S.558. 10 Vgl. Kluge 221989, S.667. - Vgl. auch die Def. in Weimar 1989, S.423: "Ein Seminar war also, kurz gesagt, eine staatliche 'deutsche Gesellschaft' mit Ausbildungsfunktion, mit einem professoralen Direktor und studentischen Mitgliedern. Daß der Name 'Seminar' auf Räumlichkeiten und auf einen Veranstaltungstyp übertragen wurde, ist eine etwas spätere Entwicklung. Die Seminare besaßen - im Unterschied zu den Instituten - keine eigenen Räumlichkeiten; in der Regel allerdings wurde einem Seminar ein Raum in den Universitätsgebäuden zugewiesen, in dem die Übungen seiner Mitglieder stattfinden konnten und meist dann auch eine kleine, aus dem einzigen Etatposten (sofern keine Prämien für Studenten vorgesehen waren) anzuschaffende Arbeitsbibliothek aufgestellt wurde." 11 Zur Entstehung der Universitätsseminare allgemein und zur Seminaridee vgl. Erben 1913; Boehm 1987; Boehm 1988, v.a. S.131ff.; Dickerhof 1987. - Zur Geschichte mehrerer Seminare speziell an der Univ. München liegen inzwischen Monographien vor, z.B. zum Romanischen Seminar: Seidel-Vollmann 1977; zum Historischen Seminar: Dickerhof-Fröhlich 1979. 12 Zu den Auswirkungen speziell in Bayern vgl. Seifert 1978. 13 Zur Rolle des Seminars in der Ausbildung von Lehrern für die philologischen Lehrämter vgl. Neuerer 1978, S. 136-167, speziell für das Fach Deutsche Philologie: S.161-167. 9
2.1. Zur Geschichte der Universitätsseminare
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bewußte Einbindung in die neu gegründete Universität (* 1737), genauer: in die philosophische Fakultät. Gemeinsam war ihnen - trotz des Namens, der andere Rückschlüsse zuläßt - die eindeutig pädagogische Zielsetzung. Bereits hier setzte eine Entwicklung ein, die m.E. bis in unsere Gegenwart reicht, indem das Problem einer fachspezifischen gegenüber einer berufsbezogenen Ausbildung von Philologen stets aufs neue diskutiert wird. Die Reihe der philologischen Seminare wird 1777 in Erlangen und Kiel, 1779 in Helmstedt, 1812 in Gießen fortgesetzt. Die wissenschaftlichen Inhalte waren vielfältig: Neben Klassischer Philologie wurden Kenntnisse in Theologie, Geschichte, Erziehungskunst, Jura, Medizin und Mathematik vermittelt. Erst Friedrich August Wolf in Halle richtete sein Seminar nach rein philologischen Inhalten aus. Damit gelang es ihm, "die Ausbildung zum Lehrer" von der "Ausbildung in der Wissenschaft" zu trennen. 14 Handelte es sich hier um staatliche Initiativen, gibt es daneben eine zweite "Wurzel" für die Universitätsseminare, die eher auf privates Engagement zurückzuführen ist. Gemeint sind "die gelehrten Gesellschaften [...], die aus der Studentenschaft gebildet, unter Führung einzelner Professoren mannigfache Bildungsziele anstrebten und sich von dem übrigen Hochschulbetrieb durch eine den Zeitströmungen enger angepaßte Wahl der Gegenstände sowie durch regere Betätigung der Mitglieder abheben sollten." 15 Als Beispiele sind die deutschen Gesellschaften in Leipzig (gegründet 1697), Göttingen (1739) und Erlangen (1755) zu nennen, die sich anstelle der Universitäten der Pflege der deutschen Sprache und Literatur annahmen. In Jena, Leipzig und Greifswald bildeten die gelehrten Gesellschaften später die Basis für die philologischen Seminare an den Hochschulen. Grundsätzlich hatte diese Umwandlung die Vorteile finanzielle Sicherheit, Bestandsgarantie und Erfahrungsaustausch mit anderen Universitäten. Es gab aber auch negative Seiten. Wilhelm Erben zählt hierzu vor allem die Tendenz zur Sonderschulenbildung, die der ursprünglichen Idee der universitas litterarum vollkommen entgegenstünde, sowie die Einschränkung der Lehrfreiheit durch bestimmte Reglements wie z.B. eine vorgeschriebene Stundenzahl.16 Speziell für die Universität München von Bedeutung ist das philologische Seminar, das Thiersch 1812 bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gegründet hatte und das in der aus Landshut nach München verlegten Hochschule aufgegangen war. 17 Erstmals ausdrücklich von einem Histori-
14 15 16 17
Vgl. Erben 1913, Sp.1260. Ebd., Sp.1260. Ebd., Sp.l339ff. Vgl. auch Kap. 2.2.3.1.
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
sehen Seminar ist in München erst 1852 die Rede, die offizielle Konstitution erfolgte 1857 mit Heinrich von Sybel an der Spitze. 18 Die Leitung "des ersten offiziellen Seminars für deutsche Philologie" an einer deutschen Universität übernahm Karl Bartsch 1858 in Rostock. 19 Seine Aufgabe definierte er im nachhinein als "Einführung in die philologische Methode, Gewöhnung an philologisches Denken", denn: "Methodisch denken und arbeiten ist ja das, was alles wissenschaftliche Lehren und Lernen erstrebt, was mithin auch die Hauptaufgabe jeder seminaristischen Thätigkeit sein muss."20 In der Frage der Zielsetzung des Seminars - philologische vs. pädagogische Ausbildung - bezog Karl Bartsch sehr klar Stellung zugunsten einer fundierten Fachwissenschaft: "Es kann nicht fraglich sein, dass die Rücksicht auf den künftigen Lehrerberuf und die Ausbildung [...] nicht ganz ausser acht gelassen werden darf. Der Staat braucht Lehrer und kann verlangen, dass auf einer von ihm dotierten Anstalt die Studierenden für ihren einstigen Beruf vorbereitet werden. Diese Rücksicht aber zu sehr in den Vordergrund zu stellen, ist einseitig, und ist vor allem verderblich für die philologische Durchbildung. Denn jenes Betonen des künftigen Berufes führt den Studierenden nur zu leicht zu der Ansicht, er brauche nicht mehr von Wissen sich anzueignen als er für den praktischen Beruf bedürfe und verwerten könne. Solche banausische Auffassung dürfen wir nicht aufkommen lassen: sie würde geradezu die geistliche und sittliche Macht unserer Universitäten untergraben und vernichten."21 Nach dem Vorreiter Rostock setzte in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Gründungswelle ein, die um 1890 abflaute. Die Nachhut bildeten lediglich München (1891/92), Münster (1895) und Fribourg (1898). In diesem Zeitraum entstanden an allen Universitäten im deutschsprachigen Raum germanistische Seminare. 22 Die wechselnden Bezeichnungen (Deutsch-philologisches Seminar, Seminar für neuere Sprachen, Deutsches Seminar, Seminar für Deutsche Philologie, Germanisches Seminar, Germanistisches Seminar, Germanisch-romanisches Seminar) signalisieren individuelle Ausprägungen innerhalb eines allgemeinen Entwicklungsganges der Germanistik. Die Wertung des Jahres 1871 als Zäsur innerhalb der Fachgeschichte, wie sie bislang vorgenommen wurde, muß m.E. noch präzisiert werden: Die Reichsgründung übernimmt Katalysatorfunktion bezüglich der institutionellen 18
Zur Geschichte des Historischen Seminars in München vgl. Dickerhof-Fröhlich
1979. 19
20 21 22
Vgl. Bartsch 1883,S.237. Ebd., S.239 und 245. Ebd., S.239. Vgl. die Übersichten bei Meves 1987, S.72*f., und Weimar 1989, S.424-427.
2.1. Zur Geschichte der Universitätsseminare
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Etablierung der Deutschen Philologie an den Universitäten in Deutschland.23 Fritz Tschirch betont insbesondere die Perspektiven, die sich für die Germanistik mit der Gründung von Seminaren ergaben, "[...] jener Einrichtung [...], die den nach dem Muster der klassischen Philologie allmählich aufkommenden Übungen einen festen Rahmen gab, die Studenten durch die Schaffung einer ihnen dauernd zur Verfügung stehenden Bibliothek in feste Berührung mit der wissenschaftlichen Literatur ihres Faches brachte und sie durch beides in regelmäßig-strenger Schule zu selbsttätiger Mitarbeit erzog. So bedeutete die Gründung der Germanistischen Seminare an den deutschen Universitäten nicht nur einen Abschluß [...], sondern zugleich einen bedeutsamen Neuanfang, durch den der Germanistik ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten gegeben wurden, als sie bisher gehabt hatte."24 Die Seminargründungen sind auch in engem Zusammenhang zu sehen mit der Reform der Universitäten im 19. Jahrhundert, die sich sowohl auf ihre äußere Organisation als auch ihr inneres Wesen erstreckte. 25 Um 1800 präsentierten sich die Hochschulen in Deutschland in einem wenig erfreulichen Zustand. Kritik richtete sich gegen den Stoff, den Vorlesungsstil der Professoren und die mangelnde Disziplin der Studenten. Maßgeblich für die allgemeine Erneuerung der Hochschulen wurde die Neugründung der Universität in Berlin durch Wilhelm von Humboldt (1809/10). 26 Im Sinne des neuen Selbstverständnisses der Wissenschaft als Streben nach (nicht: Besitz von) Wahrheit steckten die Verbindung von Forschung und Lehre sowie die Hochschulautonomie einen neuen Rahmen. Insbesondere die akademische Freiheit als Freiheit in Forschung und Lehre zeichnete diesen neuen Universitätstypus aus, dessen Grundzüge bis in die Gegenwart zu erkennen sind. A u f organisatorischer Ebene leitete die Gründung von Seminaren die Abkehr von der alten Fakultätsstruktur ein. Die Institute trugen der Spezialisierungstendenz innerhalb der Wissenschaften und ihrer Vertreter Rechnung, die im 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreichte.
23
Zum Jahr 1871 als Zäsur vgl. Erben 1913, Sp.1260. Tschirch 1956, S.154. - In ähnlichem Sinn vgl. auch Janota 1980, S.50f.: "Der institutionelle Angleichungsprozeß ging, nachdem die Germanistik als Universitätsdisziplin fest im Sattel saß, schließlich soweit, daß man nach dem Vorbild der klassischen Philologie auch Universitätsseminare einrichtete. Auf diese Weise wurde die zunehmende Äquivalenz zwischen altphilologischem und germanistischem Studium innerhalb der philosophischen Fakultät, aber auch im Blick auf das Berufsfeld des gymnasialen Fachlehrers deutlich sichtbar, denn in den Seminaren sollte die philologische mit einer pädagogisch-didaktischen Ausbildung für den künftigen Lehrerberuf verbunden werden." 25 Vgl. allgemein Nipperdey 1983, S.57-62 und 470-482. 26 Vgl. Menze 1975, S.313-327; Borsche 1990, S.57-65. 24
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung in München Der Vergleich mit anderen deutschen Universitäten hat gezeigt, daß die Seminargründung in München relativ spät erfolgte: Mehr als 30 Jahre lagen zwischen ihr und dem Vorreiter Rostock, über ein Jahrzehnt verstrich nach der Gründungswelle in den 70er Jahren. 27 Die Annahme, daß erst mit der Institutsgründung das Fach "Deutsche Philologie" seinen Anfang nahm, ginge aber fehl, entsprechende Vorlesungen setzten etwa ein Jahrhundert früher ein. Diese Zeit läßt sich im wesentlichen in zwei Phasen einteilen. Die erste ist dadurch gekennzeichnet, daß die neue Disziplin im Schatten der Klassischen Philologie stand. Erst allmählich vermochte sie sich daraus zu lösen und erfüllte damit eine wichtige Voraussetzung für die Anerkennung als eigenständiges und gleichberechtigtes Universitätsfach. Die Grenze zwischen beiden Phasen verläuft - etwas zeitverschoben - parallel zu einem bedeutenden Entwicklungsschritt der Universität, der sich aus ihrer Verlegung in die bayerische Hauptstadt ergab.
2.2.7. Die Anfänge in Ingolstadt (1799) Es gehört zu den Besonderheiten der LMU, daß sie in ihrer Geschichte auf drei Universitätsorte zurückschauen kann. 28 Die Entwicklung des Fachs Deutsche Philologie hin zur wissenschaftlichen Disziplin ist mit allen dreien verbunden. Herzog Ludwig der Reiche hatte die Universität 1472 als "künftigen geistigen Mittelpunkt" Bayerns in Ingolstadt gegründet. 29 Mehr als 300 Jahre sollte sie hier verbleiben und zu Ruf und Ansehen gelangen. Erstmals ist eine germanistische Vorlesung gegen Ende des 18. Jahrhunderts nachzuweisen. 1799 kündigte Prof. Kapler folgende Veranstaltung an: "Erklärung der deutschen Klassiker mit Uebungen im dt. Style. Ueber Kleist. Mondtag Mittwoch Freyt. 10-11" Mit Kleist hatte Kapler ein für seine Zeit sehr aktuelles Thema gewählt, denn dieser Dichter war erst 40 Jahre zuvor gestorben. Ihn als "Klassiker" zu bezeichnen, ist eine deutlich zeitbezogene Wertung. Damit setzte das Fach in Ingolstadt mit einem Gegenstand aus der Neuzeit ein, wandte sich jedoch wenig später dem deutschen Altertum und Mittelalter zu. 30
27 28 29 30
Vgl. Kap. 2.1. Zur Geschichte der LMU vgl. Prantl 1872 und Boehm/Spörl 1972. Kraus 1983, S.175. Vgl. Kap. 2.2.2.
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
13
Der zweite Teil der Vorlesungsankündigung, "Uebungen im dt. Style", läßt sich mit dem Stichwort "Deutsche Rhetorik" belegen, unter der Bernd Weimar die deutsche Sprache und Literatur erstmals an der Universität thematisiert sieht. 31 Professuren für deutsche Beredsamkeit waren zwischen 1730 und 1750 an sieben Universitäten eingerichtet worden, Ingolstadt war nicht darunter. 32 Meist blieben die Lehrstühle jedoch nach dem ersten Inhaber verwaist. Stilübungen wurden nach der Wende zum 19. Jahrhundert immer seltener und endeten um 1830/40 vollständig. Als Kapler "Deutsche Stilübungen" anbot, hatte die Deutsche Rhetorik bereits ihren Höhepunkt überschritten. Mit seiner Vorlesung bewegte sich Lorenz Kapler (1765-1818) auf einem Gebiet außerhalbs seines Lehrauftrags, denn er hatte seit 1799 eine Professur für Pädagogik inne. 33 Von seiner Ausbildung her war er Philosoph und in erster Linie Theologe - der Doktor der Theologie hatte auch die Priesterweihe empfangen. Eine zweite Vorlesung gehörte zum Teil ebenfalls in den germanistischen Bereich. Prof. Hupfauer wollte täglich zwischen 2 und 3 Uhr über "Allgemeine Literärgeschichte nach Meusel" lesen. Der Literaturhinweis bezog sich auf den "Leitfaden zur Geschichte der Gelehrsamkeit" von Johann Georg Meusel. 1799 lagen zwei Bände vor, 1800 kam ein weiterer hinzu. Aus der Einleitung im ersten Band (S. 1-196) geht hervor, daß dieses Werk einen Überblick über das Wissen der Zeit auf verschiedenen Gebieten gibt: "Die Geschichte der Gelehrsamkeit ist Darstellung der äussern Bildung und der vornehmsten Schicksale der gelehrten Kenntnisse des menschlichen Geistes. Die Gelehrsamkeit selbst ist der Inbegriff solcher Kenntnisse, die wegen ihres Umfanges und ihrer Wichtigkeit verdienen mit Gründen schriftlich abgefaßt und methodisch vorgetragen zu werden."34 Innerhalb der "Schönen Künste und (uneigentlichen sogenannten) Wissenschaften" werden auch die Dicht- und Redekunst behandelt. Deutsche Dichtung tritt erstmals in der Zeit von 1100 bis 1500 in Erscheinung. Auf insgesamt nur 10 Seiten (Bd.2: S.787-792; 802-805) stellt Meusel Dichter und
31
Zur Deutschen Rhetorik vgl. Weimar 1989, S.40-55, hic S.40. Halle, Kiel, St. Petersburg, Göttingen, Königsberg, Basel, Wien. 33 Zur Vita von Kapier vgl. Hamberger/Meusel, Bd.10, S.61; Bd.ll, S.412; Felder, Bd.l, 1817, S.376f.; Baader, Bd.l, 1804, Sp.572f.; Werk 1970, S.109; Brandl 1978, S.127; Müller 1986, S.348. 34 Meusel, Bd.l, 1799, S.l. - Ursula Burkhardt weist darauf hin, daß die Literärgeschichten in der Tradition der Schriftstellerverzeichnisse des 16. bis 18. Jahrhunderts stehen, die entweder nur ein Sachgebiet oder die gesamte literarische Produktion einer Nation behandelten (vgl. Burkhardt 1976, S.87; hier auch mit Beispielen). 32
14
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Ausgaben ihrer Werke vor, geht allgemein auf den Zustand der Dichtung ein und benennt ihre Träger. Der dritte Band, in dem die neueste Zeit (15001800) untersucht wird, war bei Hupfauers Vorlesung noch nicht gedruckt. 35 Die Bezeichnung "Philologie" verwendet Meusel auch in bezug auf die deutsche Sprache, und er behandelt deutsche Grammatiken, Wörterbücher, Sprachlehrer und Mundarten. Damit eilte er seiner Zeit weit voraus, die unter die philologischen Wissenschaften nur Latein, Griechisch und Hebräisch zu fassen pflegte. 36 Im Verhältnis zum Gesamtwerk nehmen die deutsche Literatur und Sprache aber nur wenig Raum ein. Wie ausführlich der Ingolstädter Dozent in seiner Vorlesung "Allgemeine Literärgeschichte" dieses Thema behandelte, läßt sich nicht belegen, da keine Vorlesungsmanuskripte erhalten sind. Wie Kapler war Geistlicher Rat Paul Hupfauer (1747-1808) Theologe. 37 In Ingolstadt und Landshut lehrte er von 1799 bis 1802 und ab 1803 als Professor für allgemeine Wissenschaftskunde und Literatur. Universitätsgeschichtlich von Bedeutung war seine Tätigkeit als Oberbibliothekar der Universitätsbibliothek in Landshut. 38 Seine Vorlesung zur Allgemeinen Literärgeschichte ist im Vorlesungsverzeichnis in der Rubrik "Historische Wissenschaften" zu finden - hier gab wohl der geschichtliche Aspekt des Stoffes den Ausschlag.
2.2.2. Die Landshuter Periode (1800 - 1826) A m 17. Mai 1800 ordnete Kurfürst Maximilian IV. Joseph die Verlegung der Hochschule aus dem vom Krieg bedrohten Ingolstadt nach Landshut an. 35
Im dritten Band werden die deutschen Dichter und ihre Werke bis auf die neueste Zeit berücksichtigt, so z.B. Goethe, Schiller oder Gerstenberg (S.l 135-1156). Unter die Rubrik "Redekunst" (S.l 187-1193) fällt die deutsche Prosa, beispielsweise ein Roman von Wieland. 36 Vgl. z.B. Eichhorn, Geschichte der Litteratur, Bd.l, 1805, S.XV. 37 Zur Vita von Paul Hupfauer vgl. Hamberger/Meusel, Bd.3, S.473; Bd.l 1, S.389; Bd.14, S.212; Bd.16, S.354; Bd.18, S.238; Buzâs 1972, S.lOOff.; BBB 1983, S.380; Müller 1986, S.303. 38 Vgl. Buzâs 1972, S.99-102 und 316. - Mit Hupfauer beginnt eine lange Reihe von Dozenten der Deutschen Philologie, die gleichzeitig eine Tätigkeit als Bibliothekar ausübten. Ebenfalls in die Landshuter Zeit fällt Johann Christian Siebenkees (vgl. Kap. 2.2.2.). Der wohl bekannteste unter ihnen dürfte Johann Andreas Schmeller sein, der erste Extraordinarius für Deutsche Philologie der LMU (vgl. Kap. 2.2.3.1.). Sein Nachfolger Konrad Hofmann war ebenfalls Praktikant an der Bayer. Staatsbibliothek (vgl. Kap. 2.2.3.3.). Auch Roman Woerner volontierte hier nach seiner Promotion (vgl. den Artikel im Lexikonteil).
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
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Bereits am 4. Juni begannen die ersten Vorlesungen an der Ludwig-Maximilians-Universität, wie sie ab 1802 hieß. Die Professoren Kapler und Hupfauer hatten den Umzug nach Landshut mitgemacht und boten dieselben Vorlesungen an wie in Ingolstadt. Insgesamt neunmal kündigte Hupfauer an, über "Allgemeine Literärgeschichte" lesen zu wollen, worunter auch Themen aus der Germanistik fielen. 39 Hatte er sich in Ingolstadt an Meusels Publikation orientiert, diente ihm jetzt die Litterärgeschichte von Johann Gottfried Eichhorn als Grundlage. 40 Im WS 1807/08 ging er dazu über, "nach eigenen Heften" zu lesen.41 1801 bestieg Georg Alois Dietl (1752-1809) den Lehrstuhl für Ästhetik. 42 Zusätzlich zu seiner Dozententätigkeit wurde dem Theologen die Stadtpfarrei St. Martin übertragen. Dietl las in Landshut u.a. "Ueber deutsche Klassiker" (WS 1804/05; SS 1805 und 1809), "Ueber Poesie und Tonkunst" (SS 1806) und "Specielle Aesthetik, d.h. die Theorie der Poesie, und Tonkunst, der zeichnenden und bildenden Künste, der schönen Bau- und Gartenkunst [...]" (SS 1807). Die Synthese aus diesen drei Veranstaltungen kündigte er im SS 1808 an mit "Ueber Poesie, Tonkunst und deutsche Klassiker, mit Stil- und Declamationsübungen verbunden". Dietls Fach hatte sich ab 1750 an den Universitäten zu etablieren begonnen. 43 Bereits 1735 hatte Alexander Gottlieb Baumgarten in seinen "Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus" diese neue Wissenschaft gefordert und ab 1742 in Frankfurt/Oder selbst Vorlesungen gehalten. Den Begriff prägte und definierte er in seinem Buch "Aesthetica" als "Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis vermöge der unteren Erkenntnisvermögen Einbildungskraft, Gedächtnis, Geschmack analog der Logik als Wissenschaft von der intellektualen Erkenntnis durch die oberen Erkenntnisvermögen (Verstand bzw. Vernunft)." 44 Neben und anstelle von Ästhetik hatte sich der Begriff "Theorie der schönen Wissenschaften" eingebürgert, der vor 39
WS 1800/01; SS 1801; 1801/02; 1802; 1804/05; 1805; 1807; 1807/08; 1808. Vgl. Kap. 2.2.1. 40 Eichhorn, Johann Gottfried, Litterärgeschichte, 2 Bde., Göttingen [1. Auflage 1799: nur Bd.l], 21812/1814. 41 Daß die Dozenten nicht fremde Lehrbücher, sondern eigene Werke benutzen, ist einer der Kernpunkte der Universitätsreform, die Wilhelm v. Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts forderte (vgl. Menze 1975, S.285 - vgl. Kap. 2.1.). 42 Zur Vita von Dietl vgl. Westermayer 1877, S.171; Werk 1970, S.l 1 Iff.; Müller 1986, S.345. 43 Zur Ästhetik als wissenschaftlicher Disziplin vgl. hauptsächlich Ritter 1971 und Weimar 1989, S.56-106. 44 Frankfurt/Oder 1750/59. - Def. nach Weimar 1989, S.68; vgl. auch Ritter 1971, Sp.556.
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
allem Poesie und Beredsamkeit einschloß. Eigene Professuren für dieses Fach sind hauptsächlich an katholischen Universitäten nachweisbar, in Ingolstadt ab 1773. Sie gingen jedoch früher oder später überall verloren. In Landshut wurde der Lehrstuhl nach Dietls Tod (1809) nicht mehr neu besetzt. Der zweite Ästhetiker neben Dietl war Georg Friedrich Anton Ast (17781841).45 Der Dozent für Philologie und Philosophie aus Jena lehrte in Landshut ab 1805 Klassische Literatur und Ästhetik. Im selben Jahr veröffentlichte er das Buch "System der Kunstlehre, oder Lehr- und Handbuch der Aesthetik, zu Vorlesungen und zum Privatgebrauche entworfen". 46 Wie im Titel angekündigt, benutzte er es als Grundlage für eine Reihe von Vorlesungen, die er "nach eigenem Grundrisse" oder "nach seinen Grundlinien der Kunstlehre" lesen wollte. 47 In seinem Buch bezeichnet er die Poesie als "Gipfel der Kunst" und bietet eine chronologisch geordnete Übersicht über ihre Geschichte seit der Antike. 48 Die Dichtungen von Griechen und Römern gelten ihm in der Regel als Maßstab, um die Werke bis zur Gegenwart zu beurteilen. Insofern stellt seine "Kunstlehre" mehr eine Kritik als eine Geschichte der Literatur dar, die durchweg die Handschrift eines Klassischen Philologen trägt. Entsprechend wendet er den Begriff "Philologie" ausschließlich auf die Antike an, die er in ihrer Komplexität zu erfassen sucht: "Philologie ist das Studium der classischen Welt in ihrem gesamten, künstlerischen und wissenschaftlichen, öffentlichen und besonderen Leben. Der Mittelpunkt dieses Studiums ist der Geist des Alterthums, der sich am reinsten in den Werken der alten Schriftsteller abspiegelt, aber auch im äusseren und besonderen Leben der classischen Völker wiederstrahlt; und die beiden Elemente dieses Mittelpunktes sind die Künste, die Wissenschaften und das äussere Leben, als der Inhalt, die Darstellung und Sprache, als die Form der classischen Welt." 49 Dieses Verständnis von Philologie ist von der Sichtweise eines Wilhelm Scherer noch weit entfernt. Seine Ästhetik-Vorlesungen bot Ast nur zwischen 1810 und 1814 an; danach konzentrierte sich der bekannte Platon-Forscher - entgegen seinem
45
Zur Vita von Ast vgl. Conversations-Lexikon 1832, Bd.l, S.123f.; Halm 1875, S.626f.; Hamberger/Meusel, Bd.13, S.40f.; Bd.17, S.53f.; Bd.22.1, S.76; Werk 1970, S.127; Dickerhof 1975, S.437; Huber 1987, S.551. 46 Erschienen in Leipzig. 47 Z.B. WS 1810/11.-Z.B. WS 1812/13. 48 Ast, Kunstlehre, 1805, S.l 18. 49 Ast, Grundriß der Philologie, 1808, S.l.
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
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Lehrauftrag - vollständig auf die Klassische Philologie. 50 Seine "Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst" (Jg. 1-3, 1808-1810) war die erste Zeitschrift, die ein Professor der Universität Ingolstadt-Landshut-München herausgab. 51 1809 kam mit Johann Christian Siebenkees (1753-1841) ein Jurist nach Landshut, der auch fundierte philologische Kenntnisse besaß.52 Seine akademische Laufbahn hatte er in Altdorf als ordentlicher Professor des Natur-, Völker-, Staats- und Lehensrechts begonnen. 1795 war ihm die erste Professur für Kirchenrecht übertragen worden, ab 1806 hatte er auch geschichtliche Vorträge gehalten. Nach der Auflösung der protestantischen Universität Altdorf (1809) erhielt Siebenkees einen Ruf als Ordinarius für Literaturgeschichte nach Landshut. A m 30. Januar 1810 folgte die Ernennung zum Oberbibliothekar der Universitätsbibliothek in Landshut, als der er jedoch farblos blieb. 53 Wie Paul Hupfauer hielt Siebenkees Vorlesungen mit dem Titel "Allgemeine Literärgeschichte", anfangs nach Wachler (SS 1811), später nach Bruns (z.B. SS 1814). 54 Ab dem WS 1814/15 las er regelmäßig über "Deutsche Sprache und Literatur", "worunter man sich eine Kombination von Stilübungen und Litterärhistorie vorzustellen haben wird." 55 Mit der Verlegung der Universität nach München ließ er sich in den Ruhestand versetzen. In der Zeit von 1807 bis 1826 lehrte Friedrich Koppen Philosophie in Landshut. 56 Nach der Translokation der Universität nach München mußte er Schelling weichen und ging nach Erlangen. Koppen (1775-1858) hatte in Jena und Göttingen Theologie studiert und auch Vorlesungen bei Fichte und Reinhold gehört. In seinen zahlreichen Publikationen (seit 1797) lehnte er sich eng an Friedrich Heinrich Jacobi an, der ihm - als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München und als Professor für Philosophie 1807 zu einem Ruf nach Landshut verhalf. Neben Ästhetik-Vorlesungen, zum
50
Zu den Piaton-Veröffentlichungen vgl. die Ast-Werkbibliographie in Werk 1970, S. 127-130. 51 Vgl. Buzâs 1972, S.98. 52 Zur Vita von Siebenkees vgl. Reithofer 1811, S.168f.; Prantl 1872, S.525, Nr.297; Eisenhart 1892, S.175f.; Werk 1970, S.157-163; Buzâs 1972; S.103; BBB 1983, S.726. 53 Vgl. Buzâs 1972, S. 103. 54 Wachler, Ludwig, Versuch einer Allgemeinen Geschichte der Litteratur. Für studirende Jünglinge und Freunde der Gelehrsamkeit, 3 Bde., Bd.3 in 2 Teilen, Lemgo 1793-1801. - Bruns, Paul Jacob, Allgemeine Literärgeschichte, zum Behufe akademischer Vorlesungen, Helmstädt 1804. 55 Weimar 1989, S.l89. 56 Zur Vita von Koppen vgl. Prantl 1872, S.698f.; Werk 1970, S.149.
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Teil mit Stilübungen verbunden, las Koppen im WS 1808/09 "Ueber den gegenwärtigen Zustand deutscher Philosophie und Poesie".57 Vorlesungen, die ganz oder zum Teil in den Bereich der Germanistik fielen, wurden außerdem von den Professoren Drexel und Schrank bestritten. Anton Drexel (1753-1830) wirkte von 1802 bis 1818 als Philosophie-Professor in Landshut. 58 Mit "Ueber die Theorie des Stils, mit Uebungen verbunden" (SS 1809) und "Ueber den deutschen Stil" (SS 1810 und WS 1812/13) nahm er die Tradition der Rhetorik-Vorlesungen aus Ingolstadt wieder auf. 59 Bei den antiken Sprachen suchte er Deutsch nicht aus den Augen zu verlieren. So las er im SS 1808 "Ueber Sprachbildung überhaupt und Bildung der griechischen und lateinischen Sprache ins Besondre, mit beständigem Rückblick auf die deutsche". Für das SS 1808 kündigte der Botaniker Franz von Paula Schrank (17471835) an, sich mit "Klopstock's Messiade" beschäftigen zu wollen. 60 Hier lag eine Spezialvorlesung vor, wie sie heute üblich ist. Schranks Kollegen pflegten dagegen, überblicksartige Themen zu wählen. Die Lücken in den Vorlesungsverzeichnissen zeigen, daß von Kontinuität eines germanistischen Lehrangebots in Landshut noch keine Rede sein konnte. Selbst Siebenkees, der eine Professur für Literaturgeschichte innehatte, kam dieser Verpflichtung nicht ununterbrochen nach. Das Fach wurde mehr oder minder nebenbei vorgetragen von Dozenten, die ursprünglich aus anderen Gebieten kamen: Sie waren vor allem Theologen, Philosophen, Pädagogen. Ihre Kenntnisse im neuen Fach konnten sie nicht auf Universitäten erwerben - in bezug auf die Germanistik bestiegen Autodidakten das Katheder. Geschult waren sie an der Klassischen Philologie, die ungebrochen ihre Stellung an den deutschen Universitäten behauptete. Insbesondre Deutsche Rhetorik und Ästhetik wirkten konstituierend mit beim Prozeß der Entstehung und Etablierung der Germanistik, die sich in Ingolstadt und Landshut in ihrer "vorwissenschaftlichen Phase" befand. 61
57
Ästhetik-Vorlesungen von 1810 bis 1815 jeweils im WS. Zur Vita von Drexel vgl. Baader 1804, Sp.253f.; Felder, Bd.l, 1817, S.181f.; Werk 1970, S.l 14; Brandl 1978, S.48; Müller 1986, S.236. 59 Vgl. Kap. 2.2.1. 60 Zur Vita von Schrank vgl. Prantl 1872, S.520; Zimmermann 1981; Müller 1986, S.249. 61 Müller 1980, S.193. 58
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
2.2.3. Die Universität
19
in München (ab 1826)
A m 27. Mai 1826 erhielt der Senat der Universität Landshut eine knappe Mitteilung vom Staatsministerium des Innern, "dass es allerdings in den Absichten Seiner Majestaet des Königs liege, von den nächsten Herbstferien an, die Haupt- und Residenzstadt München zum Sitze der Ludwig-MaximiliansUniversität (:bisher in Landshut:) zu bestimmen". 62 Das entsprechende Dekret unterzeichnete Ludwig I. am 3. Oktober 1826. Bereits am 15. November 1826 wurde die Universität in München feierlich eröffnet. Mit der Translokation hatte Ludwig realiter die Hochschule neu gegründet. 63 Indem er die berühmtesten Männer und die bekanntesten Professoren an die Isar rufen wollte, sollte die Universität zu den führenden in den deutschen Staaten aufsteigen. 64 Zu den Kandidaten für die Deutsche Philologie zählte beispielsweise der Dichter und Literaturtheoretiker Ludwig Tieck, der den Ruf aber - wie bereits 1804 bei Heidelberg und 1819 bei Berlin - ausschlug.65 In seiner Antwort auf den Brief Eduard von Schenks, den späteren Minister Ludwigs I., begründete er dies mit dem schwierigen Umzug seiner 8000 Bände umfassenden Bibliothek sowie mit dem für ihn nachteiligen Klima Münchens.66 Noch deutlicher drückte er seine Aversion gegen die bayerische Landeshauptstadt in einem Brief an Friedrich von Raumer am 15. Juli 1826 aus.67 Der Deutschen Philologie brachte der Umzug in die Residenzstadt dennoch einen personellen Neuanfang und bald die erste außerordentliche Professur. 68 Es erstaunt allerdings, warum Ludwig I. dieses Fach an der Universität nicht deutlicher unterstützte, dessen Gegenstand seiner ausgesprochen deutschen Gesinnung und seinen nationalpädagogischen Absichten im Prinzip sehr entgegenkommen mußte. 69 Auch die konfessionspolitische Liberalität, die die ersten Regierungsjahre auszeichnete, hätte die Berufungsmöglichkeiten erweitert. 70 Die Gründe liegen vermutlich zum einen in der Person des Königs und 62
Abgedruckt in: Pölnitz 1942, S.81. Vgl. den entsprechenden Titel von Doeberl 1926. 64 Zur Besetzung der Philosophischen Fakultät an der Münchner Univ. vgl. das Gutachten des MInn an König Ludwig I., in Auszügen abgedruckt in: Dickerhof 1975, S.71-86, speziell für die Fächer "Philologie, schöne Literatur und Kunst": Abschnitt "D", S.83-86. 65 Vgl. Brinker-Gabler 1976, S.168. 66 Schreiben Schenks vom 7. Juli 1826 (vgl. Holtei, Bd.3, 1864, S.216ff.). - Vgl. Schreiben Tiecks vom 20.8.1826 (Zeydel/Matenko/Fife 1937, S.325ff.). 67 Vgl. Zeydel/Matenko 1930, S.26-30. 68 Vgl. Kap. 2.2.3.1. 69 Zu Ludwigs Gesinnung und Zielen vgl. Gollwitzer 1986, S.43 und 652f. 70 Vgl. ebd., S.551. 63
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
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seinem autokratischen Regierungsstil, zum andern an der wissenschaftspolitischen Gesamtsituation.71 Seinem Biographen Heinz Gollwitzer zufolge fehlte Ludwig I. ein echter Sinn für die Wissenschaft, im Professor sah er in erster Linie den abhängigen Staatsbeamten.72 Auf der anderen Seite konzentrierten sich wissenschaftliche Leistungen nicht nur auf die Universitäten. Insbesondere der Bayerischen Akademie der Wissenschaften kam hier große Bedeutung zu, deren Status nach der Universitätsverlegung ebenfalls neu definiert wurde. 73 Für die "organische Verbindung mit der Hochschule" spricht die Tatsache, daß viele Dozenten zugleich Akademiemitglieder waren. 74 Auch der erste Extraordinarius für Deutsche Philologie hatte dazu gezählt und seine ersten Forschungsaufträge von der Akademie erhalten. 75
2.2.3.1. Die erste außerordentliche Professur für altdeutsche Sprache und Literatur (1828): Johann Andreas Schmeller A m 26. November 1826 hatte die Universität revidierte Statuten erhalten, am 31. März 1827 trat auch eine neue Satzung für die Königliche Akademie der Wissenschaften in Kraft. Gleichzeitig wurden die Beziehungen von Akademie und Universität neu geregelt. 76 Obwohl grundsätzlich eine Abgrenzung angestrebt war, lassen sich vielfach Verbindungslinien feststellen. In Akademiesitzungen setzte die Diskussion um die Deutsche Philologie als wissenschaftliche Aufgabe ein. Als Widerpart des Klassischen Philologen Friedrich Thiersch profilierte sich Johann Andreas Schmeller. Schmeller war seit 1823 außerordentliches Mitglied der Akademie. Einen Namen hatte er sich mit seiner Untersuchung "Die Mundarten Baierns, grammatisch dargestellt" (München 1821) gemacht, die er im Auftrag des Kronprinzen verfaßt hatte. Obwohl Schmeller auf Vorschlag von Thiersch in die Akademie gewählt worden war, fand er bei dem Klassischen Philologen keine Unterstützung für sein Vorhaben, die deutsche Sprache und Literatur in das philologische Seminar zu integrieren. 77 Dieses war 1812 von Thiersch bei der Akademie gegründet worden und ging in der nach München verlegten Universität auf. Schmeller notierte in seinem Tagebuch am 20. März 1824:
71 72 73 74 75 76 77
"Der König war ein Autokrat von reinstem Wasser." (Spindler 1930, S.XLIII) Vgl. Gollwitzer 1986, S.555. Neue Satzung am 31.3.1827. Heigel 1909, S.28. Vgl. Kap. 3.2.1. Vgl. Boehm 1979, S.1012. Am 30.12.1813 in die Akademie gewählt (vgl. Ruf 1954, S.53).
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
21
"Sitzung der philologisch historischen Classe. Ich vindicierte gegen Thiersch die Rechte der vaterländischen Sprache und Literatur, unter die Benennung Philologie zu fallen, und mit eine Aufgabe des philologischen Instituts zu werden."78 Diese Frage war mehrfach Gegenstand der Debatte unter den Akademiemitgliedern, wie folgender Tagebucheintrag beweist: "Zusammentritt der philologischen Section um zu bestimmen, wer und welche Vorlesungen er halten wolle und könne. [...] Ich zeigte mich willig, am philologischen Institut und für das gebildete Publikum überhaupt - Vorträge über die Geschichte der deutschen Sprache und Literatur zu halten - wöchentlich 3 Stunden."79 Die Bemühungen Schmellers waren anfangs von wenig Erfolg begleitet, denn am 12. Juni 1824 heißt es - mit einem deutlich bitteren Unterton: "Meine Forderung, daß ein historisch-kritisches Studium der deutschen Sprache nicht nur so als allenfallsiger, sondern als ein wesentlicher Lehrgegenstand aufgeführt werden sollte [im Lehrplan des philologischen Instituts, M.B.], konnte bey der Griechischgelehrten Majorität, was auch Docen dafür sprechen mochte, nicht durchdringen. Den Herren war zum Theil nicht einmal zuzutrauen, daß sie eine recht eigentliche Vorstellung von diesem Studium haben. Ich machte die lakonische Bemerkung, daß ich es sogar nicht ungerne sähe, wenn dieser Gegenstand nicht im Voraus zu sehr empfohlen und als wichtig dargestellt würde - indem ich die Hofnung nährte, daß er sich nach und nach durch sich selbst empfehlen, und in seiner Wichtigkeit darstellen würde." 80 Trotzdem verfolgte er sein Ziel beharrlich weiter. Am 11. Dezember desselben Jahres las er in einer öffentlichen Sitzung der Akademie "Über die ältesten Denkmäler der deutschen Sprache und ihre Bedeutung für uns". 81 Einen ähnlichen Titel trug die erste Vorlesung, die Schmeller im Sommersemester 1827 an der Universität hielt: "Ueber altdeutsche Sprache und Literatur nach Denkmälern des IV bis X Jahrhunderts." Schmeller war am 9. November 1826 als einfacher Privatdozent in die Universität aufgenommen und im März 1827 zum Ehrendoktor promoviert worden. 82 In seiner Antrittsrede am 8. Mai begründete er das Studium der altdeutschen Sprache mit dessen "subjectiver Wichtigkeit":
78
Schmeller 1954-1957, Bd.l, 1954, S.499. Ebd., S.504, Eintrag vom 23.4.1824. 80 Ebd., S.508. 81 Vgl. ebd., S.522, Eintrag vom Neujahrstag 1825. 82 Den Wortlaut des Doktordiploms und seines Dankschreibens notierte Schmeller in seinem Tagebuch am 8. März 1827 (vgl. ebd., Bd.l, 1954, S.37f.). 79
22
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
"Ist uns nun in subjectiver Hinsicht die Geschichte unsrer Familien, der Regentenfamilie unsers Landes, die Geschichte unsrer Institutionen, unsre Häuser, Schlößer und Städte, lauter Dinge, die außer uns liegen, so wichtig, wie sollte es nicht auch die Geschichte dessen sein, das mehr als alles dieses einen Theil unserer innern geistigen Existenz ausmacht, von dem wir, auch wenn wir wollten, uns nicht lossagen können, das uns unter alle Himmels-Striche begleitet, unsrer Sprache?"83 Die Literatur bezeichnete er demgemäß als "das dauerndste, das schönste Besitzthum einer Nation." 84 Deren Studium stellte sich für Schmeller als ein "vaterländisches Bedürfnis" dar, das jeden national gesinnten Deutschen nahezu selbstverständlich auszeichne. Daß Schmeller die Daseinsberechtigung seines "Fachs" begründen muß, sagt viel aus über dessen Zustand: Die Germanistik befindet sich im Anfangsstadium ihrer Entwicklung, d.h., sie wird von einigen wenigen geübt, die ihr erst allgemeine Anerkennung verschaffen müssen.85 Der nationale Begründungsansatz muß aus den politischen Zeitverhältnissen heraus verstanden werden. Von Deutschland zu sprechen verbot sich realiter wegen der Existenz zahlloser deutscher Kleinstaaten. Die Fehlentwicklung hin zum Nationalismus bis zum Extremfall "Drittes Reich" lag nicht in den Absichten der frühen Germanisten, auch wenn sie vielleicht unbewußt die Grundlage dafür schufen. 86 Bereits im September 1826 und im Februar 1827 hatte Schmeller darum gebeten, als Extraordinarius in die L M U aufgenommen zu werden. 87 Die philosophische Fakultät hatte sich am 3. April 1827 ebenfalls dafür ausgesprochen. 88 Aus Fondsgründen wurde dieser Antrag nicht bewilligt. Im Februar 1828 richtete Schmeller dieselbe Bitte an König Ludwig und betonte, daß ökonomische Gründe keine Rolle spielten. 89 Nachdem dieser Antrag im März 1828 abgelehnt worden war, erfolgte am 10. Oktober desselben Jahres doch die Ernennung zum außerordentlichen Professor für altdeutsche Sprache und Literatur in München mit einem Gehalt von 200 Gulden. 90
83
Schmeller 1827, S.4f. Ebd., S.5. 85 Die Anführungszeichen sollen auf die Problematik hinweisen, ob zu diesem Zeitpunkt bei der Deutschen Philologie überhaupt schon von einem Fach die Rede sein kann. 86 Vgl. Kap. 4. 87 1. Gesuch: vgl. Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.57. - 2. Gesuch: vgl. Ruf 1954, S.57f. 88 Vgl. UAM E II 515, Fak. an Senat, 3.4.1827. 89 Vgl. ebd., Schmeller an König Ludwig I., 20.2.1828. 90 Vgl. ebd., 1.3.1828.-Vgl. UAM O l 10,1, Senat an Fak., 19.10.1828 (siehe auch Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.64, Eintrag vom 22.10.1828). 84
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
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Im zeitlichen Vergleich zu den anderen deutschen Universitäten nimmt München damit eine mittlere Position ein. Weder gehört es wie Göttingen (Extraordinariat 1805) zu den Pionieren, noch bildet es das Schlußlicht wie Freiburg, das erst 1863 Lexer zum Extraordinarius ernannte. 91 Mit Schmeller hatte man einen würdigen Vertreter des Fachs gefunden, der auf seinem Gebiet der Mundartenforschung durchaus als führend galt. 92 Königsberg und später Berlin durften sich eines Mannes rühmen, der der Mediävistik neue Wege wies: Karl Lachmann. Göttingen wußte sich 1831 mit Wilhelm Grimm einen der Bearbeiter des Deutschen Wörterbuchs zu sichern, Tübingen holte 1829 mit Ludwig Uhland nicht nur einen bedeutenden Germanisten, sondern auch einen bekannten Dichter an seine Universität. In diesem erlesenen Kreis vermochte sich Schmeller unbedingt zu behaupten, wenngleich er in seiner Position nur kurze Zeit verblieb.
2.2.3.2. Das erste Ordinariat für "Ältere deutsche Sprache und Literatur" (1835): Hans Ferdinand Maßmann A m 21. November 1828 starb Bernhard Docen, der Kustos der Hof- und Staatsbibliothek in München, der sich auch einen Namen als Germanist gemacht hatte. 93 Am 27. März des folgenden Jahres trat Schmeller dessen Nachfolge in der Bibliothek an. 94 Dieser Schritt leitete das (vorläufige) Ende seiner Laufbahn an der Universität ein: Ihm wurde das Wahlrecht an der Universität entzogen, und er verlor seine Stellung an Hans Ferdinand Maßmann, den König Ludwig I. am 9. November 1829 zum außerordentlichen Professor der "altdeutschen Sprache und Litteratur" ernannte. 95 Seine Jahresbezüge beliefen
91
Vgl. hierzu und für das Folgende die Tabelle bei Weimar 1989, S.244ff. Vgl. Kap. 3.2.1. 93 Zur Vita von Docen vgl. Scherer 1877, S.278ff. 94 Vgl. Huber 1987, S.572. 95 Zum Wahlrechtsentzug vgl. Schreiben des Rektorats an Schmeller, 20.12.1830, in: Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1856, S.118f., Eintrag vom 20.12.1830. - Obwohl Schmeller in seinen Tagebüchern nahezu jedes Ereignis ausführlich festzuhalten und zu kommentieren pflegte, finden sich dazu nur kurze Einträge: "Diner beym neuen Rector Thiersch, der alle Professoren vom ersten bis zum letzten - jetzt Maßmann nach und nach zur Tafel gezogen." (Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.92, 15. 11. 1829) - "Mittags bey Maßmann dem Ehmann ich der Junggeselle." (ebd., S.93, 22. Nov. 1829) Schmeller scheint über seinen Nachfolger nicht verärgert zu sein. In seinem Schreiben an das Rektorat vom 25.11.1829 heißt es sogar: "So aufrichtig ich mich dieser Ernennung freue [...]" (ebd., S.98, 9.5.1830). Wenig später bezeichnet er Maßmann als "Freund" (ebd., S.l39, 1.1.1832). - Zu Maßmanns Ernennung vgl. UAM E II 197, Dekret, 9.11.1829. 92
3 Bonk
24
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
sich auf 300 Gulden, das sind 100 Gulden mehr, als sein Vorgänger bezogen hatte. Schmeller erhielt die Erlaubnis, als Honorarprofessor ohne Gehaltsanspruch weiter an der Universität zu lesen, von der er jedoch nur im WS 1830/31 Gebrauch machte.96 Für Maßmann stellte seine Ernennung einen raschen Erfolg dar, denn erst im März 1829 war er als Privatdozent in die philosophische Fakultät aufgenommen worden. 97 Bereits am 7. April 1835 wurde er ordentlicher Professor für altdeutsche Sprache und Literatur und damit erster Ordinarius für Deutsche Philologie in München. 98 Dieser erste Lehrstuhl bedeutete eine wichtige Etappe in der Etablierung der Germanistik im universitären Bereich. Betrachtet man den Beginn der Vorlesungen in Ingolstadt und Landshut als ersten Abschnitt, das Extraordinariat für Schmeller als zweiten, markiert das Ordinariat die dritte Zäsur im institutionsgeschichtlichen Prozeß. Im Hinblick auf die Seminargründung war eine unabdingbare Voraussetzung geschaffen. Bezüglich des Ordinariats läßt sich ähnliches beobachten wie für das Extraordinariat: München folgte einem Trend, der Anfang des Jahrhunderts einsetzte und etwa um 1850 abgeschlossen ist, und rangierte wiederum in einer zeitlichen Mittelposition. Was Glanz und Rang der Ordinarien an den anderen Universitäten anging, übertrafen sie München jedoch bei weitem. 99 Berlin konnte mit Karl Lachmann aufwarten (seit 1827 Ordinarius), Göttingen rühmte sich der Brüder Grimm (1829-1837 Jacob Grimm, 1835-1837 Wilhelm Grimm), Basel gewann Wilhelm Wackernagel (1835-18691), Leipzig Moriz Haupt (1843-1850). Im Vergleich zu diesen Namen mußte Schmellers Nachfolger, der nicht zu den führenden Germanisten seiner Zeit gerechnet wurde, einen Rückschritt bedeuten.100 Der Berliner Maßmann war neben der Deutschen Philologie stets auf einem zweiten Gebiet tätig gewesen. Als Schüler von "Turnvater Jahn" hatte er diesen im Sommer 1817 in der Leitung der Berliner Turnanstalt vertreten und auch in München als Turnlehrer gewirkt. 101 Sein weiterer Lebensweg ist von beiden Aufgaben gekennzeichnet. A m 16. Juli 1846 wurde er von König Ludwig I. aus dem bayerischen Staatsdienst entlassen und ging nach Berlin, um die allgemeine Organisation des Turnunterrichts in Preußen zu überneh-
96
Vgl. UAM E II, MInn an Fak., 19.1.1831: darin Bezugnahme auf Reskript vom 6.6.1830. 97 Vgl. ebd., ME, 16.3.1829. 98 Vgl. Huber 1987, S.565. 99 Vgl. Weimar 1989, S.245. 100 Vgl. Kap. 3.2.2. 101 Vgl. ebd.
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
25
men; im selben Jahr wurde er zudem außerordentlicher Professor für Deutsche Philologie an der dortigen Hochschule. 102 Auf den vakanten Lehrstuhl für altdeutsche Sprache und Literatur und damit zurück an die Universität kam Johann Andreas Schmeller. 103 Die Ernennungsurkunde unterzeichnete der König am 20. November 1846. 104 Als Remuneration waren 400 Gulden vorgesehen. Schmellers Bitte, "daß ihm gestattet sey, auf der k. Bibliothek und zwar in dem ihm angewiesenen Arbeitszimmer, das von den übrigen Räumen vollkommen abgeschlossen werden kann, je in Stunden, die sich an die der amtlichen Bibliothekzeit unmittelbar anschließen, seine Vorlesungen zu halten", wurde nicht entsprochen. 105 So eröffnete er seine Vorträge "im Saale des philologischen Seminars", wohin ihn Thiersch eingeladen hatte, mit "einer Art Antrittsrede [...], deren Kern aus der vom 8. May 1827 bestand." 106 In seinem Unterrichtsangebot spiegelte sich auch seine Tätigkeit der beiden letzten Jahrzehnte wider. Schmeller war auf der Staatsbibliothek die Katalogisierung der Handschriften anvertraut, die seit der Säkularisation der Klöster 1806 dort aufbewahrt wurden; so bot er nun mehrfach "Uebungen im Lesen alter Handschriften" an. 107 Wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Folge eines Unfalls wurde Schmeller jetzt seine alte Bitte gewährt, die Vorlesungen in seiner Wohnung, später in der Bibliothek halten zu dürfen. 108 Am 9. April 1852 stellte Schmeller bei der Fakultät ein Gesuch um Enthebung von seiner Pro-
102
Zur Entlassung aus dem bayer. Staatsdienst vgl. UAM E II 197, Dekret, 16.7.1846. 103 Am 24.10.1843 hatte Dekan Martius bei der Fakultät den Antrag gestellt, Schmeller zum Professor der slawischen Sprachen und der Diplomatik zu ernennen, dem jedoch nicht stattgegeben wurde (vgl. UAM Sen. 7). 104 Vgl. UAM E II 515, Dekret (auch in: Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.443f.). 105 Entwurf Bittschreiben an Ludwig I., in: Schmeller 1954-1957, Bd.2, S.445. 106 Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.447 und 448, Eintrag vom 14.1.1847. 107 Schmellers überragende Leistung bei der Katalogisierung der bayer. Handschriften würdigt Ruf 1953, S.9-95 (darin auch eine chronologische Übersicht der bibliothekarischen Arbeiten nach den Repertorien, Tagebüchern und Akten, S.7685). Vgl. auch Hofmann, Ueber des sei. Schmeller, 1855, Sp.l 13-132. - Z.B. SS 1850 und 1851 (vgl. Kap. 3.2.1.). 108 Vgl. Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.511, Eintrag vom 13.11.1849. - Vgl. ebd., S.512, Eintrag vom 9.12.1849. - Bruch des linken Schenkelhalsknochens auf dem laufen am 28. September 1847. *
26
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fessur. 109 Als mögliche Nachfolger schlug er neben den "bereits erprobten germanistischen Philologen" Wilhelm Wackernagel, Moriz Haupt, Karl Simrock und Richard von Liliencron noch einen Münchner Kandidaten vor: "Zöge man vor, aus unsrer Mitte selbst jüngere in dieser Richtung strebende Kräfte zu wählen, die durch eine äußerlich gesicherte Stellung in den Stand gesetzt derselben treu zu bleiben, Tüchtiges erwarten lassen, so stehe ich nicht an zu nennen unsern Dr. Conrad Hofmann, der mit germanistischen nicht minder als mit romanistischen Studien der Art vertraut ist." A m 25. Mai 1852 teilte Dekan Martius Schmeller mit, daß sich die Fakultät gegen sein Gesuch ausgesprochen habe. 110 Nach dem überraschenden Choleratod Schmellers am 27. Juli 1852 sah sich die Fakultät jedoch gezwungen, auf seine Vorschläge zurückzukommen. Noch in Schmellers Amtszeit fiel ein Gesuch um Anstellung als Ordinarius für "teutsche Literatur-Geschichte und Beredsamkeit". 111 Johann Michael Soeltl, der von 1826 bis 1835 an der Universität Geschichte gelehrt hatte, richtete im März 1848 ein Schreiben an den König: "Eure Majestät möge allerdhuldvollst geruhen, mir die ordentliche Professur für deutsche Literaturgeschichte und Beredsamkeit an der Universität München zu verleihen, da diese beiden Fächer bereits auf anderen Universitäten, aber noch nicht hier gelehrt werden, ihre Notwendigkeit aber für die umfassende Bildung des Jünglings in konstitutionellen Staaten und bei der Einführung des öffentlichen Gerichtsverfahrens allgemein anerkannt ist." 112 In einem Zirkular erbat der Dekan die Stellungnahmen der Fakultätsmitglieder. 113 Ähnlich Prof. Streber, dem "eine erhöhte Fürsorge für die bezeichneten Fächer" unnötig schien, sah Fuchs "das Fach der Geschichte [...] schon zur Genüge besetzt" und setzte dabei Geschichte fälschlicherweise mit Literaturgeschichte gleich. Den Kern der Sache traf dagegen Spengel, wenn er auf Schmeller als den hiesigen Vertreter der deutschen Literatur verweist, der ein "Meister seines Faches, eine der ersten Zierden Deutschlands" sei. Wenn dieser mehr Zeit dem Unterrichte widmen könne, bestehe kein Anlaß zu Verän-
109 Vgl. UAM Ο I 31, Schmeller an Fak., 9.4.1852 (als 5. Beilage zum 3. Sitzungsprotokoll vom 21.6.1852); auch in: Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.546f. 110 Vgl. ebd., Martius an Schmeller, 25.5.1852, auch in: Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.547f., Eintrag vom 27.5.1852. 111 Die Verbindung von deutscher Literaturgeschichte mit Beredsamkeit erinnert an die Anfangsphase der Germanistik, für die u.a. die Deutsche Rhetorik als mitkonstituierend eingestuft wurde (vgl. Kap. 2.2.2.). 112 UAM E II 535, 28.3.1848. - Zur Vita von Soeltl vgl. das Material in der Personalbibliographie. 113 UAM Ο I 27, Zirkular, 12.5.1848.
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
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derungen. Differenzierter sahen das Problem die Professoren Lindemann und Beckers. Indem beide auf den großen Umfang von Schmellers Fachgebiet hinwiesen, befürworteten sie es, zusätzlich "einen jüngern Gelehrten zur Habilitation hierfür" (Lindemann) zu ermuntern. Es bleibt offen, inwieweit die beiden Fakultätsmitglieder hier schon den Bereich der deutschen Literatur nach dem Mittelalter im Auge hatten, der von Schmeller und Maßmann überhaupt nicht abgedeckt wurde. Jedoch tauchte hier relativ früh ein Problembewußtsein bezüglich der zahlreichen Zweige der Germanistik auf, die kein einzelner hinreichend erforschen und lehren könne. A m 26. Juli 1848 wurde der Senat vom Ministerium informiert, daß Soeltl nur zum "professor honorarius für teutsche Literatur-Geschichte und Beredsamkeit" ernannt worden sei. 114
2.2.3.3. Konrad Hofmann - Ordinarius für Germanistik (1856) und Romanistik (1869) In seinem Entlassungsgesuch vom April 1852 hatte J. A. Schmeller seinen Schüler Hofmann als einen Mann gewürdigt, "der mit germanistischen nicht minder als mit romanistischen Studien der Art vertraut ist." 1 1 5 Das Nebeneinander von Germanistik und Romanistik ist symptomatisch für das fast 40jährige Wirken Konrad Hofmanns an der Universität München. Bereits am 16. August 1852, also nur wenige Wochen nach Schmellers Tod, übermittelte das Ministerium dem Senat "das Gesuch des Dr Conrad Hofmann dahier um Anstellung als ausserordentlicher Professor für indogermanische Sprach- und Literatur-Fächer". 116 Außer Hofmann bewarb sich noch der Sprachforscher und Professor am Münchner Kadettencorps, Alexander Josef Vollmer. 1 1 7 Die Fakultät stimmte jedoch für Hofmann, da sie dem "anerkennenden Urtheil des allgemein verehrten Schmeller den Werth eines maßgebenden Voti zuerkennen" wollte. 118 A m 26. Februar 1853 wurde Hof1,4
UAM E II 525, 26.7.1848. vgl. Kap. 2.2.3.2. 116 UAM E II 467. 1,7 Vgl. UAM Ο I 31, Zirkular, 20.8.1852. - Vollmer bewarb sich bereits zum dritten Mal um diesen Lehrstuhl. Als dieser nach Maßmanns Weggang vakant gewesen war, hatte er sein erstes Gesuch eingereicht (vgl. UAM Sen. 7, Vollmer an Senat, 9.8.1846). Am 2.9.1848 suchte er erneut um "Betrauung mit einer Lehrkanzel für deutsche Sprache und Litteratur" nach (vgl. Schmeller 1954-1947, Bd.2, 1956, S.490f.). Schmeller hatte Vollmer übrigens den "ungestümen bebrillten und roth beschnurbarteten Altdeutschmann" genannt (ebd., S.218, Eintrag vom 11.2.1836). 118 Vgl. ebd., Dekan Martius an Senat, 28.8.1852. 115
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
mann zum außerordentlichen Professsor für altdeutsche Sprache und Literatur ernannt. Diese Berufung entsprach nicht der Hofmannschen Formulierung, so daß sein Gesuch strenggenommen ohne Folgen blieb. 119 Gleichzeitig charakterisiert die Vielzahl der Formulierungen den Status eines Fachs, das noch nicht eindeutig definiert ist. Da Hofmann nur Titel und Rang eines Extraordinarius verliehen wurde, blieb im Grunde der Lehrstuhl Schmellers für drei Jahre vakant. Erst am 31. Juli 1856 ging Hofmann das Ernennungsdekret zum "ordentlichen Professor der altdeutschen Sprache und Literatur" zu. 1 2 0 Über die Gründe für diese Verzögerung kann vielfältig spekuliert werden. Vielleicht wollte man einem jungen Wissenschaftler, der erst im Januar 1848 seine Promotion abgeschlossen hatte, eine Bewährungsmöglichkeit geben; vielleicht wollte man auf Hofmanns Gesuch um ein Extraordinariat nicht mit einem Ordinariat antworten. Vermutlich spielten auch Honorarfragen eine Rolle: Auf die außerordentliche Professur entfielen 600 Gulden, auf die ordentliche 1000. 121 Was Umfang und Art der Vorlesungen angeht, ergab sich durch die Aufwertung zum Ordinariat kein Unterschied. 122 Außerdem signalisiert die Zurückstufung, daß die Position der Germanistik an der L M U noch nicht unangefochten war. Wie Stefanie Seidel-Vollmann in ihrer Untersuchung zur romanischen Philologie an der Universität München feststellt, vertrat Konrad Hofmann von Anbeginn die romanische Philologie fast in gleichem Umfang wie die germanische. 123 Daß er bewußt Verbindungslinien zwischen beiden Fächern suchte, zeigen Vorlesungen wie "Einleitung in die germanische und romanische Literatur des Mittelalters" (WS 1854/55) oder "Tristan des Gotfrid von Strassburg mit Rücksicht auf die altfranzösische Tristansage" (WS 1861/62). In diesem Sinne ist auch seine Aussage zu deuten, daß er sich weniger als Germanist oder Romanist sah, sondern als Vertreter der "mittelalterlichen Philologie". 124 In seinem Lehrangebot ist zudem Provençalisch, Alt- und Mittelenglisch so-
119 Die erste ordentliche Professur für indogermanische Sprachwissenschaft erhielt Ferdinand Sommer erst 1909 (vgl. Seidel-Vollmann 1977, S.133f.). 120 UAM Ε II 467. 121 Vgl. ebd., Hofmann an Senat, 30.3.1854 (600 fl.). - Vgl. ebd., Dekret, 31.7.1856 (1000 fl.). 122 Pro Semester pflegte Hofmann drei bis vier Vorlesungen zu halten, sowohl als Extraordinarius wie auch als Ordinarius (vgl. auch Kap. 3.2.3.). 123 Seidel-Vollmann 1977, S.144: 104 Germanistik- (einschl. 12 Anglistik-) und 98 Romanistik-Vorlesungen. 124 Vgl. ebd., S.146.
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wie Altspanisch enthalten. 125 Diese Fächer etablierten sich später als die germanistischen an den Universitäten. 126 Die Regelmäßigkeit seines romanistischen Lehrangebots veranlaßte Hofmann schließlich, um eine ständige Remuneration und den Titel eines Professors der älteren romanischen Literatur und Sprache nachzusuchen.127 Nachdem sich die Fakultät in ihrem Gutachten vom 7. August 1869 ebenfalls dafür ausgesprochen hatte, vertrat Hofmann ab 1869 romanische Philologie zusätzlich als Nominalfach. 128 Kennzeichen der zunehmenden Festigung des Fachs Deutsche Philologie im Kreis der Universitätsdisziplinen sind die ersten Habilitationsgesuche unter Hofmann. Als zuständiger Fachvertreter hatte er über insgesamt vier Zulassungsanträge (Hertz, Kolbing, Brenner, Golther) mit zu entscheiden. Am 2. Juli 1861 bat Dr. Wilhelm Hertz um Zulassung "zur Habilitation für das Fach der germanischen Sprachen an der Ludwig-Maximilians Universität". 1 2 9 Gleichzeitig legte er die Abhandlung "Der Werwolf. Beitrag zur Sagengeschichte" vor, zu deren Beurtheilung sich Hofmann jedoch nicht in der Lage sah. 130 Auch wenn er sich zu genaueren Ausführungen in der Fakultätssitzung bereit erklärte, muß diese Art Votum überraschen, wenn man es der Argumentation von Prof. Spengel gegenüberstellt. Der Klassische Philologe brachte seine Verwunderung darüber auch deutlich zum Ausdruck: "Ich habe die große Abhandlung ganz durchgelesen; denn es machte auf mich einen eigenen Eindruck, daß der Ordinarius der Fächer sich für incompetent erklärte [...] Es sind die Sagen von Werwolf - Verwandlung der Menschen in Wölfe - bei allen Völkern mit größtem Fleiße gesammelt und in so fem ist dieser ein interessanter Beitrag zur Sagengeschichte. [...] So verdienstlich eine solche Zusammenstellung der Sagen ist, so wenig halte ich sie als Habilschrift für geeignet od. genügend. [...] denn sie ist bloße Sammlung, und da eigentliche leitende höhere Gesichtspuncte nicht auftreten." 131 Diese Mängel hätte wohl auch Hofmann erkennen müssen und nicht statt dessen auf fehlende Kompetenz ausweichen dürfen, weil die Arbeit sein Ge-
125
Hofmann kündigte auch Sanskrit-Vorlesungen an. Da es sich insgesamt nur um fünf Vorlesungen handelte, wird dieses Fach im weiteren nicht berücksichtigt. 126 Vgl. Seidel-Vollmann 1977, S.97. 127 Gesuch von Hofmann an MInn vom 17.6.1869, erwähnt in UAM E II 467, MInn an Senat, 23.6.1869. 128 Vgl. UAM E II 467, Gutachten der Fak., 7.8.1869. 129 UAM Ο I 40, Hertz an Dekanat, 2.7.1861. - Für die Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikon teil. 130 Vgl. UAM Ο 140, Zirkular, 3.7.1861, Votum Hofmann (o.D.). 131 Ebd., Votum Spengel (20.7.1861).
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biet nur wenig zu berühren schien. Aus dieser Haltung läßt sich m.E. ein prinzipiell nur geringes Interesse für die Habilitation dieses Kollegen ablesen.132 Als Hertz gegen Ende des Jahres sein Habilitationsgesuch wiederholte, war Hofmanns Gegenvotum von deutlicher Polemik geprägt. 133 Mit neun zu acht Stimmen fiel Hertz' Zulassung denkbar knapp aus. 134 Hertz trat am 6. Juni 1862 als Privatdozent für germanische Altertumskunde in die L M U ein. 1 3 5 Im März 1866 bat er um Verleihung einer außerordentlichen Professur für deutsche Literatur und Altertumskunde. 136 Wegen "mangelndem Nachweise inzwischen geleisteter wißenschaftlich bedeutender Fach-Arbeiten" sprach sich die Fakultät dagegen aus, ebenso gegen eine jährliche Remuneration. 137 Bei dem Habilitationsgesuch von Dr. Eugen Kolbing für germanische Sprachen und Literaturen im Jahre 1872 verhielt sich Hofmann ähnlich negativ. 138 Gänzlich anders stellt sich die Situation im Fall von Oskar Brenner dar. 139 Im Juli 1878 berichtete dieser an Hofmann von seiner Probevorlesung, für die Hofmann die Themen gestellt hatte: "Für Ihre Vorschläge bin ich Ihnen recht sehr dankbar und ich ergreife gerne die Gelegenheit, Ihnen hier zugleich überhaupt meinen herzlichsten Dank für Ihre große 132
Dabei waren sie bereits 1860 brieflich in Kontakt gestanden, als Hertz ihm aus London einen ausführlichen Bericht über seine Forschungsreise erstattete (vgl. StB Hofmanniana 9, Hertz an Hofmann, 21.7.1860). 133 Vgl. Seidel-Vollmann 1977, S.170 (nach UAM Ο I 42, Zirkular, 12.12.1861, Votum Hofmann. - Dieses Zirkular fand sich nicht mehr in den Fakultätsakten, weshalb es nicht überprüft werden konnte.). 134 Vgl. UAM Ο I 42, Sitz.prot., 10.1.1862; vgl. auch UAM E II N, Senat an MInn, 9.4.1862. - Leider hält das Protokoll nicht fest, wer wie stimmte. Daß von Hofmann ein Nein kam, ist wohl kaum zu bezweifeln. Das persönliche Verhältnis zwischen ihm und dem späteren Ordinarius für deutsche Sprache und Literaturgeschichte an der neuen Technischen Hochschule München schien dadurch aber ungetrübt. Jedenfalls unterzeichnete Hertz einen Brief an Hofmann am 31. Mai 1885 "Mit den freundlichsten Grüßen / Ihr ergebenster Wilhelm Hertz" (StB Hofmanniana 9, 31.5.1885). 135 Vgl. ebd., Senat an Fak., 17.6.1862. - ME vom 16.6.1862 (in Ab. beigefügt). 136 Vgl. UAM E II N, Hertz an S. M., 9.3.1866. 137 Ebd., Fak. an Senat, 14.6.1866. - Lobend erwähnte sie jedoch das "eminent poetische Talente, welches der Gesuchsteller dazu verwendet, um die älteren Geisteswerke der Romanen und Germanen dem modernen Verständniß näher zu bringen und der Darstellungsgabe, mit welcher derselbe Gegenstände des Alterthums wißenschaftlich behandelt". Daraufhin erhielt Hertz in den Jahren 1867 und 1868 jeweils eine außerordentliche Unterstützung von 400 Gulden bewilligt (vgl. ebd., MInn an Senat, 25.6.1867 und 6.9.1868). 138 Vgl. Seidel-Vollmann 1977, S.171f. 139 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil.
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Freundlichkeit und das rückhaltlose Wohlwollen auszusprechen, mit dem Sie mir die Habilitation nicht nur möglich, sondern verhältnißmäßig leicht gemacht haben, und bitte Sie, die selbe Gesinnung mir auch künftig bewahren zu wollen." 140 Brenner hatte sein Habilitationsgesuch für germanische Sprachen und Literaturen Ende April 1878 eingereicht. 141 Die Abhandlung "Über die KristniSaga" beurteilte Hofmann als erster Gutachter sehr sachlich und recht positiv: "Er zeigt Gelehrsamkeit, Belesenheit, Urtheil, Combinationsgabe u. gründliche Methode der Forschung in einem Grade der seine Vorlage für den Zweck der Habilitation mehr als genügend erscheinen lässt. Die Disposition ist dabei logisch und einfach, die Sprache klar und dem Stoffe angemessen. Einiges Bedenkliche in deutscher u. isländischer Rede (von mir hie u. da am Rande bemerkt) kann dagegen nicht wesentlich ins Gewicht fallen, da das Elaborat, wie ich vom Autor weiss, sehr rasch niedergeschrieben wurde." 142 Da auch der zweite Gutachter, Prof. von Maurer, die Arbeit "für vollkommen genügend erachtete" und durch die Promotion Brenners summa cum laude am 12. Mai 1877 in München keine Habilitations-Prüfung erforderlich wurde, war diese Habilitation innerhalb eines Vierteljahrs abgeschlossen.143 Als Brenner im Jahr 1884 um Beförderung zum außerordentlichen Professor nachsuchte, fand er bei Hofmann wiederum Unterstützung. 144 Mit ihm förderte Hofmann einen "Spezialisten für nordische Philologie", der nicht mit seinen ureigensten Fachgebieten und persönlichen Interessen konkurrierte. 145 Genau dies aber scheint - soweit es sich aus den geschilderten Fällen ableiten läßt - lange Zeit Voraussetzung für sein Engagement gewesen zu sein. Speziell die Gründung eines Deutschen Seminars an der L M U gehörte nicht zu seinen Ambitionen, wohingegen sich Brenner lebhaft dafür einsetzte. 146 Der persönlichen Beziehung waren diese gegensätzlichen Auffassungen eher abträglich. Ein Brief von Brenner an den Ordinarius aus dem Jahr 1887 belegt das abgekühlte Verhältnis: "Wenn noch nicht geschehen, wird Ihnen baldigst eine Eingabe von mir seitens der Fakultät zugehen. Sie werden bemerken, daß Ihre Vorstellungen mich veranlaßt haben, den Gedanken an ein germanistisches Seminar völlig aufzugeben, obwohl man im Ministerium der Sache sehr geneigt wäre. Dagegen brauche ich für meine Übungen
140
StB Hofmanniana 9, Brenner an Hofmann, 14.7.1878 (Probevorlesung am 12.7.1878). 141 Vgl. UAM Ο I 58, Zirkular, 29.4.1878 (Gesuch Brenners vom 25.4.1878). 142 Vgl. ebd., Zirkular, 29.4.1878, Votum Hofmann (6.5.1878). 143 Vgl. ebd., Votum Maurer (14.5.1878). - Vgl. ebd., Antrag Brenner, 25.4.1878. 144 Vgl. UAM Ο I 65, Zirkular, 28.5.1884, Votum Hofmann (o.D.). 145 Seidel-Vollmann 1977, S.214. 146 Vgl. Kap. 2.3. und 3.2.3.
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eine kleine Bibliothek dringend, und da sowohl die Mitglieder der Fakultät als der Referent im Ministerium zur Gewährung von Mitteln bereit zu sein scheinen, hängt es von Ihrem Gutachten ab, ob dieselben wirklich gewährt werden." 147 Erst 1892, also nach dem Tod von Hofmann, wechselte Oskar Brenner auf einen Lehrstuhl an die Würzburger Universität. Der letzte Habilitationsakt, für den Hofmann als Fachvertreter zuständig war, betraf Wolf gang Golther. 148 Anfang April 1887 beantragte Golther, zur Habilitation zugelassen zu werden, ohne die erforderlichen zehn Semester an der Universität absolviert zu haben. 149 Indem Hofmann sich in seiner Stellungnahme für den Dispens aussprach, enthüllte er gleichzeitig seine Rolle als Förderer einer Universitätslaufbahn: "Da ich selbst Hrn. Dr. Golther aufgefordert habe, sich der akademischen Carriere zu widmen (er wollte ans Archiv gehen), so darf ich wohl auch Dispens für ihn befürworten. Indess kann meine Ansicht keine maßgebende sein, da Geschäftsordnungsfragen durchaus nicht meine Specialität sind." 150 Seine jetzt "positivere Personalpolitik" setzte Hofmann konsequent fort, als er Golthers Habilitationsschrift "Über die Sage von Tristan und Isolde" beurteilte. 151 Außerdem gestand er erstmals ein, daß es ihm eventuell an der nötigen Objektivität fehlen könne: "Vorliegende Schrift erfüllt nach meiner Ansicht ihren Zweck ganz genügend. Die Eigenschaften, die wir bei Hrn. Dr. Golther von früher her kennen, treten auch hier zu Tage, umfangreiche Belesenheit, kritisches Urteil, methodische Behandlung. [...] Da ich Hr. Dr. Golther selbst aufgefordert habe, sich zu habilitiren u. da ich ihm ferner auch das jetzt behandelte Tristanthema vorgeschlagen habe, so ist mein Urteil vielleicht nicht ganz objectiv u. bedarf der Bestätigung od. Berichtigung von Seite der Hrn. Collegen."152
147
UAM Ο I 67, Brenner an Hofmann, 19.2.1887. - Es geht um die Einrichtung einer germanistischen Handbibliothek, aus der später die Seminarbibliothek hervorging (vgl. Kap. 2.3.). 148 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 149 Vgl. UAM Ο I 67, Golther an Fak., 2.4.1887. 150 Ebd., Zirkular, 3.4.1887, Votum Hofmann (o.D.). - Sein Dissertationsthema weist ihn bereits als Hofmann-Schüler aus: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, seine poetische Technik im Verhältniss zur französischen Chanson de Roland, wie sie in den Texten Ο (Oxford) und V 4 (Venedig) vorliegt. - Die 48seitige Arbeit trägt eine Widmung für den Lehrer, bei dem Golther seit 1883 germanische und romanische Philologie studiert hatte (vgl. Golther 1886). 151 Seidel-Vollmann 1977, S.173. 152 UAM Ο I 68, Zirkular, 8.2.1888, Votum Hofmann (o.D.).
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Da die Stellungnahmen von Bernays und Breymann genauso positiv ausfielen, hielt Golther am 26. April 1888 seine Probevorlesung. 153 Gemäß seinem Gesuch vom 1. Februar wurde Golther nach nur vier Monaten zum Privatdozenten an der L M U ernannt. 154 1895 folgte er einem Ruf an die Universität in Rostock, deren Rektor er 1909/10 war. Ab 1910 leitete er dort auch die Universitätsbibliothek.
2.2.3.4. Die erste ordentliche Professur für "neuere Literatur" (1874): Michael Bernays Im SS 1872 lag der Fakultät eine Ministerialverfügung vor bezüglich der "Errichtung von Lehrstühlen für neuere deutsche Literatur an den Landesuniversitäten". 155 In diesem Zusammenhang stand auch die Bewerbung von Prof. Heinrich Düntzer um eine "Goethe-Professur" zur Debatte, die er in Anlehnung an die "Dante-Professuren" an anderen Universitäten vorgeschlagen hatte. 156 Hofmann nahm zu diesem Vorhaben negativ Stellung, indem er eine Gleichsetzung dieser Lehrstühle ablehnte und dem Vorwurf entgegentrat, daß Goethe an den bayerischen Universitäten zu wenig Berücksichtigung fände: "Vorlesungen über Göthe können bei seinen geschlossenen Beziehungen zur neueren deutschen Literatur eben nur Vorlesungen über diese sein und daran fehlt es uns bekanntlich nicht, wiewohl wir leider einen speziellen Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte nicht haben. Hr. Collega Carrière hat seit langer Zeit regelmässig über diese und auch speziell über Göthe gelesen, seit dem letzten Semester ist Hr. Collega Lemcke dazu gekommen und so scheint denn die erste Forderung der Billigkeit, dass, wenn an solche Lehrstühle gedacht wird, man zuerst die Gelehrten berücksichtige, welche das Fach bisher vertreten haben."157 Die übrigen Fakultätsmitglieder traten Hofmanns Votum weitgehend bei: Die Errichtung "eines besondern Lehrstuhls für die Göthe-Literatur" und Düntzers Bewerbung wurden abgewiesen.158
153
Vgl. ebd., Votum Bernays (19.2.1888), Votum Breymann (21.2.1888). - Vgl. ebd., Prot. Habil. W. Golther, 26.4.1888, Thema: Die verschiedenen Arten der Runen und die Verbreitung bei den germanischen Völkern (von Hofmann gestellt). 154 Vgl. ebd., Senat an Fak., 29.5.1888 (ME vom 27.5.1888). - Vgl. ebd., Habil.gesuch W. Golther, 1.2.1888. 155 UAM Ο 152, Zirkular, 20.7.1872. 156 Vgl. UAM Sen. 66, Gesuch Düntzer, 17.6.1872. 157 UAM Ο I 52, Zirkular, 20.7.1872, Votum Hofmann (22.7.1872). 158 Vgl. ebd., Sitz.prot., 31.7.1872.
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Das Thema "Neuere deutsche Literaturgeschichte" wurde erneut aktuell, als Karl Lemcke ein Gesuch um Beförderung zum Extraordinarius einreichte, für das der Dekan eine Stellungnahme von Konrad Hofmann und Moriz Carrière erbat. 159 Lemcke war nach seinem Studium in München nach Heidelberg gegangen. 160 Obwohl 1867 zum Extraordinarius ernannt, war er im WS 1871/72 als einfacher Privatdozent nach München zurückgekehrt. 161 Als erste Veranstaltung hatte er "Geschichte der deutschen Literatur vom Ende des Mittelalters bis auf die neueste Zeit" (SS 1872) angeboten, jetzt las er über "Geschichte der deutschen Literatur von Gottsched bis auf die neueste Zeit" (WS 1872/73). In seinem ausführlichen Gutachten unterstützte Hofmann den Antrag von Karl Lemcke aufs Wärmste: Sowohl als Wissenschaftler wie auch als Dozent verfüge Lemcke über ausgezeichnete Qualifikationen. 162 A m Schluß gab Hofmann eine prinzipielle Erklärung zur Notwendigkeit eines (Extra-)Ordinariats für neuere deutsche Literaturgeschichte ab: "[...] glaube ich sagen zu dürfen, dass nach meiner Ansicht das Zeitbedürfniß allerdings früher oder später zur Errichtung einer solchen Professur drängen wird, und dass dieselbe nicht nebenbei von einem Professor, der ein wesentlich anderes Fach (od. Fächer) als obligate zu vertreten hat (wie Hr. Collega Carrière od. ich) versehen werden kann, sondern wie jedes ordentliche Fach seinen ganzen Mann fordert. Mögen solche Cumulationen an kleineren Universitäten zulässig od. nothwendig sein, an einer grossen sind sie sicher nicht zu empfehlen u. sollten eher beseitigt als eingeführt werden." Ähnlich positiv in bezug auf diese Frage wie auf Lemckes Gesuch äußerte sich Prof. Carrière in seinem Votum. 1 6 3 Die Sachlage änderte sich, als Lemcke einen Ruf nach Amsterdam an die Kunstakademie erhielt und auch als Kandidat für Straßburg gehandelt wurde. Sein Bleiben in München knüpfte Lemcke jetzt an die Ernennung zum ordent-
159
Vgl. UAM Ο I 53, Zirkular, 14.11.1872. Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 161 Vgl. UAM Ο I 52, Senat an Fak., 1.12.1871. 162 Ebd., Zirkular, 14.11.1872, Votum Hofmann (19.11.1872). - Für sein Votum hatte Hofmann extra Informationen von Lemcke erbeten, die dieser ihm brieflich am 16. November 1872 zukommen ließ (vgl. StB Hofmanniana 9). Im einzelnen handelte es sich um Rezensionen über Lemckes ersten Band einer "Geschichte der deutschen Dichtung neuerer Zeit" (Leipzig 1871) sowie um die Angabe von Hörerzahlen. Auch über Lemckes Ruf nach Amsterdam an die Kunstakademie wußte Hofmann schon vor dem Fakultäts-Zirkular vom 2. Dezember durch einen Brief von Lemcke Bescheid (vgl. ebd., Lemcke an Hofmann, 30.11.1872). 163 Vgl. UAM Ο I 52, Zirkular, 14.11.1872, Votum Carrière (o.D.). 160
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liehen Professor. 164 In seinem Votum wertete Hofmann die Rufe nach Amsterdam und nach Straßburg als Beweis und Verstärkung für sein früheres positives Urteil über Lemcke. 165 Als weitere Pluspunkte führte er an, daß Lemcke ein ehemaliger Schüler der Universität sei und sich mit dem "Minimalgehalt eines Ordinarius" begnügen würde: "Alle diese Erwägungen kommen auf den practischen Schluß hinaus, daß Lemcke zugleich der beste u. der billigste Candidat für die Stelle ist u. demnach der Regierung entschieden zu empfehlen sein dürfte, wenn an die wirkliche Besetzung gegangen wird." Auch Carrière sprach sich für Lemcke aus, verwies jedoch auf Hermann Hettner aus Heidelberg als erste Wahl. 1 6 6 Trotz dieser Fürsprache lehnte das Ministerium Lemckes Ernennung zum Ordinarius ab, woraufhin dieser den Ruf nach Amsterdam annahm. 167 Den nächsten Schritt zur Besetzung des neuen Lehrstuhls für neuere deutsche Literaturgeschichte unternahm das Ministerium, indem es am 7. März 1873 Michael Bernays zur Begutachtung vorschlug. 168 Der gebürtige Hamburger hatte sich Ende 1872 in Leipzig bei Friedrich Zarncke mit einer Untersuchung "Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare" habilitiert. Mit seinen wissenschaftlichen Publikationen vor allem zu Goethe, Schiller und Lessing schien er sich für größere Aufgaben zu empfehlen. 169 Das Votum von Konrad Hofmann fiel ziemlich knapp aus - vermutlich war er verärgert über die Ablehnung des von ihm bevorzugten Lemcke: "Der Name des Hrn. Dr. M. Bernays war mir schon früher wohl u. rühmlich bekannt. Da nun das wirklich vortreffliche Votum informativum der philos. Facultät in Würzburg uns auch aus dem Munde so gewichtiger Männer, wie Hr. Pr. Zarncke u. der berühmte Göthekenner Hirzel Zeugnisse über seine Lehrtätigkeit bringt, die nicht glänzender sein könnten, so kann ich kein Bedenken tragen, mich diesem Votum unbedingt anzusch Hessen."170
164
Vgl. ebd., Zirkular, 2.12.1872. Ebd., Votum Hofmann (3.12.1872). 166 Vgl. ebd., Votum Carrière (o.D.). 167 Vgl. ebd., ME 22.12.1872; entsprechende Mitteilung Senat an Fak. am 26.12.1872. - Vgl. ebd., Lemcke an Dekan, 13.1.1873. 168 Vgl. UAM Ο I 53, Dekan Prantl im Zirkular, 12.3.1873. 169 Vgl. die Bernays-Bibliographie in Witkowski 1898, S.385-394. 170 UAM Ο I 53, Zirkular, 12.3.1873, Votum Hofmann (12.3.1873). - Normalerweise pflegte sich Hofmann wesentlich ausführlicher zu äußern; Stellungnahmen von einer Seite Länge sind keine Seltenheit (vgl. z.B. UAM Ο I 52, Zirkular, 14.11.1872, Votum Hofmann, 19.11.1872; oder ebd., Zirkular, 2.12.1872, Votum Hofmann, 3.12.1872). 165
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Wesentlich ausführlicher äußerte sich Moriz Carrière in seinem insgesamt sehr positiven Gutachten. Neben der strengen wissenschaftlichen Methode von Bernays verwies er insbesondere auf dessen Fähigkeiten auf dem Gebiet der modernen Sprachen und Literaturen: "Die neuere deutsche Literatur kann so wenig ohne Bezugnahme auf die englische und französische wie die altdeutsche ohne Rücksicht auf das Romanische wissenschaftlich behandelt werden. Bernays aber zieht auch Vorlesungen über die englischen u. französischen Originale von Shakespear und Milton, Corneille und Moliere in den Kreis seiner Thätigkeit [ . . . ] " m Dezidiert sprach sich Professor Christ in seinem Votum für "die Schaffung eines Lehrstuhls der neueren Sprachen und Literaturen" aus. 172 In ihrer Sitzung vom 7. April 1873 beschäftigte sich die Fakultät abschließend mit Michael Bernays. Offen blieb dabei die Frage, ob Bernays auch bereit sei, außerdeutsche Sprachen und Literaturen zu lehren. Hofmann meldete jetzt Zweifel an, ob dieser überhaupt als "höherer Lector" geeignet sei. Dennoch einigte man sich einstimmig darauf, daß Bernays "als außerordentlicher Professor für 'neuere Literatur' gerufen werden solle, die Fac. aber sich vorbehalte, dereinst eigene Anträge betreffs Errichtung eines Seminars für neuere außerdeutsche Sprache und Literatur an den akademischen Senat zu bringen." 173 Das Ministerium folgte diesem Beschluß und rief Bernays zum 1. Mai 1873 als Extraordinarius für "neuere Literatur" nach München. 174 De facto handelte es sich hier um die erste Professur für neuere deutsche Literaturgeschichte in Deutschland. Nachdem ein Dreivierteljahrhundert lang die Denkmäler der älteren und mittleren deutschen Sprache das Lehrangebot beherrscht hatten, hatte sich die neuere deutsche Literatur jetzt auch institutionell einen Platz gesichert. Die Münchner Hochschule hatte hier die Protagonistenrolle übernommen, wie sie es bei der Seminargründung versäumt hatte. 175 Innerhalb der Fach- und der Institutsgeschichte war durch den neuen Lehrstuhl eine Teilung in eine ältere und eine neuere Abteilung eingeleitet, die bis heute besteht. Die Unsicherheit der Fakultät, ob Bernays auch als Dozent für außerdeutsche Sprachen und Literatur in Frage käme, muß erstaunen, denn zumindest für Shakespeare hatte Bernays sein Interesse und sein Können in mehreren
171
Ebd., Votum Carrière (o.D.). Vgl. ebd., Votum Christ (o.D.). 173 Ebd., Sitz.prot., 7.4.1873. - R. A. Müller schreibt diesen Vorbehalt fälschlicherweise Bernays zu (vgl. Müller 1980, S.226). 174 Vgl. UAM E II 17a2, ME 5.5.1873. 175 Vgl. Kap. 2.2.3.5. und 2.3. 172
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Veröffentlichungen unter Beweis gestellt. 176 Die Erlaubnis, daß er im SS 1873 "über ein Shakespear'sches Drama halte", wurde ihm per Ministerial-Entschließung am 5. Mai 1873 erteilt. 177 Aus der Romanistik kündigte er für das darauffolgende Wintersemester die "Erklärung eines Dramas von Corneille" an. Bereits im selben Semester ernannte König Ludiwg II. Michael Bernays zum ordentlichen Professor "für neuere Sprachen und Literaturen" mit einem jährlichen Gehalt von 2000 Gulden. 178 Die Initiative zu dieser Beförderung war nicht von Bernays selber ausgegangen, sondern von Konrad Hofmann und Moriz Carrière. Im November 1873 stellten beide ein entsprechendes Gesuch bei der Fakultät, für das sie sich auf die erfolgreiche Lehrtätigkeit von Bernays und seine doppelte Verpflichtung als Mitglied und Vorstand in einer Sektion der Prüfungskommission stützten. 179 Das Engagement von Hofmann überrascht, hatte er sich doch im Jahr zuvor bei Bernays' Berufung eher distanziert verhalten. 180 In der Fakultätssitzung vom 22. Dezember 1873 wies Prof. Prantl darauf hin, daß das Verfahren ungewöhnlich sei, weil kein entsprechender Antrag des Extraordinarius vorliege. "Da auch nicht auf eine enorme literarische Leistung hingewiesen werden könne", stufte Prantl die (nicht personengebundene) Errichtung eines Ordinariats für das betreffende Fach als dringlicher ein. Hofmann und der ihn unterstützende Halm hoben dagegen "die dringende Gefahr einer anderweitigen Berufung" von Bernays hervor. Man einigte sich schließlich "einstimmig" auf den Kompromiß, "den Senat um Befürwortung der Errichtung eines ordentlichen Lehrstuhls, mit ausdrücklicher Hinweisung auf Bernays, zu ersuchen." 181
176
Bis 1873 weist das Schriftenverzeichnis von Bernays immerhin acht Veröffentlichungen zu Shakespeare auf, darunter auch seine Habilitationsschrift von 1873 (vgl. Witkowski 1898, S.385-394). - Vgl. auch Kap. 3.4.1. 177 UAM Ε II 17a2. 178 Ebd., Dekret vom 7.2.1874 mit Wirkung ab 1.2.1874. 179 Vgl. UAM Ο I 54, Hofmann/Carrière an Fak., im Nov. 1873 (kein genaues Datum angegeben). 180 Vgl. weiter oben. 181 Vgl. UAM Ο I 54, Sitz.prot. - Lemcke sondierte aus Amsterdam bei Hofmann die Aussichten für seine Bewerbung (vgl. StB Hofmanniana 9, Lemcke an Hofmann, 28.12.1874), die er darauf beim Ministerium einreichte: "Ich habe, Ihrem Rathe folgend, sogleich an Η. M. von Lutz geschrieben. Ob nun noch etwas zu machen ist? So sitze ich in der schwebenden Pein solcher Erwartung. Ich schreibe auch noch an einige der von Ihnen genannten Herrn. Für heute nur diese Zeilen zum Dank." (vgl. ebd., Lemcke an Hofmann, 7.1.1875) Während Bernays sich in seiner Stellungnahme eines Urteils über seinen direkten Rivalen enthielt (vgl. UAM Ο I 55, Zirkular, 18.1.1875, Votum Bernays, 21.1.1875), ist bei Hofmann nichts mehr von Unterstützung zu spü-
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Maßgeblich beteiligt war der neue Ordinarius Bernays wenige Jahre später, als es darum ging, die Deutsche Philologie als Promotionsfach durchzusetzen und auf diese Weise vollständig in den Fächerkanon der Philosophischen Fakultät einzufügen. Sein Schüler und späterer Nachfolger Franz Muncker legte 1877 der Fakultät das Gesuch vor, als Hauptfach für das examen rigorosum "deutsche Literaturgeschichte" wählen zu dürfen. 182 Die aktuelle Promotionsordnung stand dem Antrag entgegen, der deshalb der Fakultät zur Diskussion und Abstimmung vorgelegt werden mußte. 183 In seiner Stellungnahme unterstützte Bernays das Vorhaben seines Schülers: "Das Studium der deutschen Literaturgeschichte wie es seit einigen Jahren an der hiesigen Hochschule betrieben wird, ist ein so ausuferndes und schwieriges, daß der Wunsch, es als selbständiges Prüfungsfach in unseren Statuten anerkannt zu sehen, als durchaus berechtigt gelten darf." 184 So erteilte die Fakultät ihre Zustimmung, Franz Muncker bestand die Promotion am 15. Dezember 1877 "summa cum laude". Seine Dissertation untersuchte auf 32 Seiten "Lessings persönliches und literarisches Verhältnis", ein Thema, das zweifellos die Handschrift seines Lehrers Bernays trägt. 185 Der Befund überrascht, daß der Bereich der Deutschen Philologie, der sich erst wenige Jahre zuvor offiziell an der Universität etabliert hatte, den ersten Münchner Promovenden in diesem Fach überhaupt stellt. Bei dem deutlichen ren: "Ich muss mit Bedauern erklären, dass es mir an allen objectiven Anhaltspunkten fehlt, um über das Gesuch des Hrn. Prof. Lemcke ein motivirtes Gutachten abgeben zu können. Er hat zwar vor langer Zeit bei mir Colleg gehört, allein meines Wissens hat er sich später weder als Forscher, noch als Schriftsteller noch als Lehrer mit deutscher Grammatik und Stylistik fachmässig beschäftigt. Dass Aesthetik, Kunstund Literaturgeschichte, in denen er sich bewegt, mehr od. weniger dazu in Beziehung stehen, ist wohl richtig, aber daraus folgt noch nicht, dass man als Docent geradezu aus einem Fache ins andre übergehen könne ohne allen weiteren Nachweis specieller Leistungen im neuen Falle. Ich bezweifle übrigens nicht, dass Hr. Pr. L., wenn er sich einstudiren wollte, auch deutsche Sprache lesen könnte, nur lässt sich auf eine solche Annahme kein motivirtes Votum gründen." (vgl. ebd., Votum Hofmann, 21.1.1875) 182 Vgl. UAM Ο I 58p Franz Muncker. 183 Auszug aus der Geschäftsordnung für die philos. Facultät an der kgl. LMU München: Doctor-Promotion, § 4: "Als Haupt- oder beziehungsweise Neben-Fächer können gewählt werden: Philosophie, Classische Philologie, Archaeologie, Germanische Sprachen, Romanische Sprachen, Orientalische Sprachen, Geschichte, Kunstgeschichte, Geographie, Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Zoologie, Botanik, Mineralogie, Geologie, Palaentologie. Ueber die Zulässigkeit der Wahl einer hier nicht genannten Disciplin oder einer noch engeren oder anderartigen Begrenzung der Fächer entscheidet die Section." (in UAM Ο I 57) 184 UAM Ο I 58p Franz Muncker, Zirkular, 5.11.1877, Votum Bernays (7.11.1877). 185 Vgl. Kap. 3.4.1.
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
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Vorrang der Altgermanistik, wie er über Jahrzehnte hinweg geherrscht hatte, wäre ein Doktorand aus dieser Teildisziplin wahrscheinlicher gewesen. Vermutlich gab hier Konrad Hofmann den Weg vor, der Dissertationen geringe Bedeutung beimaß. 186
2.2.3.5. Ansätze zur Gründung eines Deutschen Seminars (1874/75) Ab 1874 ging es erneut um einen Ausbau der Germanistik in München. Die Initiative ergriff diesmal die Abgeordnetenkammer des bayerischen Landtags. Im Haushaltsplan waren für die Universität München Mittel zur Errichtung von Lehrstühlen "für deutsche Sprache" sowie "der französischen und englischen Sprache" vorgesehen. 187 Es handelte sich jeweils um eine Summe von jährlich 2500 Gulden. Die Universität war aufgefordert, "wohlerwogene Personalvorschläge" zu machen. Die Verhandlungen zwischen Fakultät, Senat und Ministerium dauerten mehrere Monate - bereits ein Beweis für die Schwierigkeiten, die alle Seiten mit diesem Vorschlag hatten. Von Anfang an zeigte sich Prof. Hofmann dem Vorhaben gegenüber ablehnend. In seinem Votum bezeichnete Hofmann den Lehrstuhl abwertend als "Stylprofessur" und nannte Unterricht im Stil einen Gegenstand der Gymnasien und nicht der Universität. Zu einer derartigen "Rococoprofessur der Eloquenz und des Stils" fände sich kein Gelehrter von Bedeutung bereit, weshalb er keine geeigneten Kandidaten benennen könne. Außerdem mache die übliche schriftliche Ausarbeitung von fachspezifischen Themen diese neue Professur ohnehin überflüssig, die letztlich nur "die Einrichtung eines rhetorischen Ephorates" bedeute.188 Dieser Ansicht schlossen sich die übrigen Fakultätsmitglieder an. 189 Der Archäologe Heinrich Brunn wollte die in Aussicht gestellte Summe für die Universität erhalten, indem man "auf das Bedürfnis eines wohl organisirten Seminars für neuere Sprachen" hinweise. In der Fakultätssitzung vom 10. Dezember wies der Dekan darauf hin, daß die von Hofmann eingeführte Bezeichnung "Stylprofessur" an der ministeriellen Formulierung "Lehrstuhl für deutsche Sprache" vorbeigehe. Im Anschluß daran sprach sich Hofmann dafür aus, durch einen Vertreter speziell für nordi-
186
Vgl. Kap. 3.2.3. UAM Ο I 55, MInn (Minister v. Lutz) an Senat, 6.11.1874. 188 Vgl. ebd., Zirkular, 10.11.1874, Votum Hofmann (17.11.1874). 189 yg| Voten Bernays, Halm, Beckers, Söltl, Carrière, Cornelius, Löher, Trumpp, Christ, Bursian, Huber, Frohschammer [bis auf Bernays (18.11.1874) o.D.] 187
4 Bonk
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
sehe Sprachen entlastet zu werden, wofür er Möbius (Kiel), Kolbing (Breslau) und Hildebrand (Halle) als geeignet erachtete. 190 A m 12. Dezember setzte die Fakultät ihre Beratungen fort. 191 Ein neuer Vorschlag kam von Prof. Bursian. Er wollte einen "tüchtigen Kenner der historischen Grammatik der deutschen Sprache und der dieser zunächst verwandten Sprachen" berufen sehen, der "seminaristische Uebungen auf dem Gebiete der germanistischen Philologie" abhalten könne. Dafür kämen die Privatdozenten Hildebrand (Halle) und Braune (Leipzig) in Frage. Im weiteren Verlauf der Debatte wurde klar, daß die Vielfalt der Vorschläge für den neuen Lehrstuhl aus der fehlenden Definition seitens des Ministeriums resultierte. Die Fakultät wünschte deshalb "eine nähere authentische Interpretation [...] über die Art der deutschen Professur". Der Senat lehnte diese Vorgehensweise allerdings ab und forderte eine eindeutige und begründete Stellungnahme für oder gegen die neue Professur. 192 Zu diesem Zweck richtete Dekan Prantl am 24. Dezember erneut ein Zirkular an die ordentlichen Professoren der 1. Sektion. 193 In seiner Stellungnahme berief sich Hofmann auf sein erstes Votum, in dem er die Gründe für sein Nein zu einer "Professur der Eloquenz" hinlänglich dargelegt habe. "Sollten wir uns dennoch geirrt haben und die Besetzung einer rhetorisch-stylistischen Professur eine Nothwendigkeit werden", kämen die Gelehrten Schöberl, Laas und Suphan als Kandidaten in Betracht. Zum Schluß ging Hofmann auf seine eigene Unterrichtsmethode ein, und in diesem Zusammenhang wird klar, daß er in einem weiteren Ordinarius nur einen unliebsamen Konkurrenten sah: "Bei mir ist factisch der Unterricht in der alten Sprache auch Unterricht in der neuen, weil ich immer comparativ verfahre. Da sich diese Methode nun schon seit etwa 20 Jahren in meinem germanisch-romanischen Seminar durch den Erfolg bewährt hat, so sehe ich nicht ab, warum mir nun gerade im Jahre 1875 durch Berufung eines neuen Germanisten eine seminaristische Hülfe gegeben werden sollte, die ich in der That ebenso wenig brauche u. verlange, als Hr. Professor Collega Bernays in seiner Sphäre." 194
190
Vgl. UAM Ο I 55, Sitz.prot. - R. A. Müller gibt an, daß sich Hofmann für eine "Professur für deutsche Sprache, die sich besonders mit der Grammatik der altdeutschen Sprache zu beschäftigen hätte", einsetzte (Müller 1980, S.214). Dieser Vorschlag stammte jedoch von Bursian und kam erst in der Fak.Sitzung vom 12. Dezember zur Sprache. 191 Vgl. UAM Ο I 55, Sitz.prot. 192 Vgl. ebd., Senat an Fak., 19.11.1874 (auch in UAM Sen. 66). 193 Vgl. ebd. 194 Ebd., Zirkular, 24.12.1878, Votum Hofmann (28.12.1874). - Dabei hatte Hofmann noch 18 Tage zuvor von "einer bestehenden Ueberhäufung mit Lehr-Vorträgen"
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
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Wie Hofmann es prophezeit hatte, äußerte sich auch Bernays negativ. 195 Im Gegensatz dazu unterstrich Prof. Bursian in seinem Kommentar die Notwendigkeit "einer zweiten Professur für die historische Grammatik der deutschen Sprachen" und suchte in seiner Begründung auf den Kollegen Hofmann Rücksicht zu nehmen: "[...] da der weite Umfang des bisher vom Herrn Collega Hofmann allein vertretenen Gebietes es auch dem tüchtigsten und eifrigsten Lehrer unmöglich macht, alle die einzelnen dazu gehörigen Felder regelmässig mit gleicher Sorgfalt anzubauen, sondern denselben vielmehr zu einer Art Wechselwirthschaft, bei welcher eine und die andere Strieme semesterweise brach liegen bleiben muss, nöthigt." 196 Prof. Brunn wollte den "unglücklichen" Begriff "Stylprofessur" nicht mehr verwendet wissen und sprach sich dafür aus, Bernays' Lehrauftrag neu zu definieren als "Professur für deutsche Sprache und Literatur und für vergleichende neuere Literatur, und Direction des deutschen Seminars". Auf diese Weise könnte sich die Münchner Hochschule einen Ruf als "Stätte für das Studium der neueren Sprachen im weiteren Umfange und namentlich zur Ausbildung von Lehrern der neuen Sprachen" verschaffen. 197 Angesichts dieser Meinungsvielfalt griff Giesebrecht, und nach ihm Carrière, die frühere Absicht der Fakultät auf, beim Ministerium eine Interpretation des neu zu errichtenden Lehrstuhls einzuholen. 198 Am 24. Januar 1875 kam Dekan Prantl mit einem Schreiben an den zuständigen Minister von Lutz diesem Vorschlag nach. 199 Aus der ausführlichen Antwort war zu erkennen, daß das Ministerium ein auf Sprachvermittlung und Stilübung ausgerichtetes Ordinariat anstrebte. Den Akademikern mangle es "an einer gründlichen
gesprochen, so daß er "außer Stande sei, den ganzen Umfang germanistischer Linguistik zu vertreten [...]" (vgl. UAM Ο I 55, Sitz.prot., 10.12.1874; siehe auch weiter oben). 195 Vgl. ebd., Votum Bernays (29.12.1874). 196 Ebd., Votum Bursian (31.12.1874). - "Wechselwirthschaft" gebraucht Bursian, wie aus dem Zitat eindeutig zu ersehen ist, eher abwertend - ein Fach muß zwangsweise vernachlässigt werden. Bei R. A. Müller hat der Begriff dagegen fälschlicherweise eine positive Bedeutung: Ein zweiter Lehrstuhl neben Hofmann könne die '"Wechselwirtschaft' in der historischen Grammatik der deutschen Sprache [...] intensivieren" (Müller 1980, S.215). 197 Vgl. ebd., Votum Brunn (8.1.1875). - R. A. Müller schreibt Brunn den alternativen Vorschlag zu, "Bernays für ein Lehrdeputat unter der Benennung 'neuere Sprachen und Literaturen' zu nominieren" (Müller 1980, S.215). So lautete jedoch bereits die Professur, als es um ihre eventuelle Änderung ging. 198 Vgl. UAM Ο I 55, Zirkular, 24.12.1878, Votum Giesebrecht (o.D.) und Votum Carriere (o.D.). 199 UAM Ο I 55. 4*
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Durchbildung in der deutschen Sprache". Diese sei zwar Sache der Gymnasien, setze jedoch eine entsprechende Ausbildung der Lehrer voraus. Deshalb wolle man "eine mehr grundlegende Pflege der Muttersprache mittelst vorwiegender seminaristischer Thätigkeit": "Das Ministerium hat geglaubt, daß es, wenn man in solcher Weise an der Universität mit den Philologen die griechische und lateinische Sprache betreibt, der Universität nicht unwürdig sei, und daß es kein Fehlgriff sein möchte, in gleicher Weise unter Beibehaltung und möglichen Ausnützung der bereits eingerichteten Vorträge auch die Muttersprache zu pflegen." 200 Diese Vorstellungen - eine Professur nur für deutsche Stilübungen - lehnten die Teilnehmer der Fakultätssitzung am 13. Februar einhellig ab. 201 Dekan Prantl sollte dieses Votum der Fakultät an das Ministerium weiterleiten, was bis Ende Februar 1875 erfolgte. Zusammen mit diesem Schreiben ging bei von Lutz ein Promemoria ein, auf das sich der Minister in seiner Antwort vom 22. April 1875 ausführlich bezog: "Inzwischen ist in dem in Abschrift hier angefügten Promemoria der Vorschlag gemacht worden, anstatt der erwähnten Professur ein deutsches Seminar zu errichten, in welchem in ähnlicher Weise, wie es bereits seit Jahren in der pädagogischen Abtheilung des historischen Seminars geschieht, der aus den Vorlesungen gewonnene wissenschaftliche Stoff zu freien Uebungen im schriftlichen und mündlichen Ausdruck unter Leitung mehrerer Fachprofessuren verwendet werden soll. Die I. Section der philos. Facultät hat diesen Vorschlag näher zu erwägen, und im Falle des Einverständnisses mit demselben ein vorläufiges Statut für das deutsche Seminar zu entwerfen und die nöthigen Personalvorschläge zu machen. Das Ergebnis der Berathung der I. Section hat der k. Universitäts-Senat mit Gutachten einzusenden. Bemerkt wird, daß sich im Etat der Hochschule München pro 1874 und 1875 eine Position von jährlich 700 fl. für ein der neueren Literatur zu widmendes Seminar befindet und daß diese Position, sowie die Position von 2500 fl. für eine Professur der deutschen Sprache sowohl pro 1874 als auch pro 1875 disponibel gehalten werden müssen."202 Interessant ist an dem Brief aus dem Ministerium, daß im Begriff "Seminar" sowohl die Institution als auch die Unterrichtsform eingeschlossen sind, daß keine klare begriffliche Trennung erfolgte. Nach der positiven Stellungnahme des Ministers lag nun die Initiative bei der Universität. Entsprechend der Senatsaufforderung vom 24. April erging
200 Vgl. ebd., v. Lutz an Prantl, 12.2.1875 (fast vollständig abgedruckt in: Müller 1980, S.216f.). 201 Vgl. ebd., Sitz.prot. 202 Vgl. UAM Ο I 55, MInn an Fak., 22.4.1875. - In ihrer Untersuchung von 1977 gibt Stefanie Seidel-Vollmann fälschlicherweise an, daß das Giesebrechtsche Promemoria nicht erhalten sei (vgl. Seidel-Vollmann 1977, S.192).
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am 29. April ein Dekanatszirkular zu dieser Frage an die Ordinarien. 203 Der Verfasser des Promemorias, der Historiker Giesebrecht, begründete seinen Seminarplan mit ähnlichen Einrichtungen an anderen Hochschulen sowie mit dem bereits vorhandenen historischen Seminar in München. 204 Das Deutsche Seminar sollte sich in einer Versuchsphase bewähren, andernfalls neu konzipiert oder ganz aufgegeben werden. 205 Von Prof. Brunn stammte der Vorschlag, statt eines spezifisch deutschen ein Seminar für neuere Sprachen zu gründen, in dem sich Germanistik, Romanistik und Anglistik wechselseitig fruchtbar ergänzten: "Das deutsche Seminar muß in den Händen der Vertreter der deutschen Sprache und Literatur ruhen. Daß von denselben bereits praktische Übungen abgehalten werden, macht die Gründung eines solchen Seminars nicht überflüssig, die officielle Form hat ihren Werth: der Studirende erkennt, daß ihm der Besuch eines solchen Seminars, wenn nichtjuristisch, so doch moralisch zur Pflicht gemacht werden soll. Ganz dieselben Ziele, wie in einem deutschen Seminar, müssen bei Uebungen im Französischen und Englischen verfolgt werden: und eine gewisse Verständigung über Mittel und Menge zwischen den Vertretern der drei Sprachen, würde hier von wesentlichem Nutzen sein. Die äußere Form für diese Einigung wäre in der Zusammenfassung zu einem Seminar der neueren Sprachen am besten gegeben."206 Bursian lehnte das Konzept des Promemorias ab, im künftigen Deutschen Seminar auch Themen aus Logik, Psychologie, Pädagogik, Philosophie und Geschichte zu behandeln; sie sollten den Fachdisziplinen vorbehalten bleiben: "Ich kann mir unter einem deutschen Seminar nur eine Anstalt denken, in welcher den Studierenden Gelegenheit gegeben wird, sich in methodischer wissenschaftlicher Kritik und Exegese deutscher, sei es alt- und mittelhochdeutscher, sei es neuhochdeutscher Texte und in Ausarbeitung wissenschaftlicher Aufsätze aus dem Gebiet der deutschen Grammatik, Metrik und Literaturgeschichte zu üben. Will die Regierung ein deutsches Seminar in diesem Sinne an unserer Universität ins Leben rufen, so werde ich dies mit Freude begrüssen."207 Mit diesen Ausführungen gab Bursian das Konzept vor, wie es nach der Seminargründung in den neunziger Jahren realisiert werden sollte.
203
Vgl. ebd., Zirkular, 29.4.1875. Daß Giesebrecht das Promemoria verfaßt hatte, wird im Sitzungsprotokoll vom 23.7.1875 (UAM Ο I 55) explizit gesagt. Die Vermutung von R. A. Müller, "das Promemoria stammte wohl von Giesebrecht" (Müller 1980, S.218), kann eindeutig belegt werden. 205 Vgl. UAM Ο I 55, Zirkular, 29.4.1875, Votum Giesebrecht (12.5.1875). 206 Ebd., Votum Brunn (22.5.[1875]). 207 Ebd., Votum Bursian (o.D.). 204
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Die Mehrheit der Ordinarien sah jedoch im Deutschen Seminar nur eine Variation der "Stylprofessur" und beschied das Projekt deshalb negativ. Dazu zählten vor allem Hofmann und Bernays, Cornelius und Haug. 208 Die Abstimmung der Fakultät über die Seminarpläne am 17. Juni 1875 fiel mit 7 Nein- gegenüber 6 Ja-Stimmen trotzdem denkbar knapp aus. 209 Erfolglos blieb auch der Antrag auf Einrichtung einer Subkommission (8:5 Stimmen dagegen). Da man sich bei dieser Aussprache nicht auf eine gemeinsame Begründung für die Ablehnung einigen konnte, ließ der Dekan seinen Entwurf zwei Tage später bei den Fakultätsmitgliedern zirkulieren. 210 Die wesentlichen Punkte lauteten: 1. Die Aufgabe einer stilistischen Bildung kommt den Gymnasien zu, nicht den Universitäten. 2. Der stilistischen Bildung durch die Universität steht die "Mehrgliederung und Vielköpfigkeit des beabsichtigten Seminars" entgegen. 3. Die praxisbezogene Zielsetzung des Seminars erfordert die Angliederung weiterer Abteilungen (z.B. einer juristischen und einer naturwissenschaftlichen), wodurch "die Vielgliederung des Seminars sich ins Unabsehbare steigern würde." Der Vorschlag fand breite Zustimmung bei den Fakultätsmitgliedern. Ursprünglich wollte der Dekan diese Punkte ohne erneute Debatte dem Senat vortragen. Da Giesebrecht jedoch auf die Geschäftsordnung verwiesen hatte, stand sein Promemoria in der Fakultätssitzung am 23. Juli erneut auf der Tagesordnung. 211 In der abschließenden Abstimmung fand es nur einen einzigen Befürworter. Acht Ja-Stimmen (von 12) erhielt dagegen folgender unverbindlich formulierter Antrag der Sektion: "Die Section bittet, sich vorbehalten zu dürfen, auf die ministeriellen Anerbietungen zurückzukommen, sobald die Leiter der bis jetzt bestehenden oder im Entstehen begriffenen Uebungen den Zeitpunkt für geeignet erachten, diesen Uebungen einen officiellen ständigen Charakter zu geben und staatliche Unterstützung zu beanspruchen."212
208
Vgl. ebd., Votum Hofmann (9.5.1875), Bernays (25.5.1875), Cornelius (o.D.), Haug (24.5.1875). 209 Vgl. UAM Ο I 55, Sitz.prot., 17.6.1875. - Wer mit Ja oder Nein stimmte, ist nicht vermerkt. 210 Vgl. ebd., 19.6.1875. 211 Aus der Geschäftsordnung: "Nach § 10 unserer Geschäftsordnung kann ein Beschluß, über den an den Senat berichtet wird, nicht durch schriftliche Vota herbeigeführt werden." (in UAM Ο I 55) - Es handelte sich um ein einziges Promemoria und nicht - wie es bei R. A. Müller heißt - um zwei verschiedene (vgl. Müller 1980, S.220f.). 212 UAM Ο I 55, Sitz.prot., 23.7.1875.
2.2. Die Vorgeschichte der Seminargründung
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Trotz dieses Vorbehalts kann nicht übersehen werden, daß die Universität zu diesem Zeitpunkt die historisch einmalige Chance verpaßte, mit der Gründung eines Deutschen Seminars eine Pionierrolle in Deutschland zu übernehmen. Das Verhalten der Fakultät macht deutlich, daß sie sich der Bedeutung des Fachs Deutsche Philologie im Grunde noch nicht bewußt war. Dieser Vorwurf ist insbesondere an Konrad Hofmann zu richten, der sich mit seinem strikten Nein als Bremser auf dem Weg zum Deutschen Seminar erwies. Mag er in der Sache anfangs recht gehabt haben - Stilbildung ist an der Hochschule fehlplaziert - , muß trotzdem gesagt werden, daß ein Mann von seiner Bedeutung eine neue Richtung hätte vorgeben können. Das Ministerium hätte seine Stimme nicht überhören können, wenn er sich für die Zweckmäßigkeit eines Instituts für Germanistik eingesetzt und dies mit fachlichen und sachlichen Argumenten untermauert hätte. Offenbar lag es jedoch nicht im Interesse des Wissenschaftlers Hofmann, den Platz der Deutschen Philologie institutionell so abzusichern, wie er es im folgenden Jahr für sein zweites "Standbein" Romanistik erreichte. 213
2.2.3.6. Die Deutsche Philologie im Kreise der Neuphilologien: die Errichtung des Seminars für neuere Sprachen (1876) Während Konrad Hofmann den Ausbau der Deutschen Philologie nur wenig unterstützte, zeigte er sich an einer Förderung der neueren Sprachen und Literaturen an der Münchner Hochschule prinzipiell interessiert. 214 Dem Inhaber einer Doppelprofessur lag insbesondere die Romanistik am Herzen. 215 Die Errichtung eines Seminars für neuere Sprachen war bereits bei der Berufung von Bernays nach München zur Debatte gestanden.216 Im April 1873 hatte sich die Fakultät vorbehalten, "dereinst eigene Anträge betreffs Errichtung eines Seminars für neuere außerdeutsche Sprache und Literatur an den akademischen Senat zu bringen". 217 Im Zusammenhang mit der "Stilprofessur" hatte Prof. Brunn eine Änderung von Bernays' Lehrauftrag vorgeschlagen in "Professur für deutsche Sprache und Literatur und für vergleichende neuere Literatur und Direction des deutschen Seminars". Als Ziel hatte er genannt, in München eine "Stätte für das Studium der neueren Sprachen" aufzubauen.
213 214 215 216 217
Vgl. Kap. 2.2.3.6. Vgl. Kap. 2.2.3.3. und 2.2.3.5. Zur Doppelprofessur vgl. Kap. 2.2.3.3. Vgl. Kap. 2.2.3.4. UAM Ο I 53, Sitz.prot. 7.4.1873.
46
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Diesen Gedanken hatte er aufgegriffen, als die Fakultät über Giesebrechts Promemoria beriet, das die Errichtung eines Deutschen Seminars vorsah. 218 Mitte des Jahres 1875 nahmen die Pläne für ein Seminar für neuere Sprachen und Literatur konkrete Gestalt an. Per Ministerial-Entschließung forderte das Ministerium die Universität auf, schriftliche Anträge bezüglich eines mit 700 Gulden dotierten Seminars für neuere Literatur einzureichen. 219 Zu diesem Zweck richtete Dekan Christ ein Zirkular an seine Kollegen der 1. Sektion. 2 2 0 In seinem ausführlichen Votum legte Konrad Hofmann dar, daß unter einem Seminar "für neuere Sprachen" mehrere Konzepte vorstellbar seien, die sich hinsichtlich "Umfang und Behandlungsweise des Faches" unterschieden. Grundsätzlich sei von der französischen und englischen Sprache auszugehen, vielleicht auch von der deutschen. Die Behandlungsweise könne sich auf die Sprache beschränken oder auch die literarhistorische Seite miteinbeziehen. Je größer der Umfang und je vielfältiger die Richtungen, desto mehr Professoren wären in dieses Seminar zu berufen, für das Hofmann seine Mitarbeit anbot. 221 Michael Bernays sprach sich in seiner Stellungnahme dafür aus, sich "seiner eigentlichen Aufgabe, der Pflege der deutschen Literaturgeschichte und der ihr verwandten Studien, immer entschiedener und mit ungetheilten Kräften widmen" zu wollen. 222 Der Romanist Breymann plädierte für eine Beschränkung auf Englisch und Französisch, womit er die Meinung der Fakultätsmehrheit traf. 223 In der folgenden Fakultätssitzung stand diese Frage erneut zur Diskussion. Hofmann zog einen Vergleich mit den Universitäten Tübingen, Heidelberg und Straßburg, wo "im Seminar für neuere Sprachen auch die deutsche mitbehandelt werde". Trotzdem entschied man sich fast einstimmig dafür, sich auf die französische und englische Sprache und Literatur zu konzentrieren, vor allem im Hinblick auf die bewilligten Mittel in Höhe von 700 Gulden. Anschließend wies Bernays darauf hin, daß er seine jüngst eingeleiteten seminaristischen Übungen zu gegebener Zeit als "deutsches Seminar" anerkennen und von staatlicher Seite finanzieren lassen wolle. 2 2 4 Trotzdem behielt sich die
218
Vgl. Kap. 2.2.3.5. Vgl. UAM Ο I 56, ME, 13.8.1875. 220 Vgl. ebd., Zirkular, 27.11.1875. 221 Vgl. ebd., Votum Hofmann (2.12.1875). 222 Vgl. ebd., Votum Bernays (3.12.1875). 223 Vgl. ebd., Votum Breymann (datiert auf "5. November 1875", muß aber Dezember heißen). 224 Vgl. UAM Ο I 56, Sitz.prot., 15.12.1875. 219
2.3. Die Gründung des Deutschen Seminars
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Fakultät vor, gegebenenfalls auch die deutsche Sprache und Literatur zu integrieren. 225 A m 1. Februar 1876 erteilte das Ministerium die Genehmigung, ein Seminar für neuere Sprachen und Literatur zu errichten, dessen Zweck "vorläufig" auf das Französische und Englische beschränkt bleiben sollte. 226 Zum ersten Vorstand wurde Konrad Hofmann ernannt, zum zweiten Hermann Wilhelm Breymann. Im Hinblick auf die deutsche Sprache wurde bestimmt, sie später entweder mitaufzunehmen oder ein eigenes Seminar zu gründen. Der Aktenlage zufolge kamen auf diesen Plan in den folgenden Jahren weder Ministerium noch Universität explizit zurück, doch durch die Lehrtätigkeit von Konrad Hofmann war die Deutsche Philologie praktisch von Anfang an integriert. So sah es auch das Ministerium, als es 1892 die Trennung des Germanistischen Seminars vom Seminar für neuere Sprachen verfügte und die Umbenennung des letzteren in Seminar für romanische und englische Philologie genehmigte. 227 Statt den Prozeß der Verselbständigung abzuschließen, verharrte die Deutsche Philologie bis dahin im Kreise der Neuphilologien.
2.3. Die Gründung des Seminars für Deutsche Philologie durch Matthias von Lexer (1891/92) Die beherrschende Rolle Konrad Hofmanns zeigte sich in vielen Bereichen des universitären Lebens. Er prägte die Zusammenarbeit zwischen Germanistik und Romanistik und förderte die Errichtung des Seminars für neuere Sprachen. 228 Insbesondere dominierte er in der Opposition gegen ein eigenständiges Seminar für Deutsche Philologie. 229 Erst nach seinem Tod am 30. September 1890 konnte man daran gehen, diesen alten Plan zu realisieren. Das Ausscheiden Hofmanns aus dem Lehrkörper, dem er fast 40 Jahre angehört hatte, forderte die Germanistik zu einer Neuorientierung heraus. Einen entsprechenden Vorstoß unternahm die Fakultät in ihrer Sitzung am 14. November 1890. 230 Die Frage der funktionsgerechten Abgrenzung von Germanistik und Romanistik wurde zwar angesprochen, sollte aber erst zu einem späteren Zeitpunkt entschieden werden. Ein weiterer Punkt betraf die Zulassung 225 226 227 228 229 230
Vgl. UAM Sen. 244a,b, Fak. an Senat, 15.1.1876. Ebd., ME, 1.2.1876. Zur Trennung vgl. ebd., ME, 26.2.1892. - vgl. ebd., ME, 16.3.1892. Vgl. Kap. 2.2.3.6. Vgl. Kap. 2.2.3.5. UAM Ο I 71, Sitz.prot.
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
der neueren Literaturgeschichte als Examensfach. Die Fakultätsmitglieder einigten sich darauf, "daß deutsche Literaturgeschichte als (besonderes) HauptFach gewählt werden kann, vorausgesetzt, daß dem Doktoranden zugleich ein sprachlicher (alt- oder mittelhochdeutscher) Text zur Interpretation vorgelegt werde." Die Disziplin, die bis Februar 1890 von Michael Bernays vertreten worden war, tat damit einen weiteren großen Schritt aus dem Schatten der Altgermanistik. Schließlich stand die Frage des Nachfolgers für den verstorbenen Hofmann auf der Tagesordnung. Die Kommission, die im Oktober ihre Beratungen aufgenommen hatte (Mitglieder: von Christ, Wölfflin, Schöll, Kuhn, Dekan Breymann), legte jetzt ihren Bericht vor. 2 3 1 Als Kandidaten benannte sie "pari passu" Eduard Sievers aus Halle und Matthias von Lexer. Gegen letzteren sprachen vor allem sein fortgeschrittenes Alter - Lexer war 1830 geboren, Sievers erst 1850 - sowie sein starkes Engagement beim Deutschen Wörterbuch. Intern sprachen sich die Kommissionsmitglieder deshalb für Sievers aus "als einer noch jugendlichen sehr rührigen und von Professor Hofmann selbst hochgehaltenen Kraft". Diese pari-loco-Liste akzeptierte der Senat nicht "der Antrag hinsichtlich des Prof. von Lexer in Würzburg [könne] als ernstlicher Vorschlag nicht erachtet werden" - und wünschte, daß die Fakultät weitere Kandidaten benenne.232 Die Beratungen am 12. Dezember ergaben, daß die Fakultät weiter hinter ihren Personalvorschlägen stand. Nur weil Lexer den Ruf nach München bereits abgelehnt hatte, führte Sievers die Liste nun allein an, gefolgt von Steinmeyer und Schröder. 233 Obwohl man damit der ausdrücklichen Forderung des Senats nachgekommen war, zog sich die Wiederbesetzung des Hofmannschen Lehrstuhls weiter in die Länge. Die Vorgänge belegen zudem die enge Verbindung zwischen Germanistik und Neuphilologien, wie sie damals noch bestand. Trotz seiner Absage war Lexer weiterhin im Gespräch. In seinem Schreiben vom 9. Mai 1891 wies der Senat darauf hin, daß dieser - im Gegensatz zu Hofmann - nur Germanistik lehren würde. Die Romanistik läge derzeit "aushilfsweise" in den Händen von Professor Breymann. Aus diesem Grund schlug der Senat vor, dem Beispiel anderer Universitäten zu folgen und Romanistik und Anglistik zu verselbständigen. 234 Damit hatte der Senat Monate nach der Fakultät erkannt, daß er die Nachfolge Hofmanns nicht isoliert als germanistisches Problem behandeln konnte, sondern daß diese auch Konse-
231 232 233 234
Vgl. ebd., Zirkular, 15.10.1890, und Sitz prot., 25.10.1890. Vgl. ebd., Senat an Fak., 22.11.1890. Vgl. ebd., Sitz.prot., 12.12.1890. Vgl. ebd., Senat an Fak., 9.5.1891.
2.3. Die Gründung des Deutschen Seminars
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quenzen für Romanistik und Anglistik nach sich zog. Noch im November 1890 hatte der Senat erklärt, "daß die Wiederbesetzung der so wichtigen Professur Germanistik nicht ohne Not durch gleichzeitige Anträge erschwert werden solle." 235 Das Ministerium war mit diesen Plänen einverstanden und genehmigte im März 1892, "daß das Seminar für neuere Sprachen künftighin die Bezeichnung 'Seminar für romanische und englische Philologie' führe". 236 Damit war auf institutioneller Ebene das Miteinander von Germanistik und Neuphilologien offiziell beendet. Die weitere Entwicklung führte zur Bildung von zwei selbständigen Seminaren für Romanistik und Anglistik. 2 3 7 Die Abtrennung dieser Fächer sicherte gleichzeitig die Verselbständigung der Germanistik. A m 14. Mai 1891 teilte der Senat der Fakultät die Berufung von Matthias von Lexer an die Münchner Hochschule mit. 2 3 8 Gemäß dem Dekret vom 12. Mai sollte dieser seine Professur der Deutschen Philologie zum 1. August desselben Jahres antreten. Lexer war seit 1868 Ordinarius in Würzburg gewesen. Das 1873 gegründete germanistische Seminar war von Anfang an unter seiner Leitung gestanden. Als Lexer an die Münchner Hochschule kam, fand er dagegen nur ein Seminar für neuere Sprachen und Literatur vor, für das er nicht als Vorstand vorgesehen war. A m 13. November 1891 richtete er folgende Eingabe an den Senat: "Der gehorsamst Unterzeichnete war vom Jahre 1873 bis zum Ende des vorigen Semesters Vorstand des Seminars für deutsche Philologie an der kgl. Universität Würzburg. Bei seiner Berufung an die hiesige Universität hat er als selbstverständlich erachtet, daß ihm mit der Übernahme der Seminarübungen auch die Eigenschaft eines Vorstandes des germanistischen, bis jetzt noch mit dem neuphilologischen verbundenen Seminars würde zuerkannt werden, was in dem amtlichen neuen Personalverzeichnisse nicht geschehen ist. Indem nun der gehorsamst Unterzeichnete um die förmliche Zuerkennung des Titels Vorstand des Seminars für deutsche Philologie' und um Aufnahme desselben ins Personalverzeichnis ersucht, knüpft er daran die weitere 235 Vgl. ebd., Senat an Fak., 22.11.1890. - Um welche "gleichzeitigen Anträge" es sich handelte, geht aus dem Sitzungsprotokoll der Philos. Fak. vom 18.11.1890 hervor: "Die Fakultät erkennt an, daß die romanische Philologie in ihrem ganzen Umfange gelehrt werden müßte und wünscht, daß, so lange ein besonderer Romanist nicht da sei, Prof. Breymann aushilfsweise eintrete. Ferner spricht sich die Fakultät dahin aus, daß die Gründung eines Extraordinariats für englische Philologie wünschenswerth sei, da, nach der englischen Seite hin, eine Ergänzung von Professor Breymann's bisheriger Thätigkeit geboten erscheine." (UAM 0171) 236 UAM Sen. 244a,b, ME, 16.3.1892. 237 Vgl. ebd.: Ab 1.1.1913 gab es zwei selbständige Seminare für Anglistik und Romanistik (ME, 20.1.1913). 238 Vgl. UAM Ο 171.
50
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
gehorsame Bitte, daß das germanistische Seminar vom neuphilologischen getrennt und als 'Seminar für deutsche Philologie' der alleinigen Leitung des jeweiligen ordentlichen Professors der deutschen Philologie unterstellt werden möge. Sollten zu diesem Zwecke besondere Statuten erforderlich sein, so ist der gehorsamst Unterzeichnete bereit, einen Entwurf derselben vorzulegen." 239 Bemerkenswert ist die Reihenfolge der Punkte in diesem Gesuch: An erster Stelle steht der Titel eines Vorstands des Seminars für Deutsche Philologie, erst danach folgt der Antrag auf Institutsgründung. Daraus läßt sich ableiten, daß Lexers Vorgehen nicht zuletzt persönlich motiviert war - ohne diesen Titel hätte der Wechsel nach München einen Rückschritt in der beruflichen Laufbahn bedeutet. Andererseits setzt die Bitte um die förmliche Zuerkennung des Titels "Seminarvorstand" die Existenz eines germanistischen Seminars voraus. Daß in den Augen Lexers ein solches in Verbindung mit dem neuphilologischen bestand, geht aus dem Brief eindeutig hervor. Unterschwellig scheint auch Verwunderung mitzuklingen, daß dieser Schritt nicht schon längst vollzogen worden ist. Daß es an der zweiten bayerischen Landesuniversität, in Würzburg, schon lange ein germanistisches Seminar gab, beweist aber, daß die Verzögerung in München nicht auf die bayerische Hochschulpolitik zurückzuführen ist. Hier bestätigt sich vielmehr erneut, wie Konrad Hofmann die Entwicklung des Fachs zu lenken vermochte. 240 Die Stimme Lexers hatte Gewicht - von seinem Gesuch im November 1891 bis zur Gründung des Seminars für Deutsche Philologie vergingen nur vier Monate. A m 14. November 1891 bat der Senat um die Stellungnahme der Fakultät zu Lexers Gesuch, die Dekan Hertling zunächst per Zirkular einholte. 241 Es fand durchweg positive Resonanz. Prof. Christ regte in seinem Votum an, den außerordentlichen Prof. Dr. Oskar Brenner zu befragen, der die Einrichtung einer germanistischen Handbibliothek im neusprachlichen Seminar initiiert hatte. 242 Brenner konnte diese Handbibliothek als Basis für eine künftige Seminarbibliothek vorschlagen. 243 In seinem "Votum" drückte er auch sehr offen aus, daß er Konrad Hofmann als hartnäckigen Gegner in Sachen Deutsches Seminar erlebt hatte:
239
UAM Sen. 64a. Vgl. Kap. 2.2.3.5. 241 Vgl. UAM Ο 172, Senat an Fak., 14.11.1891. - Vgl. ebd., Zirkular, 20.11.1891. 242 Vgl. ebd., Votum Christ (23.11.1891). - Vgl. UAM Ο I 67, Brenner an Fak., 14.2.1887. 243 Vgl. UAM Ο I 72, Zirkular, 20.11.1891, "Votum" Brenner (o.D.). - Im engeren Sinn handelte es sich um kein Votum, da Brenner nur Extraordinarius war. 240
2.3. Die Gründung des Deutschen Seminars
51
"Der Versuch, ein germanistisches Seminar zu gründen scheiterte s.Z. am Widerstand K. Hofmann's." 244 Vom 12. Dezember 1891 datiert der Fakultätsoeschluß, daß das Seminar für Deutsche Philologie "in Zukunft als selbständiges, unter alleiniger Direktion des Ordinarius des Fachs stehendes Seminar gelten und dieser Sachverhalt im 'Amtlichen Verzeichniß' zum Ausdruck kommen werde. Die bisherige germanistische Handbibliothek soll Seminarbibliothek werden." 245 Probleme ergaben sich bezüglich der Dotierung des Seminarvorstands, da die Besoldung von Lexers Vorgänger innerhalb des Etats des neusprachlichen Seminars erfolgt war. Zur Disposition stand somit ein Betrag in Höhe von 300 Mark. 2 4 6 Die Fakultät beschloß, diese Summe dem Vorstand des Seminars für neuere Sprachen und Literatur (später "für romanische und englische Philologie") für Bibliothekszwecke zur Verfügung zu stellen, solange kein zweiter Vorstand ernannt sei. 247 Außerdem wollte man beantragen, Lexer zum Direktor des germanistischen Seminars mit eigener Dotierung zu ernennen. Am 26. Februar 1892 waren die Verhandlungen über die Gründung des Seminars für Deutsche Philologie abgeschlossen: "Auf den Bericht vom 20. laufenden Monats wird genehmigt, daß das germanistische Seminar von dem Seminar für neuere Sprachen getrennt und mit der Bezeichnung 'Seminar für deutsche Philologie' als selbständiges Seminar eingerichtet werde. Zugleich wird dem ordentlichen Professor Dr. Matthias v. Lexer die Funktion eines Vorstandes des Seminars für deutsche Philologie übertragen und diesem Seminar die bisher bei den germanistischen Übungen des außerordentlichen Professors Dr. Brenner benutzte Handbibliothek sowie die hierfür im Universitätsetat vorgesehene Realexigenz von 300 Mark überwiesen."248 Der Etablierungsprozeß des Fachs in München, der mit Schmellers Vorlesung im SS 1827 seinen Anfang genommen hatte, fand seinen (vorläufigen)
244
Vgl. auch den Brief vom 19.2.1887 an Hofmann: "Sie werden bemerken, daß Ihre Vorstellungen mich veranlasst haben, den Gedanken an ein germanistisches Seminar völlig aufzugeben, obwohl man im Ministerium der Sache sehr geneigt wäre." (UAM Ο I 67) 245 UAM Ο I 72, Sitz.prot.; vgl. auch UAM Sen. 64a, Dekan an Senat, 13.12.1891. 246 Vgl. ebd., Senat an Fak., 30.1.1892. 247 Vgl. ebd., Sitz.prot., 10.2.1892. - Lexer hatte sich nicht durchsetzen können, der diesen Betrag wenigstens zum Teil für das Deutsche Seminar hatte erhalten wollen (vgl. ebd., Zirkular, 5.2.1892, Votum Lexer, 5.2.1892). 248 UAM Sen. 64a, ME, 26.2.1892; UAM Ο I 72, Sen. an Fak., 1.3.1892 (Ab.) Untergebracht war das Institut zuerst in einem, später in zwei Räumen, von dem einer dem Vorstand vorbehalten war (vgl. Hartl 1926, S.187).
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Abschluß. 249 Es hatte mehr als 60 Jahre gedauert und insgesamt vier Ordinarien (Maßmann, Schmeller, Hofmann, Lexer) bedurft, um der Germanistik denselben offiziellen Status zu verschaffen, den Fächer wie Theologie oder Geschichte schon lange besaßen. Die Münchner Hochschule hinkte damit einer Entwicklung hinterher, die bis auf eine Ausnahme - in Deutschland als beendet gelten durfte. 250 Hatte man schon bei der Errichtung von Extraordinariat und Ordinariat nicht zu den Avantgardisten gezählt, bildete man jetzt gar die Nachhut. Das Tempo bei der Institutionalisierung des Fachs hatte sich drastisch verlangsamt, was in erster Linie auf Konrad Hofmann zurückzuführen ist. 251 Die von ihm initiierte und realisierte Kooperation der neueren Philologien ging auf institutioneller Ebene zu Ende, da das bisherige Seminar für neuere Sprachen verselbständigt und in "Seminar für romanische und englische Philologie" umbenannt wurde. 252 Mit der Gründung des Instituts waren die äußeren Voraussetzungen gegeben, der Germanistik weitere Geltung zu verschaffen. Dieser Aufgabe konnte sich der Seminargründer keine zwei Monate annehmen: Lexer starb bereits am 16. April 1892. Die früheren Befürchtungen von Fakultät und Senat wegen Lexers Alter hatten sich allzu schnell bewahrheitet. Ausgerechnet der Initiator der Seminargründung sollte der Ordinarius mit der kürzesten Verweildauer in München sein. Aus diesem Grund nahm Lexer auch nur zu dem Habilitationsgesuch von Karl Borinski Stellung: "Ich habe heute (nach Einvernahme der Herrn Kollegen Brenner und Muncker) dem Herrn Dr. Borinski erklärt, daß ich seine als Habilitationsschrift bezeichnete Abhandlung nicht als gegnügend begutachten könne. Er wird nun morgen zu Ihnen kommen und sein Gesuch zurückziehen, um es später mit einer neuen Habilitationsschrift zu erneuern." 253 Eine detaillierte Begründung für die Ablehnung lieferte Lexer nicht, aber Borinski nahm wie angekündigt sein Gesuch zurück. 254 Als er es im Novem-
249
Vgl. Kap. 2.2.3.1. In Münster erfolgte die Gründung des Germanistischen Seminars unter Wilhelm Storck erst drei Jahre nach München (vgl. Meves 1987, S.73*). 251 Vgl. Kap. 2.2.3.5. 252 Vgl. Kap. 2.2.3.6. 253 UAM Ο I 72, Zirkular, 13.3.1892, Lexer an Dekan v. Hertling, 15.3.1892. - Zur Biographie von Borinski vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 254 Vgl. ebd., Borinski an Fak., 15.3.1892. 250
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
53
ber 1892 erneuerte, war der Lehrstuhl für Deutsche Philologie bereits verwaist. 255 Lexers Nachfolger Paul war deshalb als Votant gefordert. 256
2.4. Die Auf- und Ausbauphase des Instituts (bis 1933) Mit der Gründung des Seminars hatte die Deutsche Philologie 1892 in München den Status erreicht, den sie an anderen Universitäten längst besaß. In den folgenden Jahrzehnten konnte das Institut seine Stellung sichern und weiter ausbauen, was in erster Linie auf das Engagement der Lehrstuhlinhaber zurückzuführen ist. In diesen Zeitabschnitt fällt auch der Anfang zweier neuer Fächer an der LMU, die über Jahrzehnte in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Germanistik standen. Es beruhte zum einen auf personellen Überschneidungen, zum anderen auf institutionellen Verflechtungen. Begründung und Etablierung von Theaterwissenschaft und Volkskunde als akademische Disziplinen erfolgten im Rahmen des Instituts für Deutsche Philologie. 257
2.4.1. Lehrstuhlbesetzungen Bis 1935 mußten die zwei bestehenden Ordinariate für Deutsche Philologie nur jeweils zweimal neu besetzt werden. Diese personelle Kontinuität blieb auch während des Ersten Weltkriegs erhalten. Nur die Privatdozenten bzw. außerordentlichen Professoren Artur Kutscher (SS1915 - WS 1916/17), Fritz Strich (WS 1915/16) und Hans Heinrich Borcherdt (SS1916 und WS 1916/17) wurden zum Militärdienst eingezogen. Unmittelbar vom Krieg beeinflußt war die Vorlesung des Privatdozenten Maußer "Unterhaltungen zur Deutschen Soldatensprache (für Kriegsteilnehmer)" im SS 1917. Kutschers einstündige Veranstaltung "Soldaten- und Kriegslieder" (SS 1915 - WS 1916/17) fand wegen seiner Einberufung nicht statt. Die Thematik tauchte nach 1920 in einigen Dissertationen wieder auf, die unter Kutschers Leitung entstanden. Heinz Schrecker promovierte z.B. 1921 mit "Die Erotik im Soldatenlied", Manfred Hausmann mit "Kunstdichtung und Volksdichtung im deutschen
255 256 257
Vgl. UAM Ο I 73, Borinski an Fak., 3.11.1892. Vgl. Kap. 2.4.1.1. Vgl. Kap. 2.4.2. und 2.4.3.
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Soldatenlied von 1914/18" (1922). 258 Schon 1917 hatte Kutscher "Das richtige Soldatenlied. Verse und Singweisen, im Felde gesammelt" veröffentlicht. 259 Die Zahl der Vorlesungen reduzierte sich drastisch erst nach Kriegsende. Im Kriegsnothalbjahr 1919 (15.1.-15.4.1919) standen pro Dozent maximal zwei Veranstaltungen auf dem Programm, die Regel war jedoch eine einzige. Das Lehrangebot normalisierte sich erst wieder Anfang der zwanziger Jahre. Alles in allem wirkte sich der Erste Weltkrieg auf den germanistischen Lehrbetrieb nicht übermäßig einschneidend aus, weshalb der Zeitraum von der Institutsgründung bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung in einem Abschnitt behandelt wird. Die Frage nach einer Politisierung der Dozenten wird im folgenden Kapitel gestellt. 260
2.4.1.1. Hermann Paul (1893) Die Suche eines Nachfolgers für Konrad Hofmann hatte ca. acht Monate gedauert. 261 Ebenso viel Zeit verging, bis Lexers Lehrstuhl wieder besetzt werden konnte. Das erscheint lange, denn es gab keine so schwerwiegenden Probleme wie vor knapp einem Jahr, als die Frage der Trennung der Germanistik von den Neuphilologien anstand. Die Fakultät mußte an einer schnellen Berufung interessiert sein, da mit dem Weggang von Oskar Brenner nach Würzburg auch das Extraordinariat vakant war. 262 Die Berufungskommission mit den Herren Christ, Wölfflin, Schöll, Kuhn, Breymann und Heigel legte der Fakultät am 27. Mai 1892 ihre ersten Empfehlungen vor. Privatdozent Wolfgang Golther, der seit Lexers Tod die germanistischen Veranstaltungen übernommen hatte, sollte Brenner ersetzen. Für das Ordinariat kamen vier Kandidaten in Frage. An erster Stelle wurde Hermann Paul (Freiburg), an zweiter Wilhelm Braune (Heidelberg) genannt, "beide durch hervorragende wissenschaftliche Leistungen ausgezeichnet und anerkanntermaßen zu den ersten Vertretern ihres Faches zählend." Da bei ihnen eine Ablehnung des Rufes nicht auszuschließen sei - bei Paul aus gesundheit258
Weitere Dissertationen: Moll, Karl, Der Kehrreim im Soldatenliede des Weltkrieges, 1922. - Oldag, Harald, Das Berufslied des deutschen Soldaten von 1914/18, 1924. 259 Insgesamt umfaßte die Soldatenliedersammlung 6000 Texte und 1800 Melodien (vgl. Kutscher 1960, S.160). 260 Vgl. Kap. 3 261 Vgl. Kap. 2.3. 262 Brenner war zum Ordinarius an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg ernannt worden.
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
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liehen, bei Braune aus privaten Gründen - , folgten gleichrangig Vogt aus Breslau und Behaghel aus Gießen, "beide gleichfalls anerkannt tüchtige Vertreter des Fachs." Im Entscheidungsfalle sollte letzterem der Vorrang eingeräumt werden. In seinen Gutachten ging Prof. Kuhn ausführlich auf die vier Kandidaten ein, denen die Fakultätsmitglieder geschlossen zustimmten. 263 Im Herbst 1892 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Fakultät und Ministerium, das Prof. Johann Kelle aus Prag auf der Liste vermißte. 264 In der Sitzung vom 2. November trat die Fakultät entschieden der Auffassung entgegen, daß die Beratungen über Lexers Nachfolge "nicht mit genügendem Ernst und Eifer betrieben worden seien". Sie sprach sich gegen Kelle aus wegen seines hohen Alters (63 Jahre) und seiner Beschränkung auf literarhistorische Arbeiten, so daß er "auf grammatischem Gebiete nur über ein antiquiertes Wissen verfügt". 265 Diese Argumentation kehrte auch im Schreiben an den Senat wieder, in dem Dekan Heigel zusätzlich auf die Notwendigkeit hinwies, das Studium der Deutschen Philologie optimal zu fördern: "Gerade das Studium der deutschen Germanistik aber soll bei uns gehoben werden; dieses Bedürfniß tritt alljährlich bei den Prüfungen aus den philologischen Fächern mit fast erschreckender Deutlichkeit zu Tage!" 266 Deshalb hielt die Fakultät weiter an ihren Vorschlägen fest. Aufgrund dieser Verzögerung fiel die Entscheidung über Lexers Nachfolger erst gegen Ende des Jahres. Mit Dekret vom 11. Dezember wurde Hermann Paul ab 1. April 1893 zum ordentlichen Professor der Deutschen Philologie in München ernannt. 267 Das jährliche Gehalt betrug 7000 Mark. Damit war noch nicht automatisch die Ernennung zum Seminarvorstand verbunden. Die Fakultät mußte erst einen entsprechenden Antrag stellen, den alle Mitglieder einstimmig unterstützten. 268 A m 21. Februar gab das Ministerium dem Antrag statt. 269
263
Vgl. UAM Ο I 72, Sitz.prot., 27.5.1892. Vgl. UAM Ο I 73, Zirkular, 18.10.1892, darin erwähnt ein entsprechendes Schreiben des Ministeriums an den Senat vom 10.10.1892. 265 Vgl. ebd., Sitz.prot. 266 Vgl. ebd., Nov. 1892 (kein genaues Datum angegeben). 267 Vgl. ebd., Senat an Fak., 14.12.1892; vgl. auch UAM E II 647, Dekret, 11.12.1892. 268 Vgl. ebd., Zirkular, 10.2.1893. 269 Vgl. ebd., Senat an Fak., 25.2.1893; ME in UAM Sen. 64a. 264
5 Bonk
56
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Mit Hermann Paul gelang es der Universität, einen der führenden Sprachwissenschaftler seiner Zeit zu gewinnen. Vom Mitbegründer und Theoretiker der Junggrammatiker waren innovative Impulse für das Fach zu erwarten. 270 Ein Kennzeichen der Auf- und Ausbauphase des Instituts war es auch, daß sich unter dem neuen Vorstand die Habilitationsgesuche häuften. Hermann Paul war während seiner Amtszeit an insgesamt neun Habilitationsakten (Borinski, Fränkel, Panzer, Woerner, von der Leyen, Wilhelm, Petersen, Lütjens, Maußer) als Erstreferent beteiligt, von denen fast alle (Ausnahme: Fränkel) erfolgreich verliefen. Die Aufnahme von Privatdozenten brachte eine deutliche personelle Verstärkung des Seminars. Karl Borinski suchte im November 1892 bereits zum zweiten Mal um Zulassung zur Habilitation nach, und zwar für "deutsche Literaturgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Poetik, Metrik und des Einflusses der fremden Litteraturen". 271 Zu diesem Zeitpunkt war das Ordinariat noch verwaist, doch die Fakultät kam zu dem Ergebnis, "daß eine Habilitation ausschließlich für deutsche Literaturgeschichte nicht für zuläßig erachtet, daß die venia legendi nur für das gesamte Gebiet der deutschen Philologie erworben werden kann." 272 Mit diesem Bescheid widersprach die Fakultät ihrer eigenen Praxis, denn bereits 1879 hatte sich Franz Muncker dafür habilitiert. 273 Pauls Urteil zu Borinskis Arbeiten fiel sehr differenziert aus: Während "Die Poetik der Renaissance" ihm selbst schon gute Dienste geleistet habe, betrachte er die "Grundzüge der artikulierten Phonetik" als mißlungen, da der Verfasser sich auf abstrakte, großartig klingende Sätze beschränke, die jedoch inhaltsleer seien. Über "Baltasar Gracian und die Hoflitteratur in Deutschland" sei ihm keine genaue Beurteilung möglich, da er die spanische Literatur zu wenig kenne. 274 Da Muncker und Breymann sich sehr für Borinski einsetzten, wurde der Kandidat dennoch zur Probevorlesung zugelassen.275 Allerdings hatte die Fakultät beschlossen, "seine venia legendi [...] auf das Fach der neueren Literaturgeschichte zu beschränken." 276 Mit diesem Schritt nahm die Fakultät ihre eigene Forderung von vor einem Jahr zurück, die venia le-
270
Vgl. Kap. 3.3.1. UAM Ο I 73, Borinski an Fak., 3.11.1892 . - Vgl. auch Kap. 2.3. 272 Ebd., Sitz.prot., 23.11.1892. 273 Vgl. Kap. 2.4.1.2. 274 Vgl. UAM Ο I 73, Zirkular, 20.7.1893, Votum Paul (18.7.1893). 275 Vgl. ebd., Votum Muncker (30.7.1893) und Votum Breymann (26.10.1893). Thema: Die Vorläufer Opitzens in den Reformbestimmungen auf dem Gebiete der deutschen Dichtung (vgl. UAM Ο I 74, Prot. Abhaltung u. Vorbereitung der Probevorlesung, o.D.). 276 UAM Ο I 74, Sitz.prot., 20.11.1893. 271
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
57
gendi nur für die Deutsche Philologie zu erteilen. 277 Außerdem legte sie Wert darauf, die Frage von Borinskis Religionszugehörigkeit - jüdisch oder evangelisch - eindeutig zu klären, was eine antisemitische Tendenz in Personalfragen verrät. 278 Karl Borinski wurde schließlich am 24. März 1894 als Privatdozent in die L M U aufgenommen. 279 1905 zum außerordentlichen Professor befördert, blieb Borinski zeitlebens an der Münchner Hochschule. 280 Ludwig Fränkel bewarb sich 1893 um die venia legendi für Literaturgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der neueren germanischen Literaturen. 281 Die eingereichte Untersuchung "Shakespeare und das Tagelied" war bereits als Druckschrift erschienen. Die Fakultät wollte "auf Grund eines mündlichen Berichtes des Prof. Dr. Paul" den gewünschten Dispens jedoch nicht gewähren; außerdem monierte sie, "daß Dr. Fränkel gleichzeitig seine Habilitation an der Kgl. Technischen Hochschule in München betrieben hat." 282 Unerwähnt blieb hier Fränkels israelitische Konfession, die bei der Ablehnung seines Gesuchs vermutlich mit eine Rolle spielte. 283 Der Habilitationsakt von Friedrich Panzer ging völlig reibungslos vonstatten - von seinem Gesuch im April 1894 bis zur Ernennung durch das Ministerium vergingen keine vier Monate. 284 Pauls Gutachten zu Panzers "Lohengrinstudien" fiel zwar kurz, aber recht positiv aus; er sprach sich "unbedenklich" für die Zulassung des Verfassers aus. 285 Dieser hatte sich noch vor der Bewerbung bei der Fakultät an den Ordinarius gewandt und ihm das 277
Vgl. weiter oben. "Wann und wo ist der Verfasser zur evangelischen Kirche übergetreten? Davon steht nichts im Lebenslauf, während das Abgangszeugniss ihn als jüdischen Glaubens bezeichnet." (UAM Ο I 73, Zirkular, 20.7.1893, Votum Kuhn, o.D.). - "[...] nachdem wir in den letzten Semestern bereits zwei Sanskritisten jüdischen Glaubens zugelassen haben, müßte es doch zweimal überlegt werden, einem vierten Bewerber die Venia zu verleihen." (ebd., Votum Wölfflin, o.D.). - Am 9. Nov. erbat Dekan Grauert von Borinski einen Nachweis seiner Religionszugehörigkeit (vgl. UAM Ο I 74, Fak. an Borinski, 9.11.1893). 279 Ebd., Senat an Fak., 30.3.1894 (ME vom 24.3.1894). 280 Vgl. UAM Ο I 86, Senat an Fak., 22.12.1905 (ME vom 20./22.12.1905). 281 Vgl. UAM Ο I 74, Habil.gesuch Fränkel, 14.11.1893. 282 Ebd., Sitz.prot., 20.11.1893. - Diese Information lag Dekan Grauert aus nicht angegebener Quelle vor. 283 Vgl. ebd., Habil.gesuch Fränkel, 14.11.1893, Beilage: Lebenslauf. 284 Vgl. UAM Ο I 74, Panzer an Fak., 19.4.1894. - Panzer bewarb sich um die venia für "germanische Philologie", was in den folgenden Schriftwechseln stillschweigend in "deutsche Philologie" geändert wurde. - Vgl. ebd., Senat an Fak., 6.8.1894 (ME vom 3.8.1894). - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikon teil. 285 Vgl. UAM Ο I 74, Zirkular, 21.4.1894, Gutachten Paul (24.4.1894). 278
5'
58
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Manuskript zur Stellungnahme übersandt. 286 Damit schien die Angelegenheit bereits vor dem offiziellen Habilitationsakt geregelt, womit dieser zur bedeutungslosen Formsache herabsinkt. Aus gesundheitlichen Gründen wechselte Panzer 1897 nach Freiburg, 1906 ging er nach Frankfurt am Main. Auch von dort blieb er in Kontakt mit Hermann Paul, was zahlreiche Briefe in Pauls Nachlaß beweisen. 287 Im Juni 1894 suchte Roman Woerner um Erteilung der "venia legendi für angewandte oder prakt. Aesthetik" nach. 288 Paul befand, daß Woerner die venia legendi "entweder für Ästhetik oder für (deutsche) Literaturgeschichte anstreben" müsse. 289 Schließlich lehnte die Fakultät Woerners Habilitationsschrift "Über die Ausdeutung des Hörbaren in der Malerei" ab. 290 Bei seiner neuen Abhandlung "Über Henrik Ibsen Jugenddramen" kritisierte Paul die mangelnde Selbständigkeit der Arbeit, lobte jedoch die sorgfältige Arbeitsweise des Verfassers und die gelungene Darstellung. Zur Frage, ob sich Woerner für "Literaturwissenschaft" habilitieren könne, meinte er: "Für den Fall, daß die Fakultät sich für Zulassung entscheidet, möchte ich beantragen, daß das Fach so bestimmt wird, wie es Herr Dr Wörner selbst gewünscht hat. Das Bedenken, welches der Herr Dekan dagegen zu haben scheint, kann ich nicht teilen. Das Schema von Fächern, welches für die Promotion aufgestellt ist, kann nicht auch für die Habilitation maßgebend sein, und ist es auch schon früher nicht gewesen."291 Am 10. August 1895 wurde Woerner als Privatdozent aufgenommen und ging 1901 als Extraordinarius nach Freiburg/Breisgau. 292 Von 1916 bis 1925
286 "Ich gehe mit der Absicht um, mich im Laufe dieses Sommers in München für Germanistik zu habilitieren. Da ich über einige einschlägliche Dinge gerne vorher Ihren Rat hören möchte, beabsichtige ich Ende dieser od. Anfang der nächsten Woche nach München zu reisen u. bitte Sie um gefällige Mitteilung, ob ich Sie zu dieser Zeit dort treffe u. zu welcher Stunde ich wohl, ohne zu stören, bei Ihnen vorsprechen könnte." (UB M Nachlaß Paul, Panzer an Paul, 5.3.1894) 287 Vgl. ebd., B. Briefe: Friedrich Panzer. 288 i«£s w ä,. e m e j n Wunsch, für meine Vorlesungen Gegenstände zu wählen auf dem Gebiete: der Dramaturgik (Dramaturgie & Technik des sophokleisehen, shakespearischen, modernen Dramas); der Metrik (neuhochdeutsche Verskunst); der Poetik (Methodologie der Poetik); der Stilistik (neuhochdeutscher Prosastil, Deutsche Erzählungskunst von Goethe bis auf Gottfried Keller." (vgl. UAM Ο I 74, Woerner an Fak., 5.6.1894). - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikon teil. 289 Vgl. ebd., Zirkular, 7.6.1894, Gutachten Paul (28.6.[1894]>. 290 Vgl. ebd., Sitz.prot., 16.7.1894. 291 Vgl. UAM Ο I 75, Zirkular, 7.6.1895, Gutachten Paul (24.6.1895). 292 Vgl. ebd., Senat an Fak., 14.8.1895 (ME vom 10.8.1895). - Probevorlesung am 25.7.1895: Über Molières Misanthrop (vgl. ebd., Prot.).
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
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lehrte er als Honorarprofessor wieder in München. Danach folgte er einem Ruf als Ordinarius nach Würzburg. A m 21. Mai 1899 teilte das Ministerium dem Senat mit, daß Friedrich von der Leyen zum Privatdozenten für germanische Philologie ernannt worden sei. 293 Als Habilitationsschrift hatte er "Die Märchen in den Göttersagen der Edda" vorgelegt. Das Thema seines Probevortrags hatte "Anfänge des Minnesangs" gelautet. 294 1908 wurde von der Leyen zum außerordentlichen Professor befördert. Ab dem SS 1912 erhielt er einen Lehrauftrag für germanische Volkskunde, insbesondere Mythologie, Sagen- und Märchenforschung. 295 1920 bis 1937 war er Ordinarius in Köln und kehrte 1946 als Honorarprofessor an die L M U zurück. 296 Ebenfalls für germanische Philologie wollte sich Friedrich Wilhelm habilitieren. 297 Von seinem Gesuch bis zur Aufnahme als Privatdozent im August 1905 dauerte es keine vier Monate. 298 Seine Habilitationsschrift untersuchte "Die mittelhochdeutsche Thomas-Apostellegenden". Für die Probevorlesung hatte der Kandidat das Thema "Die Frage nach den Quellen von Wolframs Parzival" erlöst, und die Fakultät "befriedigte der teilweise frei gehaltene Vortrag inhaltlich recht wohl." 2 9 9 Seit 1908 Extraordinarius, nahm Wilhelm 1920 einen Ruf nach Freiburg an. Ähnlich reibungslos verlief das Habilitationsverfahren von Julius Petersen, der im Februar 1909 sein Gesuch einreichte. 300 Seine Abhandlung zum "Rittertum in der Darstellung des Johannes Rothe" beurteilte Paul als "wertvollen Beitrag zur Kulturgeschichte des Mittelalters". 301 Da auch das Kolloquium und die Probevorlesung positiv endeten, trat Petersen am 9. Mai 1909 als Privatdozent für Deutsche Philologie in die L M U ein. 3 0 2 1 9 1 3 ging er
293
Vgl. UAM E II N, MInn an Senat, 21.5.1899. - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 294 Vgl. UAM E II N, Fak. an Senat, 29.4.1899. 295 Vgl. Kap. 2.4.3. 296 Vgl. Kap. 2.7. 297 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 298 Vgl. UAM E II N, Habil.gesuch Wilhelm, 4.5.1905; vgl. ebd., ME, 18.8.1905. 299 Ebd., Fak. an Senat, 20.7.1905. - Probevorlesung am 19.7.1905. 300 Vgl. UAM Ο I 89, Habil.gesuch, 7.2.1909. - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 301 Ebd., Zirkular, 13.2.1909, Gutachten Paul (17.2.1909). 302 Vgl. ebd., Prot. Koll. (11.3.1909) und Probevorlesung (24.4.1909, Thema: Schillers Verhältnis zu Shakespeare). - Vgl. auch UAM E II N, Fak. an Senat, 26.4.1909.
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
- mittlerweile außerordentlicher Professor - als Ordinarius nach Basel, später nach Frankfurt/Main und Berlin - hier als Nachfolger von Erich Schmidt. Nur ein knappes Jahr lehrte August Lütjens in München, nachdem er am 20. September 1912 zum Privatdozenten für germanische Philologie ernannt worden war. 303 Lütjens verunglückte im August 1913 tödlich in den Dolomiten. Der letzte Habilitand während Pauls Amtszeit war Otto Maußer, 304 Am 16. August 1915 erreichte er die venia legendi für "deutsche Philologie, mit besonderer Berücksichtigung der Mundartenkunde und Lexikographie". 305 Damit stand er in der Tradition der Mundartenforschung, die in München mit Schmeller ihren Anfang genommen hatte. 306 Hermann Paul bewertete Maußers Habilitationsschrift "Die Apokope des mhd. -e im Altbairischen mit besonderer Berücksichtigung der Mundart von Grafenau im bayerischen Wald" zwar als "etwas sehr breit geraten", aber doch als "äusserst wertvoll". 307 Maußer wurde 1920 zum außerordentlichen Professor befördert und ging 1938 an die Universität in Königsberg.
2.4.1.2. Franz Muncker (1896) Der Name Franz Muncker ist fest mit der Münchner Universität verbunden, er repräsentiert eine spezifisch Münchner Karriere. Sein Lehrer Michael Bernays hatte ihn der neueren deutschen Literaturgeschichte zugeführt. In dieser Diszplin wurde er als erster Student in München promoviert. 308 Nach der Habilitation zwei Jahre später blieb er mehr als zehn Jahre in der Position eines Privatdozenten. 309 A m 19. Mai 1889 suchte Muncker beim Senat um Anstellung als außerordentlicher Professor nach, wozu die Fakultät Stellung nehmen sollte. 310 Inner-
303
Vgl. BayHStA MK 17851, MInn an Senat, 20.9.1912 (Ab.). - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 304 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 305 Vgl. UAM E II N, ME, 16.8.1915; Ab. auch in: BayHStA MK 35595 und in UAM Ο II 2. 306 Vgl. Kap. 2.2.3.1. 307 UAM Ο II 2, Zirk., 30.5.1914, Gutachten Paul (18.6.1914). - Die Arbeit hatte mehr als 2000 Seiten. 308 Vgl. Kap. 2.2.3.4. 309 Vgl. UAM E II 644, ME, 26.3.1879; zum Habil.verfahren vgl. UAM Ο I 58 und UAM Ο I 59 sowie Kap. 2.2.3.4. 310 Vgl. UAM E II 644, Senat an Fak., 22.5.1889.
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
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halb der Fakultät war ein Extraordinariat für Muncker bereits am 1. Mai abgelehnt worden, da kein "sachliches Bedürfnis" bestünde. Inzwischen war man allerdings der Meinung, "daß es sich bei der Beförderung eines Privatdozenten zum Extraordinarius nicht lediglich darum handeln könne, ob ein absolutes sachliches Bedürfnis vorhanden sei, sondern daß die Universität auch andere schwerwiegende Gesichtspunkte ins Auge fassen müsse." In den Interessen der Universität liege es nämlich, "tüchtige Privatdozenten" zu fördern, weshalb man Muncker als Extraordinarius vorschlug. 311 Mit dieser Argumentation wich die Fakultät vom üblichen Schema ab. Statt auf sachliche Notwendigkeiten Rücksicht zu nehmen, wollte man bewährten Wissenschaftlern einen Aufstieg ermöglichen und sie auf diese Weise an der Universität halten. Diese Schlußfolgerung ist - obwohl nicht explizit fixiert eindeutig. Die Universität achtete darauf, die wissenschaftliche Elite von morgen aus den eigenen Reihen zu rekrutieren. Dies konnte aber nur gelingen, wenn der Nachwuchs nicht zu lange auf der untersten Sprosse der Karriereleiter (sprich: Privatdozentur) ausharren mußte, die in finanzieller Hinsicht mehr als unsicher war. 312 Ob bei Munckers Beförderung zum Extraordinarius im Juni 1890 diese Gründe tatsächlich eine Rolle spielten, ist zweifelhaft. 313 Schließlich verging bis dahin mehr als ein Jahr. Plausibler ist der Zusammenhang mit dem seit März verwaisten Lehrstuhl von Michael Bernays. 314 Sein Nachfolger wurde allerdings auf ein Extraordinariat mit einem Gehalt von 3180 Mark zurückgestuft. An mangelnder Bewährungszeit konnte es nicht gelegen haben. Vermutlich sollte Muncker alle Stufen einer Universitätskarriere absolvieren. In der Fakultätssitzung vom 11. Mai 1895 stand erstmals wieder das Ordinariat für die deutsche Literatur zur Debatte. Neben der Tatsache, daß dieses Fach bereits einmal von einem Ordinarius vertreten worden war, hob die Fakultät auch die Persönlichkeit Munckers hervor, "der ein beliebter und erfolgreicher Lehrer ist und mit seinen literarischen Arbeiten eine ehrenvolle Stelle unter seinen Fachgenossen einnimmt." 315 Trotzdem verging bis zu Munckers Ernennung zum Ordinarius der "neueren, insbesondre der deutschen Literaturgeschichte" (Gehalt: 4560 Mark) nochmals ein Jahr - Muncker mußte in München viel Geduld aufbringen. 316
311
Vgl. ebd., Senat an MInn, 29.5.1889. Vgl. Busch 1959, v.a. S.47-50 und passim. 313 Vgl. UAM E II 644, Dekret, 21.6.1890. 314 Bernays wurde am 16.3.1890 aus dem bayerischen Staatsdienst entlassen (vgl. UAM E II 17a2, 11.2.1890). 315 Vgl. UAM Ο I 75, Sitz.prot., 11.5.1895. 316 Vgl. UAM E II 644, Dekret, 25.6.1896; UAM Ο I 76, Senat an Fak., 28.6.1896. 312
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Ab 1897 übernahm er neben H. Paul die Aufgabe des zweiten Seminarvorstands - ein weiterer Beweis für den Ausbau des Instituts. 317 Später wechselten sich Muncker und Carl von Kraus als Seminarvorstand bzw. geschäftsführender Direktor ab. 318 1893 wurde die Germanistik an der L M U also durch einen Ordinarius und einen Extraordinarius repräsentiert. Aus demselben Jahr ist ein Gutachten überliefert, das die Einrichtung einer weiteren außerordentlichen Professur vorschlägt. 319 Der anonym gebliebene Verfasser wollte damit den Veranstaltungskatalog der Deutschen Philologie vergrößern. Als Vorbilder hatte er die Universitäten von Leipzig, Halle, Bonn und Berlin vor Augen. Dieser Vorstoß in Richtung auf einen weiteren Ausbau des Instituts blieb jedoch ohne unmittelbare Konsequenzen. Personelle Verstärkung brachten aber einige Privatdozenten, die sich während Munckers Ordinariat habilitierten. Als Erstgutachter war er an sechs Verfahren (Unger, Kutscher, Strich, Borcherdt, Janentzky, Rehm) beteiligt. Rudolf Unger bewarb sich im Oktober 1904 um die venia legendi für neuere Literaturgeschichte. 320 Seine Abhandlung über "Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens" wurde von der Fakultät "einstimmig" angenommen. Da auch das Kolloquium und die Probevorlesung positiv verliefen, wurde Unger am 17.6.1905 als Privatdozent in die L M U aufgenommen. 321 1915 folgte er - mittlerweile zum außerordentlichen Professor befördert - einem Ruf als Ordinarius nach Basel. Das Habilitationsverfahren von Artur Kutscher dauerte länger als ein Jahr, da der Kandidat das Kolloquium einmal wiederholen mußte. 322 Die Habilitationsschrift über "Hebbels Kritik des Dramas" fand trotz einiger Kritikpunkte Munckers Billigung, wobei er besonders die "streng geschichtliche Metho-
3,7 Vgl. UAM Sen. 64a, ME, 8.5.1897. - Gleichzeitig wurde Hermann Paul zum 1. Seminarvorstand ernannt. 318 Vgl. UAM E II N, ME, 26.2.1917. - Kraus ab 1.10.1917 Mitvorstand des Seminars für Deutsche Philologie. 319 Vgl. UAM Ο I 73, ohne Verfasser, Ort und Datum. 320 Vgl. UAM E II N, Fak. an Senat, 31.5.1905, darin Habil.gesuch erwähnt. - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 321 Vgl. ebd., Koll.: 6.2.1905; Probevorlesung: 30.5.1905 (Thema: Die Bedeutung des Pietismus für die deutsche Literatur). - Vgl. ebd., Dekret, 17.6.1905 (in Ab. beim Schreiben MInn an Senat). 322 Vgl. UAM Ο I 86, 15.11.1906 und 2.5.1907. - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil.
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
63
de" Kutschers lobte. 323 Nach dem erfolgreichen Probevortrag trat Kutscher am 15. Juni 1907 als Privatdozent für neuere Literaturgeschichte in die L M U ein. 3 2 4 Er blieb zeitlebens in München, wo er sich vor allem als Theaterwissenschaftler einen Namen machte. 325 Ende 1909 reichte Fritz Strich sein Habilitationsgesuch ein, zusammen mit der Abhandlung "Die Mythologie von Klopstock bis Wagner". 326 Muncker wertete die Arbeit in seinem sehr ausführlichen Gutachten als Beweis für "scharfen, philologisch geschulten Verstand und sorgsam prüfende Kritik". 3 2 7 Nach erfolgreich absolviertem Kolloquium und Probevortrag wurde Strich am 6. Juni 1910 zum Privatdozenten für neuere Literaturgeschichte ernannt. 328 1929 wechselte Strich, der 1915 zum außerordentlichen Professor befördert worden war, als Ordinarius an die Berner Universität. Hans Heinrich Borcherdt hatte sich bereits Anfang 1913 an der L M U habilitieren wollen. 329 Er war jedoch einer Empfehlung der Fakultät gefolgt und hatte sein Gesuch zurückgezogen. 330 Als er es zwei Jahre später erneuerte, reichte er eine neue Arbeit mit dem Thema "Augustus Buchner und seine Bedeutung für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts" ein. Sie wurde von der Fakultät akzeptiert, und Borcherdt trat nach Kolloquium und Probevorlesung als Privatdozent für neuere deutsche Literaturgeschichte in die Universität ein. 3 3 1 Bis auf einige Lehrstuhl Vertretungen, Gastprofessuren und einer kurzen Ordinariatszeit in Königsberg blieb Borcherdt in München, wo er 1947 sogar Ordinarius wurde. 332 Neben Kutscher war er zudem maßgeblich am Aufbau des theatergeschichtlichen Instituts beteiligt. 333
323 324
Ebd., Zirkular, 26.4.1906, Gutachten Muncker (10.6.1906). Vgl. ebd., Prot. Probevortrag, 16.5.1907, Thema: Die Anakreontik in Deutsch-
land.
325
Vgl. Kap. 2.4.2. Vgl. UAM Ο I 90, Habil.gesuch Strich, o.D. (Eingangsdatum: 10.12.1909). Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 327 UAM Ο I 90, Zirkular, 10.12.1909, Gutachten Muncker (7.2.1910). 328 Vgl. ebd., Prot. Koll. (7.3.1910 ) und Probevortrag (12.5.1910). - Vgl. ebd., Rektorat an Fak., 6.6.1910; vgl. auch UAM E II N. 329 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 330 Vgl. UAM Ο II 2 Habil., Zirkular, 30.1.1915. - Habil.schrift: Otto Ludwigs Jugendnovellen und ihr Verhältnis zur Romantik. 331 Vgl. ebd., Koll.: 9.3.1915, Probevorlesung: 10.5.1915. 332 Vgl. Kap. 2.7. 333 Vgl. Kap. 2.4.2. 326
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Das Habilitationsverfahren von Christian Janentzky dauerte insgesamt fast ein Jahr. 334 Janentzky hatte eine Abhandlung über "J. C. Lavaters Sturm und Drang im Zusammenhang seines religiösen Bewusstseins" eingereicht. Nachdem sich Muncker "unbedenklich" für die Zulassung ausgesprochen hatte, konnte der Kandidat zu Kolloquium und Probevorlesung antreten. 335 Da beides positiv verlief, wurde Janentzky am 12.8.1916 Privatdozent für deutsche Literaturgeschichte in München. 336 Bei Walther Rehm war Franz Muncker zwar noch als Erstgutachter beteiligt, aber das Habilitationsverfahren wurde erst unter seinem Nachfolger abgeschlossen.337 Als Habilitationsschrift legte Rehm eine Untersuchung zum "Todesgedanken" in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik" vor. Muncker beurteilte die Arbeit als Beweis für Rehms "außerordentlich weite gründliche Belesenheit und selbständige Forschung". 338 Da Rehm das Kolloquium im Juni 1926 nicht bestand, mußte er im folgenden Semester nochmals antreten. 339 Zu diesem Zeitpunkt war der Lehrstuhl für deutsche Literaturgeschichte bereits verwaist, was den Fortgang des Verfahrens bis zur Wiederbesetzung verzögerte. Eine gesicherte Position besaß das Fach mit zwei Ordinarien und mehreren Privatdozenten bzw. Extraordinarien in personeller Hinsicht. Was die Unterbringung anging, brachte die Zeit nach der Seminargründung einen Fortschritt. Hatte man sich am Anfang noch mit einem einzigen Raum begnügen müssen, verfügte man jetzt in der Adalbertstraße über zwei Zimmer im Erdgeschoß, ein Direktionszimmer und einen Arbeitsraum, in dem auch die Seminarbibliothek untergebracht war. Die finanzielle Ausstattung nahm ebenfalls zu. 1900/01 stieg der Etat von 300 auf 500 Mark, 1910 waren es schon 800 Mark. 3 4 0 Mit einer Reihe von Senatszuschüssen wurden ein Grundstock an Primär- und Sekundärliteratur für die Bibliothek angeschafft und ein eigener Bibliothekar angestellt. Diese Verbesserungen gingen i.d.R. auf Initiativen der Seminarvorstände zurück, die damit einen Beitrag zum Ausbau des Instituts leisteten.
334 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 335 Vgl. UAM Ο II 2 Habil., Zirkular, 24.7.1915, Gutachten Muncker (2.11.1915). 336 Vgl. ebd., Koll.: 11.12.1915, Prot. Probevorlesung: 15.7.1916 (Thema: Die Anfänge der deutschen Poetik im 18. Jahrhundert). - Vgl. UAM Ο I 96, ME, 12.8.1916. 337 Vgl. Kap. 2.4.1.4. - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikon teil. 338 UAM Ο Ν Habil., Zirkular, 4.12.1925, Gutachten Muncker (22.3.1926). 339 Vgl. ebd., Prot. Habil.akte Rehm, II. Probevortrag mit Koll., 4.6.1926. 340 Vgl. UAM Sen. 64a, ME, 16.3.1910.
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
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2.4.1.3. Carl von Kraus (1917) Bereits am 27. April 1914 hatte Prof. Paul bei der Fakultät aus gesundheitlichen Gründen um teilweise Befreiung von seinen Lehrverpflichtungen gebeten. 341 Im Interesse seines Fachs wollte er es dem Staatsministerium überlassen, sofort einen geeigneten Nachfolger für ihn zu suchen. Die Fakultät lehnte es geschlossen ab, "auf den von Hrn. Geheimrat Paul berührten Gedanken einer ev. Neubesetzung der germanistischen Professur gegenwärtig einzugehen." Gleichzeitig brachte sie zum Ausdruck, "wie sehr es im Interesse der Fakultät wie der genannten Universität liegt, einen Forscher von der eminenten wissenschaftlichen Bedeutung Pauls unserer Hochschule zu erhalten." 342 Zwei Jahre später wiederholte Paul sein Gesuch, dem diesmal stattgegeben wurde. 343 Prof. Paul wurde ab 1. Oktober 1916 von seinen Vorlesungs-Verpflichtungen befreit, das bisherige Gehalt in Höhe von 10.840 Mark sowie Titel und Rang eines Königlichen Geheimen Rathes wurden beibehalten. 344 Zur Regelung der Nachfolgerfrage trat am 26. Mai und am 2. Juni 1916 eine Kommission zusammen, gebildet von den Herren Paul, Kuhn, Muncker, Streitberg und Vollmer. 3 4 5 Die Liste der in Frage Kommenden war recht umfangreich: Kraus, Schröder, Kauffmann, Meissner, Siebs, Panzer, Golther, Michels, Saran, Zwierzina und Halm. Bei der ersten Beratung einigte man sich auf Kraus sowie auf Kauffmann und Saran, dann auf Panzer und Zwierzina, jeweils pari passu. In der Sitzung am 2. Juni lagen bereits die entsprechenden Gutachten über die Fähigkeiten der Kandidaten als Wissenschaftler und Lehrer vor. Über Carl von Kraus hieß es zusammenfassend: "In Bezug auf Exaktheit und Feinheit in der kritischen Behandlung mittelhochdeutscher Texte steht er unter den jetzigen Germanisten unübertroffen da." Den an ihn ergangenen Ruf nahm Kraus am 19. Oktober 1916 an. 346 König Ludwig III. unterzeichnete das Ernennungsdekret am 26. Februar 1917, wirksam wurde es zum 1. Oktober desselben Jahres, also genau ein Jahr nach Pauls Emeritierung. Als Gehalt wurden 14.000 Mark festgesetzt. 347 Zum glei-
341
Vgl. UAM E II 647, Gesuch Paul. Ebd., Fak. an Senat, 2.5.1914. 343 Vgl. ebd., ME, 6.5.1916. 344 Vgl. ebd., Dekret, 8.8.1916. 345 Vgl. UAM Ο I 96, jeweils Sitz.prot. 346 Vgl. UAM Ο I 97, Kraus an Dekanat. 347 Vgl. UAM E II N. - 12.000 M Grundgehalt, 2.000 M Gehaltsvorrückungen Außerdem wurde Kraus zum Königl. Geh. Hofrat ernannt. 342
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2. Der Institutionalsierungsprozeß der Deutschen Philologie
chen Zeitpunkt übernahm Kraus das Amt des Mitvorstands des Seminars für Deutsche Philologie. 348 In seine Amtszeit fiel nur das Habilitationsverfahren von Eduard Hartl, den der Ordinarius jedoch eifrig und effektiv förderte. 349 Auf seine Fürsprache hin hatte Hartl im Mai 1925 die Stelle eines Hilfsassistenten am Deutschen Seminar angetreten. 350 Noch im selben Jahr setzte Kraus sich für die Habilitation seines ehemaligen Wiener Schülers ein. 3 5 1 Über die Habilitationsschrift "Die Textgeschichte des Wolframischen Parzival, I. Teil" fertigte Kraus ein glänzendes Gutachten an: "Bei ausgezeichneten Leistungen kann sich die Kritik kurz fassen. Nur eine echte Philologennatur konnte die Unsumme von entsagungsvoller Kleinarbeit, die schon in diesem ersten Teile steckt, auf sich nehmen. Der Verf. meistert die schier unübersehbare Fülle von Einzelheiten vortrefflich, seine kritische Schärfe durchleuchtet nicht nur die verwickelten Verhältnisse, sondern erstreckt sich auch auf seine eigenen Aufstellungen, indem er überall hervorhebt, inwieweit er sie für endgültig, inwieweit er sie für vorläufig richtig betrachtet. Neben Scharfsinn zeigt sich Sinn für das Natürliche, neben der Betrachtung des Details der Blick für die Perspektive. So ist seine Arbeit ein bedeutungsvoller Anfang auf einem allzulange unbebauten Gebiete [...]. 352 Auch die folgenden Anforderungen erfüllte der Kandidat bestens, so daß er am 24. April 1926 zum Privatdozenten für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität ernannt wurde. 353 Eduard Hartl wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Nachfolger seines Lehrers und Förderers Carl von Kraus berufen. 354
348
Neben Franz Muncker. Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 350 Vgl. UAM E II N, ME, 25.3.1925. - Vgl. dazu Hartls Briefe an Kraus vom 24.2.1924, 8.1., 2.3., 8.3., 16.3., 9.4. und 17.4.1925 (StB Krausiana I). - Vgl. auch folgende Bestätigung von Kraus, die Hartl vorlegte, um eine Beihilfe zur Führung eines doppelten Haushalts zu erlangen: "Ich bestätige die vorstehenden Angaben vollinhaltlich, insbesondere auch, dass Dr. Hartl durch mich veranlasst wurde, seine Hamburger Stelle mit der Hilsfassistentur am Seminar für Deutsche Philologie zu vertauschen." (BayHStA MK 407/3186, 8.7.1925) 351 Vgl. Rosenfeld 1954, S.l 11. 352 UAM Ο Ν Habil., Zirkular, 1.7.1925, Gutachten Kraus (12.6.1925). 353 Vgl. ebd., Probevortrag mit Kolloquium, 29.7.1925 (Thema: Das Stoffgebiet der Mittelhochdeutschen Literatur). - Probevorlesung, 7.11.1925 (Thema: Die Entwicklung des Nibelungenliedes). - Vgl. UAM E II N, ME, 24.4.1926 - Zusätzlich blieb Hartl bis 1.6.1935 Hilfsassistent am Seminar (vgl. BayHStA MK 43706). 354 Vgl. Kap. 2.7. 349
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
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Mit Kraus' Amtsantritt war eine bessere finanzielle und räumliche Ausstattung des Seminars verknüpft, von der er seine Zusage abhängig gemacht hatte. 3 5 5 A m 26. Februar 1917 teilte das Ministerium dem Senat mit: "7) Zum Ausbau des Seminars für deutsche Philologie, insbesondere zur raschen Ausfüllung der empfindlichsten Lücken, zur Anlage eines neuen Katalogs udgl. wird ein einmaliger Zuschuß von fünftausend Mark aus Mitteln der Ministerialreserve für Universitätszwecke bewilligt und in zwei Jahresbeträgen auf Antrag zur Verfügung gestellt. 8) Die jährliche Bedarfssumme des Seminars für deutsche Philologie wird von 800 M auf 1400 M erhöht. 9) Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vermehrung der Räume des Seminars für deutsche Philologie durch Hinzunahme der bisherigen Räume des englischen Seminars und zur Bereitstellung von neuen Räumen für das letztgenannte Seminar durch Auflassung des Hörsaals 261 [...] sind genehm."356 Mit diesem Bescheid erhöhte sich die Zahl der Seminarräume auf vier. Neben dem Vorstandszimmer gab es drei Bibliotheks- und Arbeitsräume mit 46 Plätzen. Der Bücherbestand war nach chronologischen und thematischen Gesichtspunkten geordnet (moderne Literatur; sprachwissenschaftliche und mittelalterliche Literatur; Sammlungen und Nachschlagewerke) und umfaßte 1926 genau 4485 Bände. 357 Die Verbesserung der finanziellen Situation des Seminars war ein beständiges Anliegen von Muncker und Kraus, die sich in der Seminarleitung abwechselten. Umfaßte das Budget 1920 1980 Mark, waren es 1922 bereits 10.000 Mark. Die Folgen der schweren Wirtschaftskrise von 1923 wirkten sich auch auf den Etat der Münchner Germanistik aus. 1924/25 betrug er 750 Reichsmark und wurde 1926 auf 1000 Reichsmark erhöht. 358
2.4.1.4. Walther Brecht (1927) Mit dem Tod Munckers am 7. September 1926 wurde es erneut erforderlich, einen Germanisten nach München zu berufen. Zu diesem Zweck nahm eine
355
Vgl. UAM Ο I 97, MInn an Senat, 27.10.1916. UAM E II N, ME. - R. A. Müller führt an, daß das Institut "um die Räume des englischen Seminars und des zweckentbundenen Hörsaals 261" vermehrt wurde (Müller 1980, S.239). Der Hörsaal 261 fiel jedoch dem Englischen Seminar als Ersatz für die an das Deutsche Seminar verlorenen Räumlichkeiten zu. 357 Vgl. Hartl 1926, S.l88. 358 Vgl. Tab. 4. 356
68
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Kommission am 25. Oktober ihre Arbeit auf. 359 A m 30. November legte sie ihre Ergebnisse der Fakultät vor, die daraufhin folgende Kandidaten für den Munckerschen Lehrstuhl benannte: "an erster Stelle Petersen, an zweiter Stelle Unger, an dritter Stelle pari passu 1) Brecht, 2) Bertram; ausserdem als nicht in eine Liste einordenbar Gundolf." 360 Außerdem griff man die Anregung der Kommission auf, den Lehrauftrag der Professur abzuändern in "für neuere deutsche Literaturgeschichte". Das Ministerium lehnte Petersen, Unger und Brecht ab, im Gespräch blieb nur noch Ernst Bertram. 361 Die Fakultät beauftragte den Dekan, sich für dessen Berufung nach München einzusetzen. Dabei war man sich bewußt, daß die Universität Köln alles unternehmen würde, um Bertram zu halten. In der Ordinariensitzung vom 6. Mai 1927 stand fest, daß Bertram den an ihn ergangenen Ruf definitiv abgelehnt hatte. Da Petersen für das Ministerium "aus finanziellen Rücksichten" nicht in Frage gekommen war, war man an Rudolf Unger herangetreten, der sich lange nicht festlegen wollte: "Nachdem dann Staatsrat Hauptmann in Berlin erfahren habe, daß Prof. Unger dem preußischen Kultusminister erklärt habe, einen Ruf nach München nicht annehmen zu wollen, sei die Berufung Prof. Ungers fallen gelassen und schließlich in korrektem Vorgehen des bayerischen Unterrichtsministeriums der Ruf an Prof. B r e c h t (Breslau) ergangen."362 Per Ministerial-Entschließung vom 30. Juni 1927 wurde Brecht ab 1. Oktober 1927 zum ordentlichen Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte und zum Mitvorstand des Seminars für Deutsche Philologie ernannt. Als Grundgehalt waren 12.000 Reichsmark veranschlagt. 363 Der Amtswechsel brachte erneut ein finanzielles Plus mit sich: Der einmalige außerordentliche Zuschuß in Höhe von 5.000 Reichsmark war für die Bibliothek der neueren Abteilung gedacht. Wenn das Ministerium Julius Petersen "aus finanziellen Rücksichten" abgelehnt hatte, so entspricht das nicht vollständig den Tatsachen. Vielmehr besteht ein Zusammenhang mit der geplanten Berufung von Carl von Kraus nach Berlin. Das preußische und das bayerische Ministerium kamen in einer
359
Vgl. UAM Ο III 4 1/2, Einladung zur Komissionssitzung an Becher, Berneker, Förster, v. Kraus, Oncken, Schwartz und Vossler; weitere Beratungen am 9. und 15.11.1926. 360 Vgl. ebd., Sitz.prot. 361 vgl. ebd., Prot. Sitzung der Ordinarien, 14.1.1927. 362 Vgl. ebd., Sitz.prot. 363 Vgl. UAM E II N, auch in UAM Ο I 14.
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
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"strengst vertraulichen" Korrespondenz überein, daß München auf den Ruf an Petersen, Berlin wiederum auf den Ruf an Kraus verzichtet. 364 Die Berufungsverhandlungen belegen, daß Brecht weder für das Ministerium noch für die Fakultät die erste Wahl gewesen war. Dabei hatte ein Gutachten über den Breslauer Ordinarius sehr positiv gelautet: "Der ungewöhnliche Lehrerfolg Brechts tritt auch nach Aussen hin zu Tage: in der warmen Anerkennung, mit der Studenten, Kollegen und die Oeffentlichkeit den von Wien Scheidenden bedachten, vor allem aber in der Tatsache, dass er dort vier Dozenten zurücklässt, die seine Schüler sind (Touaillon und Thalmann, Kindermann und Cysarz). Die Verschiedenheit ihrer Richtungen bekundet, wie mannigfaltig die Anregungen sind, die der feinorganisierte und für jede, nicht bloss für die literarische Kunst verständnisvolle Mann zu geben vermag. Die Universität würde an ihm einen hervorragenden Lehrer und einen ebenso methodisch wie ästhetisch gebildeten Forscher gewinnen."365 Soweit die Vorgänge, wie sie sich nach den Fakultäts- und Personalakten des Münchner Universitätsarchivs darstellen. Aus ihnen geht jedoch nicht hervor, welche Verbindungen der Vertreter der Altgermanistik auf inoffiziellem Weg anzuknüpfen versuchte. Carl von Kraus bat Rudolf Unger am 5. April 1927 brieflich, eine vom Ministerium befürwortete Einladung zu einer "Informationsreise" nach München anzunehmen. Auch wenn er betonte, daß er darin völlig mit der Fakultät konform gehe, blieb er hauptsächlich der Vertreter seiner eigenen Interessen: "Einstweilen möchte ich nur betonen, wie sehr die Fakultät und mir selbst daran gelegen ist, einen Mann von so strenger Wissenschaftlichkeit zu gewinnen. Dass unsere Art, die Dinge zu betrachten, verschieden ist, liegt z. T. in der Natur der Fächer begründet - ich gehöre nicht zu denen, die die ältere und neuere Literatur für die wissenschaftliche Behandlung als eine Einheit betrachten, - zum Teil in der Verschiedenheit der Anlagen und Neigungen. Aber ich habe die Sicherheit, dass der Ernst, mit dem wir arbeiten, die beste Gewähr bietet für ein gedeihliches Zusammenwirken, und ich bin überzeugt, dass jene Verschiedenheit für unsre Studenten ein höherer Gewinn wäre als wenn sie bei zwei ganz gleich gearteten Naturen in die Schule gingen. Die Fakultät ist wohl ganz einhellig der Meinung, dass es von äusserster Wichtigkeit ist, die Lehrkanzel für neuere dt. Lit.gesch. im Besitz eines ernsten Gelehrten zu sehen, der dem Schwabinger Geist keinerlei Konzessionen macht, seine Zuhörer zu
364
Vgl. BayHStA MK 403/3153, Bayer. KuMi an Preuß. KuMi, 3.11.1926; Preuß. KuMi an Bayer. KuMi, 19.11.126; Bayer. KuMi an Preuß. KuMi, 18.12.1926; Preuß. KuMi an Bayer. KuMi, 20.12.1926; Bayer. KuMi an Preuß. KuMi, 26.12.1926. 365 UAM Ο I 14, Gutachten ohne Angabe von Verfasser, Datum, Ort - Cysarz wurde Brechts Nachfolger nach seiner Zwangsemeritierung (vgl. Kap. 2.5.2.).
70
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
sich hinaufhebt, st. [= statt, M.B.] um flüchtiger Erfolge bei einer urteillosen lernunlustigen Masse wegen sich tagtäglich zum Parterreakrobaten zu erniedrigen." 366 Parallel zu Unger stand Kraus auch in Kontakt mit Walther Brecht, der seit Oktober 1926 an der Universität Breslau lehrte. Im Frühjahr 1927 häuften sich die Briefe von Brecht, in denen er unverhohlen sein Interesse an dem Ordinariat in München bekundete.367 Aus diesen Briefwechseln wird ersichtlich, daß die Muncker-Nachfolge auch Kreise außerhalb der Universität zog, wie Ernst Osterkamp in seinem Aufsatz rekonstruierte. 368 Er wies nach, daß Münchner Literaten - allen voran Thomas Mann sowie die Gruppen um Hugo von Hofmannsthal und Stefan George - offen Einfluß auszuüben versuchten. Dies "setzte voraus, daß die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst ihre Trennschärfe verloren hatten." 369 Damit wird auch die Frage nach der methodischen Orientierung berührt, die bei jeder Lehrstuhlbesetzung relevant i s t . 3 7 0 In Brechts zehnjährige Amtszeit fielen drei Habilitationsverfahren. Im Fall von Walther Rehm führte er es von seinem Vorgänger zu Ende. 371 Bei Johannes Alt war er für das gesamte Verfahren zuständig. Bei Edgar Hederer mußte es sein Nachfolger übernehmen, da Brecht zwangsemeritiert worden war. 372 Nachdem Brecht sich mit dem Habilitationsvorgang von Walter Rehm vertraut gemacht hatte, beantragte er Zulassung zur Probevorlesung, die der Kandidat erfolgreich bestand.373 A m 8. August 1928 trat Rehm als Privatdozent für neuere deutsche Literaturgeschichte in die L M U ein und wurde 1927 zum außerordentlichen Professor befördert. 1938 ging er als Ordinarius nach Gießen, 1943 nach Freiburg. Nach Kriegsende sollte Rehm als Ordinarius nach
366
StB Krausiana I, Kraus an Unger, 5.4.1927 (Duplikat - Fehler stillschweigend korrigiert). - Mit den letzten Zeilen spielte Kraus vermutlich auf Artur Kutscher an, der seine Kontakte zu Schwabinger Künstlern aus seiner eigenen Studentenzeit intensiv nutzte, um für seine zahllosen Hörer Autorenlesungen zu veranstalten. Kutscher war bei Kraus auch mit seinen theaterwissenschaftlichen Vorlesungen auf Widerstand gestoßen (vgl. Kap. 2.4.2.). 367 Vgl. Kap. 3.4.3. 368 Vgl. Osterkamp 1989. 369 Ebd., S.359. 370 Vgl. Kap. 3. 371 Vgl. Kap. 2.4.1.2. - Die Habil.schrift war akzeptiert, der Probevortrag mit Kolloquium zweimal absolviert. 372 Vgl. Kap. 2.5.2.3. 373 Vgl. UAM Ο Ν Habil., Prot. Habil.akte, 14.7.1928, Thema: Grundlagen und Hauptzüge der romantischen Literarhistorie.
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
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München zurückkehren. Er zog jedoch die Annahme des Rufs zurück, da er weitere Maßnahmen wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft befürchtete. 374 Den ersten Antrag auf Habilitation nach der Machtergreifung durch die Nazis stellte Johannes Alt im Juli 1937. 375 Noch vor dem offiziellen Gesuch hatte sich Alt an den neuen bayerischen Kultusminister Hans Schemm gewandt, "mir bei der Freilegung meiner Bahn Ihre Hilfe gewähren zu wollen". Obwohl Alt bereits im Oktober 1932 Brecht seine Habilitationsschrift übergeben habe, habe dieser noch immer nicht reagiert, wofür Alt "die mit der politischen Neuschöpfung notwendig verbundenen Uebergangsunklarheiten" verantwortlich machte. Abschließend charakterisierte er seinen geistigen Standort: "Niemals konnte mir unter diesen Umständen eine abgesperrte wissenschaftliche Ausbildung als Selbstzweck genügen. Immer ging es mir um den deutschen Menschen [...] Eine strenge Forschungsarbeit ist meine Habilitationsschrift über 'Grimm und den Simplicissimus', doch ist auch hier das geheime Leitmotiv und der wahre Stoff der deutsche Mensch und deutsches Schicksal, das sich mir hier von philologischer Seite her tief erschloß." 376 Aus den Akten ist nicht zu ersehen, ob sich der Kultusminister wirklich einschaltete. Auch Brechts Gutachten über Alts Habilitationsschrift befindet sich nicht bei den Personalakten. Dokumentiert ist dagegen Alts Probevorlesung im Februar und die Teilnahme an zwei Lehrgängen der Dozenten-Akademie im Herbst 1934. 377 Daraufhin wurde er im November 1934 zum Privatdozenten für neuere deutsche Literaturgeschichte ernannt. 378 1935 war Alt sogar als Nachfolger von Waither Brecht im Gespräch. 379 Ein Jahr später nahm er einen Ruf als Ordinarius in Würzburg an. 1939 wurde er vom Dienst enthoben. 380 Über sein weiteres Schicksal ist mir nichts bekannt.
374
Vgl. Kap. 2.7. Vgl. UAM E II N, Alt an Fak., 9.7.1933. - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 376 BayHStA MK 35350, Alt an Schemm, 25.6.1933. 377 Vgl. ebd., Einladung zur Probevorlesung, 24.2.1934, Thema: Die Verwandlung des Bildes vom Mittelalter von der Aufklärung bis zur Romantik. - 3. Dozentenlehrgang auf Burg Rieneck, Beurteilung durch W. Grundig (o.D.); 4. Lehrgang der Dozenten-Akademie Kiel-Kitzeburg, Beurteilung von Prof. Krieck (o.D.). 378 Vgl. ebd., KuMi an Rekt., 28.11.1934 (auch in UAM E II N). 379 Vgl. Kap. 2.6.2.2. 380 Wegen fortgesetzten Verbrechens nach § 175 a Z.3 StGB (erschwerte Unzucht mit Männern) zu einem Jahr Gefängnis verurteilt (vgl. BayHStA MK 35350, Oberstaatsanwalt am Landgericht Würzburg über Generalstaatsanwalt am Oberlandesgericht Bamberg an Justizmin. Berlin, 10.6.1939. - Die LMU München entzog ihm daraufhin den Doktorgrad (vgl. ebd., Rektor Broemser an Alt, 30.1.1940). 375
6 Bonk
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Im Januar 1937 reichte Edgar Hederer sein Habilitationsgesuch mit der Abhandlung "Mystik und Lyrik" ein. 3 8 1 Von Brecht, der am 1. Juli 1937 aus dem Lehrbetrieb ausscheiden mußte, befindet sich schon kein Gutachten mehr bei den Akten. Das Verfahren übernahm bis zur Neubesetzung des Lehrstuhls der Vertreter der älteren Abteilung, Erich Gierach, und dann Herbert Cysarz. 382
2.4.2. Theaterwissenschaft
innerhalb des Instituts für Deutsche Philologie
Für das WS 1909/10 kündigte der Privatdozent Artur Kutscher insgesamt drei Vorlesungen an. Eineinhalbstündig wollte er lesen über "Vortragskunst, Schauspielkunst und Regie mit praktischen Versuchen in Bestimmung des stilgerechten Ausdrucks und einer Einleitung über Sprechtechnik". Damit behandelte er als erster Dozent in München ein theaterwissenschaftliches Thema. 383 Dabei reichen die Anfänge der Theaterwissenschaft bis ins 18. Jahrhundert zurück, wenn man - wie Hans Knudsen - die ersten Darstellungen zur Geschichte des deutschen Theaters als Ausgangspunkt nimmt, die mit den Bemühungen um ein deutsches National-Theater verbunden sind. 384 Eingang in den Universitätsbetrieb fand die Theaterwissenschaft allerdings erst um 1900, und zwar zuerst in Berlin durch Max Hermann. 385 Obwohl auf seine Initiative 1923 ein Theaterwissenschaftliches Institut gegründet wurde, gab es den ersten Lehrstuhl erst 1943/44. In Köln führte Carl Niessen dieses Fach an der Universität ein und setzte es als Prüfungsfach im Doktorexamen durch. 386 1 921 eröffnete in Kiel das Institut für Literatur- und Theaterwissenschaft. Dieser Name zeigt programmatisch die Abhängigkeit der Theaterwissenschaft von der Germanistik, wie sie auch in München zu beobachten war. Artur Kutscher war seit 1907 Privatdozent für neuere deutsche Literaturgeschichte in München. 387 Schon als Schüler hatte er sich für die Bühne interessiert und sich auch schauspielerisch betätigt. 388 Daß er stets die Nähe zur Pra-
381
Vgl. UAM E II N, Lebenlsauf Hederer (o.D.). - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 382 Vgl. Kap. 2.5.2.1. und 2.5.2.3. 383 Eine Darstellung der TW in München reduzierte sich bislang auf chronologische Übersichten (vgl. TW in München 1975 und Laksberg 1976). Eine eigene Untersuchung wäre zu wünschen. 384 Vgl. Knudsen 1950. 385 Vgl. ebd., S.59. 386 Ebd., S.75. 387 Vgl. Kap. 2.4.1.2. 388 Vgl. Günther, Artur Kutscher, 1953, S.ll.
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
73
xis suchte, beweisen die zahlreichen Aufführungen des "Kutscher-Kreises", den seine Schüler bald um ihn bildeten. 389 Methodisch unterschied sich Kutscher von der Theatergeschichte des Max Hermann, im Zentrum seines Interesses stand der Mimus. 3 9 0 Theatergeschichte wollte er nur akzeptieren, wenn sie alle Zeiten und Völker einschloß. Um die anderen Kulturen kennenzulernen, unternahm er zahlreiche Exkursionen durch halb Europa. 391 In seiner Autobiographie hielt Kutscher fest, welche Überlegungen zur Bezeichnung "Theaterwissenschaft" für sein Fach führten: "Ich beriet [...] mit dem Direktor der Münchener Staatsbibliothek, Geheimrat Professor Leidinger, die Bezeichnung und glaubte zuerst 'Theaterwissenschaften' sagen zu müssen, wegen der notwendigen Nebenfächer, aber Leidinger verwies darauf, daß die junge Wissenschaft einen so festen, von anderen Wissenschaften unterschiedenen Kern habe, daß ihr der Charakter einer einheitlichen Wissenschaft auch äußerlich gegeben werden müsse. So blieben wir bei dem Namen 'Theaterwissenschaft'." 392 Obwohl Kutscher um die Bedeutung von Literatur- und Sprachkenntnissen für die Theaterwissenschaft wußte, wollte er sie enger an die Kunstwissenschaften anbinden. 393 Im Sinne einer Verselbständigung der neuen Disziplin strebte er ihre Loslösung von der Germanistik an. Deren Vertreter lehnten das neue Fach und seinen Dozenten ab. Das beweist die Stellungnahme von Franz Muncker, als der Universität eine Anfrage bezüglich des "theaterwissenschaftlichen Seminars" an der L M U vorlag: "Die Fakultät in aller Form mit diesem 'theatergeschichtlichen Seminar' zu behelligen geht am Ende doch etwas weit. Denn die Antwort an das Sekretariat, daß es ein solches Seminar nicht gibt und der Name widerrechtlich von den Studenten bei jener Aufführung gebraucht wird, haben Sie ja wohl schon erteilt. Etwas andres wäre es, wenn Sie als Dekan den Kollegen Kutscher zu sich kommen ließen und ihm die Ungebührlichkeit dieses Namens, die er mindestens geschehen ließ, wenn nicht gar veranlaßt, ernst vorstellten, auch darauf verweisen, daß es bei Besprechung in einer Fakultätssitzung nicht ohne schweren Tadel für ihn ablaufen würde. Ich würde ein solches Vorgehen von Ihrer Seite sehr begrüßen; in die Sitzung brauchte dann die Sache wohl gar nicht zu kommen. Ich persönlich möchte nicht gern deshalb mit Kutscher sprechen. Das weckt bei ihm höchstens die falsche Vorstellung, als ärgerte ich mich
389
Vgl. die Übersichten in Günther 1938, S.329f., und in Günther, Erfülltes Leben, 1953, S.215. 390 Vgl. Knudsen 1950, S.72. 391 Vgl. die Übersichten in Günther 1938, S.324-328, und in Günther, Erfülltes Leben, 1953, S.216. 392 Kutscher 1960, S.77. 393 Seine Doktoranden mußten z.B. als erstes Nebenfach Kunstgeschichte wählen (vgl. Knudsen 1950, S.74). 6*
74
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
über den Namensmißbrauch, der mich doch schließlich ganz kalt läßt. Andrerseits hat eine solche Rüge vom Dekan eine ganz andre Wirkung." 394 Von einer ähnlichen Abwehr des zweiten Ordinarius Carl von Kraus berichtet Artur Kutscher in seiner Autobiographie "Der Theaterprofessor". 395 Das sind typische Reaktionen der Vertreter eines etablierten Fachs, die in neuen Fächern keine Bereicherung des Lehrangebots, sondern nur zusätzliche Konkurrenz sehen. 396 1926 setzte sich das Fach auch offiziell durch mit der Gründung des Instituts für Theatergeschichte. 397 Die Leitung übernahm Hans Heinrich Borcherdt, der eine nichtplanmäßige außerordentliche Professur für neuere deutsche Literaturgeschichte und einen Lehrauftrag für Theaterwesen (seit WS 1921/22) innehatte. Kutscher, seit 1915 ebenfalls außerordentlicher Professor, war an der Organisation des Instituts überhaupt nicht beteiligt worden, was er rückblickend auf Carl von Kraus zurückführte. 398 Das Institut für Theatergeschichte bestand bis 1974 in Verbindung mit dem Seminar für Deutsche Philologie. Parallel zur Institutsgründung erfolgte die Verlagerung aus der Philosophischen Fakultät I I (Philologie und Kulturwissenschaften) in den Fachbereich 09 (Geschichte und Kunstwissenschaften), als die Gliederung in Fachbereiche die alte Fakultätsstruktur ablöste. Ein Extraordinariat für Theaterwissenschaft wurde erst 1961 errichtet, ab 1962 zum Ordinariat erhoben. Die Emanzipation dieser Disziplin von der Germanistik erlebte ihr Münchner Begründer nicht. Artur Kutscher, der nie zum ordentlichen Professor befördert worden war, starb am 29. August 1960 in München.
2.4.3. Volkskunde im Rahmen des Deutschen Seminars Für die Volkskunde fungierte die Germanistik ebenfalls als "Mutterwissenschaft". 399 Die Verquickungen betrafen sowohl die personelle als auch die institutionelle Ebene.
394
UAM Ο I 98, Muncker an Dekan Rehm, 16.3.1918. Vgl. Kutscher 1960, S.152. 396 Im weitesten Sinn kann dieses Verhalten auch als Widerstand von Wissenschaftlern gegen den wissenschaftlichen Fortschritt interpretiert werden (zu diesem Problem vgl. Barber 1972). 397 Vgl. BayHStA MK 43444, KuMi an Senat, 4.6.1926 (Ab.). 398 Vgl. Kutscher 1960, S.152f. - Zu Kutschers Beförderung vgl. UAM Ο I 95, Rektor an Fak., 2.2.1915 (ME vom 31.1.1915). 399 Brückner 1983, S.28. - Zur Volkskunde an der LMU liegen m.W. bislang nur zwei Veröffentlichungen vor, von denen die eine sehr knapp gehalten ist (Wimmer 395
2.4. Die Auf- und Ausbauphase (bis 1933)
75
Initiiert wurden volkskundliche Forschungen um 1900 von den VolkskundeVereinen, sie "bereiteten den Boden für eine Etablierung als wissenschaftliche Disziplin." 4 0 0 In München wurde 1902 der "Verein für Volkskunst und Volkskunde" gegründet. Als Leiter des Ausschusses für Volkskunde betätigte sich ab 1906 Friedrich von der Leyen, der sich 1899 an der L M U habilitiert hatte. 401 1908 erfolgte seine Ernennung zum außerordentlichen Professor der germanischen Philologie. Bereits seine Habilitationsschrift hatte sich mit dem Thema "Märchen" beschäftigt, das regelmäßig in seinem Veranstaltungskatalog wiederkehrte. 402 Zu seinen germanistischen Vorlesungen traten fast immer volkskundliche, z.B. "Übungen zur deutschen Mythologie" (SS 1900, WS 1903/04, 1916/17) oder "Deutsche Sagen" (SS 1904). Explizit genannt wurde die neue Fachrichtung in der Ankündigung "Deutsche Mythologie und Volkskunde" (jeweils vierstündig im WS 1907/08, 1909/10, 1911/12). Das Schriftenverzeichnis von der Leyens weist eine Reihe volkskundlicher Veröffentlichungen, insbesondere zur Märchenforschung, auf. 403 Unter anderem gab er gemeinsam mit Adolf Spamer ab 1914 die "Bayerischen Hefte für Volkskunde" heraus. 1912 erteilte das Kultusministerium antragsgemäß von der Leyen den "widerruflichen Lehrauftrag zur Abhaltung von Vorlesungen über Volkskunde, insbesondere Mythologie, Sagen- und Märchenforschung". 404 Die Fakultät hatte ihren Antrag dahingehend begründet, "dass Volkskunde dasjenige Gebiet ist, mit dem Herr Prof. von der Leyen selbständige Leistungen aufzuweisen habe, und dass hierauf bezügliche Vorlesungen eine willkommene Ergänzung zu den sonstigen an unserer Universität gehaltenen germanistischen Vorlesungen bieten." 405 1914 befürworteten Fakultät und Senat die Errichtung eines etatmäßigen Extraordinariats für Volkskunde, um von der Leyen in München zu halten. 406 Diesem Gesuch entsprach das Ministerium nicht, empfahl aber, den Antrag in der Finanzperiode 1916/17 zu erneuern. 407 Nachdem er mehrere Gastprofessuren in den USA innegehabt hatte, erhielt von der Leyen im Sommer 1920 einen Ruf an die neugegründete Universität Köln. Sein Bleiben in München machte er von einer bezahlten außerordentlichen
1983), die andere nur einen bestimmten Zeitabschnitt behandelt (Gilch/Schramka 1986). Es wäre zu wünschen, daß diese Lücke bald geschlossen würde. 400 Wimmer 1983, S.107. 401 Vgl. Kap. 2.4.1.1. 402 SS 1900, 1902, 1906, 1910, WS 1912/13, 1915/16, 1917/18, SS 1918. 403 Vgl. Glier 1963, S.491-516 (nur eine Auswahl-Bibliographie). 404 UAM Sen. 7, ME, 5.3.1912. 405 Ebd., Fak. an Senat, 17.1.1912. 406 Ebd., Fak. an Senat, 3.3.1914; Senat an MInn, 6.3.1914. 407 Ebd., MInn an Senat, 16.3.1914.
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Professur für Volkskunde abhängig. Da er vom bayerischen Kultusminister von Kahr keine feste Zusage erhielt, ging er an den Rhein. 408 Zwei Jahre vor von der Leyens Wechsel bot Otto Maußer, Privatdozent für "Deutsche Philologie mit besonderer Berücksichtigung der Mundartenkunde und Lexikographie", seine erste volkskundliche Vorlesung an. 409 Einstündig las er über "Fest- und Arbeitsbräuche der Sommerzeit in Bayern", später wiederholt variiert als "Volkskunde Bayerns; Brauch und Glaube der Winter-/ Sommerzeit" (z.B. WS 1930/31, SS 1931). Außerdem finden sich Themen aus der Mythologie, z.B. "Germanische, nordische, deutsche Mythologie, ihre Quellen und ihr Nachhall im Volksleben" (WS 1934/35) oder "Germanische Dämonologie: niederer Mythus, Dämonen, Geister im Mittelalter und im modernen Volkstum" (SS 1935). 1938 wechselte Maußer auf einen Lehrstuhl in Königsberg. Im selben Jahr kam Otto Höfler aus Kiel nach München. 410 Der Professor für "Germanische Philologie" hielt ebenfalls volkskundliche Übungen am Seminar für Deutsche Philologie ab. Im Januar 1926 übersandte der "Verband deutscher Vereine für Volkskunde" in Freiburg der Universität eine "Denkschrift über die Notwendigkeit, die Volkskunde im Schulunterricht und bei der Lehrerausbildung in angemessener Weise zu berücksichtigen". 411 In seiner Stellungnahme hielt der germanistische Ordinarius und Seminarvorstand Kraus die Errichtung von volkskundlichen Lehrstühlen an den Universitäten zwar für wünschenswert, aber derzeit für nicht finanzierbar. Ähnliches gelte für die Erteilung von Lehraufträgen. 412 Ab dem II. Trimester 1940 bildeten Volkskunde und allgemeine Religionswissenschaft einen eigenständigen Fachbereich in der Philosophischen Fakultät. 413 Das WS 1941/42 brachte erneut eine Namensänderung, und zwar in "Volkskunde, Volksforschung und Religionswissenschaft". 414 Sie war verbunden mit dem Eintritt von Max Rumpf in den Lehrkörper der LMU. Der Jurist, emeritierter Professor der Hindenburg-Hochschule in Nürnberg, übernahm einen Lehrauftrag für "Deutsche Volkssoziologie, insbesondere Bauernkunde". Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich das Miteinander von Germanistik und Volkskunde fort. Einen personellen Neubeginn erlebte die Münchner Volkskunde nicht. Vorlesungen aus diesem Fach hielten Friedrich von der
408 409 410 411 412 413 414
Vgl. Leyen 1960, S.161. Vgl. Kap. 2.4.1.1. Vgl. Kap. 2.5.3. Vgl. UAM Sen. 7, Verband an Rektorat, 14.1.1926. Ebd., Kraus an Rektorat, 18.3.1926. Vgl. VV I. Trimester 1940. Vgl. VV WS 1941/42.
2.5. Die personelle und finanzielle Ausstattung des Seminars
77
Leyen, Otto Basler und Rudolf Kriss. 415 Erst 1959 wurde das erste Ordinariat für Volkskunde errichtet. Sein Inhaber Josef Hanika initiierte 1963 die Gründung eines selbständigen Instituts. Nach dem frühen Tod Hanikas übernahm Leopold Kretzenbacher (Ordinarius ab 1966) die Aufgabe, das Institut für Volkskunde endgültig zu etablieren und auszubauen.
2.5. Die personelle und finanzielle Ausstattung des Deutschen Seminars im Überblick Als im Februar 1892 die Gründung des Deutschen Seminars an der L M U von amtlicher Seite vollzogen war, bestanden am Institut ein Lehrstuhl und zwei Extraordinariate, vertreten von Lexer, Muncker und Brenner. Mit Munckers Beförderung 1896 kam wieder ein zweites Ordinariat dazu. 416 Diese Anzahl blieb bis 1938 unverändert: A m 1. Oktober wurde ein dritter Lehrstuhl "für germanische Philologie" errichtet und mit Otto Höfler besetzt. 417 Die Extraordinariate waren bis etwa zur Jahrhundertwende an der L M U generell besoldet. 418 Erst 1899 änderte sich diese Praxis, als Prinzregent Luitpold genehmigte, daß Privatdozenten "in mäßiger Anzahl für die Verleihung des Titels und Ranges eines außerordentlichen Professors in Vorschlag gebracht werden" dürfen. 419 Die Beförderung setzte allerdings voraus, daß sich die Kandidaten "als Lehrer und durch wissenschaftliche Leistungen auszeichnen, sich in längerer Dienstzeit bewährt haben und ihre Kraft ausschließlich oder überwiegend in den Dienst der Universität stellen". In der Regel betrug die Wartezeit mindestens sechs Jahre nach der Habilitation, was im Schnitt auch für die meisten Privatdozenten am Deutschen Seminar zutraf. 420 Dieser Zeitraum konnte aber auch erheblich unterschritten werden, vor allem dann, wenn der Privatdozent einen Ruf von einer auswärtigen Universität ablehnte. Sein
415
Zur Biographie von Basier und Kriss vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 416 Wie schon vor der Seminargründung mit Bernays (vgl. Kap. 2.2.3.4.). 417 Vgl. Kap. 2.6.2.2. 418 "An den bayerischen Universitäten findet weder eine Charakterisierung zu außerordentlichen Professoren (:bloße Titel- und Rangverleihung:) noch eine Anstellung von außerordentlichen Professoren mit geringerem als dem normativen Anfangsgehalte von 3180 M statt." (BayHStA MK 11013, MInn an MAuß, 18.2.1891 (Ab.) 419 Vgl. ebd., MInn an Senat, 4.1.1899 (Ab.). 420 Vgl. BayHStA MK 11031, KuMi an Senat der drei Landesuniv.en, Januar 1922 (Ab.). - Z.B. Rudolf Unger: PD 17.6.1905, ao. Prof. 30.8.1911; Friedrich Wilhelm: PD 18.8.1905, ao. Prof. 20.8.1911.
78
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Bleiben an der L M U wurde dann mit der Beförderung "honoriert". 421 Mit einer Besoldung war diese Beförderung nicht verbunden, so daß sich die außerordentlichen Professoren nur im Titel von den Privatdozenten unterschieden. Im Zuge der Nichtordinarien-Bewegung sind die "Vorschläge der Nichtordinarii zum Ausbau des Unterrichts in der Philos. Fakultät I. Sektion" zu sehen, die im Oktober 1919 im Bayerischen Kultusministerium eingingen. 422 Speziell für die Deutsche Philologie wurden darin zwei, für die Deutsche Literaturgeschichte drei neue Extraordinariate gefordert. 423 Diese Initiative blieb ohne Folgen, so daß es am Deutschen Seminar erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg ein planmäßiges Extraordinariat gab: "Die ao. Professur für 'deutsche Geschichte mit besonderer Berücksichtigung des Deutschtums im Südosten' in der Philos. Fakultät ist durch die Enthebung des außerordentlichen Prof. Dr. Richard Suchenwirth frei geworden. Dem Antrag des Dekans und des Rektors entsprechend wird sie hiermit in eine außerordentliche Professur für 'deutsche Philologie' umgewandelt."424 Zum ersten Inhaber wurde Eduard Hartl ernannt. Als dieser Ende 1947 das altgermanistische Ordinariat übernahm, folgte ihm Otto Basler nach. Insgesamt deutlich gestiegen war die Anzahl der Privatdozenten am Institut. Insbesondere im Zeitraum von etwa 1905 bis 1915 häufen sich die Habilitationsverfahren, die den personellen Ausbau des Seminars signalisieren. 425 Den meisten der Privatdozenten wurde nach der üblichen Wartezeit von sechs Jahren Titel und Rang eines außerordentlichen Professors verliehen. In dieser Position blieben sie oft jahrzehntelang in München oder folgten einem Ruf an eine auswärtige Universität. 426 Von ministerieller Seite erhielten zudem einige der Nicht-Ordinarii einen speziellen Lehrauftrag im Rahmen des Seminars. A m 5. März 1912 wurde Friedrich von der Leyen beauftragt, germanische Volkskunde, insbesondere Mythologie, Sagen- und Märchenforschung, zu vertreten. 427 Noch vor der Gründung des Instituts für Theatergeschichte 1926 übernahm Hans Heinrich Borcherdt am 11. November 1920 einen Lehrauftrag für Theaterwesen. 428 Otto Maußers Lehrauftrag vom 29. April 1937 lautete auf "Altnordische Philo421
Z.B. Julius Petersen: PD 9.5.1909, Sommer 1911 Ruf nach Yale abgelehnt, ao. Prof. 30.6.1911. 422 Zur Nichtordinarien-Bewegung vgl. Paulsen 31919/21, Bd.2, 1921, S.707. 423 Vgl. BayHStA MK 39694, undatiert, etwa Oktober 1919. 424 BayHStA MK 43706, KuMi an Rekt., 26.6.1946 (Ab.). 425 Vgl. Tab. 3 und Abb. 426 Vgl. Lexikonteil. 427 Vgl. Kap. 2.4.3. 428 Vgl. Kap. 2.4.2.
2.5. Die personelle und finanzielle Ausstattung des Seminars
79
logie und Runenkunde", der von Eberhard Kranzmayer auf "Bairische Mundartenforschung und Slowenisch" (ab 8. Oktober 1938). 429 1923 gab es eine weitere Neuerung auf organisatorischer Ebene: Auf die neugeschaffene Stelle eines wissenschaftlichen Hilfsassistenten kam Franz Iblher. 430 1925 übernahm Eduard Hartl das Amt. 4 3 1 1935 folgte ihm mit Eugenie Emnet die erste Frau in dieser Position nach. 432 Weitere Inhaber der Assistentur waren bis 1945 Hans Gottschalk, Eugen Thurnher, Wolfgang Lange und Annemarie Lange. 433 Offiziell gab es zwar am Deutschen Seminar auch einen Vollassistenten, das hatte aber lediglich formelle Gründe. 434 In der Anzahl der Assistentenstellen war das Deutsche Seminar wesentlich schlechter ausgestattet als z.B. das Seminar für romanische Philologie, das 1927 über drei ordentliche Assistenten verfügte. 435 An der Höhe des Etats für das Institut machten sich stets gesamtwirtschaftliche Einflüsse bemerkbar. 436 Nach der Seminargründung stieg der Etat kontinuierlich an von 300 Mark bis auf 1980 Mark im Jahr 1920. Zwei Jahre später waren es 10.000 Mark - ein Anzeichen der fortschreitendenden Inflation. Als Folge der schweren Wirtschaftskrise von 1923 konnte das Institut 1924/25 nur über 750 Reichsmark verfügen, 1926 über 1.000 Reichsmark. Der Rückgang auf 860 Reichsmark (1930) und 770 Reichsmark (1933) steht erneut im Zeichen der schweren weltweiten Wirtschaftsprobleme. 1940 betrug der Etat 1980 Reichsmark.
429
Zur Biographie von Kranzmayer vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikon teil. 430 Vgl. Kap. 2.4.1.3. 431 Vgl. BayHStA MK 407/3186, ME, 7.3.1925. - Vgl. auch Kap. 2.4.1.3. 432 Vgl. UAM Sen. 64a, Kraus an Fak., 19.12.1946. 433 Vgl. BayHStA MK 407/3186, Cysarz an Fak., 1.12.1940; ME, 6.1.1941; ME, 13.2.1943; KuMi an Rekt., 12.5.1943. 434 "Die dem Seminar für deutsche Philologie angegliederte Vollassistentenstelle ist seinerzeit bei Schaffung einer Vollassistentur für Sprechtechnik und gleichzeitiger Betrauung des Dr. Fritz Gerathewohl dem genannten Seminar nur deshalb unterstellt worden, weil sie irgendwo angegliedert werden musste. Tatsächlich hat das Seminar für deutsche Philologie von dieser Vollassistentur keinen speziellen Gewinn." (BayHStA MK 11037, Kraus/Muncker, 14.5.1926, als Beilage zum Schreiben des Rektorats an das KuMi, 22.6.1926). - Gerathewohl war seit 1.4.1924 Lektor für Sprechtechnik, Rhetorik und Vortragskunst, seit 1.2.1929 etatmäßiger Lektor (vgl. ebd., MK 407/3186, Personalblatt und ME vom 4.1.1929). 435 Vgl. ebd., Ordenti. Staatshaushalt 1927, No.15: Min. f. Unterricht und Kultus, Ausweis der Besoldungen der Assistenten an den Landesuniversitäten, hier: München. 436 Vgl. für das Folgende Tab. 4.
80
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Die finanzielle Besserstellung des Seminars stand meist im Zusammenhang mit der Neubesetzung eines Lehrstuhls. Der Kandidat hatte die Annahme des Rufs von einer Erhöhung des Etats (z.B. Kraus) bzw. von einem Zuschuß für die Seminarbibliothek (z.B. Brecht) abhängig gemacht. 437 Ein Vergleich mit dem jeweiligen Jahresgehalt eines Ordinarius zeigt, wie schlecht die finanzielle Ausstattung des Seminars insgesamt war. Im Jahr 1892 bekam Hermann Paul mehr als das 23fache des Seminaretats, Muncker 1896 immerhin noch das Neunfache. 1922 verdiente Carl von Kraus zehnmal so viel, wie das Institut erhielt. Diese Relationen signalisieren eine deutliche personalorientierte Univerisitätspolitik in Bayern. Außerordentliche Zuschüsse lassen sich mehrfach nachweisen, beispielsweise waren es 1923 200.000.000 Mark und 1939 1.000 Reichsmark. 438 Auch die Münchner Universitätsgesellschaft stellte diverse Mittel für das Institut bereit. 4 3 9 Dasselbe gilt für die Eindhundertjahrstiftung, wobei in der NS-Zeit offenbar Unterschiede zwischen den Antragstellern gemacht wurden: Während Gierach einen Zuschuß in Höhe von 800 RM erhielt, "bedauerte" Rektor Ernst, Brecht mitteilen zu müssen, "daß Ihnen bei den gegenüber den zahlreich eingelaufenen Gesuchen sehr beschränkten Mitteln ein Zuschuß nicht gewährt werden konnte." 440 Noch bis 1944 konnten Gierach, Cysarz und Höfler laufend Zuwendungen zwischen 800 und 2.000 R M von der Stiftung entgegennehmen.441 Bei der räumlichen Ausstattung läßt sich seit der Seminargründung eine kontinuierliche Verbesserung feststellen. Ausgehend von einem bzw. zwei Räumen an der Adalbertstraße im Erdgeschoß, verdoppelte sich diese Zahl im Jahr 1917: Mit dem Amtsantritt von Carl von Kraus verfügte das Seminar über ein Vorstandszimmer und drei Bibliotheks- und Arbeitsräume mit 46 Arbeitsplätzen. 442 1926 bezifferte Eduard Hartl, der als wissenschaftlicher Hilfsassistent die Bibliothek betreute, die Anzahl der aufgestellten Bände auf 4485. 443 Im selben Zeitraum betrug die Mitgliederzahl 230, etwa ein Drittel davon ordentliche. Die Studentinnen waren dabei leicht in der Minderheit. 444 1941 gab der Neugermanist Cysarz die Größe der germanistischen Fachschaft 437
Vgl. Kap. 2.4.1.3. und 2.4.1.4. Vgl. UAM Sen. 64a, ME, 31.8.1923 und 21.12.1939. 439 Vgl. ebd., 1929 u. 1931: je 300 RM, 1935: 900 RM, 5.3.1941: 1000 RM f. Gierach, 700 RM f. Cysarz, 26.5.1944: 2000 RM f. Cysarz. 440 Vgl. ebd., Rektor Ernst an Gierach und an Brecht, jeweils 10.3.1937. 441 Vgl. ebd. 442 Vgl. Hartl 1926, S.187. - Vgl. Kap. 2.4.1.3. 443 Vgl. Hartl 1926, S.188. - Zum Vergleich: 1988 waren es 80.000 Bände (vgl. Univ.beschreibung 1988, S.25). 444 Vgl. Hartl 1926, S.189. 438
2.6. Nationalsozialistische Personalpolitik
81
mit 450 an. 445 1942 ging die Mitgliederzahl - vermutlich kriegsbedingt - auf 250 zurück. 446
2.6. Nationalsozialistische Personalpolitik am Seminar für Deutsche Philologie "Der völkische Staat hat [...] seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfähigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung."447 Dieses Zitat aus "Mein Kampf" belegt die tiefe Verachtung, die Adolf Hitler für Intellektuelle empfand. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, unternahm die nationalsozialistische Bewegung alles, um die Wissenschaft zu kanalisieren und auf diese Weise zu kontrollieren. Dem Gleichschaltungsprinzip folgte die Zentralisierung der bildungspolitischen Kompetenzen im Reichserziehungsministerium in Berlin. Ab dem 1. Mai 1934 übernahm es der neue Minister Bernhard Rust, die schul- und hochschulpolitischen Direktiven vorzugeben, was in Deutschland traditionell Aufgabe der Länder gewesen war. In den Landesministerien rückten parteitreue Funktionäre nach - in Bayern war es Hans Schemm. Diese Maßnahme bildete die Voraussetzung, um an den Hochschulen die nationalsozialistische Personalpolitik umzusetzen: Unliebsame Universitätsmitarbeiter zu entfernen, bildete den einen Pfeiler, linientreue Dozenten zu berufen, den anderen. Beide lassen sich für das germanistische Institut in München nachweisen.
2.6.1. Die Zwangsemeritierung
von Walther Brecht (1937)
Ab 1933 machte sich der nationalsozialistische Staat die deutschen Hochschulen für seine völkischen Aufgaben dienstbar, was - laut Programmatik nicht im Widerspruch zur Freiheit von Lehre und Forschung stehen sollte:
445 446 447
Vgl. BayHStA MK 43502, Cysarz an REM, 18.5.1941. Vgl. ebd., MK 407/3186, Höfler an KuMi, 4.12.1942. Hitler, Bd.2, 1934, S.452.
82
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
"Die Erfüllung der völkischen Aufgaben, die der deutschen Wissenschaft gestellt sind, beeinträchtigt nicht die Freiheit der Lehre und Forschung, die Wesensmerkmal und unabdingare Grundlage der deutschen Hochschule und ihrer Idee der Wissenschaft ist. 448 Daß dies nicht erst 1942 eine leere Worthülse war, beweist der Fall Walther Brecht. Brecht hatte 1927 die Nachfolge von Franz Muncker auf dem Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte angetreten. 449 Im Juli 1933 informierte das Ministerium den Senat, daß Walther Brecht den Nachweis für seine arische Abstammung erbracht habe. 450 Dieser war nötig geworden durch das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933. Es bot die Grundlage, alle nichtarischen Beamten aus dem Amt zu entfernen. Die Kontrollmaßnahmen erfaßten auch die Ehepartner der Beamten, wofür die Nürnberger Gesetze von 1935 sorgten. Das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" untersagte rassische Mischehen sowie den "außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes". 451 Walther Brecht war seit dem 10. April 1913 in zweiter Ehe mit Erika Julie Bertha Leo verheiratet. 452 A m 17. März 1937 erhielt der Rektor vom Ministerium die Mitteilung, daß Brechts Ehefrau nichtarisch sei. 453 Bereits drei Monate später wurde Brecht in den Ruhestand versetzt. 454 Vor diesem Hintergrund klingt der Passus aus seiner Ernennungsurkunde: "Das Dienstverhältnis des ordentlichen Professors Dr. Brecht wird vom Tage des Dienstantrittes an für unwiderruflich erklärt." wie blanke Ironie. 455 Brechts Ruhestandsversetzung war bereits seit 1934 zur Diskussion gestanden. 456 In seiner Personalakte im Bayerischen Kultusministerium befindet sich folgende Aktennotiz: "Dr. v. Kloeber (Referent der Hochschulkommission der NSDAP) bezeichnete vor etlichen Tagen gelegentlich einer Besprechung im Referat den Prof. Dr. Brecht als untragbar und nicht mehr dienstfähig; er ersuchte dessen Ersetzung zu betreiben." 457
448 449 450 451 452 453 454 455 456 457
Die deutsche Hochschulverwaltung, Bd.l, 1942, S.16. Vgl. Kap. 2.4.1.4. Vgl. UAM E l l N, 18.7.1933. Wulf 1960, S.lOf. Vgl. Personalakte Brecht UAM E II N. Ebd., 17.3.1937. Ebd., Urkunde vom 25.6.1937. Vgl. UAM E II N, ME, 30.6.1927. Vgl. Kap. 2.5.2.3. BayHStA MK 43458, Aktennotiz, 31.10.1934.
2.6. Nationalsozialistische Personalpolitik
83
In der Tat hatte der Ordinarius im Januar 1932 seine Vorlesungen aus gesundheitlichen Gründen abbrechen müssen.458 Ihn aber nur deshalb als "untragbar" zu bezeichnen, verrät bereits andere Motive. An der Stellungnahme des Dekans Karl Alexander von Müller läßt sich der vorsichtige Versuch ablesen, zugunsten von Brecht zu sprechen, ohne den Parteifunktionär zu verärgern: "Die Angelegenheit sei ihm bekannt; er bestätigte, daß Prof. Dr. Br. in diesem Frühjahr sehr krank gewesen sei, neuerlich sei ihm aber nichts mehr zu Ohren gekommen. Er will der Sache nachgehen."459 Der Fall Brecht war jedoch nur aufgeschoben. 1937 wurde der Ordinarius endgültig aus dem Universitätsverband entfernt. Mit einem normalen Emeritierungsverfahren hatte dieser Vorgang überhaupt nichts gemein. Statt einer (freiwilligen) Entpflichtung vom Hochschuldienst bedeutete er eine "Entrechtung", denn der Betroffene durfte weder weiter lehren noch prüfen. 460 Der Aktenlage nach nahm Brecht dieses Unrecht widerspruchslos hin. 4 6 1 Da über seinen schriftlichen Nachlaß nichts bekannt ist, können hierzu keine brieflichen Äußerungen herangezogen werden. 462 Letztlich bleibt auch zu fragen, ob zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch Widerstand möglich gewesen wäre - vier Jahre NS-Diktatur hatten in Deutschland ihre Spuren hinterlassen.
2.6.2. Die Berufung von nationalsozialistisch
orientierten
Germanisten
Bei der nationalsozialistischen Berufungspolitik kam es zuerst auf die politische Einstellung der Dozenten an, die wissenschaftliche Qualifikation spielte nur eine untergeordnete Rolle. 463 Der Leiter des Reichsdozentenbundes, Walter Schultze, gab die Kriterien für die Hochschullehrer des NS-Staats vor: "Es muß sich immer um Kameraden handeln, welche mit dem Herzen zu unserer Weltanschauung stehen und die aus dieser Überzeugung kämpfen und handeln... Wir brauchen Leute, die mit Herz und Mund unser Gedankengut weiterpflanzen..." 464
458
Vgl. UAM E II N, Aktennotiz, 20.1.1932. BayHStA MK 43458, Aktennotiz, 31.10.1934. 460 Schor 1985, S.120. 461 Vgl. BayHStA MK 43458 und UAM E II N. 462 Brechts Briefe an Carl von Kraus enden bereits 1928 (vgl. StB Krausiana I, letzter Brief datiert auf den 3.1.1928). 463 Vgl. Lundgreen 1985, S.U. 464 Heinemann, Manfred (Hg.), Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Teil 2: Hochschule, Erwachsenenbildung, Stuttgart 1980, S.71, zit. nach: Schor 1985, S.121. 459
84
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Gemäß dem großen Ziel einer "Deutschen Wissenschaft" sollten sich die Wissenschaftler in den Dienst des Nationalsozialismus stellen. Das politische Engagement beeinflußte deshalb die wissenschaftliche Arbeit, beide griffen bisweilen untrennbar ineinander. 465
2.6.2.1. Erich Gierach (1936) Mit dem Ausscheiden von Carl von Kraus im Jahr 1935 wurde der Weg für einen regimetreuen Germanisten frei. 466 Man fand ihn in Erich Gierach, der an der deutschen Karlsuniversität in Prag seit 1921 als ordentlicher Professor ältere deutsche Sprach- und Schrifttumswissenschaft lehrte. Gierach war der Wunschkandidat der Fakultät. Er stand auf der Liste vor Theodor Frings (Leipzig), Arthur Witte (Jena) und Josef Dünninger (Würzburg). 467 Wenig später rückte Eduard Hartl (München) noch vor Dünninger ein. Von allen Kandidaten lagen wissenschaftliche und - charakteristisch für die Zeit - politische Gutachten vor. Das wissenschaftliche Gutachten über Gierach fertigte Carl von Kraus an. Er würdigte nach den fachlichen Qualifikationen auch das politische Engagement des Prager Ordinarius. Sein Fazit lautete: "Es wäre für unsere Universität sowohl wie auch für unser, an der Ostmark hart ringendes Deutschtum ein ungemeiner Gewinn, wenn es gelänge, diesen Mann, der mit ausgebreiteter und tiefer Gelehrsamkeit, Kämpfermut, eine gewaltige Organisationsgabe und eine glühende Liebe zu unserem Volke verbindet, nach München zu ziehen."468 Auch Dekan Karl Alexander von Müller setzte sich mit Nachdruck für Gierach ein. 4 6 9 Ebenso positiv äußerte sich Kraus über den außerordentlichen Professor Eduard Hartl. 4 7 0 Über Theodor Frings holte die Universität vom Psychologischen Institut in Leipzig Auskünfte ein:
465 Das Thema "Münchner Germanistik im NS" wird ausführlich in einem eigenen Abschnitt behandelt (vgl. Kap. 4.). 466 Vgl. UAM E II N, Entpflichtungsurkunde, 6.6.1935 (auch in UAM Ο Ν 14). 467 Vgl. UAM Sen. 7, Fak. an Rekt., 5.7.1935. 468 Ebd., o.D. 469 Vgl. ebd., Dekan an Rektor, 5.7.1935. 470 Vgl. ebd., Komm.sitz., 1.7.1935, Gutachten Kraus (o.D.). - Kraus hatte sich für seinen ehemaligen Schüler bereits eingesetzt, als es um eine Assistentenstelle und seine Habilitation gegangen war (vgl. Kap. 2.4.1.3.).
2.6. Nationalsozialistische Personalpolitik
85
"Von den Fakultätsgeschäften hat er sich seit 1933 mehr und mehr zurückgezogen. Er wird sich gewiß in die Hauptrichtungen des deutschen Lebens hineinfinden. Eine Schranke freilich wird immer bleiben, schon von seiner katholischen Religiosität her. Zur ultramontanen Politik fühlt er sich offenbar hingezogen."471 Diese Beurteilung war wenig geeignet, um Frings Aussichten, nach München berufen zu werden, zu verstärken. Im November 1935 teilte das bayerische Kultusministerium dem Rektorat mit, daß das Ministerium in Berlin dem Führer und Reichskanzler Gierach für das Ordinariat in München vorgeschlagen habe. 472 Die Ernennungsurkunde unterzeichnete Hitler am 5. Februar 1936 (Grundgehalt: 12.600 Reichsmark). 473 Außerdem wurde Gierach zum Mitvorstand des Instituts ernannt. 474 Geboren in Bromberg (Posen) am 23. November 1881, aufgewachsen in Reichenberg (Sudetenland), engagierte sich Gierach früh für die sudetendeutsche Minderheit. Nach dem Studium in Prag (7 Semester) und Bonn (1 Semester) wurde er Lehrer an der Gewerbeschule Reichenberg. Über diese Tätigkeit schrieb sein späterer Kollege in München, Herbert Cysarz: "[...] hier hat er [...] jene Wechseldurchdringung wissenschaftlicher, lehrerischer, volksbildnerischer und -erzieherischer, kultur- und realpolitischer Tätigkeit errungen, die forthin sein ganzes Lebens werk kennzeichnet."475 Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft 1919 nahm Gierach seine politischen Aktionen wieder auf, die er über die Jahre hinweg zunehmend intensivierte. Er war in zahlreichen politischen oder politisch ambitionierten Vereinigungen Mitglied und übernahm auch wichtige Ämter und Funktionen. 476 All
471
Ebd., Schreiben an Rektor Escherich, 7.6.1935. Vgl, ebd., 12.11.1935. 473 Vgl. UAM E II N. 474 Vgl. UAM E II N, ME, 12.2.1936. 475 UAM E II N, Cysarz an REM, 19.7.1947. - Cysarz stellte darin den Antrag auf Verleihung der Goethe-Medaille an Gierach zu seinem 60. Geburtstag am 23.11.1941. Mit Schreiben vom 20.10.1941 wurde das Gesuch abgelehnt, da es zu spät eingereicht wurde. Der Antrag hätte vier Monate vor dem Verleihungstag eingehen müssen. 476 Bund der Deutschen, Germania, Deutsche Jungmannschaft (Ausschußmitglied), Deutschnationaler Verein (Schriftführer), Neuer deutscher Kulturbund für Österreich (Leiter der Reichenberger Ortsgruppe), Deutsche Nationalpartei (Leiter der gemeinsamen Wahlkanzlei von Nationalsozialisten, Nationalparteilern und Christlichsozialen; Mitglied der Reichenberger Gemeindevertretung; 1934 aufgelöst), Anstalt für sudetendeutsche Heimatforschung (1924 von Gierach innerhalb der "Deutschen wissenschaftlichen Gesellschaft" in Reichenberg gegründet), Deutsche Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichte, Gesellschaft für deutsche Volksbildung (geschäftsführender Vorsitzender, 1932: Eröffnung des "Goetheheims"), Bücherei der Deutschen (1925 von Gierach gegründet), Stadtbildungsausschuß (Leiter, von Gierach zum "Stadt472
86
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
diesen Aktivitäten war die Betonung des Germanischen, des Deutschen gemeinsam. Auf völkischem Denken basierten auch die Flugschriften, Aufsätze und Zeitschriften, die Gierach unter anderem entweder selbst verfaßte oder (mit)herausgab. Exemplarisch seien hier genannt die frühen Flugschriften von 1919: "Sind die Deutschen als Kolonisten und Emigranten nach Böhmen gekommen?" (20.000 Exemplare) und "Katechismus für das Deutsche Volk in Böhmen" (60.000 Exemplare) sowie die Reihe "Forschungen zur sudetendeutschen Heimatkunde" (Hg., Heft 1-9, 1926ff.). 477 A l l diese Schriften beweisen, daß bei ihm Wissenschaft und politisches Engagement Hand in Hand gingen. Der Titel der Festschrift, die zu Gierachs 60. Geburtstag erschien, darf deshalb durchaus als programmatisch verstanden werden: "Wissenschaft im Volkstumskampf". 478 Als Gierach 1933 turnusmäßig zum Rektor der Prager Universität gewählt werden sollte, wirkte sich diese Verbindung noch negativ aus. Die Bedeutung dieser Wahl war von der Prager Presse richtig eingeschätzt worden, wenn sie die Frage aufwarf: "Wird die deutsche Universität gleichgeschaltet?"479 Gierach wurde nicht gewählt, was Josef Pfitzner so kommentierte: "Die deutsche Universität wurde nicht gleichgeschaltet. Es war kein Ruhmesblatt in ihrer Geschichte."480 Heute darf man mit Recht das Gegenteil behaupten. Gierachs dezidiertes Eintreten für die völkische Bewegung prädestinierten ihn für den Krausschen Lehrstuhl in München. Auch von der "Hauptstadt der Bewegung" aus blieb er dem sudetendeutschen Aktionismus verbunden: Er unternahm zahlreiche Vortragsreisen in die Tschechoslowakei; bei der Kundgebung zur Eingliederung des Sudetenlands in das Großdeutsche Reich am 28. Oktober 1938 in der Großen Aula der Universität trat er als Redner auf. 481
bildungsamt" umgestaltet), Sudetendeutsche Partei (April 1935), NSDAP (1939). Die Liste wurde zusammengestellt nach Pfitzner 1941, S.9-24, den Personalakten im UAM (UAM E II N) und im BayHStA (MK 43645) sowie der Parteiakte im Β DC. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 477 Vgl. auch das Schriftenverzeichnis von Erich Gierach in Oberdorffer/ Schier/Wostry 1941, S.477-490. 478 Vgl. ebd.-Vgl. Kap. 4.1. 479 Zit. nach Pfitzner 1941, S.15. 480 Ebd., S.15. 481 Teilnahme an der Jahrestagung des Deutschen Verbandes für Heimatforschung und Heimatbildung in der CSSR vom 1. bis 5. Juli 1936 in Mährisch-Neustadt, genehmigt am 22.6.1936; Antrag auf Tschechoslowakei-Reise am 15.1.1937, genehmigt am 24.2.1937; Teilnahme an der 75-Jahrfeier des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen vom 16. bis 18. Oktober 1937 in Prag und Leitmeritz, genehmigt am
2.6. Nationalsozialistische Personalpolitik
87
Im Jahr 1940 erhielt er schließlich die Ackermann-Medaille, mit der seine "wissenschaftlichen Verdienste im Sinne des Sudetendeutschtums" gewürdigt werden sollten. 482 Verhältnismäßig spät schrieb sich Gierach als Mitglied in verschiedene NSDAP-Organisationen ein. Seit 1937 gehörte er der NS-Volkswohlfahrt an, seit 1938 dem Reichsluftschutzbund. Erst ab 1939 führte ihn die NSDAP unter der Nummer 7 393 296 als ihr Mitglied. 4 8 3 An seinem Münchner Vorlesungsprogramm läßt sich die enge Verknüpfung mit der NS-Politik nicht ablesen. Es weist ihn lediglich als Sprachwissenschaftler und Mediävisten aus mit "traditionellen" Themen wie "Minnesangs Frühling" (SS 1937,1. Tr. 1940), "Historische Grammatik" (WS 1936/37) oder "Altsächsische Dichtung" (SS 1939). Veranstaltungen aus seinem Spezialgebiet Namensforschung finden sich nicht darunter. Ein einziges Seminar beschäftigt sich mit der "Deutschen Dichtung des Mittelalters in Böhmen" (SS 1943), berührt also sein politisches Aktionsfeld. Durch die Zwangsemeritierung von Walther Brecht mußte der Vertreter der älteren Abteilung das laufende Habilitationsverfahren des Neugermanisten Edgar Hederer übernehmen. 484 Obwohl Gierach die eingereichte Abhandlung Hederers in manchen Punkten kritisierte, stimmte er für die Fortsetzung des Verfahrens. 485 Insgesamt forderte die Habilitationskommission die "Nachbesserung" der Arbeit. 4 8 6 Für den "Ergänzungsbericht" war bereits der neue Fachordinarius Herbert Cysarz gefordert. 487 Gierach lehrte in München bis zu seinem Tod am 16. Dezember 1943. Zu den Beratungen in der Nachfolgefrage trat erneut der emeritierte Carl von Kraus hinzu, der für das restliche Wintersemester außer den Vorlesungen und Übungen auch die stellvertretende Mitvorstandschaft des Deutschen Seminars von Gierach übernahm. 488 Ende 1946 berichtete Kraus darüber an den Dekan Aloys Wenzel: "Nach dessen [= Gierachs, M.B.] Tode schlug ich die beiden Herren Theodor Frings und Hermann Schneider vor, die in der Kommissionssitzung einstimmig an die erste 9.10.1937 (zusammengestellt nach Personalakte Gierach im Universitätsarchiv München: UAM Ε II N). - Zu seiner Rede vgl. ebd. 482 Vgl. ebd., Hochschulkorrespondenz vom 12.11.1941. 483 Vgl. UAM E II N, Mitgliedschaften in NSDAP-Organisationen, unterzeichnet am 19.3.1941. 484 Vgl. Kap. 2.4.1.4. 485 Vgl. UAM E II N, Gutachten Gierach (31.8.1937) (Ab.). 486 Vgl. ebd., Gutachten Cysarz (12.3.1939). 487 Vgl. Kap. 2.5.2.3. 488 Vgl. BayHStA MK 40/3186, KuMi an Rekt., ME, 4.4.1944. 7 Bonk
88
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
bezw. zweite Stelle gesetzt wurden. Über den Verlauf der Sitzung in der Fakultät ist mir nichts bekannt, da ich infolge Verbombung meines Heimes im Juli 1944 gezwungen war, München zu verlassen."489 Ab Mai 1944 wurde als Lehrstuhl Vertreter Ludwig Erich Schmitt bestimmt, der vorher u.a. bei der Deutschen Bücherei in Leipzig tätig gewesen war. 490 Zu einer Neuberufung kam es während des Kriegs nicht mehr. Schmitt wurde Anfang Januar 1946 vom Dienst an der Universität enthoben.
2.6.2.2. Herbert Cysarz (1938) Auch der Nachfolger des zwangsemeritierten Walther Brecht kam von der Deutschen Universität in Prag. Herbert Cysarz (geb. am 29. Januar 1896 im schlesischen Oderberg) war dort seit 1928 Ordinarius, nachdem er sich 1922 in Wien habilitiert und 1926 zum außerplanmäßigen außerordentlichen Professor ernannt worden war. Germanistik hatte er nach einer schweren Verwundung im Ersten Weltkrieg in Wien studiert (Nebenfach: Anglistik), als seine Lehrer nannte Cysarz Friedrich Gundolf und Walther Brecht. 491 Letzterem folgte er auf dem Münchner Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte am 1. Oktober 1938 (Gehalt: 12.600 RM) nach. Gleichzeitig erfolgte die Ernennung zum Mitvorstand des Seminars. 492 Als Brecht zwar noch im Amt, aber wegen seiner Ehe mit einer Jüdin für eine nationalsozialistische Hochschule bereits als untragbar galt, dachte man in Berlin auch an Johannes Alt als seinen Nachfolger, denn: "Die wissenschaftliche Qualifikation von Prof. Alt, die Ihnen ohne Zweifel zur Hand ist, verbindet sich aufs Günstige mit seiner politischen Einstellung als Frontkämpfer, SA-Mann und Nationalsozialist."493 Alt, seit November 1934 Privatdozent für neuere deutsche Literaturgeschichte an der LMU, hatte seit April 1936 in Würzburg den neugermanisti-
489
UAM Sen. 64a, 19.12.1946. Vgl. BayHStA MK 39743, Fak. über Rekt. an REM, 7.7.1944. - Vgl. Gilch/Schramka 1986, S.73. - Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 491 Vgl. Cysarz 1976, S. 19. 492 Neben Erich Gierach (vgl. Kap. 2.6.2.). 493 Vgl. UAM E II N, Frank an Mattiat, 30.12.1936 (Ab.). - Walter Frank war der Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung u. Volksbildung, außerdem Präsident des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschland, Prof. Mattiat ein Mitarbeiter im selben Ministerium. 490
2.6. Nationalsozialistische Personalpolitik
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sehen Lehrstuhl inne. 494 Minister Frank dachte daran, Brecht nach Würzburg zu schicken und durch Alt in München zu ersetzen. 495 Der Münchner Dekan der Philosophischen Fakultät, Walter Wüst, plädierte in seiner Stellungnahme dafür, den Fall Brecht nicht isoliert zu betrachten, sondern eine Lösung zu finden, die für alle mit Jüdinnen verheiratete Ordinarien zu praktizieren wäre. 4 9 6 Von einer Versetzung Brechts nach Würzburg riet er dringend ab, "weil die gesamten Lehrverhältnisse jeder kleineren Universität den persönlichen und wissenschaftlichen Einfluss Geheimrat Brechts auf die Studenten nur steigern würde." Statt dessen hielt er "seine Emeritierung in Anbetracht seines labilen gesundheitlichen Befindens, [für] wünschenswert." Desweiteren sprach er sich gegen einen Wechsel von Alt nach München aus, "weil er sowohl als Wissenschaftler wie als Lehrer und Forscher sich erst noch das richtige Mass für die zweitgrösste Universität des Reiches aneignen muss." Als Vertreter der Dozentenschaft fällte Robert Spindler noch ein weitaus härteres Urteil über Alt. 4 9 7 1939 beantragte Cysarz zweimal die Umbenennung seines Lehrstuhls, da die alte Formulierung nicht dem breiten Spektrum seiner Lehr- und Forschungstätigkeit entspreche. Seine Gesuche wurden vom Reichserziehungsministerium jedoch abgewiesen.498 Dieses Faktum bestätigt Helmut Seier, der das Berliner Ministerium in steter "Abgrenzung gegen die expansive Machtkonkurrenz der Parteiideologen" beobachtete.499 Daß Cysarz sein Fach tatsächlich in einem sehr umfassenden Sinn verstand, läßt sich an seinen Vorlesungen ablesen. Neben rein literaturgeschichtlichen Veranstaltungen (z.B. Von Klopstock zu Schiller, WS 1941/42; Die deutsche Klassik I, SS 1942) kündigte er beispielsweise an "Geschichte und Unsterblichkeit (SS 1939, WS 1939/40), "Der schöpferische Mensch" (TR. 1941), "Gesetzlichkeit und Freiheit der Geschichte" (SS 1941) oder "Deutscher Geist
494
Vgl. ebd., KuMi an Rektorat, 28.11.1934, Ernennung zum PD. - Zu Alts Habil. vgl. Kap. 2.4.1.4. 495 Vgl. ebd., Frank an Mattiat, 30.12.1936 (Ab.). 496 Vgl. ebd., Fak. an Rektorat, 18.1.1937. 497 "Was Punkt 3 betrifft, möchte ich eindringlich davor warnen, eine Versetzung des Prof. Alt von Würzburg nach München jetzt schon in ernstliche Erwägung zu ziehen. Es würde ihm damit kein guter Dienst erwiesen. Denn wenn auch Prof. A l t als Wissenschaftler und Lehrer tüchtig, dazu ganz gewiß überzeugter Nationalsozialist ist, so ist er in manch anderem Punkt doch noch von einer geradezu rührenden Kindlichkeit und Ungeschicklichkeit." (vgl. ebd., Vertreter der Dozentenschaft an Rektorat, 12.2.1937). 498 Ausführlich zu diesen Vorgängen vgl. Kap. 4.2. 499 Seier 1988, S.274. 7*
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
und europäische Ordnung" (WS 1942/42). Diese Vorlesungen waren fast ausnahmslos "für Hörer aller Fakultäten" konzipiert. Ähnlich facherübergreifend präsentieren sich seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen während seiner Zeit in München, z.B. "Das Unsterbliche. Die Gesetzlichkeiten und das Gesetz der Geschichte" (1940), "Das Gesetz des Schaffens. Fragen eines Geschichtsforschers an die Naturforschung" (1941). An Titeln wie "Die deutsche Einheit im deutschen Schrifttum" oder "Schicksal, Ehre, Heil" (1942) läßt sich bereits die enge Verflechtung mit dem nationalsozialistischen Gedankengut ablesen. Herbert Cysarz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vom Dienst enthoben und konnte nicht mehr an eine Universität zurückkehren. Als Fachvertreter für neuere deutsche Literaturgeschichte führte Cysarz das Habilitationsverfahren von Edgar Hederer weiter, das bereits unter Brecht und Gierach begonnen hatte. 500 In seinem "Ergänzungsbericht" über die nachgebesserte Abhandlung "Mystik und Lyrik" kam Cysarz zu einem sehr vorsichtigen Urteil und bezeichnete die Habilitation "alles in allem" als "ein Wagnis." 501 Trotzdem beantragte er Hederers Zulassung zum Kolloquium, so daß dieser am 3. Juli 1939 den Grad eines Dr. phil. habil. erwarb. In den Probevorlesungen ein halbes Jahr später konnte Hederer wieder nicht vollständig überzeugen. 502 Als Dozent in München kam er für die Fakultät vorerst nicht in Frage. 503 Spätere Anträge auf seine Ernennung wurden negativ beschieden.504 Erst nach Hederers Entnazifizierung erfolgte seine Ernennung zum Privatdozenten für neuere deutsche Literaturgeschichte an der L M U . 5 0 5
500
Vgl. Kap. 2.4.1.4. und 2.5.2.1. UAM E II N, Gutachten Cysarz (12.3.1939). 502 Vgl. ebd., Gutachten Cysarz (21.1.1949), Gierach (22.1.1940) und Höfler (28.1.1940). 503 Vgl. ebd., Prodekan Lehmann an Rektorat, 9.9.1941. 504 Vgl. ebd., Cysarz an Dekanat, 24.3.1941; Fak. an Reichsmin., 3.2.1944. - Es ist nicht auszuschließen, daß das Urteil über Hederers Teilnahme am NS-Dozentenlehrgang im Juli 1937 dabei eine Rolle spielte. Darin wurde ihm nur "bedingt" nationalsozialistisches Denken bescheinigt, außerdem sei er kein "selbsttätiger Propagandist in allen Lebenslagen" und "zu wenig soldatisch" (vgl. ebd., Dozentenlehrgang in Tännich, 1.-28.7.1937). 505 Vgl. UAM E II N, KuMi an Rektorat, 1.4.1948. - 20.2.1951 Beförderung zum api. Prof. (vgl. ebd.) - Hederer war seit 1933 NSDAP-Mitglied. Ende 1947 wurde er als "Mitläufer" eingestuft, das Entnazifizierungsverfahren im Rahmen der "Weihnachts-Amnestie" eingestellt (vgl. BayHStA MK 43726, Spruchkammer-Urteil München VII, 26.11.1947). 501
2.6. Nationalsozialistische Personalpolitik
91
2.6.2.3. Otto Höfler (1938) Bis 1938 verfügte die Deutsche Philologie in München über zwei Lehrstühle, begründet von Johann Ferdinand Maßmann und Michael Bernays. 506 Mit der Ernennung Otto Höflers zum ordentlichen Professor für germanische Philologie kam 1938 ein dritter hinzu. Dabei handelte es sich um einen Lehrstuhl, der ursprünglich im Fach Philosophie angesiedelt gewesen war. Eduard Hartl, während der NS-Zeit Assistent und ab 1931 auch außerordentlicher Professor am Institut, nannte 1947 das Ordinariat "eine reine Parteiprofessur". 507 Die Umwandlung der Lehrkanzel für Philosophie in "Lehrkanzel für germanische Philologie" regte das Berliner Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im Januar 1937 an, da das Fach Philosophie ausreichend vertreten sei. 508 Im Juli suchte Dekan Wüst offiziell darum in Berlin nach. 509 Gleichzeitig schlug er vor, den Lehrstuhl mit dem Kieler Ordinarius Otto Höfler zu besetzen und ihn zum Mitvorstand des Deutschen Seminars zu ernennen. Dieser Vorgang beweist den Verlust an Autonomie, der für die Universität im Dritten Reich charakteristisch war. Das positive Gutachten über Höfler, "einen der bedeutendsten Germanisten unserer Zeit" (Wüst), stammte von Carl von Kraus. Er schloß mit dem zusammenfassenden Urteil: "Als Persönlichkeit schätze ich Höfler gleichfalls sehr hoch ein. Er ist mannhaft im Vertreten seiner Ueberzeugungen, er hat den Idealismus, ohne den man auf die Jugend nicht nachhaltig wirken kann, und er besitzt eine natürliche, durch Bildung verfeinerte Redegabe. So halte ich ihn also für einen Mann, der als Forscher wie als Erzieher in gleich hohem Grade bestimmt ist, sein Fach an einer großen Universität voll zu vertreten." 510 Im Dezember 1937 erreichte das bayerische Ministerium eine Denkschrift, in der LMU-Rektor Leopold Kölbl und Dekan Walter Wüst zum Ausbau der Germanistik Stellung nahmen. 511 Sie beklagten die jahrzehntelange Vernachlässigung von germanischer Altertumskunde, Mythologie, Volkskunde und Nordistik, die sich in den Bibliotheksbeständen widerspiegle. In einem Ver-
506
Vgl. Kap. 2.2.3.2. und 2.2.3.4. UAM Sen. 64a, Hartl an Dekan, 7.1.1947. - Hartls Rolle im Dritten Reich ist nicht unumstritten. Seine Aussage kann auch als Versuch gesehen werden, sich im nachhinein zu rechtfertigen. - Zu Hartl vgl. UAM E II N. 508 Vgl. UAM Ο Ν 10, Schreiben an Bayer. KuMi, 25.1.1937. 509 Vgl. ebd., 19.7.1937. - Vgl. auch Β DC Parteiakte Höfler, Präs. des "Ahnenerbes" (W. Wüst) an Reichsführer SS, 15.10.1937. 510 UAM Ο Ν 10,6.7.1937. 511 Vgl. ebd., 28.12.1937. 507
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
gleich mit Kiel komme München sehr schlecht weg, auch im Hinblick auf den Seminaretat. Anschließend verwiesen die Verfasser darauf, daß der derzeitige Vorstand des Seminars sich bereits früher für die Gründung von drei neuen Professuren ausgesprochen habe, nämlich für germanische Altertumskunde, Volkskunde und Nordisch. Für den in Aussicht genommenen Kandidaten Höfler spreche, daß er alle drei Bereiche vertrete. Zum 1. Oktober 1938 wurde Otto Höfler wunschgemäß zum Ordinarius und Mitvorstand des Seminars für Deutsche Philologie ernannt. Positiv ausgewirkt hatte sich dabei sicher auch seine Bewerbung, die er im März 1937 bei der L M U eingereicht hatte. In seinem Lebenslauf hatte er insbesondre seinen geistigen und politischen Standort betont: "Seit 1921 gehörte ich dem Wiener Akademischen Verein der Germanisten an, der von seinen Mitgliedern schriftliche, ehrenwörtliche Erklärungen deutsch-arischer und deutsch-völkischer Gesinnung verlangt. Ich gehörte dann während meiner ganzen Studienzeit seinem Ausschuß an und war auch später Obmann. Im Frühsommer 1922, Juni oder Juli, hatte ich Adolf Hitler in Wien sprechen hören. Ich schloß mich der Bewegung an und trat nach den Sommerferien 1922 in Wien der OT, sogenannte Ordnertruppe der Partei, bei. Aus der OT wurde einige Monate später die SA geschaffen. Ich habe auch dieser, vom ersten Tag ihres Bestehens an, angehört und aktiven Dienst bis zum Aufhören der Versammlungstätigkeit im Winter 1923/24 gemacht."512 Nach der Aussage von Carl von Kraus kam Höflers Berufung "für Erich Gierach vollkommen überraschend, ebenso wohl auch für die Fakultät". 513 Daß die zweite Vermutung nicht richtig ist, beweist das entsprechende Gesuch der Fakultät vom 19. Juli 1937. 514 Gierachs Verärgerung rührte von der Formulierung "Lehrstuhl für germanische Philolologie" her, aus der man hätte schließen können, "dem Ordinarius für deutsche Philologie [wäre] ein geringerer Wirkungskreis eingeräumt". 515 Höflers Tätigkeit sah das Ministerium in Analogie zu Gierachs, allerdings wollte man beim Begriff "Philologie" auch die Altertumskunde miteinbezogen sehen. 516 Die Vorlesung "Die altgermanischen Gemeinschaftsformen, ihre Grundlagen und ihr Fortleben", mit der Höfler im WS 1938/39 erstmals auf das Münchner Katheder stieg, darf durchaus als programmatisch für sein weiteres Lehren und Forschen angesehen werden. Im Mittelpunkt seines Interes-
512
BayHStA MK 43770, Lebenslauf Höfler, 15.3.1937, auch abgedruckt in: Gilch/Schramka 1986, S.82. 513 UAM Sen. 64a, Kraus an Dekanat, 19.12.1946. 514 Vgl. weiter oben. 515 UAM Sen. 64a, Kraus an Dekanat, 19.12.1946. 516 Vgl. Gilch/Schramka 1986, S.59f.
2.7. Die ersten Jahre nach der Hitler-Diktatur (bis 1950)
93
ses standen Fragen zur Kulturgeschichte der Germanen sowie zur Sprachgeschichte. 517 Über Religion, Sitte und Brauchtum der Germanen knüpfte er eine enge Verbindung zur Volkskunde, zu der er auch eigene Übungen anbot. 518 Inwieweit er damit den NS-Ideologen in die Hände spielte, wird in einem eigenen Abschnitt untersucht. 519 Während seiner Amtszeit war Höfler an keinem Habilitationsakt als Erstgutachter beteiligt. Vom Frühjahr 1943 bis zum Herbst 1944 leitete Otto Höfler das "Deutsche Wissenschaftliche Institut" in Kopenhagen. An der L M U wurde er beurlaubt, vertrat aber seinen Lehrstuhl selbst. 520 Nach Aussage seiner damaligen Assistentin Hildegunde Prütting hielt Höfler deshalb seine Übungen und Vorlesungen blockweise. 521 Obwohl im Dezember 1945 vom Dienst enthoben, kehrte Höfler 1954 als Extraordinarius für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde nach München zurück. Drei Jahre später bestieg er einen Lehrstuhl in Wien.
2.7. Die ersten Jahre nach der Hitler-Diktatur (bis ca. 1950) A m 30. April 1945 übernahmen die alliierten Streitkräfte das Kommando über die Stadt München, am selben Tag wurde die Universität geschlossen. Der Lehrbetrieb ruhte über ein Jahr, erst im Sommersemester 1946 konnte er wieder aufgenommen werden. Die äußeren Umstände waren dabei wenig positiv, da vier Fünftel des Hauptgebäudes durch Bombenangriffe zerstört worden waren. Das Seminar für Deutsche Philologie, das mitsamt seiner Bibliothek seit dem Sommer 1944 ausgelagert war, bezog 1946 zwei Räume im Haus des deutschen Rechts, die von der Universitätsbibliothek freigemacht worden waren. 522 Damit befand sich die räumliche Ausstattung wieder auf demselben Niveau wie kurz nach der Seminargründung. 523
517
Vgl. das Schriftenverzeichnis von Otto Höfler in Gschwantler 1968, S.519-523. Vgl. Kap. 2.4.3. 519 Vgl. Kap. 4.3. 520 BayHStA MK 43770, KuMi an REM, 25.4.1943. - Im zweiten Teil des SS 1944 sollte ihn Siegfried Beyschlag von der Univ. Erlangen vertreten, der auch Lektor in Kopenhagen war (vgl. ebd., KuMi an Rekt., 3.7.1944). Ein Unfall verhinderte seinen Einsatz (vgl. UAM Ε II Ν Höfler, KuMi an Univ. Erlangen, 29.9.1944). 521 Vgl. Gilch/Schramka 1986, S.60. 522 Auslagerung der Bibliothek zuerst geplant nach Laufen/Obb. (vgl. UAM Sen. 64a; vgl. auch Brief von Höflers Assistentin Hildegunde Prütting an Höfler vom 18.7.1944, abgedruckt in: Gilch/Schramka 1986, S.69-72, hic: S.71), dann aber nach Teisendorf (vgl. UAM Sen. 66, Rektor an Hartl - Entwurf, 12.9.1945). - Zum Beginn 518
94
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
Als noch problematischer erwies sich jedoch der personelle und damit ideelle Neuanfang in der Germanistik. Die bisherigen Ordinarien Otto Höfler und Herbert Cysarz waren im Dezember 1945 durch die Militärregierung ihres Dienstes enthoben worden. Gierachs Lehrstuhl war seit dessen Tod 1943 vakant. 524 Einen Ausweg fand man darin, bereits emeritierte Dozenten zu "reaktivieren": "Durch die starken Einbußen, die der Lehrkörper der Universität München erlitten hat, ist es notwendig geworden, auch die älteren, bereits emeritierten Mitglieder des Lehrkörpers um Wiederaufnahme ihrer Lehrtätigkeit zu bitten." 525 A m 18. April 1946 teilte das bayerische Kultusministerium Carl von Kraus mit, daß die Militärregierung ihre Zustimmung gegeben habe, daß er ordentlicher Professor an der Münchner Universität bleibe. 526 Im Juni erklärte sich Kraus in einem Schreiben an das Dekanat zwar bereit, den Gierachschen Lehrstuhl zu vertreten und die Kommission bei dessen Neubesetzung zu unterstützen. Er betrachtete die Angelegenheit aber bereits als erledigt, da die Fakultät mit Hermann Schneider Kontakt aufgenommen habe. 527 Über diese Nachricht zeigte sich Kraus sehr erfreut, da er ihn bereits im Jahr 1943 als Nachfolger von Erich Gierach für den altgermanistischen Lehrstuhl vorgeschlagen hatte. 528 In seinem Antwortschreiben bestätigte Dekan Alexander Scharff die Rufe an Hermann Schneider sowie den Neugermanisten Walther Rehm. Deren Entscheidung stehe allerdings wegen der Wohnungsprobleme in München noch aus. 529 Offensichtlich fiel sie negativ aus, da sich die Universität bemühte, eine Einreiseerlaubnis für Kraus nach Bayern zu erhalten, der seit 1944 in Tirol lebte. 530 Angekündigt hatte er bereits für das WS 1946/47, zu ersten Vorlesungen kam es jedoch erst ein Jahr später. 531
von 1946 vgl. UAM Ο Ν 14, Dekan an Kraus, 8.6.1946; vgl. auch UAM Sen. 64a, Prof. Sommer (Stellv. Vorst, des Dt. Sem.) an Dekanat, 16.7.1947. 523 Vgl. Kap. 2.3. 524 Vgl. Kap. 2.6.2.1., 2.6.2.2. und 2.6.2.3. 525 UAM E II N, Syndikus der Univ. Mü. an frz. Militärregierung, 2.6.1947: Bitte um Ausreiseerlaubnis für Kraus nach München. 526 Vgl. ebd., 18.4.1946 (auch in UAM Ο Ν 14). 527 Vgl. UAM Ο Ν 14, Kraus an Rektorat, 6.6.1946 528 vgl. Kap. 2.6.2.1. 529 vgl. UAM Ο Ν 14, 8.6.1946. - Der Rektor hatte den Dekan mit der Beantwortung von Kraus' Schreiben beauftragt. 530 Vgl. ebd., Kraus an Dekanat, 15.5. und 9.6.1947. 531 Vgl. BayHStA MK 43913, Kraus' Antrag auf Gewährung einer Beihilfe, 31.5.1948.
2.7. Die ersten Jahre nach der Hitler-Diktatur (bis 1950)
95
Thematisch knüpfte Kraus nahtlos an die Zeit vor seiner Emeritierung an, z.B. mit "Mittelhochdeutsche Lyrik, Einleitung und Interpretation" oder "Hartmann von Aue, Der arme Heinrich" (WS 1947/48). Im Vorlesungsverzeichnis für das WS 1947/48 ist sein Name letztmals zu finden. A m 8. April 1952 starb Carl von Kraus im Alter von 84 Jahren. Ähnlich wie bei Kraus verhielt es sich bei Friedrich von der Leyen. 1937 war der Ordinarius der Universität Köln in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden, da seine Frau nicht den Ariernachweis hatte erbringen können. 1946 hatte man ihn als Honorarprofessor zurückgeholt. Ein Jahr später wechselte er im selben Rang nach München und nahm die Vorlesungen aus seiner Zeit als Privatdozent und außerordentlicher Professor an der L M U wieder auf. 532 Als Vertreter einer völkisch-nationalen Germanistik gehörte er zu den umstrittenen Wissenschaftlern aus dem Dritten Reich. 533 Neben bereits emeritierten Ordinarien bildeten ehemalige Dozenten der L M U die zweite Kategorie der Nachkriegslehrer. Die Militärregierung in München hatte sie nach Kriegsende aus dem Dienst entlassen und dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 unterzogen. 534 Da er von diesem Gesetz nicht betroffen sei, wurde Eduard Hartl im April 1947 endgültig wieder in den Lehrkörper der L M U aufgenommen. 535 Hartl (1925-1935 Assistent am Seminar, 1926 Privatdozent, 1931 außerordentlicher Professor), der bereits im ersten Nachkriegssemester die Altgermanistik vertreten hatte, wurde im Juli 1947 zum außerordentlichen, im November 1947 zum ordentlichen Professor der Deutschen Philologie ernannt. 536 Er blieb Ordinarius bis zu seinem Tod am 4. Januar 1953. Viele Parallelen weist der Fall Artur Kutscher auf. 537 Auch er war Privatdozent (ab 1907), außerordentlicher (ab 1915) und außerplanmäßiger Professor (ab 1940) an der L M U gewesen. Im März 1946 erklärte die Militärregierung die Dienstenthebung von Ende 1945 für hinfällig, so daß Kutscher im Sommersemester seine Vorlesungen wieder aufnahm. Im November folgte die zweite Amtsenthebung - vermutlich wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP. Im August 1947 wurde sie rückgängig gemacht, da Kutscher als völlig entlastet galt. A m 9. Oktober unterzeichnete der bayerische Kultusminister Hundhammer die Ernennungsurkunde zum Privatdozenten und außerplanmä-
532
Vgl. Kap. 2.4.3. Vgl. Conrady 1990, S.56-76. 534 Vgl. Schullze 21947. 535 Vgl. UAM E II N, Einstellungsbeschluß, 28.4.1947. 536 Vgl. UAM E II N, ME, 25.7.1947, und Urkunde, 18.11.1947. - Vgl. auch Kap. 2.4.1.3. 537 Vgl. für das Folgende UAM E II N. 533
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2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
ßigen Professor. Wie früher nützte Kutscher seinen Lehrauftrag für literaturund theaterwissenschaftliche Themen, bis er Ende April 1951 aus dem Lehrbetrieb ausschied.538 Zum Ordinarius für Neuere deutsche Literaturgeschichte wurde mit Wirkung zum 1. September 1946 Walther Rehm ernannt. 539 Der ehemalige Münchner Privatdozent machte allerdings seinen Wechsel nach München davon abhängig, daß eine Entlassung aus dem Universitätsdienst durch die Militärregierung von Bayern in Zukunft ausgeschlossen sei. 540 Obwohl das NSDAP-Mitglied Rehm (1942-1945) im November von der Spruchkammer Gießen als "entlastet" eingestuft worden war, konnte die Militärregierung ihm die gewünschte Garantie nicht gewähren. 541 Daraufhin muß Rehm, wie er es bereits im November angekündigt hatte, die Annahme des Rufs zurückgezogen haben. 542 Es dauerte fast ein Jahr, bis an seiner Stelle Hans Heinrich Borcherdt zum Ordinarius ernannt wurde. 543 Dieser war zuvor keinesfalls der Wunschkandidat des Ministeriums gewesen: "Prof. Dr. Borcherdt war für die Wiederbesetzung des vorgenannten Lehrstuhles nicht in Erwägung gezogen worden, da sein wissenschaftliches Arbeitsgebiet hierzu als zu beengt angesehen werden muß." 544 Borcherdt war in München gleichfalls kein Unbekannter: Von 1915 bis 1920 hatte er hier als Privatdozent gelehrt (unterbrochen durch Kriegsteilnahme), bis 1939 als nichtbeamteter außerordentlicher und dann als nichtplanmäßiger Professor. Von 1926 an hatte er auch das neugegründete Institut für Theatergeschichte geleitet. 545 1943 war er Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur in Königsberg und Leiter des Deutschen Seminars geworden. Ein Jahr danach hatte er zusätzlich einen Lehrauftrag an der L M U erhalten. 1946 war die Dienstenthebung erfolgt.
538
Vgl. Kap. 2.4.2. Vgl. BayHStA MK 44176, KuMi an Rektorat, 26.8.1946 (Ab.). 540 Vgl. BayHStA MK 44176, KuMi an Militärreg., 3.12.1946. - Zu Rehm als PD vgl. auch Kap. 2.4.1.4. 541 Vgl. ebd., KuMi (Hans Meinzolt) an Rehm, 11.12.1946 (Entwurf). - Vgl. ebd., Rehm an KuMi, 4.12.1946, Mitteilung des Spruchkammerurteils. 542 Ankündigung vom 29.11.1946 (Rehm an KuMi). - Ein entsprechendes Schreiben von Rehm fehlt im BayHStA (MK 44176) und im UAM (UAM E II N). In MK 403/3153 (BayHStA) nur eine Vormerkung (9.1.1947) vorhanden. 543 Vgl. BayHStA MK 43444, KuMi an Rektorat, 11.12.1947 (Ab.). 544 Ebd., KuMi an Bayer. Min.präs., 4.12.1946 (Ab.). - Auch bei einer Absage Rehms sollte er nicht in Frage kommen. 545 Vgl. Kap. 2.4.2. 539
2.7. Die ersten Jahre nach der Hitler-Diktatur (bis 1950)
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Der neue Münchner Ordinarius für Neuere deutsche Literaturgeschichte las ab 1949 auch wieder über Themen aus der Theaterwissenschaft, die weiterhin mit dem Deutschen Seminar verbunden war. 546 Borcherdt gehörte der L M U bis zu seiner Emeritierung am 31. März 1953 an. Der dritte und letzte Dozent, der im SS 1946 die germanistischen Veranstaltungen miteröffnete, hieß Otto Basler. 5* 1 Er hatte in Freiburg und Leipzig germanische und romanische Philologie sowie Geschichte studiert und in den zwanziger Jahren als Bibliothekar in Berlin gearbeitet. In seinen Vorlesungen und Veröffentlichungen zeigte er sich vor allem als Sprachwissenschaftler. Ende 1947 rückte Basler auf das Extraordinariat für Deutsche Philologie nach, das mit Hartls Beförderung frei geworden war. 548 1952 folgte die Ernennung zum Ordinarius, als der er bis 1959 in München blieb. 1959 ging Basler als Honorarprofessor an seine alte Studienuniversität Freiburg. Wie sehr der Beginn nach dem Zweiten Weltkrieg noch einen provisorischen Charakter aufwies, zeigt der Einsatz von fachverwandten Dozenten wie dem Indogermanisten Paul Diels. 549 Er war in dieser Zeit der zweite Dozent, der von auswärts erstmals an die L M U kam. Der Ordinarius für slavische Philologie aus Breslau (1911-1945) vertrat 1946 einen Lehrstuhl in München, den er von 1947 bis 1949 selbst innehatte. Seine eigentlichen Gebiete waren slavische Philologie und indogermanische Sprachwissenschaft, zu denen er zahlreiche Veröffentlichungen vorlegte. 550 Bis zum SS 1949 führte das Vorlesungsverzeichnis die Vorlesungen am Seminar für Deutsche Philologie (einschließlich des Instituts für Theatergeschichte) unter der Rubrik "Deutsche Philologie und Theaterwissenschaft" nach Dozenten geordnet auf. Dann erschienen sie untergliedert in Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Übungen des Seminars für Deutsche Philologie (wiederum unterteilt in Ältere und Neuere Abteilung), Deutsche Volkskunde sowie Theaterwissenschaft. Erst Mitte der 50er Jahre erfolgte eine Neustrukturierung, erforderlich durch zunehmende Spezialisierungstendenzen, wie sie neben vielen Wissenschaften auch die Germanistik kennzeichnete und kennzeichnet. Insgesamt war die Deutsche Philologie in München nach dem Zweiten Weltkrieg mit Wissenschaftlern vertreten, die entweder bereits zuvor an der 546
Vgl. Kap. 2.4.2. Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. - Baslers Personalakte im UAM durfte noch nicht eingesehen werden. 548 Vgl. weiter oben. 549 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 550 yg| ^as Schriftenverzeichnis in Koschmieder/Schmaus 1953, S.9-13. 547
98
2. Der Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie
L M U gelehrt hatten (als Ordinarien oder als Nicht-Ordinarien) oder einen Lehrstuhl an einer anderen deutschen Universität innegehabt hatten. Tätig waren sie während der NS-Zeit alle gewesen, was ohne eine bestimmte Art von "Übereinkommen" wohl kaum zu bewerkstelligen gewesen sein dürfte. Von einem personellen Neubeginn nach 1945 konnte keine Rede sein. Ob Varianten im Denken bestanden bzw. ob ein Umorientierungsprozeß stattfand, der berechtigte, von einem ideellen Neubeinn zu sprechen, kann im Rahmen dieser Untersuchung jedoch nicht erörtert werden.
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie an der L M U im Spiegel ihrer Vertreter: Inhalte, Methoden, Schulen (bis 1933)
Während im vorigen Kapitel das Seminar für Deutsche Philologie an der L M U in seinem historischen Entwicklungsprozeß nachgezeichnet wurde, richtet sich jetzt der Blick gewissermaßen nach innen.1 Zunächst ging es um die Daten und Fakten, an denen sich die fortschreitende Institutionalisierung dieses Fachs als Universitätsdisziplin festmachen ließ. Weitergehende Fragen nach Inhalten oder Methoden wurden entweder nur am Rande berührt oder ausgespart.2 Sie stehen in diesem Kapitel im Mittelpunkt. Die notwendige Verbindung stellen zahlreiche Querverweise her. Parallelen zum ersten Kapitel ergeben sich durch die chronologische Strukturierung, die sich auch hier am sinnvollsten erweist: Nur so kann die Disziplin im Hinblick auf ihre Dynamik überprüft werden. In diesem Kapitel greifen Aspekte der Professoren-, Fach- und Methodengeschichte ineinander. Als Fixpunkt dient jeweils der Lehrstuhlvertreter, der möglichst umfassend in seiner Persönlichkeit und in seinem Wirken als Lehrer und Forscher vorgestellt werden soll. Dieses Vorgehen kommt dem Befund entgegen, daß die Ordinarien im Untersuchungszeitraum die Entwicklung des Fachs und damit das Erscheinungsbild des Instituts entscheidend prägten. Die übergeordnete Einteilung in ältere und neuere Germanistik dient der besseren Übersicht. Die Forschungslage zeigt sich für die einzelnen Professoren relativ unterschiedlich, schon was das biographische Material angeht.3 Hier müssen Defizite ausgeglichen und ein gewisser Gleichstand angestrebt, gleichzeitig muß aber der individuellen Bedeutung jedes einzelnen Rechnung getragen werden. Deshalb bietet dieses Kapitel für jeden Ordinarius einen biographischen Abriß, auch für diejenigen, für die entsprechendes Material leicht und/oder in Fülle zugänglich ist. Dies geschieht auch mit der Zielsetzung, in kompakter Form alle wesentlichen Informationen zur Person bereitzustellen. Naturgemäß erfordert das eine bestimmte Auswahl und Beschränkung. Entscheidendes
1
Vgl. Kap. 2. Vgl. z.B. Kap. 2.2.1. und 2.2.2., wo die Fächer Rhetorik und Ästhetik als erste Foren für die Behandlung der deutschen Sprache und Literatur vorgestellt wurden. 3 Vgl. insbesondre Schmeller (Kap. 3.2.1.) und Maßmann (Kap. 3.2.2.). 2
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Kriterium ist dabei stets der Bezug zur Münchner Universität, wie ihn beispielsweise Berufungsdaten verdeutlichen. In diesem Fall werden auch bewußt Angaben aus Kapitel 2 wiederholt, damit das Bild nicht fragmentarisch bleibt. Zur Abrundung tragen außerdem Tagebuchaufzeichnungen und Briefe bei, letztere meist ungedruckt als Teil der Nachlässe. Im nächsten Schritt werden die Ordinarien als Dozenten und Publizisten untersucht, vor allem während ihrer Münchner Zeit. Die Phasen vor (seltener nach) der L M U werden mit berücksichtigt, um die Entstehung und eventuelle Verschiebung von Forschungsinteressen feststellen zu können. Wichtige Anhaltspunkte für Schwerpunkte im individuellen Lehrangebot liefern die Vorlesungsverzeichnisse. Um diese Ankündigungen mit einer konkreteren Vorstellung zu füllen, werden - zum Teil erstmals - Vorlesungsmanuskripte aus dem Nachlaß ausgewertet. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß schriftliches Konzept und tatsächliche Durchführung eines Kollegs durchaus voneinander abweichen können.4 Aussagen von ehemaligen Schülern oder Kollegen geben näheren Aufschluß über den charakteristischen Vorlesungsstil des jeweiligen Dozenten. Dem Universitätslehrer wird schließlich der Wissenschaftler gegenübergestellt und nach Parallelen bzw. Gegensätzen gefragt. Noch deutlicher als bei den Vorlesungen kristallieren sich hier persönliche Vorlieben heraus, denn bei Seminar und Übung hieß es doch, bestimmte Standards einzuhalten. Einen weiteren Komplex bilden die wissenschaftlichen Publikationen am Institut, die unter maßgeblicher Betreuung der Ordinarien entstanden sind. Genaue Zahlen zu den Dissertationen sollen Aufschluß über die jeweilige Neigung geben, den wissenschaftlichen Nachwuchs auf diese Art zu fördern. Eine noch konkretere Form der Förderung stellen die Habilitationen dar, an denen sich auch am ehesten die Frage nach Schülern beantworten läßt. Die Veröffentlichungen geben in ihrer Gesamtheit Aufschluß über die methodische Orientierung. In diesem Zusammenhang wird versucht, die einzelnen Fachvertreter auf ihre schulenbildende bzw. -fortsetzende Wirkung hin einzuordnen. Da der Terminus der wissenschaftlichen Schulen zwar häufig verwendet, aber nicht immer eindeutig definiert wird, setzt sich ein eigener Abschnitt mit diesem Problem auseinander.5 Nach und nach sollen auf diese Weise verschiedene Steinchen ein Mosaik ergeben, das die Bedeutung des jweiligen Lehrstuhlinhabers innerhalb des Münchner Instituts und seines Fachs im allgemeinen verdeutlicht. Prinzipiell wäre für jeden Professor eine eigene Monographie denkbar, die all diese Fra-
4 5
Vgl. insbesondre Kap. 3.2.3. Vgl. Kap. 3.1.
3.1. Zum Begriff der wissenschaftlichen Schulen
101
gen zu klären versuchte. 6 Das ist im vorgegebenen Rahmen jedoch weder realisierbar noch angestrebt. Die Einzelbilder werden vielmehr zusammengefügt und vermitteln so einen Gesamteindruck des "Spektrums der Deutschen Philologie" in München.
3.1. Zum Begriff der wissenschaftlichen Schulen Das deutsche Wort "Schule" geht auf das lateinische "schola" zurück. Über althochdeutsch "scuola" und mittelhochdeutsch "schuole" bzw. "schuol" entwickelte es sich zu seiner heutigen Gestalt.7 Sein Bedeutungsgehalt ist vielfältig. 8 "Schule" bezeichnet sowohl eine Institution zur Erteilung von Unterricht als auch den Unterricht selbst. Außerdem wird es für die "Gesamtheit der Schüler" dieser Einrichtung gebraucht. 9 In einer freieren Bedeutungsvariante tauchte der Begriff "Schule" erstmals in der bildenden Kunst auf (z.B. Florentinische Schule). Analog dazu fand er Eingang in sämtliche Bereiche der Kunst sowie der Wissenschaft. 10 Allgemein formuliert dient er hier "als Bezeichnung einer von einem Meister oder einer Gruppe von Meistern ausgegangenen Richtung in Wissenschaft oder Kunst, sowie für die Gesamtheit derer, die einer solchen angehören". 11 Die Zusammensetzung mit dem Adjektiv "wissenschaftlich" präzisiert somit lediglich eine Bedeutungsdimension, die dem Begriff "Schule" allein bereits implizit ist. Der Begriff der wissenschaftlichen Schulen ist in allen wissenschaftlichen Disziplinen gebräuchlich. Analog zur ursprünglichen Bedeutung der Schule als Erziehungs- und Ausbildungseinrichtung mit einem Lehrer und mehreren Schülern sind auch wissenschaftliche Schulen durch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis charakterisiert. Das ist jedoch nicht das einzige Kriterium. Hinzu kommt noch ein theoretisches bzw. methodisches Moment.
6
Wie sie z.B. für Schmeller in großer Zahl vorliegen (vgl. Kap. 3.2.1.). Vgl. Grimm/Grimm, Bd.15, 1984, Sp.1927; Paul 61966, S.576; Kluge 221939, S.655; Wahrig 1991, S.1147. 8 Vgl. Grimm/Grimm, Bd.15, 1984, Sp.1927-1937; Paul 61966, S.576f.; Wahrig 1991, S.l 147. 9 Paul 61966, S.576. 10 Vgl. v.a. die Romantische Schule, in denen die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten fließend sind. 11 Ebd., S.576. - Ähnlich auch bei den Brüdern Grimm: "die schülerschaft, anhängerschaft eines lehrers, meisters und die anhänger einer bestimmten künstlerischen oder wissenschaftlichen richtung, eigenart, dann auch diese eigenart selber" (Grimm/Grimm, Bd.15, 1984, Sp.1935). 7
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Eine fundierte Analyse der Charakteristika einer wissenschaftlichen Schule lieferte Edward A. Tiryakian für die Soziologie. 12 Seine Ergebnisse sind auch für wissenschaftliche Schulen in der Germanistik relevant. Im Mittelpunkt steht der Gründer der Schule, der unangefochten als Autorität anerkannt wird. Um ihn scharen sich "seine Jünger", die bereits einer anderen Generation angehören. Wer dazu zählt, entscheidet im wesentlichen er selbst.13 Die Größe einer Schule kann variieren - nach Tiryakian umfaßt sie zwischen einem und drei Dutzend Mitglieder - , was wiederum ihre Lebensdauer beeinflußt. Dem Gründer werden - in Anlehnung an Max Webers Charisma-Definition - charismatische Eigenschaften zugeschrieben, auf denen u.a. die Einheit der Schule basiert. Der Gründer initiiert eine neue Schule, indem er eine "grundlegende Auffassung der Wirklichkeit und der Einstellung zu ihr verkündet". 14 Dieses Paradigma trifft auf Zustimmung, die Anhänger übernehmen es für ihre eigenen Untersuchungen und sichern es auf diese Weise empirisch ab. 15 Um Paradigma und Forschungsergebnisse einem größeren Kreis bekannt zu machen, werden diverse Wege beschritten. Neben Veröffentlichungen in etablierten Zeitschriften und Vorträgen bei Kongressen tritt oft die Begründung eines eigenen Publikationsmediums. Mit diesem Schritt wird die Schule institutionell sichtbar. Der Generationenaspekt verleiht der wissenschaftlichen Schule ein Moment der Dynamik. In einer wissenschaftlichen Generation werden fünf bis maximal zehn Jahrgänge zusammengefaßt. Als wirklich erfolgreich gilt eine Schule, die mehr als zwei oder drei Generationen ausbildet. Mit dem Generationswechsel ändert sich das vormals revolutionäre Paradigma, es wird in den normalen Wissenschaftskanon aufgenommen. Grundsätzlich ist aber die wissenschaftliche Schule nie identisch mit der Gesamtdisziplin. Die einzelnen Merkmale einer wissenschaftlichen Schule faßte E. Tiryakian zu folgender Definition zusammen: "Eine Schule wird also von einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gebildet, die sich um eine zentrale Figur schart, einen geistigen charismatischen Führer mit einem Paradigma über die vorfindliche Realität, die Gegenstand der Untersuchung ist. Die Kernformulierungen des Paradigmas stammen vom Gründer, aber seine volle Entfal-
12
Vgl. Tyriakian 1981, S.31-68, v.a. S.40-44. Ebd., S.40. - Zum Generationenaspekt vgl. weiter unten. 14 Tiryakian 1981, S.41. 15 Edward A. Tiryakian verwendet "Paradigma" in Anlehnung an Thomas S. Kuhn, der diesen Begriff 1962 prägte (vgl. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, 1962, dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main 1967). 13
3.1. Zum Begriff der wissenschaftlichen Schulen
103
tung ist typischerweise ein gemeinsames Unternehmen des Gründers und seiner unmittelbaren Umgebung."16 Daß in der Forschung keine einhellige Meinung hinsichtlich des Verständnisses von wissenschaftlichen Schulen besteht, beweisen exemplarisch zwei Sammelbände zu diesem Thema. 17 In nahezu jedem Beitrag formulieren die Autoren ihre eigene Auffassung, ohne eine allgemein verbindliche Definition vorzugeben. Weitgehende Übereinstimmung herrscht jedoch bei der Betonung des wissenschaftlichen Forscherkollektivs. 18 Dieser Aspekt erklärt sich aus dem marxistisch-leninistischen Standpunkt der Verfasser. 19 Wenn man von diesem ideologischen Hintergrund abstrahiert, liefern die Aufsätze einige wertvolle Gedanken zu diesem Thema. Wie bei E. Tiryakian spielt insbesondre der "Schulleiter" eine zentrale Rolle. Ihm kommt es zu, bei seinen Schülern eine "innere Motivation" zu entwickeln, von der der Bestand der wissenschaftlichen Schule mit abhängt.20 Daraus erklärt sich auch die Forderung, eine Schule nicht nur durch ihren Leiter zu definieren, denn die Biographie der Schule ist mehr als nur die Biographie ihres Leiters. 21 In seinem kurzen Beitrag geht Leonid S. Saljamon auf die "Doppelfunktion der Wissenschaft" ein. 22 Unter Translationsfunktion versteht er die "Aufbewahrung (Konservierung) früher akkumulierten Wissens durch dessen Weitergabe an die folgenden Generationen"; als heuristische Funktion bezeichnet er die "Erzeugung neuen Wissens, das die weitere Entwicklung der Wissenschaft bestimmt". 23 Parallelen sieht Saljamon in der doppelten Bedeutung des Terminus "Lehre" - zum einen als Unterricht, zum andern als System neuen Wissens. Für wissenschaftliche Schulen ist dagegen - als spezifisches Charakteristikum - lediglich die Translationsfunktion obligatorisch:
16
Tiryakian 1981, S.43. Vgl. Mikulinskij/Jarosevskij/Kröber/Steiner 1977/1979. 18 Vgl. z.B. Jarosevskij 1977, S.44 und 56: "Schule als Forschungskollektiv"; oder Steiner 1977, S.136: "In jedem Fall ist die wissenschaftliche Schule eine soziale Organisationsform kollektiver schöpferischer Tätigkeit, deren elementare Struktur Lehrer-Schüler-Verhältnis besteht." 19 Beide Bände erschienen gleichzeitig bei der Akademie der Wissenschaften der DDR und der SU. 20 Jarosevskij 1977, S.57. 21 Vgl. ebd., S.55. 22 So lautet auch der Titel des Aufsatzes (vgl. Saljamon 1977). 23 Saljamon 1977, S.194 17
8 Bonk
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
"Eine Schule bleibt eine Schule, selbst wenn ihre heuristische Komponente gleich Null ist oder das System der Ausbildung so beschaffen ist, daß sie den Fortschritt der Wissenschaft aktiv behindert."24 Allerdings hängt von der heuristischen Komponente die wissenschaftliche Beurteilung der Schülergeneration ab: "Ein Schüler, der sich das Wissenssystem seines Lehrers aneignet und zu diesem System selbst nichts hinzufügt, ist ein Epigone in der Wissenschaft. Wissenschaftliches Schöpfertum verlangt nicht nur die Aneignung früheren Wissens, sondern auch die Fähigkeit, dieses in gewissem Maße zu überwinden, d.h. zu widerlegen."25 In den beiden Sammelbänden werden als Beispiele hauptsächlich Schulen aus den Naturwissenschaften herangezogen, was die Beobachtung von Rainer Kolk von anderer Seite stützt: "für die Geschichte der Germanistik liegt keine Untersuchung zur Präzisierung des Begriffs [der wissenschaftlichen Schulen, M.B.] vor." 26 Dieser Befund machte den Rückgriff auf Ergebnisse aus anderen Disziplinen erforderlich. Die "interdisziplinäre Zusammenschau" sollte den Begriff der wissenschaftlichen Schulen verdeutlichen, wie er diesem Kapitel zugrunde gelegt wird. Einzelne Aspekte, wie z.B. die Rolle des Gründers, die Translationsfunktion und die heuristische Komponente, setzen Akzente bei der Untersuchung des Spektrums der Deutschen Philologie in München. Schulenbildung als Element in der Biographie eines Forschers wird durchaus ambivalent beurteilt. Einerseits gehört es zum Kanon jeder Festschrift, jedes Nekrologs und unterstreicht die Bedeutung des Wissenschaftlers. Andererseits gilt es durchaus als Vorteil, keine Schule gebildet zu haben, indem den Schülern mehr Freiraum zur eigenen Entfaltung blieb. Da im Idealfall die Schüler nicht nur epigonenhaft die Arbeit ihres Lehrers fortsetzen, sondern einen eigenen schöpferischen Beitrag zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Theorie und/oder Praxis leisten, kann hier ein euphemistischer Zug nicht gänzlich ausgeschlossen werden.
3ê2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde Um 1800 lassen sich für die Universität in Ingolstadt bzw. Landshut die ersten Ansätze eines germanistischen Lehrangebots nachweisen.27 Ähnliche
24 25 26
Ebd., S. 195. Ebd., S.196. Kolk 1990, S.43.
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
105
Tendenzen sind auch an den anderen deutschen Universitäten zu beobachten. 28 Übereinstimmend datieren Wissenschaftshistoriker deshalb am Anfang des 19. Jahrhunderts die Konstitutionalisierung dieser neuen akademischen Disziplin, die heute als "Deutsche Philologie" bezeichnet wird. 29 Für die aufkommende wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Sprache und Literatur - vor allem der älteren - spielen im wesentlichen auch zeitbedingte Gründe eine Rolle. Die Entwicklung des neuen Fachs kann nur vor dem historisch-politischen Hintergrund richtig erfaßt und bewertet werden. Die zentrale Figur auf der politischen Bühne hieß zu Beginn des 19. Jahrhunderts Napoleon. Halb Europa stand unter dem Diktat des französischen Kaisers. Unter seinem Druck verzichtete der Habsburger Franz II. auf die Kaiserkrone, das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation war besiegelt. 1806 gab es zahllose deutsche Kleinstaaten, die sich nur im Widerstand gegen die französische Fremdherrschaft zusammenfanden. Erst die "Völkerschlacht bei Leipzig" (1813) leitete die Niederlage Napoleons ein, ohne jedoch eine real einigende Wirkung auf die deutschen Staaten zu erzeugen. Geblieben war allerdings das deutsche Nationalgefühl, daß Bewußtsein, ein Volk zu sein, das sich über die gemeinsame Sprache konstituiert: "was ist ein Volk? [...] ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden." 30 Aufgrund des fehlenden Nationalstaats suchte sich das deutsche Nationalgefühl ein anderes "Ventil": Man besann sich auf die eigene Sprache und Literatur aus einer Zeit politischer Einigung. 31 Insofern stellte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Alt- und Mittelhochdeutschen zugleich eine politische Demonstration dar. Zu dieser Deutung der Vorgänge gelangte bereits der Zeitgenosse Johann Andreas Schmeller, der erste Extraordinarius für Deutsche Philologie an der LMU: "Es kam eine Zeit fremder Unterdrückung, eine für Deutschland schmachvolle Zeit. Die Gegenwart bot ringsum nur Verhältnisse, die das Bewußtseyn ein Deutscher zu seyn zu einem peinlichen machten. Die Zukunft war trübe u. hoffnungslos. Man
27
Vgl. Kap. 2.2.1. und 2.2.2. Vgl. die Übersicht in Kap. 2, Anm.l. 29 Vgl. Raumer 1870, S.292-378; Paul (1891) 21901, S.74-97, Dünninger 21957, Sp.148. 30 Jacob Grimm auf der ersten Germanistenversammlung in Frankfurt/Main im Jahr 1846 (Verhandlungen 1847, S.ll). 31 Der Beginn der nationalen Philologisierung in Deutschland um 1800 hatte allerdings Parallelen in Europa, z.B. in England und Frankreich. 28
8*
106
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
wußte sich geistig nicht zu retten als in die Vergangenheit, als durch den Blick auf das was Deutschland früher gewesen in Wort und That."32 Die Erforscher des deutschen Altertums als "Germanisten" zu bezeichnen, bürgerte sich erst später ein. Ursprünglich waren Germanisten - im Gegensatz zu den Romanisten - "kenner und lehrer des deutschen rechts". 33 Dann wurde die Bezeichnung auf "kenner und lehrer der deutschen spräche, geschichte und alterthümer" übertragen. 34 In dieser Bedeutung wurde der Begriff erstmals offiziell bei der ersten Germanistenversammlung verwendet, die vom 24. bis 26. September 1846 in Frankfurt am Main stattfand:
"Lehrer des deutschen Rechts, das die jüngsten Geschlechter in lebhafter Umwandlung erblickt haben, das nicht allein von Vergangenheit und Gegenwart zehren, sondern auch seine Richtung in die Zukunft festigen will, faßten den Gedanken an öffentliche Zusammenkünfte, wobei es gleichwohl rathsam erschien, die bisher so genannten Germanisten nicht allein, vielmehr neben Historikern und Philologen auftreten zu lassen, die sich der deutschen Geschichte und Sprache, wie jene des deutschen Rechts beflissen" 35 Als Vorsitzender dieser Versammlung fungierte Jacob Grimm, der - zusammen mit seinem Bruder Wilhelm - der Anfangsphase des neuen Fachs ihren Namen gab. Als "Grimm-Zeit" gilt die Periode von 1807, als die Brüder ihre ersten Arbeiten veröffentlichten, bis zum Todesjahr von Jacob (1863). 36 Die Grimms verstanden ihre Aufgabe noch in einem sehr umfassenden Sinn: Sie betrieben Rechts-, Geschichts- und Sprachstudien, was auf die "wissenschaftlich-quellenkritische Erfassung des deutschen Altertums in seiner totalen geschichtlichen Dimension" abzielte.37 In München waren - zumindest zum Teil - die Akzente anders gesetzt, was mit der Person von Johann Andreas Schmeller zusammenhängt. Es entstand eine spezifische Variante durch seine Mundartenforschung, die jedoch vor allem im außeruniversitären Bereich lokalisiert war, d.h. an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 38
32
StB Schmelleriana XII.2, Vorträge über die Mundarten der deutschen Sprache unsrer und älterer Zeit (6. Nov. 1848), S.3. - Zu Schmeller vgl. Kap. 2.2.3.1. und 3.2.1. 33 Grimm/Grimm, Bd.5, 1984, Sp.3718. 34 Ebd., Sp.3718. 35 Verhandlungen 1847, S.4 [Hervorhebung M.B.]. 36 Vgl. Sonderegger 1985, S.43. 37 Ebd., S.49. 38 Vgl. Kap. 3.2.1.
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
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3.2.1. Der bayerische Germanist Johann Andreas Schmeller Am 10. Oktober 1828 ernannte König Ludwig I. den Privatdozenten Johann Andreas Schmeller zum außerordentlichen Professor und errichtete damit das erste Extraordinariat für altdeutsche Sprache und Literatur an der L M U . 3 9 Der bayerische Monarch zeichnete mit diesem Schritt einen Wissenschaftler aus, der bereits dem Kronprinzen und später dem König jeweils ein Werk gewidmet hatte. 40 Diese beiden Veröffentlichungen - die Bayerische Grammatik und das Wörterbuch - brachten Schmeller den Ruf ein, der "bayerische Grimm" zu sein. 41 Zu diesem Vergleich meinte Schmeller selber: "Den bairischen Grimm nannte mich gerne der selige Hormayr. Ja wohl, in dem Sinne, in dem das bairische Meer (der Chiemsee) mit dem deutschen (der Nordsee) mag verglichen werden. Aber wozu das alberne Vergleichen? Es soll eben Jeder nur seyn was er seyn kann. Damit tröstet sich dieser Caecilius Claudius Surdilius Mutianus."42 Dieser Einschätzung durch die Zeitgenossen ist es wohl zu verdanken, daß sich die Forschung bis in die Gegenwart eingehend mit Person und Werk von J. A. Schmeller befaßt hat. 43 Angesichts des guten Forschungsstands ist es legitim, sich hier gezielt auf die Aspekte zu konzentrieren, die für die Fragestellung dieses Kapitels relevant sind. Dazu gehört neben der Biographie ein Überblick über Schmellers wissenschaftliche Tätigkeit, vor allem an der Universität. Zu diesem Zweck wurde insbesondere der Nachlaß von Schmeller herangezogen, der sich in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek München befindet. 44 Das Leben Schmellers ist sowohl von Kontinuität als auch von Diskontinuität gekennzeichnet.45 Seine Sprach- und Literaturstudien betrieb er zwar sein Leben lang, wechselte dabei aber vom Soldaten zum Lehrer, vom Universi-
39
Vgl. Kap. 2.2.3.1. Vgl. Schmeller 1821, S.III: "Sr. Königl. Hoheit, dem Kronprinzen von Bayern, dem großmüthigen Unterstützer dieses Versuches, in Ehrfurcht und Dankbarkeit gewidmet". - Vgl. Schmeller 1827-1837, Bd.l, 1827, S.III: "Seiner Majestät dem König Ludwig von Bayern, dem großsinnigen Veranlasser dieses Versuches über Sprache, Art und Sitte Seines Volkes, in tiefster Ehrfurcht und Dankbarkeit gewidmet." 41 Vgl. Wyss 1988, S.U. 42 Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1856, S.510. 43 Eine Bibliographie der Literatur über Leben und Wirken Schmellers listet 142 Titel auf, die bis einschließlich 1984 erschienen sind (vgl. Schubert 1985, S.276-284). Neuere Literatur enthält die Personalbibliographie. 44 Vgl. StB Schmelleriana. 45 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 40
108
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
tätsprofessor zum Bibliothekar. In diesen Stellungen blieb er allerdings oft jähre- oder gar jahrzehntelang. Seine Dozentenlaufbahn unterbrach er dagegen für insgesamt 15 Jahre. Mit dem "Berufswechsel" ging oft ein anderer Aufenthaltsort einher, erst ab 1815 lebte er ständig in München, von wo aus er häufig Reisen unternahm. Die finanziellen Probleme, die ihn ununterbrochen begleiteten, resultierten wohl nicht zuletzt aus seiner sozialen Herkunft. J. A. Schmeller wurde am 6. August 1785 im oberpfälzischen Tirschenreuth geboren. Für den Sohn eines Korbflechters war es keine Selbstverständlichkeit, eine solide Schulausbildung zu erhalten. Abgesehen von einigen Gymnasial· und Lyzealjahren in Ingolstadt und München hat Schmeller nie an einer Universität studiert. Insofern bezeichnete ihn Konrad Hofmann, 1853 sein Nachfolger an der LMU, zu Recht als "Autodidact" 46 . Sein pädagogisches Interesse prägte sich früh aus, wobei er sich an Johann Heinrich Pestalozzi anlehnte. 47 Dessen Prinzipien folgte auch das Militärinstitut in Madrid, das Schmeller zusammen mit seinem Freund Franz Voitel leitete; ebenso die Lehr- und Erziehungsanstalt in Basel, an der Schmeller an der Seite seines Freundes Samuel Hopf lehrte. Nach eigener Aussage erwachte Schmellers Interesse für die Sprache bei diesen Auslandsaufenthalten: "Frühe ward ich von meinem Stern in die weite Fremde hinausgeführt. Fern vom engern, ja zum Theil auch vom gemeinsamen deutschen Vaterlande habe ich es nur inniger schätzen und lieben gelernt. Seine Sprache, das einzige was ich noch von demselben hatte, ward mein liebstes Denken und Forschen."48 Aus patriotischer Neigung zog er als Freiwilliger in den Kampf gegen Napoleon nach Frankreich. 49 Nach der Rückkehr nahm das Projekt einer bayerischen Grammatik und eines bayerischen Wörterbuchs konkrete Züge an, finanziell von Kronprinz Ludwig unterstützt. 1821 legte Schmeller der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die Grammatik vor, 1827 bis 1837 das vierbändige Wörterbuch. 1826 erhielt er die Erlaubnis, an der Münchner Universität als einfacher Privatdozent Vorlesungen zu halten, erst im Oktober 1828 folgte die Ernennung zum außerordentlichen Professor. Nur wenige Monate später trat Schmeller die Nachfolge von Bernhard Joseph Docen als Ku46 Hofmann 1885, S.22; vgl. auch Nicklas 1885, S.90. - Zu Hofmann vgl. Kap. 2.2.3.3. 47 Von dem erst 18jährigen Schmeller stammt folgender Aufsatz: Über Schrift und Schriftunterricht. Ein ABC-Büchlein in die Hände Lehrender (1803), hg. von Hermann Barkey (= Sitzungsberichte der Bayer. Akad. d. Wiss., Phil.-Histor. Klasse, 1965, H.3), München 1965. - Das Manuskript hatte Schmeller mit "Habemut" unterzeichnet (vgl. Nicklas 1885, S.20). 48 Schmeller 1821, S.IX. 49 Zu Schmellers politischem Standort vgl. Johann Andreas Schmeller (1785-1852) 1985, S.96-99.
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
109
stos der königlichen Hof- und Staatsbibliothek an und wurde 1844 zum Unterbibliothekar befördert. In dieser Position nahm Schmeller im September 1846 an der ersten Germanistenversammlung in Frankfurt am Main teil. 5 0 Zu seiner eigenen Überraschung wählte ihn die Abteilung für Sprache zu ihrem Vorsitzenden, was ihn mehr zu belasten als zu freuen schien: "Wollen wir Schmeller'n wählen? Alle sagten ja. Ich war so überrascht, und meine Einwendungen waren so verblüfft und ungeschickt, daß es dabey sein Verbleiben hatte. Unter den Anwesenden nannten sich nun Männer, die mich noch mehr schamroth machten, z.B. Schmitthenner, Vilmar, Becker, Simrock, Grieshaber, Halbertsma und Andere, der mir bereits von Angesicht Bekannten zu geschweigen. W. Grimm war nicht zugegen. - Ich beruhigte mich durch den Gedanken, daß ich doch so ziemlich Président d'âge seyn könne, und daß die Versammlung überhaupt in ihrem Interesse handle, wenn sie auch Einen aus dem seit einiger Zeit verrufenen Baiernlande etwas gelten lasse. Ohnehin war dieses wenig vertreten." 51 Hatte die Germanistenversammlung neben ihrer wissenschaftlichen Zielsetzung nie die politische Dimension geleugnet, trat diese bei der Verfassunggebenden Nationalversammlung von 1848 in Frankfurt am Main noch stärker hervor. 52 Schmeller stand auf der Liste mit 109 Kandidaten, konnte jedoch wegen seines Unfalls vom September 1847 nicht teilnehmen.53 Im November 1846 kehrte Schmeller als ordentlicher Professor für altdeutsche Sprache und Literatur an die Universität zurück, ohne seine Tätigkeit in der Bibliothek aufzugeben. Am 27. Juli 1852 starb er im Alter von fast 67 Jahren in München. Schmeller eröffnete seine Vorlesungen an der Universität mit einem programmatischen Vortrag "Ueber das Studium der altdeutschen Sprache und ihrer Denkmäler". 54 Die Resonanz des nur kleinen Auditoriums war mäßig, wie aus einem (häufig zitierten) Tagebucheintrag hervorgeht: "Um 10 hab ich endlich die allen neuangehenden Docenten der Universität vorgeschriebene 'Antrittsrede oder Probevorlesung' gehalten. Ich hätte sie fast eben so gut zu Hause meiner Uhr gegenüber gelesen, so wenig Zuhörer waren da. Nur die Professoren Fuchs, Martius, Buchner, Desberger, Mailinger, Aurbacher, Docen, Maßmann
50
Vgl. Verhandlungen 1847, S.139 (Teilnehmerliste). - Allg. zur Germanistenversammlung vgl. Röther 1980, S.22-54. 51 Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.433, Eintrag vom 24.9.1846. 52 Vgl. z.B. die Einladung zur ersten Versammlung (Verhandlungen 1847, S.5) und die Wahl des Tagungsorts. 53 Vgl. Ruf 1954, S.85*. 54 Gehalten am 8. Mai 1827 (vgl. Schmeller 1954-1957, Bd.l, 1954, S.41), gedruckt München 1827; vgl. auch Kap. 2.2.3.1.
110
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
etc. und etwa ein Dutzend Studierende. Von diesen gieng und oft gerade wenn ich an einer recht interessanten Stelle zu seyn glaubte, bald dieser, bald jener davon."55 Als "recht interessant" sind vor allem die Passagen einzustufen, in denen Schmeller die "subjective" Notwendigkeit von altdeutschen Sprach- und Literaturstudien verteidigte und das unlösbare Miteinander von Sprache und Literatur, die Materialität der Literatur, betont: "Bey allen Producten aus Sprache ist der Stoff, die Sprache, so wesentlich, wie es einen gewaltigen Unterschied macht, ob ein Gebilde der Kunst aus Marmor gemeißelt oder blos in Wachs bossirt ist. Ich wenigstens weiß nicht, ob mir Homer in neugriechischer, ja selbst Dante in neuitalienischer Sprache noch Homer und Dante seyn könnten."56 Diese These vertrat Schmeller auch in seiner Übung "Historische Grammatik der deutschen Sprache", die er - im Titel leicht abgewandelt - insgesamt fünfmal hielt. 57 Das folgende Zitat stammt aus einer Colleg-Mitschrift von Ludwig Rockinger, der seinen Lehrer Schmeller später zum Gegenstand seiner Forschung machte:58 "Die spräche und ihre laute, sie verhallen. Lebendig, hörbar ist ein zurückgehen in die Vergangenheit nicht möglich. Die spräche selbst hätte nicht die ganze gewalt, die sie jetzt hat, ohne das wirklich grosse mittel, das der mensch erfunden hat, das was nur dem ohr vernehmbar ist, auch für das auge zu fixiren: die schrift." 59 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die häufige Verbindung von Sprache und Literatur in vielen Vorlesungen Schmellers, z.B. "Ueber altdeutsche Sprache und Literatur nach schriftlichen Denkmälern des IV bis X Jahrhunderts" (SS 1827). Dennoch darf man sich Schmeller nicht als Literaturwissenschaftler im heutigen Sinn vorstellen, für den die umfassende Interpretation des literarischen Textes im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung steht. Die literarischen "Denkmäler" dienten ihm vielmehr als historisches Material für sprachwissenschaftliche, d.h. vor allem sprachgeschichtliche Überlegungen. Während die oben zitierte Colleg-Mitschrift vermutlich aus der zweiten Phase von Schmellers Universitätslaufbahn stammt, befindet sich unter Schmellers Nachlaß ein Manuskript "Vorlesungen über historische Grammatik der deutschen Sprache" aus dem Jahr 1827.60 Die Aufzeichnungen bestehen 55
Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.41, Eintrag vom 8.5.1827. Schmeller 1827, S. 13. 57 WS 1827/28; SS 1828; 1829; WS 1829/30; 1849/50. 58 Vgl. Rockinger 1886. 59 [Schmeller], Zwei Vorlesungen, 1865, S.354. 60 Am 3.4.1851 notierte Schmeller über Rockinger in seinem Tagebuch: "Ludwig Rockinger gilt mir mehr als stiller Mitsucher denn als Lerner." (Schmeller 1954-1957, 56
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
111
aus etwa 40 beidseitig beschriebenen Blättern. Inhaltlich gliedern sie sich in die Abschnitte "Deutsche Sprache von den auf uns gekommenen schriftl. Denkmalen desselben" sowie "Deutsche Sprache nach alten Denkmälern". Dabei unterschied Schmeller die "Lehre von der menschlichen Sprache im Allgemeinen", die er als "philosophische Grammatik" bezeichnete, von der Linguistik, unter die er "die versch. auf unserm Erdball vorkommenden Sprachen" faßte (Bl.l, Rückseite). Diese Differenzierung ist zwar logisch nachvollziehbar, mittlerweile aber unüblich. Heute dient Linguistik entweder als Synonym für die Sprachwissenschaft als Ganzes oder beschreibt eine bestimmte Richtung, die eine allgemeine Grammatiktheorie entwickeln will. 6 1 Während diese beiden Kapitel vollständig ausformuliert sind, hat der "Entwurf zu einer Reihe von Vorträgen über dt. Sprache und Literatur" (B1.35a) nur Konzeptcharakter. Ausgehend von der Gegenwart wollte Schmeller bis "zu ihren ersten Spuren" zurückgehen, was sich in allen Abschnitten verfolgen läßt. In einem allgemeinen Einleitungsteil legte er u.a. die Bedeutung dieses Gegenstands und die verschiedenen deutschen Mundarten dar, eines seiner Spezialgebiete.62 In der Grammatik folgte auf die Laut- die Formlehre, daran schlossen sich Wortbildungslehre und Stilkunde (für Prosa und gebundene Rede) an. Im letzten Abschnitt stellte er die Forschungsliteratur kritisch vor. Sie am Schluß zu positionieren, entspricht heute nicht mehr dem gängigen Usus. Der Hörer soll sich vielmehr von Anfang an anhand der Bibliographie eingehender informieren und die Ausführungen des Dozenten kritisch überprüfen können. Obwohl Schmellers Lehrauftrag nur auf "altdeutsche Sprache und Literatur" lautete, finden sich in seinem Vorlesungskatalog auch Ankündigungen zur spanischen und alt- bzw. angelsächsischen Sprache. 63 Damit realisierte er seine eigene Forderung, wie er sie in seiner Antrittsvorlesung erhoben hatte:
Bd.2, 1956, S.531). - StB Schmelleriana VI.8. - Seitenangaben ab sofort im Text. Es ist eine Eigenart von Schmeller, gelegentlich die Endung "en" (sowohl für den Plural als auch die Flexionssilbe) wegzulassen. Außerdem verwendete er häufig ein Zeichen für die Endung "ung" (vermutlich aus der Stenographie), das hier nicht wiederzugeben ist. Bei den folgenden Zitaten werden diese stillschweigend ergänzt. 61 Vgl. Bußmann 1983, S.302f. 62 Schmeller war es stets ein Anliegen, die Bedeutung seines Fachs hervorzuheben (vgl. Schmeller 1827 oder die Tagebuchnotizen über die Akademiesitzungen, in denen er sein Fach gegen Thiersch verteidigte. - vgl. Kap. 2.2.3.1.). 63 SS 1828: "Spanische Sprache (Grammatik und Lektüre), wöchentlich dreimal". WS 1847/48 und SS 1848: "Ueber altsächsische und angelsächsische Sprache und Literatur". - Seine ausgezeichneten Spanischkenntnisse verdankte Schmeller einem mehrjährigen Spanienaufenthalt (vgl. weiter oben).
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"Es scheint mir nicht weniger erhebend, den Blick hinauszuwerfen über diese Beschränktheit, und deutlicher zu erkennen das alte Band der Sprache, das, einst minder verblichen, diese Brüdernationen umschlang. Denn die Betrachtung des angelsächsischen Dialektes, selbst praktisch-wichtig jedem unter uns, der sich mit dem Englischen, dieser Sprache der Technik und der bürgerlichen Freyheit beschäftigt, und des altnordischen, des Schlüssels zur reichen, unter uns zu wenig gekannten Sprache und Litteratur der Dänen und Schweden, muß dem Studium unsrer eigentlich deutschen alten Sprache wenigstens subsidiarisch zur Seite gehen."64 Für die "Altsächsischen und angelsächsischen Vorlesungen" aus dem Jahr 1848 befinden sich ebenfalls Unterlagen in Schmellers Nachlaß. 65 Die Hauptgrundlage bildete ein Buch von Heinrich Leo aus dem Jahr 1838: "Altsächsiche und Angelsächsische Sprachproben", in das Schmeller zahlreiche Bemerkungen am Rand eintrug sowie nachträglich Blätter einklebte. Da der Herausgeber Leo die Texte kaum mit Anmerkungen versehen und keine Übersetzungen geliefert hatte, mußte Schmeller wohl dieses Manko ausgleichen. Für den sprachbegabten Schmeller bedeutete dabei eine Translation ins Lateinische kein Problem. 66 Schmellers eigene Manuskripte umfassen die Grammatik (z.B. Konjugationen, Deklinationen), die er sozusagen im "Taschenformat" zusammengefaßt hatte. Breiten Raum nahm der "Heliand" ein, den Schmeller in den Jahren 1830 und 1840 in einer zweibändigen Ausgabe erstmals ediert hatte. 67 Zusätzlich zu diesen beiden germanischen Sprachen lehrte Schmeller auch Gotisch und Isländisch, so daß er Germanistik im eigentlichen Sinne des Worts betrieb. Schmeller bot in der Regel nur eine Vorlesung pro Semester an. Eine Ausnahme machte er in seinem letzten Semester 1852 mit den zwei Veranstaltungen "Altdeutsche Literatur" und "Handschriftenkunde". Letztere war bereits ein Thema im SS 1850 und 1851 und leitet sich unmittelbar aus seinem Amt als Kustos bzw. Unterbibliothekar der Staatsbibliothek ab. Er hatte die Aufgabe übernommen, die zahllosen Handschriften zu katalogisieren, die durch die Aufhebung der Klöster 1806 nach München gelangt waren. 68 Für die Übungen an der Universität konnte Schmeller aus einer Fülle von rund "27.000 Nummern" wählen. 69
64
Schmeller 1827, S. 19. Vgl.StBSchmellerianaIX.ll. 66 Schmeller verfügte über Kenntnisse in folgenden Sprachen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Gotisch, Altsächsisch, Angelsächsisch, Isländisch, Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Spanisch, Französisch. 67 Vgl. Schmeller 1830-1840. 68 Vgl. Hofmann, Ueber des sei. Schmeller, 1855; Ruf 1953. 69 Diese Zahl nennt Konrad Hofmann in seiner Denkrede über J. A. Schmeller (vgl. Hofmann 1885, S.19). 65
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
113
Während bei der Handschriftenkunde Schmellers universitäre und außeruniversitäre Tätigkeit Hand in Hand gingen, gilt für eines seiner weiteren Hauptforschungsgebiete eher das Gegenteil. Der Mundartenkunde sind explizit nur drei Vorlesungen gewidmet, die alle erst in die zweite Phase seiner Dozentenlaufbahn fallen. 70 Zu diesem Zeitpunkt liegen aber seine ersten dialektologischen Veröffentlichungen - die Bayerische Grammatik und das Wörterbuch - weit über zehn Jahre zurück. Allerdings beschäftigte sich Schmeller unaufhörlich mit der bayerischen Mundart, was die zahlreichen handschriftlichen Nachträge zum Wörterbuch beweisen.71 Außerdem galt sein besonderes Interesse der Sprache der Cimbern. Aus seinem Nachlaß konnte 1855 ein "Cimbrisches Wörterbuch" veröffentlicht werden, das er im August 1851 abgeschlossen hatte. 72 Einen Grund für den geringen Anteil an dialektologischen Vorlesungen lieferte Schmeller selbst, wenn er "Vorträge über die Mundarten der deutschen Sprache" als der Universität würdig verteidigen zu müssen glaubte: "Dieser Stoff ist, wie Sie bemerken werden, zum theil nicht weit her, u. die Aufgabe hat ein nicht sonderlich gelehrtes Ansehen. Dennoch hoffe ich durch sie der Würde eines solchen Katheders nicht allzunahe zu treten, u. so denn auch nichts zu vergeben dem wahren in höherer Bildung liegenden Aristocratismus, wenn ich gleichwohl der großen Bewegung zu folgen scheine, die in diesen Tagen die europäische Welt durchzuckt, indem ich nemlich das Volk, das gemeine Volk u. seine Eigenthümlichkeiten in der Geltung anerkenne, zu der es außer allem Zweifel berechtigt ist." 73 Neben diesem politisch dimensionierten Begründungsansatz gibt es auch eine sprachwissenschaftliche Begründung. In einer Gegenüberstellung von 70 SS 1847 und 1849. - Da 1849 von einer "Fortsetzung" die Rede und im WS 1848/49 vermerkt ist, daß Schmeller später ankündigen wird, muß es sich um insgesamt drei Veranstaltungen handeln. - Dialektologische Überlegungen enthält auch der "Entwurf zu einer Reihe von Vorträgen über dt. Sprache und Literatur" aus dem Jahr 1827 (vgl. StB Schmelleriana VI.8, B1.35a). 71 Vgl. Schmeller, Handschriftl. Nachträge, 1865; vgl. auch die 2. Aufl. des Wb. von 1877, in die der Bearbeiter Karl G. Frommann Schmellers Nachträge aufnahm. Schmeller selbst schrieb dazu: "Sammlungen solcher Art wird man wol nie als geschlossen ansehen dürfen; viel ist für sie schon gewonnen, wenn sie nur einmal angelegt sind, alles Mögliche, wenn sie nie ganz aufgegeben werden." (Schmeller 18271837, Bd.l, 1827, S.XVIII) 72 Den Abschluß des Manuskripts datiert Hans-Jürgen Schubert auf den 22. August 1851 (vgl. Schubert 1985, S.274). Aus dem Jahr 1834 stammt außerdem ein Vortrag vor der Bayer. Akad. d. Wiss.: "Über die sogenannten Cimbern der VII und XIII Communen auf den Venedischen Alpen und ihre Sprache". 73 StB Schmelleriana XII.2, Vorträge über die Mundarten der deutschen Sprache, S.4.
114
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Mundart und Schriftsprache preist er in bilderreichen Sätzen deren unterschiedliche Qualitäten: "Mir stehen die Mundarten neben der Schriftsprache da, wie eine reiche Erzgrube neben einem Vorrathe schon gewonnenen und gereinigten Metalles, wie der noch ungelichtete Teil eines tausendjährigen Waldes neben einer Partie desselben, die zum Nutzgehölz durchforstet, zum Lusthain geregelt ist." 74 Andrerseits sah er sein Ziel darin, "ein Volk in Masse höher heben zu können", weshalb man es "erst recht verstehen" müsse.75 Mit diesem Denken stand Schmeller noch ganz in der Tradition der Aufklärung. 76 Das "Volk in Masse zu heben" war ihm in seinen Vorlesungen sicher nicht möglich, dazu war die Resonanz zu gering. In seinen Tagebüchern führte Schmeller sorgsam Buch über seine Hörer. 77 Neben eher vagen Formulierungen finden sich auch exakte Zahlenangaben einschließlich der Namen und der Studienrichtung seiner Hörer. 78 Diesen Einträgen zufolge wechselte ihre Zahl beträchtlich, d.h., sie variierte zwischen vier und maximal "etwas über 50". 79 Dabei fällt auf, daß die Zahl der Teilnehmer meist gegen Semesterende abnahm. Zwischen der ersten und der zweiten Periode von Schmellers Universitätslaufbahn sind keine nennenswerten Unterschiede zu verzeichnen. Zu seinen Hörern zählten vor allem Studenten der Klassischen Philologie und der Philosophie. 80 Außerdem nahmen Offiziere und "auch ganz andre Leute, als junge studierende" teil, nämlich Akademiker oder Beamte. 81
74
Schmeller 1821, S.VIII. Ebd., S.VIII. 76 Zu Schmellers geistesgeschichtlicher Stellung vgl. Kunisch 1942-1949. 77 Hier bestätigt sich die zentrale Bedeutung der Tagebücher als Quelle zu Schmellers Person und Arbeitsumfeld. - Weitere Angaben auch in den Vorlesungsmanuskripten (z.B. StB Schmelleriana IX.11, Teilnehmerliste 8. Juny 1848, oder Schmelleriana XII.2, Teilnehmerliste 6. Nov. 1848). 78 Z.B. "Es waren nur etwa ein Duzend Hörer." (Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.456, Eintrag vom 3./4.5.1847); "mein Häuflein Zuhörer" (ebd., Bd.2, 1956, S.70, Eintrag vom 21.1.1829). - Z.B. "Am 11t. habe ich meine auf Dienstag und Mittwoch 1-3 gesetzten Lectionen über Ulphilas und Übung im Lesen alter Handschriften begonnen: Theilnehmer: Joh. Nep. Kelle (Verfasser einer deutschen Sprachlehre) aus Regensburg, Paul La Roche (LehramtsCandidat aus München, Edmund Behringer cand. philolog. aus Babenhausen, Jos. Spanfehlner cand. philol. aus München, Clemens Piloty cand. juris aus München, Waser aus Baden, Jacob Staudt cand. philos, aus Mannheim." (ebd., Bd.2, 1956, S.540, Eintrag vom 11.11.1851) 79 "Mit meinen noch vier Hörern Laroche, Spanfehlner, Behringer und Staudt das Semester geschlosssen." (ebd., Bd.2, 1956, S.545, Eintrag vom 24.3.1852). - Vgl. ebd., Bd.2, 1956, S.458, Eintrag vom 14.6.1847. 80 Vgl. ebd., S.536, Eintrag vom 6.8.1851, und S.540, Eintrag vom 11.11.1851. 75
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
115
Schmellers Vorlesungsstil umriß sein Schüler und späterer Nachfolger Konrad Hofmann mit den knappen Worten: "Schmeller war ein Mann der ersten Art, seine Vorträge waren solid, aber nicht brillant." 82 Außer Hofmann, den er stets nach Kräften förderte, soll Schmeller auch Adolf Holtzmann maßgeblich beeinflußt haben, sich dem Studium der deutschen Sprache und Literatur zuzuwenden.83 Holtzmann übernahm in Schmellers Todesjahr das germanistische Ordinariat an der Universität Heidelberg, das er bis zu seinem Tod 1870 innehatte. Im engeren Sinne schulenbildend wirkte der Germanist Johann Andreas Schmeller jedoch nicht, was vor allem auf die frühe Phase der Etablierung dieser Disziplin zurückzuführen ist. Vorbildcharakter bis in unser Jahrhundert erlangten allerdings seine mundartkundlichen Forschungen. Schmeller war an das Projekt Grammatik und Wörterbuch, das er im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften durchführte, sehr systematisch herangegangen. 84 Als Offizier stellte er Kontakte zu Rekruten aus allen Regionen Bayerns her, um sein Material zu erweitern. 85 Außerdem bat er öffentlich in der "Zeitschrift für Baiern und die angränzenden Länder" um Beiträge für sein Wörterbuch. 86 Namentlich führte Schmeller seine "Gewährsmänner" in der Vorrede zum ersten Band des Wörterbuchs auf; darunter finden sich vor allem Professoren, Pfarrer, Beamte und Richter, also Angehörige der gebildeten Schicht. 87 Die wichtigste Quelle bildeten wohl die
81
Vgl. ebd., S.456, Eintrag vom 18.5.1847. - Ebd., S.446, Eintrag vom 6.12.1846. - Namentlich genannt werden Dr. Maurer, Dr. Prantl und Hofrath Bayer. 82 Hofmann 1885, S. 18. 83 Zu Hofmann vgl. Kap. 2.2.3.2. - Zu Holtzmann vgl. Lehmann 1967, S.217. 84 Schmeller selbst betrachtete Grammatik und Wb. durchaus als Einheit: "Wenn überhaupt Niemand mit Nutzen an das Wörterbuch irgendeiner Sprache gehen wird, eh er sich ein wenig in der Grammatik derselben umgesehen hat, so ist dieß sicher auch bey dem vorliegenden der Fall." (Schmeller 1827-1837, Bd.l, 1827, S.VII) Außerdem verwies er in Fragen der Orthographie explizit auf seine Grammatik (vgl. ebd., S.VIII). - Zu Schmellers Vorgehensweise vgl. das Vorwort zur Grammatik (Schmeller 1821, v.a. S.XIf.) und zum Wb. (Schmeller 1827-1837, Bd.l, 1827, v.a. S.XI-XII). 85 Vgl. Schmellers Antrag bei der Akademie wegen Besprechungen mit Rekruten zu München für dialektologische Zwecke vom 8.8.1820, abgedruckt in: Oberbayer. Archiv für vaterländische Geschichte 43 (1886), S.124ff. 86 Vgl. Schmeller 1816. 87 Schmeller 1821, S.XI, und Schmeller 1827-1837, Bd.l, 1827, S.XVI. - Liste der Mitarbeiter: S.XVI-XVIII.
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
eigenen Beobachtungen und Aufzeichnungen Schmellers, die er u.a. auf seinen zahlreichen Wanderungen durch Bayern sammelte und anfertigte. Wie es seinem Wesen entsprach, zweifelte Schmeller stets an der Qualität seiner Arbeit. 88 Im Interesse seines Gegenstands wünschte er Kritik, die er als wertvollen Beitrag für den Fortschritt der Wissenschaft sah: "Es glaubt der Verf. übrigens seine eigene Überzeugung von der Mangelhaftigkeit dieser Sammlung [= das Wörterbuch, M.B.] nicht besser darthun zu können, als indem er die künftigen Besitzer des Buches ersucht, demselben eine Anzahl leerer Blätter beyzufügen, auf welchen, was sie beym Nachschlagen vermissen, od. mangelhaft od. gar unrichtig finden werden, für eine dereinstige vollkomnere Sammlung oder doch für einen Nachtrag zu d i e s e m Versuche vorgemerkt werden könne. Diese wäre besonders bey den, auf öffentlichen Bibliotheken od. bey Behörden u. Collégien zu allgemeinem! Gebrauche aufliegenden Exemplarien zu wünschen."89 Dank dieser beiden Publikationen wird Schmeller als Begründer der modernen deutschen Mundartenforschung gepriesen. 90 In der Münchner Universitätsgeschichte steht er am Anfang einer Reihe von Dialektologen, die den gesamten Zeitraum dieser Untersuchung durchzieht. Sie reicht von Matthias von Lexer über Otto Maußer und Eberhard Kranzmeyer bis zu Erich Gierach und Otto Basler. 91 Neben den lexikographischen Arbeiten machte sich Johann Andreas Schmeller einen Namen als Herausgeber, vor allem von altdeutschen und mittellateinischen Texten. 92 Sein Schüler Konrad Hofmann charakterisierte den Philologen mit folgenden Worten: "Er gehört ganz der conservativen Schule an. Oefter hörte man ihn sagen: Ich verlange vor allem einen diplomatisch ganz genauen und zuverlässigen Abdruck der Handschrift, dann mögen die Herren den Text sieden oder braten. Dann kam bei ihm in zweiter Linie die Exegese, in der er ebenso gründlich wie vorsichtig verfuhr, wobei ihm seine umfassende Kenntniss aller älteren germanischen Sprachen und Mundarten und seine Vertrautheit mit allen Realien des Mittelalters die schwierigsten Aufgaben 88
Vgl. Joh. Andreas Schmeller 1985, Vorwort von Franz Georg Kaltwasser, [o.S.]. Schmeller 1827-1837, Bd.l, 1827, S.XVIII. 90 Vgl. Wrede 1919, S.3, und Knoop 1982, S.16. - Karl Weinhold bezeichnete Schmeller als "Meisterforscher in den lebenden Mundarten" (Weinhold 1893, S.477). - Das Bild des Pioniers der modernen Dialektologie revidierte in jüngster Zeit Klaus J. Mattheier, indem er "Schmeller zwar [...] auf der Höhe der Zeit, aber wohl nicht [als] einsamen Vorreiter einer modernen Dialektologie oder Dialektsoziologie" einstufte (Mattheier 1988, S.59). 91 Zu Lexer vgl. Kap. 3.2.4. - Zu Maußer, Kranzmeyer, Basler vgl. jeweils die Personalbibliographie und die Artikel im Lexikonteil. - Zu Gierach vgl. Kap. 4.1. 92 Vgl. die Schmeller-Werkbibliographien (Föringer 1855, S.39-55; Schubert 1985, S.259-276). 89
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
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erleichterten. Dann kam die Textkritik, in der er am vorsichtigsten war, wofür aber auch das von ihm geleistete einen dauerbaren Wert hat. [...] Dann kamen die Einleitungen, in denen er mit der ihm eignen Klarheit und Objectivität alles Wissenswerte darlegte, das Sichere vom minder Sicheren streng scheidend, ohne allen gelehrten Prunk und ohne alle ästhetische Affectation. Weiter gieng er nicht. Das bloss Hypothetische und Conjecturale in allen Richtungen, die Philologie des Unbekannten, wie man im Anschluss an die Philosophie des Unbewussten sagen könnte, hielt er nicht für s e i η e Aufgabe, wie wohl er ihr mit seiner gewohnten Unparteilichkeit gar nicht feindlich gegenübertrat, vielmehr an den allerkühnsten Conjecturen die grösste Freude hatte."93 Bei der Edition der "Muspilli" (1832) beispielsweise trennte Schmeller strikt zwischen sicheren Aussagen und Vermutungen, die er klar als solche kennzeichnete.94 Sein immenses Wissen erleichterte zwar Spekulationen, aber er setzte sie nur zurückhaltend ein. Schmellers Vorgehensweise ist an jeder Stelle problemlos nachvollziehbar, womit er das Kriterium "Überprüfbarkeit", das insbesondere heute an jede wissenschaftliche Aussage angelegt wird, in einem frühen Studium der Germanistik erfüllte. Weitere bedeutende Textausgaben gelangen Schmeller mit dem "Heliand", mit dem er "einen der wichtigsten Ueberreste der deutschen Vorzeit bekannt machte", und mit den "Carmina Burana". 95 Eine andere Facette von Schmellers vielseitigem Schaffen betrifft seine lyrischen und dramatischen Versuche. In den Tagebüchern finden sich zahlreiche Gedichte eingestreut, von den Dramen vollendet hat er nur zwei. 96 "Die Ephesier" veröffentlichte Johannes Nicklas aus Schmellers Nachlaß. 97 Damit nahm Schmeller bereits jene "Zwitterstellung als Gelehrter und Litterat" ein, die für viele Germanisten an der L M U - aber nicht nur hier - charakteristisch ist. 98 Um nur einige Namen zu nennen: Wilhelm Hertz, Emanuel Geibel, Mo-
93
Hofmann 1885, S.20f. Sichere Aussagen tragen z.B. den Zusatz "ohne Zweifel" (S.lll), während bei Vermutungen "wohl" (S.56 oder 109) oder "es scheint" (S.l 13, Anm.79) steht (jeweils Schmeller 1832). 95 Vgl. Schmeller 1830-1840. - Hormayr 1846, S.395. - Vgl. Schmeller 1847. 96 Vgl. Schmeller 1954-57. - "Luitpold" und "Die Ephesier". 97 Erschienen München 1885. 98 So charakterisierte W. Christ den Ästhetikprofessor Moriz Carrière, der auch germanistische Vorlesungen hielt (vgl. Christ 1903, S.457). - Ähnlich stellte Max Koch 1923 fest: "Es ist eine auffallende Erscheinung, wieviele bedeutende Germanisten auch zugleich Dichter waren, so Uhland, Simrock, Wackernagel, Hoffmann von Fallersleben, Gervinus, Wilhelm Hertz, Felix Dahn. Ja selbst der grimme Lachmann, von dem man es wahrlich nicht vermuten sollte, hat als Shakespeare-Verdeutscher und in eigenen Gedichten dem poetischen Triebe gehuldigt." (Koch 1923, S.31) 94
118
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
riz Carrière, Herbert Cysarz, Artur Kutscher, Friedrich von der Leyen." Als Lyriker gehört auch Hans Ferdinand Maßmann in diese Reihe, der erste Ordinarius für ältere deutsche Sprache und Literatur in München. 100
3.2.2. Die "'philologisierte'
Disziplin" unter Hans Ferdinand Maßmann 101
Während der Forschungsstand zu Johann Andreas Schmeller durchaus zufriedenstellt, hat die Forschung den ersten Münchner Ordinarius für ältere deutsche Philologie bis vor kurzem so gut wie ignoriert. 102 Der Dozent Maßmann wurde namentlich erwähnt in universitätsgeschichtlichen Darstellungen, zu der eine vollständige Auflistung des Lehrkörpers gehört. 103 Diese Zielsetzung schließt eine ausführliche Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen weitgehend aus. Gleiches gilt für Untersuchungen zu bestimmten Aspekten der Münchner Universitätsgeschichte, wie sie z.B. Max Huber 1938 und Ursula Huber 1987 vorlegten. 104 Für die Historiker seines Fachs spielte Maßmann ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle. Hermann Paul widmete ihm in seiner "Geschichte der germanischen Philologie" nur drei Sätze, die kein glänzendes Licht auf den Wissenschaftler werfen: " H a n s F e r d i n a n d M a s s m a n n (1797-1874) hat zuerst durch den Turnvater J a h η eine bestimmte Lebensrichtung erhalten. Auch später schwankte er in seiner Lehrtätigkeit in München und Berlin zwischen Pädagogik im Sinne Jahns und germanischer Philologie. Als Herausgeber hat er eine reiche Thätigkeit entfaltet, es fehlte ihm aber an voller Genauigkeit und noch mehr an Kritik." 105 Auch die Vorarbeiten zur Geschichte des Deutschen Seminars in München sind in bezug auf Maßmann wenig ergiebig. Bei Eduard Hartl fehlt sein Name ganz, da dieser die Zeit vor der Seminargründung nahezu vollständig außer
99
Vgl. jeweils die Personalbibliographie und die Artikel im Lexikonteil. Vgl. Kap. 3.2.2. 101 Kolk 1990, S.49. 102 Zu Schmeller vgl. Kap. 3.2.1. 103 Für München: Prantl 1872, Bd.l, S.730, und Bd.2, S.534, Nr.368; für Berlin: Lenz 1918, S.146. 104 Vgl. Huber, Max, Ludwig I. von Bayern und die LMU in München (18261832), Diss., München 1938. - Vgl. Huber, Ursula, Universität und Ministerialverwaltung. Die hochschulpolitische Situation der LMU München während der Ministerien Oeningen-Wallerstein und Abel (1832-1847), Berlin 1987. 105 Paul (1891) 21901, S.99. - An einer anderen Stelle erwähnt Paul Maßmann als Lehrer von Franz Pfeiffer (vgl. S.l01). 100
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
119
acht läßt. 106 Rainer Albert Müller hält seine Ausführungen zum ersten Ordinarius eher knapp. 107 Für das Berliner Seminar stehen die Dinge kaum anders. Es wurde vor allem die Zeit nach der Institutsgründung im Jahr 1887 behandelt, die Vorgeschichte dagegen nur am Rande berührt. 108 Der Extraordinarius Maßmann war dafür zu wenig bedeutsam. Diese faktische Forschungslücke schließt jetzt die jüngst erschienene "Biographie" von Joachim Burkhard Richter. 109 Die sehr gründliche und ausführliche Darstellung schildert den ersten Münchner Ordinarius für Germanistik vor allem als Vertreter des "altdeutschen Patriotismus im 19. Jahrhundert". 110 Vor diesem Hintergrund erscheint Maßmanns Wirken als Germanist, Turner und Lyriker in erster Linie als national motiviert, so daß es sich fast um eine politische Biographie handelt. Thematisch bedingt, liegt der Akzent im folgenden hauptsächlich auf dem Philologen Maßmann. Hans Ferdinand Maßmann wurde am 15. August 1797 in Berlin geboren. 111 Für den Sohn eines Uhrmachermeisters ist das Studium der Theologie an den Universitäten Berlin und Jena (1814-18) eher ungewöhnlich, erklärt sich aber aus dem Bildungseifer des Vaters: "[...] Johann Christoph M a ß m a η η, der gebürtig von Hemmleben bei Kölleda in der güldenen Au (Thüringen), eines Bauern Sohn, früh zum Schneider verdammt, statt dessen aus eigenem Antriebe Uhren fertigte, lateinisch, griechisch, hebräisch, französisch zu erlernen strebte, und, was er selber darin nicht erringen konnte, an seinen beiden Söhnen später durch frühen und fleißigen Schulbesuch zu verwirklichen redlich bemüht war, dieselben dazu mehr anhaltend und anregend als zu seinem schönen Kunstgewerbe, für dessen handliche Geschicklichkeit sich aber auf beide Söhne natürliche Anlage vererbte [...]" 112 1815 nahm Maßmann als freiwilliger Jäger am Krieg gegen Napoleon teil. Sein nationalpatriotisches Interesse bekundete der begeisterte Burschenschaftler auch als Mitorganisator des Wartburgfestes (1817) und der Bücherverbrennungen. 113 Dieses Engagement hatte unliebsame Konsequenzen, als 1819
106
Vgl. Hartl 1926. Vgl. Müller 1980, S.196ff. 108 Vgl. Richter 1960 und Höppner 1988. 109 Vgl. Richter 1992, hic: S.VII. 110 Vgl. den Untertitel von Richter 1992. 111 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 112 Schaden 1834, S.68. - Laut Wilhelm Scherer eine Selbstbiographie Maßmanns (vgl. Scherer 1884, S.571). 113 Vgl. die Schilderung in der Jahn-Biographie von Fritz Eckardt (Eckardt 1924, S.240ff.). 107
9 Bonk
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
die Verfolgung der sogenannten "Demagogen" einsetzte. 114 Außer mehrfachen Verhören, einer achttägigen Karzerstrafe und beständiger Kontrolle seiner Aktivitäten brachte das Wartburg-Engagement ihn immer wieder in Verruf, ein politischer Aufrührer zu sein, was sich mehrfach nachteilig auf seine berufliche Laufbahn auswirkte. 115 Nach dem Studienabschluß betätigte er sich als Hilfslehrer in Breslau und Magdeburg, später in Nürnberg. Dazwischen absolvierte er eine Drechslerlehre in Berlin. Die handwerkliche Geschicklichkeit, die er wohl von seinem Vater geerbt hatte, nutzte Maßmann später auch für künstlerische Zwecke. 116 Beispielsweise schnitt er für Schmellers "Muspilli" den Titel in Holz und fertigte einige Faksimiles an. 117 1821 besuchte Maßmann auf einer Schweizreise Pestalozzi. 118 Anschließend kehrte er nach Berlin zurück, um "nunmehr seine früh und stets mit Liebe gehegten historischen Studien der Muttersprache bestimmter aufzunehmen." 119 Diesen Studien ging er "in stiller Zurückgezogenheit" nach, wie Maßmann es in seiner autobiographischen Skizze formulierte. 120 Insofern ist Max Lenz berechtigt, Maßmann als "unermüdlichen Autodidakten" zu bezeichnen.121 Dieser Befund, der auch für Schmeller zutraf, wurde bereits als symptomatisch für die Frühphase der Deutschen Philologie erkannt - Maßmann ist somit ihr typischer Repräsentant. 122 Im August 1824 trat Maßmann eine zweijährige Reise an, um in den wichtigsten deutschen Bibliotheken (z.B. Wolfenbüttel, Göttingen, Heidelberg) Handschriften zu kopieren. 123 Sein Weg führte ihn auch nach München, wo er
114
Vgl. Richter 1992, S. 100-111. Beispielsweise gelang es ihm lange nicht, eine feste Anstellung als Lehrer zu bekommen - weder in Preußen noch in Bayern. 116 Vgl. weiter oben. 117 Schmeller, Muspilli, 1832; vgl. auch Kap. 3.2.1. - Vgl. dazu Schmeller: "Ich bin übrigens heute mit dem Manuscript über das neuentdeckte und, zum Neujahrs Geschenk für Germanophilen, in Buchner's neuen Beyträgen herauszugebende altdeutsche Gedicht Muspilli zu Ende gekommen. Freund Maßmann wird den Titel in Holz schneiden und ein paar Seiten facsimisisieren [sie!]." (Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.139, Eintrag vom 1.1.1832) Das Honorar für Maßmann betrug 10 Gulden 48 Kreuzer, die als Geschenk an "einen armen Turnknaben" gingen (vgl. ebd., S.147). Vgl. auch die Auflistung "Handliche Hilfsarbeiten für wissenschaftliche Zwecke" in Schaden 1834, S.75. 118 Wie auch Schmeller (vgl. Kap. 3.2.1.). 119 Schaden 1834, S.70. 120 Ebd., S.70. 121 Lenz 1918, S.146. 122 Zu Schmeller vgl. Kap. 3.2.1. - Vgl. Kap. 2.2.2. 123 Zu Maßmanns Tätigkeit in St. Gallen vgl. Sonderegger 1982, S.134-137. 115
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seit Ostern 1827 den Turnunterricht am Kadettencorps leitete. 124 Außerdem begann er mit altdeutschen Vorlesungen an der Ludwig-Maximilians-Universität, obwohl er offiziell erst am 16.3.1829 als Privatdozent aufgenommen wurde. 125 Bereits Ende des Jahres ernannte ihn König Ludwig I. als Nachfolger von Schmeller zum Extraordinarius. Im April 1835 wurde Maßmann zum ersten ordentlichen Professor für altdeutsche Sprache und Literatur an der Münchner Universität befördert. Gleichzeitig übernahm er die Position eines Sekretärs der Volksschulkommission im Innenministerium, die er bis November 1840 innehatte. Anfang 1843 ließ sich Maßmann für zwei Jahre beurlauben, um in Preußen den Turnunterricht an den Schulen einzuführen. Für diese Aufgabe war Maßmann als einer der ältesten Schüler von "Turnvater Jahn" prädestiniert, den er bereits im Sommer 1817 in der Leitung der Berliner Turnanstalt vertreten hatte. Dieselbe Funktion hatte er seit 1828 an der öffentlichen Turnanstalt in München innegehabt. 126 Mitte des Jahres 1846 trat Maßmann ganz in preußische Dienste, um das Turnwesen in Preußen zu organisieren. Zusätzlich wurde er an der Berliner Universität Extraordinarius mit der Verpflichtung zu einer Vorlesung im Wintersemester. 127 Bis zu Lachmanns Tod im Jahr 1851 hielt Maßmann jedoch lediglich zwei Vorlesungen. 128 Erst dann intensivierte er seine wissenschaftliche Tätigkeit, zumal der preußische Turnunterricht neuen Methoden zu folgen begann. 1860 erlitt Maßmann einen Schlaganfall, der ihn zunehmend beeinträchtigte. Am 3. August 1874 starb er in Muskau an der Lausitz. Mit der Vorlesung "Ueber das Niebelungen-Lied" trat Hans Ferdinand Maßmann im Sommersemester 1827 erstmals als Dozent an der L M U auf. Der "Schluß der Eröffnungsrede" zu dieser Vorlesung wurde noch im selben Jahr im "Kunstblatt" abgedruckt. 129 Dem Titel nach erweiterte Maßmann seine Ankündigung auf "dichterische Denkmäler unsrer Vorzeit", beschränkte sich in seinen Ausführungen allerdings im wesentlichen auf das Nibelungenlied. An das "National-Epos" ging er auf drei Arten heran (vgl. S.203). Dokumentiert ist nur die letzte, "die p l a s t i s c h e " (ebd.): Maßmann betrachtete es
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Vgl. ADW Nachlaß Schelling, Nr.448, Maßmann an Schelling, 20.4.1828. Vgl. Kap. 2.2.3.2. 126 Vgl. Maßmann, Ueber Enrichtung einer allgemeinen öffentlichen Turnanstalt in München im Jahre 1828, in: Maßmann 1838, S.27-46. 127 Vgl. Lenz 1918, S. 146. 128 Vgl. ebd., S.146. 129 Vgl. Maßmann, Ueber die Beschäftigung, 1827, S.203 (Untertitel). Seitenangaben ab sofort im Text. - Dieser Abdruck legt den Schluß nahe, daß Maßmann die gesamte Vorlesung schriftlich ausarbeitete. Sein Nachlaß enthält allerdings keine Manuskripte dieser Art (vgl. die Nachlaßbeschreibung weiter unten). 125
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als reiche Quelle für den bildenden Künstler. 130 Für die weiteren Veranstaltungen plante er, alle drei Betrachtungsweisen "zu vereinigen und sich wechselseitig [...] durchdringen zu lassen." (S.206) Seine eigene Aufgabe sah er vor allem darin, sprachliche Erklärungen zu liefern und das deutsche Epos mit anderen nordischen Dichtungen (z.B. Wilkina Saga, Volsunga Saga) zu konfrontieren: "Es ist S a c h e des L e h r e r s , bey fortgehender Lesung des Liedes, neben nothwendig werdenden sprachlichen Erläuterungen des Textes, bey den einzelnen Anlässen des Stoffes, der Sagen, der Handlung jene gleichlaufenden oder abweichenden Ausgestaltungen der nordischen und anderweitigen Auffassung, die selber unter einander abweichen, in Vergleich und zur Anschauung zu bringen und sie am S c h l ü s s e der gemeinsamen Lesung nochmals in einen Brennpunkt zum dann wohltuenden Ueberblick und Rückblick zu sammeln." (S.206) Es war auch Maßmanns Absicht, Homers Epos "Ilias" zum Vergleich heranzuziehen (vgl. ebd.). Dieser komparatistische Ansatz diente aber nur dem Zweck, die Eigenständigkeit der deutschen Kunst zu bestätigen, erklärt sich somit aus seinem nationalpatriotischen Impetus: "Dann wird unserer Zeit nicht mehr nachgesagt werden, sie habe nur in a k a demischer U e ber 1 i ef e r ung Nachgeahmtes nachahmen k ö n n e n." (S.206) Mit seiner Vorlesung fand Maßmann nur 15 Hörer. 131 Diese geringe Resonanz ist symptomatisch für dieses frühe Stadium der neuen Disziplin. 132 Das Thema "Nibelungenlied" bildete in Maßmanns mehr als 15jähriger Lehrtätigkeit in München einen deutlichen Schwerpunkt. Insgesamt 14mal behandelte er es ausschließlich oder aber in einem größeren Zusammenhang, d.h., er stellte es neben andere mittelhochdeutsche Gedichte oder untersuchte den "Sagen-Kreis des Nibelungen-Liedes" (WS 1835/36). 133 Angesichts der häufigen Frequenz dieses Themas erstaunt es, daß Maßmann dazu keine Ab-
130 Diese Sichtweise steht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Plan von König Ludwig I., den Anbau der Residenz mit dem Nibelungenlied-Zyklus ausgestalten zu lassen (vgl. Richter 1992, S.226 - vgl. auch weiter unten). 131 Vgl. Richter 1992, S.231. 132 Vgl. z.B. Schmeller (Kap. 3.2.1.). - Allerdings muß man auch die generell niedrigeren Studentenzahlen in diesem Zeitraum berücksichtigen. 133 SS 1827, WS 1827/28, SS 1828, WS 1829/30, 1831/32, SS 1832, WS 1832/33, SS 1833, WS 1834/35, 1835/36, SS 1836, WS 1836/37, SS 1839, WS 1840/41. - Ausschließlich z.B. im WS 1831/32 oder SS 1836. - Z.B. SS 1839: "Mittelhochdeutsche Gedichte (Rolandslied, Nibelungenlied oder andere), sprachlich und sachlich erklärt.".
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handlung vorlegte. 134 Lehr- und Forschungstätigkeit gingen in diesem Fall auffallend getrennte Wege. Die Beliebtheit des Nibelungenlieds, das "eines der Zentren der deutschen Philologie im ganzen 19. Jahrhundert" darstellte, führt Bernd Weimar auf den wachsenden Patriotismus seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon zurück. 135 Außerdem hatte Karl Lachmann 1826 seine Ausgabe dieses mittelhochdeutschen Textes vorgelegt, die von der Hagens Fassung gründlich revidierte. Die Lachmann-Edition setzte mit ihrer Anlehnung an die Praxis der Klassischen Philologie neue Maßstäbe. Es ist anzunehmen, daß auch Maßmann diese aktuelle Ausgabe für seine Vorlesungen benutzte. Während es sich hier eher um eine Spezialvorlesung handelte - auch wenn das Nibelungenlied in einem sehr umfangreichen Kontext untersucht wurde - , sind von Maßmann auch überblicksartige Vorlesungen nachweisbar. Sie berührten vor allem die "Aelteste deutsche Literaturgeschichte" (z.B. WS 1828/29 oder 1833/34) und erstreckten sich nicht selten über mehrere Semester. 136 An anderer Stelle grenzte Maßmann den Untersuchungszeitraum genauer ein, und zwar auf das "4. - 16. Jhd." (z.B. SS 1829) oder "vom 4ten Jahrhundert an" (z.B. WS 1830/31). Speziell im WS 1827/28 heißt es dazu, daß "Proben aller Jahrhunderte" gegeben würden. Daraus läßt sich schließen, daß Maßmann seine theoretischen Ausführungen anhand von praktischen Beispielen belegte. Anders als Schmeller, der in der Regel in seinen Vorlesungen Sprache und Literatur verband, trennte sein Nachfolger - dem Vorlesungskatalog nach zu urteilen - zwischen literaturgeschichtlichen und sprachwissenschaftlichen Vorträgen. 137 Bei den Grammatik-Vorlesungen herrschte jedoch ebenfalls die historische Sichtweise vor. 138 Den Ausgangspunkt bildete dabei häufig das "Gothische". 139 In seiner Konzeption orientierte sich Maßmann an Grimm, wie es explizit im WS 1831/32 heißt. Sowohl Schmeller als auch Maßmann erkannten die führende Position Jacob Grimms auf dem Gebiet der deutschen Grammatik an.
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Vgl. Krogmann/Pretzel 1966. - Vgl. auch die Maßmann-Werkbibliographie in Richter 1992, S.405-420. 135 Weimar 1989, S.220. 136 Z.B. SS 1837: "Geschichte der teutschen National-Literatur (älteste und ältere Zeit). - WS 1837/38 und SS 1838: "Fortsetzung der deutschen Literaturgeschichte, vorzüglich durch Lesen mittelhochdeutscher Gedichte". 137 Zu Schmeller vgl. Kap. 3.2.1. 138 "Historische deutsche Grammatik" (z.B. WS 1833/34 oder SS 1840). 139 "Historische deutsche JGrammatik, vom Gothischen an" (z.B. SS 1840 oder WS 1841/42).
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Daß Maßmann sein Fach in einem sehr umfassenden Sinn verstand, beweisen wiederholt Vorlesungen in Anlehnung an Tacitus' "Germania". 140 Dieses lateinische Werk untersuchte er "philologisch, historisch, archäologisch und rechtskundlich" (SS 1834) und interpretierte es "als Grundlage deutscher Sittengeschichte" (WS 1830/31). In den Bereich der Kulturgeschichte fielen auch Themen aus der Universitäts- bzw. Studentengeschichte.141 Joachim Burkhard Richter zeigt, daß Maßmanns Interesse dafür aus seiner altdeutschen patriotischen Haltung herrührte. 142 Aus seiner persönlichen Biographie als Schüler von Jahn und als Turnlehrer in verschiedenen deutschen Städten leitete sich auch folgende Vorlesung des Münchner Professors ab: "Geschichte der deutschen Leibesübungen, Volksspiele und Volksfeste von den frühesten Zeiten, als Theil der deutschen Sittengeschichte, publice" (WS 1832/33). 143 Im weitesten Sinn ebenfalls kulturgeschichtlich sind Vorlesungen zur "Deutschen und nordischen Mythologie" (z.B. WS 1835/36), die bereits mit dem Sagenkreis des Nibelungenlieds gestreift worden war. 144 Nur in den ersten Jahren von Maßmanns Lehrtätigkeit an der L M U finden sich "Deutsche Stilübungen". 145 Die Deutsche Rhetorik wurde bereits als konstituierende Komponente für das Fach "Deutsche Philologie" vorgestellt. 146 Wenn Maßmann diese Übungen ab 1833 nicht mehr ankündigte, folgte er einer allgemein zu beobachtenden Entwicklung. 147 Wie sein Vorgänger Schmeller bot Maßmann mehrfach Übungen zur Handschriftenkunde an. 148 Der Bedarf an derartigen Veranstaltungen erklärt sich hauptsächlich aus der Notwendigkeit, mit handschriftlichen "Sprach- und Literaturdenkmälern" zu arbeiten. Viele Texte waren schlecht bzw. noch überhaupt nicht ediert, weshalb diese Zeit die germanistische Wissenschaft vor al-
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WS 1830/31, SS 1831, 1832, WS 1833/34, SS 1834, WS 1834/35, 1838/39, 1839/40, SS 1841, 1842, WS 1842/43. 141 "Geschichte der deutschen hohen Schulen, vom 14ten bis zum 19ten Jahrhundert" (SS 1834, WS 1834/35, 1840/41) oder "Über die Geschichte des deutschen Universitäts- und Studentenlebens seit dem 14. Jahrhundert" (WS 1829/30; Fortsetzung im SS 1830). 142 Vgl. Richter 1992, S.268f. 143 Zu Jahn vgl. weiter unten. 144 Vgl. weiter oben. 145 WS 1827/28, SS 1828, WS 1828/29, SS 1829 und 1832. 146 Vgl. Kap. 2.2.1. 147 Vgl. Weimar 1989, S.55. 148 Insgesamt sechsmal, und zwar im WS 1827/28, SS 1828, WS 1828/29, SS 1833, 1836 und 1840.
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lem als Editionsdisziplin zeigt. Für einen Germanisten waren deshalb bibliothekarische und archivarische Kenntnisse unerläßliches Rüstzeug. 149 Mit seinem Vorlesungsprogramm präsentierte sich Maßmann als ein Vertreter der Altgermanistik mit ausgeprägt kulturhistorischen Interessen. Diese reichten sogar bis in seine eigene Gegenwart, während er bei der Behandlung von deutscher Sprache und Literatur im 16. Jahrhundert eine Grenze zog. Durchschnittlich drei Veranstaltungen bot Hans Ferdinand Maßmann in jedem Münchner Semester an. Im gesamten Zeitraum seiner Tätigkeit an der L M U variierte der Vorlesungskatalog nur geringfügig. Vielmehr bildete sich eine Art Kanon heraus, bestehend aus je einer Vorlesung zu Grammatik, mittelhochdeutschen Texten und einem "sittengeschichtlichen" Thema. Wie Maßmann seine Vorlesungen strukturierte, läßt sich nicht rekonstruieren, da keine vollständigen Konzepte erhalten sind. 150 In seinem Nachlaß, der im Archiv der Akademie der Wissenschaften in Berlin aufbewahrt wird, befinden sich außer Werkmanuskripten nur Vorlesungsnachschriften aus Maßmanns eigener Studienzeit. 151 Aus dem Kreis seiner Münchner Hörer schlugen zwei mit Erfolg ebenfalls eine Universitätslaufbahn ein: Franz Pfeiffer und Konrad Hofmann. 152 Zumindest am Anfang weisen deren Biographien eine Parallele auf, da beide ursprünglich Medizin studieren wollten. Ihr Lehrer war als ausgebildeter Theologe zu altdeutschen Sprach- und Literaturstudien gekommen. Die Umwege, die für diese frühe Zeit der Germanistik keine Seltenheit sind, weisen auf den Grad der Institutionalisierung dieses Fachs an den Universitäten hin. Pfeiffer (geb. 1815) immatrikulierte sich 1834 an der LMU. Nach einer Aussage von Joseph Strobl ging Pfeiffers Fachwechsel hauptsächlich auf Maßmann zurück:
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Für diese These spricht auch die Verknüpfung von Bibliothekarsamt und Dozententätigkeit beispielsweise bei Georg Friedrich Benecke in Göttingen (vgl. Weimar 1989, S.215), bei Johann Andreas Schmeller (vgl. Kap. 3.2.1.) und Konrad Hofmann (vgl. Kap. 3.2.3.) in München. Auch Franz Pfeiffer, der Schüler von Maßmann, war zuerst Bibliothekar in Stuttgart, bevor er als Professor nach Wien ging (vgl. Strobl 1887, S.638). 150 Einzige Ausnahme: der Schlußteil der Eröffnungsvorlesung zum Nibelungenlied im SS 1827 (vgl. weiter oben). 151 Vgl. ADW Nachlaß Maßmann. 152 Zur Vita von Pfeiffer vgl. Strobl 1887, S.635-639; Koppitz 1969, S.7f. - Zu Hofmann vgl. Kap. 3.2.3. - Zu seinen Berliner Schülern zählte Karl Bartsch (vgl. Koppitz 1969, S.9).
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"Durch letztern [= Maßmann, M.B.] gedrängt, sich für ein bestimmtes Studium zu entscheiden, gibt er die Medicin auf und widmet sich völlig dem Altdeutschen."153 Schmeller, der mit Maßmann häufig private Kontakte unterhielt, erwähnte den "Studiosus Pfeifer aus Solothurn" als "Maßmann's Kinderlehrer und Altdeutsch-Amanuensis".154 Maßmann selbst bezeichnete Pfeiffer in einem Brief an Wolfgang Menzel gar als langjährigen "Hausfreund". 155 Dem Duz-Freund Menzel, mit dem er in der reaktionären Grundanschauung übereinstimmte, empfahl er seinen Schüler als Rezensenten für seine Zeitung: "Der genannte Herr Pfeiffer wird Dir als Schweizer und Schweizer ohne Falsch, eben so als tüchtig durchgebildeter junger Mann, recht wohl behagen. [...] Du findest keinen beßern Beurtheiler für Erscheinungen der älteren deutschen Literatur für Dein Blatt, als ihn." 156 Es gehört zu den Verdiensten des Wissenschaftlers Pfeiffer, erstmals die Mystiker kritisch herausgegeben und so den Umfang der Deutschen Philologie erweitert zu haben. 1856 gründete er die Zeitschrift "Germania, Viertelsjahrsschrift für deutsche Alterthumskunde", die sich als weiteres Forum im "Nibelungenstreit" etablierte. 157 Diese Auseinandersetzung um Originalität und Verfasser des Nibelungenliedes führte zu einer ausgeprägten Polarisierung unter den Germanisten der damaligen Zeit: Den Anhängern von Karl Lachmanns Position standen die Verfechter der Holtzmannschen Theorie unversöhnlich gegenüber, die Berliner Schule befand sich in offener Konfrontation mit der Leipziger Schule. 158 Pfeiffer, der 1857 als Ordinarius nach Wien 153
Strobl 1887, S.635. Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.247, Eintrag vom 15.8.1837. - Insbesondre im zweiten Band von Schmellers Tagebüchern finden sich zahlreiche Einträge über gegenseitige private Einladungen. Schmeller übernahm sogar für Maßmanns Sohn Arnold die Patenschaft (vgl. ebd., S.l27, Eintrag vom 24.4.1831). Auch Maßmann rühmte sich, daß er "mit dem Seligen eine lange Reihe von Jahren, wie in seinem Privatleben, so auch in seiner amtlichen Thätigkeit in der genauesten, ich darf wohl sagen vertrautesten Beziehung gestanden habe." (ADW Sammlung Weinhold, Nr.870, Maßmann an Hofmann, 12.1.1856) 155 ADW Nachlaß Menzel, Nr.555, Maßmann an Menzel, 28.2.1842. 156 Ebd. - Wolfgang Menzel (21.6.1798 - 23.4.1873), als Nationalist nach der Julirevolution 1830 ausgesprochen reaktionär, einer der Hauptgegner des Jungen Deutschland (vgl. auch Richter 1992, S162-173). - Menzel redigierte von 1825-1849 das Stuttgarter "Literatur-Blatt", das als Beilage zum "Morgenblatt für gebildete Stände" erschien. 157 Zum "Nibelungenstreit" vgl. Kolk 1990 und Einhauser 1989, v.a. S.62ff. - Neben der "Zeitschrift für deutsches Altertum" (1841 von Haupt in Berlin gegründet). 158 Vgl. Lachmanns Habil.schrift "Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth" (1816): Handschrift A ist die ursprüngliche Fassung; das Nibelungenlied ist eine Zusammensetzung einzelner Lieder. - Vgl. Holtzmann, Adolf, 154
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
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gerufen wurde, profilierte sich als Gegner Lachmanns - der Maßmann-Schüler bildete eine zweites Gegengewicht zu den Berlinern. Obwohl mittlerweile auch Maßmann in Berlin lehrte, gehörte dieser nicht zu diesem Kreis, da sich Karl Lachmann über den neuen Kollegen alles andere als erfreut zeigte. 159 Mit seinen wissenschaftlichen Leistungen, die von "reicher Erfahrung und umfassender Belesenheit" zeugen, übertraf Pfeiffer seinen Münchner Lehrer bei weitem. 160 Dieses Urteil gilt erst recht für die Zeit von Maßmanns Eintritt in die Münchner Universität. Als er im SS 1827 seine Vorlesungen aufnahm, konnte er lediglich zwei selbständige Veröffentlichungen vorweisen. Aus dem Jahr 1824 stammen die "Erläuterungen zum Wessobrunner Gebet", denen noch zwei bislang ungedruckte Gedichte aus dem 14. Jahrhundert beigestellt waren. 161 Drei Jahre später war "Das vergangene Jahrzehend der deutschen Literatur. Eine Betrachtung" erschienen, das sachliche Ausführungen und Begründungen durch Spott ersetzt und so kaum als wissenschaftliches Werk gelten kann. 162 Einem Vergleich mit Schmeller kann Maßmann keinesfalls standhalten: Jener hatte bis zu seiner Aufnahme als Privatdozent bereits die Bayerische Grammatik und den ersten Band seines Bayerischen Wörterbuchs vorgelegt. 163 Da das Gebiet der bayerischen Mundarten bis dahin wissenschaftlich unerforscht war, ist Schmellers wissenschaftliche Leistung um so höher einzustufen. Bei Maßmanns Eintritt in die Hochschule schienen indes auch außeruniversitäre Gründe eine Rolle gespielt zu haben. A m 8. April 1827 notierte Schmeller in seinem Tagebuch: "Nach Tische sagte mir Ast pour la bonne bouche, daß auf einen eigenen nachträglichen Befehl S.M. [= Seiner Majestät, M.B.] Maßmanns Vorlesung über das Nibelungenlied habe in den Lectionskatalog müssen aufgenommen werden." 164 Aus dem Briefwechsel Ludwigs I. mit seinem Berater und späteren Minister Eduard von Schenk geht zu diesem Thema nichts hervor. Obwohl der König und Schenk sich ausführlich über verschiedene Berufungen an die nach Mün-
Untersuchungen über das Nibelungenlied, Stuttgart 1854: Handschrift A ist verderbt, C dagegen original; das Nibelungenlied stammt von einem einzigen Verfasser. - Allg. zum Nibelungenstreit vgl. Kolk 1990. 159 Vgl. Lenz 1918, S.146; vgl. Richter 1992, S.332-336. 160 Strobl 1887, S.636. 161 Vgl. Maßmann 1824/1971. 162 Vgl. Maßmann, Das vergangene Jahrzehend, 1827. - Vgl. dazu Richter 1992, S.165-168. 163 Vgl. Kap. 3.2.1. 164 Schmeller 1954-1957, Bd.2, 1956, S.39.
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chen verlegte Universität auszutauschen pflegten, wird Maßmann an keiner Stelle erwähnt. 165 Joachim Burkhard Richter weist nach, daß der bayerische Monarch die Vorlesung im Rahmen der künstlerischen Ausgestaltung des neuen Residenzanbaus mit Szenen aus dem Nibelungenlied ansetzte.166 Aus der Sicht Maßmanns ist sein Wirken in München auf einen persönlichen Wunsch des bayerischen Königs zurückzuführen, der ihn als Leiter für den Turnunterricht in München gewinnen wollte. In diesem Sinn hatten sowohl Geheimrat Friedrich Thiersch als auch Fürst Ludwig von Oettingen-Wallerstein bei Maßmann angefragt, als dieser sich auf seiner Bibliothekenreise in Straßburg und Heidelberg aufhielt. Maßmann knüpfte allerdings seine Rückkehr nach München als Turnlehrer an die Bedingung einer wissenschaftlichen Betätigung: "Als ich hier die Sache öffentlicher Turnübungen übernehmen sollte, bedingte ich um deren richtige Stellung willen zugleich wissenschaftliche Bethätigung. König Ludwig befahl, daß ich an der hohen Schule, zunächst als Privatdocent, Vorträge über das Nibelungenlied [unleserliches Wort] halten sollte."167 Nach dieser Schilderung stellt sich der Beginn von Maßmanns Universitätslaufbahn eher dar als Ergebnis eines geschickten Handels von Maßmann als einer gezielten Hochschulpolitik des Königs. Die Behauptung von Joachim Burkhard Richter, daß die Initiative für Maßmanns Vorlesung an der Universität "allein vom König" ausgegangen sei, kann widerlegt werden. 168 Ludwig muß in Maßmann mehr den Turnpädagogen als den Germanisten geschätzt haben, weshalb er ihn auch zum Prinzenerzieher machte. 169 Vermutlich stimmten beide in ihrer patriotischen Grundhaltung überein. Maßmanns Nachfolger Schmeller und Hofmann waren beide in Bayern geboren. 170 Daß der erste Münchner Ordinarius für Deutsche Philologie als gebürtiger Berliner Protestant und noch dazu in Preußen wegen seines Turnens verfolgt gewesen war, spricht für die liberale Gesinnung, wie sie die ersten Regierungsjahre Ludwigs I. kennzeichnete.171 Ob es dem König mit Maßmann allerdings gelang, sein Ideal einer Führungsrolle für die Münchner Universität
165
Vgl. Spindler 1930. Vgl. Richter 1992, S.225-231. - Später änderte Ludwig I. seine Pläne und wählte Szenen aus der deutschen Kaisergeschichte. 167 Vgl. ADW Sammlung Weinhold, Nr.870, Maßmann an Hofmann, 12.1.1856. 168 Richter 1992, S.227, Anm.128. 169 "[...] nachdem der König mir auch den gleichen Turnunterricht für seine drei Prinzen seit Michaelis 1827 anvertraute [...]" (ADW Nachlaß Schelling, Nr.448, Maßmann an Schelling, 20.4.1828) 170 Vgl. Kap. 3.2.1. und 3.2.3. 171 Vgl. Kraus 1983, S.459. 166
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im Bereich der Deutschen Philologie zu realisieren, muß bezweifelt werden. Vor allem Maßmanns Publikationen waren dazu wenig geeignet. In dem schmalen Band "Erläuterungen zum Wessobrunner Gebet" (1824) kritisierte er in verschiedenen Punkten die vorliegenden Untersuchungen von Docen und Grimm, nicht ohne zu bekennen, daß er in beiden seine Lehrmeister sah: "Wenn ich dieses Alles und Andres der Sache willen hier aufzähle, so habe ich dabei nicht vergessen, daß wir jetzt 1824 schreiben, noch daß ich von Docen viel gelernt habe, so wie bei Grimm in die Sprachschule gegangen bin." 172 Er selbst ging nach folgendem Verfahren vor: Er griff umstrittene Stellen des Wessobrunner Gebets heraus, stellte Thesen der Vorarbeiter dar und bezog anschließend eigene Position. Damit intendierte er, eine wissenschaftliche Diskussion und eine neue Edition der Handschrift anzuregen. 173 Neben den "Erläuterungen" lieferte Maßmann einen Erstabdruck von zwei Gedichten aus dem 14. Jahrhundert. Als Herausgeber bislang ungedruckter alt- und mittelhochdeutscher Texte betätigte sich Maßmann auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten. Die "Denkmäler deutscher Sprache und Literatur aus Handschriften des 8ten bis löten Jahrhunderts" adressierte er an "Freunde unsers Alterthums, unserer Geschichte, Gedichte und Sprache". 174 Zum einen geht daraus das damalige Verständnis der Germanistik als Deutsche Altertumskunde hervor, zum andern erscheint die Disziplin noch sehr wenig professionalisiert, sondern eher - um es überspitzt auszudrücken - als Liebhaberei. Ursprünglich waren die "Denkmäler" als Reihe gedacht, die Ausgabe von 1828 erschien als "Heft 1". Durch ein "bald darauf eingetretenes Misglück des Münchner Buchhändlers" blieb es bei diesem ersten Band. 175 Den Texten stellte Maßmann eine sehr ausführliche Einleitung (S. 1-15) voran, in der er auf das Aussehen der Handschrift (Blätter, Schrift, Zeilenlänge, Farbe usw.) einging und seine These über den Verfasser formulierte. Dabei griff er immer wieder auf seine Kenntnisse über andere Handschriften zurück. Obwohl er bereits im Vorwort darauf eingegangen war, folgen nochmals einige Hinweise auf die Regeln des Abdrucks. Maßmann lieferte zu den altdeutschen Texten keine Übersetzung, und er verzichtete so gut wie vollständig auf Worterklärungen. Dies schränkte den möglichen Leserkreis naturgemäß erheblich ein,
172
Maßmann 1824/1971, S.III. Vgl. ebd., S.27. 174 Maßmann 1828, S.III. 175 Maßmann 1849-1854, Bd.l, 1849, S.VIII. - Ähnlich erlebten seine "LeibesUebungen" von 1830 und seine "Bayerischen Sagen" von 1831 keine Fortsetzung. 173
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obwohl er ohnehin nicht mit heutigen Maßstäben gemessen werden darf. Bestimmtes Fachwissen war auch unbedingte Voraussetzung bei den "Deutschen Gedichten des zwölften Jahrhunderts und der nächstverwandten Zeit" (1837), die denselben Prinzipien folgten. Eine seiner wichtigsten Editionen legte Maßmann mit der sogenannten "Kaiserchronik" vor. 1 7 6 "Der keiser und der kunige buoch" erschien in drei Bänden in den Jahren 1849 bis 1854, als Maßmann bereits auf Dauer nach Berlin zurückgekehrt war. Da die Vorarbeiten aber bis ins Jahr 1824 zurückreichten, soll die Kaiserchronik auch hier kurz angesprochen werden. 177 Die Größe der Aufgabe wird deutlich, wenn man die Zahl der zu bearbeitenden Quellen berücksichtigt: Maßmann mußte 12 vollständige und 17 unvollständige Handschriften entziffern, vergleichen und erklären, um ein Gedicht mit 18.578 Reimzeilen in seiner ursprünglichen Form zu rekonstruieren. Schmeller bescheinigte Maßmann dabei, sehr sorgfältig vorgegangen zu sein: "Welche Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit bey Feststellung des Urtextes unter fortlaufender Andeutung der verschiedenen Lesarten gewaltet habe, zeigt jede Seite des Buches."178 Aus dem Gebiet der gotischen Sprache stammt die "Auslegung des Evangelii Johannis" von 1834. 179 Diese Arbeit widmete Maßmann mit überschwenglichen Worten dem bayerischen Kronprinzen: "Seiner Königlichen Hoheit dem Kronprinzen Maximilian von Bayern, dem thätigen Beschützer und Unterstützer vaterländischer Wißenschaft, widmet dieses wichtige deutsche Sprachdenkmal, das IHM seine Erlösung aus langjährigem italienischen Banne dankte, der Herausgeber." (S.[III]) 180 Wie Schmeller bei der Edition des "Heliand" fügte Maßmann der Herstellung des Textes eine lateinische Übersetzung und ein gotisch-lateinisches Wörterbuch an - vermutlich wegen des religiösen Inhalts. 181 Die Anmerkungen sind ebenfalls in lateinischer Sprache abgefaßt, was Maßmann folgendermaßen begründete: "Daß ich zu Abschnitt II. [= Herstellung des Textes, M.B.] die Anmerkungen zugleich lateinisch behandelte, geschah mehr des kleinern Raumes wegen, um auch hier 176 Vgl. Maßmann 1849-1854. - Karl Bartsch nannte diese Edition Maßmanns "verdienstlichste und mühevollste Arbeit" (Bartsch 1874, S.379). 177 Zu den Vorarbeiten vgl. Maßmann 1849-1854, Bd.l, 1849, S.VII. 178 Schmeller, Rezension, 1851, Sp.306 (die einzige Rezension Schmellers zu einem Buch von Maßmann). 179 Vgl. Maßmann 1834. - Seitenangaben ab sofort im Text. 180 Der Kronprinz hatte ihm die Reise nach Italien finanziert (vgl. Richter 1992, S.279). 181 Zu Schmellers "Heliand" vgl. Kap. 3.2.1.
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jedes Blatt der alten Handschrift auf einer neuen Seite oben anfangen zu können, als den Ausländern zur Brücke. Diese mögen deutsch lernen: es ist hohe Zeit." 182 Diese Edition stieß bei den Fachkollegen insgesamt auf positive Resonanz; Kritik wurde jedoch laut wegen Maßmanns Neigung zur übertriebenen Demonstration seiner Gelehrsamkeit. 183 Maßmann verfolgte aufmerksam die Fortschritte auf dem Gebiet der Edition. 1 8 4 Trotzdem erreichten die meisten seiner Textausgaben nach dem Urteil späterer Kollegen kein glänzendes Niveau und waren schnell überholt: "Um die deutsche Philologie hat er sich hauptsächlich als Herausgeber verdient gemacht; keine seiner Editionen entsprach dem Ideal von Glätte und Eleganz, welches Lachmann aufstellte; Seltsamkeiten des Ausdruckes und Confusionen des Stils fielen leicht in die Augen; aber seine ausgedehnten Stoffsammlungen waren unentbehrlich, höchst dankenswerth und nützlich; und nur die auffallend rasche Entwicklung der jungen altdeutschen Philologie bewirkte, daß Maßmann so schnell unzulänglich befunden ward." 185 Wie ein Relikt aus den Anfangszeiten des Fachs mutet die Betonung der "schönen vaterländischen Gesinnung" bei Karl Bartsch an, die die mangelnde wissenschaftliche Qualifikation aufzuheben scheint: "Alle Schriften bekunden ein ausgedehntes, vielseitiges Wissen, sie lassen allerdings kritische Schärfe und Klarheit oft vermissen. Zum Textherausgeber war er nicht geschaffen, es fehlte ihm an dem specifisch kritischen Sinne. Nicht selten mangelt auch Genauigkeit und Zuverlässigkeit, Beobachtung über den Stil und die Sprache des betreffenden Autors. Aber aus allem weht ein Hauch freudiger und warmer Liebe uns an, überall tritt uns eine schöne vaterländische Gesinnung, eine liebevolle und opferwillige Hingebung, eine reine und sittliche Denkart entgegen."186
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Maßmann 1834, S.XIV. - Wahrscheinlich antwortete Maßmann auch auf Heinrich Heine, der ihn als des Lateinischen kaum mächtig verspottet hatte (vgl. Heine 1986, Bd.7/1, S.22 - zum Konflikt mit Heine vgl. weiter unten). - Nicht zu übersehen ist hier auch das nationalpatriotische Moment in Maßmanns Äußerung. 183 Vgl. die brieflichen Äußerungen von Lachmann und J. Grimm in Richter 1992, S.283. 184 "Nach langer gutbegründeter Rast ist die Zeit der M i 11 h e i 1 u n g des inzwischen für Sprache und Dichtwelt Gesammelten wieder gekommen. Grammatik und Kritik haben inzwischen Richtscheid und Maaßstab geschaffen für die Herausgabe; die Handschriftenkunde hat ein schärferes und geübteres Auge gewonnen." (Maßmann 1828, S.III) 185 Scherer 1884, S.570f. 186 Bartsch 1874, S.380.
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Trotz kritischer Stimmen wurde Maßmann auch Anerkennung zuteil. Jacob Grimm stellte bei einer Neuauflage seiner "Deutschen Grammatik" dem vierten Band folgende Widmung voran: "Den mitforschenden Freunden / Haupt / Hoffmann / Maßmann / Schmeller / und / Wackernagel / gewidmet."187 Schmeller hatte in seiner Rezension zur Ausgabe der "Kaiserchronik" ebenfalls sehr lobende Worte gefunden. 188 Karl Bartsch erwähnt in seinem Nachruf, Maßmann seine "erste germanistische Arbeit, die Ausgabe von Strickers Karl (1857)", zugeeignet zu haben. 189 Dem Buch selbst ist diese Widmung allerdings nicht zu entnehmen. 190 Demanch muß es sich um eine nachträgliche symbolische Zueignung handeln. Eine dezidiert boshafte Karikatur des altdeutschen Turnprofessors zeichnete dagegen Heinrich Heine in seinen "Reisebildern", ohne jedoch einen Namen zu nennen: "Er ist zu Allem zu gebrauchen wozu Springen, Kriechen, Gemüth, Fressen, Frömmigkeit, viel Altdeutsch, wenig Latein und gar kein Griechisch nöthig ist. Er springt wirklich sehr gut übern Stock, macht auch Tabellen von allen möglichen Sprüngen und Verzeichnisse von allen möglichen Lesarten altdeutscher Gedichte. Dazu repräsentirt er die Vaterlandsliebe, ohne im mindesten gefährlich zu seyn. Denn man weiß sehr gut, daß er sich von den altdeutschen Demagogen, unter welchen er sich mahl zufällig befunden, zu rechter Zeit zurückgezogen, als ihre Sache etwas gefährlich wurde, und daher mit den christlichen Gefühlen seines weichen Herzens nicht mehr übereinstimmte. Seitdem aber die Gefahr verschwunden, die Märtyrer für ihre Gesinnung gelitten, fast alle sie von selbst aufgegeben, und sogar unsere feurigsten Barbiere ihre deutschen Röcke ausgezogen haben, seitdem hat die Blüthezeit unseres vorsichtigen Vaterlandsretters erst recht begonnen; er allein hat noch das Demagogenkostüm und die dazu gehörigen Redensarten beybehalten; er preist noch immer Arminius den Cherusker und Frau Thusnelda, als sey er ihr blonder Enkel; er bewahrt noch immer seinen germanisch patriotischen Haß gegen welsches Babeltum, gegen die Erfindung der Seife, gegen Thierschs heidnisch griechische Grammatik, gegen Quinctilius Varus, gegen Handschuh und gegen alle Menschen die eine anständige Nase haben; - und so steht er da, als wandelndes Denkmal einer untergegangenen
187
Grimm, Dt. Grammatik, Bd.4, 1837, o.S. - Sein Lehrer Jahn kommentierte dieses Ereignis so: "[...] und daß Grimm mit dem Jakobsstab (Vorrede zur D. Grammatik) ihn als Deutschknappen berührt." (Brief vermutlich an Eduard Dürre, 13.10.1843, abgedruckt in: Meyer 1913, S.483) 188 Vgl. weiter oben. 189 Bartsch 1874, S.380. 190 Vgl. Bartsch 1857.
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
133
Zeit, und wie der letzte Mohikan ist auch er allein übrig geblieben von einer ganzen thatkräftigen Horde, er, der letzte Demagoge."191 Heines Spott richtete sich vor allem gegen Maßmanns "vaterländische Gesinnung", die - direkt oder indirekt - an allen seinen Veröffentlichungen abzulesen ist. Zu seinen Lieblingsfiguren zählte Armin der Cherusker, dem der Lyriker sogar einen eigenen Gedichtband widmete. "Armin's Lieder" erinnern an den Sieg über das römische Heer im Teutoburger Wald, der in Parallele zum Sieg über Napoleon bei Leipzig gesetzt wird. Wie der französische Feind in der Vergangenheit zur deutschen Einigung führte, soll Vorbild für die Gegenwart sein, heißt es im Gedicht "Der achtzehente Oktober 1838": "Ihr Deutschen aber, die geschlafen, Seit Euch die Donner Leipzigs trafen, Ο tretet nun in heil'ger Stunde Erwacht zum alten deutschen Bunde!" 192 In einem zweiten Buch stellte Maßmann Zitate aus griechischen und römischen Geschichtsschreibern zusammen, die Person und Geschichte von Armin und der Varusschlacht berühren. 193 Den unmittelbaren Anlaß, diesen "vaterländischen Stoff" auszuwählen, bot die Einweihung eines Armin-Denkmals, die für 1840 geplant war. 194 Der Gegensatz zwischen Germanen und Romanen prägt auch Maßmanns einzigen Vortrag vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: "Deutsch und Welsch oder der Wettkampf der Germanen und Romanen". 195 Als bekanntes Stereotyp kehrt die Erinnerung an den "furchtbaren Schlag im T e u t o b u r g e r W a 1 d e" (S.16) wieder. Pointierter als bisher ist hier von der "innersten Volksthumsverschiedenheit" die Rede, die manche Assoziation an nationalsozialistische Parolen auslöst: "In Wahrheit - zwey solche Völker konnten sich nie friedlich befreunden. Hier handelte es sich um innerste Volksthumsverschiedenheit, verschieden wie Tag und
191 Heine 1986, Bd.7/1, S.22f. - Diese Äußerungen erklärt Alfred Opitz mit den gescheiterten Bemühungen Heines um eine Anstellung als Professor in München (vgl. dazu Spindler 1930, S.56, Schenk an Ludwig I., 28.7.1828) sowie mit persönlichen Differenzen (vgl. Heine 1986, Bd.7/2, S.829). - Ausführlich zum Verhältnis Maßmann-Heine vgl. Richter 1992, S.218-224 und passim. 192 Maßmann, Armin's Lieder, 1839, S.4 (10. Strophe, Zeilen 5-8). - Zu Maßmanns Lyrik als Mittel der politischen Kundgebung bzw. der Flucht vgl. Richter 1992. 193 Vgl. Maßmann, Arminius, 1839. 194 Vgl. ebd., S.XXIV. - Zu Maßmanns Engagement und Begeisterung für dieses Denkmal vgl. ausführlich Richter 1992, S.300-311. 195 Vgl. Maßmann, Deutsch und Welsch, 1843. - Seitenangaben ab sofort im Text.
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Nacht, Freiheit und Knechtschaft, Liebe und Herrschsucht, Arminius und Augustus." (S. 16) 196 In seinem Vortrag "Kaiser Friedrich im Kiffhäuser", den er am 17. Januar 1850 vor der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache hielt, feierte Maßmann ebenfalls "das Hochbild deutscher Herrlichkeit" und pries in Armin erneut "den Retter deutscher Freiheit auf westfälischer rother Erde von R o m s Unterdrückung". 197 Vergangenheit und Gegenwart gehen für Maßmann unauflöslich ineinander über. Die Erinnerung an die Kyffhäuser-Sage wird beschworen, um einen Appell an den Einigungswillen der deutschen Fürsten und Völker zu richten. 198 Neben diesen deutlich politisch ambitionierten Vorträgen stehen Veröffentlichungen zu kulturgeschichtlichen Themen, wie sie auch in Maßmanns Vorlesungsangebot zu finden waren. 199 Seine Untersuchung "Die deutschen Abschwörungs-, Glaubens-, Beicht- und Betformeln vom achten bis zum zwölften Jahrhundert" ist Jacob Grimm gewidmet - vermutlich Maßmanns Reaktion auf Grimms Zueignung der Deutschen Grammatik von 1837. 200 Außerdem behandelte Maßmann z.B. die "Geschichte des mittelalterlichen, vorzugsweise des deutschen Schachspieles".201 Vor dem Hintergrund seines deutschtümlichen Denkens erscheinen allerdings auch diese Beiträge politisch motiviert. 202 Als Beitrag zur Kulturgeschichte läßt sich auch die Zeitschrift "Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte" sehen, die Maßmann ab 1839 als Mitglied des historischen Vereins von und für Oberbayern mit herausgab. 203 Er war damit als erster Münchner Ordinarius für Deutsche Philologie an der Herausgabe einer - allerdings nicht genuin germanistischen Fachzeitschrift beteiligt. 204
196
Für Gert A. Zischka ist Maßmann gar ein "völkischer Publizist" (vgl. Zischka 1961, S.410). 197 Maßmann 1850, S.23 und 28. 198 Eine ähnliche Funktion hatte die Sage vom Untersberg, die Maßmann 1831 als ersten (und einzigen Teil) der "Bayerischen Sagen" veröffentlicht hatte (vgl. Richter 1992, S.273f.). 199 Vgl. weiter oben. 200 Vgl. Maßmann, Abschwörungsformeln, 1839, S.V. - Zu Grimms Widmung vgl. weiter oben. 201 Erschienen 1839 in Quedlinburg und Leipzig. 202 Vgl. Richter 1992, S.268-272. 203 V g l d a s Vorwort in Heft 1 - unterzeichnet von Maurer, Maßmann, Höfler - , in dem als Adressaten die "Freunde der Geschichte und Alterthumskunde" genannt werden (Oberbayerisches Archiv 1 [1839], S.III). 204 Dieses Verdienst kam erst Hermann Paul zu (vgl. Kap. 3.3.1.).
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
135
Dem Turnpädagogen Maßmann ist dem Titel nach eine Veröffentlichung aus dem Jahr 1838 zuzuordnen: "Die öffentliche Turnanstalt zu München". 205 Daß sich auch hier der Philologe nicht ganz leugnen läßt, beweist ein "Gedicht in gothischer Sprache (alliterirend)", das er darin veröffentlichte (vgl. S.73-81). Nicht nur mit dieser Publikation wies sich Maßmann als ein Schüler von Friedrich Ludwig Jahn aus, der als "Turnvater Jahn" berühmt wurde und im Turnen ein Mittel zur politischen Erziehung sah: '"Das Turnen war auch in seinen damaligen Anfängen nichts weniger als ein pädagogisches, es war ein rein politisches Institut.' Jahns Hauptabsicht bei der Organisation des Turnens war nicht so sehr die Körperpflege der Jugend, als die volkstümliche Erziehung der Nation." 206 Für die Universitäten erfüllten diese Aufgabe die Burschenschaften, die sich durch Jahns Einfluß zur aktiven politischen Gruppe entwickelten. 207 Mit seinen Idealen einer "sittlichen Wiedergeburt Deutschlands" und einer Vorherrschaft Preußens wurde er zum Repräsentanten des beginnenden deutschen Nationalismus und fand zahlreiche Sympathisanten.208 Als "einer seiner treuesten Anhänger" profilierte sich Maßmann, der als "Jahns Prophet in Jena" wirkte. 209 Michael Antonowytsch zieht Verbindungslinien von Jahns Kreis zum Wartburgfest, bei dem Maßmann die Bücherverbrennungen organisiert hatte. 210 Vor diesem Hintergrund lassen sich auch Maßmanns Turnbestrebungen als politischer Aktionismus verstehen, für den sein "altdeutscher Rock" noch lange nach Jahn ein äußeres Zeichen war. 211 Maßmanns Biographie ist durch zwei Linien gekennzeichnet: Die eine berührt den Deutschphilologen, die andere den Turnpädagogen, was ihn zu
205
Vgl. Maßmann 1838. - Seitenangaben ab sofort im Text. Antonowytsch 1933, S.48 (Zitat aus: Pröhle, Heinrich, Friedrich Ludwig Jahns Leben, Berlin 21872, S.53). 207 Vgl. Antonowytsch 1933, S.49f. 208 Ebd., S.53. 209 Ebd., S.69. - Richter 1992, S.57. - In den Briefen von Jahn taucht der Name Maßmann öfter auf. Anfangs äußert er sich wohlwollend: "Es ist eine reine deutsche Seele, eine ehrliche Haut, ein Jüngling, der was gelernt hat, ein Schüler von Lange und Zeune." (Jahn an Dr. Wilhelm Harnisch, 6.12.1814, in: Meyer 1913, S.59) Später fällt das Urteil eher abfällig aus: "Er ist geblieben, so wie er zuerst auf dem Turnplatz anlangte. Und wie konnte er auch anders werden, ja der Turnplatz hat einzig bewirkt, daß er nicht ärger geworden." (ebd., Brief an Ernst Eiselen, 16.10.1828, S.312). 210 Vgl. Antonowytsch 1933, S.69. 211 Heine 1986, Bd.7/1, S.21. - Zur Bedeutung des "deutschen Rockes" für Jahn vgl. Eckardt 1924, S.173f. 206
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
"einer Art Sonderling auf dem Felde der deutschen Philologie" macht. 212 Der erste Münchner Ordinarius für ältere deutsche Sprache und Literatur war ein Altertumsforscher und Jahn-Schüler mit ausgeprägtem Nationalpatriotismus. Zwischen seiner Vorlesungs- und Publikationstätigkeit ließen sich manche Parallelen feststellen. Trotz der vorhandenen Themenvielfalt lag ein Schwerpunkt bei den sprachwissenschaftlichen und literarhistorischen Arbeiten, in denen er sich Jacob Grimm verpflichtet fühlte. Als Wissenschaftler vermag er sich jedoch nicht mit seinem Vorgänger und Nachfolger Schmeller zu messen. Hans Ferdinand Maßmann darf als typischer Vertreter einer "'philologisierten' Disziplin" und der altdeutschen patriotischen Bewegung gelten. 213
3.2.3. Ansätze zur Komparatistik
bei Konrad Hofmann
Für den Nachfolger von Hans Ferdinand Maßmann liegen bereits einige wichtige Untersuchungsergebnisse vor. 2 1 4 Sie sind vor allem der Tatsache zu verdanken, daß Konrad Hofmann an der L M U sowohl das germanistische als auch das romanistische Fach vertrat. 215 Stefanie Seidel-Vollmann legte 1977 eine Darstellung der Romanistik an der Münchner Universität vor. 2 1 6 Ihr besonderes Interesse galt themenbedingt dem ersten Ordinarius für Romanistik, sie berücksichtigte aber auch den Germanisten Hofmann. Für das Folgende konnte zum Teil auf ihre Resultate zurückgegriffen werden, allerdings unter deutlicher Akzentverschiebung hin auf die germanistische und komparatistische Seite. Außerdem zeigte sich, daß die Untersuchung von S. Seidel-Vollmann durchaus der Ergänzungen bedarf. Obwohl auch sie den Nachlaß von Konrad Hofmann unter dem von ihr eingesehenen Material aufführt, brachte die Auswertung von Vorlesungsskizzen und Briefen neue Nuancen in das Bild von Konrad Hofmann. Zur Hofmann-Biographie lieferten seine Münchner Kollegen Wolfgang Golther - ein ehemaliger Schüler - und Wilhelm Hertz ausführliche Beiträge. 217 Von letzterem stammt auch ein "vollständiges" Schriftenverzeichnis. 218 Hertz bewahrte sich in seiner "Gedächtnisrede" eine erstaunliche Objektivität, 212
Neumann 1971, S.76. Kolk 1990, S .49. 214 Zu Maßmann vgl. Kap. 3.2.2. 215 Vgl. Kap. 2.2.3.3. 216 Vgl. Seidel-Vollmann 1977. 217 Vgl. Golther 1892 und Golther 1905 sowie Hertz 1892. - Zum Hofmann-Schüler Golther vgl. weiter unten. 218 Golther 1905, S.438. - Vgl. Hertz 1892, S.22-28. - Vgl. auch die Werkbibliographie in Seidel-Vollmann 1977, S.244-249. 213
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
137
obwohl Hofmann Jahre zuvor als sein größter Gegner bei seiner Habilitierung aufgetreten war. 219 Zu seinem 70. Geburtstag widmeten seine Schüler Konrad Hofmann eine umfangreiche Festschrift. 220 Sie erschien als Band 5 in der Reihe "Romanische Forschungen" und versammelt zahlreiche Beiträge vor allem zu romanistischen Fragestellungen. Nur wenige Aufsätze beschäftigen sich mit einem Thema aus der Deutschen Philologie; als Verfasser zeichnen die Germanisten Wolfgang Golther, Oskar Brenner und Franz Muncker. Dabei war Hofmann gerade in der Romanistik im Grunde nur ein "Autodidakt". 221 Zu diesem Fach war er erst nach einigen Umwegen gelangt. Alberich Konrad Hofmann stammte aus dem oberfränkischen Ort Banz bei Bamberg, wo er am 14. November 1819 geboren wurde. 222 Seine schulische Bildung erhielt er auf der Vorbereitungsschule und dem Gymnasium Bamberg. 1837 begann er in München Medizin zu studieren; außerdem hörte er Philosophie und bei Maßmann altdeutsche Philologie. 223 Für dieses Fach entschied sich Hofmann endgültig im Jahr 1843. Mehrfach wechselte er daraufhin seinen Studienort. Nach Erlangen, Leipzig und Berlin kehrte er an die L M U zurück. Nicht hier, sondern in Leipzig Schloß er seine Studien 1848 mit der Promotion ab. Da er sich viel mit Orientalistik, Sanskrit, Zend, Arabisch und Paläographie beschäftigt hatte, behandelte er in seiner Dissertation einen Upanischad. Diese blieb jedoch ungedruckt. 1850/51 ermöglichte ein Stipendium eine wissenschaftliche Reise nach Paris, wo er den Grundstein für seine romanistischen Forschungen legte. Wieder in München fand Hofmann in Schmeller einen eifrigen Förderer. 224 Dieser schlug ihn sogar als seinen Nachfolger vor, als er im April 1852 um Enthebung von seiner Professur nachsuchte.225 Zu diesem Zeitpunkt wurde Schmellers Antrag zwar nicht entsprochen, doch nach seinem überraschenden Tod trat Hofmann tatsächlich am 26. Februar 1853 an Schmellers Stelle in die Universität ein, allerdings nur als Extraordinarius. 226 Neben Hofmann hatte sich auch Alexander Josef Vollmer um den Lehrstuhl beworben. 227 Noch zwei
219
Vgl. Kap. 2.2.3.3. Vgl. Festschrift Konrad Hofmann 1890/1967. 221 Hertz 1892, S.U. 222 Für die Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 223 Vgl. Kap. 3.2.2. 224 Golther 1892, S.64. 225 Vgl. Kap. 2.2.3.2. 226 Vgl. Kap. 2.2.3.3. 227 Vgl. ebd. 220
10*
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Jahre zuvor hatten die beiden Konkurrenten gemeinsam "Das Hildebrandslied" herausgegeben. 228 Zusätzlich zur Universität war Hofmann für zwei Jahre als Praktikant an der Hof- und Staatsbibliothek beschäftigt. Hier setzte er die Katalogisierung der Handschriften fort, die Schmeller begonnen und sorgfältig durchgeführt hatte. 229 Außerdem hatte er seit 1854 den Auftrag, Schmellers Nachlaß zu verwalten und herauszugeben. 230 A m 31. Juli 1856 erhielt Hofmann das Ordinariat für altdeutsche Sprache und Literatur übertragen. In den Jahren 1857 bis 1859 unternahm er mehrere wissenschaftliche Reisen ins Ausland. In den Bibliotheken von Paris, London, Oxford, St. Gallen, Bern und Zürich fertigte er eine ungeheure Zahl von Abschriften an, die ihm als Basis für weitere Texteditionen dienen sollten. 231 Aus der Pariser Zeit stammt sein Spitzname "Ours allemand", den er seiner "ungewöhnlichen Körperkraft" verdankte. 232 1859 wählte die Bayerische Akademie der Wissenschaften Hofmann zu ihrem ordentlichen Mitglied, nachdem er seit 1853 ihr außerordentliches Mitglied gewesen war. Auf seinen Antrag hin wurde Hofmann im Oktober 1869 Romanistik als zusätzliches Nominalfach übertragen. 233 Mit der Gründung des Seminars für neuere Sprachen am 1. Februar 1876 übernahm er zudem die Funktion eines ersten Vorstands. 234 Nach fast 40jähriger ununterbrochener Lehrtätigkeit an der L M U starb Konrad Hofmann am 30. September 1890 in Waging bei Traunstein. Als außerordentliches Mitglied der Akademie hatte Konrad Hofmann am 28. November 1856 die Festrede zum Geburtstag von König Maximilian II. gehalten. Das Thema hatte gelautet: "Ueber die Gründung der Wissenschaft altdeutscher Sprache und Literatur". 235 Innerhalb dieses historischen Rückblicks, der J. A. Schmeller, J. Grimm und K. Lachmann als Begründer dieser Disziplin feiert, finden sich speziell für den Universitätslehrer und Forscher Konrad Hofmann programmatische Passagen: "Die Gegenwart muß die Vorzeit verstehen lernen, damit sie sie weder mißachte noch überschätze. Wie ein tiefer Zug geht jetzt schon durch die denkenden Köpfe der Nation die Erkenntniß, daß manche und folgenschwere Irrthümer und Uebel der Zeit 228 229 230 231 232 233 234 235
Vgl. weiter unten. Vgl. Hofmann, Schmellers amtliche Thätigkeit, 1855. Vgl. Hofmann, Schmeller's literarischer Nachlaß, 1855. Vgl. Hofmann 1860. Hertz 1892, S.9. Vgl. Kap. 2.2.3.3. Vgl. Kap. 2.2.3.6. Vgl. Hofmann 1857. - Seitenangaben ab sofort im Text.
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
139
zu entfernen oder zu lindern wären, wenn der fanatische Haß, wie die fanatische Bewunderung eines v e r m e i n t l i c h e n Mittelalters aufgehoben würden durch ein klares Verständniß des w i r k l i c h e n Mittelalters." (S.l3) Diesen Worten gemäß konzentrierte sich Hofmann in seinen Vorlesungen an der L M U ausschließlich auf das Mittelalter, die Neuzeit behandelte er überhaupt nicht. Dabei isolierte er nicht das deutsche Mittelalter, sondern betonte die vielfältigen Verbindungslinien zwischen den europäischen Sprachen und Literaturen. Obwohl Hofmann 1853 mit einem Lehrauftrag für altdeutsche Sprache und Literatur in die Universität eingetreten war, kündigte er für das SS 1853 "Ältere romanische Literatur und über die Elemente des Sanskrit mit Erklärung des Nalus" an. 236 Bis zum WS 1855/56 folgten noch fünf weitere Sanskrit-Vorlesungen. 237 Danach tauchte dieses Gebiet nicht mehr auf, weshalb es im weiteren vernachlässigt werden kann. Zu romanistischen Themen las Hofmann fast während seiner gesamten Dozentenzeit. 238 Umfassende romanistische Sprachkenntnisse beweisen seine Vorlesungen zu Altfranzösisch, Provenzalisch, Katalanisch und Altspanisch, entweder allein für sich oder als Kombination von zwei oder drei Sprachen. 239 Obwohl diese Angaben in der Regel fehlen, ist in einigen Semestern genauer ausgeführt, welchen Stoff Hofmann dabei behandeln wollte. Demnach bot er entweder eine "Uebersicht der Literaturgeschichte und Erklärung ausgewählter Texte" (SS 1862), beschäftigte sich explizit mit "Chanson de Rolant und Girast [sie!] de Rossillon" (WS 1853/54) oder erörterte umfassend "Grammatik, Exegese und Uebersicht der Literatur" (WS 1865/66). Insbesondere der letzte Titel zeigt das Nebeneinander von sprachwissenschaftlichen, interpretatorischen und literarhistorischen Elementen, das längst nicht mehr üblich ist. Die Verbindung zu Hofmanns zweitem Lehrfach stellten Vorlesungen her wie z.B. "Einleitung in die germanische und romanische Literatur des Mittelalters" (WS 1854/55), "Germanische und romanische Metrik" (WS 1863/64) oder "Aeltere germanische Literaturgeschichte mit Vorlesung ausgewählter Stücke und mit Rücksicht auf die gleichzeitige romanische Literatur" (SS
236
Zit. nach Seidel-Vollmann 1977, S.140 (nicht im VV). WS 1853/54, SS 1854, WS 1854/55, SS 1855, WS 1855/56. 238 Einzige Ausnahme: WS 1866/67. 239 "Altfranzösisch" (z.B. SS 1866, WS 1871/76); "Provençalisch, Erklärung des Girart von Rossillon" (z.B. WS 1860/61, SS 1864); "Katalanisch" (WS 1874/75). "Altfranzösisch und Provenzalisch" (z.B. WS 1869/70, 1884/85); "Altfranzösisch und Altspanisch" (z.B. WS 1870/71, 1876/77). - "Altfranzösisch, Provenzalisch und Altspanisch" (WS 1877/78). 237
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
1872). Neben diesen überblicksartigen Veranstaltungen stehen solche, die einen speziellen literarischen Text in seinen verschiedenen Bearbeitungen in Frankreich bzw. Deutschland untersuchen. Besonders interessierte sich Hofmann für die Parzival-Romane von Wolfram von Eschenbach und Chrétien de Troyes. 240 Vermutlich berücksichtigte er auch in den Kollegs spezifisch über "Wolfram von Eschenbach" (z.B. SS 1878 und 1880) bzw. zu Wolframs Parzi val (z.B. SS 1879, 1881 oder 1890) die altfranzösische Variante. Schließlich war Hofmann der Meinung, "daß gerade die genialsten Dichter, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg ohne Kenntniß des Altfranzösischen theilweise unverständlich sind." 241 Nur zweimal machte Hofmann "Tristan und Isolde" von Gottfried von Straßburg zum Gegenstand einer Vorlesung. 242 Im WS 1861/62 schloß er die altfranzösische Tristansage mit ein. Weitere Spezialthemen bildeten das Nibelungenlied, zu dem Hofmann auch eine eigene Abhandlung publizierte, oder "Otfrid und Hêliand" (WS 1879/80). 243 Die weitaus meisten Veranstaltungen weisen jedoch eher einen Überblickscharakter auf, wie beispielsweise "Deutsche Literaturgeschichte des Mittelalters" (SS 1860) oder "Aeltere deutsche Literaturgeschichte" (WS 1865/66). Bei den sprachwissenschaftlich geprägten Vorlesungen - etwa "Deutsche Grammatik mit Erklärung gothischer, althochdeutscher und altsächsischer Denkmäler" (SS 1862) - dienten die literarischen "Denkmäler" wohl als Lehrmaterial. Sowohl in der Romanistik als auch in der Germanistik finden sich philologisch-praktische Übungen, die Stefanie Seidel-Vollmann als "Novum an den deutschen Universitäten" bewertete, die Hofmanns Lehrangebot Originalität verliehen. 244 Eine konkretere Vorstellung, wie Konrad Hofmann seine altdeutschen Universitäts-Kollegien konzipierte, vermitteln einige Skizzen aus seinem Nachlaß, der in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrt wird. 2 4 5 Es handelt sich um neun lose Blätter, von denen einige gefaltet sind und deshalb vier Seiten haben. Es ist fraglich, ob alle Blätter zusammengehören, da sie
240 "Erklärung des Wolfram von Eschenbach (Parcival) mit besonderer Rücksicht auf den Parceval des Crestien de Troies" (SS 1861). - So oder ähnlich formuliert auch im SS 1861, WS 1862/63, SS 1874, 1875, 1882 und 1886. 241 Hofmann 1857, S.12. 242 WS 1861/62 und SS 1863. 243 Zum Nibelungenlied insgesamt fünfmal: SS 1855, WS 1855/56, SS 1865, 1871, WS 1871/72; in Verbindung mit einer anderen Fragestellung auch im SS 1873 (Edda) und 1887 (Wolfram von Eschenbach). - Vgl. Hofmann 1872. 244 Seidel-Vollmann 1977, S.51. 245 StB Hofmanniana; hic: Hofmanniana 14/24. - Seitenangaben ab sofort im Text.
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weder fortlaufend numeriert oder datiert sind, noch dasselbe Papier verwendet wurde; außerdem gibt es Nachträge mit Bleistift zu den Aufzeichnungen in Tusche. Auch die Gliederungspunkte I I und I I I sind zweimal vorhanden, allerdings mit verschiedener inhaltlicher Füllung. Wegen dieser recht unsicheren Beweislage soll auf die Aufzeichnungen relativ ausführlich eingegangen werden. Das erste Blatt trägt die Überschrift "Goth. Althochd. Alts. Vorlesung". Nahezu exakt diese Formulierung findet sich in den Wintersemestern 1867/68, 1869/70, 1875/76, 1884/85 bis 1887/88. Als "Einleitung" wollte Hofmann hier die "Bedeutung dieser drei Fächer zusammengenommen für das Studium und Verständniß 1. der südgerman. Sprachen und Literaturen 2. der germanischen überhaupt" erklären. Es folgt eine "Übersicht der german. Sprachen u. ihrer drei Hauptrichtungen u. in ihrer Stellung im indogerman. Sprachganzen." Diese Übersicht gliedert sich in "I. Indogerman. Sprachen" und "II. German. Sprachen", worunter Gothisch, Südgermanisch, Nordgermanisch und Friesisch gerechnet werden. Das zweite Blatt liefert unter I. einen "Plan der Vorlesungen": "germanische Grammatik in Verbindung mit I. prakt. Übungen, (Exegese) über ältere Texte II. Übersicht der Literaturgeschichte III. Metrik, in ihren drei Hauptsprachen [...]" In den Vorlesungsverzeichnissen läßt sich eine derartige Kombination nicht auffinden. Da auf den folgenden Seiten der Skizzen die Metrik nicht problematisiert wird, bleiben die Komponenten Grammatik, Textexegese und Literaturgeschichte übrig. Diesen am nächsten kommt eine Veranstaltung im WS 1882/83: "Erklärung gothischer, altsächsischer und althochdeutscher Texte mit grammatischer und literarhistorischer Einleitung". Auch der Aufbau, der aus den handschriftlichen Aufzeichnungen hervorgeht, spricht für diese Vorlesung, ohne es jedoch mit letzter Sicherheit beweisen zu können. Denkbar wäre z.B. auch die Ankündigung über "Germanische Grammatik mit Erklärung gothischer, althochdeutscher, altsächsischer und angelsächsischer Texte", die es in den Wintersemestern 1866/67 und 1872/73 gab. Die "Übersicht der Literaturgeschichte" wäre dann implizit anhand der ausgewählten Texte erfolgt. Hofmann stellte seinen Ausführungen einen wissenschaftsgeschichtlichen Vorspann voran, in denen er auf das "Alter der german. Studien" eingeht. Wie in seiner bereits erwähnten Akademierede nennt er als Fachgründer Grimm, Schmeller und Lachmann und betont die Bedeutung des Sanskrit für die An-
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
fänge der vergleichenden Grammatik. 246 Dieses Moment zeigt Hofmann als Sanskrit-Lehrer, als der er bis etwa 1856 auch an der L M U auftrat. 247 Eine "Übersicht der indogermanischen Sprachen" schließt sich an. Sie enthält eine Aufzählung, die der unter dem Stichwort "Einleitung" auf Blatt 1 ähnelt. Da Hofmann kaum in einem späteren Vorlesungsteil einen Abschnitt aus der Einleitung wiederholt haben wird, spricht dies für die Annahme, daß die Aufzeichnungen nicht zu ein und demselben Kolleg gehören. Eine baumartige Grafik veranschaulicht den "Verwandtschaftsgrad" der Sprachen und damit "die Tauglichkeit einer Sprache zur Erklärung einer andern beizutragen." Innerhalb einer "weiteren Differenzierung der Sprachen" behandelte Hofmann auf dem folgenden Blatt die Entstehung der Mundarten und "der Schriftsprache durch Überwiegen einer Mundart u. Erweiterung derselben durch Aufnahme u. Assimilirung." Hier erwies er vermutlich seinem Lehrer, dem bekannten Dialektologen J. A. Schmeller, seine Reverenz. 248 Das Thema der "II. Vorlesung" lautete "Historische Erklärung". A m Anfang zitiert Hofmann "den berühmten Naturforscher und Reisenden" Ermann: "es sei ein Vorschreiten im Räume auf der Erde um 60-80 Grade östlich gerade so wie ein Rückgehen in der Geschichte um 8 od. 10 od. mehr Jahrhunderte." 249 An diese These knüpft Hofmann an, wenn er von "einer tiefen Kluft der Bildung, Entwicklung, socialen und politischen Anschauung" spricht, die seine Gegenwart vom deutschen Mittelalter trenne. Als wichtige Faktoren verweist er auf Naturwissenschaft und moderne Wissenschaft überhaupt, die Reformation sowie die französische Revolution. Anschließend gibt er an, daß das Mittelhochdeutsche nicht so leicht sei, wie es auf den ersten Blick scheine, und betont die "Nothwendigkeit, ihre grammatischen Hauptzüge nach Grimms Lehre gerade jetzt kennenzulernen." Wie schon für Schmeller und Maßmann erweist sich Grimm auch für Hofmann als unumstrittene Kapazität auf dem Gebiet der Grammatik, an deren Lehren man seinen eigenen Vortrag orientierte. 250 Die Wendung "gerade jetzt" kann sowohl fachliche als auch politische Gründe haben. Entweder zielte Hofmann darauf ab, daß Grimm das 246
Zur Akademierede vgl. weiter oben (Hofmann 1857). Vgl. weiter oben. 248 Zu Schmeller vgl. Kap. 3.2.1. 249 Vermutlich der deutsche Physiker Adolf Erman (1806-1877), seit 1834 Professor in Berlin. 250 Zu Schmeller und Maßmann vgl. Kap. 3.2.1. und 3.2.2. - In diesem Sinn sagte K. Hofmann in seiner Akademierede von 1857: "Einige Jahre früher schon als S c h m e l l e r s bayrische Grammatik, war der erste Band jenes Werkes erschienen, mit welchem die Aera unserer Wissenschaft eigentlich beginnt und welches für alle Zeiten der Grundstein germanischer Philologie bleiben wird." (Hofmann 1857, S.10) 247
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notwendige Forschungsinstrumentarium bereitgestellt habe, oder er bezog sich auf die Reichsgründung, die der germanistischen Disziplin zu einem ähnlichen Aufschwung verhalf wie die Napoleonischen Befreiungskriege. 251 Beides liegt jedoch im Rahmen der Spekulation, da Hofmann seine Notizen nicht mit einem Datum versah. Das letzte Stichwort auf diesem Blatt heißt "Übersicht der indogerman.. dann der german. Sprachen." Folgt man der weiter oben genannten Argumentation, liegt wiederum ein eigenes Vorlesungskonzept vor. 2 5 2 Im Zentrum des Interesses steht das deutsche Mittelalter, genauer: die Grammatik des Mittelhochdeutschen, weshalb die Aufzeichnungen z.B. auf die Vorlesung "Mittelhochdeutsch" (SS 1869, 1883) Bezug nehmen könnten. Die "III. Vorlesung" - wiederum ein eigenes Blatt, gefaltet, von den vier Seiten die letzte leer - beschäftigt sich mit der Sprach- und Stammesgeschichte der Germanen. Nach einer Periodisierung der Sprachen referiert Hofmann die "Grundlehren der germanischen Grammatik". Auf die Lautlehre folgen Bemerkungen zu den Runen und zum "Grundgesetz des Consonantismus", der Lautverschiebung. Anschließend formuliert Hofmann folgenden "Fundamentalsatz" : "Die innere Identität beruht einzig u. allein auf den Aequivalenten - die äußere Identität ist für die Wissenschaft nicht bloß absolut gleichgültig, werthlos, sondern fast immer ein sicheres Kriterium der inneren Differenz." Daß Hofmann derartige prinzipielle Gesetze zu einem recht frühen Zeitpunkt innerhalb seiner Vorlesung berührte, läßt Rückschlüsse auf seine Lehrmethode zu: Er schien das deduktive Verfahren bevorzugt zu haben, das heißt, er traf eine allgemeine Aussage, die er dann auf diverse Einzelfälle übertrug. Bei seinen weiteren Ausführungen scheute sich Hofmann nicht, Vergleiche aus der Biologie heranzuziehen, wodurch seine Sprache sehr einprägsam wird: "Der Consonantismus normirt die Verhältniße im großen, Knochen und Sehnengerüste gibt er ab, der Vocalismus, Muskeln Blut, die Vocale sind viel flüßiger, schmelzbarer, darum das Aequivalentenverhältniß hier ein viel ausgedehnteres, feineres." Die letzten vier Blätter gehören zusammen, erkennbar an der fortlaufenden Gliederung von Vorlesung I I bis X X X V . Eine Gesamtüberschrift existiert nicht, vermutlich, weil am Anfang ein Blatt fehlt. Den Vorlesungszyklus eröffnete nach dieser Materiallage ein Abschnitt "Die vorgeschichtliche Zeit", 251
Vgl. die "Katalysatorfunktion" im Hinblick auf die Seminargründungen (vgl. Kap. 2.1.). 252 Die Annahme, daß Hofmann einen Gedanken nur einmal pro Vorlesung detaillierter ausführt.
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
in der Hofmann auf die zwei großen Wanderungen der Germanen - die vorhistorische aus Asien und die Völkerwanderung - einging. Die Vorlesungen Nr. I I I bis V galten dem Thema "Die epische Dichtung der Germanen". Als Held der Germanen tritt Dietrich auf, für den frankoromanischen Raum übernimmt Karl der Große diese Rolle. Dadurch, daß Hofmann auch die romanische Epik berücksichtigte, zeigt sich exemplarisch die Verbindung seiner beiden Nominalfächer innerhalb eines Kollegs. Ab der sechsten Vorlesung bildet jeweils ein "literarisches Denkmal" den Mittelpunkt, lediglich unterbrochen durch eine "Recapitulation der althochdt. Periode" (VIII. Vorlesung). Die Ausführlichkeit der Aufzeichnungen nimmt gegen Ende zu immer mehr ab, wo nur noch der Titel des zu besprechenden Werks notiert wurde. Mehr Informationen finden sich dagegen zu Ulfilas, dessen Biographie und gotische Bibelübersetzung an zwei Terminen behandelt wurde (VI. und VII. Vorlesung). In chronologischer Reihenfolge genannt, schließen sich die althochdeutschen Zeugnisse Hildebrandslied, Vilkina-Sage, Wessobrunner Gebet und Muspilli sowie Abschwörungsformeln und die Merseburger Fragmente an. Obwohl Hofmann durchaus für ein Thema zwei Sitzungen reservierte, ragt Beowulf mit sechs Terminen deutlich heraus. Auf diesen altenglischen Text folgen der angelsächsische Caedmon (vier Termine) sowie eine Übersicht über die angelsächsische Literatur. Heliand und Otfrid kommen vor den Schlußausführungen, in denen Hofmann den "Übergang zum Mittelhochdeutschen durch Himmel + Hölle" erläuterte. Insgesamt stellt diese Liste einen Überblick über die ältere germanische Literaturgeschichte dar und erinnert an eine ähnlich formulierte Ankündigung im SS 1872: "Aeltere germanische Literaturgeschichte mit Vorlesung ausgewählter Stücke und mit Rücksicht auf die gleichzeitige romanische Literatur". Wie Hofmann die einzelnen Stunden genau gestaltete, geht aus den Notizen nicht hervor. Erwähnt wird nur eine Diskussion "Über d. Namen Muspilli" (XII. Vorlesung) oder die "Darstellung des Inhalts des Cadmon [sic!]" (XXIII. Vorlesung). Der Inhalt scheint aber jeweils eine größere Rolle gespielt zu haben. Für die Vorlesung X V I gibt es ein eigenes Blatt, auf dem stichpunktartig die Ereignisse in der altenglischen Dichtung "Beowulf" unter Angabe des jeweiligen Verses aufgelistet sind. 253 Außerdem wollte Hofmann "über die Deutung der Sage" sprechen, und zwar in mythischer, naturgeschichtlicher und historischer Hinsicht. Obwohl diese Aufzeichnungen aus Hofmanns Nachlaß einige wertvolle Hinweise liefern, sind dennoch ein paar kritische Anmerkungen zu ihrem 253
Z.B. "Beowulfs Tod 142. Der Drache wird in die Wogen gestürzt 156 [...] Beovulfs Leichenbrand und Todtenmal." - Die Schreibung des Namens Beowulf wechselt mehrmals.
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
145
Quellenwert angebracht. Da die meisten Blätter nicht eindeutig einer Vorlesung zuzuordnen sind, sind entsprechende Rückschlüsse auf die konkrete Gestaltung einzelner Kollegien aus dem Vorlesungsverzeichnis nur zum Teil möglich. Daß die Konzepte zudem nicht immer detailliert sind, erschwert weitere Aussagen. Offen bleibt schließlich auch die Frage, ob Hofmann sich tatsächlich stets an seinen Entwurf hielt. Was über Hofmanns Vorlesungsstil überliefert ist, scheint eher für das Gegenteil zu sprechen: "Sein Colleg, das er am liebsten zu Hause hielt, glich viel eher einer gelegentlichen Unterhaltung als einer systematischen Vorlesung. Ohne viel Vorbereitung nahm er einen Text zur Hand, entwickelte in thätigem Beispiel die Grundsätze philologischer Forschung und fügte daran Fingerzeige und Erklärungen aller Art, wie sie ihm in Fülle aus seinem wunderbaren untrüglichen Gedächtnisse zuströmten." 254 Bei Richard Otto klingt deutlich ein negativer Unterton mit, wenn er von Hofmanns Neigung spricht, von seinem eigentlichen Thema abzuschweifen: "Anknüpfend an die Interpretation eines Textes brachte er im freien Vortrage, da ein ausgearbeitetes Manuscript nicht mit seinem Wesen harmonirt, Alles vor, was ihm aus dem unermeßlichen Schatze seines Wissens aufstieß, wobei er oft aus dem Hundertsten ins Tausendste kam." 255 Hofmanns Lehrangebot spiegelt einen bestimmten Vorlesungskanon wider, der sich auch über die Jahrzehnte hinweg nahezu nicht veränderte. Lange vor der Übertragung des romanistischen Lehrstuhls gab Konrad Hofmann den Studenten Gelegenheit, sich in Fragestellungen aus der Romanistik einzuarbeiten. Nach seiner eigenen Aussage erschöpfte sich sein Lehrinteresse nicht jenseits des Mittelalters, da er stets "comparatiν verfahre": "Bei mir ist factisch der Unterricht in der alten Sprache auch Unterricht in der neuen, weil ich immer comparativ verfahre." 256 Diese Behauptung kann weder am Vorlesungskatalog noch an seinen Aufzeichnungen nachvollzogen werden. Viel eher scheint die Beobachtung von Stefanie Seidel-Vollmann zu stimmen: "Hofmanns Lehrangebot spiegelt getreu den Wissenschaftsbegriff seiner Zeit, der nur den älteren, historisch gewordenen Sprach- und Literaturstufen der lebenden
254 Hertz 1892, S.20. - Ähnlich auch Hofmanns Schüler Wolfgang Golther: "[...] in den Vorlesungen, die er frei und ungewzungen, oft humoristisch und drastisch, wie es der augenblick gab, zu halten pflegte und in denen er sich an kein festes thema band [...]" (Golther 1892, S.66) 255 Otto 1891, S.12f. 256 UA Ο I 55, Zirkular, 24.12.1874, Votum Hofmann (28.12.1874).
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Sprachen die Würde eines akademischen Lehr- und Forschungsgegenstandes zugestand."257 Realiter "comparativ verfahren" ist Hofmann dagegen mit seinem Versuch, die altdeutschen und altfranzösischen Sprachen und Literaturen nicht isoliert jeweils für sich zu behandeln, sondern auf die Vielzahl von Verbindungslinien aufmerksam zu machen. Diese Prämisse verteidigte der Pädagoge und - wie später zu sehen sein wird - der Forscher Hofmann. In Hofmanns Zeit als Universitätsprofessor fielen einige Habilitations- bzw. Beförderungsgesuche (Hertz, Kolbing, Lemcke, Brenner, Golther), deren Handhabung viel von der Mentalität des Konrad Hofmann verraten. 258 Voten in den Fakultätsakten und Briefe aus dem Nachlaß lassen vermuten, daß sein Handeln letztendlich immer von persönlichen Motiven geleitet war. Es fällt auf, daß er Kandidaten für das Fach "Neuere deutsche Literaturgeschichte" eher zu fördern geneigt war - vermutlich, weil ihm mit ihnen kein direkter Konkurrent um die Kollegiengelder zu erwachsen drohte. Auf der anderen Seite hingen seine Aktivitäten sehr von der Person des Bewerbers selbst ab. Nicht selten finden sich auch Widersprüche zwischen Äußerungen diesem und den Fakultätskollegen gegenüber. Insgesamt wußte Hofmann seine Stellung gut auszunutzen und seinen Einfluß geschickt einzusetzen. Rainer Kolk sieht in Hofmanns Ablehnung von Hertz' und Kolbings Habilitationsgesuchen eine "konkrete personalpolitische Konsequenz" des Lachmann-Anhängertums von Konrad Hofmann. Hertz wurde, obwohl "ein bloßer Dilettant", von Pfeiffer protegiert, der bekanntlich einen harten Konfrontationskurs gegen Lachmann fuhr. 259 Eugen Kolbing mußte als Zarncke-Schüler ebenfalls als Kontrahent der Berliner Schule gelten. Bereits während Hofmanns Ordinariat stellte die Promotion im Vergleich zur Habilitation nur eine Vorstufe der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses dar. Ihre Handhabung gibt jedoch weitere Aufschlüsse über den Münchner Lehrstuhlinhaber für Deutsche Philologie. Die erste Dissertation in diesem Fach legte Franz Muncker im Jahr 1877 vor. 2 6 0 Als Hauptinitiator darf Michael Bernays gelten, der erst drei Jahre zuvor Ordinarius für "neuere Literatur" geworden war. Er verschaffte der Deutschen Philologie nach der definitiven Teilung des Fachs die Anerkennung als Promotionsfach, und die "neue Abteilung" übernahm eine Vorreiterrolle. Konrad Hofmann, der zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwanzig Jahre seinen Lehrstuhl innehatte, konnte also an diesem Institutionalisierungsschritt wie an der Form der Auslese der
257 258 259 260
Seidel-Vollmann 1977, S.146. Vgl. Kap. 2.2.3.3. Kolk 1990, S.26. - Vgl. Kap. 3.2.2. Vgl. Kap. 2.2.3.4.
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
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nachrückenden Wissenschaftlergeneration nichts gelegen sein. 261 Der einzige Doktorand Hofmanns aus der Germanistik war Wolfgang Golther. 262 Bei seiner Arbeit handelte es sich ursprünglich um eine "Gekrönte Preisschrift", sie war also nicht von vorneherein als Dissertation gedacht. 263 Wie sehr Hofmann diese Form der wissenschaftlichen Arbeit vernachlässigte, veranschaulicht ein Vergleich mit Michael Bernays. Bis zu seinem Weggang aus München betreute der Neuphilologe immerhin insgesamt neun Doktorarbeiten als Erstgutachter. 264 Konrad Hofmann gehörte der Generation von Wissenschaftlern an, die sich nie offiziell habilitiert haben. Umso mehr Bedeutung wurde den wissenschaftlichen Publikationen beigemessen, wobei sich die Bayerische Akademie der Wissenschaften "als Pflanzstätte wissenschaftlichen Nachwuchses" bewährte. 2 6 5 Obwohl Hofmann erst 1853 als außerordentliches Mitglied aufgenommen wurde, hatte er bereits zuvor bei der Akademie veröffentlicht. 266 Als Publikationsorgane dienten ihm vor allem die "Gelehrten Anzeigen" und die "Sitzungsberichte". Naturgemäß war der Umfang der Beiträge dadurch beschränkt, weshalb Hofmann durchaus "Meister der Zeitschriften-Aufsätze" genannt werden darf. 267 Gleichzeitig ist dieser Befund symptomatisch für Hofmanns Arbeitsweise: Seine Interessen waren so vielfältig gelagert und dabei sein "Perfektionszwang" so ausgebildet, daß kleinere Projekte eher zum Abschluß kamen, während er größere Arbeiten fragmentarisch hinterließ. 268 Sein Biograph Wilhelm Hertz zählt sie gebündelt auf, ohne Vollständigkeit anzustreben: "Ich nenne nur die Ausgaben des Vulfila, des Beowulf, des Heliand, des niederländischen Reinaert, des altfranzösischen Rolandsliedes, des Pélérinage Charlemagne, des Aubri, des altfranzösischen Tristan von Berol, des provenzalischen Philomena, ferner seine altfranzösische Chrestomathie und endlich die verheißenen Nibelungenforschungen über den Ursprung der Mordbusse, über die Urbedeutung der Rheingold-
261
Vgl. Seidel-Vollmann 1977, S.168. Vgl. weiter oben. - (Arbeiten aus der Romanistik bleiben unberücksichtigt, vgl. dazu Seidel-Vollmann 1977, S.167f.) 263 Vgl. UA Ο I 66p, Prom.akte W. Golther. 264 Vgl. Kap. 3.4.1. und Tab. 1. 265 Vgl. Seidel-Vollmann 1977, S.130. 266 Vgl. das Schriftenverzeichnis bei Hertz 1892, S.22. 267 Zum Band 1 der "Romanischen Forschungen", die sein Schüler Karl Vollmüller herausgab, steuerte Hofmann z.B. 17 Beiträge bei, zum Teil von nur einer halben Seite Länge (vgl. Romanische Forschungen 1 [1883]). 268 Seidel-Vollmann 1977, S.163. 262
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
sage und anderes. Leider sind auch seine exegetischen Arbeiten zu Chaucers Canterbury Tales verloren." 269 Anfang Juli 1850 schrieb J. A. Schmeller an Konrad Hofmann die folgenden Zeilen: "Über Ihre Anfrage vom 28. 1. M. habe ich meinerseits in der gestrigen Sitzung der philolog. philosoph. Classe mich angefragt. Kein Zweifel, daß Ihre Analyse, wenn sie den Beifall der Klasse erhält, auf den Fall daß sie für das Bulletin nicht zu lang ist, in dieses, im Gegenfall auch in die Druckschriften wird aufgenommen werden. Da Sie nun sicher nicht etwas liefern werden, das den Beifall der Classe nicht erlangen könnte, so mögen Sie getrost an die Arbeit gehen [...]" 27 ° Dieses Schreiben bezog sich mit einiger Sicherheit auf "Ueber ein Fragment des Guillaume D'Orange", mit dem Hofmann 1850 seine Veröffentlichungen bei der Akademie einleitete. 271 Auf diese erste romanistische Arbeit folgte zwei Jahre später die Herausgabe von "Amis et Amiles und Jourdains de Blaivies", die er König Maximilian II. widmete. 272 Den einzigen explizit germanistischen Beitrag bis zu seiner Aufnahme als Extraordinarius stellte somit das "Hildebrandslied" dar, das Hofmann gemeinsam mit Alexander Vollmer ediert hatte. 273 Damit schien er sich eher als Romanist denn als Germanist legitimiert zu haben. Tatsache aber ist, daß bereits diese frühen Veröffentlichungen einen Grundzug von Hofmanns wissenschaftlichem Denken andeuten, der auch an seinem Vorlesungsprogramm abzulesen war: Er versuchte die europäische Literatur im gemeinsamen Kontext zu sehen - ein Ansatz von Komparatistik für die älteren Epochen: "Aus dieser od. einer ähnlichen jüngeren Bearbeitung [der Sage von Jourdain, Μ.Β.] ist ohne Zweifel der franz. Prosaroman [...] geflossen. Eine weitere Verbreitung der Sage weiß ich nicht nachzuweisen. Doch zeigen einige Capitel des span. Romans L a h i s t o r i a d e l r e y C a n a m o r y d e l i n f a n t e T u r i a n su h i j o eine auffallende Uebereinstimmung mit dem franz. Gedichte, daß ich es der Mühe werth hielt, den Inhalt des span. Werkes in einem Anhange mitzutheilen [...]" 274 Hofmanns Schriftenverzeichnis zeigt, daß er eine Hauptaufgabe in der Herausgabe von älteren literarischen Denkmälern sah, die bislang gar nicht oder nur in unbefriedigendem Zustand gedruckt vorlagen. Mit dem Ziel einer kriti269
Hertz 1892, S.19. StB Hofmanniana 9, Schmeller an Hofmann, 7.7.1850. 271 Erschienen in den "Abhandlungen" und ein Jahr später auch als selbständige Publikation in München (vgl. Hofmann 1851). 272 Vgl. Hofmann 1852, Widmung, [S.III]. 273 Vgl. Vollmer/Hofmann 1850. 274 Hofmann 1852, S.XIX. - Abkürzungen im Original. 270
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
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sehen Herstellung des Textes für "Freunde unserer alten vaterländischen Literatur- und Culturgeschichte" stand er vollkommen in der philologischen Tradition, wie sie sein Fach von Anfang an kennzeichnete.275 Hinsichtlich der Methode konnte Hofmann von den Vorgaben eines Karl Lachmann profitieren, so daß Stefanie Seidel-Vollmann ihn zu Recht als "Epigonen der Gründergeneration seiner Wissenschaften" bewertet. 276 Seine Arbeiten folgten in ihrem Aufbau einem Schema, das sich mittlerweile über Jahrzehnte eingeschliffen und bewährt hatte. Am "Fragment des Guillaume d'Orange" soll dieses Muster exemplarisch vorgeführt werden: Beschreibung der Handschrift; Ausführungen zu Mundart, Metrik und Reim; Zweck der Veröffentlichung; Textabdruck mit Anmerkungen. 277 Dabei fällt auf, daß Hofmann - gerade im Vergleich zu Schmeller - weniger oft eine Übersetzung des alten Textes in seine Gegenwartssprache mitlieferte. 278 Den Adressatenkreis verkleinerte diese Einschränkung natürlich erheblich. Eine Formulierung Hofmanns beweist, daß er auf diese Weise exakt zwischen Kennern und Laien in seiner Disziplin zu unterscheiden suchte. Sie bezieht sich auf die Herausgabe des "Meier Helmbrecht" durch Friedrich Keinz, über die Hofmann vor der Akademie berichtete: "Herr Keinz hat ausserdem noch für Ungelehrte den ganzen Text des Meier Helmbrecht abdrucken lassen u. mit einem Wörterbüchlein u. mit solchen Anmerkungen begleitet, wie sie für unsere Zeit passen, wo man nach halbhundertjährigem Betriebe der deutschen Sprach- und Alterthumskunde von jedem, der nicht den strictesten Gegenbeweis geliefert hat, per se annehmen muss, dass er vom Altdeutschen gar keine, od. was fast schlimmer, eine bloss belletristische Kenntniss besitzt."279 Hinter diesen Worten steckt eine fast elitäre Auffassung seiner Wissenschaft und seines eigenen Stands, wie sie auch aus manch anderen Handlungen Konrad Hofmanns hervorgeht. 280 In diesem Sinn kann auch sein Stolz gedeutet werden, diese jüngsten und effektiven Forschungen zu Meier Heibrecht "z ue r s t und m e t h o d i s c h angeregt zu haben." 281 Im Rückblick bietet Konrad Hofmann das Bild einer sehr eigenwilligen Persönlichkeit oder - wie es bereits sein Schüler Wolfgang Golther formulierte -
275
Hofmann, 1864, S. 185. Seidel-Vollmann 1977, S.175. 277 Vgl. Hofmann 1851. 278 Zu Schmeller vgl. Kap. 3.2.1. 279 Hofmann 1864, S.190f. 280 Z.B. sein Widerstand gegen ein Deutsches Seminar (vgl. Kap. 2.2.3.5.) oder seine geringe Bereitschaft, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern (vgl. weiter oben). 281 Hofmann 1864, S.190f. 276
150
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
eines "höchst eigenartigen Gelehrten". 282 Sein Doppelordinariat macht nach außen hin nur zum Teil institutionell sichtbar, was seine Forschung und Lehre kennzeichnete: Seinen Schülern vermittelte er germanistische und romanistische Kenntnisse nicht getrennt für sich, sondern er suchte Literatur und Sprache in ihren übernationalen Dimensionen zu beleuchten. Dabei blieb er jedoch ganz Philologe, das heißt, die Interpretation der Texte blieb stets nur eine Randerscheinung. Diesem im weitesten Sinn komparatistischen Ansatz wäre ein Lehrauftrag "für vergleichende Philologie" am ehesten gerecht geworden. Damit nahm er eine Entwicklung voraus, die speziell für die literaturwissenschaftliche Disziplin sich erst vor kurzer Zeit auf Institutsebene offiziell etabliert hat. 283 Auf der anderen Seite steht der Lehrstuhlinhaber und spätere Vorstand des Seminars für neuere Sprachen, der seine einflußreiche Position geschickt auszunützen verstand. Durch seinen Widerstand verzögerte sich die Gründung des Deutschen Seminars um fast 20 Jahre, unmittelbare Konkurrenz auf seinem Gebiet wußte er zu vermeiden. Genauso zielstrebig handelte er, um die eigenen Interessen durchzusetzen - hier sei nur auf das Seminar für neuere Sprachen verwiesen. 284 So demonstriert er paradigmatisch die Machtstellung eines Universitätsprofessors seiner Zeit.
3.2.4. Der Seminargründer Matthias von Lexer Als Matthias von Lexer als Nachfolger von Konrad Hofmann nach München kam, war er 60 Jahre alt und hatte den Zenit seines wissenschaftlichen Schaffens bereits überschritten. Seinen Beitrag zur Deutschen Philologie hatte er als Ordinarius in Freiburg und Würzburg geleistet; für die Münchner Universität war er vor allem als Gründer des Deutschen Seminars von Bedeutung. 285
282
Golther 1905, S.437f. Ein eigenes Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik) gibt es an der LMU seit dem 2. März 1988 (vgl. ME Nr. II/3-5/6 942). Zum Vorstand des Instituts wurde Prof. Dr. Hendrik Birus bestellt. - Für diese freundliche Auskunft danke ich Frau Dipl.-Übers. C. Vaussaux vom Institut für Komparatistik, München. 284 Vgl. Kap. 2.2.3.6. 285 Vgl. Kap. 2.3. 283
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
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Lexer wurde am 18. Oktober 1830 in dem kärntischen Ort Liesing geboren. 286 Der Sohn eines Müllers war auf Wohltäter und eigene Einnahmen aus Unterrichtsstunden angewiesen, um das Gymnasium in Klagenfurt besuchen zu können. Im Herbst 1851 schrieb er sich an der Universität Graz für Jura ein, wechselte jedoch bald zur deutschen Sprache und Literatur. 287 Seinem ehemaligen Grazer Lehrer Karl Weinhold widmete Lexer später das "Kärntische Wörterbuch", seine erste bedeutende lexikalische Veröffentlichung. 288 Dieser Beitrag zur Mundartenforschung stellt Lexer in die Reihe der bedeutenden Dialektologen an der Universität München, die Johann Andreas Schmeller eröffnet hatte. 289 Nachdem Lexer 1855 in Wien die Prüfung für das höhere Lehramt abgelegt hatte, wurde er am deutschen Gymnasium in Krakau Lehrer für Deutsch, Geschichte und Geographie. Aus dieser Zeit datiert Lexers erste wissenschaftliche Abhandlung: "Der Ablaut in der deutschen Sprache". 290 Vermutlich erhielt er daraufhin von der österreichischen Regierung ein Stipendium, um in Berlin seine Sprach- und Literaturstudien fortzusetzen. Zu seinen akademischen Lehrern zählten hier mit Haupt, Müllenhoff und Lachmann die ersten Vertreter ihres Fachs. 291 Anschließend verdiente er zwei Jahre lang seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer bei dem ungarischen Grafen Hunyady. 1861 rief ihn die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften nach Nürnberg, um "bei Herausgabe der deutschen Städtechroniken des späteren Mittelalters die sprachliche Bearbeitung der Chroniken zu übernehmen". 292
286
Für die Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 287 Neben seinem Alter weist dieser Fachwechsel während des Studiums Lexer als Angehörigen der ersten Wissenschaftlergeneration der Deutschen Philologie aus (vgl. Maßmann [Kap. 3.2.2.] und Hofmann [Kap. 3.2.3.]). 288 Vgl. Lexer 1862/1965, Widmung, [o.S.]. 289 Vgl. Kap. 3.2.1. - Vom Entstehungszeitraum des "Kärntischen Wörterbuchs", der vor der Münchner Zeit liegt, wird an dieser Stelle bewußt abstrahiert. 290 Erschienen 1856 in Krakau. - Wie bei Schmeller (vgl. Kap. 3.2.1.) verstärkte auch bei Lexer der Aufenthalt im Ausland die Vorliebe für Sprachstudien: "Als ich im Herbste 1855 als supplierender Lehrer ans k. k. Gymnasium in Krakau kam, trat freilich eine grosse Unterbrechung [in der Sammlung zur kärntischen Mundart, M.B.] ein; doch war mir im fremden Lande die Lust und Liebe zur Sache nur vermehrt worden." (Lexer 1862/1965, S.V). 291 Im Nachlaß Lexers in der StB München befinden sich auch etliche Vorlesungsmitschriften, vor allem aus der Berliner Studienzeit. Diese sind fast durchweg in Kurzschrift (vgl. StB, Lexeriana 1,2,1-7). 292 Lexer 1862/1965, S.VII. 11 Bonk
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
I m Juni 1863 begann Lexers Universitätslaufbahn, als er zum außerordentlichen Professor der deutschen Sprache und Literatur in Freiburg/Breisgau ernannt wurde. Franz Ilwof spricht in diesem Zusammenhang von der Fürsprache durch Wilhelm Wackernagel, was Ursula Burkhardt aufgrund der Aktenlage des Universitätsarchivs weder bestätigte noch dementierte. 293 A m 27. Oktober 1866 wurde Lexers Extraordinariat in ein Ordinariat umgewandelt, so daß er der erste Lehrstuhlinhaber für Deutsche Philologie in Freiburg war. 2 9 4 Bereits zwei Jahre später folgte Lexer einem Ruf an die Universität Würzburg, an der er bis zu seinem Wechsel nach München ununterbrochen blieb. 2 9 5 In diesen 23 Jahren bearbeitete und veröffentlichte Lexer die wissenschaftlichen Werke, die bis heute zum Standardwerkzeug jedes Germanisten gehören: das dreibändige mittelhochdeutsche Handwörterbuch und das mittelhochdeutsche Taschenwörterbuch, das mittlerweile in der 37. Auflage vorliegt. 2 9 6 Die Wörter alphabetisch zu ordnen, stellte für Lexers Zeit, in der die Zusammenstellung nach Sprachwurzeln das gängige Verfahren war, durchaus eine Revolution dar. Diesen lexikographischen Arbeiten verdankte Lexer seine Mitarbeit am "Deutschen Wörterbuch" der Brüder Grimm. 2 9 7 Die bayerische Regierung honorierte Lexers Leistungen mit dem Ritterkreuz des Verdienstordens der bayerischen Krone, das ihm dem persönlichen Adelstitel "Matthias Ritter von Lexer" einbrachte. A m 1. August 1891 wurde Lexer offiziell zum Ordinarius für Deutsche Philologie an der L M U München ernannt. A u f seine Initiative hin erfolgte im Februar 1892 die Gründung eines Deutschen Seminars, der sich Lexers Vorgänger, Konrad Hofmann, beharrlich widersetzt hatte. 298 Als Vorstand des Münchner Seminars erreichte Lexer damit denselben Status, den er seit 1873
293
Vgl. Ilwof 1906, S.682. - Burkhardt 1976, S.46ff. Vgl. Burkhardt, S.46. - Lexer hatte erst im WS 1865/66 seine Tätigkeit in Freiburg angetreten, die Ursachen für diese Verzögerung sind unbekannt (vgl. ebd., S.48). Der Zeitraum bis zur Beförderung ist damit im Grunde wesentlich kürzer. 295 Gleichzeit erging auch ein Ruf der Universität Graz an ihn, den er aber ausschlug (vgl. Ilwof 1906, S.682). 296 Vgl. Lexer 1872-1878. - Der erste Band trägt eine Widmung für Wilhelm Grimm und Wilhelm Wackernagel (Bd.l, 1872, O.S.). Vielleicht spricht die Erinnerung an den "väterlichen Freund" (ebd., S.VII) dafür, daß dieser Lexer tatsächlich für das Extraordinariat in Freiburg empfohlen hatte (vgl. weiter oben). In diesem Fall drückte Lexer wohl auf diese Weise seine Dankbarkeit aus. Sie galt aber auch dem Fachkollegen, der "dem vorliegenden buche seine grösste aufmerksamkeit zugewendet" (ebd., S.VII) hatte. - Vgl. Lexer 1878. 297 7. Band (N, O, P, Q), Leipzig 1881-89; 11. Band (die ersten drei Lieferungen), Leipzig 1890/91. - Es gehört zum Standardrepertoire fast jedes Lexer-Biographen zu erwähnen, daß Lexer als letztes Wort "Todestag" bearbeitete. 298 Zur Seminargründung vgl. Kap. 2.3. - Zu Hofmann vgl. Kap. 2.2.3.5. 294
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in Würzburg inngehabt hatte. 299 Sein Wirken in München wurde durch seinen Tod am 16. April 1892 jedoch früh beendet. In dem einzigen Semester, das Lexer in München lehrte, hatte er insgesamt drei Kurse angekündigt: "Historische Grammatik der Deutschen Sprache", "Geschichte der ältern mittelhochdeutschen Lyrik und Erklärung ausgewählter Stücke von des Minnesangs Frühling" sowie "Gothischer Kurs, I. Abteilung" (WS 1892/92). Mit diesem Angebot Schloß er nahtlos an seine Vorgänger an Themen und Dozenten wären beliebig austauschbar. Am Vorlesungskatalog ist nicht abzulesen, daß es die Deutsche Philologie zu diesem Zeitpunkt weit mehr als ein halbes Jahrhundert gab. Wie Lexer seine Kollegien vermutlich gestaltete, darüber geben einige Manuskripte aus seinem Nachlaß Aufschluß. Insgesamt 15 Vorträge bzw. Vorlesungen Lexers werden in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrt. 300 Drei davon könnten dem Titel und Inhalt nach als Grundlagen für die Veranstaltungen im WS 1891/92 gedient haben. Die Einschränkung ist notwendig, da keines der Manuskripte ein Datum trägt. 301 Bestimmte Literaturangaben erlauben allerdings gewisse Rückschlüsse auf die Entstehungszeit. Das Konzept für die Vorlesung "Historische Grammatik" besteht aus insgesamt 268 meist einseitig beschriebenen Blättern, etwa im Format D I N A6. 3 0 2 Jedes Blatt ist mit der Aufschrift "Hist. Gr." oder "H. Gr." versehen und fortlaufend numeriert, so daß hier - im Gegensatz zu den Hofmannschen Aufzeichnungen - Reihenfolge und Zusammenhang eindeutig abzulesen sind. 303 Die Aufzeichnungen müssen relativ spät entstanden sein, denn für den historischen Überblick über die neuhochdeutsche Lexikographie (B1.57) beruft sich Lexer auf seine Rektoratsrede vom 2. Januar 1890, die er diesem Gegenstand gewidmet hatte. 304 An anderer Stelle (B1.49) erwähnt Lexer Scherers Buch über Jacob Grimm, das in der zweiten Auflage von 1885 vorliege, sowie
299
Aus Anlaß von Lexers 100. Todestag gab Horst Brunner einen Sammelband über "Matthias von Lexer" heraus, der insbesondere den Würzburger Seminargründer würdigt (vgl. Brunner 1993). Von der Münchner Universität liegt nichts Vergleichbares vor. 300 StB Lexeriana 11,1-15. 301 Für die Universität Würzburg gibt es im fraglichen Zeitraum nur ein Verzeichnis des Personalbestands. Somit kann nicht überprüft werden, ob das Manuskript bereits für eine dortige Vorlesung in Frage gekommen wäre. 302 Vgl. StB Lexeriana 11,5. - Seitenangaben ab sofort im Text. - Gelegentlich stehen auf der Rückseite nachträgliche Einfügungen, die im fortlaufenden Text durch ein bestimmtes Zeichen vermerkt sind (z.B. Blatt 51, Rückseite). 303 Zu Hofmann vgl. Kap. 3.2.3. 304 Vgl. Lexer 1890. 1
154
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die Schmeller-Biographie von Ludwig Rockinger aus dem Jahr 1886 (B1.72). Diese Literaturhinweise sind vollständig in den fortlaufenden Text integriert. Bei dem Manuskript kann es sich demnach nicht um eine ältere Fassung handeln, die ständig aktualisiert wurde, um die neueste Forschungsliteratur zu berücksichtigen. An den Anfang seiner Ausführungen stellte Lexer grundsätzliche Überlegungen zur Aufgabe der historischen Grammatik, zum Wesen der Sprache per se und zur Methode der Sprachwissenschaft: "Die histor. Gramm, hat die Aufgabe, die Veränderungen, in welchen das Leben einer Sprache verläuft, zum Gegenstande der wiss. Darstellung zu machen, also vor allem andern die Geschichte der Laute und Formen zu geben, zu zeigen, daß sich dieselben nach bestimmten Gesetzen verändert haben; denn das kann man nicht genug betonen: die Sprache ist kein Seiendes sondern ein Werdendes, in einer stetigen fortwährenden Veränderung begriffenes. Entstehen und Werden einer Sprache können wir aber nie unmittelbar beobachten, sondern die Entwicklungsgeschichte der Sprache kann nur durch Zerlegung heutiger Sprachorganismen erschlossen werden d. h. für unsern Fall durch eine Darlegung der älteren Entwicklungsstufen des Deutschen, die uns auch wiederum Rückschluß machen lassen auf die vorauszusetzende germanische Grundsprache sowie auf die uralten Berührungen der Germanen mit andern, sowohl stammverwandten als fremden Völkern." (Bl.l) Auch auf die Rolle der Sprachwissenschaft innerhalb der Deutschen Philologie ging er ein: "Freilich bildet die sprachwiss. Seite nur einen Theil der deutschen Philologie, deren beste Aufgabe sein muß, das individuelle Leben und Dasein des Volkes in seiner ganzen Entfaltung, also in Glaube, Recht, Sitte, Wirtschaft, Literatur u. Sprache kennen zu lernen; allein die Sprachwiss. bildet doch die Grundlage u. den Ausgangspunkt für die andern Disciplinen, die zur Erkenntnis des deutschen Geistes führen; sie ist der Richtsteig, von dem aus die verschiedenen Nebenwege sich abzweigen, aber immer wieder zu demselben zurückkehren." (Bl.lf.) 305 Mit diesem extrem umfassenden Verständnis von Deutscher Philologie Glaube, Recht, Sitte, Wirtschaft, Literatur und Sprache - stand Lexer in einer Tradition, wie sie vor allem in der Frühzeit der Disziplin geprägt worden und für die Jacob Grimm der bedeutendste Repräsentant gewesen war. In diesem Sinn betonte Lexer auch die zentrale Funktion der Sprachwissenschaft, als die sich die Deutsche Philologie zu etablieren begonnnen hatte. Dieses Denken
305 Vgl. hierzu auch Lexer 1877, S.4: "[...] denn die Wissenschaft der Sprache bildet recht eigentlich die Grundlage und den Ausgangspunkt für alle Nebenwege, die zur Erkenntniß des individuellen Lebens eines Volkes in seiner ganzen Entfaltung führen können, und die auch immer wieder zu diesem Ausgangspunkte zurückkeh„ „ „
ren.
II
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
155
verrät ein Moment der Statik, wie es auch am Vorlesungsprogramm abzulesen war. 306 Im Manuskript folgt auf den programmatischen Vorspann ein ausführlicher Überblick über die Geschichte der Sprachwissenschaft, ausgehend von den "grammat. Anfängen des 16. Jahrhunderts" (B1.8). Da auch Konrad Hofmann die Fachgeschichte berücksichtigt hatte, scheint sie im 19. Jahrhundert zum Standardlehrstoff gehört zu haben, während sie heute an der Universität so gut wie außen vor bleibt. 307 Nach der "Gliederung der germanischen Sprachen" (Bl. 12-49) stellt Lexer "einige Hilfsmittel des deutschen Sprachstudiums" (B1.49) vor. Im Zusammenhang mit der deutschen Grammatik würdigt er zwar "das größte und unsterbliche Verdienst" (B1.49) von Jacob Grimm, ohne aber dessen Schwächen zu übersehen: "Was J. Grimm eigentlich vor den meisten Sprachforschern auszeichnet, ist eine Art poetische Destination, ein Einfühlen in die Welt der Sprache, das ihn aber oft zu weit führt, so daß die schlichte Logik und die nüchterne Betrachtung zu kurz kommt." (B1.52, Rückseite) Neben dieser vorsichtigen Kritik steht Lexers Äußerung aus dem Jahr 1877, nach der "sich in weiterem Sinne alle Germanisten als seine [= Grimms, M.B.] Schüler bekennen müssen", was im Hinblick auf Grimms Pionierrolle seine Berechtigung hat. 308 Als weitere "Hilfsmittel" nennt Lexer die Wörterbücher, z.B. gotische oder althochdeutsche Glossare (B1.57). Schmeller als den Schöpfer des Bayerischen Wörterbuchs behandelt er ausführlicher und gibt einen Überblick über dessen Leben und Werke (B1.72ff.). Dabei erwähnt er auch Schmellers Professur an der Universität, ohne sich auf ihn als seinen Nachfolger zu beziehen. Dieser Teil des Vorlesungsmanuskripts trägt trotz seines Umfangs - fast 80 Seiten und damit etwa ein Drittel vom Gesamten - einen deutlichen Einleitungscharakter. Erst auf Blatt 79 beginnt Lexer mit seinem eigentlichen Gegenstand "Historische Grammatik". Die Ausführungen gliedern sich in zwei große Kapitel "Lautlehre" (ab B1.79) und "Formenlehre" (ab B1.212), die wiederum in zahlreiche kleine Abschnitte unterteilt sind. Eine separate Übersicht über diese Paragraphen ist dem Manuskript beigefügt. Unverkennbar lag die Grimmsche Grammatik diesem Schema zugrunde. 309
306 Ygj w e i t e r oben. 307 Zu Hofmann vgl. Kap. 3.2.2. 308 Lexer 1877, S.ll. 309 Vgl. Grimm 21878-1898, Bd.l, 1870, S.XXI-XLI.
156
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Als zweite Vorlesung hatte Lexer im WS 1891/92 "Geschichte der ältern mittelhochdeutschen Lyrik und Erklärung ausgewählter Stücke von des Minnesangs Frühling" angekündigt. Ein Manuskript zur "Geschichte der mittelhochdeutschen Lyrik" befindet sich ebenfalls in Lexers Nachlaß. 310 Daß Lexer es etwa zur Zeit der Vorlesung benutzt haben muß, beweist ein nachträglich eingelegter Zettel mit folgender Literaturangabe: "Gesch. der Dt. Dorfpoesie im 13. Jh. I. Leben u. Dichten Neidh. v. Reuental untersucht v. A. Bielschowsky (Sonderbd. aus Acta Germanica 11,2) Berlin 1891 M 9.50" (ohne Blattnr.) Auf einem weiteren unnumerierten Blatt steht außer dem Datum "15. Sept. 1889" ein Buch von Karl Domanig über Walther von der Vogelweide, das 1889 in Paderborn erschienen ist: "Der Klosenaere W. v. d. V." Das Manuskript besteht aus zahlreichen Einzelblättern (etwa DIN A6), die beidseitig beschrieben und nicht vollzählig durchnumeriert sind. Die höchste Blattnummer lautet 88, was aber nicht der Gesamtanzahl der Blätter entspricht, da einige Nummern fehlen. Andere wiederum sind nachträglich eingelegt und tragen dann den Zusatz "ad" oder "b". 3 1 1 Als "Einleitung" plante Lexer, "Allgem. über Vogelweide" zu sprechen, d.h. über seine Herkunft (Bl.l). Bei der Biographie dieses höfischen Dichters ging er chronologisch vor und nahm auch auf die politischen Verhältnisse Bezug. Weitere Themen bildeten "Walthers Gedichte" und "Waithers Schule", d.h. die Dichter, "die als Nachahmer Walthers bezeichnet werden können" (B1.36t, Rückseite). Beispielsweise folgen hier Erläuterungen zu Ulrich von Singerberg (B1.37Ì0 oder Meister Sigeher (B1.40). Etwa die Hälfte des Manuskripts ist Walther im weiteren Sinn, d.h. einschließlich seiner Schule, gewidmet. Lexer sah in ihm wohl eine der zentralen Persönlichkeiten der mittelhochdeutschen Lyrik. Davon zeugt auch ein Vortrag von 1873, der noch im selben Jahr publiziert wurde. 312 Die zweite Hälfte des Vorlesungsmanuskripts behandelt "ritterliche Dichter, die noch neben W. v. d. Vogelw. od. nach ihm lebten u. dichteten" (B1.42). Beispielsweise beschäftigte sich Lexer mit Heinrich von Hauenberg (B1.42),
310
StB, Lexeriana 11,7. - Seitenangaben ab sofort im Text. Vgl. ebd., z.B. "ad 27" oder "ad 34" bzw. "36^" oder "37*>". 312 Vgl. UB M, 4° Cod. ms. 1056. - Im Druck: Lexer, Matthias, Ueber Walther von der Vogel weide. Ein Vortrag, Würzburg 1873. - Eine Rezension in der "Neuen Fr. Presse" hält den Vortrag für einen der "besten und gediegensten Mittheilungen über 'Walther von der Vogelweide' (zit. nach: Mnemosyne. Beiblatt zur Neuen Würzburger Zeitung mit Würzburger Anzeiger, Nr.15, 19.2.1873, S.66; als Anhang zu: UB M, 4° Cod. ms. 1056). 311
3.2. Germanistik als Deutsche Altertumskunde
157
Graf Otto von Botenlauben (43), Ulrich von Lichtenstein (44), Walther von Metz und Friedrich von Sonnenburg (47). Anschließend widmete Lexer einige Seiten dem weltlichen lyrischen Volkslied (ab 77) und dem geistlichen Volksgesang (ab 82). Insgesamt bot Lexer einen deutlich personenbezogenen Überblick über die mittelhochdeutsche Lyrik. Da deren Träger durchweg adliger Herkunft waren und meist am Hof eines Fürsten lebten, rückten auch Aspekte aus Geschichte und Politik ins Blickfeld. Zu Lexers Nachlaß gehört ein Vorlesungsmanuskript "Gotisch". 313 Ein "Gothischer Kurs, I. Abteilung" fand auch im WS 1891/92 an der L M U unter Lexers Leitung statt. Das Manuskript setzt sich zusammen aus insgesamt 34 Blättern in Postkartengröße, die durchnumeriert (Bl.l fehlt) und zum Teil zweiseitig beschrieben sind. Der Einleitungsteil schildert das Leben von Wulfila, dessen gotische Bibelübersetzung eine der Hauptquellen für diese germanische Sprache darstellt. Ab dem siebten Blatt konzentrierte sich Lexer auf "Braune's Gr.", d.h. die "Gotische Grammatik", die Wilhelm Braune erstmals 1880 veröffentlicht hatte. Da Lexer an anderer Stelle "Zu Braune Got. Gr. 3" (B1.2) notiert hatte, legte er seinen Aufzeichnungen vermutlich die dritte Auflage zugrunde, die 1887 ebenfalls in Halle erschienen war. Diese Annahme würde für eine späte Entstehungszeit auch dieser Aufzeichnungen sprechen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß Lexer sie tatsächlich an der L M U benutzte. Eventuell hatte der Ordinarius diese Unterlagen sogar speziell für München konzipiert, da sie sich auf den ersten Teil von Braunes Grammatik (Lautlehre) beschränken. Entsprechend war das Universitäts-Kolleg als "I. Abtheilung" deklariert; im SS 1892 sollte der "zweite Teil des gotischen Kurses" folgen. Vermutlich war diesem die Flexionslehre vorbehalten. 314 Doch dazu kam es durch Lexers überraschenden Tod nicht mehr. Beim Thema "Lautlehre" hielt sich Lexer streng an seine Vorlage. Er stellte chronologisch den Inhalt der einzelnen Paragraphen von Braunes Grammatik vor, ordnete den Stoff also nicht eigenständig neu. Daraus kann man schließen, daß Lexer entweder die Strukturierung durch seinen Kollegen für vollkommen gelungen erachtete oder aber sich nicht der Mühe einer Neugliederung unterziehen wollte. Falls der Ordinarius für Deutsche Philologie seine Niederschrift tatsächlich in dieser Form referierte, gab er im Grunde nur die Ergebnisse Braunescher Forschungstätigkeit wieder.
313 314
StB, Lexeriana 11,4. - Seitengaben ab sofort im Text. Vgl. Braune 31887, S.33-82.
158
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Der Stil von Lexers Aufzeichnungen steht im krassen Gegensatz zu den Unterlagen von Hofmann. 315 Sein Vorgänger machte sich in der Regel nur stichpunktartige Notizen; noch dazu pflegte er häufig von diesem Konzept abzuweichen. Der Seminargründer verfertigte dagegen äußerst umfangreiche Manuskripte, legte in vollständigen Sätzen ausführlich seinen Gedankengang nieder. Was über seinen Vorlesungsstil überliefert ist, spricht dafür, daß er im Hörsaal kaum vom fixierten Schema abwich: "Mit dem herzlichen Wohlwollen, das er jedem seiner Schüler entgegenbrachte, verband er in seinen Seminarübungen in hohem Grade die Kunst, durch die Art seiner Fragen zu selbstthätiger Mitarbeit anzuregen. In seinen Collégien entsprach der Klarheit und Durchsichtigkeit seiner Darlegungen auch die wohlabgemessene Gruppirung und Eintheilung seines Themas, das er im Rahmen eines Semesters vollständig bewältigte. Dabei wirkte das persönliche, innere Verhältniß zu seiner Wissenschaft, das wohltuend aus seinem Vortrage sprach, und dem er gelegentlich auch direct in kleinen Zügen Ausdruck gab, anregend und vorbildlich." 316 Die Kürze von Lexers Wirken in München bedingte, daß er überhaupt keine Dissertation betreute und nur an einem einzigen (erfolglosen) Habilitationsverfahren beteiligt war. 317 Matthias von Lexer als Lehrer an der L M U vorzustellen, heißt deshalb, sich auf seine wenigen Vorlesungen zu beschränken. Für diese stellt sich aber paradoxerweise die Quellenlage wesentlich günstiger dar als z.B. bei Hofmann, der fast sein ganzes Leben lang in München gelehrt hatte. 318 Die Vorlesungsmanuskripte zeigen den Institutsgründer als einen Dozenten, der seine Vortrage und Übungen sehr gründlich vorbereitete, ja sie nahezu bis ins Detail ausarbeitete. Bei der Themenwahl bewies er wenig Innovationsfreude, sondern hielt sich nur an die seit Jahrzehnten gängigen Standards. Ebenso traditionell mutet seine Auffassung von der vaterländischen Funktion der Deutschen Philologie an, wie Lexer sie noch 1877 in einer programmatischen Festrede formuliert hatte: "Diese deutsche Gesinnung zu wahren und die Flamme auf diesem heiligen Herde der Vaterlandsliebe zu nähren und zu unterhalten, muß die deutsche Philologie um so mehr zu ihren Aufgaben zählen, als sie selbst nur als ein Kind der reinsten Vaterlandsliebe zu bezeichnen ist. Diese wird aber am besten geweckt und genährt durch eine genaue Kenntniß und Werthschätzung der vaterländischen Güter, unter denen die Sprache und Literatur den ersten Platz behauptet, denn 'die Sprache ist, wie Wilhelm Humboldt sich ausdrückt, unsere wahre Heimath, sie bestimmt die Sehnsucht darnach
315 316 317 318
Vgl. Kap. 3.2.3. Allg. Ztg., Nr. 109, 19.4.1892, S.3. Vgl. Tab. 1. - Zur Habilitation von Karl Borinski vgl. Kap. 2.3. Vgl. Kap. 3.2.3.
3.3. Die ältere deutsche Philologie
159
und die Entfremdung vom Heimischen geht immer durch die Sprache am schnellsten und leichtesten, wenn auch am leichtesten verloren.'" 319 Sowohl von seinem Alter als auch von seinem Denken her gehört Matthias von Lexer zur älteren Germanistengeneration. Indem sich die philosophische Fakultät im Sommer 1891 für ihn aussprach, holte sie einen Mann nach München, der sich einen glänzenden Namen als Wissenschaftler erworben hatte. 320 Mit dem zweiten Kandidaten, Eduard Sievers, hätte sich vermutlich die Aussicht auf eine Neubelebung bestehender Strukturen eröffnet - die von ihm entwickelte Schallanalyse hob ihn deutlich von seinen Kollegen ab. Diese Annahme schmälert jedoch nicht Lexers unbestrittene Verdienste um die Gründung des Instituts für Deutsche Philologie an der Ludwig-MaximiliansUniversität.
3.3. Die ältere deutsche Philologie Erst allmählich entwickelte sich aus der Deutschen Altertumskunde die Deutsche Philologie im heutigen Verständnis, was gleichermaßen eine Erweiterung wie eine Einschränkung bedeutete.321 Der Umfang des Fachs wuchs, als die Germanisten ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die neuere deutsche Sprache und Literatur in ihre Forschungen mit einbezogen. Gleichzeitig nahm er strenggenommen auch ab, da man sich zunehmend auf die Erforschung der deutschen Sprache und Literatur konzentrierte. Die - absolut gesehen - Ausdehnung des Gegenstands machte es dem einzelnen unmöglich, alle Bereiche in gleichem Maße zu erforschen und zu vertreten. Eine Spezialisierung wurde somit unumgänglich. Einen ersten Schritt in diese Richtung bedeutete die Differenzierung zwischen der älteren und der neueren deutschen Philologie. 322 Auf institutioneller Ebene führte dies zur Einrichtung eines zusätzlichen Extraordinariats, das bald zu einem Ordinariat aufgewertet wurde. 323 Der Entwicklung einer älteren und einer neueren Abteilung wird im folgenden Rechnung getragen, indem ihre Vertreter jeweils in einer Reihe für sich vorgestellt werden.
319
Lexer 1877, S. 12. Zu Lexers Berufung vgl. Kap. 2.3. 321 Zur Deutschen Altertumskunde vgl. Kap. 3.2. 322 Zur älteren deutschen Philologie vgl. Kap. 3.3.1. und 3.3.2. - Zur neueren deutschen Philologie vgl. Kap. 3.4. 323 Vgl. Kap. 2.2.3.4. 320
160
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
3.3.1. Der Junggrammatiker
Hermann Paul
Hatte sich die Philosophische Fakultät 1891 mit Matthias von Lexer noch für einen eher traditionell orientierten Germanisten ausgesprochen, nutzte sie nur ein Jahr später die Chance, eine innovative Kraft an die L M U zu holen. 324 Den Willen zur Erneuerung ließen alle Kandidaten der Berufungskommission von 1892 erkennen, schon durch ihr Alter setzten sie sich deutlich von dem vorhergehenden Lehrstuhlinhaber ab. 325 1 891 war Eduard Sievers noch unterlegen; jetzt führten seine Studienfreunde Hermann Paul und Wilhelm Braune die Vorschlagsliste an. 326 Alle drei werden der Gruppe der "Junggrammatiker" zugerechnet, die sich Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Leipzig konstituierte. Mit der Berufung von Hermann Paul gewann die Münchner Universität nicht nur einen der exponierten Vertreter dieser neuen Forschungsrichtung, sondern auch deren Theoretiker. 327 Hermann Paul wurde am 7. August 1846 in Salbke bei Magdeburg geboren. 328 Nach dem Gymnasium in Magdeburg nahm er 1866 in Berlin sein Philologie-Studium auf. Ein Jahr später wechselte er nach Leipzig, wo er gemeinsam mit Sievers und Braune - zu den wichtigsten Schülern von Friedrich Zarncke zählte. Hier folgte zwei Jahre nach der Promotion im August 1870 die Habilitierung. 329 1874 ging Paul als außerordentlicher Professor der deutschen Sprache und Literatur nach Freiburg. Am 17. März 1877 wurde das Extraordinariat in ein Ordinariat umgewandelt. Nach 19 Jahren an der Freiburger Universität erhielt Paul einen Ruf aus München, dem er zum 1. April 1893 folgte. Als Ordinarius für Deutsche Philologie und erster Vorstand des
324
Vgl. Kap. 3.2.4. Vgl. Kap. 2.4.1.1. - Lexer (geb. 1830) war beim Antritt seiner Lehrverpflichtungen in München bereits 61 Jahre alt; die Kandidaten für seine Nachfolge waren im Schnitt 20 Jahre jünger (Paul: geb. 1846; Braune: geb. 1850; Vogt: geb. 1851; Behaghel: geb. 1854). 326 Vgl. Kap. 2.3. und 2.4.1.1. 327 Vgl. Einhauser 1989, S.138. 328 Für die Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 329 Über das Promotionsjahr gibt es abweichende Angaben. Nach der Personal-Liste in der Personalakte im UA München wurde Paul am "12. Jan. 1871 zum Doctor philosophiae in Leipzig promoviert" (UAM E II 647). Carl von Kraus nennt 1868 (vgl. Kraus 1921, S.206, und Kraus 1922, S.27). Paul selbst gibt August 1870 an (vgl. Paul 1922, S.495). Da seine Dissertation "Über die ursprüngliche Anordnung von Freidanks Bescheidenheit" in diesem Jahr in Leipzig gedruckt wurde, müssen die anderen Daten falsch sein. - Da Carl von Kraus als Promotionsjahr 1868 nennt (vgl. Anm.363), soll sich Paul schon im Jahr 1870 habilitiert haben (vgl. Kraus 1921, S.206 und 1922, S.27). 325
3.3. Die ältere deutsche Philologie
161
Deutschen Seminars lehrte er an der L M U bis zu seiner Emeritierung im Oktober 1916. Auch danach blieb er in München, wo er am 29. Dezember 1921 starb. Den Wechsel nach München nahm Paul mit großer Erleichterung auf, da die äußeren Bedingungen in Freiburg eher ungünstig waren. Zu einem kärglichen Gehalt kamen niedrige Studentenzahlen, so daß Paul die Freiburger Hochschule eher abfällig als "winkeluniversität" bezeichnete.330 Umso stärker kränkte ihn, daß von den Universitäten Kiel, Jena, Tübingen und Halle kein Ruf an ihn ergangen war, obwohl er hier insgesamt fünfmal die Kandidatenliste angeführt hatte. 331 Trotz dieser äußeren Zurücksetzungen entfaltete er in Freiburg eine rege wissenschaftliche Produktivität, die bis an sein Lebensende andauerte. 332 Seine ersten Veröffentlichungen zeigen Paul vor allem als Philologen des deutschen Mittelalters. Das Interesse für Textkritik und Interpretation, das sowohl die Dissertation als auch die Habilitationsschrift bekunden, begleitet Paul während seiner gesamten akademischen Laufbahn. 333 Bereits früh prägte sich seine Sicht von wissenschaftlicher Tätigkeit und Erkenntnis aus. Seine Arbeit verstand er nicht als letztgültige Klärung offener oder umstrittener Fragen, sondern er gestand durchaus ein, manches Problem ungelöst lassen zu müssen: "Jeder sachverständige wird zugeben, dass nach allem, was bisher für kritik und erklärung des Parzival getan ist, noch keineswegs alle Schwierigkeiten befriedigend gelöst sind. Auch die nachfolgenden bemerkungen [...] erheben nicht den anspruch etwas einigermassen abschliessendes zu geben; sie sind nur ein versuch an einer reihe
330 Paul an Zarncke am 13.6.1879 (zit. nach Einhauser 1989, S.80). - Zum Gehalt vgl. Paul 1922, S.496; Ursula Burkhardt gibt in ihrer Untersuchung zur Deutschen Philologie an der Freiburger Universität keine Besoldungssummen an (vgl. Burkhardt 1976, S.51 - Berufung Paul). - Zu den Hörerzahlen vgl. Paul an Zarncke, 1.11.1874: "Meine zuhörerzal ist in diesem semester bedeutend geringer als im vorigen. Die grammatik haben bis jetzt sieben belegt, wozu auch kaum noch jemand hinzukommen wird. In den minnesingern werde ich wahrscheinlich auf fünf kommen. Zu den Übungen (Parzival) haben sich fünf gemeldet, unter denen aber nur drei sind, von denen ich erwarten kann, dass sie aushalten werden." (zit. nach Einhauser 1989, S.330f.). - Vgl. auch die Hörerzahlen in Burkhardt 1976, S.69. 331 Vgl. Paul 1922, S.496. - Einen Ruf nach Gießen im Sommer 1888 lehnte Paul ab. 332 Auf die autobiographische Skizze "Mein Leben" folgt ein Schriftenverzeichnis, das von Paul selbst zusammengestellt und von Paul Gereke und Wilhelm Braune ergänzt worden ist (vgl. Paul 1922, S.499f.). 333 Vgl. Paul 1870 (Dissertation). - Paul, Hermann, Zur Kritik und Erklärung von Gottfrieds Tristan, in: Germania 17 (1872), S.385-407 (zugleich Habilitationsschrift).
162
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
von stellen, wo mir die bisherigen erklärungen ungenügend oder falsch erschienen, nachzuhelfen, so weit ich besseres bieten zu können meinte, während viele andere stellen übergangen sind, weil ich darüber zu keiner klarheit, zu keiner festen ansieht gelangen konnte, oder weil die berichtigung, die ich etwa hätte geben können, zu unbedeutend oder zu subjectiv, mitunter auch zu naheliegend war, als dass ich es nicht für angemessener gehalten hätte jede bemerkung darüber zu unterdrücken." 334 Neben diesen zahlreichen Beiträgen zum wissenschaftlichen Diskurs stehen diverse Textausgaben, von denen einige jedoch nicht zum Abschluß kamen. 335 Ergebnis seiner Herausgeber-Initiative ist die "Altdeutsche Textbibliothek", "deren einzelne Hefte sich als akademische Unterrichtsmittel grosser Beliebtheit erfreuen." 336 Damit erfüllten sie genau den Zweck, den Paul ihnen zugedacht hatte: "Dem zwecke der Sammlung entsprechend, die mit diesem bande eröffnet wird, bin ich lediglich bestrebt gewesen, die gedichte Walthers durch eine möglichst billige und handliche ausgabe leicht zugänglich zu machen. Ich mache nicht den anspruch, damit etwas wesentliches für die kritik und erklärung geleistet zu haben. Meine arbeit hat hauptsächlich darin bestanden, aus der masse der aufgestellten Vermutungen das wenige sichere oder wenigstens plausible herauszusuchen."337 Zu der von ihm begründeten Reihe steuerte er die Editionen von Gedichten Walthers von der Vogelweide sowie "Gregorius" und "Der arme Heinrich" des Hartmann von Aue bei. 338 Nur eine einzige Neuedition verzeichnet die Paulsche Werkbibliographie mit "Tristan als Mönch". 3 3 9 Es ist charakteristisch für den Status der germanistischen Disziplin im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, daß die Generation um Paul statt Erstausgaben von mittelhochdeutschen Texten nunmehr revidierte Editionen vorlegt. Darin fließen die Ergebnisse einer über Jahrzehnte gereiften Wissenschaft ein, die ihre Pionierarbeit, das Untersuchungsmaterial "Mittelhochdeutsche Literaturdenkmäler" überhaupt zugänglich zu machen, weitgehend geleistet hat. Als Herausgeber bevorzugte Paul, statt zu spekulieren, sich an die objektiv gegebene(n) Handschrift(en) zu halten, und unterschied streng zwischen dem Sicheren und dem nur Vermuteten:
334
Paul, Parzival, 1876, S.64. "Geplante kritische ausgaben von Freidanks Bescheidenheit und Gottfrieds Tristan kamen trotz ausgedehnten vorarbeiten aus verschiedenen Gründen nicht zur ausführung." (Paul 1922, S.496) 336 Wilhelm 1924, S.225. 337 Paul (1881) 41911, S.III. 338 1881 (Walther) bzw. 1882 (Hartmann) in Halle erschienen. 339 Vgl. Paul 1895. 335
3.3. Die ältere deutsche Philologie
163
"Bei der herstellung des textes [= die Gedichte Walthers von der Vogelweide, M.B.] habe ich mich enger an die handschriftliche Überlieferung angeschlossen als alle früheren herausgeber. Ich will damit nicht in allen fällen die richtigkeit derselben als zweifellos hinstellen, aber ich meine, dass wir immer auf einem festeren boden bleiben, wenn wir eine überlieferte lesart, die uns einiges bedenken erregt, stehen lassen, als wenn wir sie durch eine conjectur ersetzen, die willkürlich aus verschiedenen möglichkeiten ausgewählt ist." 340 Meist pflegte Paul, sich sachlich mit abweichenden Forschungsmeinungen auseinanderzusetzen, wie es z.B. an der Einleitung zu seiner Walther-Ausgabe abzulesen ist. 3 4 1 Friedrich Wilhelm schrieb dieses Vorgehen dem "Hauptzug seines Wesens, Gewissenhaftigkeit und Objektivität" zu, Eigenschaften, die der philologischen Arbeitsweise sehr entgegenkommen.342 Den wichtigsten Publikationsort für Pauls germanistische Aufsätze bildete anfangs eine von ihm und Wilhelm Braune begründete Zeitschrift. Ab 1874 gaben die beiden ehemaligen Leipziger Studienkollegen die "Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur" heraus; ab dem 16. Band stand das Unternehmen vor allem unter der Regie von Eduard Sievers, einem weiteren Freund aus der Leipziger Universitätszeit. Obwohl Paul und Braune ihrer Neugründung kein Geleitwort vorausschickten, sind ihre Namen, wie später der von Sievers, beinahe Programm genug. 343 Nach der "Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literaturgeschichte", nach "Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Altertumskunde" und der "Zeitschrift für deutsche Philologie" stellten die "Beiträge" die vierte bedeutende Neugründung eines germanistischen Fachorgans innerhalb weniger Jahrzehnte dar. 344 Neben den beiden erstgenannten etablierten sie sich als weiteres konträres Forum im Nibelungenstreit. 345 Gemeinsam ist dem "Herausgeber-Trio" die universitäre Schulung bei Friedrich Zarncke in Leipzig. Obwohl Schüler von Haupt, verfiel dieser nicht in blinde Autoritätsgläubigkeit, sondern entwickelte sich zu einem "fähigen Kritiker Lachmanns". 346
340
Paul (1881) 41911, S.III. Vgl. ebd., S.1-28. 342 Wilhelm 1924, S.225. - In der Auseinandersetzung mit Scherer ließ sich allerdings auch Paul zu offener Polemik hinreißen (vgl. weiter unten). 343 Vgl. PB Β 1 (1874). - Der erste Band enthält weder ein Vorwort von Paul, noch von Braune. 344 ZfdA: 1841 von Moritz Haupt als "Zeitschrift für deutsches Altertum" gegründet; ab Bd. 19 mit neuem Titel und den Herausgebern Steinmeyer, Müllenhoff und Scherer in Berlin. - Germania: 1856 von Franz Pfeiffer in Wien gegründet (vgl. Kap. 3.2.2.). - ZfdPh: 1868 von Höpfner und Zacher in Halle gegründet. 345 Vgl. Kap. 3.2.2. 346 Kolk 1990, S.36. 341
164
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Dasselbe gestand der Leipziger Ordinarius auch seinen eigenen zahlreichen Studenten zu, so daß Hermann Paul rückblickend hervorhob: "Bei den Schülern Zarnckes ist die freie Entfaltung der Individualität nicht durch das Haften an der Tradition gehemmt."347 Wohl mit aus diesem Grund lehnte es Eduard Sievers ab, Zarncke als Begründer einer Schule zu bezeichnen.348 Trotzdem gehört der Terminus "Leipziger Schule" zum Standardrepertoire der Wissenschaftshistoriker. 349 Rainer Kolk wies zwar nach, daß der Merkmalskatalog einer wissenschaftlichen Schule, wie Edward A. Tiryakian ihn aufgestellt hatte, auf Zarncke und die ihm nachfolgende(n) Generation(en) nicht vollständig zutrifft. 350 Es wurde jedoch als Charakteristikum einer wissenschaftlichen Schule festgestellt, daß die Schüler nicht nur epigonenhaft die Lehre ihres "Meisters" übernehmen, sondern ihren eigenen Beitrag zur Forschung leisten sollen. Insofern liegt die schulenbildende Wirkung von Friedrich Zarncke vielleicht gerade darin, seine Schüler zu diesem Schritt ermuntert zu haben. Indem hier der Hauptakzent des Schulenbegriffs nicht auf einer Lehrmeinung liegt, widerspricht er auch nicht der Paulschen Auffassung und wird deshalb für diese Untersuchung herangezogen. 351 Bei der Premiere der "Beiträge" befand sich der Nibelungenstreit in seiner zweiten Phase, das heißt, die Hauptträger der Auseinandersetzung waren bereits die Schüler der ersten Generation. 352 In seiner ausführlichen Stellungnahme "Zur Nibelungenfrage" wies Paul auf das Fehlen "einer allseitigen scharfen und zugleich vorurteilsfreien Kritik von Bartschs Argumenten" hin: "Weder von der einen noch von der andern seite ist meiner Überzeugung nach Bartschs aufstellungen ihr recht zu teil geworden. Es kommt darauf an, rückhaltslos
347
Paul (1891) 21901, S.102. Vgl. Kolk 1990, S.42. 349 Vgl. weiter oben. 350 Vgl. Kolk 1990, S.43. - Z u Tiryakian vgl. Kap. 3.1. 351 Paul zum Begriff der wissenschaftlichen Schulen: "Ich muß gegen diesen ausdruck protestieren, wenn damit der inbegriff gewisser lehrmeinungen verknüpft sein soll, gewis bekennen wir uns gern als dankbare schüler Zarnckes, aber eben deshalb, weil er niemals etwas anderes erstrebt hat, als unser urteil zur Unbefangenheit und Selbständigkeit herauszubilden, und nichts sorgfältiger von uns abgehalten hat als blinde Unterwerfung unter irgend eine autorität. Wir haben nichts specielles, was uns von unsern mitforschern trennen könnte, soweit diese nicht sich selbst absondern, um eine clique zu bilden, die noch andere normen anerkennt als die, welche aus den gesetzen des denkens und der natur der dinge fliessen." (Paul, Nibelungenfrage u. philologische Methode, 1878, S.444f., Anm.; zit. nach: Reis 1978, S.159f., Anm.4) 352 Vgl. Kolk 1990, S.45. 348
3.3. Die ältere deutsche Philologie
165
das richtige und fördernde in denselben anzuerkennen und ebenso entschieden sich gegen das verfehlte und irreleitende zu wahren." 353 Das Streben nach Objektivität war symptomatisch für dieses Stadium des Nibelungenstreits, der sich nach der ausgesprochenen Polemik der Anfangszeit zunehmend zu versachlichen begann. 354 Erschien Paul bislang vor allem als Philologe, darf ein anderer wichtiger Zweig seiner wissenschaftlichen Tätigkeit darüber nicht vergessen werden, wie Paul selbst betonte: "Meine wissenschaftlichen arbeiten [...] bewegten sich im anfang auf zwei verschiedenen gebieten. Einerseits bezogen sie sich auf interpretation und textkritik, sowie auf literarische beurteilung mittelhochdeutscher dichtungen [...] Anderseits war es die laut- und flexionslehre der germanischen sprachen, der meine tätigkeit gewidmet war. Auf diesem gebiete blieb ich immer in engster fühlung mit meinen freunden sievers und braune." 355 Das "Dreigestirn" Paul-Braune-Sievers entstand somit nicht nur durch die Kooperation für die Fachzeitschrift "Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur", sondern basierte ganz entscheidend auf einem gemeinsamen Forschungsansatz innerhalb der Sprachwissenschaft. Etwa Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts fanden sich in Leipzig Wissenschaftler zusammen, die mit dem Namen "Junggrammatiker" belegt wurden. 356 Diese Bezeichnung suchten die Mitglieder allerdings zu vermeiden, Hermann Paul sprach selbst nur von der "neuen bewegung", der "neuen" bzw. "neuesten Richtung" oder "der jüngeren grammatischen Richtung". 357 In Anlehnung an August Leskien, den Mitbegründer und Lehrer dieser Richtung, gingen ihre Vertreter von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze und dem Analogieprinzip aus: "Unter diesem Sammelnamen [= Junggrammatiker, M.B.] verstand man eine Gruppe von Gelehrten, die [...] die Erkenntnisse der indogermanischen Grammatik für die Erforschung der ältesten Zustände des Germanischen nutzbar zu machen bestrebt 353 Vgl. Paul, Nibelungenfrage 1876, S.373 und 374; vgl. auch seinen Beitr. in PB Β 5 (1878), S.428-446. 354 Vgl. Kolk 1990, S.78. 355 Paul 1922, S.496f. 356 Ygj fQ r das Folgende hauptsächlich Einhauser 1989. - Die Bezeichnung "Junggrammatiker" geht auf Friedrich Zarncke zurück und taucht bei den Indogermanisten Hermann Osthoff und Karl Brugmann zum ersten Mal offiziell auf, und zwar in ihrer gemeinsamen Veröffentlichung "Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiet der indogermanischen Sprachen", 1. Teil, Leipzig 1878 (vgl. Bußmann 1983, S.225). 357 Zusammengestellt bei Einhauser 1989, S.7f.
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
waren und dabei mit den von der Phonetik ermittelten Ergebnissen, mit der Analogie als wichtigem Faktor im Sprachleben und mit dem Grundsatz von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze in konsequenter Weise operierten." 358 Diese Faktoren - zentrale Gründerfigur, bestimmtes Lehrprogramm, konsequenter Ausbau durch die Schülergeneration - berechtigten dazu, bei den Junggrammatikern von einer "wissenschaftlichen Schule" im Sinne von Edward A. Tiryakian zu sprechen. 359 Hinzu kommt außerdem, daß mit den "Beiträgen" auch das geforderte Mitteilungs- und Sammlungsorgan zur Verfügung stand. Die unbestrittene Bedeutung von Hermann Paul liegt darin, daß er einige Jahre nach dem Aufkommen dieses neuen Forschungsansatzes dessen theoretische Begründung nachlieferte. 1880 erschienen seine "Principien der Sprachgeschichte", die bis heute - in mehreren erweiterten Neuauflagen noch unter Pauls Federführung - als Standardwerk in der Sprachwissenschaft gelten. 360 Wie bei den philologischen Aufgaben die Zeit für revidierte, d.h. verbesserte Textausgaben gekommen war, war auch die Sprachwissenschaft mittlerweile so weit gereift, daß sie über die Praxis hinausgehend sich dem theoretischen Fundament widmen konnte. 361 Im vorliegenden Fall heißt das konkret, daß Paul über Gegenstand, Zielsetzung und Methodik der Sprachwissenschaft reflektierte sowie über ihre Stellung und Funktion innerhalb des Spektrums der modernen Wissenschaften. Prinzipiell unterscheidet Paul zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Den Terminus "Geisteswissenschaft" akzeptiert er nur für die Psychologie, weil bei allen anderen Kulturwissenschaften außer psychischen auch physische Faktoren wirken. Nur durch das Fehlen der psychischen Komponente definieren sich die reinen Naturwissenschaften wie Mathematik und Physik. Die historischen Naturwissenschaften bilden gemeinsam mit den Kulturwissenschaften die Gruppe der historischen Wissenschaften. Die historische Dimension der Kulturwissenschaften zielt ab auf das Interesse für den Wandel in der Zeit. Die Bedingungen für diese geschichtliche Entwicklung festzustellen, ist Aufgabe der sogenannten Prinzipienwissenschaft, die Paul als Terminus technicus einführte: 358
Kraus, Hermann Paul [Nekrolog], 1922, S.29f. Vgl. die Definition in Kap. 3.1. - Eveline Einhauser weist auf die bestehenden terminologischen Ungenauigkeiten in bezug auf die Vertreter der junggrammatischen Richtung hin. Sie unterscheidet streng zwischen den "Junggrammatikern", zu denen sie nur eine zentrale Gruppe innerhalb der Gesamtrichtung zählt (v.a. Paul, Braune, Sievers), und der junggrammatischen Richtung (vgl. Einhauser 1989, S.4 und 10). Diese Differenzierung ist für das Folgende jedoch nicht relevant. 360 V g l P a u l j Prinzipien, (1880) 41909, S.2. - Seitenangaben ab sofort im Text. 359
361
Zur Editionspraxis vgl. weiter oben.
3.3. Die ältere deutsche Philologie
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"Ihr [= der Prinzipienwissenschaft, M.B.] ist das schwierige Problem gestellt: wie ist unter der Voraussetzung konstanter Kräfte und Verhältnisse doch eine geschichtliche Entwickelung möglich, ein Fortgang von den einfachsten und primitivsten zu den kompliziertesten Gebilden?" (S.2) Ziel ist die "exakte Erkenntnis des Kausalzusammenhangs" (S.4), weshalb die am geschichtlichen Wandel beteiligten Faktoren zuerst isoliert und dann auf ihre Wechselwirkung hin überprüft werden müssen. Mit anderen Worten: Der Synthese muß die Analyse vorausgehen. Diese Terminologie erinnert bewußt an die "reinen Naturwissenschaften", denn die Junggrammatiker können als die Positivisten auf sprachwissenschaftlichem Gebiet bezeichnet werden. Diese philosophische Bewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfaßte nicht nur die Literaturwissenschaft - exponiertester Vertreter: Wilhelm Scherer - , auch der Sprachwissenschaft suchte man angesichts der jüngsten Erfolge der Naturwissenschaften auf diesem Weg zu neuem Ansehen zu verhelfen. Als exakte historische Wissenschaft rückt bei Paul die Sprachwissenschaft in unmittelbare Nähe zu den historischen Naturwissenschaften. 362 Ihre Aufgabe sieht er darin, "möglichst allseitig die Bedingungen des Sprachlebens darzulegen und somit überhaupt die Grundlinien für eine Theorie der Sprachentwickelung zu ziehen." (S.6) Als entscheidend dafür nennt er die wechselseitige Beeinflussung der am Sprechprozeß Beteiligten: "Alles dreht sich mir darum die Sprachentwickelung aus der Wechselwirkung abzuleiten, welche die Individuen auf einander ausüben." (S.12, Anm.l) Die Rolle der Individuen beim Sprachwandel zu erkennen und auszuwerten, ist das Verdienst der Psychologie, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Wissenschaft etabliert hatte. Psychologie und Physiologie schreibt Paul deshalb zuallererst die Funktion einer "Unterlage der Sprachwissenschaft" (S.17) zu. Obwohl er mit der "Wechselwirkung der Individuen" (S.7) die soziale Dimension bei der Weitergabe von Kultur nicht leugnet, streitet er die Existenz einer Völkerpsychologie vehement ab: "Alle psychischen Prozesse vollziehen sich in den Einzelgeistern und nirgends sonst. Weder Volksgeist noch Elemente des Volksgeistes wie Kunst, Religion etc. haben eine konkrete Existenz, und folglich kann auch nichts in ihnen und zwischen ihnen vorgehen." (S.l 1)
362
Auch das Qualitätsmerkmal "exakt" paßt in das Bild der junggrammatischen Richtung als positivistischer Wissenschaftsbewegung. 12 Bonk
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Mit dieser Auffassung bezog Paul eine Gegenposition zu Lazarus und Steinthal sowie zu Wilhelm Wundt. 363 Von Wundt war 1904 der erste Band seiner "Völkerpsychologie" in zweiter Auflage erschienen, in dem er die These einer Volksseele als Gesamtpersönlichkeit formulierte, die sich in Sprache, Mythos, Sitte und Kunst verwirkliche. Demgegenüber beharrte Paul darauf, "dass alle rein psychische Wechselwirkung sich nur innerhalb der Einzelseele vollzieht. Aller Verkehr der Seelen unter einander ist nur ein indirekter auf physischem Wege vermittelter." (S.12) In diesem Sinn versteht Paul auch die Sprache nur als indirekte Art der Mitteilung: Sie löst in der Seele des Empfängers bestimmte Assoziationen aus, die im besten Fall mit den Assoziationen des Senders übereinstimmen, was ein Minimum an gleichen Erfahrungen voraussetzt. Gewissermaßen liegt der Schlüssel zum Verständnis des andern durch Sprache nur in uns selbst: "Der Vorstellungsinhalt selbst ist also unübertragbar. Alles, was wir von dem eines andern Individuums zu wissen glauben, beruht nur auf Schlüssen aus unserem eigenen." (S.l5, im Original alles gesperrt) Auch bei der Veränderung der Sprache steht das Individuum für Hermann Paul im Mittelpunkt: "Jede sprachliche Schöpfung ist stets nur das Werk eines Individuums." (S.l8) Dieser kreative Akt geschieht in der Regel ohne das Moment der Absicht, d.h., die Eigentümlichkeit des sprachschöpferischen Menschen ist irrelevant. Dies erleichtert wiederum die Analyse des Sprachwandels, da jede Veränderung nur ein kleiner Schritt ist und jeder sprachliche Vorgang als äußerst gleichmäßig bei allen Individuen angesehen werden kann. Nur aus dieser Eigenschaft erklärt sich auch, daß sich die Sprache überhaupt als Kommunikationsinstrument zwischen den verschiedenen Individuen eignet. Insgesamt postuliert Paul, daß jede wissenschaftliche Betrachtung der Sprache eine historische sei: "Sobald man über das blosse Konstatieren von Einzelheiten hinausgeht, sobald man versucht den Zusammenhang zu erfassen, die Erscheinungen zu begreifen, so betritt man auch den geschichtlichen Boden, wenn auch vielleicht ohne sich klar darüber zu sein." (S.22) Mit der historischen Ausrichtung der Erforschung der Sprache begründete Paul den Titel "Prinzipien der Sprach g e s c h i c h t e" (S.20), mit dem er sich erstmals als Sprachtheoretiker oder besser: Sprachphilosoph vorstellte. Innerhalb der Junggrammatiker nahm Paul damit eine führende Stellung ein. 363
Lazarus und Steinthal begründeten die "Zeitschrift für Völkerpsychologie". Von der Auseinandersetzung mit Wundt ist auch Pauls Abhandlung "Aufgabe und Methode der Geschichtswissenschaft, Berlin Leipzig 1920" geprägt.
3.3. Die ältere deutsche Philologie
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Deren Leistung bestand nach Eveline Einhauser vor allem in der Entwicklung einer brauchbaren Methode, in der Erweiterung des Gegenstandsbereichs um die bislang vernachlässigte Syntax sowie der stärkeren "Funktionalisierung sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse" , 3 6 4 Während bei der Edition mittelalterlicher Texte Hermann Paul in Konfrontation zu Karl Lachmann stand, hieß der Kontrahent auf grammatikalischem Gebiet Wilhelm Scherer. Die Kontroverse erreichte ihren Höhepunkt nach Erscheinen der zweiten Auflage von Scherers "Geschichte der deutschen Sprache" von 1878, die Paul in der Jenaer Literaturzeitung rezensierte. 365 Darin polemisiert er mit scharfen Worten gegen den Berliner Philologen, der mit der Erstausgabe seines Buches zwar wertvolle Forschungsanstöße gegeben habe, dessen Ansichten aber mittlerweile von den Junggrammatikern hinlänglich widerlegt seien: "Hätte Scherer die Berechtigung der neuen Richtung anerkannt, dann hätte er damit zugestanden, dass die Resultate seines Buches von Andern überholt sind: dass eine neue Auflage unzeitgemäss ist." (S.309) Daß der Konflikt Paul - Scherer im Rahmen der Polarität Leipzig - Berlin und so als Fortsetzung der Auseinandersetzung mit Lachmann zu sehen ist, beweist folgende Bemerkung: "Die Erkenntnis, dass der Sprachforscher in erster Linie aus den Volksmundarten lernen muss, scheint dem Verfasser noch nicht aufgegangen zu sein. Er abstrahiert seine Anschauungen meist aus der heutigen Sprache der Gebildeten, die ein mannigfach abgestuftes Mischproduct aus der künstlich anerzogenen Schriftsprache und den verschiedenen heimischen oder auch nicht heimischen Mundarten ist, und verfährt so, als ob dieser künstliche Sprachzustand von Ewigkeit her bestanden hätte. Diese Auffassung ist ihm nun einmal von Lachmann und Müllenhoff überliefert und muss ein Axiom für alle Zeiten bleiben." (S.309) Mit der Distanz von mehr als drei Jahrzehnten versachlichte sich Pauls Kritik an Scheres "Geschichte der deutschen Sprache", obwohl sie im Kern dieselbe blieb: "Eine Menge wichtiger Probleme der germanischen Sprachgeschichte waren darin behandelt, aber fast nie zu einer endgültigen Lösung geführt; viele Irrwege waren eingeschlagen. Nicht durch bleibende Leistungen, sondern durch die von ihm ausgegangenen Anregungen hat das Buch gewirkt. Es mußte um so rascher veralten, als bald nach seinem Erscheinen auf dem Gebiete der Laut- und Flexionslehre eine lebhafte
364
365 V 12*
Einhauser 1989, S.253 und 255f. g l P a u l 1 8 7 9 i s 309. _ Seitenangaben ab sofort im Text.
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Tätigkeit einsetzte, die in Fühlung mit der idg. Sprachwissenschaft und unter Anwendung einer vervollkommneten Methode zu bedeutenden Fortschritten führte." 366 Dieser Disput, der bisweilen auch persönliche Angriffe nicht ausschloß, soll mit den Ausschlag gegeben haben, daß Paul fast 20 Jahre in Freiburg bleiben mußte. Scherer soll versucht haben, "seinen persönlichen Einfluß geltend zu machen, um eine Berufung Pauls an eine bedeutendere Universität zu verhindern". 367 Auch wenn die "Berlinokratie", also Berlins "wissenschaftspolitische Zentrumsfunktion und administrativer Bonus", ein unbestrittenes Faktum ist, bleibt Eveline Einhauser eindeutige Beweise für Scherers Autorität im Fall Paul schuldig. 368 Die sprachwissenschaftlichen Arbeiten von Hermann Paul erreichten bald ähnlich denen von Lexer - den Status von germanistischen Standardwerken. 369 1880 erschien die "Mittelhochdeutsche Grammatik", die in ständig aktualisierten Neuauflagen bis heute in Gebrauch ist. Zu Lebzeiten des Verfassers wurde bereits die 11. Auflage gedruckt; diese Zahl hat sich inzwischen verdoppelt. 370 Einen ähnlichen Erfolg erlebte das "Deutsche Wörterbuch", das von 1896 bis 1992 in acht Auflagen laufend Verbesserungen erfuhr: "Das Buch, das von Auflage zu Auflage bereichert und vervollkommnet wurde, nimmt in der Reihe der deutschen Wörterbücher eine ganz besondere Stellung ein: niemals zuvor ist mit solcher Liebe und Sorgfalt, mit solcher Schärfe und Genauigkeit der Gang der Bedeutungsentwicklung verfolgt worden." 371 Die Auflagenzahlen zeigen, daß das "Wörterbuch" tatsächlich den Zweck erreichte, den sein Verfasser verfolgte: "Das Werk wendet sich an alle Gebildeten, die ein Verlangen empfinden, ernsthaft über ihre Muttersprache nachzudenken."372 Bei Fachkollegen erntete es einhelliges Lob. Beispielsweise dankte Wolfgang Golther für die Übersendung des Buchs nach Rostock und urteilte: 366
Paul, Deutsche Grammatik, 1916-1920, Bd.l, 1916, S.l6. Einhauser 1989, S.83. 368 Kolk 1990, S.23. - Die von Eveline Einhauser angeführte Briefstelle reicht m.E. als Beleg nicht aus: "Jetzt, wo Müllenhoff gestorben ist, holt Dich Scherer gewiß nach Berlin! Das wird doch vergnüglich. Im ernst bin ich wirklich neugierig, wen er dieser ehre für würdig hält. Ob etwa Martin? Zur größeren illustration seiner eigenen bedeutendheit?" (Braune an Paul, 4.3.1884, abgedruckt in: Einhauser 1989, S.273, Anm.22) 369 Zu Lexer vgl. Kap. 3.2.4. 370 10. und 11. Auflage: 1918. 371 Streitberg 1922/23, S.284. - Bei der jüngsten Neuauflage erinnert nach außen hin nur mehr Pauls Name auf dem Titel an den ursprünglichen Verfasser. Die Bearbeiter haben keines der früheren Vorworte mehr abgedruckt (vgl. Paul 81992). 372 Paul (1896) 71976, S.V (aus dem Vorwort zur ersten Auflage). 367
3.3. Die ältere deutsche Philologie
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"man empfindet schon beim blossen lesen dass man es mit systematischen einzelabhandlungen auf gemeinsamer methodischer grundlage zu tun hat, beim vergleich mit andern wb. [= Wörterbüchern, M.B.] natürl. erst recht." 373 Weitere kleine linguistische Arbeiten veröffentlichte Paul außer in den "Beiträgen" immer häufiger in den Sitzungsberichten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 374 Dazu war der neue Münchner Ordinarius als ihr ordentliches Mitglied (seit 1893) verpflichtet. Die intensive Beschäftigung mit dem Neuhochdeutschen ist charakteristisch für die Zeit nach Pauls Wechsel in die bayerische Landeshauptstadt. Neben dem "Wörterbuch" stellte die fünfbändige "Deutsche Grammatik" das zweite herausragende Ergebnis dar, deren Vorarbeiten allerdings bis in die Freiburger Zeit zurückreichten. 375 Die Ausarbeitung der Grammatik geschah unter den schwierigsten Bedingungen, denn Hermann Paul war fast vollständig auf fremde Hilfe angewiesen.376 Carl von Kraus würdigte die Grammatik als "eine namentlich in der Syntax reiche Gabe, auf den Sammlungen früherer Dezennien beruhend, die bedeutsamste Ergänzung für die jüngeren Perioden, die Jakob Grimms Werk erfahren." 377 Außer als Textkritiker und Grammatiker betätigte sich Hermann Paul als Historiker seiner eigenen Wissenschaft, was eine bestimmte zeitliche Distanz voraussetzt. Als Paul an Stelle von Eduard Sievers die Herausgabe des "Grundrisses der germanischen Philologie" übernahm, zählte man die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Die Germanistik hatte sich fest im Wissenschaftskanon der Universitäten etabliert und sich methodologisch über verschiedene Generationen hinweg gefestigt. Jetzt war die Zeit gekommen, Rückblick zu halten. Zum ersten Band des "Grundrisses" lieferte Paul drei Beiträge, die bedeutende Brennpunkte seines Forschungsinteresses herausgriffen. Außer der "Deutschen Metrik" verfaßte er die Abschnitte zur "Methodenlehre" und zur "Geschichte der germanischen Philologie". 378 Einleitend setzte er sich mit "Begriff und Aufgabe der germanischen Philologie" auseinander. Ausgehend von einem sehr umfassenden Verständnis des philologischen Gegenstands als "der gesammten menschlichen Kultur", sprach er sich gegen eine wissen373
UB M Nachlaß Paul, Golther an Paul, 15.1.1896. Vgl. Bibliographie in Paul 1922, S.499f. 375 Vgl. Paul 1922, S.498. 376 Eine Netzhautablösung machte ihm das Lesen und Schreiben unmöglich, weshalb er bereits im April 1914 vorschlug, einen Nachfolger zu suchen (vgl. UAM E II 647, Paul an Fak., 27.4.1914 - vgl. auch Kap. 2.4.1.3.). 377 Kraus, Hermann Paul [Nekrolog], 1922, S.34. 378 Im Nachlaß von Paul (UB München) befinden sich die Manuskripte für diese Beiträge (UB M, Nachlaß Paul, Werkmanuskripte (A), 1. Grundriss der germanischen Philologie). - Seitenangaben ab sofort im Text. 374
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
schaftliche Spezialisierung aus, wenn sie in einer "gegenseitigen zunftmässigen Abschliessung" ende: "Der Arbeiter auf dem einen Gebiete darf die anderen nicht ignorieren, er darf sich auch nicht mit der blossen Annahme der auf diesen gewonnenen Resultate begnügen, vielmehr ist zur Erledigung vieler Fragen selbständiges Urteil auf mehreren Gebieten erforderlich, müssen Tatsachen combiniert werden, die verschiedenen Gebieten angehören. Die Teilung muss so eingerichtet werden, dass die Arbeitsfelder der einzelnen Forscher sich gegenseitig durchschneiden, damit auch die gehörige Vereinigung der Resultate erzielt wird." (S.l) Auch mit der Forderung, "soweit als möglich den Causalzusammenhang zwischen den überlieferten oder erschlossenen Einzelheiten aufzusuchen und den Process der geschichtlichen Entwickelung zu begreifen" (S.4), kehrt eine Argumentation wieder, wie sie von den "Prinzipien der Sprachgeschichte" her bekannt ist. 3 7 9 Dies zeigt die Geschlossenheit und Einheitlichkeit von Pauls Denken, die für sein ganzes Leben charakteristisch ist. Ein weiteres Feld von Pauls publizistischer Arbeit stellt die unmittelbare Verbindung zu seiner Dozententätigkeit her. Es handelt sich um zwei Reden, die Paul vor der Akademie der Wissenschaften sowie beim Antritt des Rektorats der L M U hielt. Ihre Themen - "Die Bedeutung der deutschen Philologie für das Leben der Gegenwart" (1897), "Gedanken über das Universitätsstudium" (1909) - scheinen dem Titel nach wenig miteinander zu tun zu haben. Der Redner konkretisierte jedoch seine "Gedanken" an einem Erfahrungsbereich, der ihm seit 35 Jahren mehr als vertraut ist: dem Studium der Deutschen Philologie. Die Grundtendenz seiner Akademierede entspringt erkennbar dem Streben der Junggrammatiker, ihre Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm herauszuholen und ihre Erkenntnisse für die "Allgemeinheit" fruchtbar zu machen. 380 Pauls prinzipielle Fragen lauteten: "was vermag die einzelne Wissenschaft zur allgemeinen intellektuellen und moralischen Bildung beizutragen? [...] welcher Anteil gebührt der einzelnen Disziplin im Ganzen unseres Schulunterrichts?" (S.4) Pauls Überlegungen zielten ganz konkret auf die Ausbildung von Lehrern ab, die gewissermaßen Katalysatorfunktion im Volk übernehmen. Dabei war ihm wohl bewußt, daß sich die Universitäten ständig im Konflikt zwischen Berufsausbildung und allgemeiner Bildung befinden. Diesem Problem, das bis in die Gegenwart diskutiert wird, wollte Paul mit der "richtigen Auswahl des
379
Vgl. weiter oben. 380 p a u ] 1897^ S 3; V gi
auch
weiter oben. - Seitenangaben ab sofort im Text.
3.3. Die ältere deutsche Philologie
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dargebotenen Stoffes" (S.4) begegnen und kalkulierte den zu erwartenden Widerstand bereits mit ein: "[...] und es gehört viel Geduld dazu, den Mut nicht zu verlieren, wenn sich veraltete Lehrpläne und Prüfungsbestimmungen überall hemmend in den Weg stellen." (S.5) Insbesondre die bayerischen Verhältnisse, die Paul mittlerweile kennengelernt hatte, gaben wenig Anlaß zu Optimismus, und er kritisierte sie offen: "Wem an der Verbreitung wahrer Bildung gelegen ist, der muss wünschen, dass die Früchte dieser Forschung auch der Schule zu gute kommen, und das kann natürlich nur durch Vermittelung der Lehrer geschehen. Wie steht es nun aber in dieser Hinsicht, speziell bei uns in Bayern? Nirgends wohl sonst werden einem so viel die Schlagworte Humanismus, humanistische Bildung entgegengetragen. Aber leider macht man die Erfahrung, dass die meisten jungen Leute, die sich dem Lehrberufe widmen, von jenem echten Humanismus unserer grossen Dichter so gut wie unberührt sind. Man mutet ihnen ja auch nicht ernstlich zu, dass sie sich überhaupt darum gekümmert haben." (S.20f.) Im Zusammenhang mit der deutschen Literaturgeschichte fällt das Stichwort "Patriotismus", ohne daß Paul in einen simplen Chauvinismus nach Maßmannscher Manier verfallen wäre: 381 "Ein hohler Chauvinismus mag sich mit phrasenhafter Verherrlichung des eigenen Volkstums begnügen. Wahrer Patriotismus verlangt strenge Selbstprüfung, wozu nur die wissenschaftliche Erforschung der Gesamtentwickelung unseres Volkes verhilft. An dieser Aufgabe gebührt auch der Literaturgeschichte ihr Teil, und ich glaube nicht der geringste." (S.15) Daneben komme dem Studium der nationalen Literatur Bedeutung zu, indem sie die literarische Produktion der Gegenwart beeinflusse und der Literaturtheorie und -kritik ein geeignetes Instrumentarium an die Hand gebe. Genaugenommen liefen diese Überlegungen auf eine Reform des Universitätsstudiums hinaus, wie Paul sie in seiner Rektoratsrede von 1909 ganz entschieden forderte und begründete. 382 Seine Analyse war fundiert genug, den Mißerfolg vieler Studenten auf die mangelhafte Vorbereitung durch die Schule zurückzuführen. Als Gegenmaßnahmen schlug er erneut eine verbesserte Ausbildung der Lehramtskandidaten und eine Veränderung im Schulbetrieb vor (vgl. S.7). An den Universitäten stellte er den Sinn von stupidem Auswendiglernen (S.8), das gängige Stipendienwesen (möglichst viele Studenten fördern, S.10), die Regelstudienzeit (S.14), den ausgedehnten Prüfungskatalog (S.16f.) und die Vorlesung als Unterrichtsform (S.17) in Frage. Statt
381
Zu Maßmann vgl. Kap. 3.2.2. 382 ygi p a u i 1909. - Seitenangaben ab sofort im Text.
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
dessen plädierte er dafür, die "Hauptsachen einprägen und verstehen" zu lernen (S.14), nur wirklich begabte Studenten finanziell vollständig abzusichern (S.l9), die Studienzeit individuell zu regeln (S.l5), die Prüfungen "nicht ohne Not" zu vermehren (S.l7) und die Studenten in Übungen aktiv zu beteiligen (S.l8). Pauls Kritikpunkte und Lösungsvorschläge erinnern frappierend an die gegenwärtige Diskussion um eine Reform des Universitätsstudiums, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen: Was Paul als ideal ansah, wird heute als Ursache für die Misere der Universitäten gesehen; was er verpönte, gilt in der Gegenwart als Allheilmittel. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß sich die Hochschulen seit 1945 zum Massenbetrieb entwickelten, somit von gänzlich anderen Rahmenbedingungen auszugehen ist. 3 8 3 Pauls Rektoratsrede erschien noch im gleichen Jahr in gedruckter Form. Wie viele andere Veröffentlichungen zuvor ließ er seinen Fachkollegen ein Exemplar zukommen. Obwohl Friedrich Panzer, bis 1897 Privatdozent in München, ihm prinzipiell zustimmte, vermutete er, daß Paul in der Hauptsache mit spezifisch bayerischen Mißständen zu kämpfen habe: "Sie haben scharf, aber in der Sache unanfechtbar die Schäden bezeichnet, an denen unser Studienbetrieb leidet: nur wenn ich auf die Sache als Ganzes und ihre Ergebnisse blicke wäre ich doch zu einem etwas optimistischeren Urteil geneigt. Freilich mögen ihre Erfahrungen nach dem was ich selbst in München schon kannte und Sie mir später oft erzählten, auch wirklich noch ungünstiger sein als man sie etwa außerhalb Bayerns macht. Von den Änderungen im Sinne freierer Betätigungen, die Sie für den Lehrbetrieb unserer höheren Schulen fordern, ist einiges (freie Wahl der Aufsatzthemata, Studiertage, Anfertigung selbständiger Arbeiten aus frei gewähltem Gebiet u a [sic!]) an einigen Frankfurter Schulen tatsächlich eingeführt und wie ich höre mit recht gutem Erfolg." 384 Pauls Münchner Vorlesungstätigkeit unterscheidet sich von seiner Freiburger in einem gravierenden Punkt: An der badischen Universität vertrat er auch die neuere Literatur, wobei er neben überblicksartigen Themen ("Geschichte der deutschen Literatur von Gottscheds Auftreten bis zu Schillers Tode", WS 1880/81 und 1883/84) auch einzelne Dichterpersönlichkeiten ("Ueber Lessing", WS 1881/82; "Ueber Schiller", WS 1882/83) vorstellte. 385 Nach seiner eigenen Aussage wurde u.a. dadurch das Interesse des Sprachwissenschaftlers Paul für die neuhochdeutsche Sprache geweckt. 386 In München hatte dieses sprachwissenschaftliche Interesse eindeutig Vorrang, literarische Text aus der
383
Vgl. Ellwein 1985, 3. Teil: Hochschulexpansion und Hochschulkrise, S.227252, v.a. S.242-252. 384 UB M, Nachlaß Paul, Panzer an Paul, 29.1.1910. 385 Vgl. jeweils VV Freiburg/Breisgau. 386 V g i P a u i 1922, S.497f.
3.3. Die ältere deutsche Philologie
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Neuzeit dienten ihm nur mehr als Untersuchungsmaterial für linguistische Fragestellungen. 387 Pro Semester bot der Ordinarius für Deutsche Philologie in München durchschnittlich drei Veranstaltungen an, nach denen er vollständig der Altgermanistik und der Sprachwissenschaft angehörte. Sein Vorlesungsspektrum reichte von Altnordisch und Altsächsisch über Gotisch zum Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen. 388 An der Grenze zwischen Mittel- und Neuhochdeutsch bewegten sich die "altneuhochdeutschen Übungen" (z.B. WS 1910/11). Neben die Grammatik trat die Lektüre der wichtigsten literarischen Texte. Vor allem das deutsche Mittelalter war mit allen bedeutenden poetischen Zeugnissen vertreten (Wolframs Parzival und Willehalm, Hartmanns Gregorius und Armer Heinrich, Nibelungenlied, Walther von der Vogelweide, Gottfrieds Tristan usw.). Einen Überblickscharakter hatte dagegen die Vorlesung "Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter", die Paul insgesamt 12mal im zweijährigen Rhythmus ankündigte. 389 Propädeutische Funktion übernahm seine "Einführung in die Sprachwissenschaft" (z.B. SS 1905), pädagogisch-didaktische Absichten verfolgten wohl seine Ausführungen "über Sprachunterricht" (SS 1907, 1909 und 1910). Sein Interesse für dieses Thema hatte Paul auch öffentlich bekundet: Mit seiner Akademie- bzw. Rektoratsrede suchte er sich in der ministeriellen Brüokratie Gehör zu verschaffen; hier wandte er sich an die unmittelbar Betroffenen, die Lehramtskandidaten. 390 Als "Pauls Lieblingskolleg" bezeichnete sein ehemaliger Doktorand und späterer Kollege Friedrich Wilhelm die deutsche historische Grammatik. 391 Sie stand alle zwei Jahre, meistens im Wintersemester, auf dem Programm. 392 Eine sinnvolle Ergänzung stellte die "Deutsche Syntax" (SS 1897, 1901 und 1911) dar. Die Grammatik-Vorlesung hatte auch zu Pauls Standardrepertoire
387
Z.B. im WS 1894/95 und 1898/99: "neuhochdeutsche Übungen: Klopstocks Oden" (ähnlich auch im WS 1903/04). 388 Z.B. "altnordische Übungen für Anfänger" (SS 1896; Forts, im WS 1896/97). Z.B. "Heliand" (SS 1900, 1903, 1906). - Z.B. "Gotische Grammatik mit Übungen" (WS 1901/02) oder "Gotisch für Anfänger" (WS 1906/07). - Z.B. "Einführung in das Althochdeutsche mit Übungen" (SS 1904, 1908) oder "Poetische althochdeutsche Denkmäler" (u.a. WS 1902/03, 1904/05, 1908/09, 1911/12, 1914/15). - Z.B. "mittelhochdeutsche Übungen für Anfänger" (SS 1893, WS 1905/06, 1910/11 usw.). 389 WS 1894/95, 1897/98, 1899/1900, 1901/02, 1903/04, 1905/06, 1907/08, 1909/10, 1911/12, 1913/14, SS 1914, WS 1915/16. - Rainer Albert Müller nannte sie zu Recht Pauls "Hauptkolleg" (vgl. Müller 1980, S.235). 390 Zu den Reden vgl. weiter oben. 391 Wilhelm 1924, S.224. 392 SS 1895, WS 1896/97, 1989/99, 1900/01, 1902/03, 1904/05, 1906/07, 1908/09, 1910/11, 1912/13, 1916/17.
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an der Freiburger Universität gehört. 393 Aus dieser Zeit gibt es eine Vorlesungsmitschrift im Nachlaß von Hermann Paul. 394 Es handelt sich um das Kollegheft seines ehemaligen Schülers G. Wolff aus dem WS 1879/80. 395 Vorausgesetzt, daß Paul seine Grammatik-Vorlesung im ihren Grundlagen kaum verändert hat, gibt diese Mitschrift auch Aufschluß über deren Konzeption in München. Das Kollegheft enthält am Ende ein vierseitiges Inhaltsverzeichnis, das alle Gliederungspunkte einschließlich der zugehörigen Seitenzahl aufführt. Der größere Teil entfällt auf die Lautlehre (142 Seiten), der Rest auf die Flexionslehre (22 Seiten, neu numeriert). Innerhalb der Lautlehre wird unterschieden zwischen "Gemein westgermanischen laut Vorgängen" und "Ahd [= Althochdeutschen, M.B.] lautvorgängen", jeweils untergliedert in "Consonanten" und "Vocale". Der zweite Hauptteil zerfällt in die Abschnitte "Declination" und "Conjugation". Innerhalb der Lautlehre führt eine kurze Bibliographie zum Thema "Nebentonige und unbetonte Silben" (S.25) vor allem Titel von Paul selbst sowie von seinen Studienkollegen Braune und Sievers auf, d.h., die Junggrammatiker bleiben fast unter sich. Außerdem wird auf die Grammatik von Holtzmann verwiesen, womit vermutlich die "Altdeutsche Grammatik" von Adolf Holtzmann gemeint ist, die nur die Lautlehre behandelte. Diesem Werk folgte Paul in seinem Konzept nicht vollständig: Er behandelte zuerst die Konsonanten und dann die Vokale, Holtzmann war bei seiner "Althochdeutschen Lautlehre" umgekehrt vorgegangen. 396 Die Mitschrift von G. Wolff erweckt den Eindruck - nicht zuletzt wegen des Inhaltsverzeichnisses am Schluß - , daß Paul in seinem Kolleg eine Grammatik des Althochdeutschen zum Nachschlagen erarbeiten wollte. Zahlreiche Wortbeispiele und Beobachtungen an wichtigen Quellen (z.B. Otfried, S.81) bezeugen die fundierte wissenschaftliche Arbeit des Universitätslehrers. Zum Teil bestehen die Aufzeichnungen aus vollständigen Sätzen. Es muß offen bleiben, ob Wolff seinen Lehrer Paul wörtlich zitierte oder dessen Ausführungen sinngemäß wiedergab. Grundsätzlich wäre es auch denkbar, daß 393
Vgl. VV Freiburg: z.B. WS 1879/80, SS 1881 und 1883. Den handschriftlichen Nachlaß von H. Paul schenkte seine Witwe Ende 1942 der UB München (vgl. Buzâs 1972, S.213). Er besteht aus Werkmanuskripten, Stoffsammlungen für div. Veröffentlichungen und einem umfangreichen Briefwechsel. Von den ca. 3500 Briefen an Paul stammen viele von ehem. Schülern oder Kollegen, auch aus der Münchner Zeit (Borcherdt, Golther, von der Leyen, Lütjens, Maußer, Muncker etc.). - Signatur: UB M, Nachlaß Paul. 395 UB M, 8° Cod. ms. 470. - Die zweite Überschrift lautet "II. Ahd Grammatik", ein Heft mit einem Abschnitt I ist nicht erhalten. - Seitenangaben ab sofort im Text. 396 Vgl. Holtzmann 1870-1875, V. Ahd Lautlehre, S.231-346. - Die Grammatik wurde nicht vollendet. 394
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der Student eigene Gedanken hinzugefügt hatte, was jedoch an der prinzipiellen Strukturierung des Kollegs nichts ändern würde. Für sie fand sein ehemaliger Münchner Schüler Friedrich Wilhelm überschwengliche Worte des Lobes: "Eine strenge Systematik von architektonischer Schönheit zeichnete dieses Kolleg aus."397 Im Paulschen Nachlaß befindet sich außer dem Kollegheft ein weiteres Manuskript von seiner Hand, das Paul als Vorlage für eine Vorlesung gedient haben könnte, ohne dies jedoch genau beweisen zu können. Die 128 Blätter tragen die Überschrift "Ahd [= Althochdeutsche, M.B.] Litgeschichte". 398 Für die Münchner Zeit läßt sich keine entsprechende Vorlesung Pauls nachweisen. Trotzdem verdienen die Aufzeichnungen Beachtung, da Paul einleitend sein Verständnis von Literatur und deutscher Literaturgeschichte erläuterte. Die wörtliche Übersetzung von "Literatur" als "die Gesamtheit der schriftlichen Aufzeichnungen" akzeptierte er nur, wenn diese "zur Veröffentlichung für ein Publikum" (Bl.l) bestimmt sind oder aber später veröffentlicht werden. Desweiteren faßte er unter Literatur nicht nur schriftlich Fixiertes, sondern auch mündlich Überliefertes. In diesem Fall rückte ihr Zweck mit ins Blickfeld, den Paul als "poetische Erregung" bezeichnete, ohne jedoch Literatur nur mit Poesie gleichsetzen zu wollen. Als entscheidend betrachtete er vielmehr die Verwendung bestimmter Stilmittel und/oder die metrische Form. Pauls Literaturbegriff war also hauptsächlich durch formale Elemente bestimmt, der Inhalt spielte eine nachgeordnete Rolle. Im Hinblick auf die "deutsche Literaturgeschichte" verwies Paul auf das späte Auftreten eines "deutschen Volkes", weshalb man "für die älteste Periode die deutsche Literatur mit der germanischen identifizieren" müsse (B1.3). In einem nächsten Schritt differenzierte er zwischen "Literatur in deutscher Sprache" und Literatur, die von Deutschen herrührt. Dabei dachte er insbesondere an die reiche lateinische Literatur, wie sie sich im 17. Jahrhundert für Deutschland nachweisen lasse und die wegen ihrer "besonders engen Beziehungen zur deutschen Kultur und Literatur" nicht vernachlässigt werden dürfe. Auch hier tritt Pauls Streben nach einer umfassenden Kulturwissenschaft deutlich zutage.
397
Wilhelm 1924, S.224. UB M, 4° Cod. ms. 1070. - Ohne Datum, meist einseitig beschrieben, unvollständig (z.B. fehlt B1.86), ab B1.48 Wechsel von der dt. zur lat. Schrift, vermutlich trotzdem von Paul, vollständig ausformulierte Sätze. - Seitenangaben ab sofort im Text. 398
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Auf dem Katheder muß man sich Hermann Paul als zurückhaltend und wenig temperamentvoll vorstellen. Nach dem Urteil von ehemaligen Schülern und Kollegen vermochte er als Redner nicht zu begeistern: "Durch sein lebendiges Wort auf weitere Kreise anziehend zu wirken, war Paul nicht vergönnt. Dafür entbehrte sein leiser Vortrag allzusehr des Schwunges und einer fesselnden Form." 399 Noch schärfer drückte es Artur Kutscher aus, als er sich in seiner Autobiographie an den Ordinarius für Deutsche Philologie erinnerte: "Er war ein unscheinbares Männchen, das, kurzsichtig auf sein Manuskript gebückt, völlig hinter dem Pult verschwand. Sein eintöniger, mümmelnder Vortrag war ohne jede Beziehung zu den Hörern, die deshalb meist auch keine zu ihm gewannen. Er war ganz und gar kein Dozent, er war nur Gelehrter." 400 Pauls schnörkellose Art fand jedoch auch Anhänger. Zu ihnen gehörte beispielsweise der expressionistische Dichter Kasimir Edschmid: "Interessant war die Universität nur durch die großen alten Männer: hochdeutsche Lautverschiebung etwa, bei Hermann Paul, das waren Fakten, keine Spekulationen, glatte wirkliche Tatsachen, ohne Rhetorik, präzis wie Schach."401 Seine wenig ausgeprägten kommunikativen Fähigkeiten prädestinierten Hermann Paul nicht gerade dafür, schulenbildend zu wirken. 402 Nimmt man die Zahl der bei ihm angefertigten Dissertationen als einen Maßstab, scheint diese Vermutung auch zu stimmen. In der Zeit von 1893 bis 1916 betreute er
399
Panzer 1922, S.125. Kutscher 1960, S.37f. - Bei dieser Aussage muß man berücksichtigen, daß gerade Kutscher durch das Dozieren zum Mittelpunkt des nach ihm benannten KutscherKreises wurde (vgl. Kap. 2.4.2.). 401 Edschmid 1961, S.58f. 402 Ygi Tjryakians Beschreibung eines Schulengründers als charismatische Persönlichkeit (Kap. 3.1.). - Vgl. dagegen die Schilderung von Friedrich von der Leyen: "Im Aussehen hatte er gar nichts Bäuerliches, er war klein, unansehnlich und kurzsichtig und ohne jede Anmut, unbeholfen und aufrichtig bis zur Schärfe. Das hat er beibehalten: Wenn man ihn als Professor aufsuchte, so antwortete er kaum, sah den Fragenden oder Erzählenden durch seine goldene Brille scharf an, rieb nervös seine kleinen feinen Hände auf den Oberschenkeln hin und her: Was er dann erwiderte, war kurz, sachlich und zutreffend. Es war ihm selten gegeben, auszudrücken, was er fühlte oder gar ein freundliches und verbindliches Wort zu sagen. Als ihn in München im Hörsaal nach der ersten Vorlesung der Kultusminister freundlich begrüßte und der Genugtuung Ausdruck gab, daß die Universität diesen hervorragenden Gelehrten gewonnen hätte, sah Hermann Paul ihn von unten her verlegen an und lief davon. Wenn er im Kreis von Kollegen und Freunden saß, oder sich bewegen ließ, Gesellschaften zu besuchen, so taute er langsam auf." (Leyen 1960, S.68) 400
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insgesamt 23 Doktoranden, d.h. durchschnittlich etwa eine Dissertation pro Jahr. 403 Damit setzte sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Trend fort, der schon bei Konrad Hofmann zu beobachten war: Der Anteil der Altgermanisten bei den Promotionen ist im Vergleich zu den Neugermanisten erheblich niedriger. 404 Die Themenstellung bei den Dissertationen entsprach den Interessen des Forschers und Dozenten Hermann Paul. Neben ausgesprochen sprachwissenschaftlichen oder dialektologischen Untersuchungen gab es Abhandlungen zu mittelhochdeutschen Dichtern oder zu motivgeschichtlichen Problemen. 405 Mit Anna Lohmann promovierte bei Hermann Paul auch die erste Doktorandin der Deutschen Philologie an der LMU, seit 1903 Frauen zum Studium zugelassen worden waren. Ihre Arbeit aus dem Jahr 1908 beschäftigte sich mit "Metrisch-rhythmischen Untersuchungen zu Heinrich von Morungen". Von den insgesamt 23 Doktoranden suchten zu Pauls Zeit drei um ihre Zulassung zur Habilitation an der L M U nach. In chronologischer Reihenfolge waren das Friedrich Wilhelm, August Lütjens und Otto Maußer. Hermann Paul war jedoch als erster Votant an mehr als diesen drei Habilitationen beteiligt, die - noch deutlicher als die Dissertationen - seine Forderungen an eine wirklich wissenschaftliche Arbeitsweise erkennen lassen. Die übrigen Habilitanden hatten entweder an einer anderen Hochschule promoviert (Friedrich Panzer, Friedrich von der Leyen), oder aber Paul mußte das Erstgutachten abgeben, weil der eigentlich zuständige Fachvertreter Franz Muncker noch nicht zum Ordinarius befördert worden war (Karl Borinski, Ludwig Fränkel, Roman Woerner). 406 Die Mehrzahl der Habilitationsgesuche befürwortete Paul, nur den Antrag von L. Fränkel beschied er negativ. Das zeigt, daß Paul sehr wohl an der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses interessiert war. Im Gegensatz zu Konrad Hofmann muß er die Privatdozenten nicht als Konkurrenten im Kampf um die Kollegiengelder, sondern als Bereicherung für das Lehrangebot des Deutschen Seminars und als Sicherung für die Zukunft der Hochschule 403
Vgl. Tab. 2. Franz Muncker betreute im selben Zeitraum 118 Dissertationen (vgl. Tab. 1 und Kap. 3.4.2.). - Zu Hofmann vgl. Kap. 3.2.3. 405 Z.B. Kinateder, Georg, Die syntaktischen Funktionen der Konjunktion "dass" bei Aventin, München [1898]. - Z.B. Schübel, Georg, Versuch einer Charakteristik und Phonetik der Bamberger Mundart von Stadtsteinach, Halle/Saale 1911. - Z.B. Jacobs, Karl, Zu Neidhart von Reuental, München 1906. - Z.B. Lütjens, August, Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung des Mittelalters, Breslau 1911. 406 y o n M ä r z 1390 5i s j u n j 1986 war die neuere deutsche Philologie nur durch einen Extraordinarius vertreten (vgl. Kap. 2.4.1.2.). - Zu allen Habilitationen bei Hermann Paul vgl. Kap. 2.4.1.1. und Tab. 3. 404
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betrachtet haben. 407 Seine Gutachten weisen Paul als kritisch, aber sachlich aus, d.h., ihm war stets daran gelegen, wirklich kompetente Jungwissenschaftler für die Universität zu gewinnen. Als Maßstäbe für diese Kompetenz nannte er immer wieder die Genauigkeit und Gründlichkeit der wissenschaftlichen Arbeitsweise sowie die stete Bereitschaft, die eigenen Forschungsergebnisse einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Diese Züge formen sich zum Idealbild des Deutschphilologen, das sich seit den Anfängen dieser Disziplin immer deutlicher abgezeichnet hatte. Gleichzeitig entsprechen diese Forderungen den Bewertungskriterien, die Paul sein Leben lang an seine eigene wissenschaftliche Arbeit angelegt hatte. Diesen strengen Ansprüchen an sich selbst ist es nicht zu einem geringen Teil zu verdanken, daß Hermann Paul in der Geschichte der Germanistik einen der vordersten Plätze einnimmt. Bis in die jüngste Gegenwart gehört er als einer der führenden Junggrammatiker zu den interessantesten Persönlichkeiten für die Wissenschaftshistoriker. 408 Die methodische Strenge dieser Forschungsrichtung, die er an unzählige Studentengenerationen weitergab, war der Mittelpunkt seines Forschens und Lehrens. Durch seine zahlreichen Publikationen, die in immer neuen Auflagen erscheinen, darf sich praktisch noch heute jeder Germanistikstudent zu den Schülern Pauls rechnen. Von den Münchner Studenten, die bei ihm selbst gehört und/oder sich habilitiert haben, erreichten viele an deutschen und auch ausländischen Hochschulen bedeutende Positionen. 409 Dafür setzte er sich auch vehement ein, wenn es darum ging, die wissenschaftliche Qualifikation seiner "Schützlinge" zu bescheinigen oder Empfehlungsschreiben auszuhändigen. Zahlreiche Dankbriefe in seinem Nachlaß legen ein beredtes Zeugnis davon ab, wie z.B. der von Wolfgang Golther: "soeben erhielt ich den ruf als Ordinarius nach Rostock, ich danke Ihnen von ganzem herzen für Ihre freundliche fürsprache." 410
407
Zu Hofmann vgl. Kap. 2.2.3.3. und 3.2.3. Vgl. z.B. Schneider 1973, Reis 1978, Einhauser 1989. 409 Vgl. Kap. 2.4.1.1. - Marga Reis' Behauptung, Rudolf Blümel sei "einer der wenigen namhaften Schüler aus Pauls Münchner Zeit" (Reis 1978, S.l72, Anm.46), kann klar widerlegt werden. 410 UB M, Nachlaß Paul, Golther an Paul, 15.2.1895. - Weitere Beispiele: Leyen an Paul, 5.4.1914: "Dann wollte ich Ihnen nochmals von Herzen danken, daß Sie meinem Wunsche nach einer außerordentlichen Professur so günstig gewesen sind. Ihrer Zustimmung ist es doch vor allem zuzuschreiben, daß die Fakultät den Antrag, für mich ein Extraordinariat zu schaffen, bewilligt hat und daß auch der Senat seine Zustimmung gab." - Lütjens an Paul, 14.1.1910: "Gestatten Sie mir, Ihnen aufs herzlichste zu danken für Ihr so liebenswürdiges Antwortschreiben mit den guten Wünschen, und vor Allem für die beigelegte Empfehlung, die ich mir nicht glänzender hätte wün408
3.3. Die ältere deutsche Philologie
181
Mit seinen "Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur" war Paul der erste Münchner Ordinarius, der als Mitherausgeber einer renommierten germanistischen Fachzeitschrift zeichnete. Im Gegensatz zu Lexer stammen Pauls hervorragendste publizistische Leistungen nicht nur aus der Zeit vor München. 411 Hermann Paul zählte zu den Ordinarien, die die Forschung neben der Lehre nicht vergaßen - vermutlich, weil dies seinem persönlichen Naturell am ehesten entsprach, wie es sein Nachfolger Carl von Kraus schilderte: "Wer Hermann Paul begegnete, mußte schon in kurzer Zeit den Eindruck gewinnen, daß ihm eine scharf umrissene Persönlichkeit entgegentrat. Seine Wortkargheit war der Ausdruck konzentrierten Denkens; was er sprach, war wohl abgewogen, überlegt, und knapp in der Fassung; ein überaus scharfer Verstand, der bei der Logik eifrig in die Schule gegangen und von einem sich täglich mehrenden Wissen genährt war, drängte das Gefühlsmäßige bewußt in den Hintergrund; seine Argumente wollten nicht der Phantasie des Hörers oder seinem künstlerischen Empfinden schmeicheln, er war nicht darauf aus, zu überreden, sondern zu überzeugen. Die Tatsachen, nicht das Bild, das sie in dem Einzelnen wechselnd hervorrufen, waren das Ziel seiner Absichten. Im ganzen also stellte er sich dar als ein Mann, der seinen Fuß nicht leicht auf einen Stein setzte, dessen Feste er nicht zuvor genau geprüft hatte; ein Mann also, der für viele Gebiete ein sicherer Führer war, soweit es solche in der Wissenschaft überhaupt gibt und geben soll." 412
3.3.2. Rekurs auf Lachmann durch Carl von Kraus An der Suche um einen Nachfolger für den emeritierten Hermann Paul war erstmals seit Bestehen eines germanistischen Lehrstuhls in München der bisherige Inhaber aktiv beteiligt. 413 Paul war Mitglied der fünfköpfigen Kommission, die im Mai 1916 ihre Beratungen aufnahm. 414 Dabei muß er sich deutlich
sehen können." - Lütjens an Paul, 4.7.1910: "Nun lassen Sie mich Ihnen wenigstens jetzt noch nachträglich danken, daß Sie sich wieder in so liebenswürdiger Weise um meine Zukunft bemüht haben." 411 Zu Lexer vgl. Kap. 3.2.4. 412 Kraus, Hermann Paul [Nekrolog], 1922, S.28. 413 Schmeller hatte zwar bei seinem Enthebungsgesuch vom 9.4.1852 auch Kandidaten für seine Nachfolge benannt, darunter den späteren Amtsinhaber Hofmann. Da diesem Antrag jedoch nicht stattgegeben worden war, reichte die Fakultät erst nach Schmellers Tod entsprechende Vorschläge ein. Dabei stützte sie sich klar auf seine Ratschläge (vgl. Kap. 2.2.3.3.). Hofmann und Lexer verstarben jeweils im Amt (vgl. Kap. 2.3.). 414 Vgl. Kap. 2.4.1.3.
182
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
für Carl von Kraus ausgesprochen haben, denn am 2. Juli schrieb Rektor Vossler an Dekan Vollmer: "Im Einverständnis mit den Herren Paul, Muncker und Wilcken erlaube ich mir die Einberufung einer Fakultätssitzung zwecks Ergänzung der Vorschläge für die germanistische Ersatzprofessur zu beantragen. Aus weiteren Mitteilungen, die ich von Koll. Berneker erhalten habe, geht hervor daß Prof. K. von Kraus in Wien keineswegs so schwer erreichbar ist wie bisher angenommen wurde. Daher befürworten die genannten Antragsteller daß Prof. von Kraus in dem Vorschlag der Fakultät nicht bloß erwähnt, sondern als Kandidat aufgestellt und charakterisiert wird." 415 Auf wen das überaus positive Gutachten über Carl von Kraus zurückgeht, ist wegen der fehlenden Unterschrift jedoch nicht zu ermitteln. 416 Kraus wechselte aus Wien nach München, konnte also - im Vergleich zu den anderen Kandidaten - mit einem Lehrstuhl an der weitaus renommiertesten Universität aufwarten. 417 Mit der österreichischen Landeshauptstadt verbanden Kraus nicht nur berufliche, sondern vor allem auch private Bande: Hier war er am 20. April 1868 als Sohn eines hohen Militärarztes geboren worden, hier hatte er das Gymnasium absolviert und 1885 das Studium der Deutschen Philologie aufgenommen. 418 1890 erwarb er den philosophischen Doktorgrad, 1894 begann seine Universitätslaufbahn mit einer Privatdozentur an seiner Studienuniversität. Seinem Lehrer Richard Heinzel hatte Kraus seine Habilitationsschrift "Deutsche Gedichte des zwölften Jahrhunderts" gewidmet: "Eng verbunden mit diesem weitgefeierten schaffen [als Forscher, M.B.] geht durch diese jähre Ihr stilles würken als akademischer lehrer. alle verehren es, denen es vergönnt war, Ihren Vorlesungen und Interpretationen zu folgen, in Ihrem seminar geist und methode der philologie kennen zu lernen, Ihrer warmen anteilnahme an den ersten selbständigen versuchen froh zu werden, kurz durch beispiel, lehre, gesinnung und wohlwollen von Ihnen förderung zu erfahren, einer von diesen, dem all das zuteil geworden ist, bringt Ihnen, verehrter lehrer, zum heutigen feste [= Heinzel am 16. Juli 1893 seit 25 Jahren an der Universität, M.B.] in treuer dankbarkeit diese gäbe."419 Als Nachfolger von Karl Dettler bestieg Kraus - inzwischen in Wien zum außerordentlichen Professor ernannt - am 27. April 1904 den Lehrstuhl für äl-
415
UAM Ο I 96, Rektor an Dekan, 2.7.1916. 416 Ygi ^ Gutachten über Kraus. - Auch die Gutachten über die anderen Kandidaten sind nicht unterzeichnet. 417 Kauffmann: seit 1895 in Kiel; Saran: seit 1913 in Erlangen; Panzer: seit 1905 in Frankfurt/Main; Zwierzina: seit 1911 in Graz. 4.8 Für die Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 4.9 Vgl. Kraus 1894, [S.III].
3.3. Die ältere deutsche Philologie
183
tere deutsche Sprache und Literatur an der deutschen Universität in Prag. 420 Nur zwei Jahre später kehrte er als Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur nach Wien zurück. A m 19. Oktober 1916 sagte Kraus zu, die Nachfolge des emeritierten Paul an der L M U anzutreten: "Ich beehre mich, Eurer Spektabilität zur Kenntnis zu bringen, daß ich die an mich ergangene Berufung auf die ordentliche Professur für deutsche Philologie an der Universität München angenommen habe, u. z. zum 1. Oktober 1917."421 Mit dem Wechsel nach München erfüllte sich ein alter Wunsch von Kraus. Bereits 1902 hatte er bei Paul vorgesprochen, um seine Chancen am Polytechnikum zu sondieren. Ein Brief von Paul beweist, daß er sich schon für den jungen Wiener Dozenten eingesetzt hatte: "Aus den Zeitungen werden Sie vielleicht schon ersehen haben, daß Sulger die Professur am Polytechnicum erhalten hat. Nach dieser Seite hin besteht daher leider keine Aussicht mehr für Sie. An Vogt habe ich noch an dem Tage, an dem Sie hier waren, geschrieben. Auf eine Äußerung von seiner Seite habe ich bisher vergebens gewartet. Ich zweifle nicht daran, daß er Ihre Leistungen hochschätzt, und ich glaube auch, daß er Sie in Vorschlag bringen wird. Wenn aber daneben auch jemand von einer preußischen Universität vorgeschlagen wird, so ist eine Bevorzugung desselben sehr zu fürchten." 422 Erich Gierach, Kraus' ehemaliger Schüler und späterer Nachfolger sowohl in Prag als auch in München, reagierte auf die Berufung seines ehemaligen Lehrers wenig erfreut. Er vermutete dahinter eher ein Fehlverhalten in Wien: "Wie mich das überraschte! Und unbegreiflich ist mir, wie man das zulassen oder gar verschulden konnte."423 An der Ludwig-Maximilians-Universität lehrte Carl von Kraus über 17 Jahre lang bis zu seiner Emeritierung am 31. März 1935. Damit knüpfte er fast an seine Vorgänger Konrad Hofmann (37 Jahre) und Hermann Paul (24 Jahre) an - eine enorm lange Wirksamkeit auf dem Lehrstuhl für Deutsche Philologie entwickelte sich in München zur Tradition. Dabei hätte Kraus sehr wohl die Möglichkeit gehabt, an eine andere Hochschule zu gehen. 1922 lehnte er einen Ruf nach Leipzig ab, wo er die Nachfolge von Eduard Sievers hätte antreten sollen. 424 Die Bedeutung dieses Rufs verdeutlicht der Glückwunsch von Otto Maußer:
420
3.11.1901: außerordentlicher Titularprofessor; 12.11.1903: außerordentlicher Professor. 421 UAM Ο I 97, Kraus an Dekan A. Rehm, 19.10.1916. 422 StB Krausiana I, Paul an Kraus, 15.8.1902. 423 Ebd., Gierach an Kraus, 5.7.1917. 424 Kraus war verheiratet mit Nora Sievers, der Tochter von Eduard Sievers. 13 Bonk
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"Die Ehrung, die in dem Rufe auf den Lehrstuhl von Sievers liegt, läßt mich einen warmen Glückwunsch aussprechen, ich möchte aber mit der Münchener Tagespresse und der Münchener Akademikerschaft wünschen, daß es gelingen möge, Sie dem Lehrstuhl Pauls zu erhalten." 425 Sein Bleiben in München brachte Kraus einen finanziellen Vorteil: Das Ministerium stockte sein jährliches Zusatzgehalt auf 20.000 Mark auf (bisher 6.000 Mark; Grundgehalt: 80.000 Mark). 4 2 6 Allerdings gab Kraus später zwischenmenschliche Gründe als entscheidend an: "Unter den vielen Momenten, die mir den Wunsch erregten, in München bleiben zu können, stand in der vordersten Reihe die Empfindung, dass die Kollegen wie die Studenten mir von vorneherein ein übergrosses Mass an Vertrauen entgegenbrachten, das jeder menschlichen Tätigkeit erst den Segen bringt, ohne den nie eine freudlose Pflichterfüllung und nichts weiter sein müsste."427 1926 führte Kraus zwar die Vorschlagsliste der Fakultät an, als die Berliner Universität einen Nachfolger für Gustav Roethe suchte. Doch der Ruf erging an Julius Petersen, wofür Erich Gierach - der zweite auf der Liste - vor allem politische Gründe verantwortlich machte: "Es ist niederdrückend, wenn man sieht, wie die Macht des Ministerums über die Erkenntnis der Fakultät triumphiert. [...] Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Sie, Herr Geheimrat, der alleinig Berufene sind, die erste Lehrkanzel des Reiches innezuhaben. Und es ist eine Ungeheuerlichkeit, unter dem Vorwande, daß ihre Bedingungen voraussichtlich unerfüllbar seien, nicht den Ruf an Sie ergehen zu lassen. Aber das preußische Ministerium hat sich ja in letzter Zeit mancherlei geleistet. [...] wenn man es wagt, über Sie - doch offensichtlich aus politischen Gründen hinwegzugehen, so war es klar, daß man mich nicht erst in Erwägung zieht." 428 Nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur wurde der Emeritus reaktiviert, zu ersten Vorlesungen kam es erst im WS 1947/48. 429 Außerdem übernahm er nochmals die Betreuung von Doktoranden. 430 Am 9. April 1952 starb Kraus fast 84jährig in München. Eine eingehende wissenschaftshistorische Untersuchung zu Carl von Kraus steht bislang noch aus. Lediglich diverse kürzere Nekrologe bzw. Lexikon-
425
StB Krausiana I, Maußer an Kraus, 11.5.1922. Vgl. UAM E II N, ME, 29.7.1922. 427 Vgl. ebd., Kraus an Rektorat, 9.3.1923. 428 StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 10.6.1927. - Zu den Hintergründen um die nicht erfolgte Berufung von Kraus nach Berlin vgl. Kap. 2.4.1.4. 429 Vgl. Kap. 2.6. 430 1948 erwarb Käthe Deeg den philosophischen Doktorgrad mit einer Dissertation zum Thema: "Der Infinitiv Perfekt im Frühmittelhochdeutschen" (vgl. UAM O-Np SS 1948; vgl. auch Tab. 1). 426
3.3. Die ältere deutsche Philologie
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artikel würdigen vor allem seine Forschungstätigkeit; "dem Gedenken des unvergeßlichen Freundes" widmete Hermann Schneider seine Schrift. 431 Die Festschrift zum 50. Geburtstag setzt sich kritisch mit der Krausschen Untersuchung "Zu den Liedern Heinrichs von Morungen" auseinander. 432 Kraus' Schüler und späterer Nachfolger Eduard Hartl stellte ein Schriftenverzeichnis zusammen, das wegen des Erscheinungsjahrs 1949 nur unvollständig ist. 4 3 3 Nahezu unbeachtet blieb bei allen Nachrufen und Gedächtnisschriften der Universitätslehrer Kraus. Bei der Frage nach dem Beitrag, den dieser innerhalb des Münchner Seminars für Deutsche Philologie leistete, wird dieser Aspekt einen deutlichen Schwerpunkt bilden. Zu diesem Zweck wird auch der Nachlaß des Münchner Ordinarius herangezogen, der größtenteils in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrt wird. 4 3 4 Interessant ist zudem der Teilnachlaß in der Universitätsbibliothek München, speziell ein umfangreiches Manuskript mit dem Titel "Literaturgeschichte". 435 Bei den Veröffentlichungen von Kraus steht die Münchner Phase naturgemäß im Mittelpunkt. Es wird jedoch auch die Zeit vor 1917 berücksichtigt. Im Schnitt bot Kraus jeweils drei Veranstaltungen pro Semester an. Mit seiner Themenauswahl stellte er sich als reiner Altgermanist vor: Kraus las über einzelne Dichter (Wolfram von Eschenbach, Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg oder Walther von der Vogelweide) und kündigte mehrfach Übungen zum Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen an. 436 Letztere bezogen sich entweder auf die Literaturgeschichte oder die Textkritik, eines seiner bevorzugten Arbeitsgebiete. 437 Auch Altsächsisch und Gotisch gehörte zu
431
Vgl. Diels 1953, Frings 1954, Kralik 1953. - Vgl. Kuhn/Ott 1980. - Schneider 1953, S.4. 432 Vgl. Singer 1918. 433 Vgl. Hartl 1949. - Beispielsweise fehlt die wichtige zweibändige Edition "Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts", deren Drucklegung Kraus zum Teil noch selbst überwacht hatte. Die weitere Betreuung übernahm auf Wunsch des Verfassers Hugo Kuhn (vgl. Kraus 1952-58, Bd.l, 1952, S.XIII). 434 Vgl. StB Krausiana. - Bei diesem Teilnachlaß handelt es sich um einen umfangreichen Briefwechsel mit Gelehrten verschiedener Wissenschaftsrichtungen (z.B. Germanisten, Romanisten, Anglisten). Die größte Anzahl der Briefe ist an Kraus gerichtet (Krausiana I), der kleinere Teil stammt von ihm selbst (Krausiana II: Briefe, Karten, Briefentwürfe und -duplikate). Außerdem: acht Briefe an Lexer (Krausiana III) und Varia (Krausiana IV). 435 UB M, 4° Cod. ms. 1047. 436 Wolfram: z.B. SS 1918 und 1925. - Hartmann u. Gottfried: z.B. SS 1926 und 1930. - Walther: z.B. SS 1927 und 1931. - Ahd.: z.B. WS 1927/28, SS 1931, WS 1933/34, SS 1935. 437 Mhd. Literaturgeschichte: z.B. WS 1927/28 und 1931/32. - Textkritik: z.B. WS 1923/24 oder SS 1930. - Zur Textkritik vgl. auch weiter unten. 13*
186
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
seiner Kollegpalette. 438 Die sprachwissenschaftliche Seite betonte der Münchner Ordinarius in seiner "Historischen Grammatik der deutschen Sprache". 439 Gerade auf diesem Gebiet wird die markanteste Einschränkung des Lehrumfangs im Vergleich zu seinem Vorgänger sichtbar: Während Hermann Paul das Neuhochdeutsche integriert hatte, blieb es jetzt unberücksichtigt, auch bei den Veröffentlichungen. 440 Propädeutischen Charakter besaß die "Einführung in das Studium der älteren deutschen Philologie" aus seinem ersten Münchner Semester. In diesem Winter 1917/18 kündigte er auch zum ersten Mal an, die "Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum 13. Jahrhundert" behandeln zu wollen. 441 Einen äußeren Eindruck über die Konzeption "meines Literaturgeschichte-Collegs" vermittelt sein mehrhundertseitiges Manuskript "Literaturgeschichte". 442 Vorangestellt ist auf insgesamt 33 Seiten ein sehr ausführliches Inhaltsverzeichnis. Demnach gliederte Kraus seinen Stoff in einer ersten zeitlichen Ebene nach politischen Gesichtspunkten: Die Regierungsdauer von bestimmten Geschlechtern (z.B. Karolinger, sächsische Kaiser) bzw. von einzelnen Herrschern (Konrad II. oder Heinrich III.) markiert einzelne Phasen innerhalb des literaturgeschichtlichen Überblicks, der von den Anfängen bis - zumindest ansatzweise - ins 14./15. Jahrhundert reicht. Innerhalb dieser Abschnitte behandelte Kraus jeweils zuerst die Poesie und dann die Prosa. Erst in der Klassischen Periode (1180-1300) konnte er von diesem Schema abweichen und einzelne Dichter (Hartmann, Wolfram usw.) nach verschiedenen Gesichtspunkten vorstellen. Anknüpfend an die Biographie bot er eine chronologische Übersicht über die Dichtungen, die er in bezug auf Inhalt, Quellen, Stil oder Metrik untersuchte. Bei der höfischen Epik in Mittel- und Niederdeutschland ordnete er den einzelnen Regionen die jeweiligen Vertreter zu. Von der geographischen Gliederung kehrte er zur personenzentrierten Darstellung zurück, um sehr ausführlich über Walther von der Vogelweide zu sprechen (Bl.305-379). Hier zeigte sich wohl eine recht deutliche Vorliebe des Forschers Kraus, der diesem mittelalterlichen Lyriker mehrere, auch populär gehaltene Bücher gewidmet hattte. 443 Das 14./15. Jahr438
Altsächsisch: z.B. WS 1928/29 und 1930/31. - Gotisch: z.B. SS 1928 und WS 1930/31. 439 WS 1923/24, 1926/27 und 1930/31. 440 Zu Paul vgl. Kap. 3.3.1. - Zu Kraus' Veröffentlichungen vgl. weiter unten. 441 Dasselbe auch im WS 1924/25, 1927/28, 1931/32 und 1932/33. 442 UB M, 4° Cod. ms. 1047. - Der genaue Umfang ist unklar, da die Blätter nicht durchgehend numeriert und wiederholt welche nachträglich eingefügt wurden (z.B. 57a, 245a und 245b). - Seitenangaben ab sofort im Text. 443 Z.B. Die Gedichte Waithers von der Vogel weide, nach K. Lachmann, Berlin 7 1907, 101936. - Waither von der Vogelweide, Gedichte, Leipzig 1926. - Waither von der Vogel weide, München 1931.
3.3. Die ältere deutsche Philologie
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hundert streifte er nur mehr kurz mit dem höfischen Epos, mit kleinen Erzählungsgattungen in Versen (z.B. Novellen), mit den Themen Satire und Didaktik sowie der ritterlichen Lyrik. Als Einleitung gab er eine Übersicht über die indogermanischen Sprachen, zu denen auch das Deutsche zu rechnen ist (Bl.lOf.). Ein derartiges Schema hattte beispielsweise Konrad Hofmann für seine Grammatik-Vorlesung benutzt, in der es auch eher notwendig zu sein scheint. 444 Carl von Kraus verzichtete darauf, grundsätzliche Überlegungen zum Literaturbegriff anzustellen, wie es z.B. von Hermann Paul geleistet worden war. 445 Demnach präsentierte sich Kraus mehr als praktisch orientierter Philologe, der weniger über seinen Gegenstand reflektierte. Den eigentlichen Auftakt der Vorlesung bildete ein Querschnitt durch die Forschungsliteratur. Die früheren Ordinarien hatten meist nur die bibliographischen Angaben notiert. Wie sie die Arbeit der Kollegen beurteilten, mußte man indirekt daraus erschließen, inwieweit sie diese dem eigenen Konzept zugrunde legten. 446 Kraus jedoch kommentierte die Forschungsliteratur eingehend, speziell auch im Hinblick auf die Brauchbarkeit für den GermanistikStudenten. Beispielsweise zog er über die "Geschichte der mittelhochdeutschen Literatur" von Friedrich Vogt ein überaus positives Resümee: "Ungemein gewissenhafter, gediegener Führer, der die Tatsachen in solider Weise vorführt, nach dem neuesten Stand unserer Angaben (sowie die wesentlichste Literatur über jedes Dkm [= Denkmal, M.B.]) enthält. Zum Studium [...] das weitaus geeignetste Buch [...]" (B1.7)447 Weniger wohlwollend fiel das folgende Urteil aus: "Das Buch von Vilmar, Gesch. d.d. NL Marbg. in zahlreichen Auflagen, ist, f.d. ältere besonders, zu wenig umfangreich, als ehe es zum Studium ausreichen könnte." (B1.4)448 An andrer Stelle bezog Kraus in seine Wertung auch die Persönlichkeit des Wissenschaftlers mit ein. Im Zusammenhang mit Kobersteins "Grundriss zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur", die Karl Bartsch in der 5. Auflage herausgebracht hatte, heißt es:
444
Vgl. Kap. 3.2.3. Vgl. Kap. 3.3.1. 446 Vgl. z.B. Kap. 3.2.4. - Lexer baute sein Kolleg auf der "Gotischen Grammatik" von Wilhelm Braune auf. 447 Hier fehlte auch nicht der praktische Hinweis, daß Vogts Darstellung sowohl in Pauls "Grundriß der Germanischen Philologie" als auch separat gedruckt worden sei. 448 Es handelt sich vermutlich um folgende Darstellung: Vilmar, August Friedrich Christian, Geschichte der deutschen Nationalliteratur, 27. Aufl. bearb. von Heinrich Löbner und Karl Resuchel, Marburg 1911. 445
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"Koberstein war keine Persönlichkeit: Bartsch aber, aber er hatte hier nur das Werk eines andren zu [unleserliches Wort]. Bartsch war einer der vielseitigsten Gelehrten seiner Zeit: auf 2 Gebieten heimisch (Deutsch und Romanisch), auf manchen andern mit Geschick tätig. Und er hat wie v.d. Hagen eine Unmenge von Hss. [= Handschriften, M.B.] in seinem Leben gesehen, aber anders als dieser hätte er auch die Gabe gehabt, Dauerndes zu leisten [...], wenn nicht eine gewisse Vielgeschäftigkeit ihn stets zu neuen Aufgaben gezogen hätte." (Bl.l) 4 4 9 Dieeser Literaturüberblick erleichtert es, den Quellenwert des Manuskripts einzuschätzen. Da Kraus verschiedene Publikationen besprach, die um 1925 erschienen waren, diente es ihm ziemlich sicher als Vorlage während seiner Münchner Zeit. 4 5 0 Nachträglich aufgenommene Titel lassen vermuten, daß er die Aufzeichnungen laufend aktualisierte. Mehrfache Veränderungen erfuhr auch der Text, der durchgehend aus vollständigen Sätzen besteht.451 In dieser Form wäre er auch als Druckvorlage für eine eigene Literaturgeschichte denkbar gewesen. Realisiert wurde ein derartiges Projekt jedoch nicht, zumal Paul Diels bei Kraus eine prinzipielle Abneigung gegen literaturhistorische Darstellungen zu bemerken glaubte: "Zuletzt ward ihm der Gedanke einer 'Geschichte' dieser [= der mittelalterlichen, M.B.] Literatur wohl überhaupt fremd. Ich erinnere mich seiner drolligen Erbitterung, als ich ihn einmal, naiv und schlecht unterrichtet, nach seiner Arbeit an einer 'Geschichte des deutschen Minnesangs' fragte. Eine solche 'Geschichte' (ich befürchte, eine Literaturgeschichte überhaupt) nannte er einen 'Dschaggernaut'."452 Über Kraus' Stil, Vorlesungen und Übungen abzuhalten, ist kaum etwas überliefert. Sein Kollege Diels nannte ihn zwar "einen vorzüglichen Lehrer", ohne diese Wertung jedoch näher zu begründen. 453 Die pädagogischen Qualitäten können auch außerhalb des Seminars zur Geltung gekommen sein, z.B. in der Betreuung von Doktoranden. Daß er auf jeden Fall ausdauerndes Mitarbeiten und Vorbereiten forderte, bezeugt einer seiner Schüler: "Nur in einem Fach war zu pauken, da käme man nicht darum herum; die mittelhochdeutsche Sprache und Grammatik bei Carl von Kraus. Aber der galt als deutschnational und begünstigte die Kriegsteilnehmer." 454
449
Die genauen bibliographischen Angaben lauten: Koberstein, August, Grundriss der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, Leipzig 1827, 5. umgearb. Aufl. von Karl Bartsch, 5 Bde., Leipzig 1872-1874. 450 Z.B. die weiter oben angeführte Literaturgeschichte von Vogts (1922) oder von Ehrismann (München 1918-27). 451 Z.B. Streichungen, Einfügungen am Rande; der Zeitpunkt der Korrekturen ist nicht eindeutig zu klären. 452 Diels 1953, S.178. - Vgl. die Werkbibliographie (Hartl 1949). 453 Ebd., S.178. 454 Schramm 1979, S.l Ol.
3.3. Die ältere deutsche Philologie
189
Mit der politischen Einschätzung des Ordinarius ging Wilhelm von Schramm, der Anfang der zwanziger Jahre an der L M U immatrikuliert war, vermutlich nicht fehl. Ähnlich redete auch Eduard Hartl gegenüber seinem Lehrer von der "Liebe zum großen Vaterland, die immer hinter Ihren Worten durchklang". 455 Im Krausschen Nachlaß finden sich zahlreiche Briefe ehemaliger Schüler, die aus ihrer nationalistischen und antijüdischen Haltung kein Hehl machten. Daß Kraus den Kontakt zu ihnen nicht abbrach, sie im Gegenteil nach Kräften förderte, berechtigt zu der Annahme einer bestimmten Parallelität der Anschauungen. Hartl berichtete beispielsweise aus Hamburg von seinen Wohnungsproblemen, an denen Juden schuld seien: "ich mußte nämlich als Zwangsmieter einen waschechten Ostjuden mit seiner ebenso östlichen Frau übernehmen; es war bis jetzt nicht möglich, diesen Asiaten rauszukriegen, doch hoffentlich gelingt es jetzt auf gerichtlichem Wege. Wenn ich noch nicht Antisemit wäre, so hätte ich es jetzt werden müssen."456 Das Antwortschreiben von Kraus befindet sich leider nicht in seinem Nachlaß. 457 Fest steht aber, daß der Münchner Professor seinem ehemaligen Wiener Studenten eine Stelle als Hilfsassistent am Deutschen Seminar der L M U verschaffte und ihn auch bei der Habilitation - der einzigen während seiner Münchner Zeit - förderte. 458 In ähnlichem Maße setzte er sich für Gierach als seinen Nachfolger in Prag und München ein. 4 5 9 Dabei hatte Gierach seine Gesinnung, die deutlich antijüdisch, antiliberal und antitschechisch war, stets offengelegt. Als seine Aufgabe sah er es an, "den Kampf für das Sudetendeutschtum zu führen, soweit es
455
StB Krausiana I, Hartl an Kraus, 2.3.1925. Ebd., Hartl an Kraus, 24.2.1924. - Etwa ein Jahr später heißt es ähnlich: "ich empfinde es immer schmerzlich, nicht wählen zu dürfen, was jedem Ostjuden erlaubt ist." (ebd., Hartl an Kraus, 8.3.1925) 457 Vgl. StB Krausiana II: Briefe von Carl von Kraus (Repertorium). 458 Vgl. StB Krausiana I, Dankschreiben Hartl an Kraus, 2.3.1925. - In seinem Gutachten über die Hartische Habil.schrift ("Die Textgeschichte des Wolframischen Parzival") nannte er den Verfasser "eine echte Philologennatur" (UAM Ο Ν Habil, Zirk., 1.7.1925, Votum Kraus, 12.6.1925). - Zur Habilitation von Hartl vgl. Kap. 2.4.1.3. 459 In seinem Brief aus Reichenberg vom 15. Mai 1920 erbat Gierach ganz offen die Unterstützung seines Lehrers bei der Neubesetzung des Prager Ordinariats (vgl. StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 15.5.1920). Genau ein Jahr später teilte er ihm die Berufung mit und bemühte sich, ihm "für Ihre außerordentliche Förderung meiner Berufung nochmals herzlichst zu danken." (ebd., Gierach an Kraus, 15.5.1921). - Vgl. Kap. 2.5.2.1. 456
190
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
von Seiten der Sprachwissenschaft geschehen kann." 460 In diesem Sinn trug die Festschrift zu Gierachs 60. Geburtstag den Titel "Wissenschaft im Volkstumskampf". 461 In einem späteren Brief führte Gierach die Tatsache, nicht an eine andere Universität berufen worden zu sein, auf "üble Kunde der Präger jüdisch-liberalen Gesellschaft" zurück. 462 Auch hier sind die Antwortschreiben aus München nicht vorhanden. 463 Für eine politische Übereinstimmung mit den Nationalisten spricht zudem das Engagement von Kraus bei der Gründung der "Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums" (kurz: Deutsche Akademie) 1925 in München, die für ihre "rechtsideologische Ausrichtung" bekannt war. 4 6 4 In diesem Zusammenhang muß auch sein vehementes Eintreten für die Rückkehr von Otto Höfler an die Universität erwähnt werden, nachdem dieser als NSDAP-Mitglied 1945 vom Dienst enthoben worden war. 465 Dennoch muß betont werden, daß Kraus' politische Haltung insgesamt nur indirekt erschlossen werden kann. Als Carl von Kraus' Berufung nach München offiziell bestätigt worden war, übermittelte ihm Friedrich von der Leyen seine Glückwünsche und schilderte die aktuelle Lage am Münchner Institut: "[...] so finden Sie hier, soweit ich urteilen kann, ein außerordentlich günstiges und dankbares Arbeitsfeld. Freilich ist hier seit Jahren sehr viel versäumt und vernachlässigt worden, und es wird harter Arbeit und strenger Zucht bedürfen, bis endlich ein durchgreifender Wandel eintritt. Doch bin ich überzeugt, daß keiner für diese Arbeit berufener ist als Sie [...]" 466 Der Vorwurf der Vernachlässigung muß sich gegen Hermann Paul richten, der in der Tat in seinen letzten Jahren an der L M U gesundheitlich zunehmend beeinträchtigt gewesen und mehrfach um Urlaub bzw. um Entbindung von Vorlesungen gebeten hatte. Allerdings hatte Paul selbst den Gedanken an eine
460
StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 30.12.1927. - Vgl. auch folgenden Briefauszug: "Hier in Böhmen muß der Gelehrte nun sein Wissen in den Dienst der Volkserhaltung stellen. Das Kolonisationsproblem erfordert gründliche Klärung und die Sprachwissenschaft muß dem Historiker zu Hilfe kommen." (ebd., Gierach an Kraus, 30.12.1924) 461 Vgl. Oberdorffer/Schier/Wostry 1941. - Vgl. Kap. 4.1. 462 StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 14.5.1935. 463 Vgl. StB Krausiana II, Briefe von Carl von Kraus (Repertorium). 464 Röther 1980, S.201. - Kraus regte den Beitritt der Sektion für deutsche Sprache, Literatur und Volkskunde bei der Gesellschaft für Deutsche Bildung an (vgl. ebd., S.200). 465 Vgl. Kap. 4.3. 466 StB Krausiana I, Leyen an Kraus, 22.10.1916.
3.3. Die ältere deutsche Philologie
191
Neubesetzung seines Lehrstuhls bereits 1914 ins Spiel gebracht, er war sich der Nachteile für das Seminar deutlich bewußt. 467 Auf der anderen Seite war auch Pauls Nachfolger nicht unumstritten. Artur Kutscher redete in seiner Autobiographie gar von der "Systemlosigkeit des ganzen Kraus'schen Instituts", was er exemplarisch an der Neugründung des "Instituts für Theaterkunde" innerhalb des Deutschen Seminars festmachte. 468 Dieses harte Urteil des "Theaterprofessors" entsprang wohl zum größten Teil aus den persönlichen Differenzen, die um die neue Disziplin "Theaterwissenschaft" entstanden waren. 469 Insofern dürfte Kutschers Aussage, da subjektiv gefärbt, mit Zurückhaltung zu bewerten sein. Als problematisch muß sich auch seine Vorliebe für zeitgenössische Autoren ausgewirkt haben, wenn man folgende Episode berücksichtigt: "Professor Litzmann also hatte einmal eingeladen, um uns ein neues Stück von dem Dramatiker Herbert Eulenberg vorzulesen, in dem damals Manche eine große Hoffnung sahen. Carl von Kraus war zu höflich und zu klug, um dabei zu fehlen, aber es wurde ihm ersichtlich schwer, auszuhalten. Auf meine Frage am Schluß, warum er sich denn an der Debatte nicht beteiligt habe, flüsterte er mir zu: 'weil ich sonst gleich das Raufen hätte anfangen müssen!'"470 Kraus' strikte Beschränkung auf die Altgermanistik machte Paul Diels rückblickend dafür verantwortlich, daß dieser "unter den Tausenden seiner Hörer nur recht wenige wirkliche Schüler gehabt" habe. 471 Dazu müssen vor allem Erich Gierach und Eduard Hartl gerechnet werden. 472 Beiden ließ er jede nur erdenkliche Unterstützung angedeihen, wenn es um ihr berufliches Weiterkommen ging. 4 7 3 Sie sorgten auch nach Kraus' Emeritierung für Kontinuität am Institut für Deutsche Philologie, so daß hier durchaus von einer schulenbildenden Wirkung die Rede sein kann. "Schule" ist hier allerdings mit einer kleinen Bedeutungsabweichung verstanden: Während es sich sonst um eine neu formierte Forschungsrichtung handelte, die sich erst ihren Platz im Wissenschaftsgefüge zu erobern hatte, knüpfte Carl von Kraus an eine gängige Forschungstradition an, die er nahtlos an die nachfolgenden Generationen weitergab. 474 Philologische Fragestellungen standen im Mittelpunkt des Inter467
Vgl. Kap. 2.4.1.3. Kutscher 1960, S.152. 469 So der Titel von Kutschers Autobiographie aus dem Jahr 1960. - Zur Theaterwissenschaft am Deutschen Seminar vgl. Kap. 2.4.2. 470 Kutscher lud regelmäßig zu Autorenabenden mit befreundeten Dichtern ein (Max Halbe, Frank Wedekind etc.). - Schneider 1953, S.8. 471 Diels 1953, S.178. 472 Zu Gierach vgl. Kap. 2.6.2.1. und 4.1. - Z u Hartl vgl. Kap. 2.4.1.3. und 2.7. 473 Vgl. weiter oben. 474 Im Vergleich zur Definition der wissenschaftlichen Schulen in Kap. 3.1. 468
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
esses, die er zwar einer neuen kritischen Überprüfung unterzog, aber ohne wirklich überraschende Akzente zu setzen.475 Als philologische Tugenden galten Akribie, die Bereitschaft auch zu komplexesten und mühevollsten Aufgaben sowie der Anspruch auf möglichst lükkenlose Vollständigkeit. Nicht vergessen werden darf ein gewisses Einfühlungsvermögen, um fragmentarisch überliefertes Textmaterial sinnvoll und behutsam zu rekonstruieren. A l l diese Kriterien tauchen regelmäßig in den Gutachten des Professors über die Arbeiten seiner Doktoranden auf. 1931 entstand unter seiner Leitung eine Dissertation mit dem Thema "Die lateinischen Elemente in der mittelhochdeutschen Epik des 13. Jahrhunderts". Er lobte die Arbeit von Emma Einicher als eine "ungewöhnliche Leistung": "Ganz abgesehen von dem ganz aussergewöhnlichen Fleiss, mit dem aus einem ungemein weitschichtigen Material die Belege, soviel mich Stichproben überzeugt haben, lückenlos beigebracht sind, abgesehen auch von der philologischen Akribie, die von der Einleitung bis zum Schlussregister aller vorkommenden lateinischen Wörter die ganze Arbeit wohltuend durchzieht, hat die Verfasserin gründlich und gelehrt die Herkunft der Zitate ermittelt [...] All das und vieles andere wird mit einem Feingefühl für dichterische Werte und mit einer Einfühlungsgabe in die alte Literatur dargelegt, wie sie mir in Anfängerarbeiten nur selten begegnet sind." 476 Das Wort "Anfängerarbeiten" legt nahe, auf eine etwas herablassende Haltung des Lehrstuhlinhabers gegenüber den Promovenden zu schließen, was folgender Briefauszug bestätigt: "Die aus den Dissertationen erwachsende Arbeit ist gleichfalls nicht gross, wenn man die entsprechende Strenge in der Beurteilung walten lässt: ich habe etwa 4-5 im Jahre, und der moderne Kollege wird bei gleichem Masstab vieil, auf 8 kommen. Wer sich über ein Uebermass an Doktorexamina und Stipendien- od. Honorarbefreiungsprüfungen beklagt, ist immer selbst schuld an seiner Belastung: die Studenten sind ihrem Durchschnitt nach hier eben auch nicht anders als andernwärts: wie das Wasser suchen sie den tiefsten Punkt."477 Mit seiner eigenen Angabe, etwa 4-5 Dissertationen pro Jahr zu betreuen, hatte Kraus stark übertrieben. Im Durchschnitt kam er auf zwei Doktoranden. Das Jahr 1927, in dem er den oben zitierten Brief an Rudolf Unger schrieb,
475
Die einzige Ausnahme: Kraus machte sich die Metrik für Fragen der Textkritik nutzbar (vgl. weiter unten). 476 UAM Ο Np 1931/32, Emma Einicher, Gutachten Kraus (8.10.1931). 477 StB Krausiana II, Kraus an Unger, 5.4.1927 (Duplikat. Die zahlreichen Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert.).
3.3. Die ältere deutsche Philologie
193
stellte mit insgesamt sechs Kandidaten eine der wenigen Ausnahmen dar. 478 Von 1917 bis 1950 lassen sich insgesamt nur 32 Dissertationen nachweisen.479 In Kraus' Forschungstätigkeit bildeten Epik und Lyrik des Hochmittelalters deutliche Schwerpunkte. Lyrische Textausgaben stehen am Anfang und am Ende seiner Veröffentlichungen. 480 Die umfangreiche Ausgabe der "Deutschen Liederdichter des 13. Jahrhundert" zeigt, daß sich sein Interesse hin zur Lyrik verschoben hatte. Mit ausschlaggebend dafür war wohl die Übernahme von Lachmanns Editionen "Die Gedichte Walthers von der Vogelweide" sowie von "Des Minnesangs Frühling". Die Lyrik war zwar bereits früher in sein Blickfeld gerückt, aber erst in München intensivierte er ihre Erforschung. Seine prinzipielle editorische Zielsetzung hatte er bereits als Ordinarius in Prag formuliert: "Das Ziel, das ich mir gestellt habe, ist: alles aus den Handschriften herauszuholen, was sich bei Anwendung der philologischen Hilfsmittel von Wort zu Wort als ursprünglich erweisen läßt, und nichts im Text dulden, was gegen die Sprache und Art des Dichters, soweit sie mit Sicherheit oder hoher Wahrscheinlichkeit zu erkennen sind, verstößt. Nur eine Ausgabe, die sich dieses Ziel steckt, hat nach meiner Überzeugung das Recht, sich eine kritische zu nennen."481 Kraus war sich der Gefahr bewußt, die darin lag, "Sprache und Art des Dichters" zur Richtschnur zu erheben, denn er setzte ein "feines Schönheitsempfinden" und ein "untrügliches Sprachgefühl" voraus. 482 Wer aber ist in der Lage, objektiv über Fragen des Gefühls und Geschmacks zu urteilen? Hier bewegte sich Kraus in einem von Subjektivität geprägten Bereich, der seiner Forderung nach methodischer Strenge entgegengesetzt zu sein schien. 483 Die "Art des Dichters" zu kennen, erfüllte nämlich keinen ästhetischen Selbstzweck; vielmehr diente sie ihm dabei, Stellen als verderbt zu identifizieren: "Aber ich hoffe, nur dort eingegriffen zu haben, wo die Worte des Dichters entstellt sind: oft weisen darauf schon formale Störungen hin, öfter ergibt sich aber auch, daß die Verderbnis sich nicht durch äußere Schäden kundtut, sondern nur dem erkennbar wird, der in die Art des Dichters und seiner Genossen eingedrungen ist." 484
478
Vgl. Tab. 1. Vgl. Tab. 2. - Nach der Krausschen Rechnung hätten es mindestens 132 Arbeiten sein müssen. 480 Vgl. Kraus 1894 und Kraus 1952-1958. 481 Kraus 1907, S.XXX (zit. nach: Schneider 1953, S.9f.). 482 Kraus 1939, S .VIII. 483 Unbestritten ist jedoch "der untrennbare Zusammenhang von Edition und Hermeneutik, den bedeutendsten Komponenten der Philologie des 19. Jahrhunderts." (Weigel 1988, S. 17) 484 Kraus 3()1950, S.VII. 479
194
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Dabei stieg er von der Stufe der einzelnen Dichterpersönlichkeit weiter und bezog alle Zeitgenossen mit ein, um zu einer "Synthese" zu gelangen, "die aus der Kunst der ganzen Zeit gewonnen ist." 4 8 5 Als Ziel setzte er sich, den "echten Ton" zu treffen, vor allem im Interesse des Dichters, als dessen Diener Kraus sich verstand. 486 Fragen des Stils nahmen bei diesem Altgermanisten bereits in seiner Dissertation breiten Raum ein. 4 8 7 Als konsequente Weiterentwicklung könnte man seine metrischen Untersuchungen sehen, mit denen er neue Wege für die Textkritik erschloß. 488 Stets stand jedoch bei Kraus der Text im Mittelpunkt, was ihn mit Karl Lachmann verband, mit dem er meist zusammen in einem Atemzug genannt wird. 4 8 9 Die Verbindung zu Lachmann wird jedoch ambivalent beurteilt. Während sich für Dietrich Kralik Kraus zu dessen "besonderer Geistigkeit [...] oft und gerne bekannte", glaubt Hermann Schneider, daß er "ihm innerlich nicht wirklich nahestand".490 Fest steht, daß Carl von Kraus in mancher Hinsicht Arbeitsweise und Ergebnisse des Berliner Philologen als vorbildlich übernahm - exemplarisch verwiesen sei hier auf die "moderne nach Lachmann geregelte interpunction" oder die Handschriften für Walther von der Vogelweide, "bei dem wir dank der kritischen Arbeit Lachmanns die Verhältnisse am klarsten übersehen". 491 Dabei wußte er, daß seit Lachmann die Forschung weitergeschritten war, was er bei der 30. Auflage von "Des Minnesangs Frühling" berücksichtigte: "Das Ziel, das Vogt [= Friedrich Vogt, der vor Kraus die Neubearbeitung der Lachmann-Ausgabe besorgt hatte, M.B.] bei seiner Neubearbeitung vorschwebte und das er für seine Zeit so glücklich erreicht hat, eine Grundlage für die eingehende wissenschaftliche Beschäftigung mit unseren ältesten Liebesdichtern zu schaffen, die dem Wissen der Gegenwart entspricht, ist in der vorliegenden Neubearbeitung unverändert geblieben. Die Wege zu diesem Ziel hin sind freilich teilweise andere geworden. Vor allem schien es mir geboten, nicht nur der seit dem Jahre 1922 in die Breite und sehr oft auch in die Tiefe gehenden Forschung gerecht zu werden, sondern auch alles, was bis dahin vorlag, erneut durchzuarbeiten, um die Ergebnisse mit eigenen Augen zu prüfen und das Wertvolle daraus zur Geltung zu bringen." 492 Diese Zeilen verraten ein ausgeprägt progressives Wissenschaftsverständnis. Eine Folge davon war, daß jede weitere Neuauflage der Lachmann-Ausgaben
485 486 487 488 489 490 491 492
Ebd., S.VII. Ebd., S.VIII. - Zur Selbstsicht als Diener des Dichters vgl. ebd., S.VII. Vgl. Kraus 1894, S.VIII. Vgl. z.B. Metrische Untersuchungen über Reinbots Georg, Berlin 1902. Vgl. Diels 1953, S.178, oder Frings 1954, S.378. Kralik 1953, S.324. - Schneider 1953, S.9. Kraus 1894, S.V. - Kraus 1932, S.IX. Kraus 30!950,S.VI.
3.3. Die ältere deutsche Philologie
195
mehr die Handschrift des Bearbeiters trägt. Anfangs stand bei allen Eingriffen Lachmann als oberste Instanz im Hintergrund. Vor sämtlichen Veränderungen stellte sich der Bearbeiter die Frage, ob Lachmann sie wohl gutgeheißen hätte: "Die äussere einrichtung der ausgabe wurde von mir wesentlich umgestaltet, indem ich die lesarten (nebst der bezeichnung der neuen töne durch einen stern) unter den text gesetzt und nur die erklärenden anmerkungen sowie die vermutungsweise vorgebrachten Vorschläge an ihrem alten platz gelassen habe, die ästhetischen bedenken, die sich gegen lesarten unter dem text geltend machen lassen, hat Lachmann nicht gehegt, - das zeigt seine ausgabe wolframs; [,..]" 493 Mit der 10. Ausgabe aus dem Jahr 1936 liegt im Grunde eine Neu-Edition vor, wobei Kraus allerdings größten Wert darauf legte, alle "Abweichungen" von seinem Vorgänger transparent zu machen. 494 Äußeres Zeichen für die Emanzipation von Lachmann sind bereits die Anordnung und die Längen der Vorreden. Kraus stellte sein eigenes Vorwort an den Anfang und bot nur mehr einen anderthalbseitigen Auszug aus der Lachmannschen Vorrede von 1827, aus der er jedoch die Ausführungen über die einzelnen Handschriften in sein eigenes Vorwort übernahm. 495 Ähnliches läßt sich für "Des Minnesangs Frühling" beobachten. Für das Verhältnis Kraus-Lachmann heißt dies, daß Kraus zwar deutlich auf Lachmann rekurrierte - allein schon durch die Wahl des Untersuchungsgegenstands und durch methodische Parallelen - , daß er dessen Arbeit aber auch weiterführte. Für Hugo Kuhn und Norbert Ott setzte Kraus "einen neuen Standard von Textnähe", nicht nur für die Philologie der Minnelyriker. 496 Auch wenn Kraus neue methodische Ansätze aufmerksam verfolgte, nahm er sie bisweilen zur Kenntnis, ohne sie jedoch selbst zu verwenden. An die Ergebnisse der Sieverschen Schallanalyse legte er vielmehr den eigenen, von Rhythmus oder Strophenbau geprägten Maßstab an. 497 Neben spezifisch fachwissenschaftlichen Ausgaben wollte Kraus die mittelalterlichen Dichtungen auch einem breiteren Publikum zugänglich machen. 1943 erschien eine Auswahl von Walther-Gedichten, 1948 eine Aus-
493
XX).
494
Kraus 71907, S.XX. - Für weitere Belege vgl. die gesamte Vorrede (S.XVII-
Vgl. Kraus 101936, Vorrede, S.VIIf. - Vgl. auch den Untertitel der Ausgabe. Vgl. ebd., Vorrede, S.VII-XXIII. - Die Vorreden von Haupt und Müllenhoff entfielen völlig. 496 Kuhn/Ott 1980, S.693. 497 Vgl. Kraus 301950, S.VIII. 495
196
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
wähl "Aus Minnesangs Frühling". 498 Dieselbe Intention verfolgte der Band "Heinrich von Morungen", wenn es heißt: "Die Übersetzung, die ich beigefügt habe, will treu sein und sie will die rhythmische Urform Silbe für Silbe wiedergeben. Aber sie will nicht die Lektüre des Originals entbehrlich machen, sondern zu ihr hinführen." 499 Über die Arbeitsweise des Münchner Ordinarius gibt ein Schreiben an den Direktor der Universitätsbibliothek München Aufschluß: "Ihrer freundlichen Einladung, eine Arbeit meiner Feder Ihrer Bibliothek zu überlassen, kann ich nur in höchst bescheidenem Masse entsprechen, da ich seit jeher meine Manuskripte, wenn sie zum Druck gelangt waren, zu zerschneiden pflegte, um die Rückseiten für eine neue Arbeit od. für Zettel zu verwenden. Ferner bestehen meine Vorarbeiten nur aus Notizen, aus denen heraus ich unmittelbar die Reinschrift herstelle. Sind diese Notizzettel erledigt, so verfallen sie dem Feuer oder werden auf der etwa noch leeren Rückseite neuerdings beschrieben."500 Dieses Vorgehen ist am Vorlesungsmanuskript "Literaturgeschichte" präzise nachvollziehbar. Viele Blätter tragen auf der Rückseite Aufzeichnungen zu einem anderen Thema. 501 Während er hier häufig etwas durchstrich oder am Rand nachträglich Text einfügte, weisen die "Studien zu Heinrich von Trimberg" nur relativ wenige Korrekturen auf, vermutlich, weil es sich hier um eine Druckvorlage handelte. 502 Rückblickend ergibt sich, daß der Übergang von Hermann Paul auf Carl von Kraus sowohl von Kontinuität als auch von Diskontinuität geprägt war. Völlig nahtlos setzte der ehemalige Wiener Ordinarius die Tradition fort, den Münchner Lehrstuhl für Deutsche Philologie bis zur Emeritierung nicht mehr aufzugeben. Bei der Verweildauer wurde er jedoch von Paul noch übertroffen. Obwohl beide Altgermanisten waren, bedeutete die Berufung des Wieners eine Einschränkung des Lehrangebots: Der Sprachwissenschaftler Paul hatte sich zunehmend für die Erforschung des Neuhochdeutschen interessiert, was sein Nachfolger vollständig aussparte. Kraus war eindeutig Philologe des Mittelalters, während sein Vorgänger als zweites "Standbein" die Linguistik der Gegenwartssprache hatte. Als Junggrammatiker vertrat Paul eine neu aufgekommene wissenschaftliche Richtung, während Kraus in seinem Bereich eher als Traditionalist mit geringen innovativen Ansätzen einzustufen ist. Dem
498
Vgl. Walther von der Vogel weide, ausgewählt und eingeleitet von Carl von Kraus, Leipzig 1943. - Die Auswahl erschien 1948 ebenfalls in Leipzig. 499 Kraus 1925, S.120. 500 UB M, 4° Cod. ms. 1048, Kraus an Joachim Kirchner, 27.9.1941. 501 Vgl. ebd., 4° Cod. ms. 1047; vgl. auch weiter oben. 502 Vgl. ebd., 4° Cod. ms. 1048. - Vgl. auch das Schreiben an Joachim Kirchner vom 27.9.1941.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
197
Deutschen Seminar an der L M U gelang es, mit Carl von Kraus einen der renommiertesten Repräsentanten seines Fachs zu gewinnen, der insbesondere glänzende Editionen der mittelhochdeutschen Dichtung vorlegte.
3.4. Die neuere deutsche Philologie In ihren Anfängen gegen Ende des 18. Jahrhunderts mußte sich die Deutsche Philologie gegen die übermächtige Konkurrentin Klassische Philologie behaupten.503 Ähnliches läßt sich später für ein Teilgebiet der Deutschen Philologie beobachten: Es dauerte fast ein Dreivierteljahrhundert, bis die neuere deutsche Sprache und Literatur in die Forschung miteinbezogen wurde - sie mußte sich gegenüber der älteren emanzipieren. Allerdings gelangen der neueren deutschen Philologie in München die Schritte zur institutionellen Absicherung über ein Extraordinariat und schließlich ein Ordinariat relativ schnell innerhalb weniger Jahre. 504 Nach der Seminargründung trug man bald der Differenzierung in eine ältere und eine neuere Abteilung Rechnung: Zuerst gab es zwei Vorstände, später wechselten sich die beiden Ordinarien in der Leitung des Instituts ab. 505 Die neuere deutsche Philologie untersucht die deutsche Dichtung und Sprache der Neuzeit. Das schließt nicht automatisch die zeitgenössische Literatur mit ein, im Gegenteil. Lange Zeit waren die Texte von lebenden Autoren an der Universität mit einem Tabu belegt. Zumindest am Anfang standen die Neuphilologen vor ähnlichen Problemen wie die Vertreter der älteren Abteilung: Die Textkritik mit dem Ziel, einen originalen Text herzustellen, bildete einen Hauptpfeiler der philologischen Arbeit. Erst später bereicherten neue methodische Ansätze die Erforschung der deutschen Literatur. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rückte mehr und mehr der Dichter bzw. die Dichtung in den Mittelpunkt des Interesses. Für diese Veränderung stehen zwei Namen: Wilhelm Scherer und Wilhelm Dilthey. Das Programm der Scherer-Schule war es, auf der Basis von exakter Quellenforschung und -kenntnis Dichtung unter den drei Aspekten des Ererbten, Erlernten und Erlebten zu analysieren. 506 Diese am Vorbild der Naturwissenschaften orientierte Methode lehnten die Schüler von Wilhelm Dilthey als "positivistisch" ab. Dilthey hatte die
503
Vgl. Kap. 2.2.1. bis 2.2.3. Vgl. Kap. 2.2.3.4. 505 Vgl. Kap. 2.4.1.2. 506 Zu Scherers Programmatik vgl. z.B. Scherer, Die Deutsche Litteraturrevolution, 1874; Scherer, Die neue Generation, 1874; Scherer 1986. - Zu Scherers Methode vgl. Konstantinovic/Reh/Sauerland 1990, S.22-26. 504
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Grundlagen für eine spezifisch auf die Geisteswissenschaften zugeschnittene Methodik gegeben.507 Seine Anhänger bauten Diltheys Ansätze zu einer eigenen geistesgeschichtlichen Richtung aus. Ob Rudolf Ungers "Problemgeschichte", Hermann August Korffs "Ideengeschichte" oder Fritz Strichs "Typenlehre" - allen ist der interdisziplinäre Weg mit dem Ziel der synthetischen Erfassung des "Zeitgeistes" gemeinsam.508 Die Literaturwissenschaft steht am Ende einer Entwicklung, die mit der Textkritik und der Literaturgeschichtsschreibung (Literarhistorie) ihren Anfang genommen hatte.
3.4.1. "Die philologische Begründung der neueren Literaturgeschichte durch Michael Bernays 509
"
Als Michael Bernays 1873 das Extraordinariat und 1874 das Ordinariat in München übertragen wurde, war er nicht nur der erste Inhaber eines Lehrstuhls für neuere deutsche Philologie in München, sondern in Deutschland überhaupt. 510 Dieser seiner Pionierrolle trug die Forschung allerdings bislang nicht in gebührendem Maß Rechnung. Abgesehen von einigen - mehr oder minder kurzgefaßten - Beiträgen in Zeitschriften oder biographischen Lexika liegt keine Monographie über ihn vor. 5 1 1 Allerdings liefern die Nekrologe einige wichtige Ansatzpunkte, da sie doch ein relativ objektives Bild des Menschen und Wissenschaftlers Michael Bernays zeichnen, das seinen Vorzügen und Schwächen gerecht zu werden versucht. 512 Nahezu lückenlos erscheinen die Angaben zu seiner Biographie. 513
507
Vgl. z.B. seine theoretischen Schriften: Die Einbildungskraft des Dichters (1887); Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe (1892); Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geistes Wissenschaften (1910). 508 Zur geistesgeschichtlichen Methode in der Literaturwissenschaft vgl. Falk/Zmegac/Bruck-Firnau 1989, S.793; König/Lämmert 1993. - Rudolf Unger und Fritz Strich haben beide ihre wissenschaftliche Laufbahn in München begonnen (vgl. Kap. 2.4.1.2. und 3.4.2.). 509 Bernays 1877, zit. nach Petzet 1898, S.349. 510 Vgl. Kap. 2.2.3.4. 511 Vgl. die Personalbibliographie. 512 Vgl. insbesondere Petzet 1898 oder Witkowski 1897 und Witkowski 1906. 513 Im Institut für Literaturwissenschaft der Univ. Kiel befindet sich eine maschinenschriftliche Biographie von Ulrich Bernays über seinen Vater (vgl. Bernays [1944]). Sie wurde m.W. bislang nicht gedruckt. - Vgl. auch die zahlreichen Stellen über Bernays in der Autobiographie seines Stiefsohns Hermann Uhde-Bernays von 1947.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
199
Bernays' schriftlicher Nachlaß, der am Institut für Literaturwissenschaft an der Universität Kiel aufbewahrt wird, besteht aus Dokumenten, Handexemplaren seiner Veröffentlichungen, Vorlesungsheften, umfangreicher Korrespondenz sowie Tagebüchern. 514 Eine Auswahl von Briefen von und an den Münchner Professor erschien 1907 und I960. 5 1 5 Die Korrespondenz gibt zahlreiche Hinweise zur Person von Bernays; sie ist aber auch eine äußerst wertvolle Quelle,was den Dozenten und Wissenschaftler betrifft. Dasselbe gilt für die Vorlesungsmanuskripte. Die Tagebücher liegen m.W. bis dato nicht gedruckt vor. Da er sich darin "mit peinlicher Gewissenhaftigkeit über Werth oder Unwerth seiner Kollegien selbst Rechenschaft ablegte", wurden sie für die vorliegende Untersuchung ebenfalls herangezogen. 516 Dabei muß man sich jedoch der subjektiven Prägung von Tagebuchnotizen bewußt bleiben. Daß diese aber ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, erhöht ihre Glaubwürdigkeit. Michael Bernays, am 27. November 1834 in Hamburg geboren, erhielt vor allem Privatunterricht. 517 Nur für zwei Jahre besuchte er das Johanneum in seiner Geburtsstadt. An der Universität Bonn belegte er offiziell Jura; seine Hauptinteressen lagen allerdings bei Klassischer und Germanischer Philologie sowie Geschichte. In Heidelberg intensivierte er diese Studien und fand in Adolf Holtzmann und Georg Gottfried Gervinus seine akademischen Lehrer. 518 Bei letzterem promovierte Bernays im Mai 1856 zum Dr. phil, und zwar ohne Dissertation. 519 Erst Ende 1872 habilitierte er sich für deutsche Literaturgeschichte in Leipzig. In den Jahren zuvor hatte er in Bonn und Köln als Privatgelehrter gelebt und sich als Journalist und Vortragsredner betä-
514 ILK Nachlaß Bernays. - Unter der Signatur XII.VII finden sich Auszüge aus Tagebüchern und Briefen zu Vorlesungen und Reden. Diese sind nicht in Bernays' Handschrift, sie stammen vermutlich von einem späteren Bearbeiter des Nachlasses. Leider fehlen hier Angaben zu den Adressaten sowie manchmal die genaue Datierung. 515 Vgl. Uhde-Bernays 1907. - Vgl. Bernays 1960. - Waither Rehm konzentrierte sich auf den Briefwechsel von Heinrich Wölfflin mit seinem ehemaligen Lehrer Michael Bernays, um "Wölfflin als Literarhistoriker" vorzustellen. Im Mittelpunkt seines Interesses stand also nicht Bernays. 516 Petzet 1898, S.344. - Zum Nachlaß gehören auch stichpunktartige Notizen über alle Veranstaltungen seit dem WS 1875/76 (vgl. ILK, XII.VII). Festgehalten sind Datum, Thema und Bewertung der eigenen Leistung. 517 Für die Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 518 Gervinus soll ihn auch angeregt haben, die Universitätslaufbahn einzuschlagen (vgl.Uhde 1897, S.l8). 519 Vgl. Petzet 1898, S.339, Anm.l. 14 Bonk
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
tigt. 5 2 0 Bereits zuvor hatte Bernays mit dem Gedanken gespielt, nach Straßburg zu gehen, wo nach der Reichsgründung die Neueröffnung der Hochschule sehr wahrscheinlich war. Für diesen Plan erbat er sich die Unterstützung von Otto Gildemeister und betonte, daß es ihm vor allem um die "vaterländische" Sache ginge: "Meine persönlichen Wünsche würden sich nicht eben nach Straßburg richten, für die auf streng philologischem Fundament begründete, wirklich g e s c h i c h t l i c h e Litteraturgeschichte, wie ich sie zu lehren vorhabe, wird dort fürs erste wohl kaum der Boden zu finden sein. Aber ich glaube in der That, daß dort ein vaterländisches Werk zu vollbringen ist, dem ich mich mit Eifer und Freude hingebend widmen würde. Der Gedanke an eine dortige Wirksamkeit ist mir gerade in den letzten Wochen wieder näher und lebhafter geworden." 521 In seiner Leipziger Habilitationsschrift untersuchte er die "Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare" und festigte sein Ansehen als Shakespeare-Forscher. 522 Nur ein halbes Jahr später folgte Bernays einem Ruf an die L M U auf das neugegründete Extraordinariat für neuere Literatur. 523 Auf eine Initiative von Konrad Hofmann und Moriz Carrière hin erhielt er bereits ab dem 1. Februar 1874 den Rang eines Ordinarius für neuere Sprachen und Literaturen. 524 Im März 1890 trat Bernays freiwillig zurück, um sich intensiver der Forschung zu widmen. 525 Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht, was vor 520
Vgl. das Schriftenverzeichnis von Michael Bernays (Witkowski 1898). - Nach der Habilitation beendete Bernays seine journalistische Tätigkeit, vermutlich glaubte er sie nicht mit seiner Position als Dozent vereinbar. 521 Bernays 1907, S.100, Bernays an O. Gildemeister, 5.3.1871. - In diesem Sinn schrieb Bernays auch am 20.2.[18]76: "[...] die herrliche Disciplin der philologisch behandelten Litteraturgeschichte wird hoffentlich für die Zukunft fest begründet sein. Das Bewußtsein, so auch an meinem Theile ins Große und Ganze der vaterländischen geistigen Entwicklung einzugreifen, hebt mich freudig empor über das Getriebe des Tages [...]" (ILK, XII.VII Auszüge aus Briefen und Tagebüchern) 522 Vgl. Bernays 1872. - Bereits 1869 hatte Bernays "Den Schlegel-Tieckschen Shakespeare in neuer Ausgabe" vorgelegt, 1871 eine 12bändige Ausgabe der Dramen betreut. - Vgl. auch weiter unten. 523 Aus Bernays' Tagebuch geht hervor, daß er sich zwar auf München freute, aber vor allem die Trennung von Salomon Hirzel fürchtete, wegen dem er nach Leipzig gekommen war (vgl. ILK, XII.VII, Mai 1873). Noch im Winter 1874/75 spricht er davon, wie sehr er "den täglichen Verkehr mit ihm entbehre." (ebd., o.D.). - Zum Verhältnis Bernays-Hirzel vgl. Geiger 1900. 524 Vgl. Kap. 2.2.3.4. 525 In dieser Begründung stimmen alle Bernays-Biographen überein (vgl. Köster 1897, S.575; Salomon 1897, S.311; Petzet 1898, S.348; Schmidt 1902, S.407; Uhde 1897, S.21; Witkowski 1906, S.75). Das Entlassungsgesuch selbst befindet sich nicht in der Personalakte von Bernays (vgl. UAM E II 17 a2). Auch in der Stellungnahme der Phil. Fak. ist nur von "Gründen" die Rede, "deren Berechtigung nicht zu bestrei-
3.4. Die neuere deutsche Philologie
201
allem auf eine persönliche Veranlagung zurückzuführen ist. 5 2 6 A m 25. Februar 1897 starb Bernays in Karlsruhe, wo er seit seinem Rückzug von der Münchner Universität gelebt hatte. Die Errichtung des Lehrstuhls für deutsche Literaturgeschichte und die Berufung von Michael Bernays soll "auf entschiedenen Wunsch des hochsinnigen Königs Ludwig II." erfolgt sein. 527 Diese Behauptung läßt sich anhand der Akten des Universitätsarchivs München nicht nachvollziehen, hier erscheint das neue Ordinariat lediglich als ministerielle Initiative. 528 In Ludwig Hüttls ausführlicher Biographie über den bayerischen "Märchenkönig" taucht der Name Bernays überhaupt nicht auf. Allerdings spielen hier wissenschaftspolitische Aspekte überhaupt nur eine untergeordnete Rolle. 529 Keinerlei Aufschluß geben auch die Tagebücher des Monarchen, die 1925 veröffentlicht wurden. 530 Bernays selbst äußerte sich nicht konkret zur Rolle des bayerischen Königs bei seiner Berufung nach München, sondern lobte lediglich dessen Kunstsinn: "Unter den Fürsten Deutschlands war unser König der einzige, der thätig bewies, daß er Feuerbachs Geist anerkannte. Er hat auch vor kurzem die Medea, die volle zehn Jahre lang unverkauft geblieben, der hiesigen neuen Pinakothek geschenkt. Wie durch seine Anerkennung Wagners hat er auch hier bewiesen, daß ihm der Sinn für das Große angeboren ist." 531 Insbesondre in der unbedingten Verehrung des Komponisten und Dichters Richard Wagner berührten sich beider Neigungen. Von seinen mehrfachen
ten" ist (vgl. ebd., Fak. an Senat, 23.11.1889). Allerdings spricht Bernays bereits in einem Brief vom 10. August 1881 an den befreundeten Schauspieler Joseph Lewinsky von diesem Plan (vgl. Bernays 1907, S.108 - vgl. auch weiter unten). 526 Vgl. weiter unten. 527 Uhde 1897, S.19; vgl. auch Petzet 1898, S.342, und Schmidt 1902, S.406. 528 Vgl. Kap. 2.2.3.4. - Bernays' Personalakte im Bayer. Kultusministerium ist verbrannt. 529 Vgl. Hüttl 1986. 530 Vgl. Grein 1925. 531 Bernays 1907, S.84, Bernays an Jakob Baechtold, 28.1.1880. - Vgl. auch Bernays [1944], S.39: "Bernays hat immer gesagt, dass sie auf die eigenste Erschliessung des Königs Ludwig II. zurückzuführen sei, und bei dem lebhaften Interesse, das dieser allen wahrhaft Grossen in Wissenschaft und Kunst entgegenbrachte, ist dies sicher auch so gewesen." - Vgl. auch die Schilderung bei Hermann Uhde-Bernays: "Von einer Audienz, die er [= Michael Bernays, M.B.] vor Jahren bei dem Herrscher gehabt, erzählte er ausführlich und begeistert. Ludwig hatte sich das Manuskript eines von Bernays in Wien gehaltenen Vortrages ausgebeten und auf die Antwort, der Vortrag sei frei gehalten worden, eine Abendstunde angesetzt, um sich ihn wiederholen zu lassen." (Uhde-Bernays 1947, S.42) 14'
202
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Einladungen nach Bayreuth schrieb Bernays enthusiastische Briefe an das befreundete Ehepaar Uhde, die seine Faszination für Wagner widerspiegeln: "Alles, was Wagner im lebendigen Wort ergreift, wird ihm zum Anlaß, sein eigenes Wesen mit beispielloser Unbefangenheit zu enthüllen. Er richtet seinen Blick oft nur auf e i n e Seite des Gegenstandes, auf diejenige, durch welche derselbe zu ihm in irgendeine Beziehung tritt, aber dieser Blick ist von solcher Schärfe, daß er von dieser einen Seite aus in das Innere des Gegenstandes dringt, ihn d u r c h dringt und so (ein gewagtes Bild) auf der andern Seite wieder herauskommt. Wie Wagners Schriften, so auch sein Gespräch: selbst seine vermessensten Extravaganzen rühren an das Wahre. Bei aller Ausgelassenheit geht ein großer unerbittlicher Ernst als Grundzug durch sein Wesen; was er an andern schätzt, ist auch vornehmlich der Ernst, mit welchem diese ihre Lebensaufgabe erfassen." 532 Nur noch Mozart und Beethoven vermochten neben Wagner zu bestehen, dessen "Siegfried" ihm über alles ging. 533 Höhepunkte in der persönlichen Begegnung bildeten die Treffen, bei denen Wagner aus seinem Werk "Parzival" vorspielte und vorlas und Bernays seinerseits aus Goethes Dichtungen rezitierte. 534 Nach Wagners Tod feierte der Universitätslehrer den Komponisten vor seinen Studenten in einem Nekrolog, "der zu dem würdigsten und Besten gehört, was über Wagner gesagt worden ist." 5 3 5 Wenn sich Bernays in der Wagner-Begeisterung mit Ludwig II. eins wußte, gingen ihre politischen Anschauungen doch weit auseinander. Während der bayerische Monarch nur widerstrebend sein Ja zu einem Deutschen Reich unter preußischer Federführung gab, demonstrierte Bernays wiederholt Kaiserund Preußentreue: "Die einfachen Worte weltgeschichtlichen Inhalts, die unser Kaiser sprach, haben auch mich bewegt und erfreut. In seiner ganzen Persönlichkeit, in allem seinem Thun und Reden verkörpert sich der Geist, der seit zwei Jahrhunderten in den besten Ele-
532 Bernays 1907, S.33, Bernays an H. Uhde u. Frau, 21.10.1877. - Bernays heiratete später die Witwe von Hermann Uhde, Louise. Die gemeinsame Tochter Marie engagierte sich später als DVP-Landtagsabgeordnete für soziale Fragen und in der Frauenbewegung (vgl. Badische Biographien N.F. 2 [1987], S.38f.). Der Sohn Ulrich, von Beruf Pädagoge, wurde im Dritten Reich wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgt (vgl. ebd., N.F. 1 [1982], S.46ff.). 533 Zu Beethoven vgl. ebd., S.66, Bernays an H. Uhde u. Frau, 7.8.1879. - Von Bernays stammt auch ein "Verbindender Text für Beethovens Musik zu Goethe's Egmont" (vgl. Bernays 1864; vgl. auch weiter unten). - Zum "Siegfried" vgl. ebd., S.71, Bernays an H. Uhde u. Frau, 15.8.1879. 534 Vgl. ebd., S.28f., Bernays an H. Uhde u. Frau, 18.10.1877, und S.34, Bernays an dies., 24.10.1877. 535 Petzet 1898, S.346. - Allg. zur Wagner-Rezeption im 19. Jahrhundert vgl. Müller 1984.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
203
menten Preußens waltet, der Deutschland erstarken, und, wenigstens, in äußerer Verbindung, einig werden ließ." 536 Aufmerksam beobachtete der Wissenschaftler die politischen Vorgänge seiner Zeit, in der er vom Liberalismus die größte Gefahr ausgehen sah: "Ohne mir das zweifelhafte Recht eines politischen Propheten anmaßen zu wollen, spreche ich die Ueberzeugung aus, daß wir an einen weltgeschichtlichen Wendepunct gelangt sind. Es muß sich in den nächsten Jahren entscheiden, ob Europa noch im Stande ist, sich von der dumpfen Despotie zu befreien, mit welcher seit der französischen Revolution der Codex des Liberalismus es beherrscht hat, als es irgend eine andere Tyrannei, die der römischen Kirche ausgenommen, je vermochte." 537 Als ähnlich bedrohlich stufte er die sozialistische Bewegung ein, die sogar vor den Hochschullehrern nicht Halt gemacht habe. 538 Letztendlich hoffte er jedoch auf den Triumph der Konservativen. 539 Bernays' "vaterländische Gesinnung", die sich in der tiefen Verehrung für Preußen manifestierte, stand in engem Zusammenhang mit seiner religiösen Überzeugung. 540 Von einem "geistig wieder geborenen Christenthum" erwartete er sich einen Ausweg aus der schwierigen politischen Situation. 541 Konkret meinte er damit den Protestantismus, zu dem er am 21. August 1856 konvertiert war. 5 4 2 Das hatte zum Bruch mit seinem Vater geführt, der als Ober536
Bernays 1907, S.16f., Bernays an H. Uhde u. Frau, 27.2.1877. - Vgl. auch die Briefe vom 4. und 8.6.1878, in denen er seinen Abscheu über die Attentate auf Wilhelm I. ausdrückte (S.40-43). - Zu Ludwig II. vgl. Hüttl 1986, S. 163-190. 537 Ebd., S.42, Bernays an H. Uhde u. Frau, 8.6.1878, auch in Kobler 1984, S.295f. 538 "Ohne Scheu durfte man vor den sehenden Augen des Staates die Grundfesten des Staates untergraben, die deutsche Wissenschaft, der es hier einmal wieder an dem einfach gesunden Menschensinn gefehlt, hat sich in harmloser Dummheit an diesem Verbrechen betheiligt (ich kenne die Kathedersocialisten); [...]" (ebd., S.43). "Kathedersozialisten" ist die polemische Bezeichnung für den 1872 gegründeten "Verein für Sozialpolitik", der hauptsächlich von Professoren getragen wurde und sich für eine Reform der sozialen Verhältnisse aussprach. Seine exponiertesten Vertreter waren Gustav von Schmoller, Lujo Brentano und Adolf Wagner. Ihre Namen stehen auch für unterschiedliche Strömungen innerhalb dieser Reformergruppe (vgl. Nipperdey 1990, S.336). 539 Vgl. ebd., S.l7, Bernays an H. Uhde u. Frau, 27.2.1877. 540 Nach einem Semester in München dachte Bernays bereits, "mein eigenthlicher Platz sei an einer preußischen Universität [...]" (ILK, XII.VII, Nov. 1873). 541 Ebd., S.41, Bernays an H. Uhde u. Frau, 4.6.1878. 542 Die Konversion geschah unter dem Einfluß von Henriette Feuerbach, die Bernays zeitlebens eine mütterliche Freundin war: "Sie haben mir gesagt, ich möge Sie wie meinen Sohn halten, das will ich thun, so lange ich lebe." (ebd., S.l36, H. Feuerbach an Bernays, 10.9. [1856]) - Bernays war damit wohl der erste Germanistik-Ordinarius jüdischer Herkunft in Deutschland (vgl. die Übersicht über jüdische Germani-
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
rabbiner ein streng orthodoxes Judentum vertreten hatte. Der ehemalige Jude Michael Bernays gab sich bei einem Besuch in Nürnberg sogar ausgesprochen antisemitisch: "Die Statue des Dichters [= Hans Sachs, M.B.] in der Nähe giebt auch der Phantasie nur wenig Anregung, unmittelbar daneben dräut die Synagoge, in frechem Schimmer prunkend, ganz dazu geeignet, daß Abrahams Söhne hier ihren Geld- und Klugheit spendenden Gott verherrlichen. Man begreift Wagners Wuth vollkommen."543 Den Protestantismus sah er zudem vor allem im Kampf gegen die "römische Weltherrschaft". 544 Damit spielte er auf den sogenannten Kulturkampf an, in dem seit etwa 1870 Staat, Parteien und katholische Kirche ihre Einflußbereiche neu auszuloten suchten. 545 Daß Bernays im katholischen Bayern einer Minderheit angehörte, zeigt seine Weigerung, öffentlich einen Vortrag über Luther zu halten: "Man muß den hiesigen Verhältnissen sehr nahe stehen, um zu begreifen, daß ich, der sonst mit dem Bekenntniß seiner Gesinnungen offen herauszugehen pflegt, diesmal im Hinblick auf meine Stellung und die damit verbundene ungehemmte Wirksamkeit einer so lockenden Aufforderung widerstand. Aber ich widerstand mit schwerem Herzen." 546 Das Andenken an Luther pflegte Bernays in einer Vorlesung im Wintersemester 1877/78. Ein Brief an Hermann Uhde und seine Frau verdeutlicht Bernays' Bewunderung für "den theuren Mann Gottes": "In Luther bricht nun die Macht des deutschen religiösen Gewissens ungezügelt hervor; die höchste geistige Thatkraft vereint sich mit dem reichsten schriftstellerischen Vermögen, um die Welt in schütternde Bewegung zu bringen. Es ist schwer, würdig über Luther vor Solchen zu reden, die nicht unmittelbar mit ihm verkehrt haben. Ich werde in den Vorlesungen natürlich meist nur den Schriftsteller heraustreten lassen; wenigstens soll der Sturmwind seines Wortes mächtig einherfahren." 547
sten in Deutschland in Goldschmidt 21959, S.342-348. - Zum selben Thema vgl. auch Toury 1977, S.196f.). Noch bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts war ungetauften Juden der Zutritt zu Universitätsämtern verschlossen (vgl. Nipperdey 1983, S.479). Vielleicht läßt sich Bernays' Konversion auch mit - aber sicher nicht nur - beruflichen Zielen erklären. 543 Ebd., S.21f., Bernays an H. Uhde u. Frau, 16.10.1877. - Franz Kobler spricht bei Bernays von einer "bis zur Leidenschaft gesteigerten Abneigung gegen jüdischen Glauben und jüdisches Wesen" (Kobler 1984, S.294). 544 Vgl. ebd., S.59., Bernays an H. Uhde u. Frau, 3.3.1879. 545 Zum Kulturkampf in Bayern vgl. Kraus 1983, S.561-573. 546 Bernays 1907, S.90, Bernays an Jakob Baechtold, 31.12.1883. 547 Ebd., S.37 und 38f., 1.3.1878.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
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Den Reformator behandelte Bernays außer in der Vorlesung "Mittelalter. Reformation" vermutlich auch innerhalb seiner Vorlesung "Geschichte der neueren deutschen Literatur", die so oder ähnlich formuliert nahezu in jedem Semester auf seinem Programm stand. 548 Dabei setzte er oft Schwerpunkte bei einem Dichter oder einem bestimmten Zeitraum. 549 Mit Vorliebe konzentrierte er sich auf das 18. Jahrhundert, und zwar über mehrere Semester hinweg. 550 Sein Schüler Heinrich Wölfflin stellte fest: "Im Kolleg behandelte er den Stoff mit größter Breite. Vorlesungen über das 18. Jahrhundert zogen sich durch Semester durch." 551 Die Tendenz zur Ausführlichkeit belegen auch eigene Aussagen des Professors: "sieben Stunden" widmete er Goethes Epos "Hermann und Dorothea"; vier Stunden las er über Erasmus, über Hutten "sechs ganze Stunden". 552 Die Liebe zum Detail, durch die sich erst recht seine Veröffentlichungen auszeichneten, stand in engem Zusammenhang mit seiner prinzipiellen wissenschaftlichen Vorgehensweise, die der induktiven Methode nahekam: "Erste Vorlesungen gelingen mir fast nie, ich bin immer ungeschickt in der Behandlung des Allgemeinen, ich kann nur vom Einzelnen zum Allgemeinen aufsteigen, und das beste derartige, das ich geben kann, sind gewiß kurze allgemeine zusammenfassende Betrachtungen, die mir unwillkürlich und unmittelbar aus der Darstellung des Einzelnen hervorgehen." 553 Weitere Schwerpunkte in Vorlesungen und Kollegien, von denen er durchschnittlich drei pro Semester anzukündigen pflegte, bildeten einzelne Dichter bzw. einzelne Dichtungen. Eindeutig bevorzugte er Schiller und Goethe, über die er fast ununterbrochen während seiner Münchner Zeit las: In insgesamt 40 Veranstaltungstiteln tauchen ihre Namen oder Werke auf.
548
Vgl. ILK, IV.I Mittelalter. Reformation, Luther: S.99-106. Z.B. "Geschichte der deutschen Literatur: Goethe" (WS 1879/80 und 1882/83) oder "Geschichte der deutschen Literatur von Schiller's Tode bis zu Goethe's Tode, mit besonderer Rücksicht auf die romantische Schule" (1880/81). 550 Insgesamt 11 Vorlesungen über das 18. Jahrhundert. 551 Wölfflin 1946, S.l93. 552 Bernays 1907, S.12, Bernays an H. Uhde u. Frau, 16.1.1877; vgl. auch die Aufzeichnungen über die Vorlesungen im Nachlaß (ILK, XII.VII). - Bernays 1907, S.37, Bernays an H. Uhde u. Frau, 1.3.1878. 553 Bernays 1907, S.78, Bernays an H. Uhde u. Frau, 6.11.1879. - Im Mißlingen der ersten Vorlesungen ist vielleicht der Grund zu sehen, daß sich Bernays ein vollständiges Konzept für die Anfangs- und die Schlußvorlesung erarbeitete. Die übrigen Aufzeichnungen bestehen demgegenüber nur aus Stoffsammlungen wie z.B. Briefund Werkzitaten (vgl. z.B. ILK, V.V Schiller und Goethe, V.VI Goethe, IV.III Goethe und Schiller). Ob Bernays sich allerdings wirklich an den Entwurf gehalten hat, bleibt offen. - Zu Bernays' Veröffentlichungen vgl. weiter unten. 549
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Dasselbe gilt für den englischen Dramatiker William Shakespeare, der kontinuierlich zum Bernaysschen Vorlesungs-Repertoire gehörte. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob Bernays eher Anglist als Germanist gewesen war. Andererseits gibt es spezifisch romanistische Vorlesungen wie z.B. "Erklärung eines Dramas von Corneille" (WS 1873/74) oder "Erklärung von Racines Britannicus" (SS 1874). Eine weitere Seite seines umfangreichen Wissens dokumentierte eine Ankündigung aus dem WS 1883/84: "Goethe's Iphigenie in ihren verschiedenen Bearbeitungen, mit besonderer Rücksicht auf die antike Tragödie". Seine Kenntnisse über die Antike verdankte Bernays dem Studium der Klassischen Philologie in Bonn und Heidelberg. 554 Wie er einmal selbst bekannte, bildeten Homer und Vergil noch später eine Lieblingslektüre. 555 Der weite Umfang des Bernaysschen Themenkatalogs entsprach jedoch nicht nur seinen persönlichen Vorlieben, sondern spiegelte vor allem seine wissenschaftliche Zielsetzung wider. Sein Schüler Max Koch sah sie darin, "die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen neueren, zwischen neuer und altklassischer Literatur aufzuhellen": "Die Gesammtheit aller Literaturen, die Weltliteratur, deren Bild Herder und Goethe als Ziel aufgestellt hatten, wollte er umspannen. Nur aus der vergleichenden Geschichte aller Literaturen glaubte er die Entwickelungsgeschichte der einzelnen darstellen zu können."556 Damit findet sich in Bernays' Lehrtätigkeit ein ausgeprägt komparatistisches Moment, wie es auch für Konrad Hofmann als Vertreter der älteren deutschen Philologie charakteristisch war. 557 Als konkretes Beispiel nennt Max Koch die Vorlesungen über Shakespeare, die Bernays "stets mit einem Ueberblick der Beurtheilung des englischen Dramatikers in Frankreich und Deutschland eingeleitet" hatte. 558 Sein Bibliothekszeichen symbolisiert nach außen hin die Verbindung von Klassischer und neuerer deutscher Philologie: der Kopf von
554
Vgl. weiter oben. "Mit Wonne lese ich Homer und Virgil [sie!]. Es macht mich jedesmal jung im Geiste, wenn ich wieder einige Tage mit den Alten verkehren kann; ich komme mir in dieser Gesellschaft sehr vornehm vor. [...] Ich glaube, daß ich einen richtigen Sinn für Virgil besitze. [...] Am Homer habe ich mein gründliches Entzücken, wann und wo ich ihn aufschlage; er ist noch immer meine alte und neue Wonne." (Bernays 1907, S.50f., Bernays an H. Uhde u. Frau, 3.8.1878) 556 Koch, Michael Bernays, 1897, S.262f. 557 Vgl. Kap. 3.2.3. 558 Koch, Michael Bernays, 1897, S.263. 555
3.4. Die neuere deutsche Philologie
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Goethe und der Kopf von Homer. 559 Sie kehrt auch wieder bei seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen. 560 Nach seinem Vorlesungsprogramm tritt Bernays als reiner Literaturwissenschaftler in dem Sinn auf, daß er keine einzige spezifisch sprachwissenschaftliche Veranstaltung anbot. Die Mediävistik berührte er nur ausnahmsweise, wenn er z.B. die "Geschichte der älteren deutschen Literatur bis zum Ausgange des Mittelalters" (SS 1881) vorstellte. 561 Im WS 1877/78 schickte er im Kolleg "eine ausführliche Uebersicht der mittelalterlichen" voran, die zum Verständnis der neueren Poesie unabdingbar sei: "Mich leitete bei diesem Entschluß sowohl meine eigene Neigung wie die Rücksicht auf die hiesigen Verhältnisse, denn leider wird den jugendlichen Litterarhistorikern hier die Gelegenheit zur Erwerbung einer umfassenden Kenntniß der Litteratur des Mittelalters nicht geboten, und die vornehmsten Erscheinungen derselben sind mir für immer lieb und vertraut geblieben, ja, nur aus der Einsicht in das Wesen jener Zeiten kann ein tieferes Verständnis der neueren Poesie hervorgehen." 562 Im Blick auf "die hiesigen Verhältnisse" manifestiert sich massive Kritik am zuständigen Fachvertreter. Da sich Konrad Hofmann tatsächlich mehr der sprachlichen als der literaturgeschichtlichen Seite der alt- und mittelhochdeutschen Literatur zuwandte, erscheint sie nicht ganz unberechtigt. 563 Eine konkrete Vorstellung, wie Bernays Literaturgeschichte vermittelte, gibt ein Brief an das Ehepaar Uhde vom 5. Januar 1877. Innerhalb seiner Vorlesung - vermutlich "Geschichte der deutschen Literatur zur Zeit der Verbindung Goethe's und Schiller's" - behandelte er Goethes Epos "Hermann und Dorothea": "Meiner Methode gemäß lehnte ich die eigentlich aesthetische Betrachtung ab und suchte nur zu erklären, wie das fertige Werk auf die ersten der Zeitgenossen, vor allen auf Schiller, den befugtesten und strengsten Richter, wirkte und wirken mußte. Darnach begann ich, das Werk vor den Zuhörern entstehen zu lassen, indem ich die geschichtlichen Bedingungen vorführte, unter denen es sich bildete."564
559 Petzet 1897, S.350. 560 ygi w e i t e r unten. 561
Vgl. auch im WS 1883/84: "Geschichte der deutschen Literatur vom Ausgange des Mittelalters, nebst einleitender Übersicht der älteren Literatur" (ähnlich auch im SS 1877). 562 ILK, XII.VII 1877 Winter, S.95. 563 Vgl. Kap. 3.2.3. 564 Bernays 1907, S.ll. - Ähnlich an anderer Stelle: "Sieben Stunden habe ich im Ganzen diesem Wunderwerk gewidmet, das bei jeder erneuter Betrachtung ungeahnte Abgründe der Kunst eröffnet. Doch habe ich die eigentlich ästhetische Betrachtungsweise standhaft abgelehnt und mich überall entschieden nur als darstellender und
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In die heutige Terminologie übersetzt befaßte sich Bernays mit der Rezeptions- und Textgeschichte, letztere als Entstehungsgeschichte verstanden. 565 Diese Beobachtung läßt sich auch gut an seinem Vorlesungsheft "Schiller und Goethe" machen. 566 Einleitend definierte Bernays zwar kurz, aber präzise seine Methode: "Unsere Behandlung des Stoffes ist philologisch historisch]. Das Werden wird dargestellt." (S.53) Der weitere Aufbau der Vorlesung ist durch die einzelnen Dichtungen bestimmt, ergänzt durch "Biographisches" zu Schiller und Goethe (vgl. Inhaltsübersicht). Die Behandlung von Schillers "Jungfrau von Orleans" zeigt hier exemplarisch, daß Bernays vor allem anhand von Briefauszügen Schillers an diverse Partner (Körner, Goethe) die Entstehung und den Entwicklungsgang der Tragödie nachvollzog. Das Drama selbst wurde offenbar nicht erörtert oder interpretiert. Vermutlich streute Bernays aber längere Zitate ein, wie es seinem allgemeinen Vorlesungsstil entsprach. 567 Insgesamt gilt tatsächlich: Das "Werden", aber nicht das "Ist" der Dichtung, d.h. ihr Wesen, wird von Bernays untersucht. Daß Literatur für ihn trotzdem mehr beinhaltete als nur diese "materielle" Seite, zeigt eine Äußerung an anderer Stelle. Bernays' Literaturbegriff ist letztendlich mit "Ausdruck des Geistes" gleichzusetzen. Dabei unterschied er präzise zwischen der poetischen und der wissenschaftlichen Dimension von Sprache, an die Literatur gebunden ist: "Literatur des Volkes ist bewußte und unbewußte Selbstdarstellung des Geistes, der in diesem Volke waltet. Diese Selbstdarstellung vollzieht sich durch das in Schrift festgehaltene Wort. Das Wort wird entweder zum Ausdrucksmittel für die dem Volke eingeborene künstlerische Kraft, für jenes Vermögen künstlerischen Schaffens, das, wer weiß wie lange vor dem Gebrauche der Schrift, in der Menschheit vorhanden war und sich äusserte - anders ausgedrückt: das Wort wird poetisch bildend und gestaltend, es wendet sich an unsere Anschauung und Empfindung - oder es dient dem gleichfalls in der Menschheit unvertilgbar mächtigen Forschungs- u. Wissenstrieb, es wird lehrend, es wendet sich an Verstand und Vernunft." 568
entwickelnder Historiker verhalten." (ebd., S.l2, Bernays an H. Uhde u. Frau, 16.1.1877) 565 Insbesondere der zweite Aspekt, die Textgenese, berührte eines der Hauptgebiete des Forschers: Bernays gilt als einer der Vorreiter einer textkritischen Behandlung neuerer deutscher Dichtung (vgl. weiter unten). 566 Vgl. ILK, V.V. - Seitenangaben ab sofort im Text. 567 Vgl. weiter unten. 568 ILK, IV.VI Vorlesungen im Winter 1888/89: Beginn des 19. Jahrhunderts, S.l.
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Sein Schüler Georg Witkowski zeichnete ein detailgetreues Bild seines Lehrers im Hörsaal. Es trägt die Züge eines Mannes, der sich seiner Würde und seiner Position voll bewußt ist und diese auch ausnützt. Da es der Realität ziemlich nahekommen dürfte, soll es ausführlich zitiert werden: "Stets betrat er zu derselben Stunde, um vier Uhr nachmittags, das Auditorium, ernst schritt er an den Reihen der Zuhörer, die sich aus allen Fakultäten und zahlreichen älteren Männern zusammensetzten, vorüber, hochaufgerichtet, den Kopf sinnend zur Erde gesenkt. Auf dem Katheder eine längere Pause der Sammlung, dann heftete er das Auge auf die Anwesenden, und in gewaltigem Pathos ergoß sich die frei dahinströmende, bis ins feinste Detail durchciselierte Rede. Man fühlte es: der Mann da oben war von der Würde und der Bedeutung seines Gegenstandes und - seiner Person ganz erfüllt, jede Unterbrechung erschien ihm als Entweihung und Beleidigung, die er sofort durch Verstummen rügte. Es lag über ihm, während er sprach, wie die Weihe eines Priestertums; das bezeugte das Gewicht, mit dem er auch das scheinbar Nebensächliche vortrug, der predigtartige getragene Ton und die Lebhaftigkeit der Gestikulation, die über das sonst auf deutschen Kathedern übliche Maß weit hinausging. Mit diesen Mitteln senkte er seinen Zuhörern eine Menge von tiefen und großen Gedanken in die Seele, entzündete er jene Begeisterung in ihnen, von der er selbst erfüllt war, und führte ihnen die Bilder der Geisteshelden vor, wie sie riesengroß vor seinem Auge standen, nicht nur in beschreibender Darstellung, vor allem durch die reichlich eingeflochtenen Proben ihrer Werke, die er in unübertrefflicher Weise wiedergab." 569 Mit den letzten Worten spielt Koch auf das phänomenale Gedächtnis des Hochschullehrers an, das zahllose Dichtungen vollständig oder in Passagen speicherte. 570 Auf dem Katheder trat er als Rezitator auf, der "auch vieles durch den blosen Vortrag zu verdeutlichen (verstand), was keine kritische Ausführung hätte klar machen können." 571 Aus heutiger Sicht darf gefragt werden, ob "wahrhaft interpretierende Recitationen" wirklich eine umfassende Interpretation ersetzen können. 572 Vielmehr läßt sich der Eindruck nicht ganz leugnen, daß Bernays den Hörsaal auch als Forum zur Selbstdarstellung nutzte. 5 7 3 Erich Schmidt weist noch auf einen weiteren Nachteil hin, den Bernays' Belesenheit mit sich brachte: Anstatt ein eigenes Urteil in Worte zu fassen, was analytisches Denken voraussetzt, griff Bernays oft auf das zurück, was bereits andere vor ihm gesagt hatten: "Von Leuten, die der Tiefe und dem inneren Band dieses Vollbesitzes fern blieben, als Mnemotechniker angestaunt zu werden, mochte B. wol verdrießen, doch eine Ge569
Witkowski 1897, S.276. Vgl. auch Uhde 1897, S.19; Wölfflin 1946, S.192; Weimar 1976, S.331. 571 Petzet 1898, S.344. 572 Schmidt 1902, S.407. 573 Bereits Alfred Dove sprach vom "Selbstgefälligen" in Bernays' Auftreten vor den Studenten (vgl. Dove 1897, S.6). Ulrich Bernays bemüht sich wiederholt, diesen Eindruck zu verwischen (vgl. Bernays [1944]). 570
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fahr lag wirklich im unübersehbaren Reiche seiner Gedächtnismacht. Die Kraft barg eine Schwäche, denn Schopenhauer's Streitsatz, viel lesen heiße mit fremden Gedanken denken, traf hier doch so weit zu, daß B. durch den andringenden Schwall von Belegen und Vergleichen in der Selbständigkeit seiner Ideen und der Unbefangenheit eingeengt ward, daß er vor einem Problem, statt die eigene Meinung knapp und klar zu äußern, eher herbeizog, was etwa Humboldt oder Pascal oder Gibbon Verwandtes boten, daß er darum auch am dichterischen Schaffen der Gegenwart nur spärlich teilnahm."574 Dennoch wirkte Bernays an der L M U wie ein Magnet: er zog Dutzende von Hörern an. Seine Schilderung der Zustände im Hörsaal weckt Assoziationen an die überfüllte Universität der Gegenwart: "Gottlob, die erste Vorlesung überstanden! Und auch für meine Zuhörer gilt das 'überstanden', und zwar zum Theil im eigentlichsten Sinn. Denn den ganzen Hörsaal hindurch und zu beiden Seiten des Katheders standen sie dichtgedrängt."575 Für Heinrich Wölfflin, der bei ihm im Nebenfach hörte, gehörte Bernays zu den führenden Dozenten seiner Zeit: "Wer in den achtziger Jahren in München Student war, kennt den Namen Bernays. Er war der Universitätslehrer, von dem man überall sprach, den jeder einmal gehört haben mußte."576 Auch wenn sich Bernays der Bedeutung der Vorlesung als Unterrichtsform bewußt war, lehnte er den Begriff "Vorlesung" ab. 577 Er glaubte, daß das Kolleg mehr seinem persönlichen Naturell entspreche: "Keine Frage, dass ich dann das Beste und Meiste gebe, wenn aller äussere Apparat der sog. Vorlesung wegfällt." 578 Persönliche wissenschaftliche Anregungen gewann er allerdings nicht aus dem Kolleg, es gab ihm z.B. nur die "Gelegenheit, die ganze auf Lessing sich beziehende Litteratur noch einmal selbständig durchzuarbeiten." 579
574
Schmidt 1902, S.407. Bernays 1907, S.78, Bernays an H. Uhde u. Frau, 6.11.1879. 576 Wölfflin 1946, S.l92. 577 "[·•·] j e de einzelne Vorlesung ist in diesem Semester eine bestimmte und neue Aufgabe." (Bernays 1907, S.9, Bernays an H. Uhde u. Frau, 4.12.1876) - "Vorlesungen! Sie wissen, wie peinlich mir das Wort ist; wie wenig es sich für die wissenschaftlichen Mittheilungen ziemt, die allein vom Katheder herab statthaft sind. Nun gut, fügen wir uns der Sitte, durch welche diese Benennung nun einmal Geltung erlangt hat." (ILK, IV.III Goethe und Schiller, S.l) 578 Bernays in seinem Tagebuch, zit. nach: Petzet 1898, S.344. 579 ILK, XII.VII, 24.6.1874. 575
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Die Seminarübungen hielt er in seiner eigenen Bibliothek ab, die er auch für seine Studenten öffnete. 580 Seiner "Freude an Büchern" war es zu verdanken, daß die Bernayssche Privatbibliothek "die kostbarste Privatsammlung dieser Art in Deutschland" bildete, die viele Zimmer seines Karlsruher Hauses füllte. 581 Im Seminar gewann er den Kontakt zu seinen Studenten, der auch jenseits des Universitätsbetriebs anhielt. Während einer Reise nach Franken im Herbst 1877 besuchte er die Familie seines Schülers Franz Muncker in Bayreuth, die ihn "mit rührender Herzlichkeit empfangen" hat. 582 Mit zahlreichen Schülern stand er in regem Briefwechsel, der jedoch größtenteils noch unveröffentlicht ist. 5 8 3 Eine Ausnahme stellt die Korrespondenz mit Heinrich Wölfflin dar, die Walther Rehm 1960 publizierte. 584 Immer wieder versicherte der Lehrer mit pathetischen Worten Wölfflin seiner Freundschaft und ging schließlich sogar zum Du über: "Warst Du doch unter den Freunden, die in den spätem Jahren meiner Münchener Thätigkeit sich theilnehmend und strebend mir anschlossen und dabei ihre geistige Selbständigkeit unversehrt behaupteten - warst Du doch unter diesen mir einer der liebsten und theuersten! Du warst es und so wirst Du mir es bleiben. Das Leben mit
580
Zum Seminarort "Bibliothek" vgl. ebd. - Zum freien Zugang für Studenten vgl. Witkowski 1897, S.276f. 581 Bernays 1907, S.57, Bernays an H. Uhde u. Frau, 5.11.1878. - Witkowski 1897, S.276f. - "Der Vorplatz faßt die lateinische und griechische Abteilung. In den Zimmern zur linken Hand sind Theologie, Zeitungen und Broschüren angehäuft. Rechts in den drei Vorzimmern befinden sich der Reihe nach die englische, deutsche und französische Litteratur. Das deutsche Zimmer war sein Arbeitszimmer, im französischen stand der Flügel. Der Reiz dieser großen Büchersammlung lag nicht in der Anhäufung von allen bedeutenden Erscheinungen der Weltlitteratur und sehr seltenen Ausgaben vieler Werke, sondern in den lebendigen Beziehungen, die den Besitzer mit jedem einzelnen Bande verknüpften." (Reuß 1898, S.234) - Die Privatbibliothek befindet sich heute im Germanistischen Seminar, Bochum. 582 Bernays 1907, S.22, Bernays an H. Uhde u. Frau, 16.10.1877. - Bereits zu Ostern 1876 war von einem möglichen Besuch in Bayreuth die Rede (vgl. ILK, XXXIII.I, Bernays an Muncker, 7.4.1876). Aus Bernays' Antwort entsteht der Eindruck, daß er seinen Besuch bei Munckers von einem Treffen mit Richard Wagner abhängig machte. Erst nachdem er die Einladung des Komponisten erhalten hatte, sagte er zu (vgl. ebd., Muncker an Bernays, 10.4.1876, und Bernays an Muncker, 12.4.1876). 583 Vgl. ebd., S.XIf. - Vgl. auch das Nachlaßverzeichnis (ILK). 584 Vgl. Bernays 1960. - Es handelt sich um insgesamt 14 Briefe aus den Jahren 1885 - Wölfflin war für ein Semester nach Berlin gegangen - bis 1893, also lange nach Wölfflins Doktorexamen im Juli 1886.
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seinem Wechsel und Wandel kann uns auseinanderhalten: nie kann es mich Dir entfremden." 585 An anderer Stelle zeigte sich Bernays als wissenschaftlicher Anreger und Förderer, indem er ihn eindringlich bat, das geplante Projekt über Salomon Geßner zum Abschluß zu bringen: "Ihren Geßner haben Sie also in Rom nicht ganz in den Winkel gestellt. Sie dürfen ihn auch fernerhin keineswegs aus den Augen verlieren; - oder vielmehr Sie dürfen sich die Arbeit nicht entgehen, sie sich von keinem andern vorwegnehmen lassen. Ist es Ihnen ein Ansporn zur Weiterführung des gut Begonnenen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie durch die Vollendung mir persönlich eine Herzens- und Geistesfreude bereiten werden." 586 Der Schülerkreis, den Michael Bernays um sich bildete, wies weitere bekannte Namen auf: Max Koch, Heinrich Welti, Karl Borinski, Roman Woerner und Georg Witkowski haben bei ihm in deutscher Literaturgeschichte promoviert. 587 Den Anfang hatte Franz Muncker gemacht, der die erste Münchner Dissertation aus der deutschen Philologie überhaupt vorgelegt hatte. Denn erst Bernays hatte sich dafür eingesetzt, sie zum Promotionsfach zu erheben. 588 In diesem Schritt sah Bernays allerdings wohl mehr seinen eigenen Erfolg als den seines Schülers, denn in seinem Tagebuch notierte er: "Der gestrige Tag war nicht ganz unwichtig für mich. Muncker hat, nachdem er mir noch eine umfangreiche Abhandlung über die ersten Wirkungen des Messias vorgelegt, gestern sein schweres Doctor-Examen (Litteraturgeschichte, altdeutsch, altfranzösisch, griechische Tragiker) glanzvoll, ja zum Erstaunen der Professoren bestanden. Der Vertreter der classischen Philologie wünschte mir Glück." 589
585
Bernays 1960, S.123, Bernays an H. Wölfflin, 18.3.1893. - Vgl. auch den Brief vom 22.12.1886: "[...] da ich fühlte und fühle, daß unter den Jüngeren, die mir als Genossen gelten, Sie mir der theuersten und liebsten einer waren und sind." (S.l 14) 586 Ebd., S.l 14, Bernays an H. Wölfflin, 22.12.1886. - 1889 erschien Wölfflins Buch über den Schweizer Dichter unter dem Titel "Salomon Geßner. Mit ungedruckten Briefen". 587 Zu Koch vgl. UAM Ο I 59p; zu Welti vgl. UAM Ο I 63p. - Seinem ehemaligen Lehrer widmete Welti seine "Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung", die später aus seiner Dissertation hervorging (vgl. Welti 1884).. - Zu Borinski vgl. UAM Ο I 65p. - Zu Woerner vgl. UAM Ο I 65p. - Zu Witkowski vgl. UAM Ο I 66p. - Sein Lieblingsschüler soll aber Julius Elias gewesen sein, "der einzige, der im Doktorexamen die Note eins mit Stern erhalten hatte" (Uhde-Bernays 1952, S.l88 - zu Elias' Promotion vgl. UAM Ο I 68p). 588 Vgl. Kap. 2.2.3.4. und 3.4.2. 589 ILK, XII.VII, 2.12.1877.
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Besonders beeindruckt zeigte sich Bernays von der Arbeit über "Novalis' Hymnen an die Nacht und Geistliche Lieder", dessen Thema Woerner gegen den Widerstand seines Lehrers gewählt hatte: "Als Herr Woerner mir vor längerer Zeit seine Absicht mittheilte, Hardenbergs Leben und Dichten zum Gegenstand seiner Dissertation zu wählen, äußerte ich mancherlei Bedenken. Ich gab den Wunsch zu erkennen, er möchte der bei uns herrschenden Sitte gemäß, seinen Stoff aus einer früheren Periode unserer Literatur herausgreifen. Offen gestanden, erschien mir auch Novalis nicht eben als der schicklichste Geistesgenoß für einen jungen Mann, der sich zum Philologen und Literarhistoriker ausbilden will. Trotz meiner Abmahnung beharrte Herr Woerner bei seinem Plan. Er glaubte, gerade in der Behandlung des so vielfach mißdeuteten Novalis etwas Selbständiges leisten zu können."590 Eben diese Selbständigkeit rühmte Bernays sogar in einem Brief an Heinrich Wölfflin. 5 9 1 In diesem Sinn ist eine Äußerung von Georg Witkowski zu verstehen, der seinen Lehrer nicht an der Spitze einer wissenschaftlichen Schule sah: "Dabei ließ er die geistige Freiheit eines jeden unangetastet; er suchte nicht eine Partei, eine Schule zu bilden [,..]" 592 Als Begründer einer eigenen wissenschaftlichen Richtung kann Bernays ohnehin nicht bezeichnet werden, da er mit seiner textkritischen Methode dem Vorbild Karl Lachmanns folgte. Seine Schüler wählten sich mit anderen Dichtern neue Forschungsbereiche. Vor allem Franz Muncker schien mit der Neubearbeitung der Lessing-Edition von 1838-1840 unmittelbarer an Lachmann anzuknüpfen als an Bernays. 593 Besonderes Augenmerk richtete Bernays daneben auf die sprachliche Seite der unter seiner Aufsicht angefertigten Dissertationen. "Kleine Mängel und Versehen" wünschte er vor der Drucklegung ausgemerzt zu sehen. 594 Diese Kritik zeigt, daß er dem Stil einer fremden wissenschaftlichen Arbeit genausoviel Aufmerksamkeit zuwandte, wie es für seine eigenen zu beobachten ist. 5 9 5
590
Vgl. UAM Ο I 65p Woerner, Gutachten Bernays, 30.5.1885. Vgl. Bernays 1960, S.107f., Bernays an H. Wölfflin, 11.6.1885. - Auch hat Bernays in seinem Gutachten ausdrücklich hervorgehoben, "daß ich mich eines jeglichen Einflußes auf Anlage und Ausführung der Arbeit streng enthalten habe." (UAM Ο I 65p, Woerner, Gutachten Bernays, 30.5.1885) 592 Witkowski 1897, S.XXX. 593 Vgl. Kap. 3.4.2. 594 Vgl. UAM Ο I 68p Elias, Gutachten Bernays, 30.1.1888. 595 Vgl. weiter unten. 591
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Als weniger erfreulich stufte Bernays die mündlichen Prüfungen ein, die er offenbar als Last empfand: "Seit dem vierzehnten Oktober bin ich täglich von neun bis sieben Uhr an den Richtertisch gefesselt, an dem mir gegenüber ängstliche Candidaten erscheinen, deren Wissen oder Nichtwissen ich durch weise Prüfung ans Licht bringen muß. Nach Beendigung einer solchen täglichen Forschungsarbeit, deren Ertrag oft recht kärglich ausfällt, sind Geist und Körper zur Ruhe gezwungen."596 Daß Bernays auch Nebenfachkandidaten mit sehr detaillierten Fragen konfrontierte, zeigen die "Erinnerungen" von Heinrich Wölfflin an sein Examen. Der Professor wollte wissen, "warum Schiller den Wallenstein in fünffüßigen Jamben geschrieben habe?" An diesem Punkt mußte der Prüfling passen, bestand aber trotzdem das examen rigorsoum auch in diesem Fach mit der Note Eins. 597 Von 1877 bis 1890 betreute der Ordinarius für deutsche Literaturgeschichte insgesamt neun Dissertationen. 598 Auch wenn diese Anzahl einem Vergleich mit dem 20. Jahrhundert nicht standhalten kann, läßt sich ein gravierender Unterschied zur älteren deutschen Philologie feststellen: Im selben Zeitraum entstand bei Konrad Hofmann eine einzige Doktorarbeit. 599 Dieser Befund dürfte in erster Linie auf die Person von Michael Bernays zurückzuführen sein, der seinen Studenten mehr entgegenkam als Hofmann. 600 Gleichzeitig verweist er auf die Attraktivität des Fachs "Deutsche Literaturgeschichte", das sich - obwohl erst seit relativ kurzer Zeit im Hochschulkanon vertreten - bereits einen festen Platz erobert hatte. Etwas anders sieht es aus, wenn man die nächste Stufe der wissenschaftlichen Graduierung betrachtet: Unter Bernays erlangte nur Franz Muncker die Zulassung zum Privatdozenten. 601 Von den ehemaligen Doktoranden habilitierten sich zwar auch Karl Borinski und Roman Woerner, jedoch erst nach Bernays' Rückzug von der Hochschule. 602 Für den Seminarbetrieb hieß das, daß der Ordinarius für die neuere deutsche Philologie bis 1879 sein Fachge-
596
Bernays 1907, S.7, Bernays an H. Uhde u. Frau, 26.10.1876. Vgl. Rehm 1960, S.6f. 598 Vgl. Tab. 2. - Bernays war zwar bereits seit 1873 an der LMU, doch erst 1877 entstand unter seiner Leitung die erste Dissertation aus der Deutschen Philologie (vgl. weiter oben). 599 Vgl. ebd. und Kap. 3.2.3. 600 Ygi w e i t e r oben und Kap. 3.2.3. - Insbesondere die Korrespondenz mit Muncker und der Vergleich mit den Tagebüchern zeigt jedoch, daß das Verhältnis nicht unbedingt von Offenheit geprägt war (vgl. Kap. 3.4.2.). 601 Vgl. Kap. 2.2.3.4., 3.4.2. und Tab. 3. 602 Vgl. Tab. 3 und Kap. 2.4.1.1. 597
3.4. Die neuere deutsche Philologie
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biet allein vertrat. 603 Dies relativiert den Andrang in seinen Vorlesungen, erklärt aber noch nicht seine Faszination, die er zweifellos auf seine Hörer ausübte. Noch 1875 räumte Bernays seiner Unviersitätstätigkeit absolute Priorität ein, wenn er schrieb: "Das Katheder ist der Ort, wo ich mich am liebsten und am freisten mittheile, und den Pflichten des akademischen Lehrers müssen die Wünsche des Schriftstellers sich unbedingt unterordnen." 604 15 Jahre später nahm er Abschied von diesem Katheder, um lange gehegte wissenschaftliche Pläne zu realisieren. Wie es viele seiner Kollegen voraussahen, erfüllte sich diese Hoffnung nicht: Die größten Projekte kamen über die Planungsphase nicht hinaus. 605 Dazu gehörte in erster Linie ein Buch über "Homer in der Weltlitteratur", von dem bereits 1880 die Rede war: "Schon seit langem beschäftigt mich der Gedanke an eine Darstellung des Verhältnisses, in welchem Homer, als Vertreter des hellenischen Genius, zu den leitenden Litteraturen Europas steht."606 Vermutlich entstand dieser Plan im Zusammenhang mit der Neuauflage von Homers Odyssee in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß, die Bernays 1881 besorgte. 607 Verwirklicht wurde er jedoch nicht. Das gleiche gilt für ein Buch über den englischen Dichter William Wordsworth, für den er - eigenem Bekunden nach - "Propaganda von einem schreckenerregenden Charakter" machte. 608 Im Grunde kamen nur kleinere Abhandlungen zum Abschluß. Von der vierbändigen Reihe "Schriften zur Kritik und Literaturgeschichte" (18951899) erschien lediglich der erste zu Bernays' Lebzeiten; der zweite versammelt vor allem Beiträge, die bereits an anderer Stelle erschienen sind. Die relativ geringe Zahl an größeren Veröffentlichungen führte Erich Petzet auf eine persönliche Veranlagung des Literarhistorikers zurück:
603
Am 26.3.1879 wurde Franz Muncker zum Privatdozenten ernannt (vgl. Kap. 2.4.1.2.). 604 Zit. nach Petzet 1898, S.342f. 605 Zur Meinung der Kollegen vgl. Schmidt 1902, S.407. - Vgl. die Parallele bei Konrad Hofmann (vgl. Kap. 3.2.3.). 606 Ebd., S.l20, Bernays an Treitschke, 30.12.1880. - Den Titel schlug Paul Heyse vor, der Bernays "aber gar zu gewaltig vornehm (klang)" (Bernays 1907, S.84, Bernays an H. Uhde u. Frau, 28.1.1880). 607 Vgl. Bernays 1881. 608 Bernays 1907, S.213, Anm.29. - Das Zitat stammt aus dem Jahr 1889. Der Herausgeber gibt jedoch nicht an, ob es sich um einen Brief- oder einen Tagebuchauszug handelt. 15 Bonk
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"Sein ganzes Wesen drängte ihn zur Wirksamkeit mit dem gesprochenen, nicht dem geschriebenen Worte." 609 Entsprechend spät setzte Bernays' schriftstellerische Tätigkeit ein. 1866 veröffentlichte der 32jährige seine erste Monographie: "Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes". Insbesondere das Vorwort gibt wichtige Aufschlüsse über die generelle Zielsetzung und Methodik seiner wissenschaftlichen Arbeit und erhält so nahezu programmatischen Charakter. 610 Ausgehend von dem zunehmenden Bewußtsein, "daß der Text unserer classischen Dichterwerke sich in einem verwahrlosten Zustand befinde" (S.3), verweist Bernays auf den kritischen Bearbeiter der Werke von Schiller, Joachim Meyer. 611 Für Goethe sei jedoch bislang noch nichts geleistet worden. Diesen aber habe Bernays schon seit seiner Jugend unaufhörlich studiert und in ihm "einen erhabenen Freund, einen weisen Führer durch so manche Irrgänge des Lebens" (S.4) gefunden. Sich mit dem Dichter vollständig vertraut zu machen, sei eine unabdingbare Voraussetzung für den Philologen: "Wir erfahren, wie es in seinem Innern beschaffen ist; wir lernen aber auch den Ausdruck seiner Mienen kennen; Wort, Blick und Geberde wird uns vertraut; in der lieben Gewohnheit des fortdauernden Umgangs gewinnen wir einen Instinct, durch den wir unmittelbar empfinden, was dem Dichter gemäß sein mag, was ihm natürlich ansteht, und was ihm fremd, ungeziemend oder widerstrebend ist." (S.5) Die Betonung des intuitiven Moments erinnert an die Forderung des späteren Vertreters der älteren Abteilung, Carl von Kraus, die "Art des Dichters" zu kennen, um Textstellen als verderbt zu identifizieren. 612 Im Vergleich zu Kraus legte Bernays jedoch mehr Wert darauf, die intuitiv gewonnenen Ergebnisse nachprüfbar abzusichern. Als Ziel nennt er die "Klarheit sicherer Erkenntnis" (S.5), und dafür müssen die zwei Elemente "Empfindung" und "Einsicht" bzw. "Erkenntnis" Hand in Hand gehen. Die Wahrheit, die Zielpunkt jedes wissenschaftlichen Forschens sei, definiert der Philologe für sich als "d a s W o r t d e s A u t o r s , wie es aus seinem Munde, aus seiner Feder hervorgegangen. Daß diese unverändert erhalten bleibe, darüber hat die Kritik zu wachen." (S.6) Der Kritiker versteht sich demnach als "Anwalt des 609
Petzet 1898, S.341. - Vgl. das Schriftenverzeichnis von Bernays (Witkowski
1898). 610
Vgl. Bernays 1866, S.3-9. - Diese Seiten tragen keine Überschrift, die Bezeichnung "Vorwort" kommt jedoch dem Inhalt am nächsten. - Seitenangaben ab sofort im Text. 611 Vgl. Meyer 1840 und 1858. - Joachim Meyer hatte in einer Fußnote einige Beispiele dafür angeführt, welche Schäden Schillers Werke im Laufe verschiedener Ausgaben erlitten hatten (S.36, Anm.*). Eine eigentlich historisch-kritische Edition legte er zwar nicht vor, aber er regte sie an. 612 Vgl. Kap. 3.3.2.
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Autors" (S.7). 613 Diesem vergleichbar muß er Beweisstücke für seine Behauptungen finden, nach "einer festen diplomatischen Grundlage" suchen, die er "nach den Gesetzen der kritischen Kunst" (S.7) behandelt. Die letzte Formulierung enthält einen Widerspruch in sich: "Gesetze" als normatives Moment auf der einen, "Kunst" als der genuine Bereich der Freiheit auf der anderen Seite. Das eine weist auf die angestrebte strenge Methodik hin, während das andere einen Einblick gibt in die - leicht überhöhte - Selbstsicht eines Michael Bernays, der seine Wissenschaft gleich einem Künstler auszuüben wußte. 6 1 4 Dies korrespondiert auch mit seinem Auftreten im Hörsaal, wo er sich das Auditorium fast zum Publikum zu machen schien. 615 Bernays war sich allerdings darüber im Klaren, daß der Textkritiker bei seiner Arbeit Fehler nicht ausschließen kann, weshalb er "niemals die Grenze zwischen dem Wahren und dem Wahrscheinlichen aus den Augen verlieren" dürfe: "Von solchen Anschauungen geleitet, entschloß ich mich, den Text der Werke Goethes nach jener strengen Methode zu untersuchen und zu bearbeiten, welche den Schriftwerken des classischen und unseres eigenen Alterthums schon längst zu Gute gekommen ist." (S.8) 616 Bernays sah sich unmittelbar als Nachfolger von Karl Lachmann, der die textkritische Arbeitsweise, wie sie sich in der Klassischen Philologie entwikkelt hatte, auf die Texte des deutschen Altertums übertragen hatte. 617 Seine eigene Aufgabe bestand nun darin, diese Methode auf die neuere deutsche Dichtung anzuwenden. Für Lessing hatte diesen Schritt noch Lachmann selbst vollzogen, für Schiller wies Joachim Meyer den Weg in diese Richtung. 618 Den "Grundstein der Goethe-Philologie" gelegt zu haben, dieses Verdienst wird Michael Bernays zugeschrieben. 619 In seiner Abhandlung von 1866 führte er sein textkritisches Verfahren am Werther (Erster Abschnitt), an Clavigo (Zweiter Abschnitt) und an späteren Werken (Dritter Abschnitt) vor. In erster Linie gehörte dazu "die sorgfältigste
613
Ähnlich hatte Kraus sich als Diener des Dichters gesehen (vgl. ebd.). Hier wird bewußt von dem normativen Aspekt auch in der Kunst abstrahiert, wie er zumindest im 19. Jahrhundert noch ausgeprägt war. 615 Vgl. weiter oben. 616 Vgl. auch Bernays' Brief an H. v. Treitschke vom 2.12.1866: "Ich wollte vor allem auch darthun, wie viel sich durch folgerechte Anwendung der streng kritischen Methode, die bisher nur in der Behandlung der alten gegolten hat, bei einem neuen Autor ebenfalls gewinnen und leisten läßt." (Bernays 1907, S.l 18f.) 617 Zu Lachmanns Editionstechniken vgl. Weigel 1988, S.158-178. 618 Vgl. Lachmann 1838-1840. - Zu Meyer vgl. weiter oben. 619 Witkowski 1897, S.272. - Vgl. auch Mandelkow 1980, S.158f. 614
15'
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Vergleichung der Texte" in ihren verschiedenen Ausgaben, um auf diese Weise die "Quelle der [...] wahrgenommenen Corruptionen" (S.26) herauszufinden. Wie bei den Handschriften in der älteren deutschen Philologie längst üblich, kennzeichnete Bernays die diversen Drucke mit einem Buchstaben, eine Zahl stand für die spezifische Ausgabe. 620 Das Verhältnis der einzelnen Drucke untereinander stellte er abschließend in einer Tabelle dar (vgl. S.43). Bernays war von der Qualität seiner Untersuchungen vollständig überzeugt, denn er faßte seine Ergebnisse mit folgenden Worten zusammen: "Und somit ist die Kritik der Jugendwerke Goethes auf unerschütterlicher Basis fest gegründet." (S.44) Bereits ein zeitgenössischer Rezensent wies allerdings zu Recht darauf hin, daß nicht automatisch jede ursprüngliche Lesart tatsächlich der Goetheschen Intention entsprochen haben müsse.621 Daß mit Bernays' Veröffentlichung längst nicht alles zu Goethes Werken geleistet sei, behauptete auch Fr. Strehlke, der seine Ergebnisse 1873 vorlegte. Vielmehr sah er die Vorarbeiten im eigentlichen Sinn des Wortes als "Fundament" an, auf dem sich weiterbauen lasse. 622 Bernays' dritter Beitrag in der Reihe der Goethe-Publikationen fällt bereits in seine Münchner Zeit. 6 2 3 Der Ordinarius legte eine dreibändige Ausgabe der Briefe und Dichtungen "des jungen Goethe" vor, d.h. aus der Zeit von 1764 bis 1776. 624 Darüber schrieb Bernays an das Ehepaar Uhde: "Um den jungen Goethe habe ich gerade so viel und nicht mehr Verdienst, als auf S.LXII der Einleitung angegeben ist. Am liebsten hätte ich meinen Namen nicht auf das Titelblatt und nur unter die Einleitung gesetzt. Denn diese freilich gehört nicht nur mir allein, sondern ihr Inhalt ist auch eins mit meinen innersten Ueberzeugungen. Wenigstens enthält sie einen Theil meines Credo über Goethe, wie es sich im Laufe der Jahre bei immer erweitertem Studium der europäischen Litteratur und im ununterbrochenen Geistesverkehr mit dem Gewaltigen, bei mir festgesetzt hat. Manches von dem, was hier bald ausführlich begründet, bald nur leise angedeutet wird, ist gewiß schon von vielen mehr oder minder klar empfunden, hie und da auch öffentlich ausgesprochen worden; so zusammenhängend und folgerichtig wie hier ward es jedoch -
620
Z.B. die Werther-Ausgabe von 1787: G; der Himburgische Nachdruck in der 1. Auflage: h 1 , in der dritten Auflage: h 3 (vgl. S.38). 621 Vgl. D. 1866, S.5914. 622 Vgl. Strehlke 1873, S.3. 623 1868 hatte Bernays "Goethes Briefe an Friedrich August Wolf" erstmals vollständig herausgegeben und in einer ausführlichen Einleitung (vgl. Bernays 1868, S.l89) das Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Philologen nachgezeichnet. Da die Edition noch vor der Zeit in München entstand, wird nicht näher darauf eingegangen. 624 V g l Bernays 1875. - Seitenangaben ab sofort im Text.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
219
wenn anders die Vorliebe für die eigene Arbeit mich nicht täuscht - noch nicht dargelegt. Ich lebe der sicheren Hoffnung, daß in zehn bis fünfzehn Jahren die Grundanschauung, die mich leitete, die herrschende sein wird." 625 Zusammengefaßt bestand diese "Grundanschauung" darin, die verschiedenen Schaffensperioden Goethes, "des größten Künstlers in unserer Literatur" (S.XLVI), gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen und jeweils für sich gründlich zu untersuchen, um anschließend zu einer umfassenden Synthese des " g a n z e n Goethe" zu gelangen (vgl. S.LIXf.). Um aber den Dichter kennenzulernen, müsse man dessen Werke selber lesen, argumentiert Bernays. In diesem Sinn versteht sich seine Goethe-Ausgabe "als ein einladendes Lesebuch" : "Die Sammlung widmet sich aber ganz eigentlich allen denen, die der vaterländischen Literatur eine mehr als flüchtige Theilnahme entgegenbringen, und zuvörderst dem weiten Kreise derer, die sich im Geiste dem Dichter als einem hohen Freunde angeschlossen haben, dessen Geleit durchs Leben sie nicht entbehren möchten." (S.LXIII) Aus diesem Grund fehlt in dieser Ausgabe der wissenschaftliche Apparat: Die Texte wurden zwar nach strenger wissenschaftlicher Methode rekonstruiert, aber ohne Anmerkungen abgedruckt (vgl. S.LXIII). Um wirklich "dem jungen Goethe" gerecht zu werden, versammeln diese drei Bände die Goetheschen Jugenddichtungen in ihrer ersten Gestalt, d.h., wie sie erstmals zur Veröffentlichung gekommen waren. Dem Vorbild von Goethes Autobiographie "Dichtung und Wahrheit" folgend, orientierte sich Bernays' Goethe-Edition nicht mehr am Gattungsschema, sondern an den Schaffensperioden des Dichters. 626 Obgleich der Titel "Der junge Goethe" eine Fortsetzung für das Spätwerk erwarten läßt, blieb es bei dem ersten und einzigen Band. Aufschlußreich sind die Äußerungen des Herausgebers in bezug auf den Zusammenhang zwischen Leben und Werk Goethes. Er verurteilt einen übertriebenen Biographismus, da er die künstlerische Aufgabe mißverstehe: "Man schritt in der Verkennung des Künstlers so weit fort, daß man der Meinung huldigte, nur derjenige könne ein Goethesches Werk verständnisvoll genießen, der ge-
625
Bernays 1907, S.4f., Bernays an H. Uhde u. Frau, 20.3.1876. - Die Passage in der Einleitung, auf die Bernays sich bezog, lautet: "Wenn ich mir ein Verdienst um den jungen Goethe zusprechen darf, so besteht es einzig darin, jene an den Freund [= Salomon Hirzel, der Sammler von Goethes Schriften; M.B.] gerichteten Aufforderungen vielleicht am häufigsten und eindringlichsten wiederholt und bei Feststellungen der chronologischen Reihenfolge einige Beihilfe geleistet zu haben." (Bernays 1875, S.LXII) 626 Vgl. Goethe 71974-61976. - Die Frage "zeitchronolögische versus gattungsspezifische Werkausgabe" wird bis heute kontrovers diskutiert.
220
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
nau darüber belehrt sei, wann, unter welchen Umständen und Einflüssen der Dichter es geschaffen und welche Erfahrungen und Erlebnisse er in demselben verarbeitet habe. Eine durchaus verwerfliche Meinung! Wäre sie begründet, so enthielte sie die völlige Verurtheilung des Künstlers: denn sie besagte nichts anderes, als daß er seine Aufgabe verpfuscht hätte." (S.XVI) Dabei leugnete Bernays die vielfältigen Verbindungslinien zwischen Leben und Werk eines Dichters durchaus nicht, wie sein Goethe-Beitrag in der ADB beweist. 627 Dennoch trat Bernays vor allem als philologisch orientierter Literarhistoriker auf. Diesem vor allem spendeten auch die Zeitgenossen ihr Lob, sparten aber auch nicht mit Kritik: "So ist die verschwiegene philologische Mitarbeit an den köstlichen Bänden 'Der junge Goethe' weit ergiebiger, als die wortreiche, doch uncharakteristische, kaum ein Problem aufstellende oder fördernde Predigt vorn [,..]" 628 Den zweiten Schwerpunkt von Bernays' Forschungstätitgkeit bildete der englische Dramatiker William Shakespeare, der durch die Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck "zu dem Unsrigen geworden" ist. 6 2 9 Wie schon bei Goethe findet sich hier eine deutliche Parallele zu seiner Dozententätigkeit. 630 Der "Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare" widmete Michael Bernays seine Habilitationsschrift aus dem Jahr 1872. 631 Für diese "mühselige Abhandlung" hatte er erstmals die Schlegelschen Manuskripte ausgewertet, um das Procedere der Shakespeare-Übersetzung nachzuzeichnen und den Text in seiner ursprünglichen Form wiederherzustellen. 632 Er hatte also die philologische Methode, wie er sie 1866 erstmals bei Goethe angewendet hatte, nicht für eine Originaldichtung, sondern für eine "Originalübersetzung" eingesetzt.633
627
Vgl. Bernays, Goethe, 1879. - 1880 zs. mit dem Gottsched-Artikel auch selbständig erschienen. 628 Schmidt 1902, S.408. 629 Bernays [1871-1873] 1888, Bd.12, S.407. 630 Ygi w e i t e r oben. 631
Vgl. Bernays 1872. Bernays 1907, S.l 12f., Bernays an Rochus von Liliencron, 13.7.1872. - Bernays über seine Vorgehensweise: "Es erscheint zweckmäßig, zuvörderst über die äußere Beschaffenheit der Handschriften das Nöthige anzumerken, alsdann aus der reichen Fülle des Inhalts dasjenige herauszuheben, was über die Entstehung und die allmählich fortschreitende Gestaltung des Schlegelschen Werkes ein erwünschtes Licht verbreitet; endlich eine bescheidene Auswahl der Ergänzungen und Verbesserungen vorzulegen, welche dem Texte der Uebersetzung durch diese Manuscripte zu Theil werden." (Bernays 1872, S.2) 633 Dasselbe gilt für die Jubiläumsausgabe von "Homers Odyssee von Johann Heinrich Voß": "Das für den Druck bestimmte Manuscript der Odyssee, das ich schon 632
3.4. Die neuere deutsche Philologie
221
In der Habilitationsschrift standen die beiden Dramen "Sommernachtstraum" sowie "Romeo und Julia" im Mittelpunkt. Daß diese Forschungsergebnisse nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Bernaysschen Arbeit wiedergaben, zeigt seine 12bändige Ausgabe "Shakespeare's dramatische Werke", die er in Leipzig zwischen 1871 und 1873 betreute. 634 Sie stellt keine Neu-Edition im eigentlichen Sinn des Wortes dar, sondern die Dramen des englischen Dichters wurden "nur einer sorgfältigen Durchsicht unterworfen" (Bd.l, S.III). Bernays selbst wies auf den engen Zusammenhang mit seiner Habilitationsschrift hin, indem er im Nachwort zum letzten Band explizit ihren Titel nennt (vgl. Bd. 12, S.407). Der Stil von Bernays1 Veröffentlichungen zeigt vor allem die Schulung an den deutschen Klassikern. Sogar seine Briefe, die im Vergleich zu den wissenschaftlichen Publikationen wohl eher privaten Charakter haben, erinnern sehr an die Goethesche Diktion. Beispielsweise kommentierte er die schwierige politische Situation im Deutschland des Jahres 1878 mit den folgenden Worten: "Welche Zerfahrenheit der Gesinnungen! Welche Umnachtung der Geister!" 635 Die Schwelle zum Pathos überschreiten noch deutlicher seine eigenen dichterischen Versuche, deren Entstehung vor allem während der Zeit in Bonn anzusetzen ist. Sein "Verbindender Text für Beethoven's Musik zu Goethe's Egmont" eröffnet mit folgenden Zeilen: "Dumpf grollt der Aufruhr in den Niederlanden; Das Flammenwort der neuen Lehre hat Der schlichten Bürger ruh'gen Sinn entzündet; Nur unmuthsvoll beugt sich das Volk dem Joch, Das Spaniens Uebermacht ihm drückend aufzwingt: Es spürt die eigne Kraft und regt sich kühn." 636 Zur Feier von Schillers 100. Geburtstag schrieb Bernays ein "Festspiel", das 1859 aufgeführt und 1860 gedruckt wurde. 637 Damit setzte er die Tradition an der L M U fort, daß Germanisten sich außer auf wissenschaftlichem auch auf
vor mehr als zehn Jahren genau durchgemustert, ward abermals zu Rathe gezogen; und hier fand sich Heilung für jede verderbte Stelle." (Bernays 1888, S.X) 634 Vgl. Bernays [1871-1873] 1888. - Seitenangaben ab sofort im Text. 635 Bernays 1907, S.53, Bernays an H. Uhde u. Frau, 9.8.1878. 636 Bernays 1864, S.3. 637 Vgl. Bernays 1860. - Allg. zu den Schillerfeiern im Jahr 1859 vgl. Noltenius 1984. - Ein weiteres Beispiel für den Dichter Bernays: Shakespeares Geburt. Ein Festspiel, aufgeführt in Köln am 22. und 23. April 1964, in: Morgenblatt, Nr. 23 (3.6.1864), S.529-534.
222
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
literarischem Gebiet betätigten. 638 Er trat den Beweis an, daß dies auch für die Vertreter der neueren Abteilung galt. Bernays' wissenschaftliche Leistungen waren bereits zu seiner Zeit nicht unumstritten. Lobte man einerseits seine Vorlesungen als "rhetorische Kunststücke", kritisierte man andererseits die Tendenz zum "Selbstgefälligen", die ihm zweifellos anhaftete. 639 Seine Veröffentlichungen wurden als "fortlaufende Anmerkungsschriftstellerei" charakterisiert, da Bernays sich stets dem Dichter und seinem Werk unterordnete. 640 Außerdem vermißte man wegen seines Hangs zum Detail die Konzentration auf das Wesentliche und die Fähigkeit zum zusammenfassenden Überblick. 641 Obwohl sein Lehrer Gervinus mit seiner fünfbändigen "Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen" (Leipzig 1835-1842) den Weg gewiesen hatte, legte Michael Bernays keine eigene Literaturgeschichte vor. Seinen Veröffentlichungen nach zeigte er sich mehr als Philologe denn als Literarhistoriker. Insgesamt kommt Erich Schmidt der Bedeutung von Bernays mit seiner Wertung wohl am nächsten: "Die deutsche Litteraturforschung durch weite vergleichende Umschau und historisch-philologische Methode ausgedehnt und befestigt zu haben, bleibt bei großer Fülle des einzelnen Gewinns sein Verdienst." 642 Zusammen mit Karl Lachmann steht Bernays gewissermaßen auf der zweiten Stufe der Philologisierung der deutschen Philologie. Hatte jener die Methode der Textkritik aus der Klassischen Philologie auf die altdeutschen Texte und schließlich auch auf G. E. Lessing übertragen, folgte dieser jenem Beispiel für das Werk von Goethe. Im Hinblick auf dessen Dichtungen leistete er durchaus Pionierarbeit. Indem sich Bernays aber auf die Textphilologie für die deutsche Dichtung der neueren Zeit konzentrierte, blieb sein Fach noch eine echte Abteilung der Germanistik.
3.4.2. Franz Muncker als Vertreter
der philologisch-historischen
Methode
Den Nachfolger von Bernays rekrutierte die Münchner Universität aus ihren eigenen Reihen, genauer gesagt: aus den Schülern des ehemaligen Ordina-
638 639 640 641 642
Vgl. z.B. Schmeller (Kap. 3.2.1.) oder Maßmann (Kap. 3.2.2.). Wölfflin 1946, S.192. - Petzet 1898, S.344. Vgl. ebd., S.352. Vgl. ebd., S.352. Schmidt 1902, S.408.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
223
rius. 643 Die Linie Michael Bernays - Franz Muncker legt die Vermutung nahe, daß es eine ungebrochene Kontinuität im universitären Betrieb gab. Diesen Aspekt zu diskutieren, gehört zu den zentralen Anliegen dieses Abschnitts. Auf Munckers akademische Ausbildung durch Bernays weisen auch einige seiner Biographen hin, die sich in mehr oder minder ausführlichen Nekrologen mit Leben und Werk dieses Philologen auseinandergesetzt haben. 644 Eine erschöpfende Untersuchung zu Franz Muncker als Dozent und Wissenschaftler liegt seitens der Wissenschaftsgeschichtsschreibung jedoch noch nicht vor. Auch die folgenden Ausführungen werden hier nur Ansätze bieten können. Zum einen hängt das mit der Gesamtkonzeption der Untersuchung zusammen, zum anderen liegt es an der wenig ergiebigen Quellenlage. Sie beschränkt sich auf das Aktenmaterial des Universitätsarchivs München und Munckers Veröffentlichungen. 645 Meines Wissens gibt es keinen schriftlichen Nachlaß, mit Ausnahme von wenigen Briefen an Michael Bernays und an Hermann Paul. 646 Umso mehr Gewicht erhalten deshalb die Aussagen von Schülern und Kollegen, damit wenigstens einige Konturen des Dozenten Muncker plastisch werden. Um der Gefahr der subjektiven Färbung und damit der Einseitigkeit zu entgehen, sollen möglichst viele Stimmen einander ergänzen, gegebenenfalls auch korrigieren. Seine schulische Ausbildung erhielt Franz Muncker in Bayreuth, wo er am 4. Dezember 1855 als Sohn des Bürgermeisters geboren worden war. 647 Um Deutsche Philologie, vor allem Literaturgeschichte, und Geschichte zu studieren, schrieb er sich 1873 an der Universität in München ein, der er zeitlebens ununterbrochen angehören sollte. 648 Zu seinen wichtigsten akademischen Lehrern zählten Konrad Hofmann, mit dem er 1880 sogar gemeinsam das altfranzösische Rittergedicht "Joufrois" herausgab, sowie Michael Bernays. 649 Bei ihm promovierte Franz Muncker als erster Münchner Doktorand in der Deut-
643
Mit diesem Schritt legte sich die Philos. Fak. nicht auf einen Usus fest, denn nur ein Jahr später berief man mit M. von Lexer einen auswärtigen Dozenten an die Spitze der älteren Abteilung (vgl. Kap. 3.2.4.). 644 Vgl. Borcherdt 1927, S.198; Petersen 1928, S.89f. 645 Die Personalakte Muncker im Bayer. Kultusministerium ist verbrannt. 646 ILK Nachlaß Bernays, XXIII.I.4 Briefe von und an Muncker. - UB M Nachlaß Paul (In der UB München liegt außerdem noch eine schmale Korrespondenz mit Ernst Kuhn.) 647 Für die Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 648 Damit übertraf Muncker sogar noch Konrad Hofmann, dessen akademische Laufbahn zwar ebenfalls eng mit der LMU verbunden war, der aber mehrfach den Studienort gewechselt hatte (vgl. Kap. 3.2.3.). 649 Vgl. Hofmann/Muncker 1880. - Vgl. Kap. 3.2.3.
224
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
sehen Philologie, und zwar am 15. Dezember 1877 mit der Gesamtnote "Summa cum laude". 650 Bereits im März 1879 erlangte er die venia legendi für deutsche Literaturgeschichte und ergänzte als erster Privatdozent neben Bernays den wissenschaftlichen Lehrkörper. 651 Erst 1890, nach dem freiwilligen Rücktritt des Ordinarius, wurde Muncker zum Extraordinarius befördert. Wenn man einer Aussage von Friedrich von der Leyen Glauben schenken darf, verzögerte sich Munckers Karriere vor allem wegen Bernays: "Michael Bernays wollte Alleinherrscher bleiben. Der junge Privatdozent Franz Muncker hatte unter ihm nichts zu lachen. Die schlechte Behandlung, die er unter dem Gewaltigen erlitten, hat man ihm eigentlich sein ganzes Leben hindurch angemerkt. Er glich geradezu einem ängstlichen Kandidaten, es schien immer - ich übertreibe jetzt ein bißehen - als wolle er um Entschuldigung bitten, daß er überhaupt existiere. Sein Gang hatte etwas Gewundenes, als fürchte er, irgendwo anzustoßen."652 Daß von der Leyen der Wahrheit wohl ziemlich nahekam, zeigen verschiedene Stellen aus Briefen und Tagebüchern von Bernays. Nach seinem Rücktritt sah er in Muncker keinen vollwertigen Ersatz für sich, da dieser nur "Mittelmaß" sei: "Nun hat er freilich von mir und Anderen recht vieles emsig und gründlich sich angeeignet, er ist fleißig, rührig, eifrig, pflichtgetreu - kurz, man darf gar Manches mit Fug an ihm loben, aber nichts geht über ein gewisses anständiges Mittelmaß hinaus. [...] Wieder einmal hat die Mittelmäßigkeit einen unerlaubten Sieg davon getragen. Die Lücke, die durch meinen Rücktritt entstanden, klafft auch ferner unausgefüllt." 653 Nach außen hin wahrte Bernays freilich den Schein, wenn er Muncker zur Beförderung gratulierte. Er behauptete sogar, ein treibender Motor dabei gewesen zu sein. 654 Munckers Ernennung zum ordentlichen Professor der neueren, insbesondere deutschen Literaturgeschichte erfolgte erst am 1. Juli 1896. 655 Knapp ein Jahr später übernahm er das neugeschaffene Amt des 2. Vorstands am Deutschen Seminar. Erst ab Oktober 1917 fungierte er als Mitvorstand gleichberechtigt mit dem Vertreter der älteren Abteilung. Muncker blieb der L M U als Dozent verbunden bis zu seinem Tod am 7. September 1926.
650
Vgl. UAM Ο I 58p; vgl. auch Kap. 2.2.3.4., 2.4.1.2. und 3.4.1. Vgl. Kap. 2.2.3.4. und 3.4.1. 652 Leyen 1960, S.69. 653 ILK, XII.VII, Juli 1890, S.41. 654 Vgl. ILK, XXIII.I.4, Bernays an Muncker, 25.6.1890. - Im Sept. 1890 endet die Korrespondenz zwischen beiden. 655 Kommentar von Bernays in seinem Tagebuch: "Betrübende Nachricht von Munckers Ernennung zum Ordinarius." (ebd., XII.VII, Juli 1896, S.41) 651
3.4. Die neuere deutsche Philologie
225
Franz Munckers Universitätslaufbahn umfaßte nahezu ein halbes Jahrhundert. Bei durchschnittlich zwei bis drei Veranstaltungen pro Semester hielt er insgesamt rund 250 Vorlesungen und Kollegs. Trotz einer vielfältigen Themenwahl lassen sich bestimmte "Favoriten" feststellen. Einen deutlichen Schwerpunkt setzte er im 18. Jahrhundert, wobei er entweder einen literaturgeschichtlichen Überblick über die Gesamtzeit oder einen bestimmten Abschnitt gab, sich mit einer poetischen Gattung beschäftigte oder einzelne Dichterpersönlichkeiten vorstellte. 656 Wiederholt las er vor allem über Wieland, Klopstock, Lessing, Goethe und Schiller. 657 Die Parallelen zu seinem Lehrer Michael Bernays sind also unübersehbar. 658 Außer den "Klassikern" kamen aber auch andere Autoren zum Zug, etwa Platen (SS 1896 und 1899), Immermann (WS 1896/97) oder Grillparzer (WS 1902/03). Hans Heinrich Borcherdt erkannte darin ein bestimmtes Verständnis von Literaturgeschichte: "Literaturgeschichte war ihm aber nicht nur ein Teil der Philologie, sondern zugleich ein Zweig der allgemeinen Kulturgeschichte. Darum beschäftigte er sich auch nicht nur mit den großen Gipfelgestalten der Dichtung, die für eine rein ästhetisch gerichtete Literaturgeschichte maßgebend bleiben, auch Literaten fünften und sechsten Grades fanden bei ihm eingehende Berücksichtigung. Man könnte Muncker in dieser Hinsicht als einen Erben der kulturgeschichtlichen Darstellung der Literatur bezeichnen, wie sie durch Gervinus, Koberstein und Goedeke vertreten ist." 659 Deutlicher als Bernays demonstrierte Muncker seine mediävistische Schulung, wenn er die "Erklärung des Iwein von Hartmann von Aue" (WS 1879/80) oder eine "Übersicht über die Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter" (WS 1883/84) ankündigte. 660 Hier zeigte sich die markante Handschrift des zweiten Lehrmeisters Konrad Hofmann. 661 Auffallend ist, daß die Vorlesungen zur mittelalterlichen deutschen Literatur etwa um die Jahrhundertwende endeten. Weitergeführt wurden jedoch die Shakespeare-Veranstaltungen, für die Muncker bei Bernays zahlreiche Anregungen gefunden hatte. 662 Beispielswei-
656
Z.B. "Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert" (SS 1889). - Z.B. "Geschichte der deutschen Literatur im vorigen Jahrhundert bis zum Tode Lessings" (WS 1880/81). - Z.B. "Geschichte des deutschen Dramas im vorigen Jahrhundert" (WS 1883/84) oder "Geschichte des deutschen Epos im vorigen Jahrhundert" (SS 1884). 657 Wieland: 9mal, Klopstock: 15mal, Lessing: 19mal, Goethe/Schiller: 39mal. 658 Vgl. Kap. 3.4.1. 659 Borcherdt 1927, S. 199. 660 Weitere Vorlesungen im WS 1882/83, 1885/86, 1888/89, SS 1889 und WS 1901/02. 661 Vgl. weiter oben. 662 Vgl. Kap. 3.4.1.
226
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
se wollte er "Romeo und Julia" (WS 1882/83 und SS 1890) oder "Cymbeline" (WS 1890/91) interpretieren bzw. die Rolle von "Shakespeare in der Geschichte der deutschen Literatur" (WS 1892/93 und SS 1921) erläutern. Wenngleich gerade diese Formulierung einen komparatistischen Forschungsansatz verrät, war er bei Muncker weniger deutlich ausgeprägt als bei Bernays oder Hofmann. 663 Insgesamt nimmt sich die Anzahl der Vorlesungen zur englischen Literatur eher bescheiden aus, so daß Franz Muncker vor allem als Vertreter einer nationalen Wissenschaft erscheint. 664 Analog dazu ist in seiner Forschungsarbeit ein patriotisches Moment nachweisbar. 665 Insgesamt zehn Vorlesungen beschäftigten sich mit Richard Wagner als Dichter und Schriftsteller. 666 Die Basis für die Verehrung Wagners hatte Munckers Vater gelegt. 667 Der Sohn teilte sie mit Bernays und machte Wagner - und damit einen durchaus zeitgenössischen Dichter-Komponisten - erstmals zum Thema im Hörsaal. 668 Zeitlich fallen diese Veranstaltungen alle in die Zeit nach Wagners Tod 1883. In Munckers Vorlesungsprogramm taucht ein einziges Mal ein ausgesprochen sprachwissenschaftliches Thema auf: "Übungen in der deutschen Grammatik" (SS 1880). Ansonsten erwies er sich vor allem als Literaturhistoriker nach außen bereits erkennbar an der Häufigkeit des Worts "Geschichte" in seinen Ankündigungen. Literaturgeschichte bildete einen festen Bestandteil in der gesamten Munckerschen Dozententätigkeit. Dem Titel nach sind manche Veranstaltungen auch über Jahrzehnte hinweg beliebig austauschbar. 669 Andererseits lassen sich auch Veränderungen nachweisen, die eine gewisse Offenheit für neue Themen signalisieren. Exemplarisch kann die "Geschichte des deutschen Lustspiels" genannt werden, die Muncker erstmals im WS 1925/26 referierte. 670 Schüler und Kollegen von Muncker bescheinigten ihm eine "ungeheure Belesenheit" und ein "fabelhaftes Gedächtnis" - Eigenschaften, die auch seinem
663
Vgl. Kap. 3.4.1. und 3.2.3. - Von Muncker finden sich auch keine RomanistikVeranstaltungen im VV. 664 Insgesamt acht Vorlesungen zur englischen Literatur. 665 ygi w e i t e r unten. 666
WS 1886/87, 1898/99, 1900/01, 1903/04, 1909/10, 1910/11, 1912/13, 1916/17, 1920/21 und 1923/24. 667 Vgl. Leyen 1960, S.69. 668 Vgl. Riedner 1927, Sp.164. - Z u Bernays' Wagner-Verehrung vgl. Kap. 3.4.1. 669 Ob sie auch inhaltlich keinem Wandel unterlagen, muß wegen fehlender Vorlesungsmanuskripte offen bleiben. 670 V g i Petersen 1928, S.94.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
227
Vorgänger zugeschrieben worden waren. 671 Dank dieses Gedächtnisses konnte er im Hörsaal auf ein Manuskript verzichten. 672 Im Hinblick auf die Hörerzahl stießen seine Vorlesungen auf große Resonanz, da Muncker vor allem solides Prüfungswissen vermittelte: "Muncker wurde ein Lehrer, wie ihn gerade der Durchschnitt der Studenten wünscht, seine Vorlesungen wurden die besuchtesten. Er gab den Hörern die festen Kenntnisse, die sie für die Prüfung brauchten, klar, zuverlässig, dabei sehr belesen lieber berichtend als urteilend. - Alles Problematische, alles Originale und scharf Umrissene verschwand, auch die Kraft und Macht der Persönlichkeit. Nur eine Ausnahme ließ er gelten - Richard Wagner." 673 Daß Muncker sich mit eigenen Urteilen zurückhielt, legte man ihm aber auch als Mangel aus: "Er besaß ein erstaunliches Wissen und ein beneidenswertes Gedächtnis, aber er war keine Persönlichkeit, er hatte keine Kraft und keinen Mut des Bekenntnisses zu einem Dichter und Werke, er ging einer Wertung am liebsten aus dem Wege oder half sich mit gleichmäßiger Verteilung von Licht und Schatten. Wir nannten ihn 'Professor Einerseits-Andrerseits'." 674 Eine weitere Kritik berührte den schulmäßigen Vorlesungsstil von Muncker, der weniger über das Werk als vielmehr über die Forschung zu diesem Werk sprach. Konkret bezog sich Karl Alexander von Müller auf eine einstündige Faust-Vorlesung: "Sie schien mir eine staunenswerte Zähigkeits- und Gedächtnisleistung in der Anhäufung von Schrifttum und Meinungen über das Werk - aber wo war dieses selber geblieben? Eine neue Auflage des Gymnasiums. 'Wagner liest ein Kolleg über Faust', schrieb ich der Freundin. 'Weh ihm, wenn ein Mephistopheles unter den Hörern sitzt!'" 675 Um 1910 gehörte Kasimir Edschmid zu Munckers Hörern. In seiner Autobiographie erinnerte er sich:
671
Borcherdt 1927, S.201 (vgl. auch Petersen 1928, S.94; Müller 1951, S.266; Kutscher 1960, S.38). - Zu Bernays vgl. Kap. 3.4.1. 672 Vgl. die Episode bei Petersen, in der ein amerikanischer Gasthörer alle Daten aus der Munckerschen Vorlesung im Sommer 1925 nachprüfte und fehlerlos fand (Petersen 1928, S.94). 673 Leyen 1960, S.69. 674 Kutscher 1960, S.38. - Vgl. auch S.44. 675 Müller 1951, S.266. - Ähnlich berichtete Julius Petersen, daß "das im Hörsaal abgehaltene Seminar Franz Munckers in München sich wenig vom Kolleg unterschied, da der Professor hauptsächlich das Wort führte [...]" (Germanisches Seminar Berlin 1937, S.29).
228
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
"Professor Franz Muncker las viermal in der Woche über Klopstocks 'Messias'. Ich machte das ehrwürdige Poem zu meiner Abendlektüre (wahrscheinlich als einziger unter dreihundert Zuhörern), da mich das Zitieren des Professors, der mit einem schwingenden Gurgelkopf sprach, irritierte." 676 Eine Anekdote zeigt Muncker auch als unfreiwillig komische Figur, als er ungewollt zur Aufheiterung seiner Kollegs beitrug: "Trocken, belebte er seine Kollegs mitunter durch unfreiwillige Volltreffer wie den Schluß einer Vorlesung über Kleist, in der er mit sachlicher Geheimratsmiene verkündete: 'Und so komme ich denn zu dem Ergebnis, daß Götz von Berlichingen das Käthchen von Heilbronn befruchtet hat.' Als diese Versicherung Begeisterung auslöste, schaute er ratlos in das lachende Auditorium." 677 Das Verhältnis zu seinen Studenten war von Offenheit und Hilfsbereitschaft seitens des Lehrers geprägt, die sogar finanzielle Unterstützung nicht ausschloß. 678 Vielleicht trug dieser Charakterzug Munckers mit dazu bei, daß er zahllose Hörer um sich scharte. A m eindruckvollsten schlug sich das in der Zahl der Dissertationen nieder: In den 47 Jahren an der L M U betreute der Ordinarius insgesamt 236 Doktoranden, das sind etwa fünf pro Jahr. 679 Mit 20 Promotionen erreichte er 1922 einen absoluten Spitzen wert, was vor allem als Folge des Kriegsendes zu werten sein dürfte. Der Themenkatalog der Dissertationen war äußerst breit gefächert. Er umfaßte biographische Studien ebenso wie motivgeschichtliche Untersuchungen; komparatistische Fragestellungen standen neben philologischen, ästhetische neben gattungsgeschichtlichen.680 Auch Beiträge zur Theatergeschichte finden sich darunter. 681 Muncker schien also für jegliche Themen aufgeschlossen gewesen zu sein, auch bereits im Seminar. Wilhelm von Schramm, der 1922 mit einer Arbeit "Ueber die Träume und Traumdichtung bei Jean Paul" bei ihm promovierte, plante z.B. eine Seminararbeit über "Jean Paul und Shake-
676
Edschmid 1960, S.56. Günther 1957, S.64. 678 Vgl. Borcherdt 1927, S.201. 679 Vgl. Tab. 2. - In demselben Zeitraum entstanden in der älteren Abteilung 23 Dissertationen. 680 Z.B. Pariser, Ludwig, Beitrr. zu einer Biographie von Hans Michael Moscherosch, 1891 (vgl. UAM Ο I 71p). - Z.B. Koszella, Leo, Das Floh-Motiv in der Literatur, 1922 (vgl. UAM Ο II 9p). - Z.B. Klein, Timotheus, Wieland und Rousseau, 1902 (vgl. UAM Ο I 82p). - Z.B. Seebass, Friedrich, Zur Entstehungs-Geschichte der ersten Sammlung von Hölderlins Gedichten, 1913. - Z.B. Strich, Fritz, Franz Grillparzers Ästhetik, Berlin 1905. - Z.B. Schacht, Roland, Die Entwicklung der Tragödie in Theorie und Praxis von Gottsched bis Lessing, Göttingen 1910. 681 Ζ. B. Glock, Anton, Die Bühne des Hans Sachs, 1902 (vgl. UAM Ο I 83p). 677
3.4. Die neuere deutsche Philologie
229
speare". 682 Die Schilderung seiner Reaktion zeichnet Muncker als Person, die Wissenslücken offen zugab: "Schon als ich den Titel nannte, wurde Muncker aufmerksam, ja ganz naiv neugierig und sagte: Von diesem Zusammenhang habe er noch niemals etwas gehört. Ja, so war er: Muncker hatte nicht die Spur eines autoritären Orakels, eines Charakterzugs vieler Spektabiblitäten. Er sagte immer geradeheraus, wenn er das oder jenes nicht wußte."683 Die Seminarbeit eröffnete Schramm den Zugang zum "Jour fixe", an dem das Ehepaar Muncker einmal wöchentlich "Freunde der Literatur und des Hauses Muncker" einlud: "Ich hatte schon davon raunen hören. Wer eingeladen wurde, rückte um einige Grade herauf: Er war in den inneren Kreis aufgenommen und gehörte von da an zu den 'Jüngern des Meisters'. Aber dergleichen sagte der zu Bescheidenheit neigende Geheimrat niemals und die Geheimrätin, die sich nie feierlich nahm, erst recht nicht." 684 Diese Einladungen stellten festliche Ereignisse dar, bei denen Munckers den Mittelpunkt eines musisch interessierten Kreises bildeten. 685 Der Philologe schien damit einen Beitrag zum kulturellen Leben der Stadt und der Universität in den zwanziger Jahren zu leisten. Insbesondere die Einbeziehung von Studenten zeugt von einem nicht übertrieben distanzierten Verhältnis, so weit man es ohne detaillierte Aussagen zum Verlauf der Gespräche behaupten darf. Aus diversen Gutachten Munckers geht hervor, worauf der Professor bei Dissertationen besonderen Wert legte. Neben Gründlichkeit und Vollständigkeit der Untersuchung schätzte er "selbständiges" Denken und maß auch dem Stil große Bedeutung bei. 6 8 6 Das zusammenfassende Urteil zur Untersuchung von Christian Janentzky über "G. A. Bürgers akademische Lehrtätigkeit" bündelt diese Kriterien: "J. Untersuchung ist übrigens auch im einzelnen sehr sorgfältig geführt und bekundet überall reiches Wissen in der ganzen einschlägigen Literatur. Sie ist höchstens am Anfang, wo es sich um die Schriften Bürgers aus der Sturm- und Drangzeit handelt,
682
Zu Schramms Promotion vgl. UAM Ο II 10p. Schramm 1979, S.l27f. 684 Ebd., S.129f.- Bei Wilhelm von Schramm war es der Donnerstag-Nachmittag (vgl. Schramm 1979, S.129), bei Freidrich von der Leyen der Freitag-Nachmittag (vgl. Leyen 1960, S.69). 685 Vgl. Leyen 1960, S.69f. 686 Vgl. UAM Ο I 82p Rudolf Unger, Gutachten Muncker, 8.5.1902. - Vgl. UAM Ο I 91p Hans Heinrich Borcherdt, Gutachten Muncker, 5.2.1911. 683
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
dann und wann zu breit geraten und bedarf in sprachlicher Hinsicht noch manchmal der bessernden Feile." 687 Aus der großen Anzahl seiner Doktoranden entschlossen sich insgesamt sechs zur Habilitation in München: Rudolf Unger, Artur Kutscher, Fritz Strich, Hans Heinrich Borcherdt und Christian Janentzky noch zu Lebzeiten Munckers; zu Walther Rehms Arbeit stammte das Gutachten zwar noch von ihm selbst, aber das Habilitationsverfahren wurde erst unter seinem Nachfolger Brecht abgeschlossen.688 Diese Namen repräsentieren insgesamt recht unterschiedliche Richtungen in der literaturwissenschaftlichen Forschung: geistesgeschichtliche (Unger) stehen neben theaterwissenschaftlichen (Kutscher, Borcherdt) Ansätzen, während Fritz Strich insbesondere von der Kunstgeschichte beeinflußt wurde. 689 Im vorab definierten Sinn kann Franz Muncker somit nicht als Begründer einer wissenschaftlichen Schule gelten. 690 Indem er jedoch neue Gedanken nicht nur tolerierte, sondern sogar förderte, sah ihn Rudolf Unger trotzdem an der Spitze "der einzigen selbständigen Schule von Eigenart und Dauer neben der Schererschule": "Gewiß, er blieb immer der Vertreter der älteren Generation, aber er konnte, ohne sich untreu zu werden, die geistesgeschichtliche wie die stilgeschichtliche Richtung der Literaturgeschichte anerkennen. Er betrachtete sie nicht als Gegensätze zu seinen eigenen Bestrebungen, sondern als wichtige und notwendige Ergänzungen und darum setzte er sich auf das wärmste für sie ein." 691 Dieses überaus positive Urteil relativiert sich allerdings, wenn man Kutschers Versuche betrachtet, die Theaterwissenschaft als eigenständige Disziplin von der Germanistik zu emanzipieren. In Munckers Reaktion war von Liberalität wenig zu spüren. 692 Insgesamt muß jedoch betont werden, daß Munckers Schüler zahlreiche innovative Beiträge zur Literaturwissenschaft
687
Vgl. UAM Ο II lc, Gutachten Muncker, 4.2.1909. Vgl. Kap. 2.4.1.2., 2.5.1. und 3.4.3. - Noch vor Munckers Zeit als Ordinarius habilitierten sich Karl Borinski und Roman Woerner (vgl. Kap. 2.4.1.1.). Letzterer war angeblich Munckers "Lieblingsschüler" (vgl. Leyen 1960, S.71). 689 Vgl. jeweils die Personalbibliographie und die Artikel im Lexikonteil. 690 Vgl. die Definition in Kap. 3.1. 691 Borcherdt 1927, S.200. 692 Vgl. Kap. 2.4.2. - Munckers konservative Grundhaltung zeigt sich auch in seinem Gutachten über Wedekinds "Frühlings Erwachen" von 1908. Er plädierte für die Beibehaltung des Aufführungsverbots, da er das Drama für "gründlich verfehlt" und moralisch gefährlich halte. Dazu Klaus Kanzog: "Muncker, dessen große Verdienste auf dem Gebiete der Literatur des 18. Jahrhunderts liegen, ist den Herausforderungen der Gegenwartsliteratur nicht gewachsen, die er nur auf Grund idealistisch geprägter Normen zu beurteilen vermag." (Kanzog 1988, S.323). - Für diesen Hinweis zu Franz Muncker danke ich Herrn Dipl.-Soz. Wolfgang Kaschny, Landshut. 688
3.4. Die neuere deutsche Philologie
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leisteten. Indem sie sich bei Muncker das wissenschaftliche Rüstzeug holten, liegt seine "wahre Größe" vor allem "in dieser fruchtbaren Nachwirkung". 693 Über die Zusammenarbeit am Institut mit dem Kollegen Hermann Paul liegen nur wenige Belege vor. In einem Brief vom 26.10.1899 schlug Muncker Bücher zur Neuanschaffung vor. Er läßt darauf schließen, daß der Neugermanist sich bereitwillig dem 1. Vorstand unterordnete: "Bei dieser Gelegenheit möchte ich mir überhaupt sogleich gestatten, einige Werke aus dem Gebiete der neueren Litteraturgeschichte aufzuschreiben, aus denen Sie dann vielleicht nach Ihrem Ermessen und nach Maßgabe unserer Mittel das auswählen, was wir im Jahr 1899 ankaufen wollen. Ich habe diesmal auch mehrere Biographien der größeren Dichter genannt u. zwar teils Werke, die meistens an beiden großen Bibliotheken ausgeliehen sind (wie Borinskis Buch), teils solche, die gerade jetzt besonders billig zu haben sind (wie meine Klopstockbiographie bis zum 15. November). Was Sie davon auswählen od. nicht auswählen, soll mir recht sein." 694 In ihrem Urteil über Dissertationen stimmten Muncker und Paul meist in den wesentlichen Punkten überein. 695 Bei gelegentlichen Differenzen äußerte Paul zwar seine Kritik, stimmte aber letztlich doch für die Annahme der Arbeit, er vermied also eine offene Konfrontation. 696 Munckers umfangreicher Lehrtätigkeit steht eine nicht minder intensive Forschungsarbeit gegenüber. 1878 hatte er als Dissertation eine Untersuchung zu "Lessings persönlichem und literarischem Verhältnis zu Klopstock" vorgelegt. 697 Dieser Titel nahm bereits zentrale Themen seiner späteren Forschung voraus: Otto Riedner nannte Muncker den "besten Klopstock- und Lessingkenner seiner Zeit." 6 9 8
693
Petersen 1928, S.97. UB M Nachlaß Paul, Muncker an H. Paul, 26.10.1899. 695 Vgl. z.B. UAM Ο I 82p Rudolf Unger, Gutachten Muncker, 8.5.1902, und Paul, 19.5.1902; oder UAM Ο I 85p Fritz Strich, Gutachten Muncker, 10.1.1905, und Paul, 19.1.1905; oder UAM Ο II lc Christian Janentzky, Gutachten Muncker, 4.2.1909, und Paul, 16.2.1909. 696 Der an sich wenig interessante Gegenstand [= Andreas Tscherning als Lyriker, M.B.] ist mit einer ganz ungehörigen Breite behandelt. Es fehlt dem Verf. die Fähigkeit, das Charakteristische herauszuheben und zusammenzufassen. Doch will ich mich nicht gegen die Zulassung aussprechen." (UAM Ο I 91p Hans Heinrich Borcherdt, Gutachten Paul, 10.2.1911) 697 Vgl. Muncker 1878. 698 Riedner 1927, Sp.163. 694
1
Bonk
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Zu einem Lebenswerk gestaltete sich die Neuauflage von Lessings "Sämtlichen Schriften" nach der Ausgabe von Karl Lachmann. 699 Fast 40 Jahre dauerte es bis zum Abschluß; statt der geplanten 14 (vgl. S.VII) umfaßte sie schließlich 23 Bände. Nicht nur an der beinahe verdoppelten Bandanzahl ist abzulesen, daß Muncker eine "vollständig eigene Leistung" bot. 7 0 0 In der "Vorrede" zum ersten Band (S.V-XVI) legte er Rechenschaft ab über seine editorischen Prinzipien und seine Zielsetzung. Bereits in diesem Punkt unterscheidet er sich von Lachmann, bei dem - nach Munckers Ansicht - jedoch der Name die methodische Korrektheit garantiere (vgl. S.V). Dieser fast naiv anmutende Gedanke erweckt den Eindruck, daß Muncker in Lachmann eine unantastbare Autorität sah, der er mit seiner Neuauflage unbedingt folgen müsse. Tatsächlich gilt jedoch das Gegenteil: Muncker wahrte in allen wichtigen Fragen eine kritische Distanz zu Lachmann, er übernahm oder änderte Vorgegebenes, je nachdem, was sein Material und der aktuelle Stand der Forschung erforderten: "Sie [= die neue Ausgabe, M.B.] beruht durchaus auf den Grundsätzen der Lachmann'schen Kritik, ergänzt aber Lachmanns Werk durch das seit fünf Jahrzehnten reich vermehrte Arbeitsmaterial und führt es gemäß den höheren Forderungen der modernen Wissenschaft in weiterem Rahmen fort." (S.VI) Zwei markante Beispiele für Munckers Eingriffe betreffen jeweils die Anordnung des Stoffes. Wenngleich "im großen und ganzen nichts verändert worden" (S.VII) ist, gab er die nachgelassenen Gedichte in der Reihenfolge der Handschriften Lessings wieder (S.XIII). 7 0 1 Außerdem faßte er früher veröffentlichte Gedichte, die in der Ausgabe letzter Hand fehlten, mit den nachgelassenen in einem Anhang zusammen, "da es nicht die Pflicht des kritischen Herausgebers sein kann, in falscher Pietät die unpraktische Einrichtung posthumer Drucke zu verewigen." (S.XIIIf.) 7 0 2 Diese leicht kritischen Töne werden deutlicher vernehmbar, wenn man berücksichtigt, daß Muncker "alle erreichbaren Handschriften verglich" und "auch sämtliche rechtmäßigen Drucke der Gedichte, Fabeln und Lustspiele zu Rate gezogen" hat:
699
Vgl. Muncker 1886-1924. - Seitenangaben aus Bd.l von 1886 ab sofort im Text. - Ursprünglich war der Verlag an M. Bemays herangetreten, doch dieser hatte Muncker vorgeschlagen (vgl. S.XVI). 700 Petersen 1928, S.91. - Allg. zu Lachmanns 12bändiger Lessing-Ausgabe (Lachmann 1838-1840) vgl. Weigel 1988, S.36-64. 701 Lachmann hatte sich an die Ausgabe gehalten, die Lessings Bruder 1784 "ganz willkürlich" (Muncker 1886-1924, Bd.l, 1886, S.XIII) geordnet hatte. 702 Bei Lachmann getrennte Anordnung dieser Gedichte.
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"Außer diesen beiden unerreichbaren Ausgaben [von 1753 und 1771, M.B.] habe ich [...] jedes Buch, dessen Titel ich nenne, selbst in der Hand gehabt, jedes Citat selbst verglichen." (S.XIV) 703 Muncker unterzog sich dieser mühevollen Arbeit, da Lachmann nicht die einzelnen Schritte seiner Forschungen, sondern gewissermaßen nur die Ergebnisse veröffentlicht hatte. 704 Hatte dieser eine "Leseausgabe mit wissenschaftlichem Anstrich" vorgelegt, strebte jener eine wirklich historisch-kritische Textedition an, die den Ansprüchen von Laien und Fachleuten gleichermaßen genügen sollte: "Sie soll dem Freunde unsrer Litteratur, der ohne gelehrte Nebenabsicht an Lessings Schriften sich bilden und ergötzen will, einen bis auf Komma und Punkt correcten und authentischen Text darbieten und zugleich dem Fachmann, dem es um das literarhistorische Studium jener Schriften zu thun ist, künftighin der Mühe überheben, daß er die alten, nicht einmal jedem erreichbaren Manuscripte und Originalausgaben selbst vergleichen muß." (S.VIf.) Für die Zeitgenossen hatte Muncker sein Ziel erreicht: Julius Petersen würdigte die Lessing-Edition als die "vollendetste deutsche Klassiker-Ausgabe". 7 0 5 Mit der ersten Auflage von Karl Lachmann hatte sie im Grunde nichts mehr gemein. Im Vergleich zu den Bernaysschen Editionen übertrumpfte der Schüler seinen Lehrer bei weitem. 706 Schon bald machte sich jedoch ein Manko bemerkbar: Muncker hatte den Text ohne Kommentar geliefert. Diese Lücke wurde mit einer 25bändigen Werkausgabe geschlossen, die Munckers Schüler Julius Petersen mit herausgab. 707 Angesichts der Fülle seiner Lessing-Forschungen erstaunt es, daß Franz Muncker keine Biographie über den Dichter, Literatur- und Theaterkritiker vorlegte. 708 1 8 8 8 veröffentlichte er statt dessen die Lebens- und Werkge-
703
Man beachte Munckers vorsichtige Formulierungen wie "Wagte ich die bisherige Anordnung der Gedichte zu ändern" (S.XIII) oder "Nach reiflichem Bedenken" (S.XIV). 704 Vgl. Lachmann 1838-1840, Bd.l, 1838. - Bei Lachmann fehlte eine Einleitung völlig, Anmerkungen fügte er nur wenige bei. Darin gab er z.B. Hinweise auf frühere Erscheinungsarten und verschiedene Varianten (ohne Angabe der Quelle und ohne Begründung für seine getroffene Entscheidung). Nur indirekt konnte man erschließen, daß Lachmann für seine Edition auch die Manuskripte Lessings eingesehen hatte: "Gedichte, so man nach seinem Tode unter seinen Papieren gefunden [...]" (S.196). 705 Petersen 1928, S.91. 706 Vgl. Kap. 3.4.1. 707 Lessing, Gotthold Ephraim, Werke. Vollständige Ausgabe in 25 Teilen, hg. von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen, Berlin Wien 1925-1935. - Allerdings handelte es sich hier um einen modernisierten Text. 708 Eine zweibändige Lessing-Biographie kam 1884-1892 von Erich Schmidt. 1
234
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
schichte von Friedrich Gottlieb Klopstock, seinem zweiten großen Forschungsthema, zu dem ihn M. Bernays hingeführt hatte. 709 Obwohl bereits einige Vorarbeiten geleistet worden waren, versteht Muncker sein Buch als "ersten Versuch, das Leben und Wirken Klopstocks wissenschaftlich erschöpfend zu schildern" (S.VI). 7 1 0 Dabei konnte er weder eine historisch-kritische Werkausgabe benutzen noch auf eine fundierte wissenschaftliche Vorbildung der Leser bauen: 711 "Mein Buch ist die Frucht langjähriger, streng wissenschaftlicher Arbeit und soll daher den wissenschaftlichen Charakter auch niemals verleugnen. Nichts desto weniger wünschte ich die Geschichte Klopstocks und seiner Werke so darzustellen, daß auch der nicht fachmännisch gebildete Freund unserer Literatur dadurch angezogen und gefesselt werden könnte. Allerdings für den Leser, die den Namen Klopstock von mir zum ersten Mal hören, habe ich nicht geschrieben; eine gewisse, wenn auch noch so oberflächliche Bekanntschaft mit dem Leben und den Schriften des Dichters mußte ich voraussetzen, eben so gut wie bisher alle Verfasser literargeschichtlicher Werke, welche im guten Sinn populär heißen mögen. Aber noch weniger wendet sich meine Darstellung ausschließlich an die Specialisten der Klopstockforschung. Ich hoffe auch ihnen dann und wann Neues zu bieten; im ganzen hatte ich jedoch weitere Kreise von Lesern im Auge." (S.VIII) Für Fachleute wäre das Buch tatsächlich nur ansatzweise geeignet gewesen, hatte doch Muncker weitgehend auf Anmerkungen verzichtet. Damit war aber der Weg zu eigenen Nachforschungen deutlich erschwert. 712 Neben der ästhetischen stufte Muncker insbesondere die historische Perspektive als für seine Darstellung maßgeblich ein, worauf bereits der Untertitel "Geschichte seines Lebens und seiner Schriften" hinweist: "Andrerseits war ich noch mehr als früher bestrebt, den Dichter, sein Werden und sein Wirken aus seiner Zeit heraus zu erfassen und an dem, was seine Zeitgenossen vor, neben und nach ihm leisteten, vergleichend zu prüfen." (S.V) In diesem Sinn rückte er die Geschichte von Klopstocks Schriften in den Vordergrund, "wie ja überhaupt unsre heutige literarhistorische Forschung nicht mehr, wie ehedem, in erster Linie die menschliche Persönlichkeit und das Leben der Schriftsteller, sondern die Geschichte ihrer Werke innerhalb der gesammten geistigen Entwicklung ihres Volkes oder der ganzen Menschheit zu ergründen und darzustellen sucht." (ebd.)
709
Vgl. Muncker 1888, S.VIII. - Seitenangaben ab sofort im Text. Muncker führte die Vorarbeiten mit einem knappen Kommentar in der Vorrede auf, ohne eine vollständige Bibliographie im Anhang zu liefern (vgl. S.IIIff.). 711 Eine historisch-kritische Edition von Klopstocks Oden legte Muncker ein Jahr später gemeinsam mit Jaro Pawel vor. 712 Vgl. auch die fehlende Bibliographie. 710
3.4. Die neuere deutsche Philologie
235
Gemäß Klopstocks Wirkung auf seine Zeit behandelte Muncker insbesondere die Jugendzeit sehr ausführlich, wobei er chronologisch vorging und zusätzlich eine geographische Gliederung wählte. Seine Kenntnisse verdankte er einem reichen Quellenstudium, worin Julius Petersen das Hauptverdienst von Munckers Arbeit sah: 'Als Charakteristik der literarischen Beziehungen und als eigentliche Biographie kann das Werk, auch wenn wir heute die Probleme des Empfindsamkeits-Zeitalters in anderem Lichte sehen, doch für abschließend angesehen werden, und diese Bedeutung verdankt Munckers Arbeit der soliden Ausschöpfung aller Quellen."713 Mit Lessing und Klopstock treten zwei markante Parallelen zwischen dem Forscher und Universitätslehrer Muncker hervor. 714 Dasselbe läßt sich auch in bezug auf Richard Wagner beobachten, denn 1891 erschien "Eine Skizze seines Lebens und Wirkens". 715 Es ist anzunehmen, daß sich das hier entworfene Wagner-Bild im Kern nicht von dem in seinen Vorlesungen unterschied. 716 Der Ton, in dem Muncker hier den Dichter-Komponisten als Schöpfer des "neuen, vollkommen deutschen Dramas" preist, verrät einen stark ausgeprägten Nationalstolz: "Jenes neue, vollkommen deutsche Drama hat uns erst Richard Wagner geschenkt, ein Drama, deutsch nach seinem Inhalt wie nach seiner Form, auf alte nationale Sage und Dichtung gegründet, ganz und gar von deutschem Geiste durchhaucht und in seinem gesamten künstlerischen Charakter so eigenartig, wie es nur aus dem deutschen Volke hervorgehen konnte." (S.2) Mit der Erfahrung des Nationalsozialismus vor Augen, erscheint dieser Stolz 20 Jahre nach der Reichsgründung von 1871 natürlich in einem anderen Licht als für die Zeitgenossen. Allerdings handelte es sich bei dieser Äußerung Munckers nicht um einen singulären Fall. Er beteiligte sich an der Gründung des Deutschen Germanisten Verbands (1912), "der neben der Standes Vertretung von Anfang an allgemeinpolitische Ziele verfolgte", die im politischen Spektrum eher rechts anzusiedeln waren. 717 1914 stimmte er in den Hurra-Patriotismus seiner Zeit mit ein und unterzeichnete die "Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches", die sich vor allem gegen den 713
Petersen 1928, S.90. Vgl. weiter oben. - Über Muncker kursierte sogar der Studentenscherz, "er sei außer Klopstock und den Setzern der einzige Leser des 'Messias' gewesen." (Günther 1957, S.64) 715 Vgl. Muncker 1891. - Seitenangaben ab sofort im Text. - Ausführlich ging Muncker auch auf Wagner ein, als er "Die Gralssage bei einigen Dichtern der neueren deutschen Litteratur" untersuchte (vgl. Muncker 1902). 716 Zu den Wagner-Vorlesungen vgl. weiter oben. - Allg. zur Wagner-Rezeption seit 1883 vgl. Müller 1984. 717 Jansen 1993, S.395f. 714
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"Hauptfeind" England richtete. 718 Den "neuen" Terminus "Deutschkunde" hatte Muncker jedoch als "einfach scheußlich!" abgelehnt.719 Weitere Biographien veröffentlichte der Ordinarius über Johann Kaspar Lavater und Friedrich Rückert, in denen er jeweils eine Darstellung des Lebens mit den Schriften verknüpfte. 720 Biographische Einleitungen stellte er den Werkausgaben von Kleist, Wieland und Immermann voran, die er auch editorisch betreute. 721 Allen ist gemeinsam, daß sie als "Leseausgaben" sich eher an ein breites Publikum wendeten und deshalb auf einen kritischen Apparat und eine ausführliche Bibliographie verzichteten: "Bei den zahlreichen hier aufgezählten Arbeiten kam es nicht so sehr auf selbständige Textrevision als auf orientierende Einführung an, wobei eine sachkundige, gewandte und leichtfaßliche Darstellung des Wesentlichen immer Munckers Vorzug gewesen ist." 722 Ähnliches gilt auch für die zweiteilige Ausgabe der "Bremer Beiträger", die in der Reihe "Kürschners Deutsche National-Litteratur" erschien. 723 Muncker war sich der Skizzenhaftigkeit der Bände wohl bewußt, "die eine künftige, wissenschaftlich erschöpfende Geschichte der 'Bremer Beiträger' und ihrer verschiedenen Verfasser keineswegs überflüssig machen können." (Bd.l, S.XVIII) Art und Zielsetzung der bisher genannten Veröffentlichungen bestätigen eine Beobachtung von Hans Heinrich Borcherdt, daß Muncker "eine ausgesprochene Abneigung gegen methodologische Erörterungen hatte", was ihn als Bernays-Schüler auszeichne.724 Einerseits bringt das wohl den Vorteil, nicht durch eine bestimmte Theorie eingeschränkt zu sein; andererseits setzt echte wissenschaftliche Forschung voraus, sich den eigenen Standort und die eigene Arbeitsweise bewußt zu machen. Einen Ansatz in dieser Richtung enthält Munckers Rede "Wandlungen in den Anschauungen über Poesie während der zwei letzten Jahrhunderte" in der
718
Vgl. Erklärung 1914, S.23. - Munckers Name fehlt in Christian Jansens Tabelle über die politischen Aktivitäten der Hochschulgermanisten zwischen 1910 und 1925 (vgl. Jansen 1993, S.388). 719 Vgl. Riedner 1927, S.l65. - Um die politische Einstellung Munckers genauer zu diskutieren, fehlt leider das notwendige Material. 720 Zu Lavater vgl. Muncker 1873. - Zu Rückert vgl. Muncker 1890. 721 Zu Kleist vgl. Muncker 1882. - Vgl. Muncker, Wieland, 1889. - Zu Immermann vgl. Muncker 1893. 722 Petersen 1928, S.92. 723 Vgl. Muncker, Bremer Beiträger, 1889. - Seitenangaben ab sofort im Text. 724 Borcherdt 1927, S.198.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
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Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 725 Der Redner erörterte am Anfang das Verhältnis von Literaturgeschichte und Sprachwissenschaft: "Die Literaturgeschichte bedarf der Sprachwissenschaft zur Grundlage; das Studium der Literatur muß sich notwendig auf der Kenntnis der Sprache und ihrer Entwicklung aufbauen: diese ist für jene Mittel zum Zweck. Zweck der literaturgeschichtlichen Forschung aber ist, den Werdegang des geistigen Lebens der Völker aus den unmittelbarsten Äußerungen ihres Denkens und Empfindens zu erkennen. Mit dieser Aufgabe tritt die Literaturgeschichte, obgleich sie die mannigfachen Errungenschaften der Philologie verwertet und namentlich die Methode von ihr entlehnt, doch auch wieder aus den engen Schranken der Philologie heraus und stellt sich als eine Grenzwissenschaft dar, die zwischen Philosophie, Philologie und Geschichte in der Mitte liegt, sich nahe mit Kunst- und Musikgeschichte berührt und gleich ihnen einen wichtigen Teil der allumfassenden Kulturgeschichte bildet." (S.3f.) Muncker verstand Philologie, die er mit Sprachwissenschaft gleichsetzte, als Basis für seine literarhistorischen Forschungen. Mit dieser Auffassung rekurriert er im Grunde auf die Anfänge des Fachs, das von der Sprachwissenschaft ausgegangen war. Er zieht damit stärkere Verbindungslinien, als es heute der Fall ist, und erscheint noch ganz als Vertreter der Germanistik des 19. Jahrhunderts. Seine übergreifende philologische Schulung schrieb Muncker vor allem Konrad Hofmann zu. 7 2 6 Auf den komparatistischen Forschungsansätzen von Hofmann und Bernays basiert vermutlich ein ausführlicher Vortrag Munckers vor der Bayerischen Akademie, der überschrieben war mit "Anschauungen vom englischen Staat und Volk in der deutschen Literatur der letzten vier Jahrhunderte". 727 Darin warf der Redner ganz neue Fragen auf: "Dagegen hat man sich bisher kaum ernstlich die Frage gestellt, wie die maßgebenden Persönlichkeiten unserer Literatur und unter ihrem Einfluß dann die literarische Welt überhaupt über das englische Volk und den englischen Staat dachten und urteilten. Erstreckte sich die Vorliebe für die englische Dichtung auch auf die sonstigen Verhältnisse Englands? Wie wechselten die Anschauungen? Was zog die deutschen Beobachter im englischen Leben am stärksten an? Wie bildeten sich gewisse Urteile,
725
Vgl. Muncker 1906. - Seitenangaben ab sofort im Text. 726 tiefer Dankbarkeit hat er an seinem siebzigsten Geburtstage davon gesprochen, wieviel er der klassischen und romanischen Philologie, die ihm in seiner Studienzeit durch Christ und Konrad Hofmann nahegebracht worden war, verdankt. Hier ruhen die Wurzeln seiner wissenschaftlichen Strebungen. Von hier nahm er das Rüstzeug zu seinen kritischen Ausgaben Klopstocks und Lessings, der deutschen Schriften Aventins und des altfranzösischen Versromans Joufrois, den der erst 25jährige zusammen mit Konrad Hofmann herausgeben durfte." (Borcherdt 1927, S.l99) 727 Vgl. Muncker 1918-1925. - Seitenangaben aus Teil 1 von 1918 ab sofort im Text.
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3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
wohl auch Vorurteile heraus? Wo begegnen uns in unserer Literatur zuerst bestimmte Auffassungen des englischen Wesens, die dann typisch in ihr und im deutschen Volke wurden?" ( S.3f.) Munckers Untersuchungszeitraum umfaßte vier Jahrhunderte, er reichte von dem Humanisten Erasmus bis zu dem bekannten Historiker Friedrich von Raumer und dokumentiert die Belesenheit des Münchner Ordinarius. Dem komparatistischen und kulturgeschichtlichen Prinzip gleichermaßen verschrieben war die Reihe "Forschungen zur neueren Literaturgeschichte". 7 2 8 Dem ersten Band fügte der Herausgeber Muncker ein programmatisches "Geleitwort" über Anlage und Zweck der einzelnen Hefte bei: "Die 'Forschungen zur neueren Literaturgeschichte' sollen in zwanglosen Heften, die nach Inhalt und Umfang verschieden, auch im Erscheinen an keine bestimmte Zeit und Reihenfolge gebunden sind, ausschliesslich wissenschaftliche Abhandlungen enthalten, die geeignet sind, unsere Kenntnis der einheimischen wie der fremden Literatur der letzten Jahrhunderte zu bereichern oder zu vertiefen. Sie sollen durchweg auf genauem, selbständigem Quellenstudium beruhen, aber den aus Quellen (auch aus ungedruckten Handschriften) geschöpften Stoff stets wissenschaftlich verarbeitet darbieten und, wo möglich, durch ihre stilistische Form auch die Aufmerksamkeit solcher Leser, die nicht zu der kleinen Anzahl engster Fachleute gehören, erregen und fesseln." 729 Die "Forschungen" entwickelten sich zum Publikationsort für Munckers (ehemalige) Doktoranden, die hier entweder ihre vollständige Dissertation oder eine neue Arbeit veröffentlichten. 730 Wie die Dissertationen, die Muncker betreute, zeichnete sich auch diese Reihe durch Themenvielfalt aus. 731 Die Methodenwahl überließ der Herausgeber ebenfalls den Verfassern, solange "der wissenschaftliche Grundcharakter" gewahrt blieb: "Keine schablonenhafte Gleichförmigkeit soll den einzelnen Abhandlungen aufgezwungen werden; auch keine einseitige Schule soll in ihnen zu Tage treten: den ein728 In dieser Reihe erschienen bis zu Munckers Tod insgesamt 58 Hefte, im Durchschnitt etwa zwei pro Jahr. Danach übernahm Munckers Nachfolger Walther Brecht die Herausgabe (vgl. Kap. 3.4.3.). 729 Muncker 1896, [erste Seite]. 730 Z.B. Warken tin, Roderich, Nachklänge der Sturm- und Drangperiode in Faustdichtungen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, Diss., München 1896, vollständig erschienen als: Forschungen zur neueren Literaturgeschichte 1, München 1896. - Z.B. Bd.3: Sulger-Gebing, Emil, Die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel in ihrem Verhältnis zur bildenden Kunst. - Emil Sulger-Gebing hatte 1894 bei Muncker mit einer Arbeit über "Dante in der deutschen Literatur bis zum Erscheinen der ersten vollständigen Übersetzung der Divina Commedia, 1767-1769" promoviert (vgl. UAM Ο I 75p). 731 Zu den Dissertationen vgl. weiter oben.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
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zelnen Verfassern soll vollkommene Selbständigkeit der Anschauung und des Urteils und selbst die Freiheit gewahrt bleiben, gelegentlich einmal statt der strengsten philologisch-historischen Methode eine mehr ästhetisch-psychologische Betrachtungsweise zu wählen. Nur der wissenschaftliche Grundcharakter soll allen Heften der Sammlung gemeinsam sein." 732 Mit dieser Aussage stellte sich Franz Muncker selbst als Vertreter der philologisch-historischen Methode vor, die er in seiner fast fünfzigjährigen Universitätslaufbahn in München zahlreichen Schülern vermittelte. Die jüngeren Germanistengenerationen nutzten dieses Wissen als Rüstzeug, um selber zu neuen Forschungsansätzen vorzustoßen, allerdings erst nach ihrer Zeit in München. Bildlich gesprochen: Die Textkritik und die historische Perspektive dienten ihnen als solides Fundament, um neue Gebäude zu entwerfen. Dabei hielt der Wissenschaftler in allen Veröffentlichungen an der Methode fest, wie er sie von Michael Bernays und Konrad Hofmann gelernt hatte. Auch bei der Wahl der Forschungsgebiete war der Einfluß aus der eigenen Studienzeit unverkennbar. Was die Anwendung der philologisch-historischen Methode angeht, erfuhr sie unter Muncker eine deutliche Verfeinerung. Insbesondere seine historisch-kritische Lessing-Ausgabe ist eine Paradebeispiel für exakte philologische Forschung, die in jedem Schritt nachvollziehbar ist. Klare Parallelen ergab ein Vergleich zwischen dem Vorlesungs- und Forschungsprogramm von Franz Muncker. Um das Bild des Universitätsdozenten zu konkretisieren, fehlt allerdings das Material. In der Erinnerung von Studenten und Kollegen blieb er als menschlich offen und hilfsbereit, mit einem hervorragenden Gedächtnis begabt und in vielen Gebieten bewandert. Kritisiert wurde seine geringe Neigung zu einem wertenden Urteil, was auf der anderen Seite als Zuwachs an Objektivität ausgelegt wurde. Von der in Berlin und damit an der führenden deutschen Universität herrschenden Scherer-Schule - von den nachfolgenden Vertretern der geistesgeschichtlichen Methode als "Positivismus" bezeichnet - zeigte sich München weit entfernt. Der Übergang von Bernays auf Muncker sowie dessen langes Verweilen auf dem Lehrstuhl zeitigte ein starkes Moment der Kontinuität. So setzte sich an der L M U eine Tradition fort, die im frühen 19. Jahrhundert in der philologischen Behandlung altdeutscher Literatur ihren Anfang genommen hatte und dann einfach auf die neuere Literatur übertragen worden war. Auch wenn die positivistische Literaturwissenschaft ihre Schwächen in ihrer Einseitigkeit und in ihrem Extremismus nicht leugnen konnte, versäumte man es in München, ihre Chancen zu nutzen und auf diese Weise das Methodenspektrum zu bereichern.
732
Muncker 1896, [erste u. letzte Heftseite].
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3.4.3. Walther Brecht - der erste "Literaturwissenschaftler"
in München
Für den langjährigen Inhaber des Lehrstuhls für neuere deutsche Philologie, Franz Muncker, hatte sich der aktuelle Forschungsstand als wenig zufriedenstellend erwiesen. 733 Noch lückenhafter stellt sich das Bild bei seinem Nachfolger dar. Das Interesse an Walther Brecht erschöpfte sich bislang in einem Nekrolog von Carl von Kraus und in knappen biographischen Artikeln. 7 3 4 Jüngst hinzugekommen ist ein Aufsatz von Christoph König, der u.a. die Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal thematisiert. 735 Fundierten wissenschaftshistorischen Ansprüchen vermögen diese Beiträge nicht zu genügen. Der Schritt in das wissenschaftsgeschichtliche "Neuland" wird zusätzlich durch die schlechte Quellenlage erschwert. 736 Brechts äußere universitäre Laufbahn läßt sich zwar durch die Akten des Universitätsarchivs und des Bayerischen Hauptstaatsarchivs gut rekonstruieren, doch die Konturen des Dozenten bleiben verschwommen: Zum einen fehlen Vorlesungsmanuskripte, zum andern aussagekräftige Zeugnisse von Schülern oder Kollegen. Wichtige Anhaltspunkte zu Brechts Bereitschaft, nach München zu kommen, liefern seine Briefe an Carl von Kraus. 737 Da sie kurz nach seinem Eintreffen in München enden, liegen keine Stellungnahmen des Ordinarius zu seiner Zwangsemeritierung im Jahr 1937 vor. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich deshalb vor allem auf Vorlesungsankündigungen, Promotionsakten seiner Doktoranden sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen und können deshalb nur fragmentarisch sein. Als Sohn eines bekannten Augenarztes wurde Walther Brecht am 31. August 1876 in Berlin geboren. 738 Von 1896 bis 1901 studierte er Deutsche Philologie, Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten Freiburg, Bonn und Göttingen. Zu seinen wichtigsten akademischen Lehrern zählte er Robert Vischer und Gustav Roethe. 739 Bei letzterem erlangte er im Juni 1903 den phi-
733
Vgl. Kap. 3.4.2. Vgl. die Personalbibliographie. 735 Vgl. König 1993. 736 Vgl. die Personalbibliographie. 737 Insgesamt 77 Briefe aus den Jahren 1904 bis 1928 (vgl. StB Krausiana I). 738 Für die Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 739 Vgl. Brecht 1903, S.81. - Vgl. dazu auch die "Erinnerungen" von Friedrich von der Leyen: "Ich war ein frisch gebackener Doktor, da kam ein dem Gymnasium eben entronnener zukünftiger Student zu mir, Walter Brecht: ein Freund meines Vaters hatte ihn mir geschickt. Er wollte Germanist werden: welche Universität ich ihm raten würde? Ich empfahl ihm, mit Erfolg, Göttingen und Gustav Roethe. Neben diesem 734
3.4. Die neuere deutsche Philologie
241
losophischen Doktorgrad. Wiederum in Göttingen wurde er am 12. Mai 1906 aufgrund seiner Arbeit über "Ulrich von Lichtenstein als Lyriker" zum Privatdozenten ernannt. Nach vier Jahren erhielt er einen Ruf als ordentlicher Professor und Direktor des Seminars für Deutsche Philologie an die Preußische Akademie in Posen. 1914 ging er als Nachfolger von J. Minor nach Wien, 1926 wegen Arbeitsüberlastung nach Breslau. An beiden Hochschulen war er zusätzlich Mitdirektor des Deutschen Seminars. An der Ludwig-MaximiliansUniversität lehrte er ab dem 1. Oktober 1927 als Ordinarius für neuere deutsche Literaturgeschichte und war Mitvorstand des Seminars für Deutsche Philologie. Unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde Brecht am 1. Juli 1937 zwangsemeritiert, da seine zweite Ehefrau "nicht arisch" war. 7 4 0 Erst nach dem Ende der Nazidiktatur wurde ihm "zur Wiedergutmachung des [...] zugefügten Unrechts" sein früheres Amt wieder übertragen und er gleichzeitig offiziell emeritiert. 741 Bereits vier Jahre später starb Waither Brecht im Alter von knapp 74 Jahren in München. Wie seine Briefe an Carl von Kraus, den Altgermanisten an der L M U , belegen, war Brecht an dem Lehrstuhl in München sehr interessiert. Im Frühjahr 1927 häufen sich die Briefe aus Breslau, wohin er erst im Jahr zuvor einem Ruf gefolgt war. Er signalisierte sogar Bereitschaft, in finanziellen Fragen einzulenken: "In puncto Gehalt würde ich ev. mit mir reden lassen, es käme da aber natürlich ebenfalls alles auf das Nähere an. Daß ich sehr gern nach München gehen würde, ist ja klar." 742 Brecht versäumte es auch nicht, darauf hinzuweisen, daß man in Berlin die mit Bayern getroffene Vereinbarung, Professoren mindestens zwei Jahre nicht neu zu berufen, sehr großzügig handhaben würde. 743 Kraus muß den Breslauer Ordinarius in seinen (nicht vorliegenden) Antwortbriefen stets auf dem laufenden gehalten haben, denn wiederholt bedankt sich dieser für neue Mitteilungen. Vermutlich setzte er ihn noch vor den offiziellen Stellen von seiner Berufung in Kenntnis, denn am "Karfreitag 1927" schrieb Brecht: "Es wäre herrlich, wenn aus München etwas würde!
wurde Robert Vischer sein Heiliger. Göttingen blieb für ihn die Universität, seine unvergeßliche akademische Heimat." (Leyen 1960, S.230) 740 Vgl. Kap. 2.5.1. 741 BayHStA, ME, KuMi an Rekt., 5.8.1946. 742 StB Krausiana I, Brecht an Kraus, 2.4.1927. 743 Ebd., Brecht an Kraus, zweiter Brief vom 2.4.1927.
242
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
[...] Möchte die gestern erhaltene Nachricht durch Sie ihre Bestätigung, durch die sie überhaupt erst den Wert einer Thatsache erhielte, empfangen!" 744 Daß Brecht schließlich berufen wurde, obwohl er auf der Vorschlagsliste der Kommission zuerst nur an dritter Stelle (zusammen mit Ernst Bertram) gestanden hatte, spricht für den Einfluß des amtierenden Institutsvorstands in München. 745 Carl von Kraus muß sich für den ehemaligen Wiener Kollegen sehr eingesetzt haben. 746 Im Zuge der Neubesetzung des Munckerschen Lehrstuhls hatte sich die Kommission für eine Neuformulierung des Lehrauftrags ausgesprochen. 747 Brecht kam als Ordinarius für "neuere deutsche Literaturgeschichte" nach München. 748 Dementsprechend lassen sich bei ihm nur wenige Vorlesungen mit einer "übernationalen" bzw. mediävistischen Komponente nachweisen.749 Nahezu einen festen Bestandteil der durchschnittlich drei Ankündigungen pro Semester bildete ein gattungsgeschichtlicher oder literaturgeschichtlicher Überblick über eine bestimmte Zeit. 7 5 0 Zur Abgrenzung wählte Brecht weniger häufig als seine Vorgänger Daten oder Jahrhundertgrenzen, sondern die Gliederung in literarische Epochen. 751 War diese wegen der geringen zeitlichen Distanz noch nicht vorgebildet, markierte ein historisches Ereignis eine zeitliche Grenze. 752 Zum Standardprogramm von Brecht gehörten "Übungen", in denen er verschiedene Aspekte behandelte: Neben "literarhistorischen" (SS 1930) finden
744
Ebd., Brecht an Kraus, Karfreitag 1927 [= 15.4.1927]. Zur Neubesetzung des Muncker-Lehrstuhls vgl. Kap. 2.4.1.4. 746 Drei Jahre lang hatten Brecht und Kraus gemeinsam in Wien gelehrt. Brecht erinnerte sich gern an diese Zeit: "1914-17 waren doch die schönsten Jahre." (StB Krausiana I, Brecht an Kraus, 9.3.1927) 747 Vgl. Kap. 2.4.1.4. 748 Vorher "neuere, insbesondere deutsche Literaturgeschichte". 749 "Geschichte des europäischen Romans von der Aufklärung bis zur deutschen Romantik" (SS 1928) und "Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland" (1933; vgl. dazu auch Brecht 1911). - "Der Werdegang der deutschen Literatur in Mittelalter und Neuzeit" (SS 1931) und "Die Triebkräfte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart" (WS 1932/33). 750 Z.B. "Geschichte des Romans im 18. und 19. Jahrhundert" (SS 1930). 751 Z.B. "Geschichte der deutschen Literatur von Goethes Tode an" (SS 1931) oder "Geschichte der deutschen Literatur im 16. Jahrhundert" (1935). - Z.B. "Geschichte der deutschen Literatur im Zeitalter der Spätrenaissance und des Barocks" (WS 1930/31) oder "Geschichte der deutschen Literatur von der Spätromantik bis auf den Naturalismus" (1933/34). - Zu Bernays und Muncker vgl. Kap. 3.4.1. und 3.4.2. 752 Z.B. "Geschichte der deutschen Literatur im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und bis zum Weltkrieg" (WS 1931/32). 745
3.4. Die neuere deutsche Philologie
243
sich "biographische Übungen" (WS 1930/31), "stilkundliche" (SS 1935) neben "Interpretationsübungen" (SS 1934 oder 1937). Mehrmals unterschied er hier zwischen "Anfängern" (z.B. 1930) und "Vorgerückten" (WS 1931/32), was für eine entsprechende didaktische Aufbereitung spricht. Alternierend oder aber zusätzlich zu den Übungen kündigte Brecht die "Lektüre" oder "Interpretation" ausgewählter Dichtungen an, wobei er eine deutliche Vorliebe für Lyrik zeigte. 753 Die Häufigkeit von Interpretations-Kollegs weist bereits auf den Wandel hin, den Waither Brecht am Institut einleitete: Hatte mit Franz Muncker noch die philologisch-historische Methode dominiert, verlagerte sich nun das Schwergewicht hin zur Literaturwissenschaft im heutigen Sinn, die ihre zentrale Aufgabe in der umfassenden Interpretation einer Dichtung sieht. 754 Noch markanter tritt diese Veränderung bei den Veröffentlichungen des neuen Ordinarius zutage. 755 Weniger Unterschiede fallen bei der Wahl der Dichter auf. Wie schon bei Bernays und Muncker werden Schiller und vor allem Goethe ausführlich behandelt. 756 Etwa im zweijährigen Rhythmus las Brecht z.B. über "Das deutsche klassische Drama Goethes und Schillers". 757 Neben den Klassikern finden auch Grillparzer, C. F. Meyer, Hölderlin und Hans Sachs Beachtung. 758 Im SS 1933 stand "Hofmannsthal und die österreichische Dichtung neuerer Zeit" im Mittelpunkt eines Kollegs. Damit ehrte Brecht einen mit ihm eng befreundeten Dichter, dem er nach dessen Tod auch mehrere Veröffentlichungen widmete. 759 Da Vorlesungsmanuskripte fehlen, können die Ankündigungen nicht mit einer konkreten Vorstellung gefüllt werden, wie Brecht seine Kollegien konzipierte. Auch über seinen Vorlesungsstil liegen keine Aussagen von Schülern und/oder Kollegen vor. Noch aus der Wiener Zeit, kurz vor Brechts Weggang nach Breslau, stammt folgendes Urteil Hugo von Hofmannsthals:
753
Z.B. "Vergleichende Interpretation ausgewählter lyrischer Gedichte von Opitz bis Mörike" (SS 1928) oder "Interpretation von Klopstocks Oden" (1930). 754 Insgesamt 16 Interpretation-Kollegs. - Zu Muncker vgl. Kap. 3.4.2. 755 ygi w e i t e r unten. 756
Vgl. Kap. 3.4.1. und 3.4.2. WS 1929/30, SS 1932, 1934 und 1937. 758 Grillparzer: WS 1929/30, SS 1932, WS 1935/36, SS 1937. - Meyer: WS 1932/33, SS 1935. - Hölderlin: SS 1933. - Sachs: WS 1933/34. 759 Vgl. weiter unten. 757
244
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
"Das Semester geht zu Ende. Es ist das letzte, das W. Brecht lehrend an dieser Universität verbringen wird. Die Universität besitzt viele Gelehrte von Rang: in Brecht verliert sie, was schlechthin niemals zu ersetzen ist, eine Lehrerpersönlichkeit." 760 Da die Freundschaft zwischen ihnen über Jahre hinweg im privaten Rahmen gepflegt wurde, übertrug Hofmannsthal vermutlich seine privaten Erfahrungen auf den Universitätslehrer. 761 Nimmt man die Zahl seiner erfolgreichen Doktoranden als Kriterium für die Beliebtheit eines Hochschullehrers, gehörte Brecht sicher zu ihnen. Insgesamt entstanden in München unter seiner Leitung 52 Dissertationen, während seiner Zeit als Institutsmitvorstand 48. 7 6 2 Der Durchschnitt von etwa fünf Promotionen pro Jahr wurde 1931 und 1934 mit jeweils acht Doktorarbeiten deutlich übertroffen, was aber kaum auf außeruniversitäre Gründe zurückzuführen sein dürfte. Im selben Zeitraum betreute Carl von Kraus nur 18 Dissertationen. 763 Der Vergleich bestätigt frühere Beobachtungen, daß die neuere Abteilung deutlich mehr Promovenden stellte. 764 Bei der Themenstellung deckte Brecht nahezu den vollen Umfang der neueren deutschen Literatur ab. Zeitlich gesehen reichte die Palette vom Barock bis zur Gegenwart. 765 Wie bei den Vorlesungen zeigt sich auch hier eine Vorliebe für Lyrik: Sieben Arbeiten behandeln diese poetische Gattung oder einen ihrer Vertreter, darunter auch unbekanntere Dichter. 766 Der engere Bereich der Literatur wird durch theatergeschichtliche, kulturgeschichtliche oder philoso-
760
Hofmannsthal 1955, S.320f. - Auch in: Brecht Erika 1946, S.45. - Es handelt sich hier um Notizen zu einem Aufsatz "Brecht als Lehrerpersönlichkeit", den Hofmannsthal für die Festschrift zu Brechts 50. Geburtstag (vgl. DVjs 4 von 1926) plante. Der Aufsatz kam nie zustande. - Der geplante Festschriftbeitrag belegt die "geistigeprivate Verbündung" zwischen Literaten und geistesgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaftlern in den zwanziger Jahren (vgl. den gleichlautenden Beitrag von Christoph König von 1993, v.a. S.156-162). 761 Zur Freundschaft zwischen Brecht und Hofmannsthal vgl. Brecht Erika 1946 und König 1993. 762 Vgl. Tab. 2 und 1. 763 Vgl. Tab. 1 (Zeitraum: 1927-1937). 764 Vgl. Kap. 3.4.1. und 3.4.2. 765 Z.B. Jerschke, Irmgard, Wolfgang Helmhard Freiherr von Hohberg, ein Dichter aus der Zeit des Barock, Emsdetten 1936 (vgl. UAM Ο Np WS 1934/35). - Linzenbach, Anna, Die Sprache Ernst Wiecherts, Diss. Masch, 1947. 766 Z.B. Gerstner, Hermann, Studien über Julius Grosse. Julius Grosse als Lyriker, Würzburg 1928 (vgl. UAM Ο Np WS 1927/29). - Hock, Erich, Das Schmerzerlebnis und sein Ausdruck in Grillparzers Lyrik, Berlin 1937 (vgl. UAM Ο Np WS 1935/36). - Zu den Vorlesungen vgl. weiter oben.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
245
phisch bestimmte Themen ausgeweitet.767 Daneben finden sich aber auch Standardarbeiten wie die monographische Untersuchung eines Dichters oder motivgeschichtliche Fragestellungen. 768 Daß Brechts Interesse sich nicht in der deutschen Nationalliteratur erschöpfte, zeigen komparatistische Aspekte z.B. bei der Untersuchung von "Whitmans Einfluss auf die deutsche Lyrik um die Jahrhundertwende". 769 Das Gutachten über die Dissertation von Edgar Hederer mit dem Thema "Novalis' 'Christenheit oder Europa'" führt exemplarisch vor, daß Brecht neben der fachlichen Kompetenz auch menschliche Qualitäten hochschätzte: "Der Verfasser hat ein für einen Dissertanten ungewöhnliches Maß von Wissen auf den genannten Gebieten, verbunden mit einem ebenfalls nicht gewöhnlichen menschlichen Reifegrade, aufgeboten, um seiner Aufgabe gerecht zu werden. Die philologische Aufmerksamkeit auf das vorliegende Objekt vereinigt sich in fruchtbringender Weise mit der Fähigkeit geschulter wie selbständiger Stellungnahme zu den philosophischen, religiösen, theologischen und geistesgeschichtlichen Ideen und Auffassungen, um die es sich hier handelt."770 Während Brechts Amtszeit erreichten nur Walther Rehm und Johannes Alt den Rang eines Privatdozenten. 771 Einen ähnlichen Rückgang an Habilitationsverfahren wies auch die ältere Abteilung auf, so daß es vermutlich nicht mit einer prinzipiell ablehnenden Haltung des Institutsvorstands in Verbindung gebracht werden kann. 772
767
Z.B. Hirsch, Hans, Johann Michael Boeck (1743-1793). Ein Kapitel aus der Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts, München 1931 (vgl. UAM Ο Np WS 1929/30). - Brecht war ein begeisterter Theaterbesucher, nicht nur in Wien oder Salzburg, sondern auch in München (vgl. Brecht Erika 1946, S.72). - Z.B. Weil, Edgar, Alexander von Sternberg (Peter Alexander Freiherr von Ungern-Sternberg). Ein Beitrag zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1932 (vgl. UAM Ο Np SS 1930). - In der kulturgeschichtlichen Komponente ist eine Parallele Muncker-Brecht festzustellen (vgl. Kap. 3.4.2.). - Z.B. Krauss, Ingrid, Studien über Schopenhauer und den Pessimismus in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, Bern 1931 (vgl. UAM Ο Np WS 1929/30). 768 Z.B. Härtungen, Hartmut von, Der Dichter Siegfried Lipiner (1856-1911), o.O. 1932 (vgl. UAM Ο Np SS 1932). - Z.B. Junker, Christoph, Das Weltraumbild in der deutschen Lyrik von Opitz bis Klopstock, Berlin 1932 (UAM Ο Np WS 1929/30). 769 Vorgelegt von Hertha Alletzhauser im Jahr 1931 (vgl. UAM Ο Np SS 1931). 770 UAM Ο Np SS 1933 Hederer, Gutachten Brecht, 15.7.1933. 771 Vgl. Tab. 3 und Kap. 2.4.1.4. - Das Habilitationsverfahren von Rehm hatte bereits unter Muncker begonnen und zog sich über zwei Jahre hin (vgl. Kap. 2.4.1.2. und 3.4.2.). - Edgar Hederers Ernennung zum Privatdozenten erfolgte erst 1948 (vgl. UAM Ε II Ν und BayHStA MK 43726). 772 Vgl. Kap. 3.3.2.
246
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Bei den wissenschaftlichen Publikationen von Walther Brecht läßt sich eine Veränderung sowohl in bezug auf die Thematik als auch auf das methodische Vorgehen feststellen: Sein Forschungsinteresse verlagerte sich immer mehr hin zur Gegenwart, und gleichzeitig trat die philologische Perspektive zugunsten einer auf die Interpretation des Kunstwerks hin ausgerichteten Sichtweise zurück. Diese Entwicklung hin zur Geistesgeschichte vollzog sich nicht radikal, denn Ansätze des "späten" Brecht sind bereits in den ersten Veröffentlichungen zu erkennen, weshalb diese relativ ausführlich zur Sprache kommen sollen. Brecht debütierte mit der Untersuchung "Die Verfasser der Epistolae obscurorum virorum", die aus seiner Dissertation hervorgegangen war. 773 Bereits die Widmung weist ihn als Schüler von Gustav Roethe aus, der sich "zur Freude und Strenge rein philologischer Arbeit" bekannte. 774 In diesem Sinn hebt Walther Brecht die philologische Basis seiner Stiluntersuchung hervor, mit der er die Autoren der "Dunkelmännerbriefe" ermitteln will: "Die Stiluntersuchung aber hat eine zwiefache, über das bloß Heuristische hinausgehende Bedeutung. Zu der Feststellung der Verfasser und der Zuweisung ihres Anteiles gelangt sie nur, indem sie sich bestrebt, den besonderen künstlerischen Charakter des Werkes, in seiner Einheit wie in seiner Differenziertheit, zu erkennen. Das Mittel erhält Wert an sich. Das K u n s t w e r k d e r E p i s t o l a e o b s c u r o r u m ν i r ο r u m zu erklären, soweit das denn möglich ist, vermag allein die philologische Betrachtung. Das ist ihre zweite, fast wichtigere Aufgabe. Ohne die erste ist sie nicht zu denken; beide sind nur zugleich lösbar." (S.2) Im Gegensatz zu Bernays und Muncker betont Brecht jedoch weniger die textkritische als die hermeneutische Komponente der Philologie, indem er das "Kunstwerk" in den Mittelpunkt stellt: "Ich habe das Thema im engeren Sinne philologisch aufgefaßt, das heißt, ich habe, wie sich die bei einer auf Feststellung der Verfasserschaft gerichteten Stiluntersuchung von selbst ergibt, die Epistolae wesentlich als Kunstwerk betrachtet, nicht als Zeitdokument. Vom Kunstwerke bin ich immer ausgegangen: immer habe ich die Zeit zur Erklärung des Kunstwerks herangezogen, niemals aber das Kunstwerk nur zur Illustration der Zeit, wie es der Historiker tut." (S.VII) 775
773
Vgl. Brecht 1904. - Seitenangaben ab sofort im Text. - Dissertation von 1903 (vgl. Brecht 1903). 774 Zum fünfzigjährigen Jubiläum des germanistischen Instituts der Universität Leipzig. 1873 bis 1923, o.O. [Leipzig] o.J. [1923], S.8, zit. nach: Marquardt 1988, S.685. 775 Mit dieser Aussage grenzt er sich strenggenommen jedoch mehr von den Historikern als von den Textkritikern ab. - Zu Bernays und Muncker vgl. Kap. 3.4.1. und 3.4.2.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
247
Mit den "Epistolae" wählte Brecht Literatur aus, die von deutschen Humanisten (Ulrich von Hutten und Crotus Rubianus) in lateinischer Sprache verfaßt worden war. Wie bei Hermann Paul entschied also nicht die Sprache der Dichtung, sondern die Herkunft des Dichters über die Zugehörigkeit zur deutschen Literatur. 776 Zeitlich noch weiter zurück als die "Dunkelmännerbriefe" liegt das Thema von Brechts Habilitationsschrift "Ulrich von Lichtenstein als Lyriker". 7 7 7 Vermutlich läßt sich noch hier die Prägung durch Gustav Roethe ausmachen, der sich stets für die Einheit von älterer und neuerer Germanistik ausgesprochen hatte. 778 Allerdings unterschied sich die Brechtsche Arbeit beträchtlich von den üblichen mediävistischen des 19. Jahrhunderts, denn Textkritik spielte fast überhaupt keine Rolle. 779 Statt dessen zielte Brecht auf "die erkenntnis der lyrik Ulrichs in ihrem individuellen kunstcharakter" (S.l) ab: "Die Untersuchung richtet sich demgemäß auf die motive, die composition, den stil
des poetischen ausdrucks, die literarhistorische Stellung Ulrichs und seinen Charakter." (S.2) 780 Walther Brecht sah also die Lyrik dieses mittelalterlichen Dichters nicht von ihrer sprachmateriellen Seite oder als zu rekonstruierendes Textdenkmal; ihn interessierte vielmehr die Dichtung als Ausdruck einer individuellen Persönlichkeit. Mit diesem Verständnis bewegte er sich aber deutlich weg von der philologisch, d.h. sprachwissenschaftlich bestimmten Literaturbetrachtung hin zu einer an Interpretation orientierten Literaturwissenschaft im heutigen Sinne. Trotzdem versagte der Vertreter der älteren Abteilung in München, Carl von Kraus, dem Werk seine Anerkennung nicht: "Fein und sicher geführt gehört diese Untersuchung zu den besten, die wir über mittelhochdeutsche Lyrik besitzen."781 Bereits in seinem "Epistolae"-Buch hatte Brecht auf italienische Einflüsse auf Deutschland und die deutschen Humanisten hingewiesen. 782 Daß ihn dieses Thema weiter fesselte, zeigt die Untersuchung "Heinse und der ästhetische Immoralismus. Zur Geschichte der italienischen Renaissance in Deutsch776
Zu Paul vgl. Kap. 3.3.1. Vgl. Brecht 1907. - Seitenangaben ab sofort im Text. 778 Zu Roethe vgl. Richter 1960, S.493. 779 "Ich habe den t e x t zu gründe gelegt, den Lachmann in seiner gesamtausgabe Ulrichs (Berlin 1841) gegeben hat. Die von bechstein in seiner commentierten ausgäbe des FD (Leipzig 1888) vorgeschlagenen änderungen sind so gut wie durchweg zu verwerfen." (Brecht 1907, S.l) 780 Diese Aufzählung entspricht der Gliederung der Untersuchung (vgl. S.l22). 781 Kraus 1950, S.184. 782 Vgl. Brecht 1904, S.XV. 777
17 Bonk
248
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
land". 783 Ziel war es, eine noch unentdeckte Seite von Heinse zu erhellen, nämlich seine Rolle als "wichtiger Vermittler" der italienischen Renaissance in Deutschland. Waither Brecht vergaß über der individuellen Dichterpersönlichkeit, der er umfassend gerecht werden wollte, die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge nicht: "Bisher hat man Wilhelm Heinse, seitdem man ihn überhaupt ernst nimmt, nur zur Romantik in Beziehung gesetzt, als einen in vieler Hinsicht überleitenden Ausläufer des Sturmes und Dranges; ich möchte außerdem zeigen, auf welchem Boden seine individualistischen Ideen gewachsen sind, ihn so auch nach rückwärts verbinden, und, indem ich seine Verwandtschaft und seinen möglichen Zusammenhang mit neuesten Ideen erwäge, ihn in seiner historischen Gesamtbedeutung erfassen." (S.VII) Der Untersuchung liegen ausgedehnte Quellenstudien zugrunde. Vor allem der zweite Abschnitt ("Mitteilungen aus Heinses Nachlass", S.71-169) bezeugt das gründliche methodische Vorgehen des Verfassers, ebenso das beigefügte Literaturverzeichnis. 784 Ausgesprochen zeitbezogen erweist sich die nächste Veröffentlichung, die sich an einen gleichlautenden Vortrag anschloß: "Deutsche Kriegslieder sonst und jetzt". 7 8 5 Diesem Aufsatz kommt in erster Linie deshalb Bedeutung zu, weil er Brechts damalige politische Gesinnung verrät. Der Vortrag entstand wenige Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Nur so erklärt sich die unrealistische Verherrlichung des Soldatendaseins: "Nicht nur den Zurückgebliebenen, nicht nur den Ausziehenden formte sich übermächtig ausbrechende Empfindung in Vers und Klang; auch den im Felde Stehenden, denen, die im Schützengraben liegen, denen, die im ermüdenden Schritt des endlosen Marsches einherziehen, die auf einsamer Strandwacht über das Meer spähen oder in den unabsehbaren Steppen Polens sich die nächtliche Müdigkeit aus den Augen scheuchen, hat oft und oft tiefes und starkes Gefühl sich ungewollt in Reim und Rhythmus gefügt und beruhigt; und in unzähligen Feldpostbriefen ins Feld und aus dem Felde, hinüber und herüber, stehen V e r s e . " (S.4) Brecht baut mit am englischen Feindbild, indem er auf den (vermeintlichen) Gegensatz zu Deutschland hinweist. Für ihn steht fest, daß das Ausland den deutschen Idealismus als Militarismus verkennt:
783
Vgl. Brecht 1911. - Seitenangaben ab sofort im Text. - Bereits in seiner Probevorlesung hatte Brecht "Die Auffassung der Renaissance bei Wilhelm Heinse und ihre Nachwirkungen" behandelt (vgl. Chronik der Georg-August-Universität für 1906, 1907, S.14). 784 Das Literaturverzeichnis unterscheidet jedoch nicht zwischen Quellen und Literatur, ebenso wenig zwischen ungedruckten und gedruckten Quellen (vgl. S.190195). 785 Vgl. Brecht 1915, hic: S.45. - Seitenangaben ab sofort im Text.
3.4. Die neuere deutsche Philologie
249
"Was tat England unterdessen? Es rechnete, rechnete fieberhaft. Es rechnete, ob das neue, kriegerische Geschäftsunternehmen auch wirklich profitabel wäre; es rechnete damit es profitabel würde. Es will aushalten 'bis zum letzten Penny1; wir bis zum letzten Mann. England rechnet, Deutschland dichtet. Es dichtet im ungewissen Beginn des furchtbarsten Krieges, den es je gegeben. Dieselben Menschen, die sich rüsten, sind es vielfach, die jetzt dichten. Das allein widerlegt bündig den törichten Wahn, als sei der deutsche 'Militarismus' etwas anderes als der alte deutsche 'Idealismus' Schillers und Goethes. Nein, gerade das zeigt: wir sind noch dieselben!" (S.3f.) Aus "dem flutenden Reichtum" an Kriegsgedichten, den er anhand von zahlreichen Beispielen seit dem Mittelalter belegt, gewinnt er schließlich die Gewißheit für den deutschen Sieg (vgl. S.44). Mit seiner Verachtung für den englischen Feind und seiner Siegeseuphorie stand Walther Brecht durchaus nicht allein. Im September 1914 unterzeichneten zahlreiche deutsche Hochschullehrer eine Erklärung, mit der sie "in deutschem Nationalgefühl" englische Auszeichnungen niederlegten. 786 Von ähnlichem Geist zeugt die Erklärung gegen die Oxforder Hochschulen, an der sich 26 Professoren beteiligten. 787 In einer weiteren Erklärung stellten sich "die Hochschullehrer des Deutschen Reiches" bewußt auf die Seite des deutschen Heeres, von dessen Sieg das "Heil" Europas abhänge: "Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche 'Militarismus' erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes."788 In manchen Passagen erinnert diese "Erklärung" an Brechtsche Formulierungen, auch wenn er nicht auf der Liste der Unterzeichner steht. 789 Inwiefern Brecht später von dieser Haltung abrückte, bleibt wegen der schlechten Quellenlage weitgehend offen. Noch 1925 ist von einer national geprägten Auffassung auszugehen, wenn man annimmt, daß er sich den Zielen des Wiener Germanistenvereins anschloß. Denn er lieferte einen Beitrag zu einer Festschrift, in deren Vorwort es hieß: "Der Wiener Germanistenverein will damit sein erstes Bestreben bekunden, das hohe Verantwortungsgefühl gegen deutsche Kultur und deutsches Geistesleben in den Reihen seiner Anhänger wie auch in weiteren Kreisen stets wach zu erhalten. Von dem Gedanken geleitet, daß gerade die der romantischen Vorstellungs- und Empfin786
Kellermann 1915, S.28f., hic: S.29. - Brecht nicht auf der Liste der Unterzeichner. 787 Vgl. ebd., S.90-93. - Brecht nicht auf der Liste der Unterzeichner. 788 Erklärung 1914, S.l. 789 Brecht lehrte zu diesem Zeitpunkt in Wien. Die österreichisch-ungarische Monarchie gehörte damals nicht zum Deutschen Reich. 17*
250
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
dungs weit entspringende Nationalphilologie dazu berufen sei, gegenwärtig die wichtigsten Erkenntnisse des germanistischen Studiums auf dem Gebiete der Volkserziehung und Pflege des Heimatgedankens nutzbar zu machen."790 Tatsache ist weiterhin, daß Brecht unter dem Nationalsozialismus zwangsemeritiert wurde, was "schlimme Jahre" nach sich zog. 791 Es ist daher kaum anzunehmen, daß er sich mit dessen Ideologie identifizierte. Von einer konservativen Grundhaltung kann man bei ihm allerdings ausgehen. Die Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal rückt ihn in den Umkreis der "Konservativen Revolution", "jener geistigen Erneuerungsbewegung, welche das vom 19. Jahrhundert hinterlassene Trümmerfeld aufzuräumen und eine neue Ordnung des Lebens zu schaffen sucht[e]." 792 Mit der nächsten Veröffentlichung kehrte Brecht auf sein eigentliches Terrain zurück. "Conrad Ferdinand Meyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung" belegt auf der Publikationsebene die Vorliebe für Lyrik, die bereits für seine Dozententätigkeit nachgewiesen werden konnte. 793 Wie bei Heinse versuchte er eine Lücke in der Forschung zu schließen, die bislang die Komposition von Meyers Gedichtsammlung von 1882 nicht berücksichtigt hatte. 794 Statt dessen hatte man - durchaus zeit- und fachtypisch - die Genese der einzelnen Gedichte untersucht, sie aber kaum interpretiert (vgl. S.IX). 7 9 5 Aufschlußreich erweist sich die Vorrede auch für Brechts methodisches Vorgehen. Obwohl er in der Dichtung selbst seinen Hauptgegenstand erkennt, lehnt er eine rein werkimmanente Methode ab. Eine Bereicherung der Kenntnisse verspricht er sich von biographischem Material und von einem vergleichenden Blick auf das Gesamtwerk des Dichters: "Nur aus der behutsamen Betrachtung des Werkes selbst können die eigentlichen poetischen Wesenszüge gewonnen werden, und das Werk ist und bleibt die Hauptsache, worauf es ankommt; denn des Werkes wegen beschäftigen wir uns mit dem
790
Brecht 1925, O.S. (Vorwort zur Festschrift). Leyen 1960, S.231. 792 Möhler 31989, Bd.l, S.XXVIII. - Offenbar ohne Brechts Initiative kam Hofmannsthals Rede "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation" am 10. Januar 1927 im Auditorium maximum der Universität München zustande. Veranstalter waren die Dichtervereinigung 'Die Argonauten' und die Münchner Goethe-Gesellschaft (vgl. Hofmannsthal 1980, S.632). Mit Hofmannsthals Rede wurde der Begriff "Konservative Revolution" zum politischen Schlagwort. - Abdruck der Rede: ebd., S.24-41 (vgl. dazu Rudolph 1970, S.211-224). - Allg. zur "Konservativen Revolution" vgl. Möhler 31989. 793 Brecht 1918. - Seitenangaben ab sofort im Text. - Zu den Vorlesungen über Lyrik vgl. weiter oben. 794 Zu Heinse vgl. weiter oben. 795 Vgl. Kap. 3.4.1. 791
3.4. Die neuere deutsche Philologie
251
Dichter. [...] Aber das kann nicht ausschließen, daß wir, wie natürlich, auch mit unserer sonstigen Kenntnis der Persönlichkeit des Dichters wie mit der seiner anderen Werke, auch an dieses Werk herantreten, und mit allem Bewußtsein der darin liegenden möglichen Fehlerquellen, infolgedessen mit der größten Vorsicht, Analoges verbinden." (S.X) 796 Diese Zielsetzung korrespondiert mit einer späteren programmatischen Äußerung, mit der sich Brecht als Vertreter der geistesgeschichtlichen Methode zu erkennen gibt, wobei er allerdings eigene Akzente setzt: "Ich fasse die Litt.Gesch. [= Literaturgeschichte, M.B.] als Geistesgzschichte aber ebenso sehr alstomsigeschichteauf, d. h., als eine Entwicklungsgeschichte geistiger, ich betone fast noch mehr, auch seelischer Werte in Gestaltungen auf; daher gehe ich immer vom Kunstwerk aus und gehe von dort zum Dichter als dem Hervorbringer und dem Träger der oder der Zeitströmung. Weder also ist mir die Biographie das erste wie Minor, noch sind mir Dichtungen nur Entwicklungsdokumente einer Zeit, analog philosoph. Gedankenbilgn [= Gedankenbildungen, M.B.] abstrakter Natur, wie nicht selten bei Dilthey." 797 Die Untersuchung zu C. F. Meyer basiert auf gründlichen methodologischen Überlegungen, die für Brechts wissenschaftliche Qualifikation sprechen. Zweifel in dieser Hinsicht sind jedoch angebracht, wenn er an anderer Stelle sein Ziel als "nachfühlende Erkenntnis" des Gesamtkunstwerks beschreibt. Eine sensitive (nachfühlend) und eine kognitive (Erkenntnis) Komponente stehen hier in einem Widerspruch, der wohl als unauflösbar bezeichnet werden muß. Allerdings verrät dieser Terminus etwas von der wissenschaftlich nicht faßbaren Dimension von Dichtung. Der befreundete Hugo von Hofmannsthal bescheinigte Brecht, daß er ihr wirklich nahekam: "'Brecht ist einer der drei oder vier Menschen in Europa, die wirklich wissen, was ein Gedicht ist', sagte er zu Max Rychner, wie dieser später erzählte." 798 Brechts methodische Vorgaben aus der Vorrede lassen sich in der Durchführung der Untersuchung gut nachvollziehen. Nachdem er sich mit den ideellen Grundlagen des Dichters (Kap. II) beschäftigt hat, untersucht er "Die Komposition der Gedichtsammlung" (Kap. IV), seine zentrale Frage. Der nächste Abschnitt (Kap. V) verknüpft gewissermaßen die beiden Fragestellungen, indem Brecht die Ergebnisse aus Kap. IV an die Darstellung vom Anfang (Kap. II) rückkoppelt. In der Einleitung erläutert er prinzipiell, inwieweit dem Aufbau einer Gedichtsammlung Bedeutung als künstlerisches Element zukommt. Das Interesse für C. F. Meyer hielt bei Brecht auch über diese Untersuchung hin-
796
Darin unterschied sich Brecht z.B. deutlich von Bernays, der mehr über das Werk hinweg redete, als es selbst zu erfassen (vgl. Kap. 3.4.1.). 797 Brecht an Paul Kluckhohn, 17.7.1922, zit. nach: König 1993, S.156. 798 Brecht Erika 1946, S.41.
252
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
aus weiter an: 1924 verfaßte er die Einleitung zum ersten Band der "Sämtlichen Werke", der die Gedichte Meyers beinhaltet. 799 Einen eigenen Bereich innerhalb der Veröffentlichungen bilden die Publikationen über Hugo von Hofmannsthal. Die enge Freundschaft zum Ehepaar Brecht entstand während ihrer Zeit in Wien. 8 0 0 Christoph König charakterisierte sie als "eine Wahlverwandtschaft zwischen dem Dichter und seinen Gelehrten", zu denen außer Brecht auch Josef Nadler und Walter Benjamin gehörten. 801 Der Dichter schätzte nicht nur den Menschen, sondern auch den Wissenschaftler Walther Brecht, über den er Zugang zu "weiteren Kreisen" suchte: 1919 übergab er ihm einige handschriftliche Aufzeichnungen "ausdrücklich zu beliebigem Gebrauche, für mich selbst, für Vorlesungen oder für Druckschriften." 802 Bereits im folgenden Wintersemester verwendete Brecht die Notizen in seiner Vorlesung. 803 Darüber, ob er sie auch im SS 1933 in München benutzte, fehlen Informationen. 804 1930 gab Walther Brecht dieses "Konvolut" heraus - seine einzige editorische Leistung für Hofmannsthal, obwohl er dessen Nachlaßverwalter war. 805 Weitere Beiträge suchen "Grundlinien im Werke Hugo von Hofmannsthals" aufzuzeigen oder Ansätze zur Deutung der unter dem Titel "Wege und Begegnungen" versammelten Prosastücke zu geben. 806 Speziell der erste zeigt die Tendenz, den Dichter ausführlich zu Wort kommen zu lassen und sich selbst auf kurze interpretatorische Bemerkungen dazwischen zu beschränken. Der allgemeine Grundtenor ist Begeisterung und Verehrung für einen großartigen Künstler der Sprache, exemplarisch zu sehen an folgender Passage über die Erzählung "Erinnerung schöner Tage": "Es ist ein unvergleichliches Stück künstlerischer Prosa, voll von unerhörter Fähigkeit, das Seelische im Sinnlichen, das Sinnliche im Seelischen zu geben, eins mit dem anderen heraufzurufen, das gewöhnlich Unterbewußte und Halbgewußte zu sagen und wie zu sagen! Rätselhaftes Raunen der Seele, mit dem undefinierbaren Element:
799
Vgl. Brecht 1924, S.VII-XVI. Vgl. Brecht 1930, S.319 und Brecht Erika 1946, S.6. - Brecht lehrte von 1914 bis 1926 in Wien. - In der StB München befinden sich zahlreiche Briefe und Karten von Hofmannsthal an Waither und/oder Erika Brecht (vgl. StB Cod. germ. 8317, Teilnachlaß Η. v. Hofmannsthal - ohne Antwortschreiben). 801 König 1993, S.l62. 802 Brecht 1930, S.319. 803 Vgl. ebd. 804 Zu der Vorlesung über Hofmannsthal vgl. weiter oben. 805 Vgl. Brecht 1930. 806 Vgl. Brecht 1923. - Vgl. Brecht 1931. 800
3.4. Die neuere deutsche Philologie
253
Venedig zugleich, in gegenständiches, farbiges, klingendes, hinstellendes, sehendes und damit zugleich deutendes Wort gebracht - Dämonie der Sprache."807 Charakteristisch ist dieser Textauszug gleichzeitig für den Stil von Brechts Veröffentlichungen. Einesteils zwar sachlich gehalten, weist die Sprache andererseits einen deutlich gekünstelten Zug auf, mit der ihr Verfasser den Einfluß langjähriger Lektüre nicht leugnen kann. Gleichzeitig distanziert er sich damit von der nüchternen Philologie und weist sich als Vertreter der Geistesgeschichte aus. Wie bei Bernays gelangten wichtige Projekte nicht zum Abschluß. 808 Brecht plante ein Werk über den lyrischen Stil und eine umfassende Darstellung des 16. und 19. Jahrhunderts. 809 Paul Arthur Loos macht die "Vielzahl von helfenden Ehrenämtern" dafür verantwortlich, daß sie nicht verwirklicht wurden. 810 Denkbar ist aber auch, daß die Tätigkeit als Herausgeber ihn zu sehr in Anspruch nahm. Noch in Wien betreute Brecht gemeinsam mit Alfons Dopsch die Reihe "Deutsche Kultur", in der "Wissenschaftliche Arbeiten von der Universität in Wien" erschienen. 811 In München war er Mitherausgeber der Reihe "Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen", zu der er selbst den Beitrag über die poetischen Realisten lieferte. 812 Dieselbe Funktion hatte er auch bei der "Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte" inne. 813 1929 begründete Brecht außerdem die "Arbeiten zur deutschen Literaturgeschichte". 8 1 4 Als erstes Heft erschien von Wolfdietrich Rasch eine Untersuchung zur "Freundschaft bei Jean Paul". Im selben Jahr übernahm es Brecht auch, die Herausgabe der "Forschungen zur neueren Literaturgeschichte" fortzusetzen, die von Franz Muncker begründet worden waren. 815 Nach außen zeigt sich hier ein Moment der Kontinuität zu seinem Nachfolger. Allerdings öffnete Brecht diese Reihe für einen weiteren Verfasserkreis als nur für seine eigenen Doktoranden. Brechts wissenschaftliche Tätigkeit in München erstreckte sich vor allem auf die Herausgabe wichtiger Reihen. Die Aufgabe, textkritische Editionen zu betreuen, spielte überhaupt keine Rolle - ein augenfälliger Unterschied zu 807
Ebd., S.71. Zu Bernays vgl. Kap. 3.4.1. 809 Vgl. Kraus 1950, S.184. - Vgl. Brecht Erika 1946, S.41. 810 Loos 1955, S.565. 811 Vgl. Brecht/Dopsch 1924ff. 812 Vgl. Brecht 1928ff. 813 1923 von Paul Kluckhohn und Erich Rothacker gegründete Zeitschrift der geistesgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaftler. 814 Vgl. Brecht 1929ff. 815 Zu Muncker vgl. Kap. 3.4.2. 808
254
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
seinen Vorgängern auf dem Lehrstuhl. 816 Ebenfalls in den Hintergrund trat die Veröffentlichung von Monographien, während die Anzahl kleinerer Beiträge zunahm. Generell neigte Brecht eher zu "Nischen-Autoren" (Heinse, C. F. Meyer usw.), während "Standard-Dichter" wie Goethe und Schiller mehr im Hörsaal erörtert wurden. 817 Obwohl seine Kenntnisse die gesamte deutsche Literatur - also auch das Mittelalter - einschlossen, verlagerte sich sein Interesse nach der Habilitation hin zur Gegenwart, sogar bis zu lebenden Autoren (Hofmannsthal). Trotz seiner philologischen Vorbildung verlor er nie die Dichtung als "Kunstwerk" aus den Augen - es umfassend für sich und als Teil des Gesamtwerks sowie als Ausdruck der unverwechselbaren Persönlichkeit des Dichters zu deuten, definierte er als sein wissenschaftliches Ziel. Damit kommt er der Zielsetzung der modernen Literaturwissenschaft nahe, weshalb Walther Brecht als ihr erster Vertreter in München gesehen werden kann. Gerade darin liegt vor allem seine Bedeutung für das Münchner Institut für Deutsche Philologie.
3.5. Rückblick Der Untersuchungszeitraum dieses Kapitels umfaßte die Spanne von 1828 bis 1933. In diesen etwa 100 Jahren lehrten insgesamt acht Ordinarien am Münchner Institut für Deutsche Philologie. 818 Parallel zur allgemeinen Fachentwicklung beschränkten sich die ersten Vertreter (Schmeller, Maßmann, Hofmann, Lexer) auf die Erforschung des deutschen Altertums. Erst ein halbes Jahrhundert später wurde die neuere deutsche Sprache und Literatur mit einbezogen, was zur Errichtung eines zweiten Lehrstuhls und zur Differenzierung zwischen älterer (Paul, Kraus) und neuerer (Bernays, Muncker, Brecht) Germanistik führte. Inhaber des ersten Extraordinariats für ältere deutsche Sprache und Literatur war Johann Andreas Schmeller, 819 Er hat sich vor allem als Erforscher der bayerischen Mundarten einen Namen gemacht, aber auch als Herausgeber wichtiger germanischer und lateinischer Sprachdenkmäler. Sein Spezialgebiet, die Dialektologie, blieb jedoch im Universitätsbetrieb eher im Hintergrund. Schmellers Laufbahn wies die Besonderheit auf, daß er nach einer Pause von fast 20 Jahren als Ordinarius an die L M U zurückkehrte.
816
Vgl. Kap. 3.4.1. und 3.4.2. Die "Rede über Goethe" (vgl. Brecht 1932) stellte eher eine Ausnahme dar und entstand aus aktuellem Anlaß, dem 100. Todestag des Dichters. 818 Hier wird absichtlich von der späten Seminargründung abgesehen. 817
3.5. Rückblick
255
Diese zeitliche Lücke füllte Hans Ferdinand Maßmann, der erste ordentliche Professor für ältere deutsche Philologie in München. 820 Trotz dieser Position erreichte er als Wissenschaftler nicht die Bedeutung seines Vorgängers: Seine Texteditionen wurden als zu wenig gründlich beurteilt, so daß sie schnell als überholt galten. Dem Vorlesungsprogramm nach blieben die Unterschiede zu Schmeller gering. Kontinuität wahrte auch Konrad Hofmann, indem er den Lehrstuhl fast 40 Jahre innehatte. 821 Ein neues Moment brachte dabei sein Versuch, in der Lehre Germanistik und Romanistik zu integrieren. Seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen waren mehr im Bereich der romanischen Forschungen angesiedelt, die er ab 1869 zusätzlich offiziell vertrat. Auch sein Nachfolger gehörte der älteren Germanistengeneration an: Matthias von Lexer wurde in erster Linie als Gründer des Seminars für Deutsche Philologie bedeutsam.822 Sein früher Tod machte es ihm unmöglich, an der L M U ein eigenes Profil zu gewinnen. Neue wissenschaftliche Perspektiven eröffneten sich mit Hermann Paul, dem Mitbegründer und Theoretiker der Junggrammatiker. 823 Seine größten Leistungen erbrachte er auf dem Gebiet der mittel- und neuhochdeutschen Grammatik. Rückblickend war er der erste Dozent, der das Neuhochdeutsche auch in seinen Vorlesungen an der Universität behandelte. Außerdem gab er das Publikationsorgan der junggrammatischen Schule mit heraus und damit als erster Ordinarius am Deutschen Seminar der L M U eine genuin germanistische Fachzeitschrift. Stand die Herausgabe von revidierten alt- und mittelhochdeutschen Textausgaben bei Paul eher am Rand, bildete sie bei seinem Nachfolger die zentrale Forschungsaufgabe. 824 Carl von Kraus betreute mehrere Neuauflagen von Lachmann-Editionen und emanzipierte sich dabei langsam vom ersten Herausgeber. Als Dozent und als Wissenschaftler knüpfte er stärker als sein Vorgänger an die Germanisten des 19. Jahrhunderts an. Der erste Vertreter der neueren Abteilung an der L M U hieß Michael Bernays} 15 Auch er rekurrierte auf Karl Lachmann, indem er die Methode der Textkritik erstmals auf die Dichtung von Goethe anwandte und so die neuere 819 820 821 822 823 824 825
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Kap. 3.2.1. Kap. 3.2.2. Kap. 3.2.3. Kap. 3.2.4. Kap. 3.3.1. Kap. 3.3.2. Kap. 3.4.1.
256
3. Das Spektrum der Deutschen Philologie bis 1933
Literaturgeschichte auf eine philologische Basis stellte. Sowohl in den Universitätskollegien als auch in den wissenschaftlichen Publikationen blickte er über den (engen) Horizont der deutschen Nationalliteratur weit hinaus - seine Kenntnisse reichten von der Antike bis zur europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Franz Muncker, sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl, erwies sich in seiner philologisch-historischen Methode als Schüler von Bernays und Hofmann. 826 Allerdings gelang es ihm in seinen Editionen, diese tiefgehend zu verfeinern. Mit nahezu 50 Dozentenjahren in München sorgte Muncker am augenfälligsten für Kontinuität am Deutschen Seminar. Auf der philologischen Basis baute auch Walther Brecht auf. 827 Doch interessierte er sich zunehmend für die künstlerische Seite der deutschen Dichtung, die er bis in die Gegenwart hinein behandelte. Mit diesem neuen Ansatz zur Interpretation von Dichtung, der sich vor allem an seinen Veröffentlichungen nachweisen ließ, kann er als erster "Literaturwissenschaftler" an der L M U gelten. Er fiel der nationalsozialistischen Hochschulpolitik zum Opfer und wurde zwangsemeritiert. Insgesamt prägte ein deutliches Moment der Kontinuität den Untersuchungszeitraum. Ausschlaggebend dafür waren zum einen die zahlreichen Berührungspunkte bei den Forschungsansätzen, zum andern die (teilweise extrem) lange Verweildauer auf dem Lehrstuhl. Wandel und Erneuerung im Hinblick auf Methodik und Thematik brachte Hermann Paul als Vertreter der junggrammatischen Schule, deren Konzept jedoch bereits vor der Münchner Zeit entwickelt worden war. Auch die komparatistische Idee von Konrad Hofmann signalisierte Fortschritt, was allerdings durch die Starrheit in der Frage der Seminargründung wieder zunichte gemacht wurde. Für die neuere Abteilung bedeutete die Berufung von Walther Brecht einen innovativen Schub, der allerdings bald unter den politischen Umständen litt. Forschungs- und Lehrinteressen gingen bei den meisten Ordinarien Hand in Hand. Markante Abweichungen gab es bei Schmeller, Hofmann und Brecht. Die Gründe dafür sind wohl darin zu suchen, daß an der Universität ein bestimmter Lehrauftrag zu erfüllen war, während sich auf der Publikationsebene eher persönliche Neigungen durchsetzen konnten. Im Veranstaltungsangebot entwickelte jeder Professor einen bestimmten Kanon, den er in der Regel nur wenig variierte. 828 Unterschiede gab es dagegen in der persönlichen Begabung
826
Vgl. Kap. 3.4.2. Vgl. Kap. 3.4.3. 828 Dieses Moment der Statik dürfte jedoch den schnell wechselnden Studentengenerationen kaum aufgefallen sein. 827
3.5. Rückblick
257
für die Lehre im Hörsaal und Seminar. Als Redner glänzte insbesondere Michael Bernays, während Hermann Paul vor allem mit seinen Veröffentlichungen überzeugte. Diesen Ergebnissen stehen aber auch offene Fragen gegenüber, die auf die unterschiedliche Quellenlage zurückzuführen sind. Offenbar spielt dabei der Faktor Zeit eine große Rolle: Für die Dozenten des letzten Jahrhunderts konnte meist aus einem reichen Fundus geschöpft werden, etwa ab 1900 flössen die Quellen immer spärlicher - und zwar unabhängig von der individuellen Bedeutung des Ordinarius. Die Defizite sind vor allem im persönlich-biographischen Bereich zu suchen: Sie betreffen z.B. gleichermaßen die politische Einstellung wie das Bild des Uniersitätslehrers. Den Konturen des Dozenten fehlt es ohne Vorlesungsmanuskripte an Prägnanz, zumal wenn dann noch - wie bei Brecht - Fremdzeugnisse fehlen. 829 Auf diese Lücken aufmerksam zu machen, gehörte jedoch ebenfalls zur Zielsetzung dieses Kapitels.
829
Vorlesungsmanuskripte fehlen z.B. bei Muncker (vgl. Kap. 3.4.2.).
4. Germanistik im Dritten Reich: Die Deutsche Philologie an der L M U von 1933 bis 1945
In der Geschichte der Germanistik gehört das Dritte Reich bislang eher zu den vernachlässigten Themen. Zeigen sich die institutionellen Anfänge der Disziplin, sprich: die Seminargründungen, meist noch relativ ausführlich erforscht, wurde die NS-Zeit im Vergleich dazu weniger detailliert analysiert. 1 Entweder erscheint sie nur als eine Phase innerhalb eines universitätsgeschichtlichen Überblicks, oder aber die Darstellung endet vor der "brisanten" Zeit. 2 Wenig hilfreich erweist sich auch die ideologisch getrübte Sicht der DDR-Wissenschaftshistoriker. 3 Erst in jüngster Zeit sind Ansätze zur kritischen Untersuchung der "NS-Germanistik" an deutschen Hochschulen zu registrieren. 4 Sie zeichnen sich durch vorsichtig abwägendes Urteilen aus, das pauschales Verurteilen vermeiden will. Erleichtert werden die Forschungen durch die wachsende zeitliche Distanz, die Quellenmaterial allmählich zugänglich macht, das bisher aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes versperrt war. 5 Speziell für das Deutsche Seminar in München liegt lediglich der Beitrag von Rainer Albert Müller vor, der auf knapp sechs Seiten eine stark vereinfachte Darstellung der Vorgänge bringt, die zudem nicht frei von Lücken und Fehlern ist. 6 Hier gilt es, zu einer vertieften Sicht sowohl der äußeren Ereignisse als auch der einzelnen Ordinarien zu gelangen.
1
Zu den institutionellen Anfängen vgl. die Übersicht in Kap. 2, Anm.l. Vgl. z.B. für Kiel: Hofmann 1969. - Vgl. z.B. für Würzburg: Brückner 1988. 3 Vgl. z.B. für Leipzig: Marquardt 1988; für Rostock: Pischel 1983. - In der ostdeutschen Wissenschaftsgeschichte ergibt sich durch die "Wende" von 1989 ein reiches Betätigungsfeld. 4 Vgl. z.B. für Freiburg: Herrmann 1991; für Göttingen: Hunger 1987. 5 Beispielsweise konnten Eva Gilch und Carmen Schramka 1986 für ihre Untersuchung der Münchner Volkskunde im Dritten Reich die Personalakte von Otto Höfler im BayHStA München nicht selbst einsehen (vgl. Gilch/Schramka 1986, S.54). Diese Sperre ist mittlerweile aufgehoben. Für die Einsicht in die Personalakte Herbert Cysarz war allerdings noch eine Sondergenehmigung des Bayer. Kultusministeriums erforderlich. 6 Vgl. Müller 1980, S.247-253. - Beispielsweise fehlt der Hinweis, daß Cysarz mehr als ein Mal die Umbenennung seines Lehrstuhls forderte. Auch die außeruni2
4. Germanistik im Dritten Reich
259
A m Münchner Institut für Deutsche Philologie bildete das Jahr 1933 nach außen hin keine Zäsur. Anders als in Köln, Göttingen oder Bonn war in München kein Germanist an der Aktion "Wider den undeutschen Geist", der Bücherverbrennung am 10. Mai, als Redner beteiligt. 7 Der braune Terror wirkte sich auf der Ordinarienebene erst zu einem späteren Zeitpunkt aus. Mit der Zwangsemeritierung von Walther Brecht und dem Ausscheiden von Carl von Kraus wurde 1935 der Weg für linientreue Germanisten frei. 8 Drei Jahre später kam noch ein weiterer Lehrstuhl hinzu, der aus der Philosophie transferiert worden war. 9 Seit 1936 bzw. seit 1938 lehrten Erich Gierach, Herbert Cysarz und Otto Höfler am deutschphilologischen Seminar. Ziel dieses Kapitels ist es, für jeden von ihnen die "ideologische Nähe oder Distanz [...] zum Nationalsozialismus zu rekonstruieren." 10 Aufgrund ihrer Repräsentanzfunktion als Ordinarien sind dadurch auch Rückschlüsse auf die offizielle Universitätsgermanistik in München möglich. Um der Gefahr einer einseitigen Darstellung und damit ungerechtfertigten Beurteilung zu entgehen, ist es gerade hier notwendig, möglichst vielfältiges Material zu den einzelnen Personen ausfindig zu machen und für diese Fragestellung heranzuziehen, denn: "Eine adäquate Beschreibung der Verhaltensskala von Wissenschaftlern läßt sich aus NS-Parteiakten allein nicht ablesen, sie muß aus der Summe des oft sehr verstreut publizierten Materials erschlossen werden."11 Andererseits macht die Gesamtanlage der Arbeit eine Auswahl und Beschränkung - gerade bei den zahlreichen Publikationen der Ordinarien - unumgänglich. Zeitliche Grenzen werden durch den Beginn und das Ende der Tätigkeit in München markiert. Die Phasen zuvor und danach werden jedoch miteinbezogen, insoweit nach einem Moment der individuellen Entwicklung versitären Hintergründe um Höflers Berufung, d.h. die Einflußnahme der SS-Stiftung "Das Ahnenerbe", bleiben unerwähnt. - Ungenau sind vor allem die Daten aus der akademischen Laufbahn der Ordinarien. Otto Höfler erhielt z.B. 1950 zwar einen Lehrauftrag für Skandinavistik, wurde aber erst 1953 zum Privatdozenten und außerplanmäßigen Professor ernannt (bei Müller schon 1950, vgl. S.250). 7 Zur Rolle von Germanisten bei der Bücherverbrennung vgl. Sauder, Akademischer "Frühlingssturm", 1983. - Zum Verlauf der Aktion in München vgl. Sauder, Bücherverbrennung, 1983, S.21 Iff. - Allg. zur Bücherverbrennung vgl. Strätz 1968, Friedrich 1983 und Walberer 1983. 8 Vgl. Kap. 2.6.1., 2.6.2.1. und 2.6.2.2. 9 Vgl. Kap. 2.6.2.3. 10 Herrmann 1991, S.l 15. 11 Meissl 1989, S.l35. - Hinzu kommen noch wichtige ungedruckte Quellen wie z.B. Nachlässe.
260
4. Germanistik im Dritten Reich
gefragt werden soll. In diesem Zusamenhang kommt auch zur Sprache, wie Cysarz und Höfler nach 1945 ihr Verhalten während des Dritten Reichs darstellten und beurteilten. Wenngleich hier - thematisch bedingt - nur Ansätze geleistet werden können, will die Arbeit Hinweise zu einer vertieften Erforschung dieses Aspekts liefern. Für alle drei Lehrstuhlinhaber ist der Forschungsstand noch relativ unbefriedigend. Auf der Literaturseite stehen meist nur knappe Würdigungen und Nachrufe, die manche, nicht unwichtige Details aussparen. Um diese Lücken - speziell in der Universitätslaufbahn - zu füllen, bietet das Kapitel für jeden Ordinarius einen biographischen Abriß. Er wurde auf einer breiten Quellenbasis erarbeitet. Dazu gehören jeweils die Personalakten im Universitätsarchiv und Bayerischen Hauptstaatsarchiv München sowie die NSDAP-Akten aus dem Berlin Document Center. Soweit vorhanden und zugänglich wurden auch die wissenschaftlichen Nachlässe ausgewertet. Aus diesem Material ergibt sich gleichzeitig ein Bild der politischen Aktivitäten, einer der Kernpunkte dieses Kapitels. Die Frage nach der politischen Involvierung in die Ideologie des Dritten Reichs stellt sich auch für die Vorlesungen und Veröffentlichungen von Gierach, Cysarz und Höfler. Aufschluß über Schwerpunkte im individuellen Lehrangebot geben die Vorlesungsverzeichnisse der LMU. Soweit möglich werden diese Ankündigungen durch Vorlesungsmanuskripte aus dem wissenschaftlichen Nachlaß von ihrer Abstraktheit befreit. Dabei darf man allerdings nicht außer acht lassen, daß schriftliches Konzept und spätere Realisation des Kollegs nicht unbedingt identisch sein müssen. Hinweise zum individuellen Lehrstil liefern ehemalige Schüler und Kollegen. Einen weiteren Aspekt der Lehrtätigkeit bildet die Betreuung von Dissertationen. 12 Da hier unabhängig von der Teildisziplin ein zahlenmäßiger Rückgang zu verzeichnen ist, verraten die Zahlen weniger über die individuelle Neigung des Dozenten, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern. Vielmehr werden Themenwahl und Durchführung der Arbeiten gezielt auf ihre Zeitgebundenheit bzw. ihre Prägung durch den Betreuer untersucht. Der nächste Schritt befaßt sich mit den wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Ordinarius. Der Vergleich mit dem Vorlesungsangebot legt Parallelen oder Gegensätze in den Forschungsinteressen offen. Vorrangig aber interessiert der "affirmative Charakter dieser Schriften" in bezug auf die Ideologie
12
Erich Gierach und Herbert Cysarz führten lediglich ein Habilitationsverfahren von Walther Brecht weiter. Der Habilitand Edgar Hederer wurde erst nach Kriegsende zum Privatdozenten ernannt (vgl. Kap. 2.6.2.1. und 2.6.2.2.). Habilitationen sind deshalb in diesem Zeitraum eine zu vernachlässigende Größe.
4.1. Erich Gierach
261
des Nationalsozialismus, d.h., inwieweit sie "die Anpassung praktizierten, beförderten und vorantrieben." 13 Zu fragen ist, ob die Publikationen eine Übereinstimmung mit den zentralen Ideologemen des Dritten Reichs wie z.B. der Rassenlehre, der Hitler-Verehrung oder dem völkischen Bewegungsgedanken erkennen lassen.14 Problematisch ist dabei, ob diese offiziellen Verlautbarungen, zu denen auch diverse Schreiben an Parteistellen und Ministerien zählen, realiter mit der persönlichen Überzeugung gleichgesetzt werden können. Nicht immer besteht die Möglichkeit, persönliche Dokumente wie Briefe oder Autobiographien zur Bestätigung oder Korrrektur heranzuziehen. 15 Deshalb ist es m.E. unabdingbar, das hier skizzierte Bild nicht als endgültig anzusehen, sondern sich der Vorläufigkeit der Ergebnisse bewußt zu sein. 16
4.1. Erich Gierach - Wissenschaftler im Volkstumskampf17 Die erste Neubesetzung eines germanistischen Lehrstuhls in München unter der Ägide der Nationalsozialisten betraf die ältere Abteilung. Das Ordinariat für Deutsche Philologie war seit der Entpflichtung von Carl von Kraus im März 1935 vakant. Bis zur Ernennung von Erich Gierach zu seinem Nachfolger vergingen kaum acht Monate. 18 Diese kurze Frist spricht zum einen für eine sorgfältige Vorbereitung des Amtswechsels, zum andern für die Hoch-
13
Herrmann 1991, S.122. Aufgabe der Arbeit kann es nicht sein, eine Strukturanalyse des Nationalsozialismus zu leisten. Hier wird auf die reichlich vorhandene wissenschaftliche Literatur verwiesen (z.B. folgende Untersuchungen, die zum Teil trotz ihres Alters noch nicht überholt sind, teils auf neuerem Forschungsstand basieren: Bracher/Sauer/Schulz 1960, Bracher 61980, Malettke 1984, Bracher/Funke/Jacobsen 1986, Erdmann 61987, Frei 1987, Pohlmann 1992; vgl. auch die "Bibliographie zum Nationalsozialismus" von Hüttenberger von 1980). - Auch über die Ideologisierung der Germanistik allgemein liegen einige Untersuchungen vor (z.B. Ziegler 1965, Allemann 1983, Conrady 1983). Dieses Kapitel versteht sich prinzipiell als Beitrag zu dieser Fragestellung. 15 Da Autobiographien in der Regel von Anfang zur Publikation vorgesehen sind, erhalten sie eher den Charakter einer offiziellen Äußerung, was wiederum ihren Quellenwert in diesem Punkt relativiert. 16 Vor allem der wissenschaftliche Nachlaß von Otto Höfler, der derzeit noch nicht eingesehen werden kann, könnte neue Aufschlüsse geben (vgl. Kap. 4.3.). 17 In Anlehnung an den Titel der Festschrift zu Gierachs 60. Geburtstag "Wissenschaft im Volkstumskampf" (vgl. Oberdorffer/Wostry/Schier 1941). 18 Vgl. Kap. 2.6.2.1. - Kraus war erst am 6. Juni 1935 rückwirkend zum 31. März emeritiert worden. Gierachs Ernennung erfolgte bereits am 1. Februar 1936. 14
262
4. Germanistik im Dritten Reich
Schätzung Gierachs seitens der neuen Machthaber. Auch in der Fakultät genoß er einen guten Ruf, denn sie hatte ihn von Anfang an an erster Stelle vorgeschlagen. Dieses hohe Ansehen zu Gierachs Lebzeiten schlug sich in der Geschichtsschreibung der Germanistik nicht nieder - eine umfassende Untersuchung zu Erich Gierach liegt bislang nicht vor. Zudem finden sich die diversen, mehr oder minder knappen Würdigungen - vor allem aus Anlaß eines runden Geburtstags oder innerhalb von Nekrologen - nicht in germanistischen Fachzeitschriften. 19 Die Beiträge konzentrieren sich statt dessen auf Periodika mit einem deutlichen Bezug auf Gierachs sudetendeutsche Heimat. 20 Auch im Inhalt liegt der Akzent hauptsächlich auf dem Förderer der sudetendeutschen Geschichts- und Kulturforschung als einem seiner Hauptarbeitsgebiete außerhalb seiner eigentlichen Fachdisziplin. 21 Im Vergleich dazu tritt der Germanist und hier vor allem der Hochschullehrer - eher in den Hintergrund. Diese Defizite wenigstens ansatzweise zu beheben, gehört zu den Hauptanliegen dieses Kapitels. Daß eine strikte Trennung auch hier nicht realisierbar ist, hängt mit Gierachs Auffassung seines Fachs und seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler zusammen.22 Die Darstellungen über Gierachs Wirken erweisen sich noch in anderer Hinsicht als einseitig. Alle tragen den Charakter von (verherrlichenden) Würdigungen und klammern den Gedanken an Kritik von vorneherein so gut wie vollständig aus. Leuchtet diese Vorgehensweise zu Gierachs Lebzeiten noch ein, erscheint er Jahrzehnte danach kaum mehr gerechtfertigt. 23 Er erklärt sich wohl nur aus der alten Anhänglichkeit der ehemaligen Schüler und Mitarbeiter. Im folgenden soll versucht werden, die Person Erich Gierach, den Wissenschaftler und Ordinarius möglichst objektiv vorzustellen. Dazu gehört zeitbedingt vor allem der Blick auf seine politischen Aktivitäten. Obwohl seine Zeit in München im Zentrum steht, ist es erforderlich, zeitlich weiter zu-
19
Nur der "Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur" von 1944 bringt unter der Rubrik "Personalnotizen" eine kurze Meldung von Gierachs Tod (vgl. S.78). Ähnlich gedenkt das "Jahrbuch der Deutschen Sprache" von 1944 seinem ehemaligen Herausgeber (vgl. S.6). Fehlanzeige dagegen in der "Zeitschrift für deutsche Philologie" und in den "Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur" von 1944. 20 Z.B. "Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren" (vgl. Lehmann 1943), "Sudetendeutsches Jahrbuch" (vgl. Pfitzner 1931), "Zeitschrift für sudetendeutsche Geschichte" (vgl. Festgabe f. A. Brackmann und E. Gierach 1941/42). 21 Vgl. weiter unten. 22 Vgl. weiter unten. 23 Vgl. exemplarisch Kranzmayer 1941 und besonders Pfitzner 1941. - Vgl. Schier 1962; Schier, Entstehung, 1980; Schier, Professor, 1980; Schier 1981.
4.1. Erich Gierach
263
rückzugreifen, denn Wesen und Denken eines Menschen erklären sich nur aus seiner eigenen, spezifischen Vergangenheit. Erstmals ausgewertet wurde auch der wissenschaftliche Nachlaß von Erich Gierach, der sich im Institut für deutsche Sprache in Mannheim befindet. 24 Zahlreiche Briefe von Erich Gierach gehören außerdem zum Nachlaß von Carl von Kraus in der Bayerischen Staatsbibliothek München. 25 Zum ersten Mal überhaupt konnten auch die Akten der Deutschen Akademie in Prag (DA Prag) herangezogen werden, deren Mitglied Gierach war. 26 Nach seinem Geburtsort war Erich Clemens Gierach kein Sudetendeutscher - er wurde am 23. November 1881 in der Stadt Bromberg in Posen geboren. 27 Noch als Kind kam er nach Reichenberg, mit dem er nahezu sein ganzes Leben eng verbunden war. An den Universitäten Prag und Bonn (hier nur ein Semester) studierte Gierach bei Detter und Kraus Germanistik, bei Cornu und Freymond Romanistik. Als Gierach die wissenschaftliche Laufbahn einschlug, folgte er einer Anregung von Carl von Kraus, bei dem er 1908 den philosophischen Doktorgrad erworben hatte.28 Nach der Lehramtsprüfung trat er 1907
24
Vgl. IdS Schriften Erich Gierach. - Der Nachlaß ist noch unkatalogisiert. Er besteht vor allem aus maschinenschriftlichen Manuskripten von Veröffentlichungen (Aufsätze, Rezensionen usw.), handschriftlichen Aufzeichnungen zu mittelhochdeutschen Dichtungen (Vorlesungsmanuskripte?), kurzen Notizen zu sprachwissenschaftlichen Problemen, einigen Seminararbeiten von Schülern (vermutlich aus Prag) und wenigen Briefen von und an Gierach. Die Manuskripte sind entweder vollständig oder zum Teil in Kurzschrift. 25 Vgl. StB Krausiana I. - Die Korrespondenz besteht aus insgesamt 118 Briefen und Karten und endet im März 1936, also kurz nach Gierachs Ernennung zum Ordinarius in München. 26 Vgl. AAVCR DA Prag, Akte Gierach. - Die Akten befinden sich im Archiv der Akademie ved Ceské republiky, Prag, und werden derzeit mit Hilfe des Sudetendeutschen Archivs, München, inventarisiert. Für diesen Hinweis danke ich Frau Prof. Dr. Monika Glettler, für die Übermittlung von Kopien des Aktenbestands Herrn Dr. Michael Neumüller, jeweils SdA, München. 27 Für die Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. - Durch diese Herkunft fühlen sich die Gierach-Biographen verpflichtet, eine Begründung für seine Beziehung zum Sudetendeutschtum zu geben. Waren es 1931 noch die "geistigen Bande" und "sein Lebenswerk" (vgl. Pfitzner 1931, S.87), betonte man 1943 eher die spezifische Veranlagung und die Prägung durch die deutsche Stadt Bromberg (vgl. Lehmann 1943, S.331). Indem er "norddeutsch wirkte" (ebd., S.341), erscheint er fast als Repräsentant des germanischen Menschen schlechthin. 28 Vgl. Lochner 1931, S.8; Pfitzner 1931, S.88. - Gierachs Briefe an Carl von Kraus belegen die enge wissenschaftliche Zusammenarbeit. Außerdem suchte der Schüler oft um Rat in "Karrierefragen" nach und erhielt mehrfach wirksame Unter1
Bonk
264
4. Germanistik im Dritten Reich
als Lehrer in die Reichenberger Handelsakademie ein (seit 1910 Professor). Im März 1921 folgte er einem Ruf als ordentlicher Professor für ältere deutsche Sprache und Literatur an die deutsche Universität Prag, wo er als Nachfolger von Primus Lessiak lehrte. Offiziell habilitiert hatte sich Gierach bis dahin nicht, was Bruno Schier auf die Wirren des Ersten Weltkriegs schob.29 Gierach war zwar tatsächlich 1914 in die Armee eingetreten und 1915 für drei Jahre in russische Kriegsgefangenschaft geraten. 30 Allerdings war sein Habilitationsgesuch bereits zuvor von der Präger Universität "aus formalen Gründen - des Wohnsitzes wegen" abgelehnt worden. 31 Den Ruf nach Prag verdankte er somit vor allem seinen bisherigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, was sehr an die Frühzeit der Germanistik erinnert. 32 Obwohl er mehrmals als Kandidat an anderen Universitäten gehandelt worden war, blieb ein Ruf aus.33 15 Jahre blieb Gierach an der deutschen Karlsuniversität, bevor er dem Ruf nach München folgte. In der Schilderung von Emil Lehmann erscheint der Wechsel fast wie eine Flucht: "Als nach der Machtergreifung des Führers die tschechische Republik sich bedroht fühlte und in steigendem Maße gegen das Sudetendeutschtum vorging (dessen 'Liquidierung' sich zu lange hinauszog!), da knüpften sich auch um ihn die zunächst unsichtbaren Schlingen immer enger, die bereits manche seiner nächsten Mitarbeiter der tschechoslowakischen Justiz ausgeliefert hatten. Da entschloß er sich, die ehrenvolle Berufung an die Münchner Universität anzunehmen."34
Stützung, auch für den Wechsel nach München (vgl. StB Krausiana I; vgl. Kap. 3.3.2. und weiter unten). 29
Vgl. Schier 1962, S.573. Vgl. dazu Gierachs Briefe und Karten aus Irkutsk an Carl von Kraus (StB Krausiana I). 31 Vgl. ebd., Gierach an Kraus, 25.10.1913. - An Reichenberg war er aus finanziellen Gründen gebunden, ohne eine sichere Stellung war ein Umzug unmöglich (vgl. ebd., Gierach an Kraus, 30.12.1913 und 29.6.1914). 32 Vgl. Schmeller (Kap. 3.2.1.), Maßmann (Kap. 3.2.2.) oder Hofmann (Kap. 3.2.3.). 33 Ende 1911 in Freiburg vorgeschlagen (vgl. StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 26.12.1911), 1926 in Berlin auf der Liste hinter Carl von Kraus (vgl. ebd., Gierach an Kraus, 30.12.1926 - vgl. auch Kap. 3.3.2.), an den Universitäten Wien, Würzburg und Göttingen im Gespräch (erwähnt im o.g. Brief vom 30.12.1926). 34 Lehmann 1943, S.341. - Vgl. auch Gierachs Brief an Otto Grosser (Vors. der DA Prag), : "Meine Gegner wollten mich umbringen; allein waren sie es nicht im stände. Aber die ich für meine Freunde hielt, haben ihnen dazu verholfen." (AAVCR DA Prag, Akte Gierach, 21.9.1933) 30
4.1. Erich Gierach
265
An der L M U trat Gierach unmittelbar die Nachfolge seines ehemaligen Lehrers Carl von Kraus an, der sich sehr für ihn eingesetzt hatte. 35 Gierachs Dankschreiben zufolge ging seine Berufung ausschließlich auf Kraus' Initiative zurück. 36 An München knüpfte der neue Ordinarius hohe Erwartungen sowohl für seine politische als auch für seine wissenschaftliche Arbeit: "Auch hoffe ich, von München aus einen großen Teil meiner böhmischen Arbeit fortsetzen, ja erst recht zur Höhe führen zu können. Der Abschied von Reichenberg wird mir ja schwer fallen, aber der weitere Wirkungskreis lockt mich doch gewaltig."37 In diesem "weiteren Wirkungskreis" lehrte er bis zu seinem Tod am 16. Dezember 1943. Diese Stationen markieren nur einen Strang in der Laufbahn von Erich Gierach. Vervollständigt wird das Bild durch seine zahlreichen außeruniversitären Tätigkeiten, die mit dem Schlagwort "Sudetendeutscher Aktivismus" umrissen werden können. Beide Linien greifen - bisweilen untrennbar - ineinander, zur Erklärung der einen ist die andere unverzichtbar notwendig und umgekehrt. Sudetendeutscher Aktivismus bezeichnet Gierachs unbedingtes Eintreten für die Identität der Sudetendeutschen als Deutsche in Abgrenzung gegen die Tschechen als Slawen.38 Damit ist in einem sehr umfassenden Sinn die geschichtliche, kulturelle und politische Identität gemeint. In der zeitgenössischen Terminologie verzerrte sich dieses Denken zu einem unkritischen Glauben an das "Volk" im Sinne eines Mythos, den es zu bewahren, zu erkämpfen und zu verteidigen gilt. Gierach setzte sich auf vielen Ebenen für diese "völkische Bewegung" ein, die als eine der Hauptwurzeln der nationalsozialistischen Ideologie angesehen wird. 39 Josef Pfitzner datiert die Anfänge von Gierachs nationalem Denken bereits in die Kindheit. Durch die Mitarbeit des Vaters an der "Deutschen Volkszeitung", dem Organ der "völkischen Bewegung", scheint ihm der "nationale
35
Vgl. Kap. 3.3.2. - Kraus war auch einer seiner Vorgänger auf dem Prager Lehrstuhl gewesen. 36 "Es ist mir ein Herzensbedürfnis, [...] noch einmal für die Auszeichnung, daß Sie mich zu Ihrem Nachfolger erwählten, meinen Dank zu bezeugen." (StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 2.3.1936) 37 Ebd., Gierach an Kraus, 14.5.1935. 38 Diese Definition leitet sich v.a. aus seinen Veröffentlichungen ab, wie es weiter unten ausführlich dargelegt wird. 39 Vgl. Mosse 1979. 1
266
4. Germanistik im Dritten Reich
Kampf" beinahe in die Wiege gelegt. 40 Pfitzner deutet auch die Wahl des Studienfachs "Deutschkunde" in dieser Richtung. 41 Ähnlich verhielt es sich später mit dem "Deutschnationalen Verein", in dem Gierach Schriftführer war, und dem "Neuen deutschen Kulturbund für Österreich", dessen Reichenberger Ortsgruppe er leitete. Handelte es sich dabei um politisch ambitionierte Vereinigungen, bezeichnet die Mitgliedschaft in der "Deutschen Nationalpartei" den Beginn des verstärkten politischen Aktionismus. Mit dem Ziel einer "Deutschen Einheitspartei" leitete er in Reichenberg eine gemeinsame Wahlkanzlei von Nationalsozialisten, Nationalparteilern und Christlichsozialen und zog in die Reichenberger Gemeindevertretung ein. Auch als Kandidat für das Abgeordnetenhaus stellte er sich zur Verfügung. 42 1935 trat Gierach in die Sudetendeutsche Partei um Konrad Henlein ein, die als zweitstärkste Partei der Tschechoslowakei den Anschluß der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich forderte. Als sich dieses "Ideal" 1939 mit der Errichtung des Protektorats Böhmen-Mähren erfüllte, war Gierach bereits nach München übergesiedelt. 43 Hier schloß er sich im selben Jahr der NSDAP an. 44 Gierachs verstärktes politisches Auftreten fiel vor allem in die Zeit nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft. Es äußerte sich auch auf der Publikationsebene.45 Vor demselben Hintergrund ist sein kulturpolitisches Engagement zu sehen, das sich in erster Linie auf Reichenberg konzentrierte. 46 Im Nachlaß befindet sich ein Manuskript "Volkstum und Volkstumserhaltung" mit fast programmatischem Charakter. 47 Verschiedene Formulierungen weisen darauf hin, daß es sich um einen Vortrag handelt.48 Er entstand wahrscheinlich vor der Berufung nach München, denn Gierach bezog sich mehrfach auf die
40
Pfitzner 1941, S.9. - Gierachs Vater leitete die Buchdruckerei in dem Unternehmen, das diese Zeitung herausgab. 41 Ebd., S.10. - Zum Terminus "Deutschkunde" vgl. Meissl 1989, S.134. 42 Vgl. Pfitzner 1931, S.94, und Pfitzner 1941, S.12. 43 Vgl. weiter oben. 44 Vgl. UAM E II N, Mitgliedschaften in NSDAP-Organisationen, 19.3.1941. - Im Berlin Document Center liegen dazu keine Akten vor (vgl. BDC Personalakte Gierach). Die Unterlagen enden bereits im Oktober 1939. 45 Vgl. weiter unten. 46 Vgl. dazu Lochner 1931. - Diese Aufsatzsammlung erschien zu Gierachs 50. Geburtstag und trägt hymnische Züge. 47 Vgl. IdS Schriften E. Gierach, Volkstum und Volkstumserhaltung, o.D. - Seitenangaben ab sofort im Text. 48 Vgl. z.B. "Und wenn ich nun als Vertreter der Sprachwissenschaft zu Ihnen darüber spreche [...]" oder "Wenn wir im Folgenden von Volk sprechen [...]" (S.4).
4.1. Erich Gierach
267
aktuelle Situation im Vielvölkerstaat Tschechoslowakei (vgl. S.5). Unter demselben Titel wurde das Manuskript bis 1941 nicht publiziert. 49 "Volk" definiert Gierach als "Gesamtheit aller Angehörigen einer Abstammungs-, Sprach- und Kulturgemeinschaft" (S.4), "Volkstum" als "Wesenheit des Begriffes 'Volk'" (S.6). 50 Als "Merkmale" der Wesenheit nennt er "die Blutgemeinschaft, die sprachliche Einheit, die gemeinsame Kultur" (S.7). Diese biologischen, kulturellen und sozialen Kriterien werden daraufhin im einzelnen erläutert, ergänzt um geographische ("Erdraum, der dem Volke als Wohnplatz und Wirkungsfeld zur Verfügung steht", S.7), psychologische ("Gemeinschaftsbewußtsein", S.7), wirtschaftliche und politische Aspekte (vgl. S.7-17). Vorrang räumt er dem biologisch-rassischen Gesichtspunkt ein, wenn über die Zugehörigkeit zum deutschen Volk vor der Sprache letztendlich die Abstammung von deutschen Eltern bzw. die Zughörigkeit zur Rasse entscheidet (vgl. S.7). Die Überlegenheit des deutschen Volks resultiere aus ihrer rassischen Zusammensetzung, bei der die nordische Rasse dominiere. Diese zeichne sich nämlich aus durch "ausgeprägte Unternehmenslust, Pflichtbewußtsein, Herrenart, Organisationsgabe" (S.10). "Geheimnisvolle" Einflüsse gehen vom "deutschen Boden" aus, der das deutsche Volkstum mitkonstituiere (S.llf.). Der Sprache weist Gierach als "Kennzeichen der Volkszugehörigkeit überhaupt" (S.12) eine Art Signalfunktion zu, die deutlich auf Jacob Grimm und die Anfänge der Germanistik in der Romantik rekurriert. 51 Auch bei den Sprachen gebe es Wertunterschiede, die sich aus Verbreitung, Begriffsreichtum und Kulturhöhe ableiten (vgl. S.l3). Eng damit zusammen hänge die Kulturgemeinschaft, die sich sowohl im Schöpfungsakt als auch in der Interpretation von Kunstwerken äußere: "Das Kunstwerk, in dem eine deutsche Seele glüht, kann nur vom Deutschen ganz begriffen werden." (S.14) Dem Staat komme die Aufgabe zu, das Volk zu "vollenden" (S.l5), insofern gelte er nur als Diener. Deshalb stehe "das Bekenntnis der Volksglieder zum Volkstum" (S.16) höher als das zum Staat. Aus dem Niedergang großer Völker definiert Gierach als allgemeines Ziel, "unser Volkstum zu erhalten", indem "wir seine Wesensmerkmale erhalten, aber nicht nur erhalten, sondern auch fördern" (S.17). Schutz und Pflege der deutschen Sprache (S.18f.), des deutschen Bodens (S.19f.), der deutschen Wirtschaft (S.20f.), der deutschen Kulturgemeinschaft (S.22f.), der deutschen Kulturleistungen (S.23) und der deutschen Blutgemeinschaft (S.23) sind Gie49
Vgl. Schriftenverzeichnis in Oberdorffer/Schier/Wostry 1941. Diese Formulierung ist strenggenommen falsch, denn es geht Gierach nicht um die "Wesenheit" des "Begriffes", sondern um die "Wesenheit" des "Volkes". 51 Vgl. Kap. 3.2. 50
268
4. Germanistik im Dritten Reich
rachs Hauptanliegen. Besondere Bedeutung mißt er der Volksbildung (S.23) zu, was seinen eigenen Aktivitäten auf diesem Gebiet eine politische Dimension eröffnet: "Es müssen die Schätze deutschen Geistes und deutscher Kunst, jedem Lernbegierigen zugänglich gemacht werden. Die gesamte Volksbildung muß der Erhaltung des Volkstums dienen." (S.23) Noch ausführlicher nimmt er zur Förderung der Blutgemeinschaft Stellung, wobei er für Kinderreichtum plädiert (S.24). Da die rassisch bedingte Erbmasse aber verschiedene Wertigkeiten aufweise (S.24), fordert Gierach Maßnahmen zur Rassenhygiene: "[...] die Erbmasse ist in ihrer Kulturfähigkeit durch die Rasse bedingt. Die eigentümlich deutsche Kulturleistung ist aller Wahrscheinlichkeit nach durch die nordische Rasse gewährleistet. Ihr Anteil im deutschen Volke, der ständig zurückgeht, ist zu erhalten, ja zu steigern. Eine Aufnordung des Volkes muß erstrebt werden. So schützen wir die Kulturfähigkeit unseres Volkes. Dabei kommt es uns nicht so sehr auf körperliche als auf seelische Eigenschaften an, die 'blonde Seele' sei unserem Volke gewahrt! Die Menschen, die mit einer Krankheit erbmässig behaftet sind, mag sie nun körperlicher oder seelischer Art sein, müssen an der Fortzeugung Minderwertiger gehindert werden. Dabei sollen aber die andersrassischen Bestandteile des Volkes keineswegs ausgemerzt oder die Beseitigung auch nur angestrebt werden. Wir sind keine Germanen mehr, sondern Deutsche. Und die Beimengung nichtgermanischer Volksteile hat unserem Volke keineswegs immer Nachteile gebracht. Das Ziel ist nur, Entartung zu verhindern und Aufartung zu gewährleisten." (S.25) In diesem Vortrag entwarf Erich Gierach ein Programm zur Erhaltung des Volkstums, das insgesamt den Direktiven des Nationalsozialismus entsprach. Der Germanist vertrat eine Theorie der rassischen und kulturellen Überlegenheit des deutschen Volks, die es auf vielfältige Weise zu erhalten gelte. In diesem Zusammenhang ist auch von der "Minderwertigkeit des jüdischen Volkes die Rede": Ihre sprachliche Abhängigkeit von den "WirtsVölkern" (S.7) schließt ihre Einstufung als "Parasiten" ein, auch wenn dieser Ausdruck vermieden wird. Wenngleich Gierach betonte, daß sich diese Schutzmaßnahmen nicht gegen jemanden richten, deckte die Erfahrung des Dritten Reichs den Euphemismus solcher Thesen auf. Gierachs kulturpolitische Aktivitäten wiederum lassen sich als Umsetzung seines Programms verstehen. Innerhalb der von ihm neu belebten "Deutschen wissenschaftlichen Gesellschaft" errichtete Gierach die "Anstalt für sudetendeutsche Heimatforschung". Auf seine Initiative geht die "Deutsche Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichte" und die Eröffnung des "Goetheheims" bei der "Gesellschaft für deutsche Volksbildung" zurück. 1925 gründete er die "Bücherei der Deutschen" und baute sie zur "größten deutschen Privatbücherei der Sudetenlän-
4.1. Erich Gierach
269
der" aus.52 Im selben volksbildnerischen Sinne gestaltete er den Stadtbildungsausschuß, an dessen Spitze er stand, zum Stadtbildungsamt um. Als Förderer der sudetendeutschen Heimatforschung entwickelte Gierach eine umfangreiche Herausgebertätigkeit. 53 In Abhängigkeit von Gierachs sudetendeutschem Aktivismus lassen sich seine Veröffentlichungen in drei Phasen einteilen. 54 Die erste Zäsur wird durch den Ersten Weltkrieg markiert: Bis zu seiner langjährigen Kriegsgefangenschaft entstanden nur wenige Werke, die ausschließlich den Philologen zeigen. 55 1919 setzte eine vor allem politisch orientierte Publizistik ein. Seine sprachwissenschaftlichen Kennnisse stellte Gierach jetzt in den Dienst am sudetendeutschen Volkstum. Diesem Ziel ordnete sich der größte Teil der von ihm betreuten Reihen und Zeitschriften unter. In den dreißiger Jahren trat das philologische Interesse wieder mehr hervor. Ein erstes Anzeichen bedeutete die Edition des "Märterbuchs" von 1928. Noch deutlicher weden die Konturen an der LMU, was sicherlich auch mit der räumlichen Distanz zum Sudetenland zusammenhängt. Völlig außer acht ließ Gierach den "Volkstumskampf" so gut wie nie, innerhalb dessen er nahtlos den Anschluß an die nationalsozialistische Ideologie vollzog. Die Anregung zu Gierachs Dissertation war von Professor Detter ausgegangen. Da dieser jedoch vor der Fertigstellung starb, übernahm Carl von Kraus die Betreuung, dem sich Gierach "für die rege Anteilnahme und stete Förderung zu größtem Danke verpflichtet" fühlte. 56 Der Doktorand untersuchte die "Sprache von Eilharts Tristrant" und strebte - so der Untertitel - eine "Lautlehre, Formenlehre und Wortschatz nach den Reimen" an. Damit realisierte er unmittelbar eine Forderung von Carl von Kraus. Der hatte den spezifischen Sprachgebrauch des mittelhochdeutschen Dichters Heinrich von Veldeke vor allem anhand der Reime vorgestellt und dabei gewünscht, daß "sich Nachfolger fänden, die für andere Autoren durchführten, was hier für Veldeke versucht ist". 57 Direkte Bezüge zu dieser Studie stellen die Angabe in Gierachs Literaturverzeichnis (vgl. S.IX) und der Abschnitt "Eilhart und Veldeke" (vgl. § 108, S.255-259) her. Da darin kaum von Parallelen, aber umso mehr von Differenzen zwischen beiden Dichtern die Rede ist, scheint die Diskussion dieser Frage hauptsächlich eine Reverenz an den neuen Betreuer zu sein.
52 53 54 55 56 57
Pfitzner 1941, S.21. Vgl. weiter unten. Vgl. die Werkbibliographie in Oberdorffer/Schier/Wostry 1941, S.377-490. Vgl. Gierach 1908 und Gierach 1913. Gierach 1908, S.l. - Seitenangaben ab sofort im Text. Kraus 1899, S.IX.
270
4. Germanistik im Dritten Reich
In der Einleitung (S.l-12) legitimiert Gierach sein Thema durch veränderte Forschungsmeinungen seit der letzten Edition von 1877, vor allem auf der Basis einer tschechischen Übersetzung (vgl. S.l). Der Verfasser führt diese Quelle völlig wertneutral auf, von der späteren herablassenden Haltung gegenüber der tschechischen Kultur ist hier noch nichts zu spüren. 58 Im Hauptteil erarbeitet er eine eigene Grammatik für den "Tristrant", bei der die Lautlehre (S.13140) - wie allgemein üblich - als Basis für die Formenlehre (S.141-190) dient. Den dritten Teil bilden Ausführungen zum Wortschatz (S. 191-240). Am Schluß befindet sich ein Anhang, überschrieben mit "Zur literarischen Stellung Eilharts" (S.241-262). Darin geht Gierach vor allem auf die Biographie des mittelhochdeutschen Dichters, seine Rolle am Braunschweiger Hof sowie den geschichtlichen Hintergrund ein. Damit beweist er ein literaturgeschichtliches Interesse, wie es in Verbindung mit einer philologischen Fragestellung eher eine Ausnahme darstellt. Die Arbeit an der Dissertation zog sich über vier Jahre hin. A m Schluß stand Gierach ihr sehr kritisch gegenüber: "Ich habe manchmal den Wunsch gehabt, die ganze Arbeit zu vernichten und noch einmal zu machen. Es würde manches kürzer und alles einheitlicher werden. Wenn man nur die Zeit hätte. Schließlich fragt sich's, ob es auch lohnt: Die Änderungen beträfen nur Einzelheiten, die Ergebnisse blieben dieselben. Wirklich schlecht ist der Stil der Arbeit. Als ich vor 4 Jahren den Text verfaßte, stellte ich an den Ausdruck zwar die Anforderung der Richtigkeit und Kürze, aber nicht der Schönheit."59 Bis zur nächsten germanistischen Veröffentlichung vergingen fünf Jahre. 60 Erst im Juni 1913 konnte Gierach seinem ehemaligen Lehrer Kraus "für Ihre stete Förderung und nie ermüdende Hilfsbereitschaft" bei der Entstehung danken. 61 Es handelte sich dabei um die "Überlieferung und Herstellung" des "Armen Heinrich" von Hartmann von Aue. 62 Diese erste editorische Leistung erschien als dritter Band in der dritten Abteilung der "Germanischen Bibliothek", in der Carl von Kraus und Konrad Zwierzina "Kritische Ausgaben altdeutscher Texte" herausgaben. Vermutlich basierte Gierachs Prager Habilitationsgesuch gegen Ende desselben Jahres auf dieser Arbeit. 63 Obwohl es 58
Vgl. weiter unten. StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 8.12.1907. 60 1910 erschien Gierachs einzige romanistische Studie: "Synkope und Lautabstufung. Ein Beitrag zur Lautgeschichte des vorliterarischen Französisch (= Beiheft zur Zeitschrift für Romanische Philologie 24), Halle 1910. 61 StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 3.6.1913. 62 Vgl. Gierach 1913. - Seitenangaben ab sofort im Text. 63 Vgl. dazu den Brief an Carl von Kraus vom 25.10.1913: "Dem Rate Ihres letzten Briefes folgend, habe ich sofort die Eingabe um Zulassung zur Habilitierung gemacht." (StB Krausiana I) 59
4.1. Erich Gierach
271
abgewiesen wurde, ist seine spätere Berufung nach Prag letztendlich vor allem darauf zurückzuführen. 64 In seinem Buch lieferte Gierach zusätzlich zum hergestellten Text "die gesamte Überlieferung in buchstabengetreuem Abdruck und die Abweichungen der anderen Herausgeber." (S.V) Im Vorwort nennt er auch explizit seine Adressaten: "Dem Hartmannforscher soll diese Ausgabe verläßliche Grundlage zu wissenschaftlichen Untersuchungen sein. Der Hochschule will sie bei textkritischen Übungen dienen." (ebd.) Dabei war sich der Herausgeber der Vorläufigkeit seiner Ergebnisse bewußt (vgl. ebd.), was für ein durchaus reflektiertes wissenschaftliches Vorgehen spricht. Die zweite Auflage des "Armen Heinrich", die 1925 erschien, erfuhr jedoch nur wenige Veränderungen. 65 In diesen beiden Arbeiten wich Gierach in keiner Weise von seiner fachwissenschaftlichen Aufgabenstellung ab und trug damit zur wissenschaftlichen Diskussion bei. Nach seiner Flucht aus dem russischen Kriegsgefangenenlager trat hier ein radikaler Wandel ein. 66 Im Jahr 1919 präsentierte sich Gierach als politischer Publizist, der die sudetendeutsche Minderheit in ihrem Kampf gegen die neugegründete Tschechoslowakische Republik unterstützte. 67 Seine sprachwissenschaftlichen Kenntnisse integrierte er jetzt in eine ausgesprochen völkisch-nationale Argumentation, die einen Großteil der folgenden Veröffentlichungen beherrschte. 68 Am Anfang standen politische Flugschriften, die in Tausenden von Exemplaren verbreitet worden sind. Sie dienten alle dem einen Zweck, dem sich Gierach für die Zukunft verschrieb: zu beweisen, daß Böhmen deutsch war und deutsch werden bzw. bleiben mußte. Die Flugschrift "Aus Böhmens deutscher Vergangenheit" (Auflage: 20.000 Stück) erschien zuerst in der Reichenberger Zeitung unter dem Titel "Sind die Deutschen als Emigranten und Kolonisten nach Böhmen gekommen?" 69 Diese 64
Vgl. weiter oben. "Für die Neuauflage wurde der Text sorgfältig durchgesehen, die Druckfehler sind beseitigt und einige neue Besserungen durchgeführt." (Gierach 21925, S.VI) 66 Vgl. die Schilderung der Flucht in seinem Brief an Carl von Kraus vom 10.8.1918 (StB Krausiana I). 67 Die CSR wurde am 28. Oktober 1919 als slawischer Nachfolgestaat der österreichisch-ungarischen Monarchie in Prag proklamiert, die Gründung am 10. September 1919 im Vertrag von Saint-Germain bestätigt. 28 % der Einwohner waren Deutsche (vgl. dtv-Atlas zur Weltgeschichte, Bd.2, 161981, S.157). 68 Vgl. auch das Pseudonym "E. Volkmann", unter dem er 1929 die Schrift "Die Sudetendeutschen" veröffentlichte. 69 Gierach, Aus Böhmens, 21919. - Seitenangaben ab sofort im Text. 65
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4. Germanistik im Dritten Reich
Frage bezog sich unmittelbar auf eine entsprechende These des ersten Präsidenten der tschechoslowakischen Republik, Jan Masaryk (vgl. S.2). Alle Abschnitte der Flugschrift verfolgen nur das eine Ziel, diese Behauptung als falsch zu widerlegen; die rhetorische Frage im Titel nimmt bereits das Nein auf Masaryks Feststellung vorweg. Die Richtigkeit seiner politischen Anschauung demonstriert Gierach z.B. an der Entstehung des Namens Böhmens (vgl. S.3) - die Sprachwissenschaft wird für politische Zwecke vereinnahmt. Die Argumentation wird weitergeführt für Kultur, Politik und Wirtschaft, denn auf allen Ebenen zeigen sich nach Gierach die Slawen abhängig von den Germanen. Differenzierte er anfangs noch zwischen den germanischen Völkern (z.B. die Bojer, S.3, die Franken, S.l 1), ist alsbald nur mehr von den Deutschen die Rede: Sie gelten als die legitimen Nachkommen der Germanen. Den geistig hochstehenden Deutschen werden die "minderwertigen Slawen" gegenübergestellt: "Es ist bekannt, daß den Slawen von Haus aus die Fähigkeit, Staaten zu bilden, abging." (S.ll) Dieser Vorwurf gipfelt in dem schwammigen Begriff von der mangelnden "Volkskraft" (S.29), die sich bis in die Gegenwart immer wieder bestätige. Fast gebetsmühlenartig kehren dieselben völkischen Leitsätze im "Katechismus für das deutsche Volk in Böhmen" wieder. 70 Der religiösen Konnotation des Titels entspricht die Gliederung in insgesamt 82 Lehrsätze, die den Charakter von Glaubenssätzen annehmen.71 Im Sinne des vielbeschworenen Gemeinschaftsgedankens lädt Gierach ein, sich für künftige Neuauflagen an der Arbeit zu beteiligen (vgl. S.l). Die Liste der wissenschaftlichen Werke zur Geschichte von Böhmen enthält nur deutsche Verfasser und Titel (vgl. ebd.). Als Anhang (vgl. S.14f.) folgen "Die zehn Gebote des tschechischen Volkes", die unter dem Wahlspruch stehen: "Gleiches zu Gleichem" (S.14, im Original gesperrt). Darin werden die Tschechen aufgefordert, nur mit Tschechen Kontakte zu pflegen, und zwar auf geschäftlicher und privater Ebene. Gierachs Antwort darauf lautet nur: "Du Deutscher, bedenke diese Gebote!" (S.15, im Original fett) 70
Vgl. Gierach, Katechismus, [1919]. - Leitsatz- oder Seitenangaben ab sofort im
Text. 71
Wenn der Titel verschleiern sollte, daß es sich um eine politische Schrift handelt, so ist dies nicht gelungen: Sie unterlag der Zensur durch die Staatsanwaltschaft in Eger, die manche Passage beschlagnahmte. Einige wurden jedoch vom Kreisgericht wieder freigegeben (z.B. Nr. 72 und 82). Die "erfolgreichste sudetendeutsche Flugschrift" wurde "schliesslich völlig verboten." (AAVCR DA Prag, Akte Gierach, [Schlegel, Gustav ?], Erich Gierach und der deutsche Kulturaufbau in der Tschechei, o.D., S.3 - Hinweis auf den Verfasser in einem Brief an die DA Prag vom 28.9.1941)
4.1. Erich Gierach
273
Der "Katechismus", der noch 1962 als "ein Grundwerk der sudetendeutschen Volksbildung" gepriesen wurde, veranschaulicht den Fanatismus auf deutscher und auf tschechischer Seite. 72 Beide Lager provozierten Haß und Feindschaft, die Vorgehensweise weist fatal voraus auf die nazistischen Verbrechen gegen die Juden. In engem Zusammenhang mit Gierachs politischen Schriften steht sein kulturpolitisches Engagement in Reichenberg. Die Integration von deutscher und tschechischer Kultur zu fördern, lag ihm dabei vollkommen fern. Er konzentrierte sich ausschließlich auf sudetendeutsche Ziele. Einen entsprechenden Aktionsradius bot ihm die "Anstalt für sudetendeutsche Heimatforschung", die er 1924 innerhalb der "Deutschen wissenschaftlichen Gesellschaft" gründete. 73 Damit realisierte er in Reichenberg ein Projekt, wie er es 1921 an der Prager Universität erfolglos angestrebt hatte. 74 In der Zielsetzung von beiden Einrichtungen stimmte Gierach mit dem befreundeten Schriftsteller Emil Lehmann überein: "Wenn wir für unsere Heimat eintreten wollen, müssen wir sie zuerst kennen. Und wir müssen sie nicht nur selber kennen, sondern auch vor der gesamten Weltöffentlichkeit darzustellen vermögen. Wir müssen Heimatforschung betreiben, weil wir nur so das Objekt unserer Politik bekannt machen können. Wir müssen unsere Gaue in immer neuen Reihen eindrucksvoller Bilder als unsere Gaue vorführen." 75 Genau in diesem Sinn verstand Gierach seine Aufgabe als Wissenschaftler, wenn er an seinen ehemaliger Lehrer Carl von Kraus schrieb: "Hier in Böhmen muß der Gelehrte nun sein Wissen in den Dienst der Volkserhaltung stellen. Das Kolonisationsproblem erfordert gründliche Klärung und die Sprachwissenschaft muß dem Historiker zu Hilfe kommen."76 Auf seine Initiative ging die Einrichtung einer "Kommission für die anthropologische Aufnahme der deutschen Bevölkerung der Republik" zurück, die sich der "rassenkundlichen Erforschung der deutschen Bevölkerung" an-
72
Schier 1962, S.573. Vgl. dazu Lochner 1931, S.16-23. 74 Plan zur Errichtung eines "Instituts für Heimatforschung" abgelehnt (vgl. StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 30.12.1924). 75 Lehmann 1921, S.90f. - Lehmann widmete 1941 Erich Gierach "in Freundschaft" seinen Gedichtband "Auf heiliger Landesmark" (vgl. Lehmann 1941, Widmung, S.3). - Über Lehmann vgl. die Festschrift Emil Lehmann 1940, an der auch Gierach mitarbeitete (vgl. S.57-63). 76 StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 30.12.1924. 73
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4. Germanistik im Dritten Reich
nahm. 77 Die proklamierte "Volkstumserhaltung" basierte somit ausdrücklich auf biologisch-rassischen Grundlagen. Aus der Vielzahl der von Gierach für die "Anstalt" oder die "Gesellschaft" betreuten Reihen und Zeitschriften sollen zwei exemplarisch herausgegriffen werden. 78 Die "Forschungen zur Sudetendeutschen Heimatkunde" erschienen ab 1926 in lockerer Folge. Den Auftakt machte Arno Kunze mit seiner Untersuchung über "Die nordböhmisch-sächsische Leinwand und der Nürnberger Großhandel". 79 1932 folgte Walter Hawelka mit seiner "Geschichte des Kleingewerbes und Verlages in der Reichenberger Tucherzeugung". 80 Diese zwei Beispiele zeigen schon, daß der Germanist Gierach sich mit dieser Reihe außerhalb seines fachspezifischen Terrains bewegte. Er knüpfte die Verbindung zur Volkskunde, was ganz im Zeichen der deutschkundlichen Forderungen der Zeit stand. Sein Bezugspunkt war einzig das Sudetendeutschtum, das er als Wissenschaftler erhalten und stärken wollte. Im Lehrangebot an der L M U kehrten jedoch keine explizit volkskundlichen Themen wieder, obwohl sie am Deutschen Seminar eine gewisse Tradition hatten.81 Dieses Ziel verband er auch mit dem "Sudetendeutschen Ortsnamenbuch", das seiner eigentlichen Fachdisziplin zuzurechnen ist. 82 Dem ersten von insgesamt sieben Heften stellten die Herausgeber Erich Gierach und Ernst Schwarz eine programmatische "Vorrede" voran: 83 "Ein Ortsnamenbuch der Sudetenländer ist ein dringendes Bedürfnis. Die Geschichte der Besiedlung dieser Länder durch Deutsche und Slawen ist eine brennende Frage geworden. Zu ihrer Lösung mangelt es an urkundlicher Überlieferung und darum müssen andere Wissenschaften zu Hilfe genommen werden. An erster Stelle steht dabei die Namenkunde, deren Ergebnisse der Sprachforscher dem Geschichtsschreiber bereitstellen muß, bevor die Geschichte der deutschen Wiederbesiedlung der Sudeten-
77
AAVCR DA Prag, Akte Gierach, [Schlegel, Gustav ?], Erich Gierach und der deutsche Kulturaufbau in der Tschechei, o.D., S.3. - Gierach gehörte der Kommission seit 1929 an. 78 "Sudeta" (1925ff.), "Karpatenland" (1928ff.), "Firgenwald" (1928ff.), "Beiträge zur Kenntnis der sudetendeutschen Mundart" (1925ff.) usw. 79 Vgl. Kunze 1926. 80 Vgl. Hawelka 1932. 81 Vgl. Kap. 2.4.3. 82 Vgl. Gierach 1932. - Seitenangaben ab sofort im Text. 83 Ernst Schwarz hatte sich bei Erich Gierach habilitiert und auf dessen Initiative einen Ruf nach Prag erhalten. Ab 1936 verschlechterten sich die Beziehungen, als Schwarz die Mitherausgabe des "Sudetendeutschen Ortsnamenbuchs" niederlegte (vgl. AAVCR Nachlaß Weizsäcker, Weizsäcker an Gierach, o.D. [Ende 1935, Anfang 1936 - Entwurf]; Gierach an Weizsäcker, 26.12.1936 und 2.1.1937 - vgl. ebd., Nachlaß Wostry, Gierach an Wostry, 1.7.1938).
4.1. Erich Gierach
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länder geschrieben werden kann. Andere Wissenschaftszweige werden diese Ergebnisse bestätigen müssen." (S.3) Die beiden Herausgeber ordnen die Beiträge zur Onomatik trotzdem nur sehr zurückhaltend dieser politischen Zielsetzung unter. Sie läßt sich aber an manchen Details auch am ersten Heft ablesen, in dem Gierach selbst die "Ortsnamen des Bezirkes Reichenberg" zusammenstellte. Sowohl bei der Bildung als auch der Lautform der Ortsnamen untersuchte er die deutschen vor den slawischen Namen (vgl. Inhaltsverzeichnis, S.10). Ähnlich wie in den frühen Flugschriften betonte er das Fehlen jeglicher Beweise für eine slawische Besiedlung vor der deutschen (vgl. S.70f.). 84 Somit erfüllte Erich Gierach auch hier seine selbstgewählte "Aufgabe [...], den Kampf für das Sudetendeutschtum zu führen, soweit es von Seiten der Sprachwissenschaft geschehen kann." 85 Frei von dieser politischen Bindung erweist sich eine Arbeit aus dem Jahr 1928. In der Reihe "Deutsche Texte des Mittelalters" gab Gierach "Das Märterbuch" nach der Klosterneuburger Handschrift heraus. 86 Die Edition dieses sehr umfangreichen Werks (28.450 Verse) widmete er "Carl von Kraus zum 60. Geburtstage" (S.IV). 87 Die Durchführung des Projekts zog sich über 16 Jahre hin (vgl. S.VIII), so wie langfristige Arbeiten über mehrere Jahre hinweg für Gierach durchaus charakteristisch sind. Die Anfänge des "Märterbuchs" datieren somit noch in Gierachs "wissenschaftlicher" Phase, der es inhaltlich zuzurechnen ist. 88 Es entstand zwar keine kritische Ausgabe, was der Konzeption der Reihe widersprochen hätte, sondern es "wurde der Mittelweg gewählt, daß alle für die Textherstellung möglicherweise in Betracht kommenden Abweichungen mitgeteilt wurden, nur die offensichtlichen Fehler der anderen Hss. [= Handschriften, M.B.] unberücksichtigt blieben." (S.XXXI) Dem Vorwort nach zu urteilen, bedeutete diese Aufgabe für Gierach mehr eine Last als eine Herausforderung - vielleicht fehlte ihm hier die politische Zielsetzung der Arbeit: "Die Herausgabe eines so umfangreichen und aller dichterischen Reize baren Werkes ist eine entsagungsvolle Arbeit. Möge der Antrieb zur deutschen Legendenfor-
84
Vgl. weiter oben. StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 30.12.1927. 86 Vgl. Gierach 1928. - Seitenangaben ab sofort im Text. 87 Kraus hatte Gierach "vor 16 Jahren zur Übernahme der Herausgabe bewog[en]" (vgl. S.VIII). 88 Vgl. weiter oben. 85
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4. Germanistik im Dritten Reich
schung, welcher von seiner Veröffentlichung ausgeht, die Größe der darauf verwandten Mühe lohnen." (S.VIII) 89 Ebensowenig Begeisterung mußte die Neuauflage von Hermann Pauls "Mittelhochdeutscher Grammatik" geweckt haben, er bezeichnete sie nur als "Brotarbeit". 90 Gierach betreute die 12. bis 14. Auflage der Grammatik. 91 Das Projekt reichte bis in seine Münchner Zeit, ein äußeres Moment der Kontinuität zu Hermann Paul ist unübersehbar. 92 In der Vorrede zur 12. Auflage erläuterte Gierach die Grundsätze für seine Bearbeitung: "Bei der Bearbeitung waren mehrere Gesichtspunkte maßgebend. In erster Linie stand natürlich die Ergänzung und Berichtigung des Buches auf Grund der inzwischen neugewonnenen Erkenntnisse. Ferner mußten die Mundarten stärker berücksichtigt werden, als es bisher im Buche geschehen war. [...] Schließlich mußte auf das Bedürfnis der Lernenden mehr Rücksicht genommen werden. Die prächtige Knappheit Paulscher Darstellungsweise mag der Fachmann schätzen, dem Anfänger erschwert sie die Benützung des Buches. Auch die Verknüpfung mit dem Ahd. [= Althochdeutschen, M.B.] und der historischen Grammatik mußte in höherem Maße hergestellt werden, als es bisher der Fall war, damit dem Lernenden die notwendigen Verbindungen erwachsen." (*21929, S.IX) Die Fachkollegen beurteilten es in diesem Sinn als "ein sehr brauchbares Handbuch [...], das dem Lernenden die Grundbegriffe vermittelt und zugleich dem Gelehrten sehr erwünschte Hinweise gibt." 93 Die 13. Auflage erschien bereits während Gierachs Münchner Zeit. Hier strebte er ebenfalls eine Anpassung an den aktuellen Stand der Forschung an (vgl. 13 1939, S.VIII). Neu hinzu kam jetzt die (teilweise) Verdeutschung der Fachtermini: "In eine deutsche Sprachlehre gehören meiner Überzuegung nach deutsche Fachausdrücke; ich habe aber die bisher üblichen fremdsprachigen gleichhäufig stehen lassen, weil der Anfänger doch gewöhnlich die mhd. Grammatik zuerst in die Hände bekommt und beide Ausdrucksweisen beherrschen lernen muß. Solchen Wechsel mag manchem Leser als nicht folgerichtig und darum unschön erscheinen, auch ich halte ihn nur für ein notwendiges Übel." (S.IX)
89
Auf dieses Vorwort bezieht sich Eduard Hartl in seiner Rezension in der "Deutschen Literaturzeitung": Auch er sieht den Wert von Gierachs Arbeit v.a. in der "Neubelebung der Legendenforschung" (vgl. Hartl 1930, Sp.600). 90 StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 30.12.1928. - Entsprechend betonte er den Aufwand, den "die Anpassung erforderte" (Gierach 12929, S.IX). 91 Vgl. Gierach 12 929, Gierach ^939 und Gierach *4944 [posthum]. - Seitenangaben ab sofort im Text. 92 Vgl. Kap. 3.3.1. 93 Kralik 1946, S.215.
4.1. Erich Gierach
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Konkret sieht das in der Grammatik so aus, daß Gierach das Fremdwort in Klammern anfügte (z.B. "Anlehnung (Inklination)", 14 1944, S.68) oder zwischen den beiden Ausdrücken wechselte (z.B. "Nominalform" oder "Nennform", S. 143). Diese Veränderung ist auf die Entstehungszeit zurückzuführen. Seit 1933 forderten die Nationalsozialisten eine "Deutsche Wissenschaft", d.h. judenfrei und völkisch-national gebunden.94 In dieses Schema einer "von Überfremdung befreiten Wissenschaft" paßt die Eliminierung einer international verständlichen Fachsprache. 95 Daß Gierach nicht ganz auf sie verzichtete, verweist bereits auf die Absurdität und Undurchführbarkeit des Unternehmens. Nach dem Ende der braunen Diktatur machte der Neubearbeiter Ludwig Erich Schmitt sie konsequent rückgängig. 96 Die 14. Auflage konnte Gierach nicht mehr vollständig betreuen. Nach seinem Tod nahm sich seine Assistentin Eugenie Emnet der Aufgabe an. 97 Ein Hauptanliegen bildete auch hier, "die Forschungsergebnisse der letzten Jahre vor allem auf dem Gebiete der Mundartkunde und der Urkundensprache [zu] verwerten." (S.V). Mit seinem Wechsel an die L M U beendete Gierach die Mehrzahl seiner Herausgeberaktivitäten in Prag und Reichenberg. 98 In dieser Fülle wurden sie in München nicht ersetzt. 1941 begründeten Erich Gierach und Eberhard Kranzmayer die "Forschungen zur bairischen Mundartkunde". 99 In diese Reihe nahm der Ordinarius später eine unter seiner Leitung entstandene Dissertation
94
Vgl. die programmatische Rede vom "akademischen Chefhistoriker der Partei" (Bracher/Sauer/Schulz 1960, S.313), Walter Frank: "Deutsche Wissenschaft und Judenfrage", die er bei der Eröffnung der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands 1936 in München hielt (vgl. Frank 1937). - Vgl. die Forderungen nach einer "Deutschen Physik" und "Deutschen Mathematik" (vgl. Bracher 1966, S.134). 95 Allg. zu diesem Problem vgl. Polenz 1967. 96 "Die Verdeutschung ist rückgängig gemacht. Sie scheint in diesem Buch als Glied der Reihe kurzer Grammatiken germanischer Dialekte und für die Zwecke ausländischer Benutzer verfehlt." (Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 161953, aus dem Vorwort zur 15. Auflage, S.IV). - Schmitt hatte Gierachs Lehrstuhl in München ab 1944 vertreten. 97 Vgl. 141944, S.Vf. - Eugenie Emnet hatte 1942 bei Gierach promoviert (vgl. weiter unten) und war nach Eduard Hartl Assistentin am Institut für Deutsche Philologie (vgl. Kap. 2.5.). 98 Z.B. "Prager deutsche Studien" bis 1940, "Sudeta" bis 1935, "Sudetendeutsche Flurnamensammler" bis 1936. 99 Kranzmayer war seit 1940 api. Professor in München (vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil).
278
4. Germanistik im Dritten Reich
auf. 100 Nach vielen Jahren Pause edierte er 1943 mit dem "Ackermann aus Böhmen" "das köstlichste Prosawerk, das vor Martin Luther in deutscher Sprache geschrieben wurde, und [...] die deutsche Dichtung Böhmens zu einsamer Höhe [hob]." 101 Die Textwahl zeigt Gierachs enge Verbundenheit mit Böhmen auch nach seinem Umzug nach Bayern. 102 Der Aufmachung und dem Inhalt nach richtete sich die Ausgabe nicht an Fachkollegen, sondern an ein literarisch interessiertes Laienpublikum. 103 Dem unkommentierten Originaltext ist eine deutsche Übersetzung von Erwin Guido Kolbenheyer beigegeben. Hatte sich Kolbenheyer in seinen Romanen und Dramen vielfach thematisch an das Mittelhochdeutsche angelehnt, beschritt er hier den umgekehrten Weg für die Sprache: Die spätmittelalterliche Prosadichtung des Johannes von Tepl übertrug er in eine rhythmisch gebundene Sprache der Gegenwart. Neben Hanns Johst oder Eberhard Wolfgang Möller gilt Kolbenheyer als einer der "wenigen offenen literarischen Bekenner" des Nationalsozialismus. 104 Auch durch die Zusammenarbeit mit ihm demonstrierte Gierach sein unbedingtes Ja mit dem Dritten Reich, wie es an anderer Stelle ebenfalls sichtbar wurde. 105 Innerhalb der Münchner "Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums" (kurz: Deutsche Akademie oder DA) sind Gierachs weitere Herausgebertätigkeiten angesiedelt.106 Seit 1930 stand er als Geschäftsführer der Sektion I I für Deutsche Sprache, Literatur und Volkskunde vor. 1 0 7 Etwa 1936 plante er eine grundsätzliche Änderung der Deutschen Akademie. 108 Gierachs Vorschläge sind nicht erhalten. Aber aus der Stellungnahme des provisorischen Leiters der Wissenschaftlichen Abteilung, Otto v. Zwiedineck-Südenhorst, lassen sich Rückschlüsse auf die beabsichtigte Umstrukturierung ziehen. Demnach sollte sich die Deutsche Akademie auf
100 yg| w e i t e r unten. 101 Gierach/Loesch 1939, S.21. - Vgl. Gierach 1943. - Seitenangaben ab sofort im Text. 102 Noch 1938 nannte Gierach Prag seine "Heimat" (AAVCR Nachlaß Wostry, Gierach an Wostry, 23.4.1938). 103 Ein einleitendes Vorwort und Anmerkungen fehlen. 104 Ketelsen 1976, S.20. 105 yg| w e i t e r unten. 106
Die DA wurde am 9. Mai 1925 in München gegründet. Zu ihrer Zielsetzung vgl. Röther 1980, S.200ff. 107 Vgl. Harvolk 1990, S.54. 108 Der Zeitraum ist nur aus einem bei Edgar Harvolk zitierten Brief von A. O. Meyer, dem ehemaligen Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung der DA, zu erschließen. Das Schreiben trägt das Datum 26.10.1936 (vgl. Harvolk 1990, S.34). Das entsprechende Aktenmaterial im IfZ ist dagegen undatiert (vgl. IfZ ED 98, S.22-27).
4.1. Erich Gierach
279
"Arbeitsaufgaben" konzentrieren, die "ihrem Wesen nach rein wissenschaftlicher, und zwar philologischer, insonderheit sprach- und literargeschichtlicher Natur" sind. 109 An konkreten Themen werden z.B. das "Nibelungenlied", eine "Mittelhochdeutsche Grammatik" oder ein "Handbuch der Germanenkunde" genannt. 110 Gierachs Programm lehnte Zwiedineck-Südenhorst ab, da es der prinzipiellen Zielsetzung der Akademie widerspreche. Diese bestehe vor allem in einer "volksnahen Arbeit" und in der "Erhaltung und Sicherung des deutschen Sprachbereichs ausserhalb des deutschen Staatsgebietes mit wissenschaftlichen Mitteln und wissenschaftlichen Kräften". 111 Auch aus finanziellen Gründen ließen sich die Pläne nicht mit dem Grundgedanken der DA vereinbaren, eine "Organisation in Deutschland zur Förderung und zum Schutz deutscher Geisteskultur in der Welt" zu schaffen. 112 Zwiedinecks Vorgänger, A. O. Meyer, lehnte ebenfalls die "Umbildung der DA in eine Akad. [= Akademie, M.B.] für Sprachforschung" ab. 113 Vermutlich suchte Gierach daraufhin den Kontakt zur SS-Stiftung "Das Ahnenerbe", wie ein Brief des späteren Präsidenten Walther Wüst an Heinrich Himmler zeigt. Demnach schlug Gierach der Himmler-Organisation 1937 als Forschungsprojekt "Ein Handbuch der Germanenkunde" vor, "mit dem Bemerken, dass er die Forschungsgemeinschaft 'Das Ahnenerbe' allein für fähig halte, die in dem Bericht gegebene grosse wissenschaftliche Anregung zu verwirklichen. Sein Vertrauen in 'Das Ahnenerbe' sei so gross, dass er den Plan weder der Deutschen Akademie noch der Bayrischen Akademie der Wissenschaften habe anvertrauen wollen." 114 Exakt dieses Vorhaben hatte jedoch im Jahr zuvor die Deutsche Akademie zurückgewiesen. Die von Gierach angestrebte "Verwissenschaftlichung" der Deutschen Akademie überrascht, wenn man diesem Ziel sein sonstiges Engagement im "Volkstumskampf" gegenüberstellt. 115 Noch 1929 schien dieser Kampf für ihn
109
Vgl. IfZ ED 98, Bemerkungen des provisorischen Leiters der wissenschaftlichen Abteilung der DA zu den Anträgen Professor Gierach's, S.22f. 110 Ebd., S.22. 1,1 Ebd., S.24 und 25. 112 Vgl. ebd., S.26; S.27. 113 Brief an Zwiedineck-Südenhorst vom 26.10.1936, zitiert nach: Harvolk 1990, S.34. 114 Β DC Parteiakte Gierach, Wüst an Himmler, 4.5.1937. - Wüst strebte schließlich danach, Gierach enger für die Stiftung zu gewinnen (vgl. ebd.). Neben Höfler ist Gierach damit der zweite Münchner Ordinarius für Germanistik mit Verbindungen zum "Ahnenerbe" (vgl. Kap. 4.3. - Hier auch Näheres zur Zielsetzung dieser Organisation). 115 Vgl. weiter oben. 19 Bonk
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4. Germanistik im Dritten Reich
im Vordergrund gestanden zu sein, als er in einem Brief an Carl von Kraus die Aufgaben der Deutschen Akademie definierte: "Erstens muß sie die wissenschaftlichen Bedürfnisse der Germanistik erfüllen. [...] Zweitens müßte sie die wissenschaftliche Erforschung des Auslanddeutschtums ernsthaft in die Hand nehmen."116 Gierachs Projekte in München sind ausschließlich der ersten Kategorie zuzurechnen. Ab 1940 gab er im Auftrag der Akademie die "Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Sprache" heraus, zusammen mit dem Leipziger Ordinarius Theodor Frings. Den ersten Beitrag lieferte Heinrich Wesche mit "Der althochdeutsche Wortschatz im Gebiete des Zaubers und der Weissagung". 117 Gemäß der Zielsetzung der Deutschen Akademie, wie sie in ihrem eigentlichen Namen programmatisch sichtbar wird, erstrebte der Verfasser eine "Sicherheit des d e u t s c h e n Bestandes", weshalb er keine vergleichende Untersuchung mit dem Angelsächsischen und Altnordischen durchführte (Vorwort, O.S.). Generell entsprach das Thema auch der Neigung der Nazis, die germanische Mythologie für ideologische Zwecke zu vereinnahmen. Das zweite Heft steuerte Johannes Zeidler bei. Er untersuchte "Die deutsche Turnsprache bis 1819" und zog dabei auch den Beitrag "Altes und Neues vom Turnen" heran, den der ehemalige Münchner Ordinarius Hans Ferdinand Maßmann 1849 verfaßt hatte. 118 Vom zweiten Projekt für die Deutsche Akademie, dem "Jahrbuch für deutsche Sprache", betreute Gierach nur einen einzigen Band. 119 Die einzelnen Beiträge behandeln zum Teil sehr umfassende, teils eher detaillierte Fragen. 120 Im Sinne der Zeit untersuchte Ludwig Gotting "Die Sprache des Arbeitsdienstes" (S.l99-203). Deutlich zeitbezogen erweist sich auch der (nicht gezeichnete) Nachruf auf den Herausgeber: "So wie er sich als Diener des Volkes fühlte, so galt ihm auch die Wissenschaft dem Volk im edelsten Sinn verpflichtet: auch sie war ihm nur ein Mittel, die Ansprüche Fremder auf deutschen Boden und deutsches Geistesgut zurückzuweisen und durch das Mühen um das Eigene dem ewigen Rätsel des Deutschseins oder Deutschwerdens neue Geheimnisse abzuringen." (S.6) Die "Ansprüche Fremder auf deutschen Boden und deutsches Geistesgut zurückzuweisen" gehörte zu Gierachs Hauptanliegen in seiner Prager Zeit. Die 116
StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 19.11.1929. - Kraus hatte ihm vermutlich zuvor die Leitung der II. Sektion angeboten. 117 Vgl. Frings/Gierach 1940. - Seitenangaben ab sofort im Text. 118 Vgl. Zeidler 1942/1972, S.132. - Zu Maßmann vgl. Kap. 2.2.3.2. und 3.2.2. 119 Vgl. Gierach 1944. - Seitenangaben ab sofort im Text. 120 Vgl. z.B. Georg Baesecke, Das Althochdeutsche, S.26-41. - Alfred Goetze, Landschaftsgebundene Forschung in Hessen, S.l22-155.
4.1. Erich Gierach
281
Annexion der Tschechoslowakei durch das Deutsche Reich verfolgte er von München aus. Daß er sie mit Genugtuung erlebte, zeigt der Bildband "Böhmen und Mähren im Deutschen Reich", den er ein Jahr danach zusammen mit Karl C. Loesch vorlegte. 121 Dem ausführlichen Bildteil vorangestellt sind zwei Einleitungen. Während Loesch auf die jüngsten Ereignisse - in der euphemistischen Redeweise der Zeit: die Errichtung des Protektorats Böhmen-Mähren - und seine Folgen eingeht (vgl. S.37-56), blendet Gierach weiter in die Vergangenheit zurück (vgl. S.5-36). Wie im Titel angekündigt, will er die geschichtliche Verbundenheit von Böhmen und Mähren mit dem Deutschen Reich und Volk veranschaulichen. Diese Zielsetzung erinnert an die Flugschrift "Aus Böhmens deutscher Vergangenheit" von 1919. 122 Dabei variiert jedoch die Perspektive ein wenig: Suchte der Verfasser damals nach Beweisen für die "deutsche Vergangenheit", hebt er nun die historisch belegbare Zugehörigkeit zum Deutschen Reich hervor. Inhaltlich bleibt die (auch sprachwissenschaftliche, vgl. z.B. S.7) Argumentation im wesentlichen dieselbe. Die wenigen Veränderungen tragen den Stempel der Entstehungszeit. Gierach ersetzte den Ausdruck "vor Christus" durch "vor d[er] Z[ei]tr[echnung]" (vgl. ebd.) oder unterstrich die Bedeutung des Bauern, ohne dabei das Ideal der Volksgemeinschaft aus dem Auge zu verlieren: "Es ist das unvergängliche Verdienst des deutschen Bauers, ein Drittel des Landes, das ja einstmals ganz germanisch war, für alle Zeiten unserem Volkstum wiedergewonnen zu haben. [...] Nicht minder bedeutsam war die Leistung des deutschen Bürgers. [...] Zum deutschen Bauer und Bürger gesellte sich auch der Arbeiter, und zwar in der Gestalt des deutschen Bergmannes." (S.16ff.) Die Bildunterschriften werden benutzt, um die völkische Propaganda zu unterstützen. Beispielsweise heißt es beim "Blick auf den Kostial bei Trebnitz an der nordböhmischen Volksgrenze", daß die Aufnahme im Garten von Dr. Tittas entstand, "welcher jahrzehntelang die völkische Verteidigung der stark bedrohten Stadt führte und Gründer der deutschböhmischen Volksratsbewegung war." (S.91) Insgesamt schien das Buch als Informationsband für "Reichsdeutsche" gedacht, die das neue Protektorat aus einer bestimmten Perspektive kennenlernen sollten. Dabei setzte Gierach demjenigen ein Denkmal, der das Sudetenland mit dem Deutschen Reich vereinigt und damit einen alten Traum realisiert hatte:
121 Vgl. Gierach/Loesch 1939 (auch als Manuskript im IdS vorhanden). - Seitenangaben ab sofort im Text. - Den Bildband brachte der Bruckmann-Verlag 1939 zum Geburtstag des Führers heraus (vgl. AAVCR DA Prag, Akte Gierach, [Schlegel, Gustav ?], Erich Gierach und der deutsche Kulturaufbau in der Tschechei, o.D., S.14). 122 Vgl. weiter oben.
19'
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4. Germanistik im Dritten Reich
"Nur dem Führer des nationalsozialistischen Deutschlands hat das Sudetenland seine Befreiung zu verdanken. Als Deutschösterreich, die alte Ostmark, ins Reich heimgekehrt war, da schlug auch dem Sudetendeutschtum die Stunde der Erlösung. Adolf Hitler hat dieses große Werk vollbracht, ohne Schwertstreich und ohne Blutvergießen gelang es seiner staatsmännischen Voraussicht. Im Oktober 1938 ist der deutsche Volksboden der Sudetenländer wiederum mit dem Reich vereinigt worden und diesmal für alle Zeiten! [...] Die tausendjährige Verbundenheit Böhmens und Mährens mit dem Reich ist wieder hergestellt. Über dem Burghügel zu Prag schwebt unsichtbar die alte Kaiserkrone. Adolf Hitlers Tat steht als leuchtendes Mal in der Weltgeschichte." (S.35f.) Die Stilisierung Hitlers zur Erlöserfigur gehörte zu den gängigen Ideologemen der Zeit. Bei Gierach erhält sie noch eine andere Nuance, indem er das kämpferische Auslandsdeutschtum vertritt. In den völkischen Idealen stimmte der Münchner Ordinarius seinen Veröffentlichungen nach von Grund auf mit dem Nationalsozialismus überein. Im Vergleich dazu erscheint seine Lehrtätigkeit weniger politisch geprägt gewesen zu sein. Obwohl die Ernennung zum Ordinarius bereits am 1. Februar 1936 vollzogen worden war, nahm Gierach erst zum darauffolgenden Wintersemester seine Lehrtätigkeit in München auf. Kündigte er hier insgesamt vier Veranstaltungen an, reduzierte sich diese Zahl dann durchgehend auf drei: eine Vorlesung und jeweils ein Pro- und ein (Haupt-)Seminar. 123 Interessanterweise tauchte der Begriff "Proseminar" ab dem SS 1938 nur mehr mit der eingedeutschten Vorsilbe auf - wohl ein Zugeständnis an den Kampf der Nazis gegen jegliche Überfremdung. 124 Die "Vorseminare" waren - oft ausdrücklich "für Anfänger" gedacht, d.h., der Ordinarius übernahm auch die Schulung der Studienneulinge. Manche Vorlesungen bauten offensichtlich aufeinander auf. Beispielsweise las Gierach unter dem gemeinsamen Titel "Urgermanische Lautlehre" zuerst über "Die Selbstlaute" (WS 1936/37) und dann über "Die Mitlaute" (SS 1937). 125 Vor allem bei bestimmten literaturgeschichtlichen Perioden (z.B. WS 1938/39: "Übungen zur erzählenden Dichtung des 12. Jahrhunderts") oder einzelnen Dichtern (z.B. SS 1938: "Waither von der Vogel123
Ausnahme: WS 1937/38 mit vier Veranstaltungen. - Vgl. dazu und für das Folgende das jeweilige VV. 124 Vgl. auch Gierachs Neubearbeitung von Pauls "Mittelhochdeutscher Grammatik" (vgl. weiter oben). - Vgl. auch seinen Brief an die Tageszeitung "Der Neue Tag". Darin fordert er, die tschechischen weiblichen Familiennamen nach den Regeln der deutschen Grammatik ohne die Endsilbe "-ovâ" bzw. "-a" zu schreiben, da dies "an die Zeit ärgster deutscher Unterdrückung" erinnere (vgl. IdS Schriften E. Gierach, Brief in Kopie, 7.10.1940). 125 Vgl. auch im WS 1939/40: "Mittelhochdeutsche Sprachkunde: Formenlehre (in geschichtlicher Entwicklung)" und im I. Tr. 1940: "Mittelhochdeutsche Sprachkunde: Formenlehre des Zeitworts (in geschichtlicher Entwicklung)".
4.1. Erich Gierach
283
weide") waren die Ankündigungen eher allgemein gehalten. Es ist jedoch anzunehmen, daß Gierach sich z.B. in den "Übungen zu Hartmann von Aue" (Tr. 1941) auf das Werk konzentrierte, das ihm durch seine eigene Forschungsarbeit bestens vertraut war: Hartmanns "Armen Heinrich". 126 Außerdem standen Standardwerke wie das Nibelungenlied (WS 1941/42), Heliand (1943/44) oder Minnesangs Frühling (SS 1937) auf dem Programm. Häufiger finden sich jedoch umfassendere Themen wie z.B. "Althochdeutsche Reimdichtung" (III. Tr. 1940), "Althochdeutsche stabende Dichtung" (WS 1942/43) oder "Heldenlied und Heldenepos" (1938/39). Gierachs Vorlesungspalette umfaßte Urgermanisch ebenso wie Altsächsisch und Altnordisch. 127 Außer Gotisch lehrte er Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch. 128 Nur innerhalb der "Vergleichenden Formenlehre des Gotischen, Alt- und Neuhochdeutschen" (WS 1943/44, ähnlich auch SS 1938) bezog er auch die jüngere Sprachstufe mit ein. Insgesamt überwog zahlenmäßig eindeutig die sprachwissenschaftliche Seite: 13 Vorlesungen aus diesem Bereich stehen nur drei literaturgeschichtliche gegenüber. 129 Ein einziges Mal berührte er als Dozent sein politisches Aktionsfeld, und zwar im SS 1943 mit der "Deutschen Dichtung des Mittelalters in Böhmen". Veranstaltungen zu seinen Spezialgebieten Namensforschung und Mundartenkunde bot Gierach in München überhaupt nicht an. 130 Ein bestimmtes Kolleg, das wegen seiner häufigen Frequenz als Lieblingskolleg bezeichnet werden könnte, kristalliert sich nicht heraus. Trotzdem bewegte er sich als Universitätslehrer in einem bestimmten Rahmen, der für diesen Lehrstuhl durchaus als charakteristisch angesehen werden kann: Grammatik der verschiedenen alten germanischen Sprachen später ebenfalls eingedeutscht in "Sprachkunde" - , literaturgeschichtliche Überblicke über bestimmte Perioden und Regionen, einzelne Dichter bzw. Dichtungen aus der älteren und ältesten Zeit. Von diesem Schema wich nur eine einzige Veranstaltung ab: Das Hauptseminar "Wesen und Bedeutung der Sprache" (Tr. 1941) ragt in seiner philosophischen Dimension über die philologische Basis mit dem "Handwerkszeug" Grammatik und Textkritik hin-
126 Vgl. exakt diese Ankündigung im WS 1943/44. - Gierach hatte 1913 diese höfische Verslegende ediert (vgl. Gierach 1913 und weiter oben). 127 Vgl. weiter oben. - Z.B. "Altsächsiche Dichtung" (SS 1939). - Z.B. "Altnordische Übungen für Anfänger: die Geschichte von Gunlaug Schlangenzunge" (SS 1941). 128 Z.B. "Gotische Übungen" (SS 1939). - Z.B. "Althochdeutsch für Anfänger" (WS 1939/40). - Z.B. "Mittelhochdeutsch für Anfänger" (1937/38). 129 Letztere im SS 1939, II. Tr. 1940 und SS 1943. - Der Begriff "Vorlesung" bezieht sich in diesem Fall ausschließlich auf die gleichlautende Veranstaltungsform in Abgrenzung zu Pro- und Hauptseminar. 130 Zu den Spezialgebieten vgl. weiter oben.
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4. Germanistik im Dritten Reich
aus. 131 Diese Ausnahme scheint nur die Regel zu bestätigen, daß Gierach kaum philosophische Interessen hatte, was sich auch an seinen Veröffentlichungen gezeigt hatte. 132 Außerdem fehlen volkskundliche Themen an der LMU, obwohl sie einen Schwerpunkt in seinen Forschungen bildete. In Gierachs Nachlaß befinden sich einige Manuskripte, die Aufschluß geben über die Konzeption verschiedener Veranstaltungen. Obwohl sie in der Regel undatiert sind, lassen sie sich - unter Vorbehalt - bestimmten Vorlesungen an der L M U zuordnen. Ein Blatt trägt die Überschrift "Kolleg: Einführung in die mhd. [= mittelhochdeutsche, M.B.]) Grammatik" und entspricht damit genau einer Ankündigung für das WS 1942/43. 133 Der Plan gliedert sich in insgesamt sieben Punkte. 134 Dieser Struktur zufolge stellte Gierach prinzipielle Erläuterungen zum methodischen Vorgehen und zur deutschen Sprache der Grammatik voran, aus der er nur die Lautlehre behandelte. Auch für das Anfänger-Seminar "Gotisch" im WS 1943 ist eine Gliederung erhalten. 135 Sie orientiert sich vor allem an geographischen Aspekten, z.B. unterscheidet Gierach zwischen "Ostgoten", "Westgoten" und "Krimgoten" (Punkte 1, 2 und 8). Als Beispiele für die gotische Dichtung dienten ihm die "Gotische Heldendichtung" und "Wulfilas Werke", dessen Leben er ebenfalls vorstellte (Punkte 7, 5 und 4). Nur einmal beschäftigte er sich offensichtlich mit einem sprachwissenschaftlichen Aspekt, und zwar mit der "Stellung des Gotischen im Kreise der germanischen Sprachen" (Punkt 10). Demnach handelte es sich eher um ein literaturhistorisch angelegtes Seminar, das auch Aspekte der Geistesgeschichte aufgriff (z.B. "3. Die Bekehrung der Goten zum Christentum"). Um das Thema "Walther von der Vogelweide" kreist eine Liste von Vorschlägen für "Referate im Proseminar B " . 1 3 6 Da weder ein bestimmtes Seminar noch ein bestimmtes Semester angegeben ist, kann man vermuten, daß sie sich auf das Vorseminar "Walther von der Vogelweide" (SS 1938) oder "Übungen zu Walther von der Vogel weide" (II. Tr. 1940; WS 1942/42) be131
Zum selben Thema hielt Gierach Vorträge beim Germanistenkurs der Deutschen Akademie am 11.9.1941 in München (vgl. IdS, Schriften E. Gierach, Kursübersicht). 132 Vgl. Lehmann 1943, S.339; vgl. auch weiter oben. 133 IdS Schriften E. Gierach, Kolleg: Einführung in die mhd. Grammatik, o.D. 134 "1. Beschreibende und entwicklungsgeschichtliche (historische) Grammatik (Sprachkunde) / 2. Zeitliche Einteilung des Deutschen / 3. Räumliche Einteilung des Deutschen: Mundarten. / 4. Schriftsprache und Mundart / 5. Die Schrift und ihre Aussprache. Die mhd. Laute / 6. Lautwechsel im Mhd. Zeitlich ordnen [...] / 7. Mhd. Lautverschiebungen". 135 Vgl. ebd., Gotisch: Vorseminar SS 1943, o.D. - Punktangaben ab sofort im Text. 136 Vgl. ebd., Themen für Referate im Proseminar B, o.D.
4.1. Erich Gierach
285
zieht. Die Palette reicht von biographischen über philologische bis zu gattungsspezifischen Fragestellungen. 137 Die Vorschlagsliste selbst legt nahe, daß Gierach eine Art "Referateseminar" abhielt, wie es auch in der Gegenwart üblich ist. 1 3 8 Ein mehrseitiges Manuskript "Heliand" könnte zur Vorbereitung auf ein Heliand-Seminar im WS 1943/44 gedient haben. 139 Der "1. Teil" beschäftigt sich mit den Handschriften, dem Verfasser und der Behandlung des Stoffes. Der "2. Teil" besteht aus grammatikalischen Notizen zu einzelnen Versen, z.B. Worterklärungen, Bezüge zum Gotischen, Alt- und Neuhochdeutschen. Damit standen in diesem Kolleg literaturgeschichtliche und sprachwissenschaftliche Gesichtspunkte nebeneinander. Während diese Aufzeichnungen insgesmt relativ knapp und in Stichworten gehalten sind, gibt es im Nachlaß noch einige längere Mansukripte mit vollständig ausformuliertem Text. Die zusammenhängenden Blätter sind einseitig mit Tinte beschrieben, die zum Teil stark verwischt ist, durchnumeriert und undatiert. Die einzelnen Konvolute sind jeweils mit dem Namen eines mittelhocheutschen Dichters (z.B. Gottfried von Straßburg) oder Werks (z.B. "aH" [= Der arme Heinrich, M.B.] überschrieben. Bestimmte Formulierungen lassen darauf schließen, daß die Manuskripte zusammengehören. 140 Zusammengenommen passen sie zur Vorlesung "Meisterwerke mittelhochdeutscher Dichtung" vom SS 1939, und zwar in dieser Reihenfolge: Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Nibelungenlied, Gottfried von Straßburg. Daß es sich dabei wirklich um Vorlesungsmanuskripte handelt, legt auch die Verwendung des Pluralis modestiae nahe, der in Gierachs Veröffentlichungen nicht auftaucht. Diverse Literaturangaben verweisen auf eine Entstehungszeit
137
Z.B. "1. Das Leben Walters [sie!]". - "2. Überlieferung der Gedichte Walters [sie!] und die wichtigsten Sammelhandschrieten [sie!] der mhd. Lyrik". - "4. Die Sprüche Walthers". 138 Vgl. auch eine weitere Liste "Vorträge (Seminar B)", die inhaltlich auf das Seminar "Althochdeutsche Reimdichtung" (III. Tr. 1940) paßt (IdS Schriften E. Gierach, o.D.). 139 Vgl. IdS Schriften E. Gierach, Heliand, o.D. 140 Der erste Satz bei dem Manuskript "Gottfried von Straßburg" lautet: "In Wo. [= Wolfram v. Eschenbach, M.B.] haben wir den großen Menschheitssänger kennen gelernt, in dem Nib.dichter den Verkünder germanischen Heldengeistes, in Gottfried tritt uns der Künstler der Schönheitsfreude und der Allmacht der Liebe entgegen." Im Nachlaß befinden sich entsprechend Manuskripte zu Wolfram und dem Nibelungenlied (vgl. IdS Schriften E. Gierach).
286
4. Germanistik im Dritten Reich
gegen Ende der dreißiger Jahre, so daß er die Unterlagen in München benutzt haben könnte. 141 Exemplarisch soll das mit 30 Seiten umfangreichste Manuskript über "Gottfried von Straßburg" näher vorgestellt werden. 142 Nachdem Gierach auf Gottfrieds Leben, Herkunft, Zeitumstände und literarische Kenntnisse eingegangen ist, steht das Tristan-Werk und seine Rezeption im Mittelpunkt. Einige Verse werden im Original zitiert (S.5), der Stil (S.6) und die Handschriftenverhältnisse bzw. die Drucke (S.7) erläutert. Dann ordnet Gierach das Werk mit den Tristanbearbeitungen in Frankreich, England und Deutschland (S.7f. und 23-29) in einen "europäischen Rahmen" ein. Besonders ausführlich gibt er den Inhalt des sogenannten "Urtristan" wieder, wie ihn Wolfgang Golther rekonstruiert hatte (S. 10-16). 143 Weitere Erörterungen zur Herkunft des Stoffes (S.17), den Namen (17f.) und den Motiven (18-22) schließen sich an. Die Behandlung der mittelhochdeutschen Dichtungen steht dabei unter der einleitend genannten Prämisse, die europäischen Vorgänger weit übertroffen zu haben: "Diesem großen Dreigestirn mhd. Epik [= Wolfram, Nibelungendichter, Gottfried; M.B.] hat die afrz. [= altfranzösische, M.B.] Dichtung nichts Gleichwertiges zur Seite zu stellen. Wenn Wo. [= Wolfram, M.B.] auf Christian, wenn Go. [= Gottfried, M.B.] auf Thomas aufbaut, so sind sie doch weit über ihre Vorlagen hinausgewachsen, sie haben dem Parzival, dem Tristan die abschließende Gestalt gegeben, die höchste künstlerische Formung welche das Mittelalter hervorgebracht hat. Die englischen, die skandinavischen und schottischen Nachbildungen übertreffen nicht ihre Vorbilder, geschweige denn daß sie an die deutschen Hochleistungen heranreichten." (S.l) Damit steht die gesamte Vorlesung unter dem Ziel, die deutsche Dichtung als führend in Europa zu beweisen. Diese Vorgabe wiederum läuft parallel zu den Interessen des Dritten Reichs. Noch markanter tritt dieser Germanismus beim "Parzival" hervor, wenn es heißt: "Wo. [= Wolfram, M.B.] schafft einen anderen der Fremde entlehnten Stoff zu einer deutschen Dichtung um, die er mit wahrhaft deutschem Denken erfüllt." 144
141
Vgl. ebd., aH, Schrifttum, S.14: "H. Sparnaay, Hartmann von Aue, 2 Bände, 1938" und "Nacherzählung: Ha. v. Aue. Epische Dichtungen, 1939." - Die vollständigen bibliographischen Angaben lauten: Sparnaay, Hendricus, Hartmann von Aue. Studien zu einer Biographie, 2 Bde., Halle 1933/1938. - Hartmann von Aue. Epische Dichtungen, übertragen von Reinhard Fink, Jena 1939. 142 Vgl. ebd., Gottfried von Straßburg, o.D. - Seitenangaben ab sofort im Text. 143 Vermutlich benutzte Gierach folgendes Buch: Golther, Wolfgang, Tristan und Isolde in den Dichtungen des Mittelalters und der neuen Zeit, Leipzig 1907. 144 Ebd., Das Nibelungenlied (Übergang), o.D.
4.1. Erich Gierach
287
Vorausgesetzt, daß es sich wirklich um Vorlesungsmanuskripte handelt, steht damit fest, daß bei Gierach nationalsozialistisches Gedankengut auch in den Hochschulunterricht einfloß. Obgleich die Ankündigungen sich davon frei zeigen, waren sie es inhaltlich offenbar nicht. Wenig präzise sind die vorhandenen Aussagen über seine Art, den Stoff zu vermitteln. Einige Angaben beziehen sich vor allem auf seine Prager Zeit als Universitätslehrer. Demnach "vertrat [er] [...] den Studenten gegenüber die Forderung strenger wissenschaftlicher Arbeit" und galt als "überstrenger Prüfer". 145 Zumindest die erste Eigenschaft ist charakteristisch für die Münchner Ordinarien. 146 Demnach scheint es sich mehr um einen für Philologen typischen als individuell bei Gierach ausgeprägten Charakterzug zu handeln - fast wie eine unerläßliche Voraussetzung für diesen Beruf. Über Gierachs Vorlesungsstil ist nichts überliefert. Vielleicht bestanden aber Parallelen zu den zahlreichen Vorträgen, für die ihm "ein klangvolles Organ" zur Verfügung stand: "Und immer erfreute Gierach durch die verläßliche und gewissenhafte Fundierung, durch die bündige und oft kristallklare Formung, durch die Reinheit und Gepflegtheit des sprachlichen Ausdrucks. Es war alles hieb- und stichfest, was er vorbrachte, und endgültig formuliert: so liebte er es auch, seine Vorträge wortwörtlich durchzuarbeiten und ohne Abweichungen von der einmal festgelegten sprachlichen Gestalt vorzubringen." 147 An der Universität Prag soll Gierach das germanistische Seminar "nach modernen Gesichtspunkten gründlich umgestaltet" haben, indem er "neue Abteilungen für Mundartenforschung und Phonetik angliederte." 148 Außerdem regte er die Errichtung eines Ordinariats für Vor- und Frühgeschichte an und kämpfte "gegen die drohende Verjudung der Fakultät". 149 Aus der Anfangszeit an der deutschen Karlsuniversität liegen auch Angaben über Hörerzahlen vor, wie sie für München fehlen. 150 Namhafte Schüler hatte Gierach ebenfalls in Prag um sich gesammelt, die sich später vor allem auf fachfremden Gebieten
145
Lehmann 1943, S.335. - Pfitzner 1931, S.92. Vgl. besonders Hermann Paul (Kap. 3.3.1.), Carl von Kraus (Kap. 3.3.2.) und Michael Bernays (Kap. 3.4.1.). 147 Lehmann 1943, S.338. 148 Pfitzner 1931, S.91 f. 149 Vgl. Lehmann 1931, S.ll und Schier 1962, S.574. - AAVCR DA Prag, Akte Gierach, [Schlegel, Gustav ?], Erich Gierach und der deutsche Kulturaufbau in der Tschechoslowakei, o.D., S.3. 150 "Die Hörerzahl ist sehr groß, mehr als 100 im Kolleg und über 60 im AnfängerSeminar; viel zu viel, um zu dem einzelnen ein persönliches Verhältnis zu gewinnen." (StB Krausiana I, Gierach an Kraus, 29.12.1921) 146
288
4. Germanistik im Dritten Reich
profilierten. Dazu zählen in erster Linie die Volkskundler Bruno Schier und Josef Hanika. 151 Für die L M U läßt sich nichts Vergleichbares beobachten. Als Mitvorstand des Deutschen Seminars kümmerte sich Gierach vor allem um die finanziellen Belange und erreichte mehrfach außerordentliche Zuwendungen. 152 An der Errichtung des dritten Lehrstuhls, der mit Otto Höfler besetzt wurde, war er nicht beteiligt. Er erlebte sie - nach den Worten von Carl von Kraus - eher als Konkurrenz. 153 Obwohl Gierach fünf Jahre in München lehrte, betreute er insgesamt nur vier Doktoranden. 154 Dabei erstaunt die Parallele zum Vertreter der neueren Germanistik. Im selben Zeitraum entstanden bei Herbert Cysarz ebenfalls nur vier Dissertationen. 155 Vermutlich hängt der Rückgang mit der allgemeinen Reduzierung der Studentenzahlen und speziell mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs zusammen.156 Zwei von den Doktoranden waren Frauen, was der Hochschulpolitik des Dritten Reichs und seinem prinzipiellen Bild der Frau völlig entgegengesetzt lief. 157 Angesichts der Verachtung der Kirchen ist es ebenfalls eher ungewöhnlich, daß eine der Doktorandinnen dem Orden der Dominikanerinnen angehörte und althochdeutsche Bibelglossen und Bibeltexte untersuchte. 158 Dieses Thema hatte jedoch noch Carl von Kraus gestellt und die Entstehung der Arbeit bis zum Schluß begleitet. 159 Der neue Ordinarius Gierach fertigte nur das Gut-
151
Vgl. Lehmann 1943, S.340. - Bruno Schier verfaßte zahlreiche Aufsätze über seinen ehemaligen Lehrer (vgl. die Personalbibliographie). - Josef Hanika wurde 1959 erster Ordinarius für Volkskunde an der LMU (vgl. Kap. 2.4.3.). 152 Vgl. Kap. 2.5. 153 Vgl. Kap. 2.6.2.3. 154 Vgl. Tab. 2. 155 Ygj J _ D i e s e Parallele erstaunt deshalb, weil bei den Vorgängern in der Regel erhebliche Differenzen zwischen Alt- und Neugermanistik zu verzeichnen waren (vgl. z.B. Hofmann und Bernays (Kap. 3.2.3. und 3.4.1.), Paul und Muncker (Kap. 3.3.1. und 3.4.2.) bzw. Kraus und Muncker (Kap. 3.3.2. und 3.4.2.). 156 Zur NS-Hochschulpolitik vgl. Bracher/Sauer/Schulz 1960, S.322. 157 ygj S.322. - Vgl. dazu auch den Reichsleiter der NS-Frauenschaft, Dr. Krummacher: "Das deutsche Volk erwartet von seinen Frauen, daß sie in erster Linie der Familie dienen und ihr alle aufbauenden Kräfte für Volk und Staat zusammenfassen." (zit. nach: Michaelis/Michaelis/Somin 1934, S.21, hier leider ohne Quellenangabe) - Vgl. auch die Dokumentation von Schmidt/Dietz 1983. 158 Vgl. Steiner 1939. 159 Vgl. ebd., Lebenslauf im Anhang, O.S.
4.1. Erich Gierach
289
achten an und hielt das Rigorosum ab. 160 Auf eine prinzipielle Offenheit in wissenschaftlichen Fragen läßt sich damit noch nicht schließen. Auch die Anregung zur Dissertation von Berta Gillitzer war nicht von Gierach ausgegangen, sondern er hatte nur die Betreuung der Arbeit nach dem Weggang von Otto Maußer übernommen. 161 Allerdings kam das Thema "Die Tegernseer Hymnen des Cgm. 858. Beiträge zur Kunde des Bairischen und zur Hymnendichtung des 15. Jh." seinem Interesse für dialektologische Fragen entgegen. 162 Die Verfasserin betonte auch ausdrücklich Gierachs Anteil bei der Entstehung der Dissertation: "Auf seine Anregung wurde dann meine ursprüngliche Arbeit nach verschiedenen Gesichtspunkten erweitert und vertieft." 163 Außer dem Abdruck der Tegernseer Hymnen enthält die Arbeit einen ausführlichen Teil zu grammatikalischen Fragestellungen. Die philologische Untersuchung hält sich von jeglichen Zugeständnissen an die NS-Terminologie fern. Gierach nahm die Dissertation wenig später als zweiten Band in die Reihe "Forschungen zur bairischen Mundartkunde" auf, die er zusammen mit Eberhard Kranzmayer seit 1941 herausgab. 164 Vollständig betreute Gierach die Arbeit von Edmund Baldauf über "Die Syntax des Komparativs im Gotischen, Althochdeutschen und Altsächsischen". Durch das Thema wurde es möglich, sich von der politischen Tagesaktualität zu distanzieren und sich auf die sprachwissenschaftliche Fragestellung zu konzentrieren. 165 Dasselbe gilt für Eugenie Emnets "Untersuchung zur Passauer Stephanslegende".166 Kein einziger aus diesem kleinen Kreis von Doktoranden strebte die Habilitation an. 167 Die Gründe dafür ausschließlich bei Gierach zu suchen, wäre sicher fehlgegriffen. Es muß auch die generell restriktive Hochschulpolitik des Dritten Reichs - zusätzlich verstärkt für Frauen - mitberücksichtigt werden. 168
160
Die Gutachten konnte ich nicht einsehen, da mir im UA Mü. die Promotionsakten nur bis 1933 zugänglich waren. 161 Vgl. Gillitzer 1942, S.V. - Maußer ging 1938 an die Universität Königsberg. 162 Vgl. die Reihe "Forschungen zur bairischen Mundartkunde" (vgl. weiter oben). 163 Gillitzer 1942, S.V. 164 Vgl. weiter oben. 165 Vgl. Baldauf 1938. 166 Vgl. Emnet 1942. - Eugenie Emnet war ab 1935 Assistentin am Deutschen Seminar (vgl. Kap. 2.5.). Nach Gierachs Tod führte sie die 14. Auflage von Pauls "Mittelhochdeutscher Grammatik" zu Ende (vgl. weiter oben). 167 Vgl. Kap. 2.6.2.1. 168 Vgl. Bracher/Sauer/Schulz 1960, S.318-325.
290
4. Germanistik im Dritten Reich
Nach außen hin signalisiert der Name Erich Gierach ein Moment der Kontinuität am Institut für Deutsche Philologie in München. Gierach setzte indes andere Schwerpunkte als sein Vorgänger und Lehrer Carl von Kraus, indem er sich als Vertreter des Auslandsdeutschtums für die Erhaltung des deutschen Volkstums engagierte und diesem Ziel nahezu seine gesamten Forschungen unterordnete. Nicht nur durch die Vielzahl von außeruniversitären Ämtern, sondern auch durch die Thematik und Zielsetzung seiner Forschungen integrierte er sich in die völkische Bewegung, innerhalb der er nahtlos den Übergang zum Nationalsozialismus vollzog. Die Geschlossenheit des Gierachschen Denkens bescheinigen alle verfügbaren Dokumente. Das NSDAP-Mitglied bekannte sich zur Überlegenheit der nordischen Rasse, die er vor "Entartung" schützen wollte. Die Größe der deutschen Kulturleistungen fand er insbesondere im Sudetendeutschtum bestätigt, das er in jeder Hinsicht gegen die tschechische Unterdrückung verteidigte. Das Bewußtsein des deutschen Volkstums im gesamten deutschen Volk zu fördern, sah er als Aufgabe seiner zahlreichen Volksbildungsinitiativen. Vor allem um die Vormachtstellung des deutschen Volks bis zur Gegenwart zu begründen, betrieb er germanistische Forschungen, die im Sinne der "Deutschkunde" ein Konglomerat aus literaturgeschichtlichen, sprachwissenschaftlichen, geschichtlichen und volkskundlichen Elementen bildeten.
4.2. Zwischen deutscher Literaturgeschichte und Philosophie: Herbert Cysarz Auf den ersten Blick gibt es manche Parallelen zwischen Erich Gierach und Herbert Cysarz, dem Nachfolger des zwangsemeritierten Walther Brecht. 169 Beide kamen von der Deutschen Karlsuniversität in Prag, beide engagierten sich vehement für die Sudetendeutschen und traten in München von der Sudetendeutschen Partei (SdP) in die NSDAP über. 170 Auch daß sie mit ihren Vorgängern auf dem Lehrstuhl ihre früheren Lehrer beerbten, verbindet sie. Gravierende Unterschiede ergeben sich aus der wissenschaftlichen Orientierung und dem persönlichen Lebenslauf, der bei Herbert Cysarz bis in die Mitte der achtziger Jahre reichte.
169
Zu Brecht vgl. Kap. 4.1. Der Kontakt auch außerhalb der Universität ist durch die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie Prag belegt. Gierach beantragte 1929 bzw. 1930 Cysarz' Aufnahme zum korrespondierenden bzw. wirklichen Mitglied (vgl. AABCR DA Prag, Akte Gierach, Gierach, Wostry u. Rzach an DA, 23.1.1929 u. 5.2.1930). 170
4.2. Herbert Cysarz
291
Damit dürfte jedoch nicht der einzige Grund angesprochen sein, daß für Cysarz bis dato eine ausführliche wissenschaftliche Untersuchung fehlt. Zeitlebens gehörte er zu den umstrittensten Wissenschaftlern aus der Zeit des Nationalsozialismus, der nach 1945 nicht mehr in ein Lehramt zurückkehren konnte. 171 Seiner Dozententätigkeit am Münchner Deutschen Seminar in den Jahren zuvor nachzugehen bildet mit ein Hauptanliegen dieses Kapitels. Die Darstellung beruht auf einem umfangreichen Quellenmaterial. Erstmals überhaupt für eine wissenschaftliche Studie wurde der Nachlaß von Herbert Cysarz gesichtet und ausgewertet, den seine Witwe 1987 dem Sudetendeutschen Archiv in München übergab. 172 Der Schwerpunkt des Nachlasses liegt deutlich auf der Zeit nach den 40er Jahren, was ihn für diese Untersuchung nur zum Teil wertvoll macht, zumal er offensichtlich sehr gezielt zusammengestellt wurde. 173 Als besonders aufschlußreich für seine Tätigkeit am Münchner Institut für Deutsche Philologie sowie für seine (vergeblichen) Versuche, an die Universität zurückzukehren, erwies sich die Personalakte im Bayerischen Hautpstaatsarchiv München. 174 Hier finden sich auch zahlreiche Belege für sein politisches Engagement während des Dritten Reichs, was durch die NSDAP-Akte im Berlin Document Center sowie durch Akten des Berliner Hauptamts für Wissenschaft im Institut für Zeitgeschichte, München, ergänzt wird. 1 7 5 Vervollständigt wird das Material durch die zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen von Herbert Cysarz vor allem vor 1945. Seine autobio-
171
Im Gegensatz zu Otto Höfler (vgl. Kap. 4.3.). SdA Nachlaß Cysarz, C17, Virginia Cysarz an SdA, 22.6.1987. - Die insgesamt 10 Kartons enthalten v.a. Cysarz' kleinere Veröffentlichungen (Aufsätze, Artikel, Rezensionen, Vorträge; zum Teil in Sonderdrucken), Rezensionen seiner Werke in Zeitschriften und Zeitungen, persönliche Dokumente (Urkunden, Fotos usw.), Vortragsmanuskripte und Korrespondenz (mit seiner Frau Virginia, mit ehemaligen Schülern, mit Verlagen und Redaktionen). - Kopien von Briefen an Cysarz von 1963 bis 1982 befinden sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. 173 Ein Manuskript trägt z.B. die Überschrift "Auszug aus H.s Tageskalender (28.2.-19.12.1945)" (vgl. SdA, C17, 6). Cysarz muß also länger eine Art Tagebuch geführt haben, von dem sich jedoch nichts im Nachlaß findet. Auch von den zahlreichen Briefen an das Bayer. KuMi aus der Zeit von 1945 bis ca. 1960 (vgl. BayHStA MK 43502) gibt es keine Durchschläge. Dagegen existieren sogar Abschriften von privaten Schreiben an seine Schüler. 174 Vgl. BayHStA MK 43502 (Die Einsichtnahme wurde beim Bayer. KuMi beantragt und genehmigt.). - Die Personalakte im UA München konnte dagegen nur zum Teil (bis März 1953) eingesehen werden. 175 Vgl. Β DC Parteiakte Cysarz, Mgl.-Nr. 6 899 932. - IfZ MA 116/4 (Herbert Cysarz) und MA-141/2, S.3439. 172
292
4. Germanistik im Dritten Reich
graphischen Texte liegen zum Teil zwar wesentlich später, doch bereichern sie das Bild von Herbert Cysarz um ein wichtiges persönliches Moment. 176 Auf der Literaturseite stehen eher unkritischen Würdigungen und Nachrufen heftige Angriffe gegen den ehemaligen Ordinarius und seine Veröffentlichungen gegenüber. 177 Die affirmativen Beiträge finden sich - ähnlich wie bei Gierach - vor allem in Zeitschriften mit einem Bezug auf das Sudetenland oder Schlesien. 178 Sie veranschaulichen Cysarz' (Nach-)Wirkung als Kämpfer für seine Heimat, den "deutschen Osten". Herbert Franz von Sales Cysarz wurde am 29. Januar 1896 in der schlesischen Stadt Oderberg geboren, die damals zu Österreich gehörte. 179 Das naturwissenschaftlich orientierte Studium an der Universität Wien mußte er wegen des Kriegsdienstes unterbrechen, und eine schwere Kriegsverletzung machte dessen Fortsetzung unmöglich. 180 Sein philosophisches Interesse führte ihn zu Germanistik und Romanistik. 181 Die philologische Schulung erhielt er bei Rudolf Much und Joseph Seemüller, zur Literaturgeschichte "erweckte" ihn Walther Brecht, sein "eigentlicher literarhistorischer Lehr- und Fechtmeister". 182 Er setzte die geistesgeschichtliche Methode seines Lehrers fort, allerdings unter zunehmender Akzentuierung der Philosophie. 183 Nach nur zweijährigem Studium promovierte Cysarz in Wien zum Dr. phil. Für seine Dissertation erhielt er 1923 den (letzten) Wilhelm-Scherer-Preis der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 184 Wie schon bei der Promotion
176
Vgl. Cysarz 1957, Cysarz 1967 und Cysarz 1976. Pro: vgl. z.B. Strosche 1961, Lassmann 1962 oder Klatz 1985. - Contra: vgl. z.B. Sauder 1977 oder die Glosse von J[oachim] K[aiser] (?) in der Süddeutschen Zeitung vom 25.5.1961 (SdA Nachlaß Cysarz, C17, lb). 178 Z.B. Sudetenland, Sudetendeutscher Kulturalmanach, Mährisch-schlesische Heimat. - Zu Gierach vgl. Kap. 4.1. 179 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 180 Durch eine Wurfmine verlor der Zwanzigjährige die linke Hand vollständig und von der rechten Hand drei Finger. 181 Zu seinen Wiener Kommilitonen gehörten Eduard Hartl und Eberhard Kranzmayer, die später ebenfalls nach München kamen (vgl. Cysarz 1976, S.36 - vgl. Kap. 2.5., 2.7. und 4.1.). 182 Cysarz 1976, S.35 und 34. 183 Vgl. weiter unten. - Zu Brecht vgl. Kap. 3.4.3. 184 Vgl. Cysarz 1921. - Weitere Auszeichnungen: Eichendorff-Preis 1938 (vgl. AAVCR DA Prag, Akte Cysarz, Otto Grosser (= Vors. des Kuratoriums) an Schriftleitung diverser Zeitungen, 2.4.1938); Sudetendeutscher Kulturpeis 1961 (vgl. Lassmann 1962), Adalbert-Stifter-Medaille 1971 (vgl. SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3c, Urkunde, 29.1.1971) und Georg-Dehio-Preis 1975 (vgl. Gehrmann 1975). 177
4.2. Herbert Cysarz
293
war Walther Brecht auch an Cysarz' Habilitation maßgeblich beteiligt. 185 Ohne Probevortrag, nur aufgrund seiner Schrift "Deutsche Barockdichtung" trat er Ende 1922 als Privatdozent für neuere deutsche Sprache und Literatur in die Universität Wien ein. 1 8 6 Seit 1926 außerordentlicher Professor, nahm er 1928 einen Ruf nach Prag an, wo er am 1. Oktober 1929 als Ordinarius zum Nachfolger von August Sauer ernannt wurde. Genau neun Jahre später bestieg er an der L M U den Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte seines ehemaligen Lehrers Walther Brecht. 187 Wie ein Brief von Konrad Henlein, dem Gauleiter und Reichsstatthalter im Sudetenland, an den Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung verdeutlicht, lag diese Berufung im eigensten Interesse des Prager Ordinarius: "Prof. Herbert Cysarz, Germanist an der deutschen Universität in Prag, strebt eine Berufung an die Universität in München an. Obwohl wir ihn ungern scheiden sehen, müssen wir die Gründe seines Strebens anerkennen. Ich wäre Ihnen, hochverehrter Herr Reichsminister sehr dankbar, wenn Sie diesem ausgezeichneten deutschen Hochschullehrer die Erfüllung seines Wunsches ermöglichen würden." 188 Nach dem Krieg wurde Cysarz von der amerikanischen Militärregierung vom Dienst an der Universität enthoben. 189 Trotz seiner ausdauernden Bemühungen gelang es ihm nicht, wieder in sein altes Lehramt zurückzukehren. 190 Als Privatgelehrter unermüdlich publizistisch tätig, starb Cysarz mit fast 90 Jahren am 1. Januar 1985 in München. Mit ein Hauptgrund für seine Entlassung nach 1945 war die Mitgliedschaft in der NSDAP seit 1938. In Prag war Cysarz der SdP beigetreten und hatte zum engeren Vertrautenkreis um Konrad Henlein gehört. 191 Auf ihn berief er
185
Vgl. Cysarz 1957, S.77, und Cysarz 1976, S.37 Vgl. Jahn 1957, S.12. - Vgl. Cysarz 1924. - Die ME vom 17.10.1922 befindet sich im Nachlaß (vgl. SdA, C17, 6). 187 Vgl. Kap. 2.6.2.2. 188 Zit. in: BDC Parteiakte Cysarz, REM an KuMi, 2.6.1938 (Ab.). - Von Henleins Fürsprache für Cysarz wußte auch Erich Gierach: "Dagegen hat Cysarz die besten Aussichten, (weil sich K. H. [= Konrad Henlein, M.B.] dafür ausgesprochen hat), schon im Herbst, spätestens im Frühjahr hier zu lesen." (AAVCR Nachlaß Wostry, Gierach an Wostry, 1.7.1938) 189 Vgl. BayHStA MK 43502, KuMi an Cysarz, 19.12.1945. 190 Zu diesen Vorgängen vgl. ebd. 191 In seinem "Werk- und Lebensbericht" von 1976 bestritt Cysarz die Mitgliedschaft in der SdP: "Ich selbst hatte der Partei nicht als Mitglied angehört, ich hatte auch Henleins Vorschlag, für die Partei (die dann die stärkste im Präger Parlament wurde) schon 1935 zu kandidieren, aus Arbeitsgründen nicht folgen können." (Cysarz 1976, S.l69) Vgl. dagegen seine Angabe im "Fragebogen zum Antrag auf Aufnahme 186
294
4. Germanistik im Dritten Reich
sich ganz entschieden, als er in München seine Übernahme in die NSDAP anstrebte: "Ich habe im Volkstumskampf Sudetendeutschlands in der vordersten Front gestanden. Mit Konrad Henlein und seinen nächsten Mitarbeitern habe ich schon seit der Gründung der Sudetendeutschen Partei manche persönliche Beratung gehalten. Auf seinen besonderen Wunsch übernahm ich 1937 den Vorsitz der Sudetendeutschen Gesellschaft für Volksbildung, auch des Bunds Sudetendeutscher Schriftsteller - das waren die völkisch-sudetendeutsche Kultur- und Schrifttumskammer: Ich könnte auf Grund schon dieser Tätigkeit einem führenden Amtswalter der ehemaligen Sudetendeutschen Partei gleichgeachtet werden." 192 Der Wechsel gestaltete sich offenbar ziemlich kompliziert, denn mehrfach bat Cysarz aus München seine Frau Virginia, ihre SdP-Ausweise oder gleichwertigen Ersatz zu beschaffen. Dieser Angelegenheit maß er "vitale Bedeutung" bei: "Sind die Ausweise selbst verloren, dann müssen gleichwertige Bescheinigungen ausgestellt werden. Vielleicht läßt sich sogar meine Vorstandschaft im völkischen Schriftstellerverband (die ich auf dringlichen Wunsch Krds. [= Konrads, M.B.] Henleins übernommen habe) einer Amts waltung gleichsetzen. Betont werden müßte auch Deinerseits, daß ich nach wie vor keinerlei Ämter-Ehrgeiz hege, wohl aber für Frage-Beantwortungen und im November abgegebene Erklärungen einstehen muß. Daß die Kreisleitung München die Zeugnisse über mein Verhältnis zur SdP dringlich verlangt. Irgendwelche gültige Papiere müssen her! Sonst bin ich bloßgestellt nicht zu sagen wie." 193 Zwei Jahre später war der Übertritt noch immer nicht vollzogen. Aus diesem Grund wandte sich Herbert Cysarz direkt an den Reichsschatzmeister der NSDAP. Er unterstrich sein Anliegen, indem er seine nationalsozialistische Überzeugung hervorhob: "Natürlich leiste ich wie jeder wirkliche Nationalsozialist, meinen Dienst an Führer, Volk und Partei sowohl mit als auch ohne Parteibuch. Ich habe keinen Stellenehrgeiz (sonst wäre ich Konrad Henleins Abgeordneter im Prager Parlament geworden). Aber ich will nun endlich rechtens dahin eingegliedert sein, wohin ich gehöre. Ich bitte Sie daher, Herr Reichsschatzmeister, mein Anliegen prüfen und nunmehr beschleunigt erledigen zu lassen. Nach meiner Ueberzeugung müßte ich, gemäß der
in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei": "Altes Mitglied der Sudetendeutschen Partei" (BDC Parteiakte Cysarz, unterzeichnet 20.11.1940). 192 BDC Parteiakte Cysarz, Cysarz an Reichsschatzmeister der NSDAP, 9.6.1940. 193 SdA Nachlaß Cysarz, C17,4, Cysarz an seine Frau Virginia (vermutlich noch in Prag), 10.12.1938Λ. - Im selben Brief erwähnte Cysarz auch "Verfügungen", nach denen "man in die NSDAP nur übernommen [wird], wenn man der SdP bis zum 10.IV.1938 beigetreten ist.") - Vgl. auch den Brief an Virginia Cysarz vom 7.12.1938.
4.2. Herbert Cysarz
295
bisherigen Stellung und Leistung, einem Amtswalter der ehemaligen Sudetendeutschen Partei gleichgesetzt, nicht noch dem letzteingetretenen Auchmitglied nachgesetzt werden. Ich selbst aber will gar nichts als rasch und sogleich endgültig - ich darf Sie bitten, mir wenigstens dies zu gewährleisten - in die NSDAP übernommen werden." 194 Nicht unerwähnt ließ Cysarz auch seine Mitarbeit an der Festschrift zum 50. Geburtstag des Führers. 195 Die Münchner Ortsgruppe der NSDAP bestätigte die politische Zuverlässigkeit des Antragstellers. 196 Schließlich wurde Cysarz am 20.11.1941 rückwirkend zum 1. November 1938 in die Partei aufgenommen, was einem "persönlichen Wunsch des Gauleiters" Konrad Henlein entsprach. 197 Die entschiedenen Willenskundgebungen des Münchner Ordinarius, "endlich" Mitglied der NSDAP werden zu wollen, stehen in krassem Gegensatz zu Äußerungen nach seiner Dienstenthebung, in denen er sein politisches Engagement bagatellisierte. Demnach wurde er zum Parteieintritt fast überredet: "Als ich dann nach der Amtsübernahme in München Ende 1938 zum Eintritt in die NSDAP eingeladen wurde (u. a. durch den Ministerpräsidenten Siebert, gelegentlich des Antrittsbesuchs), machte ich diese Vorbehalte nachdrücklich geltend: ich sei zwar ein guter Deutscher, doch auch ein unparteiischer Forscher, desgleichen ein unverbrüchlicher Europäer und keineswegs Antisemit, sei von Prag her gewohnt einen Geistes- und Freiheits- und Rechtskampf zu führen. 'Um so besser!' hieß es da von allen Seiten, 'denn solche Männer brauchen wir für die nunmehr fällige Neuordnung'."198 Ähnlich hatte Cysarz bereits 1945 argumentiert. In einem Schreiben an das Kultusministerium erläuterte er separat in einer Beilage "Meine Beziehungen zur NSDAP". Darin leugnete er, jemals Nazi gewesen zu sein, bekannte sich allerdings dazu, moralisch mitverantwortlich zu sein: "Meine Partei-Beziehung muß und will ich trotzdem verantworten, ich trage mein Teil moralischer (nicht juristischer) Mitverantwortung auch für von mir nie geahnte, nie für möglich gehaltene Greuel." 199
194 Β DC Parteiakte Cysarz, Cysarz an Reichsschatzmeister der NSDAP, 9.6.1940. Cysarz verwendete einen Briefbogen des Seminars für Deutsche Philologie an der LMU. 195 Vgl. ebd.. - Vgl. auch weiter unten. 196 "Nationalsozialistische Gesinnung. Gibt bei jeder Sammlung gerne. Charakterlich und politisch einwandfrei." (BDC Parteiakte Cysarz, Ausführl. Gesamturteil der Ortsgruppe München, 29.11.1940) 197 Vgl. ebd., Mitgliedskarte Nr. 6 899 932. - Ebd., Brief des sudetendeutschen Gauschatzmeisters an den Reichsschatzmeister der NSDAP, 5.8.1941. 198 BayHStA MK 43502, Cysarz an KuMi, Rekt. u. Fak., 20.4.1946. 199 UAM E II N, Cysarz an KuMi, 3.9.1945, Beilage 2, S.2, 3.9.1945. 2
Bonk
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Dabei beschränkten sich Cysarz' Aktivitäten nicht nur auf die formelle Mitgliedschaft in der "Führer"-Partei. Von München aus unternahm er zahlreiche Vortragsreisen ins europäische Ausland und setzte auf "die außenpolitische Werbekraft unserer Wissenschaft": "Und diese Kraft, die in allem Ausland am offensten anerkannte, wird immer unentbehrlicher in unserem Kampf um die Neuordnung Europas. Die Stimmung der breiten ausländischen Oeffentlichkeit wird durch unsere kriegerischen Erfolge bestimmt. Vor allem müssen wir siegen. Indes die fortdauernde Führerschaft im nordischen Geistesleben, das in so individuelle Spitzen und Bewegpunkte zusammenläuft, werden wir immer nur durch erstrangige kulturelle Arbeit behaupten. Die müssen wir in schriftlichen und mündlichen Bekundungen, auch menschlichen Verkörperungen wieder und wieder zur Schau stellen und in stärkstmögliche Wirkung setzen."200 Für Bulgarien schlug er wenig später sogar vor, "zu einer kulturellen Generaloffensive zu rüsten." 2 0 1 Über seinem kulturpolitischen Engagement stand gewissermaßen das Motto: "mit allen Kräften der Weltgeltung der deutschen Wissenschaft dienen", wie er es für einen Kongreß in Lyon formuliert hatte. 202 Auch bei diversen Veranstaltungen unter der Ägide der NSDAP trat Herbert Cysarz als Redner auf. Über "Das Sudetendeutschtum in der Front Volksdeutscher Geistesgeschichte" sprach er bei der Schlußkundgebung der 10. Berliner Dichterwoche mit dem Thema "Sudetendeutsche Dichtung in der Zeit". Als Schirmherr dieser Feier vom 22. Oktober 1938 fungierte Reichsstatthalter Konrad Henlein. 203 Bei der "Sudetendeutschen Hölderlin-Feier", die von der NSDAP, der Kreisleitung Troppau und dem Reichspropagandaamt Sudetenland am 6. Juni 1943 veranstaltet wurde, war Cysarz ebenfalls mit einem Vortrag vertreten. Der Titel lautete diesmal: "Hölderlins Dreiklang: Dichtung, Religion, Philosophie." 204 Cysarz' kulturpolitische Aktivitäten stießen in Berlin auf positive Resonanz. 1940 beabsichtigte das Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung, ihn an das Japanisch-Deutsche Kulturinstitut in Tokio zu entsenden.205 Der Kandidat erklärte sich grundsätzlich dazu bereit und skizzierte
200
Ebd., Cysarz' Bericht über die Reise nach Dänemark und Schweden im Dez. 1940, 27.12.1940. 201 Ebd., Cysarz' Bericht über die Bulgarien-Reise, 8.2.1941. 202 Ebd., Cysarz an REM, 25.11.1938, Antrag auf Teilnahme am Dritten Internat. Kongreß der Literarhistorie (1939). 203 Vgl. SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3b, Programmheft. - Cysarz hielt den einzigen Vortrag bei dieser Veranstaltung. 204 ygj 3a, Programmheft. - Die Vortragsmanuskripte befinden sich nicht im Nachlaß. 205 Vgl. BayHStA MK 43502, REM an Rektorat, 5.7.1940.
4.2. Herbert Cysarz
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schematisch seine Vorstellungen über seine dortige Tätigkeit, die auf die politischen Ideale der NS-Zeit zugeschnitten waren: "Ich möchte den Japanern nicht nur die deutsche Schrifttums- und Volkstumsgeschichte der letzten Jahrhunderte und insonderheit Jahre vermitteln, sondern auch außer der einzubeziehenden politischen Geschichte (Deutschlands Kampf um und für seine Einheit) eine möglichst umfassende Kulturgeschichte darbieten, die neben der Philosophie die Sachwissenschaften und überhaupt eine geschichtlich gestaffelte Schau der deutschen Weltleistungen entrollt." 206 Gleichzeitig bat er um Aufschub der Reise, was er einige Monate später wiederholte. Den Reiseantritt erst zum 1. September 1941 begründete er neben wissenschaftlichen Motiven - er wollte sein Buch "Das Schöpferische" zuvor beenden - auch mit der aktuellen Kriegssituation: "Der ins Auge gefaßte Reiseantritt Anfang März beruhte, zumindest meinerseits, auf der Erwartung, daß uns der Spätherbst noch eine kriegerische Entscheidung bringe. Diese erwarten wir, erwarte ich jetzt mit verstärkter Zuversicht für das Jahr 1941. Ich wäre recht unglücklich, wenn ich, nachdem ich so viele Jahre zwangsweise außerhalb des Reiches gelebt habe, diesen entscheidensten Dingen aus ganz weiter Ferne zusehen müßte. (Vielleicht auch kann man mich währenddessen gerade für europäische Auslandsaufträge gebrauchen.) Meine Tätigkeit in Japan hingegen dünkt mich vorzüglich in jenen Monaten wichtig, die unserem Sieg über England folgen und die alle japanischen Schrifttums-, Bildungs- und Schulverhältnisse endgültig auf unsere alsdann errungene Weltmacht einstellen werden." 207 An diese demonstrative "Zuversicht" erinnerte sich Cysarz 1956 nicht mehr, als er behauptete, "ich habe beide Weltkriege ganz früh für hoffnungslos verloren angesehen".208 Im Mai beantragte er schließlich, die Japan-Reise bis nach Kriegsende zu verschieben, was er erneut mit der gegenwärtigen Lage sowie gesundheitlich begründete. 209 Die Fernost-Mission kam dann nicht mehr zustande. Den Reiseaufschub hatte der Ordinarius zuletzt auch mit seiner Unabkömmlichkeit von der Universität erklärt. Hier pflegte er in jedem Semester drei Veranstaltungen abzuhalten, d.h. zwei Vorlesungen und ein Seminar bzw. eine Seminarübung. Gelegentlich hingen beide eng zusammen, wenn Cysarz beispielsweise "Übungen" oder "Berichte zu den Vorlesungen" (III. Tr. 1940 und I. Tr. 1941) ankündigte. Manche Vorlesungen konzipierte er in zwei Tei-
206
Ebd., Cysarz an REM, 14.8.1940. Ebd., Cysarz an REM, 26.12.1940. 208 SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3a, Cysarz: Literaturwissenschaftliche Schriften (Selbstzeugnis von 1956), S.8. 209 Vgl. ebd., Cysarz an REM, 18.5.1941. 207
20'
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len in zwei aufeinanderfolgenden Semestern. 210 Thematisch ist jeweils eine Vorlesung der Literaturgeschichte zuzurechnen, wie Herbert Cysarz selber ausführte: "Zum Ersten stelle ich in je acht Halbjahren, in zwei- bis dreistündigen Lehrgängen, den wesentlichen und charakterlichen Zusammenhalt der neueren deutschen Schrifttums- und Dichtungsgeschichte dar, vom 14. und 15. Jahrhundert bis heute; immer bedacht auf die Zusammenwirkung des besonderlichsten Besonderen mit dem schicksalhaften Gesamtgang. Ich schließe hier alles an, was an neuerer Deutschkunde forthin forschungs-, Volkstums- und Unterrichts wichtig bleibt." 211 Charakteristisch für die Zeit verwendete auch Herbert Cysarz statt "Literatur" das deutsche Wort "Schrifttum". 212 Zusätzlich appellierte er an den Gemeinschaftssinn mit der Formulierung "Unser Schrifttum seit Hebbel" (SS 1944). Zur Abgrenzung des Stoffes wählte er neben den gängigen Epochenbezeichnungen zeitliche Grenzen oder Dichternamen. 213 Mit den Themen "Barock" und "Schiller" sind auch zwei seiner bevorzugten Arbeitsgebiete vertreten. 214 Die zweite Vorlesung griff jeweils über Cysarz' spezifischen Bereich der neueren deutschen Literaturgeschichte hinaus. Im weitesten Sinn des Worts lassen sie sich unter dem Begriff "Beiträge zur Geisteswissenschaft" subsumieren. Über Inhalt und Zielsetzung dieser Veranstaltungen äußerte sich Cysarz im Jahr 1939: "Zum Zweiten suche ich, in je einer bis zwei, zumeist je zwei Wochenstunden jene geisteswissenschaftlichen Grundfragen zu lösen, ohne deren Stellung und Verfolgung alles Stapeln geschichtlicher Sichten und Kenntnisse zu einem Kramladen der Bildung werden müßte. Es gilt noch immer, gilt vielleicht in letzter Stunde, die ungeheuren Reichtümer der Geschichtswissenschaft vor der Entwertung zu bewahren, der sie die Standpunktlosigkeit der nichts-als-geschichtlichen Forschung entgegengetrieben hat. Eine Standpunktschwäche, die - wo ihr nicht unsere völkische Zielsetzung und Maßstabsatzungen heilsam wehren - noch immer viele Historie, selbst viele Philosophie und Theorie zu entmannen droht." 215
210
Z.B. "Die deutsche Klassik I" (SS 1942) und "Das klassische Zeitalter II" (WS 1942/43). 211 BayHStA MK 43502, Cysarz an KuMi, 28.2.1939, S.2f. 212 Vgl. Erich Gierach (Kap. 4.1.). - Allg. zum Phänomen der Eindeutschung vgl. Polenz 1967. 213 Z.B. "Vom Barock zum Rokoko" (Tr. 1941), "Das deutsche Schrifttum seit 1830" (SS 1939, ähnlich auch WS 1943/44) oder "Von Klopstock zu Schiller" (1941/42). 214 Z.B. "Schiller-Forschungsfragen" (SS 1942) und "Vom Barock zum Rokoko" (Tr. 1941). - Vgl. weiter unten. 215 BayHStA MK 43502, Cysarz an KuMi, 28.2.1939, S.3.
4.2. Herbert Cysarz
299
Darunter fallen so abstrakte Ankündigungen wie "Geschichte und Unsterblichkeit" (SS 1939, selbständiger Schlußteil im WS 1939/40) oder "Der schöpferische Mensch" (Tr. 1941). Da der wissenschaftliche Nachlaß von Herbert Cysarz überhaupt keine Vorlesungsmanuskripte enthält, fehlt das wichtigste Material, um diese Titel mit einer konkreten Vorstellung zu füllen. 216 Auffallend sind allerdings Parallelen mit späteren Veröffentlichungen, was selbstverständlich unter Vorbehalt - bestimmte Rückschlüsse auf die Vorlesung zuläßt. 217 Gegen eine hundertprozentige Gleichsetzung spricht ein - durchaus programmatischer - Zeitungsartikel des Münchner Professors mit dem Titel "Die Vorlesung". Ihr Charakteristikum sah er nicht darin, fertige Manuskripte vorzulesen, sondern diverse Forschungsmeinungen mündlich vorzutragen, was so nicht exakt wiederholbar sei. Dabei zielte er auf eine gemeinschaftsstiftende Wirkung ab: "Der Vortragende hat weder nur seine eigenen Bücher zu verlesen (und anzuführen) noch bloß die eigenen Meinungen oder gar Formeln zu trichtern. Auch nicht maschinengeschriebene Abhandlungen zu Gehör zu bringen, die jeder zu Hause in gleicher Zeit ungestörter verarbeiten könnte. [...] die Vorlesung hingegen macht immer auch die Probe auf Gemeinschaft und Generation, auf ein glutflüssiges Hier und Jetzt. Eine echte Vorlesung ließe sich, wie sie gehalten wird, nie durch den Druck festnageln. Sie kann so wenig wiederholt werden wie ein gelingender Vormarsch in der kleinen und großen Geschichte."218 Als Idealfall stellte er sich "eine Begegnung" vor, "aus der auch der Lehrende lernt." Im militärischen Sprachgebrauch der Zeit sah er über die Fachgrenzen hinweg eine "Gesamtfront" entstehen. Auch wenn der Dozent Cysarz detaillierte Vorlagen offensichtlich nicht befürwortete, hielt er seine Vorlesungen nicht völlig aus dem Stegreif. Im Rückblick sagte er darüber: "In München hatte ich die germanistischen Kollegtexte zwar keineswegs fertig, doch als schlüssige Unterlagen verfügbar zur Hand."219
216
vgl. die Nachlaßbeschreibung weiter oben. - In seiner "Autobiographie" hatte Cysarz angekündigt, daß nach seinem Tod alle unvollendeten, d.h. nicht druckfertigen Manuskripte verbrannt werden sollen: "Dazu werden auch weit über tausend Blätter Vorlesungsentwürfe gehören." (Cysarz 1976, S.64) 217 Z.B. "Das Schöpferische" von 1943. - Vgl. weiter unten. 218 SdA Nachlaß Cysarz, C17, lb, aus: Die Bewegung, 18.3.1941. - Tippfehler stillschweigend korrigiert. - Vgl. auch Cysarz 1976, S.l68. 219 SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3at Cysarz: Theoretische Schriften (Selbstzeugnis von 1956), S.9.
300
4. Germanistik im Dritten Reich
Wohl als Ergebnis dieser Vorbereitung nannte Anton Willimek jede Vorlesung des Ordinarius "ein durchkomponiertes Kunstwerk". 220 Mit seinen Vorlesungen stieß Herbert Cysarz wie bereits zuvor in Prag auf breite Resonanz: "Der Zustrom in- und ausländischer Zuhörer läßt nicht nach; mein Hauptlehrgang wird von noch immer weit über 300, die Seminarübung von über 150 Studierenden besucht (vor den Ostern zählte die germanistische Fachschaft an die 450 Mitglieder)." 221 Nach seiner eigenen Aussage und der seines Schülers Rudolf Jahn las er "als einziger Dozent während des Kriegs" im Auditorium Maximum. 2 2 2 Das große Echo entstand wohl auch dadurch, weil Cysarz jeweils eine Vorlesung "für Hörer aller Fakultäten" konzipierte. 223 Bei den spezifisch germanistischen Veranstaltungen machten sich außeruniversitäre Einflüsse bereits 1938 bemerkbar. Hauptziel der Studierenden war, anstelle von tieferem Eindringen in die Forschung, gründliche Schulung, vermutlich um die Universität so schnell wie möglich verlassen zu können: "In München traf ich schon 1938 Ausnahme-Verhältnisse an. Das forscherliche Interesse der überanstrengten Studierenden beschränkte sich auf Vereinzelte, allerdings nicht ganz Wenige, darunter vorerst fast zur Hälfte Ausländer. Seit Kriegsbeginn vollends überwog mehr und mehr der schulende Unterricht. Ich baute meine literarhistorischen Kollegs möglichst bündig und anschaulich aus, ohne auf Erläuterung der Forschungslagen und Forschungsweisen, auf Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Literatur und Umgrenzung der sich inskünftige stellenden Untersuchungsaufgaben zu verzichten." 224 Im Vergleich dazu schien der Seminarbetrieb weniger beeinträchtigt zu sein. Hier stand wissenschaftliches Arbeiten weiter im Zentrum:
220 willimek 1975, S.293. - Für Sebastian Meissl war Cysarz ein "eminenter Kathederrhetor", ohne daß er Zeugen für diese Behauptung aufführt (Meissl 1989, S.144). 221 BayHStA MK 43502, Cysarz an REM, 18.5.1941. - Nach einem Artikel im "Präger Tagblatt" vom 31.5.1931 hatte Cysarz im WS 1930/31 400 ordentliche Hörer, "davon über 200 ständige Seminarteilnehmer" (SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3a). 222 SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3a, Cysarz: Literaturwissenschaftliche Schriften (Selbstzeugnis von 1956), S.7. - Vgl. auch Jahn 1957, S.18. 223 Vgl. VV I. Tr. 1940. - SS 1945. 224 SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3a, Cysarz: Literaturwissenschaftliche Schriften (Selbstzeugnis von 1956), S.7.
4.2. Herbert Cysarz
301
"Die Seminarübungen galten nach wie vor der Interpretation, der historischen, hermeneutischen und editorischen Methodik, der Einleitung entsprechend begabter Einzelner zu ihnen liegenden und praktisch durchführbaren Aufgaben." 225 Konkret sichtbar wurde dieses Anliegen in den Dissertationen, die unter seiner Anleitung entstanden. Insgesamt betreute Cysarz in seinen Münchner Jahren 14 Doktorarbeiten. 226 Ein ähnlicher Rückgang wurde auch in der Altgermanistik beobachtet und mit der restriktiven Hochschulpolitik des Dritten Reichs sowie den unmittelbaren Folgen des Kriegsausbruchs erklärt. 227 Lag die durchschnittliche Anzahl der Promotionen pro Jahr bei zwei, erreichte sie 1945 mit sechs einen Höhepunkt. 228 Dabei lebte Cysarz seit Juli 1944 im niederösterreichischen Mönichkirchen, nachdem seine Münchner Wohnung ausgebombt worden war. 229 Trotz seiner Beurlaubung betreute er seine Doktoranden weiter. Bei der Themenstellung bildeten spezifische Gattungsfragen eher eine Ausnahme. 230 In der Regel stand ein einziger Dichter im Mittelpunkt. Dabei wurde entweder sein Gesamtwerk, ein Einzelwerk oder ein durch die gemeinsame Gattung bestimmter Ausschnitt untersucht. 231 Eine ausgesprochene Affi-
225
Ebd. - Vgl. auch Cysarz 1976, S.56. - Vgl. auch folgende Briefpassage: "Hinzu kommt, als dritter Hauptteil meines Wirkens, die Gemeinschaft des Seminars: die Fühlung mit dem Unterricht, desgleichen mit der Schrifttumspflege außerhalb der Schule, die Förderung wissenschaftlicher Untersuchungen und Unternehmungen usw. - alles erfüllt von dem Streben, die Schrifttumskunde zu einem Volkstums- und schaffensverbundenen Urberuf auszugestalten, einem Geistesgeschichte machenden Urberuf, hingegen jederlei altjüngerfliehern Kustoden- oder Prokuristentum zu entreißen. Ich sehe immer mehr junge Kameraden, und es sind immer die Besten darunter, die aus letztem Erkenntnis- und ursprünglichstem, wagemutigstem Zukunftswillen in die Wissenschaft vom deutschen Schrifttum eintreten." (BayHStA MK 43502, Cysarz an KuMi, 28.2.1939, S.5f.) 226 Ygj ^ab. 2. _ Mit Prag kann diese Zahl nicht mithalten, denn dort sollen allein im Jahr 1931 "40 Dissertationen in Arbeit" gewesen sein (SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3a, Artikel "Neuer Geist im germanistischen Seminar" im "Präger Tagblatt" vom 31.5.1931). 227 Vgl. Kap. 4.1. 228 Vgl. Tab. 1. 229 Vgl. BayHStA MK 43502, Cysarz an KuMi, 16.10.1944. 230 Vgl. nur Würtz, Katharina, Das Problem des deutschen Gesellschaftsromans im 19. Jahrhundert - von Goethes 'Wilhelm Meister' bis 1914, Diss. Masch. 1945. 231 Z.B. Knauer, Irmgard, Frauenzeichnung und Frauenpsychologie bei Franz Grillparzer, Diss. Masch. 1947. - Z.B. Fleischmann, Emma, Über den Stil von Nietzsches "Zarathustra", mit besonderer Berücksichtigung der Färb- und Tonsymbolik, Diss. Masch. 1944. - Z.B. Paranipe, Raghunath, Die historischen Dramen Gerhart Hauptmanns, Diss. Masch. 1942.
302
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nität zu den vom Dritten Reich hochgejubelten Autoren wie Hanns Johst oder Erwin Guido Kolbenheyer läßt sich nicht feststellen. Markanter ist dagegen der persönliche Einfluß des Ordinarius bei Themen, die sein eigenes Interesse für Geschichte widerspiegeln. 232 Methodisch zeigt z.B. die Arbeit von Eugen Thurnher deutlich zeitbedingte Einflüsse, indem seine "literarhistorische Arbeit die rein ästhetischen Gesetze und Wertmaßstäbe sprengt und sich eine volkheitliche Schau der Dichtungen zum Ziele setzt." 233 Die deutsch-völkische Bindung beschränkt sich nicht nur auf die Oberfläche, sondern gibt die Leitlinie für die gesamte Sicht des Dichters Josef Wichner und seiner Werke vor: "Die rassischen Grundzüge seines Werks sind fraglos vorwiegend nordisch. Wichner ist eine echt nordische Natur: nie sieht er die Welt und das Leben so wie es eben ist; immer sieht er es aus der Tiefe seines Seelentums heraus gestaltungsbedürftig." 234 Worauf Cysarz als Gutachter bei den Promotionsarbeiten Wert legte, muß offen bleiben. 235 Auf der Seite der Doktoranden zeigte man sich mit der Betreuung (erwartungsgemäß) sehr zufrieden. 236 Aus diesem Doktorandenkreis schlug Eugen Thurnher in München die wissenschaftliche Laufbahn ein. Im Dezember 1940 trat er die Assistentenstelle am Institut an, die er etwa zwei Jahre innehatte. 237 Zu dem späteren Ordinarius an der Universität Innsbruck hielt Cysarz noch brieflichen Kontakt. 238 Thurnher seinerseits besprach das Buch "Das Unsterbliche" seines ehemaligen Lehrers und lieferte einen Beitrag zur Festschrift von 1957. 239 Den Grad eines Dr. phil. habil. erwarb unter Herbert Cysarz nur Edgar Hederer. 240 Hier führte der Ordinarius ein Habilitationsverfahren weiter, das un-
232
Z.B. Kiroff, Georg, Grillparzer und die Geschichte, Diss. Masch. 1943. - Bus (geb. Meyer-Senninger), Lotte, Die Geschichte im Erzählwerk Joseph Viktor von Scheffels, Diss. Masch. 1945. 233 Thurnher 1941, S.8. 234 Ebd., S.23. 235 Die Promotionsakten im UA München waren mir nur bis 1933 zugänglich. 236 "Ich möchte hiermit noch meinen besonderen Dank für die wertvollen Anweilungen [sie!] und Anregungen Herrn Professor Cysarz zum Ausdruck bringen." (Paranipe, Raghunath, Die historischen Dramen Gehart Hauptmanns, Diss. Masch 1942, Lebenslauf [o.S.].) 237 Vgl. Kap. 2.5. 238 Vgl. SdA, Nachlaß Cysarz, C17, 6, Cysarz an Thurnher, 11.11.1945 (Kopie). 239 Vgl. Thurnher 1942 und Thurnher 1957. 240 Vgl. Kap. 2.6.2.2.
4.2. Herbert Cysarz
303
ter seinem Vorgänger begonnen hatte. Hederer hatte zum Schülerkreis von Walther Brecht gehört. 241 Obwohl Herbert Cysarz damit in München keine schulenbildende Wirkung zugesprochen werden kann, sammelte er viele Anhänger um sich. 242 Sie hielten ihm bis weit über die Dienstenthebung hinaus die Treue. 243 Als "der treueste der treuen Prager Schüler" gilt Rudolf Jahn, Herausgeber der Cysarz-Festschrift von 1957 und Betreuer der Werk Verzeichnisse. 244 An der Universität Wien zählte auch Otto Höfler zu seinen Hörern. 245 Den nur fünf Jahre Älteren nannte Höfler trotzdem "Verehrter Lehrer" und bezeichnete sich selbst als "Ihr dankbar lernender Schüler". 246 Zwischen 1938 und 1947 lehrten sie gemeinsam am Institut für Deutsche Philologie in München. 2 4 7 In dieser Zeit gehörte auch die spätere Studienassessorin Gabriele Muncker zu Cysarz' Hörern, die ihm 1946 eine antinationalsozialistische Haltung bescheinigte: "Seit 1940 besuchte ich als Studentin jede Vorlesung die Professor Cysarz an der Münchner Universität hielt. Diese zeichneten sich aus durch absolute unpolitische Wissenschaftlichkeit und Sachlichkeit. In vielen Diskussionen, öffentlichen und privaten fiel mir Professor Cysarz's bewußtes Eintreten für den deutschen Geist und das deutsche Volk, nicht aber für den Nationalsozialismus auf. Im Gegenteil, in vielen Besprechungen mit ihm wurde mir immer klarer, dass Professor Cysarz ein Gegner des Nationalsozialismus war. Professor Cysarz hatte an der Universität München manche Opponenten, auch unter der Studentenschaft, und alle Angriffe auf ihn wurden wegen seines Internationalismus, Liberalismus und seiner rein sachlichen Stellung jüdischer Literatur gegenüber geführt. Wie ich hörte, stand er auch seit 1941 unter Prozess beim Obersten Parteigericht mit den eben genannten Anschuldigungen."248
241
Vgl. Kap. 2.4.1.4. Schulenbildend im Sinne der Definition in Kap.3.1. 243 Vgl. die Korrespondenzen von bzw. an Helmut Dameran, Guy Atkins u.v.a. im Nachlaß (SdA). 244 SdA Nachlaß Cysarz, C17, Virginia Cysarz an SdA, 22.6.1987. - Vgl. Jahn 1957, Jahn 1966 und Jahn 1976. - Vgl. auch das Interview Jahn-Cysarz in der "Sudetendeutschen Zeitung" vom 29.1.1971 (SdA, C17, 2b). 245 Vgl. SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3c, Appell der Wiener Hörerschaft an die Philosophische Fakultät, den Weggang von Cysarz zu verhindern, 28.6.1927 (Mitunterzeichner: Otto Höfler). 246 Ebd., Höfler an Cysarz, 27.1.1976. 247 Vgl. Kap. 2.6.2.3. und 4.3. 248 BayHStA MK 43502, Gabriele Muncker an KuMi, 17.8.1946. 242
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In diesem Sinn argumentierte später stets auch Herbert Cysarz selbst. 249 Ob diese Schilderung den Tatsachen entspricht, kann nicht geklärt werden. Kritisch anzumerken bleibt die - realiter wohl kaum durchführbare - Trennung zwischen "deutschem Geist und deutschem Volk" auf der einen und dem Nationalsozialismus auf der anderen Seite. Der unbedingte Glaube an das eine stellt bereits den ersten Schritt in Richtung auf die nationalsozialistische Ideologie dar. Das Bild des Dozenten Herbert Cysarz muß noch um das des Institutsvorstands und Lehrstuhlinhabers ergänzt werden. Wie seine Kollegen Gierach und Höfler erreichte er laufend außerordentliche Zuwendungen zur Ergänzung der Bücherei. 250 Über ihre Zusammenarbeit am Deutschen Seminar liegen keine Informationen vor. Ausführlich belegt sind dagegen Cysarz' Versuche, eine Umbenennung seines Lehrstuhls durchzusetzen. 251 Seit seinem Vorgänger Brecht lautete das neugermanistische Ordinariat auf "neuere deutsche Literaturgeschichte". 252 Im Februar 1939 beantragte der Ordinarius die neue Formulierung "fuer neuere deutsche Schrifttumsgeschichte und die zugehörige Lebens- und Grundforschung". 253 Ins Zentrum seiner sechsseitigen Begründung stellte er den Gedanken, daß die alte Fassung "nicht mehr auch nur das Kerngebiet meines Lehrens und Forschens" decke: "Das geht und ging von Anbeginn auf das umfassendste deutsche Werden zum deutschen Wesen, auf eine Schrifttums- als Volks- und Gesamtgeschichte, eine Geistes- und Seelengeschichte als Kampf um die deutsche Bestimmung und Selbstverwirklichung unseres Volkscharakters. Auf die Gegenwart und Zukunft gerichtet, stellt es jede Zeit, jede Erscheinung vor das ausgreifendste volkliche Gesamtschicksal. Es treibt jene umfassende Kulturkunde - je nach der geschichtlichen Sachlage auch religiöse, regionale, anthropologische, politische Kulturkunde - die als Forderung über
249
Vgl. z.B. BayHStA MK 43502, Cysarz an KuMi, Rekt. u. Fak., 20.4.1946; Cysarz über Fak. an KuMi, 9.4.1950. 250 Vgl. BayHStA MK 407/3186, KuMi an Rektorat, 26.1.1939, 20.6.1939, 21.12.1939, 21.2.1940, 25.1.1941 usw. - Vgl. auch Kap. 2.5., 4.1. und 4.3. 251 Vgl. Kap. 2.6.2.2. - Diesen Wunsch hatte er bereits bei den Berufungsverhandlungen geäußert, das Ministerium hatte ihn aber auf den Dienstweg verwiesen (vgl. BayHStA MK 403/3153, KuMi an Rektorat, 18.1.1939). 252 Vgl. Kap. 2.4.1.2. 253 BayHStA MK 43502, Cysarz an KuMi, 28.2.1939 (im Original alles in Versalien). - Seine Alternative "für neuere deutsche Schrifttums- und Volkstumsgeschichte und die zugehörige Grundforschung" ließ er nach Absprache mit Dekan Wüst fallen, da "diese letzte Fassung in andere Lehraufträge und Professorbenennungen eingreifen würde." (ebd., Dekan Wüst an Rektorat, 27.3.1939)
4.2. Herbert Cysarz
305
allen Geisteswissenschaften hängt, doch je und je nur von der eindringendsten Einzelforschung betrieben werden kann. Es dünkt mich nun rechts und not, daß solche Schrifttums- und Lebenskunde beim wahren Namen genannt werde." 254 Im folgenden argumentierte er damit, die Erkenntnisse "an neuerer Deutschkunde" stets miteinzubeziehen, er geißelte als "Standpunktschwäche" der geschichtlichen Forschung die mangelnde "völkische Zielsetzung und Maßstabsatzungen" und rühmte "die Gemeinschaft des Seminars". Insgesamt ordnen sich die Ausführungen in seinen "weit ausgreifenden Plan eines deutschkundlichen Instituts in der Hauptstadt der Bewegung" ein. 2 5 5 Das Bayerische Kultusministerium lehnte den Antrag jedoch ab, da die Bezeichnung eines Lehrstuhls "nur aus wenigen Worten" bestehen sollte. Seinerseits befürwortete es die Formulierung "für deutsche Schrifttumsforschung". 256 Aus Berlin kam dennoch ein Nein, "da die Umbenennung in dieser Form jedem Hochschulbrauch widerspricht." 2 5 7 Dieses Gesuch von Cysarz legt anschaulich die Parallelität seines Denkens mit der nationalsozialistischen Ideologie offen, denn die Anregung zu dieser Umbenennung war ausschließlich von ihm ausgegangen. Cysarz' zweiter Vorstoß noch im selben Jahr wurde erneut negativ beschieden. Jetzt hatte er dafür plädiert, seine Professur "für neure deutsche Sprache und Literatur, samt den zugehörigen Grund- und Hilfswissenschaften zu bezeichnen." 258 Die Absage des Reichsministeriums in Berlin klingt m.E. ziemlich gereizt: "Ich bemerke, daß Professor Cysarz über das genannte Fachgebiet hinaus lehren kann, was er für recht hält und vertreten kann." 259 Diese letzte Bemerkung entsprach dem - heute noch gültigen - Grundsatz, daß jeder Hochschullehrer zwar verpflichtet ist, sein Fach zu vertreten, wie es im Lehrauftrag formuliert ist. Darüber hinaus kann er aber jederzeit Vorlesungen aus "fremden" Gebieten anbieten. 254
Ebd., Cysarz an KuMi, 28.2.1939. 255 AAVCR DA Prag, Akte Cysarz, Cysarz an Otto Großer (Vors. der DA Prag), 18.12.1938. 256 Ebd., KuMi an Rektorat, 13.4.1939. - Vgl. auch KuMi an REM, 16.3.1939. 257 Ebd., REM an KuMi, 3.7.1939. 258 Ebd., KuMi an REM, 7.12.1939. - Cysarz' Antrag nicht bei den Akten. 259 Zit. in: ebd., KuMi an Rektorat, 12.3.1940; Bescheid des REM in BayHStA MK 403/3153. - Der dritte Umbenennungsversuch fiel in das Jahr 1945. Als Cysarz nach seiner Dienstenthebung wieder seine "Bereitschaft zum Dienstantritt in Bayern" meldete, schlug er folgende Formulierung vor: "Lehrstuhl für Philosophie und allgemeine - bzw. internationale Literaturwissenschaft' (notfalls schlechtweg 'für allgemeine Literaturwissenschaft'V'.(UAM E II N, Cysarz an KuMi, 3.9.1945)
306
4. Germanistik im Dritten Reich
Statt einer Umbenennung strebte Cysarz jetzt einen neuen Lehrstuhl in München an. 1941 plante das Berliner Ministerium eine Professur für mittelalterliche Geschichte auf die Philosophie zu übertragen. 260 Indirekt machte dabei wieder Konrad Henlein seinen Einfluß geltend, wenn er an Cysarz schrieb: "Wie ich hörte, besteht seitens der massgeblichen Stellen der Universität München die Absicht, Ihnen einen Lehrstuhl für Philosophie zu übertragen. Ich freue mich über diese Möglichkeit einer Erweiterung Ihres Arbeitsfeldes herzlich und bitte Sie, Herrn Professor Dr. Dirlmeier meinen Gruss zu bestellen und ihn zu bitten, mich von seinen Bemühungen um Ihre Person zu unterrichten." 261 Im Gespräch mit Dekan Dirlmeier gab Cysarz seine Kandidatur zu erkennen, die in der Ausschußsitzung vom 10. Juli 1941 diskutiert wurde. Strikt dagegen sprach sich der Ordinarius für Philosophie, Hans A. Grunsky, aus. Er begründete es in einem informativen Gutachten, das in der Fakultätssitzung vom 15. Juli verlesen wurde. Darin erhob Grunsky den Vorwurf gegen Cysarz, er sei "jüdisch infiziert": "Ein Fall stärkerer Verjudung eines arischen Menschen, als sie bei Herbert Cysarz vorliegt, ist weder bekannt, noch überhaupt denkbar." 262 Sehr positiv fiel dagegen das Gutachten von Otto Höfler aus, das der Dekan einbehielt. Daraufhin übersandte Grunsky an Winifried Wagner, die Schwiegertochter von Richard Wagner und die Leiterin der Bayreuther Festspiele, einen Brief, in dem er sie über die schweren Angriffe unterrichtete, die Cysarz in seinen Büchern gegen Wagner und sein Werk erhob. Seinem Schreiben hatte er außerdem ein Protokoll der Fakultätssitzung in München beigelegt. Diese Unterlagen schickte Winifried Wagner dem Gauleiter Adolf Wagner und überließ es ihm, weitere Schritte einzuleiten "oder aber Alles auf sich beruhen zu lassen." 263 Den Gauleiter hatte Grunsky zwar ebenfalls informiert, aber erst zehn Tage nach seinem Brief an Frau Wagner.
260
Vgl. für das Folgende BayHStA MK 43502 und MK 43678 (v.a. Vormerkung, 9.12.1941); für die Vorgänge aus der Sicht von Cysarz vgl. SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3a, Cysarz: Literaturwissenschaftliche Schriften (Selbstzeugnis von 1956), S.7, sowie Cysarz 1976, S.179ff. Die Darstellung von Walter Heiber von 1966 ist nicht ganz korrekt (vgl. Heiber 1966, S.490f.; vgl. auch Heiber 1991-1992, Bd.l, 1991, S.403). 1938 hatte die Philosophie einen Lehrstuhl an die Deutsche Philologie verloren (vgl. Kap. 2.6.2.3.). 261 UAM E II N, Henlein an Cysarz, 7.11.1941 (Ab.). - Die Abschrift des HenleinBriefs übersandte Dekan Dirlmeier am 11.11.1941 über das Rektorat dem KuMi. 262 Zit. nach: BayHStA MK 43678, Dekan Dirlmeier an Rektorat, 12.12.1941. Gutachten nicht bei den Akten. 263 Ebd., Winifried Wagner an Gauleiter Wagner, 29.11.1941.
4.2. Herbert Cysarz
307
Diese Affäre zog Konsequenzen für beide Kontrahenten nach sich. Hans A. Grunsky wurde zwangsbeurlaubt, und das bayerische Kultusministerium ermittelte gegen ihn wegen "Verletzung der Pflicht zur Amtsverschwiegenheit". 2 6 4 Schließlich erhielt er einen Verweis, konnte aber seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen. 265 Obwohl das Münchner Ministerium sich auch für die Zwangsbeurlaubung von Cysarz aussprach, konnte er im Amt bleiben. 266 Die Vorermittlungen gegen ihn ergaben, daß für die Prüfung der "politischen und weltanschaulichen Vorwürfe" die Parteiinstanzen zuständig seien. 267 Um dieses Verfahren nachzuvollziehen, fehlt das Material. 268 In der späteren Darstellung des Betroffenen selbst liest es sich so: "Der besagte Antrag der Universität wurde zurückgezogen, ich selbst geriet unter Prozeß; meine Amtsenthebung lag bereits unterschrieben im Schreibtisch des Staatsministers und Gauleiters, dessen plötzlicher Tod brachte dann den Prozeß auf ein totes Gleis." 269 In seiner "Autobiographie" von 1976 berichtete Cysarz außerdem von einem persönlichen Treffen mit dem Reichserziehungsminister Bernhard Rust, der versprach: "Wir tun Ihnen auch nichts." Schließlich wurde ihm jedoch empfohlen, einen Ruf nach Königsberg anzunehmen, was Cysarz ablehnte. 270 Diese (quellenmäßig nicht vollständig belegbare) Maßregelung durch die NSDAP bot Herbert Cysarz nach 1945 den Anlaß, sich als Opfer des Nationalsozialismus zu präsentieren. Tatsache ist, daß er seit dieser Auseinandersetzung mit einem "nationalsozialistischen Interessenten" in Hochschulkreisen 264
Ebd., Vorermittlung gegen Professor Grunsky, o.D. Vgl. ebd., Dienststrafbescheid, 22.4.1943 (Ab.). - Im Münchner und Berliner Ministerium war man sich dabei "einig, daß Grunsky als Hochschullehrer nicht tragbar ist. Prestigegründe veranlassen jedoch die Partei, Grunsky, der unter Druck der Partei den Lehrstuhl erhalten hat, weiter im Amte zu belassen." Für die Zeit nach dem Krieg plante man, ihn "mit einem Forschungsauftrag zu befriedigen." (ebd., AktenNotiz, Stabsleiter Emil Klein, 5.2.1943) 1945 wurde Grunsky vom Dienst enthoben, und die Spruchkammer München stufte ihn in die Gruppe der "Belasteten" ein. Nach drei Berufungsverfahren wurde er schließlich in die Gruppe IV ("Mitläufer") eingereiht (vgl. ebd.). 266 Vgl. ebd., KuMi an REM, 15.12.1941. 267 Ebd., Vorermittlungen gegen Cysarz, o.D. 268 Weder Cysarz' Personalakte im BayHStA (MK 43502) und im UAM noch seine Parteiakte im BDC enthalten Hinweise. Hier enden die Dokumente mit dem Datum vom 24.11.1941 (vgl. Mitgliedskarte). 269 SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3a, Cysarz: Literaturwissenschaftliche Schriften (Selbstzeugnis von 1956), S.7. 270 Vgl. Cysarz 1976, S.181. 265
308
4. Germanistik im Dritten Reich
als "eine umstrittene Persönlichkeit" galt. 271 Als Cysarz eine Vortragsreise in die Schweiz beantragte, erhob die Dozentenschaft "entschieden Einspruch gegen die Auslandsreise- und Vortragstätigkeit eines Herrn, der, wie Prof. Cysarz, in politischer Beziehung so erhebliche Angriffsflächen bietet." Cysarz sei nicht in der Lage gewesen, "die schweren Angriffe zu entkräften", so daß gerade "ein so heikles Gebiet wie die Schweiz" nicht in Frage käme. 272 Auch diese Äußerung nahm Cysarz später als Beweis für seine oppositionelle Haltung im Dritten Reich. 273 Dabei hatte er seinerzeit zahlreiche Versuche unternommen, sich als gesinnungstreu zu rehabilitieren. Die Werkzitate, die Grunsky in seinem Gutachten zusammengestellt hatte, wies er als "Photomontagen" zurück. 274 Die Bibliographie von Herbert Cysarz umfaßt über 50 selbständige Bücher und etwa 400 kürzere Veröffentlichungen. 275 Dieses umfangreiche Gesamtwerk kann im Rahmen dieser Arbeit auch nicht annähernd angesprochen, geschweige denn im Detail analysiert werden. Die Erörterung beschränkt sich auf seine größeren Publikationen vor und während der Münchner Dozentenjahre. Zum einen gibt die Gesamtanlage der Arbeit die zeitliche Grenze 1945 vor, zum andern wird nur so die Frage nach einem Moment der Entwicklung in der Laufbahn des Wissenschaftlers Cysarz sinnvoll. Am Anfang steht das Buch "Erfahrung und Idee. Probleme und Lebensformen in der deutschen Literatur von Hamann bis Hegel", das aus der Dissertation von 1919 hervorging. 276 Die Namen Hamann und Hegel stehen bereits für die Spannweite von Cysarz' forscherlichen Interessen zwischen Literaturgeschichte und Philosophie. Indem er "die ganze Epoche von Hamann bis Hegel" als "einen fortschreitenden Versuch zur Ineinsbildung des pluralistischen, steigenden, und des vergeistigenden, artikulierenden Erlebens" (S.VII) versteht, bilden Erfahrung und Idee keinen unüberwindbaren Gegensatz:
271
So umschrieb Cysarz Grunsky im Jahr 1956 (SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3a, Cysarz: Literaturwissenschaftliche Schriften [Selbstzeugnis von 1956], S.7), während er ihn zwei Jahrzehnte später beim vollen Namen nannte (Cysarz 1976, S.179). BayHStA MK 43502, KuMi an REM, 23.2.1943. 272 Ebd., Leiter der Dozentenschaft an Rektorat, 19.1.1943. 273 Vgl. Cysarz 1976, S.180. 274 BayHStA MK 43502, Cysarz an Rekt., 14.2.1943. - Darin erwähnt Cysarz auch zwei Denkschriften und ein Schreiben an den Reichsminister, in denen er "diese Anwürfe [...] Punkt für Punkt zurückgewiesen" habe. Die Schriften befinden sich nicht bei den Akten. 275 Vgl. Jahn 1976 und Sciba 1981. 276 Vgl. Cysarz 1921. - Seitenangaben ab sofort im Text.
4.2. Herbert Cysarz
309
"Erfahrung und Idee bezeichnen nicht nur die geschichtlichen Komplexe, sondern auch zwei in Wechselwirkung stehende Funktionen des ästhetischen Bewußtseins überhaupt." (S.VIII) Cysarz' geistesgeschichtliche Methode ist nach außen bereits erkennbar an bibliographischen Angaben wie z.B. Rudolf Ungers zweibändiger Monographie "Hamann und die Aufklärung" von 1911 (vgl. S.29) oder seinem Verweis auf "Professor Walther Brechts hilfreiche Ratschläge" (S.V). 277 In der folgenden Veröffentlichung betonte der Verfasser erneut den Anteil seines ehemaligen Lehrers: "Auch dieses Buch hat Walter Brecht bei manchem Schritt und Sprung beraten: Er hat mich manchem Zwist von Idee und Erfahrung entrissen und Wirkliches mir freund gemacht, das mich zum Trotz oder zur Flucht betören wollte." 278 Seine "Deutsche Barockdichtung" markierte eine weitere Station in seiner wissenschaftlichen Laufbahn, sie bildete die Grundlage für seine Habilitation in Wien. 2 7 9 Cysarz plante "die erste umfassende Darstellung unseres literarischen Barock". Das machte einen Blick "in die Vor- und Folgezeit" (Vorwort) notwendig, wie ihn der Untertitel "Renaissance, Barock, Rokoko" programmatisch beinhaltet. In der Durchführung ist die Grenze sogar noch weiter nach vorn verschoben: Der letzte Abschnitt behandelt "Barock und Klassik" (vgl. S.291-299). Dieser Ausblick erklärt sich aus Cysarz' Verständnis des Barock als Durchgangsstadium auf dem Weg zur Klassik. 280 Neben epochale Gesichtspunkte treten geographische und personale Aspekte, so daß sein Schüler Eugen Thurnher später urteilte: "Cysarz begreift als erster das ganze Jahrhundert als einen geschlossenen Organismus, den er zur Gestalt beseelt und als Individualität erschließt." 281 Unter den Zeitgenossen regten sich aber auch kritische Stimmen, weil er das Barock nur aus der klassizistischen Perspektive und deshalb negativ gewertet habe. Kritisiert wurde überdies der ornamentale Stil der Darstellung, der mehr verschleiere als aufhelle. 282
277 Zu Brechts Methodik vgl. Kap. 3.4.3. - Zu Unger vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 278 Cysarz 1923, Vorwort (O.S.). - Seitenangaben ab sofort im Text. 279 Vgl. weiter oben. 28« vgl. Müller 1973, S.152. 281 Thurnher 1957, S.29. - Diese Aussage kehrt fast wörtlich in späteren Würdigungen Cysarz' wieder (vgl. Lassmann, Herbert Cysarz, 1962, S.l27; Lassmann, Kulturpreisträger, 1962, S.66). 282 Zum Echo von Josef Körner, Walter Benjamin und Friedrich Neumann vgl. ausführlich Müller 1973, S.155ff.
310
4. Germanistik im Dritten Reich
Dennoch begründete dieses Buch Cysarz' Ruf als Barock-Forscher, der als Angehöriger der geistesgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft mit zur "Neubewertung der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts" beigetragen habe. 283 Gefestigt hat er dieses Ansehen gut ein Jahrzehnt später mit "Deutsches Barock in der Lyrik". 2 8 4 Gleichzeitig trat jetzt ein Element in den Vordergrund, das im Ansatz auch schon 1924 vorhanden war: das Barock als "deutsches Schicksal" (ebd.) gesehen.285 Cysarz versäumt zwar nicht, auf den Zusammenhang mit der europäischen Renaissance hinzuweisen (S.l 1). Er deutet sie allerdings nicht als Vorbild, sondern in ihrer Gegensätzlichkeit zum deutschen Wesen als fördernd für dessen Selbstfindungsprozeß: "Von barer Renaissance darf dennoch keine Rede sein. Renaissance ist die ungebrochene Anverwandlung antiker Güter, sei es daß diese Aneignung einer natürlichen und empfundenen Wesensverwandtschaft entspringt wie in Italien, in der Romania, sei es daß Gegensätze der Haltung, der Art nicht beachtet oder betont werden wie in den deutschen Anläufen des 15. und 16. Jahrhunderts. Im barocken Bezirk hingegen werden die Wesensunterschiede erlebt und erlitten, wird eine zuinnerst formfremde Art nicht geraden Wegs zu erfüllen, sondern auszugleichen und überauszugleichen versucht durch antikische Formung, durch die Steigerung, Häufung und Selbstübergreifung antikischer Formen. Und das ist kein nachträglicher Versuch, aus einer erkannten Not eine Tugend zu machen. Von vornherein wird die Form aus ihrem Gegensatz umworben, aus einer formfeindlich-spröden und formlos-geistigen Haltung." (S.l2) Zur Verherrlichung des deutschen Wesens paßt es, wenn der Verfasser den Dreißigjährigen Krieg als Ereignis sieht, das "allerdings nicht nur die Lebensumstände, sondern auch die rassischen Stoffe des deutschen Volks beträchtlich verändert hat" (S.l 1). Damit taucht in Cysarz' Text nationalsozialistisches Gedankengut auf, noch bevor das aggressive Expansionsstreben des Dritten Reichs die Tschechoslowakei überrollt hatte. Wenn der Prager Ordinarius sie aufnahm, gehorchte er offensichtlich keinem Druck von außen, sondern folgte wohl eher einer inneren Überzeugung. Von den Zeitgenossen wurde seine Darstellung des Barock entsprechend "als Spiegelbild des deutschen Schicksals im siebzehnten Jahrhundert" verstanden, und "seine eingehenden Einzelforschungen" wurden als "grundlegend" gewürdigt. 286
283
Vgl. Strosche 1961, S.89; Schoß 1966, S.49. - Kienast 1993, S.77. Vgl. Cysarz 1936. - Seitenangaben ab sofort im Text. 285 Zum "Deutschtum" des Barock bei Cysarz vgl. auch Müller 1973, S.158ff. Vgl. dazu Sätze aus Cysarz 1924: "Im XVI. Jahrhundert steht die Wiege eines neuen Deutschen." (S.l) oder "Jenes letzte sittliche Interesse am So und nicht anders sein der Dinge, das die deutsche Wissenschaft vor allen anderen auszeichnet, steigt hier in das Licht der Geistesgeschichte." (S.5) 286 Closs 1939, Sp.808 und 809. 284
4.2. Herbert Cysarz
311
Cysarz verstand seine Schrift als "Einleitung" (S.5) zu einer dreibändigen Textedition, die ein Jahr später folgte. 287 Dem ersten Band stellte er dennoch ein Vorwort (S.5-8) und eine Einleitung (S.9-88) voran, in denen sich klare Überschneidungen feststellen lassen.288 Neu hinzugekommen ist allerdings die Rechenschaft über die Zielsetzung der Edition und ihre Prinzipien. Die Textausgabe verfolgt den Zweck, dem "barocken Deutschen" als "Bruder" zu begegnen, in der Vergangenheit die Gegenwart kennenzulernen: "Und gönnt uns die Geschichte Schöneres als dieses Aug-in-Aug von Bruder und Bruder über Jahrhunderte? Können wir unserer herrlichen Sprache, können wir unseres Volks erschauernder und beglückter innewerden als indem wir immerzu auch in seine fernste lebendige Tiefe hineinleben? Keine Mühsal und Ausdauer wirklichen Lesens, die hier nicht sich selbst unsäglich belohnte." (S.8) Um eine wirklich unverfälschte Begegnung zu ermöglichen, nahm sich der Herausgeber für die Wiedergabe der Gedichte "die äußerste Zeichen- und Buchstabentreue" (S.7) vor. Künftigen kritischen Editionen liefert er die "reine und zuverlässige Wiedergabe je einer Text-Variante" (ebd.). Textkritische Eingriffe sind größtenteils in den Fußnoten dokumentiert, die Quellen im Anhang verzeichnet. Beides spricht für ein umsichtiges editorisches Vorgehen. Zu kritisieren bleibt deshalb in erster Linie die offene Verherrlichung von "deutscher Art und Kunst", "des ganzen deutschen Wesens" (S.15) oder des "deutschen Bluts" (S.l2). Es ist bezeichnend, daß diese Beweise der "Germanophilie" und des Blut-und-Boden-Schemas in der Neuauflage von 1969 getilgt oder entschärft sind. 289
287
Vgl. Cysarz 1937. - Seitenangaben aus Bd.l ab sofort im Text. Z.B. "Die Barockdichtung ist der Spiegel unseres leidensschwersten Jahrhunderts." (Cysarz 1936, S.6) und "Die Barocklyrik ist nicht nur Spiegel unseres leidensschwersten Jahrhunderts [...]." (Cysarz 1937, S.5) - "Und wieviel deutschen Willen zum Äußersten, wieviel deutsche Besessenheit deckt das Tigerfell dieser überschwänglichen Form!" (Cysarz 1936, S.6; in Cysarz 1937, S.5 identisch bis auf "wie viel") 289 Vgl. Cysarz 2969. - Kursiv gesetzt ist bei den folgenden Beispielen jeweils die Passage, die in der Neuauflage wegfiel bzw. ersetzt wurde. Der Ersatztext steht in Klammern daneben: "Der große Krieg - der allerdings nicht nur die Lebensumstände, sondern auch die rassischen Stoffe des deutschen Volks beträchtlich verändert ha kerbt zunächst keine Einschnitte unserer Dichtungsgeschichte." (S.l 1 ) - "Und erst Hölderlins kultisches Hellas wird Herd und Heiligtum der deutschen 'Götter', der schöpferischen Hochgeheimnisse des deutschen Volks und seines inneren, ewigen Reichs (eines inneren Reichs)." (S.l2) - "Deutscher Geist, deutsches Blut (deutsche Art) widersetzt sich der Vergewaltigung durch die fremde Form." (S.12) 288
21 Bonk
312
4. Germanistik im Dritten Reich
Noch prägnanter gab Herbert Cysarz seinen Barockforschungen das Ziel der "deutschen Artbestimmung" in einem kurzen Aufsatz aus dem Jahr 1938 vor. 2 9 0 Als Leitfragen formulierte er: "Was leistet das barocke Schrifttum für die deutsche Selbstwerdung, leistet voran die Lyrik als die glaubensoffenste, die kunstreichste, sprachschöpferischste, formstärkste Mitte dieses gewaltigsten deutschen Aufbruchs zur Form? [...] Allseits drängt die Barocklyrik in übervolkliche Kreise hinaus - was schafft sie zugleich und ebendamit an Selbstbestimmung, an Selbstverwirklichung ureigen deutscher Art und Kunst?"(S.6) A m Ende steht erneut die Antwort, daß die Barocklyrik zwar nach außen hin dem deutschen Wesen fremd erschien, aber gerade dadurch zu seiner Selbstwerdung beitrug (vgl. S.7). Das Thema Barock beschäftigte Cysarz auch nach 1945 noch weiter. 291 Außer als Barockforscher wurde Herbert Cysarz auch als Wiederentdecker Friedrich Schillers gefeiert. 292 1928 erschien "Von Schiller zu Nietzsche", worin er die "Hauptfragen der Dichtungs- und Bildungsgeschichte des jüngsten Jahrhunderts" berührte. 293 1934 folgte "das große 'Schiller'-Buch", das "geradezu bahnbrechend wirkte." 294 Darin ging es Cysarz "um den wahren, einen und ganzen Schiller: um ein integrales Wesensbild seines unerschöpflichen Geistes und Werks." (S.464, Nachwort von 1967) Dementsprechend greifen in seiner Darstellung Biographie und Werkdeutung ständig ineinander. Welches Bild von Schiller Cysarz daraus ableitete, zeigt der Abschnitt "Das Bildnis" (S.25-45). Es trägt vor allem die Züge des Willensmenschen, für den "Freiheit zu Allem [...] Gebundenheit an Eines" (S.33) ist. Schillers Stellung innerhalb der deutschen Dichtung bezeichnete Cysarz als einzigartig: "Was Schiller von all seinen Nachbarn und Ahnen scheidet, ist ein neues Verhalten der Dichtung, ein neuer Sinn und eine neue Ausdehnung des Worts überhaupt. Er ist der Potentat der deutschen Literatur. [...] Wir haben keinen zweiten, der das Dichterische so gewaltig in alle menschlichen Dinge greifen, das Irdische bewegen und verwandeln ließ." (S.7f.) Auffallende, zum Teil wörtliche Überschneidungen finden sich in dem Aufsatz "Vom Dichtertum Friedrich Schillers", der 1943 in dem Band "Sieben
290
Cysarz, Wesensfragen, 1928, S.6. - Seitenangaben ab sofort im Text. - Auch hier fällt die Parallelität der Formulierungen auf. 291 Vgl. Cysarz 1954. 292 Vgl. Lassmann, Herbert Cysarz, 1962, S.127. 293 Thurnher 1957, S.30. 294 Lassmann, Herbert Cysarz, 1962, S.128. - Vgl. Cysarz, Schiller, 1934/1967. Seitenangaben ab sofort im Text.
4.2. Herbert Cysarz
313
Wesensbildnisse" erschien. 295 Obwohl er bereits 1934 entstand, nahm ihn Cysarz später in den Sammelband auf, den er während seiner Münchner Tätigkeit veröffentlichte. Vermutlich beherrschte dieses Schiller-Bild auch die entsprechenden Vorlesungen an der Universität. 296 Für Schiller betätigte sich Herbert Cysarz auch als Herausgeber. Eine kleine Auswahl seiner Lyrik und Prosa sollte "Schillers Kampf um die Dichtkunst" veranschaulichen. 297 Es entstand keine kritische Ausgabe für den Fachkollegen, sondern eine handliche Leseausgabe für jedermann. 298 Dabei eignete sich Cysarz die Perspektive des Dritten Reichs an: "Er wie keiner hat unseren Kleinbürger um 1800 zur Weltmacht verbreitet. Seine Dichtung hat vor 1805 in deutschen Landen nicht ihresgleichen an gemeinschafts-, ja staatsbildender Gewalt." (S.7) An anderer Stelle bezeichnete er ihn gar "als art- und zeitbedingten Menschen", und seine Leser heißen "Zeit- und Volksgenossen" (S.4). Nach dem Krieg setzte "Die dichterische Phantasie Friedrich Schillers" die Reihe der Schiller-Forschungen fort. 299 Den dritten Hauptstrang von Cysarz' Publikationstätigkeit bilden seine Arbeiten zur sudetendeutschen Literaturgeschichte bzw. - in der Diktion der dreißiger Jahre - der Schrifttumsgeschichte. Hier sind die Parallelen zu Erich Gierach nicht zu übersehen, wobei jener allerdings stärker die sprachwissenschaftliche bzw. volkskundliche Seite akzentuierte. 300 Den äußeren Anstoß gab vermutlich Cysarz' Berufung auf den germanistischen Lehrstuhl an der deutschen Karlsuniversität in Prag, den er zehn Jahre innehatte. 301 Zu dem Gedichtband "Wir tragen ein Licht", das "Rufe und Lieder sudetendeutscher Studenten" versammelt, steuerte der Ordinarius ein Vorwort bei. 302 Darin gehen die Ideale eines "europäischen Forums" und einer "radikalen Selbstwerdung" der Sudetendeutschen eine widersprüchliche Verbindung ein, getragen von einem Fundament aus "Blut- und-Boden"-Ideen:
295
Vgl. Cysarz 1943, S.96-120. - Seitenangaben ab sofort im Text. - Vgl. z.B. "Er ist der weltgeschichtlichste Dichter der deutschen Literatur." (1934, S.8). - "[Er] ist unser weltgeschichtlichster [Dichter]." (1943, S.96) 296 Vgl. weiter oben. 297 Cysarz, Friedrich Schiller, 1938, S.8. - Seitenangaben ab sofort im Text. 298 Es fehlen z.B. Anmerkungen, Quellenangaben, Hinweise zur Entstehungszeit. Vorangestellt ist lediglich eine kurze "Rechenschaft des Herausgebers" (S.3-9). 299 1959 in Tübingen erschienen. 300 Vgl. Kap. 4.1. 301 Vgl. weiter oben. 302 Vgl. Cysarz, Wir tragen, 1934. - Seitenangaben ab sofort im Text. 2
314
4. Germanistik im Dritten Reich
"Deutschland muß den Südosten und den Osten, der zu seinem Schicksalsraum gehört, leibhaft vor Augen haben. Und unsere Nachbarn müßten es begrüßen, daß ihre Besten fortan minder durch bestellte Makler 'lanciert' würden, vielmehr durch lebendige Wechselwirkung das europäische Forum gewännen. Auch hier dürfen wir guten Europäer, die wir Europa im Inbegriff alles Echten und Eigenen aller Völker suchen, nicht jenen schlechten Europäern weichen, die zwischen all den wüchsig-schöpferischen Dingen nur im Trüben fischen. Das Menschliche liegt in der Gesamtheit der schöpferischen Bestände aus jederlei Erde und jederlei Blut, nicht im Niemandsland zwischen den Zeiten, den Ständen, den Völkern. Das Recht der radikalen Selbstwerdung aber gebührt nur dem, der eines ebenso radikalen Das-bist-du fähig ist." (S.20) Für die tschechoslowakische Regierung stand die politische Brisanz des Bands wohl außer Zweifel, denn sie belegte ihn mit einem Verbot. 303 Vom "führenden Literarhistoriker der Sudetendeutschen" erschien 1938 "Die großen Themen der sudetendeutschen Schrifttumsgeschichte". 304 Dem Inhalt nach ist dieser Titel zu eng gefaßt, denn der Verfasser bietet einen knappen Überblick über "die Gegebenheiten und Aufgaben der sudetendeutschen Geschichte" (S.10) seit ihren Anfängen. Er entwirft gewissermaßen ein historisches Panorama des sudetendeutschen Volkstumskampfs, bei dem die Dichtung nur einen Schauplatz unter vielen darstellt. Indem Cysarz die Vergangenheit vorführt, erinnert er an die Verpflichtung für die Zukunft: "Nicht aufgereihte Tatsachen noch abgezogene Bewegungen, sondern die Züge, die sie [= die sudetendeutsche Geschichte, M.B.] bis heute in unser Antlitz geprägt hat, sind die Waffen, die sie uns in die Hände gibt - und jene große Schuld, die sie uns einlösen heißt." (S.10) Diese Veröffentlichung weist mit ihrer Zielsetzung die größten Parallelen zu den politisch akzentuierten Schriften Erich Gierachs auf. 305 Auch sonst stimmten die beiden Kollegen in ihrer Auffassung des sudetendeutschen Volkstumskampfs überein. Obwohl bereits seit Jahren in München, fühlte sich Cysarz noch 1943 sehr eng mit dem Ringen um das neue "Großdeutschland" verbunden: "In Prag auf den Weg gebracht, bleibt mein Beginnen forthin mit Prag verbunden. Ein Volks- und Rechts- und Glaubenskampf, der immer um Lebensanliegen Großdeutschlands, ja um Ordnungsfragen des ganzen Abendlands ging und geht, kann nicht bloß defensiv geführt werden. Der Stehkraft, die unabdinglich jeden Zoll Bo303
Vgl. SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3b, Cysarz an Dr. Wesselski, 10.8.1934. Cysarz fragte bei Wesselski an, ob dieser in "Bohemia" einen Brief an den Tschechoslowakischen Präsidenten zum Verbot des Buchs abdrucken würde. 304 Ebd., Rez. in: Die Oberpfalz 32 (Okt. 1938). - Vgl. Cysarz, Die großen Themen, 1938. - Seitenangaben ab sofort im Text. - Es handelt sich um einen Sonderdruck aus dem zweibändigen Werk "Sudetendeutschtum" (1937/38) (vgl. S.4). 305 Vgl. Kap. 4.1.
4.2. Herbert Cysarz
315
dens, mit jedem Zoll das deutsche Wir und Gesamt verteidigt, muß sich die Leidenschaft des Geistes gesellen, der an allen Grundpfeilern eines morsch gewordenen Zeitund Weltalters rüttelt." 306 In diesem Kampf kam der Germanistik eine besondere Aufgabe zu: "Die Germanistik etwa war, davon zeugten die Hörsäle, nicht bloß für die Germanisten da; und die Germanisten, das bewies ihre Tätigkeit inner- und außerhalb aller Schulen, dienten nicht theoretischer Literarhistorien, sondern der Praxis deutscher Sprache Haltung Gesittung, deutschen Sehens und Fühlens, lebendigen und das heißt in jedwede Pore des volklichen Daseins und Wirkens dringenden Geistes insgemein."307 Als 1938 die sudetendeutschen Gebiete im Münchner Abkommen an Hitler fielen, begrüßte Cysarz dies als "Entscheidungen aus dem sudetendeutschen Jahr 1, dem Jahr der Geburt Großdeutschlands und der Empfängnis des neuen Europas." 308 Noch bevor es zum Übergriff der Wehrmacht in der Tschechoslowakei kam, erschienen seine "Fünf Sudetendeutschen Reden" unter dem Motto "Deutsche Front im Südosten".309 Der erste Beitrag "Sudetendeutschland in der Volksdeutschen Gesamtfront" (S.9-25) blendet z.B. in die Vergangenheit zurück, um zu beweisen, daß es sich jetzt zu Recht um eine "Heimkehr ins Reich" handelt. Wie der Titel des Sammelbands lehnt sich auch die Rede an den militärischen Sprachgebrauch der Zeit an: "Durch die zerwühlten und zerschrammten Sudetengaue marschiert in fortan gemeinsamen Waffen das deutsche Gesamtvolk. Nun schreitet der Heerbann Sudetendeutschlands, der junge und der alte, in der deutschen Marschsäule des angebrochenen Jahrtausends, nun gibt es hier überall nur noch Großdeutschland." (S.9) Mit der Rolle der Wissenschaft im neuen Reich beschäftigt sich Cysarz in der Rede "Wissenschaft, Kultur, Politik" (S.26-44). Ganz entgegen der Humboldtschen Tradition der Freiheit der Wissenschaft übernimmt sie jetzt die Aufgabe, der deutschen Weltgeltung zu ihrem Sieg zu verhelfen: "Ohne Übermut aber, einhelliger als je gesammelt und entschlossen, hoffen und wollen wir, daß unser Volk, das stärkste und werdenstiefste der Völker, nach so unsagbaren Leiden fortan immer inniger mit dem Schicksals- und Schöpfungsgesetz der Geschichte im Bund sein werde. Daß es zu seiner Weltsendung und -geltung, die es ganz sicher hat, mehr und mehr auch das Glück der Geschichte gewänne - ein Glück, an dem wir uns nicht raffend und prassend wie andere überfressen werden, sondern in
306
SdA Nachlaß Cysarz, C17, la, Geisteswissenschaft und Philosophie (Masch. Ms.), 8.6.1943, S.l6. - Vermerk von Virginia Cysarz: "erschien in einem Prager Jb. 1944". 307 Ebd., S.l. 308 Vgl. Cysarz 1939,S.7. - Seitenangaben ab sofort im Text. 309 Vas Vorwort ist auf den 27.11.1938 datiert, das Erscheinungsjahr erst 1939.
316
4. Germanistik im Dritten Reich
dessen Feuern wir die größte Ordnung hämmern wollen. Möge das uns durch die Wissenschaft, der Wissenschaft durch uns gelingen!" (S.43f.) Speziell für seine eigene Disziplin entwickelte Cysarz eine ähnliche Programmatik, die an exponierter Stelle - nämlich in der Hitler-Festschrift "Deutsche Wissenschaft. Arbeit und Aufgabe" - erschien. 310 Bei der Definition der Zielsetzung rekurrierte er auf den Beginn der germanistischen Forschungen im 19. Jahrhundert: "Die Erforschung der neueren deutschen Sprach- und Schrifttumsgeschichte hat heute wie in ihren großen Anfängen nur eine Front und eine Aufgabe - und die heißt Deutschland." (S.36) Dabei hatte der Grimm-Zeit die radikale nationalistische Dimension des Dritten Reichs ebenso gefehlt wie die Konzentration auf "rassisch" gebundene Dichtung: "Die geistige Allerweltsvergleichung dichterischer Motive wird abgelöst von der Durchforschung rassegleicher, überlieferungsversippter und bodenverbundener kultureller Kreise, deren Brücken jedes beteiligte Volkstum auch zu seinem innersten Selbst geleiten." (ebd.) Pointierter als hier konnte Herbert Cysarz sein Einverständnis mit dem nationalsozialistischen Ideologiekonglomerat nicht mitteilen. Gleichzeitig widerlegt diese Erklärung eine Beobachtung von Sebastian Meissl, nach der "Cysarz seine LebensXthxt weniger nach der biologischen als der existenzphilosophischen Seite hin orientiert" haben soll. 311 Weitere fünf Vorträge sind in dem Band "Dichtung im Daseinskampf" gesammelt. 312 Unter dem Thema "Menschheit, Volk, Dichtung" (S.30-48) konfrontiert der Autor die alte Dichtungskategorie der Menschheit mit dem neuen Ideal des Volks im Sinne von Nietzsches "Umwertung aller Werte im Hinblick auf ein gemeinsames Handeln, Handeln-wollen und Handeln-müssen." (S.31) 313 Aus seiner Sicht zeichnet sich die neue Zeit durch "drei erste Hauptstöße" aus: "Da ist der Aufstand des s c h ö p f e r i s c h e n wider den händlerischen Menschen [...] Sodann die Wiedereinsetzung des g e b u n d e n e n Menschen, gegen den
310
Vgl. Cysarz, Neuere deutsche, 1939. - Seitenangaben ab sofort im Text. Dieser Beitrag fehlt in den Cysarz-Werkbibliographien (vgl. Jahn 1976 und Sciba 1981). 311 Meissl 1989, S.146. 312 Vgl. Cysarz 1935. - Seitenangaben ab sofort im Text. 313 Vgl. auch die Nietzsche-Beiträge "Von Schiller zu Nietzsche" von 1928 oder "Für und wider Nietzsche" innerhalb des Buchs "Sieben Wesensbildnisse" (Cysarz 1943, S.221-273).
4.2. Herbert Cysarz
317
wurzellosen Alleskönner und Allesversteher. Und drittens die Diktatur der G em e i n s c h a f t an Stelle des Individualismus, des politischen statt des ästhetischen Menschen, des Führertums für und durch alle statt der Persönlichkeit in Goethes oder Humboldts Stil." (S.33) Als Urbild des "händlerischen" und damit unschöpferischen Menschen diente Cysarz der Jude. Damit bewegte er sich innerhalb des alten Vorurteils, das Juden eine besondere "Begabung" auf den Gebieten Handel und Finanzen zuschrieb. Auch in Vorträgen beschäftigte sich Cysarz mit der Rolle von Juden im deutschen Geistesleben. Speziell hob er den Einfluß der jüdischen Frau hervor, der sich an "zahlreichen Beispielen aus der Literaturgeschichte" belegen lasse. Außerdem bezeichnete er "drei Epochen, in denen sich die geistige Invasion des Judentums besonders deutlich bemerkbar machte: die Zeit um 1800, die Jahre der politischen Wirren um 1848 und die Revolution beim Zusammenbruch 1918." 314 Jüdische Literatur disqualifizierte er an anderer Stelle gemäß den Parolen der nationalsozialistischen Heimatkunstbewegung als "Asphaltliteratur": "Die lauteste Schar hat dem Expressionismus das Prager Judentum gestellt. Doch eben wo das Judentum sich mächtig fühlt wie hier, geht es in keinen Stil und in kein Gefühl seines Wirtsvolks auf. Es schließt allem Großstadtschrifttum an, verkostet alle Gifte der Dekadenz (um sie anderen einzuflößen), nimmt leidenschaftlich am Hexensabbat des Umsturzes teil. Im Grunde aber sucht es sich selbst. Ihm ist der Asphalt Heimat: wie es ja auch im zwischenvolklichen Zwielicht zuhause ist und im 'Kosmischen' seine eigene zeitlose Ailzeitgemäßheit entdeckt."315 Eine antisemtische Gesinnung kann angesichts derartiger Parolen nicht geleugnet werden. Daß der Inhaber eines Lehrstuhls für neuere deutsche Literaturgeschichte 1941 ein philosophisches Ordinariat in München anstrebte, kennzeichnet ein weiteres Interessensgebiet dieses Forschers. 316 Bereits in der Prager Antrittsvorlesung "Geschichtswissenschaft, Kunstwissenschaft, Lebenswissenschaft" greifen im Sinne der geistesgeschichtlichen Methode literaturwissenschaftliche und philosophische Fragen ineinander: "Wo ein wo aus schließen sich Poesie, ein Leben das Geist befaßt, und Philosophie, ein Denken das Leben befaßt? Wie viele Stufen der Wirklichkeit, der Erfahrung, der Anschauung, item wie viele Ströme und Strukturen der Geschichte gibt es? Wie weit
314
SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3a, Rede auf der Tagung der Reichsschrifttumskammer in Trautenau, Bericht in: Breslauer Neueste Nachrichten, 20.2.1939. 315 Cysarz, in: Dichtung und Volkstum 40 (1939), S.66, zit. nach: BayHStA MK 43502, Fak. an KuMi, 22.6.1960, Gutachten Dekan H. Hoffmann. 316 Vgl. weiter oben.
318
4. Germanistik im Dritten Reich
ist alles Denken auch ein Handeln, alles Betrachten auch ein Gestalten, alle Historie also wie Reproduktion so auch Produktion, und umgekehrt, und kreuz und quer?" 317 Bezeichnenderweise taucht im Titel dieser durchaus programmatischen Rede Cysarz' eigentliche Disziplin überhaupt nicht auf. Auch in seiner wissenschaftlichen Praxis trat sie im Laufe der Jahre immer weiter in den Hintergrund. Statt über Dichter und ihre Werke zu sprechen - zum Teil in einer dezidiert völkisch-nationalen Weise - , wandte sich Cysarz "übergeordneten" Problemen zu wie z.B. dem "Gesetz des Schaffens" (1941). Diese Entwicklung hin zur Philosophie prägte sich nach 1945 ganz deutlich aus, wurde aber bereits während der Münchner Zeit eingeleitet. Exemplarisch soll an dieser Stelle das Buch "Das Schöpferische" vorgestellt werden. 318 Neben Rudolf Unger oder Fritz Strich gilt Herbert Cysarz als einer der Hauptrepräsentanten der geistesgeschichtlichen Schule im Gefolge von Wilhelm Dilthey, was auf seine ausgeprägte Neigung zur Philosophie zurückgeht. 319 Einen besonderen Akzent setzte er, indem er Geschichte und Natur nicht als Gegensatz verstand, sondern in einen Zusammenhang stellte: "Die sieben Stücke dieses Buchs handeln vom schöpferischen Gesetz des Menschen, daher notwendig auch von der Natur, der Wirklichkeit überhaupt. Nur so ist es möglich, die Geschichtlichkeit der Geschichte als durchgängiges Weltgesetz, den Menschen als Träger der letztumfassenden Schaffensordnung zu erweisen." (S.7) Der fünfte Abschnitt ist mit "Der schöpferische Mensch" (S.174-212) überschrieben. Das entspricht exakt einer Vorlesungsankündigung von 1941, so daß inhaltliche Parallelen wahrscheinlich sind. Am Anfang steht ein historischer Überblick über den Geniekult seit der griechischen Antike bis zum 19. Jahrhundert und eine wortreiche Definition des Genies, die in den Ausdruck "der tiefstbedrohte Grenzmensch" (S.183f.) mündet. Unter die "natürlichen und geschichtlichen Züge des menschlichen Schöpfertums" (S.l85) fallen gemäß dem Darwinismus - auch genetische Bedingungen: "Damit ein Genius geboren werde, müssen sich möglichst viele erbgesunde Ahnen in tiefer Liebe vereinigt haben. [...] Genie wird solcherart immer von vielen Vorfahren mitbereitet." (S.185f.) Das Wirken des genialen Menschen innerhalb der Gemeinschaft bezeichnet Cysarz schließlich als "Heilsbringertum" (S.204), was Assoziationen an den "Führer"-Kult weckt: "Es [= das Genie, M.B.] entzündet Begeisterung, rüttelt Mut und Zuversicht auf. Es satzt Wertetafeln und stiftet Ordnungen, als Herrscher, als politisches Genie. Und in 3,7 318 319
Cysarz 1928, S.9. Vgl. Cysarz 1943. - Seitenangaben ab sofort im Text. Vgl. Kiesant 1993, S.87.
4.2. Herbert Cysarz
319
ganz großem Fiihrertum vereinen sich all diese Mächtigkeiten, Wirkkräfte und Gewißheiten. Es führt nicht nur Geschäfte, es zieht Sterne des Heils über sich und die Seinen. Es bewährt seinen göttlichen Ursprung als Heilsbringer der Geschichte." (S.21 lf.) Vollzog Cysarz während der Lehrtätigkeit in München den Übergang zur Philosophie, betätigte er sich erst danach auf einem weiteren neuen Gebiet: Mit den Romanen "Neumond" (1956) und "Arkadien" (1967) steht er in der Tradition der literarisch aktiven Germanisten. 320 Charakteristisch für alle Veröffentlichungen von Herbert Cysarz ist der Stil, der ebensoviel Lob wie Kritik erfuhr. August Closs rühmte z.B. "die schöpferische Wortleidenschaft des Forschers" und "die Frische des sich ins Künstlerische erhebenden Stiles, die dem Werke von Cysarz einen besonderen Glanz [erleihen]." 321 Ähnlich urteilte Eugen Thurnher in seiner Rezension zu "Das Unsterbliche" von 1940: "Ebenso quellend ist die Gestaltgebung; nicht selten erhebt sich die Darstellung zu dichterischer Höhe. Mit einzigartiger Vielfältigkeit und Leichtigkeit steht C. das Wort zur Verfügung, aphoristisch geht ein Sprühfeuer von Gedanken nieder, Wortverknüpfungen schlagen schwindelnde Gedankenbrücken, sogar der rhythmische Bau der Sätze treibt den denkerischen Bau voran. So ist Cysarzs Werk nicht allein vernunftgezeugt, sondern reiches Geheimnis strömt aus unverkennbarem Sehertum."322 Genau diese Fülle lehnte beispielsweise Ernst Kohn-Bramstedt als "üppige Wortgirlanden" ab und plädierte für eine "strengere Sprachzucht". 323 1977 kritisierte Gerhard Sauder "die laute und feurige Metaphorik" von Cysarz' "Vielfelderwirtschaft" - ein Kennzeichen für den "barocken" Stil des ehemaligen Barock-Forschers. 324 Auch während des Dritten Reichs war Cysarz' Diktion nicht unumstritten. Das Hauptamt Wissenschaft beobachtete bei ihm die "Tendenz, gegen sachliche Unklarheit und Verschwommenheit in einer exaltierten Ausdrucksweise einen Ausgleich zu suchen." 325 Diese Kritik wurde hier nur in bezug auf die Durchsetzung nationalsozialistischer Ziele erhoben. Das zeigt auch der Brief "Eines Deutschen" an den "Herrn Reichsleiter". Darin warnte er vor Cysarz' Einfluß auf die akademische Jugend, wenn
320
Vgl. z.B. Schmeller (Kap. 3.2.1.) oder Maßmann (Kap. 3.2.2.). Closs 1939, Sp.807 und 810. 322 Thurnher 1942, Sp.299f. 323 Kohn-Bramstedt 1931, S.199. 324 Sauder 1977, S.293. - Vgl. auch Strosche 1961, S.88. 325 IfZ MA-116/4 (Herbert Cysarz), HA Wissenschaft an Parteikanzlei in München, 15.10.1941. - Das HA Wissenschaft war zuständig für Wissenschaftsbeobachtung und -wertung. 321
320
4. Germanistik im Dritten Reich
"künftig in Deutschland nicht mehr so klar und sauber zu uns gesprochen wird wie es z.B. der Führer tut". 3 2 6 Abstrahiert man von dieser ideologischen Komponente, treffen die Vorwürfe tatsächlich zu: Den Büchern von Herbert Cysarz fehlen klare Aussagen, der Verfasser liebt Wortspielereien, denen es an inhaltlicher Tragkraft mangelt. Genau darin lag auch der "Haupteinwand" der Philosophischen Fakultät der L M U , als sie seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in sein Amt sowie Emeritierung ablehnte: "Für den Stil sind in den angeführten Beispielen Zeugnisse bereits gegeben worden. Zusammenfassend könnte man sagen, daß hier jedes sondernde Denken, jede ordnende Gliederung und die Gabe der Unterscheidung fehlen. Eine hemmungslose Bilderwut dient nicht mehr der Erkenntnis, sondern der Beschwörung, dem Aufruf, der Religionsstiftung. In dieser Feststellung liegt der Haupteinwand gegen Cysarz. So betrüblich und untragbar seine volklichen und politischen Überzeugungen auch sein mögen: das Entscheidende ist, daß die denkerische und sprachliche Darstellung die Besonnenheit, kritische Nüchternheit und bei aller inneren Beteiligung doch notwendig - die Sachlichkeit, ohne die es keine Wissenschaft geben kann, völlig außer acht läßt. Junge Menschen solchen unkontrollierten Ergüssen auszusetzen, ist nicht zu verantworten."327 Damit wurde einem Universitätslehrer die Rückkehr auf den Katheder endgültig verwehrt, der in das Dritte Reich mehr als nur am Rande involviert, allerdings seinerzeit auch nicht völlig unumstritten war. 328 Das NSDAP-Mitglied Herbert Cysarz trat in Vorträgen im In- und Ausland als Repräsentant und Kämpfer für das "neue Großdeutschland" auf, in ihrer Terminologie spiegeln seine Bücher die Ideologie klar wider. Inwieweit für seine Dozententätigkeit dasselbe gilt, muß wegen fehlenden Materials offen bleiben. Nur wenig als Herausgeber tätig, entwickelte Cysarz eine rege Autorenaktivität. Allerdings relativiert sich die Fülle, wenn man die häufigen textlichen Parallelen sowie den wiederholten Abdruck von Beiträgen an verschiedenen Orten be326
Ebd., Anonym an HA Wissenschaft, o.D. (Eingangsdatum: 5.2.1941). BayHStA MK 43502, Fak. an KuMi, 22.6.1960 (Gutachten Dekan H. Hoffmann) . 328 Die Personalakte Cysarz im BayHStA (MK 43502) und im UAM (UAM E II N) enthält umfangreiche Rechtfertigungsschreiben sowie wiederholte Anträge von Cysarz, wieder in den Lehrkörper der LMU aufgenommen bzw. mit Versorgungsbezügen ausgestattet zu werden. Die Universität verhielt sich dazu durchweg negativ, während das Kultusministerium dem ehemaligen Ordinarius sehr gewogen war. Das gilt vor allem für den Hochschulreferenten Prof. Rheinfelder, mit dem Cysarz auch privat in Kontakt stand (vgl. SdA Nachlaß Cysarz, C17, 3a, Cysarz an Rheinfelder, 1.5.1957 [Bitte um Gespräch in Rheinfelders Wohnung] und 9.5.1957). Es wäre sehr interessant, diesen Vorgängen um Cysarz nach 1945 in einer eigenen Untersuchung nachzugehen. 327
4.3. Otto Höfler
321
rücksichtigt. Zentrale Themen seines Forschens bildeten das Barock, Friedrich Schiller und die sudetendeutsche Literatur. Zur modernen Dichtung fand er keinen Zugang. Die geistesgeschichtliche Methode brachte ihn mit philosophischen Fragestellungen in Berührung, denen er sich immer mehr öffnete, vor allem nach seiner Dienstenthebung. A l l seinen Büchern und Aufsätzen, die er unermüdlich produzierte, ist eine bildreiche, überladene Sprache eigen, die von der Inhaltsleere abzulenken suchen und die Lektüre zu einer Qual machen.
4.3. Otto Höfler als Künder eines neuen Germanenbildes Zum selben Zeitpunkt wie Herbert Cysarz bestieg Otto Höfler den neu errichteten Lehrstuhl für germanische Philologie und Volkskunde. 329 Damit kam auch der dritte Ordinarius am Deutschen Seminar in München aus einem von Hitler annektierten Land. 3 3 0 In der "Hauptstadt der Bewegung" repräsentierten Vertreter des "Auslandsdeutschtums" die Universitätsgermanistik, was vermutlich auch innenpolitische Signalwirkung haben sollte. Wie bei den beiden anderen Mitvorständen steht eine detaillierte Untersuchung über den Forscher und Lehrer Otto Höfler noch aus. Aus den Jahren kurz vor bzw. nach seinem Tod datieren einige Ansätze zu einer kritischen Würdigung, die vor allem von der volkskundlichen Seite her kommen. 331 Während die früheren Festschriften diesen Bereich völlig aussparen, thematisieren sie auch sein Verhalten im Dritten Reich. 332 Dasselbe gilt für einige zeitgeschichtliche Studien, in denen auch die Rolle von Otto Höfler zwischen 1933 und 1945 berührt wird. 3 3 3 Im folgenden kann auf die vorhandenen Ergebnisse zurückgegriffen und aufgebaut werden, um zu einer vertieften Sicht Höflers während seiner Münchner Zeit zu gelangen.
329
Vgl. Kap. 2.6.2.3. Gierach und Cysarz besaßen die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit, Höfler war gebürtiger Österreicher. 331 Vgl. z.B. Gilch/Schramka 1986, Bockhorn 1988 und Birkhan 1988. - Der jüngste, gut recherchierte Beitrag über Höfler stammt von der Volkskundlerin Esther Gajek, den sie mir freundlicherweise im Manuskript zur Verfügung stellte (vgl. Gajek [1993]). - Die Beiträge von Schülern nach Höflers Tod enthalten zwar auch Kritik am Verhalten von Otto Höfler. Insgesamt überwiegt aber dennoch der Ton der Verehrung für den ehemaligen Lehrer (vgl. z.B. Birkhan 1988 und Birkhan 1992). 332 Vgl. Birkhan/Gschwantler 1968 und Birkhan 1976. 333 Vgl. z.B. Heiber 1966, Bollmus 1970 und Kater 1974. 330
322
4. Germanistik im Dritten Reich
Auf der Quellenseite erwiesen sich seine Personalakte im Bayerischen Hauptstaatsarchiv und im Universitätsarchiv München sowie die NSDAP-Akte im Berlin Document Center als besonders ergiebig. 334 Hinzu kommen noch einige Materialien aus dem Institut für Zeitgeschichte, München, und dem Universitätsarchiv München. 335 Der wissenschaftliche Nachlaß von Otto Höfler befindet sich noch im Besitz seiner Witwe in Wien. 3 3 6 Zahlreiche Informationen über Höfler als Dozent und Wissenschaftler verdanke ich seinem ehemaligen Schüler Prof. Kurt Schier. 337 Relativ schmal ist die Liste der von Höfler im Untersuchungszeitraum veröffentlichten bzw. herausgegebenen Monographien. 338 Um dennoch Rückschlüsse auf Forschungsschwerpunkte zu ziehen, wurden auch Aufsätze und Vorträge berücksichtigt. Otto Eduard Gottfried Höfler stammte aus einer österreichischen Gelehrtenfamilie. 339 A m 10. Mai 1901 wurde er als Sohn des Philosophie- und Pädagogikprofessors Alois Höfler in Wien geboren. Obwohl er selbst es leugnete, schrieb Helmut Birkhan dem Einfluß des Vaters prägende Wirkung auf den Sohn zu, vor allem im Hinblick auf das Interesse für den nordischen Göttervater Wodan. 340 In Wien, Kiel, Lund (Schweden), Basel und Marburg studierte Otto Höfler germanische Altertumskunde, germanische und nordische Sprachgeschichte, Religionswissenschaft und Volkskunde. Wenngleich er selbst auch Herbert Cysarz als seinen Lehrer bezeichnete, gehörte Höfler in erster Linie 334
Vgl. BayHStA MK 43770; UAM Ε II Ν (enthält auch die Kieler PA); BDC Parteiakte Höfler (Mgl.-Nr. 5 443 927). 335 Vgl. IfZ MA-148, S.9184f. und 9187. - Es handelt sich um Mikrofilme von Akten des Sicherheitsdienstes (SD) und des Auswärtigen Amts (AA). - UAM Ο Ν 10 (Lehrkanzel für germanische Philologie: Otto Höfler). 336 Der Nachlaß wird von Höflers ehemaliger Assistentin Hildegunde Prütting inventarisiert. Er besteht aus Manuskripten zu Büchern (z.T. unveröffentlicht) und Vorlesungen sowie Briefen an Höfler. Der Nachlaß konnte zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Kapitels nicht eingesehen werden. Es ist geplant, das Material bis etwa Ende 1993 der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, zu übergeben. 337 Gespräch am 1.7.1993 in München. - Prof. Schier studierte zwischen 1951 und 1957 bei Otto Höfler. Aussagen über Höflers Lehrweise werden unter Vorbehalt auf die Jahre 1938 bis 1945 übertragen. 338 Vgl. die Bibliographien von Gschwantler 1968, Schriftenverzeichnis 1984 und Höfler 1992, S.842-848. - Folgende Schriftenverzeichnisse konnte ich trotz intensiver Bemühungen nicht selbst einsehen: Horacek, Blanka, Gschwantler, Otto, Schriftenverzeichnis Otto Höfler zum 10. Mai 1961, Wien 1961. - Hellmuth, Leopold, Schriftenverzeichnis Otto Höfler, 1982. 339 Zur Biographie vgl. das Material in der Personalbibliographie und den Artikel im Lexikonteil. 340 Vgl. Birkhan 1988, S.396f.
4.3. Otto Höfler
323
der sogenannten Wiener Schule an. 341 Bei deren Begründer Rudolf Much hatte er 1925 promoviert und sich 1932 habilitiert. Vor und dann zum Teil parallel zu seiner Dozententätigkeit in Wien war Höfler außerplanmäßiger Assistent am Deutschen Sprachatlas in Marburg und Lektor für deutsche Sprache an der Universität Uppsala. 1934 wurde er als Ordinarius für Neuere deutsche Sprache und Literaturgeschichte nach Kiel berufen. A m 1. Oktober 1938 ging er als ordentlicher Professor für germanische Philologie und Volkskunde nach München. Vier Jahre später lehnte er einen Ruf nach Straßburg ab. 342 Zwischen Mai 1943 und Oktober 1944 leitete er hauptamtlich das Deutsche Wissenschaftliche Institut in Kopenhagen.343 Obwohl an der L M U beurlaubt, vertrat er hier seinen Lehrstuhl selbst. 344 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das NSDAP-Mitglied Höfler (Mitglieds-Nr. 5 443 927) vom Dienst an der Univer341
Zu Cysarz vgl. Kap. 4.2. - Zur Wiener Schule vgl. weiter unten. Vgl.UAM E II N, Kurator der Univ. Straßburg an Rekt. Univ. Mü., 26.8.1942. 343 Über seine Tätigkeit in Kopenhagen ist bis dato wenig bekannt. Höfler selbst äußerte sich 1950: "Die Leitung des Deutschen Wissenschaftlichen Institutes in Kopenhagen übernahm ich 1943, nachdem ich dem Auswärtigen Amt schriftlich und mündlich die folgenden 2 Bedingungen gestellt hatte: 1.) mich nur für eine Politik der Verständigung und gegenseitigen Achtung einzusetzen; 2.) das Wissenschaftliche Institut, gemäß seinem Namen, als wissenschaftliches, nicht als propagandistisches zu führen. Die erste Bedingung entsprach meiner seit meinem Abitur, 1920, geübten Haltung zu Skandinavien, die zweite der Überzeugung, daß auch dem deutschen Ansehen am besten gedient sei, wenn wir durch die Tat beweisen, daß echte Forschung bei uns noch möglich sei. Ich habe dementsprechend in einer Denkschrift darauf gedrängt, daß statt der Vorträge, denen die Dänen, besonders seit Januar 1943, immer mehr fern blieben, mehr eigene Forschungstätigkeit getrieben werde, habe mit großer Mühe eine eigene wissenschaftliche Bibliothek aufgebaut, Forscher an das Institut gezogen, nur wenige, und zwar streng wissenschaftliche Vorträge halten lassen [...] und habe selbst den größten Teil meiner Zeit bei wissenschaftlicher Arbeit verbracht." (UAM E II N, Höfler an Rekt., 7.3.1950, S.3f.) - Die von Höfler erwähnten Schriftstücke befinden sich nicht unter den Akten des BDC oder des IfZ. Wenn man Höflers kulturpolitische (Auftrags-)Reisen nach Skandinavien betrachtet (vgl. weiter unten), ist es wenig wahrscheinlich, daß er sich hier einer entsprechenden Indienstnahme verweigert hatte. - Im September 1944 erhielt Höfler eine Anweisung des "Bevollmächtigten des Deutschen Reichs in Kopenhagen [...], im Zuge notwendiger Einschränkungsmaßnahmen nach Deutschland zurückzukehren." Das AA sprach sich dafür aus, "daß Prof. Höfler die Präsidentschaft ehrenamtlich weiterführt" und zu diesem Zweck von der Universität beurlaubt werde (UAM E II Ν, A A an Rekt., 15.12.1944). Zu diesem Vorgang befinden sich keine weiteren Materialien in der Akte. 344 Nur in der zweiten Hälfte des SS 1944 sollte Siegfried Beyschlag von der Universität Erlangen diese Aufgabe wahrnehmen (vgl. UAM E II Ν (Höfler), KuMi an REM, 3.7.1944), war aber durch einen Unfall daran gehindert (vgl. ebd., KuMi an Univ. Erlangen, 29.9.1944). 342
324
4. Germanistik im Dritten Reich
sität enthoben und im Entnazifizierungsverfahren von der Spruchkammer in die Gruppe der "Mitläufer" eingereiht. 345 Dennoch erhielt er 1950 wieder einen Lehrauftrag für Skandinavistik an der L M U und wurde drei Jahre später zum Privatdozenten und außerplanmäßigen Professor ernannt. 346 A m 31. März 1953 folgte die Ernennung zum außerordentlichen Professor für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde unter Verleihung der Amtsbezeichnung und der akademischen Rechte und Pflichten eines ordentlichen Professors. 347 Für die Rückkehr Höflers an die Universität hatte sich insbesondere Carl von Kraus sehr eingesetzt, "für den die Wiederherstellung der venia Höflers ein Herzensanliegen gewesen ist." 3 4 8 1957 folgte Höfler einem Ruf nach Wien, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1971 lehrte. 349 A m 24. August 1987 starb er in Wien. Höflers Berufung nach Kiel führte Helmut Birkhan auf eine "Intervention Heinrich Himmlers" zurück. 350 Dieser Einfluß ist auch bei seinem Wechsel nach München nachweisbar. 351 Er steht im Zusammenhang mit der SS-Stiftung "Das Ahnenerbe", mit der Himmler versuchte, "die politische Macht der SS auch auf den Bereich des geistigen Lebens auszudehnen."352 Bereits in Kiel hatte Otto Höfler als "Vertrauensmann in der Ostmark" für diese Organisation gearbeitet, die sich seit 1935 die Erforschung der germanischen Frühgeschichte zum Ziel gesetzt hatte. 353 Im Oktober 1937 informierte Walther Wüst den Reichsführer SS über das laufende Berufungsverfahren von Otto
345
Vgl. BayHStA MK 43770, KuMi an Höfler, 19.12.1945. - Spruchkammer-Bescheid, 19.10.1948. 346 Vgl. ebd., KuMi an Rekt., 12.10.1950 (keine Ernennung zum Privatdozenten und api. Prof.). - Urkunde, 30.1.1953. 347 Vgl. ebd., Urkunde, 31.3.1954. 348 Ebd., KuMi Vormerkung Rheinfelder, o.D. (vermutlich Herbst 1952). - Vgl. ebd., Carl von Kraus, Eidesstattliche Erklärung, (o.D.). - Kraus holte auch eine Reihe von Gutachten anderer Fachkollegen ein (Friedrich Panzer, 4.11.1947; Dietrich Kralik, 7.11.1947; Wilhelm Wackernagel, 10.11.1947 - in Ab. jeweils bei den Akten, in Auszügen von Kraus zitiert), die sich für Höfler aussprechen, und er soll die Meinung der Fakultät für Höfler umgestimmt haben (vgl. ebd., Alexander Scharff an KuMi, o.D., vermutlich Ende 1949, Anfang 1950). 349 Den Wechsel nach Wien nahm Höfler positiv auf, da er in seine Heimatstadt zurückkehren und wieder einen Lehrstuhl für "Vollgermanistik" besteigen konnte (Auskunft Prof. Schier, 1.7.1993). 350 Birkhan 1992, S.XI. 351 Vgl. hierzu auch Gajek [1993], S.9ff. 352 Kater 1974, S.7. - Allg. zum "Ahnenerbe" vgl. ebd. 353 Ebd., S.83.
4.3. Otto Höfler
325
Höfler nach München. 354 Indem er betonte, "dass Professor Höfler auch mit grösstem Erfolg in die vom 'Ahnenerbe' betreute Kulturarbeit der SS eingesetzt werden kann", bat er Himmler um seine Unterschrift unter ein von ihm entworfenes Schreiben an den Reichswissenschaftsminister. 355 Himmler kam der Bitte nach und schrieb an den "lieben Parteigenossen Rust": "Da ich beabsichtige, im Rahmen der Kulturarbeit der SS den Professor O. Höfler von München aus massgeblich bei der Erschliessung des germanischen Erbes einzusetzen, wäre ich dankbar, wenn die Versetzung möglichst bald noch zum kommenden Winterhalbjahr 1937/38 vollzogen wird." 356 Bernhard Rust antwortete, daß Höflers Berufung "schon im Gange ist", aber wohl erst zum 1. April 1938 möglich sein würde. 357 Schließlich verzögerte sie sich nochmals um ein halbes Jahr. 358 Noch in Kiel erhielt Höfler den Auftrag, einen Herausgeber für eine geplante Klopstockausgabe zu finden. 359 Er empfahl seinen Kieler Kollegen Gerhard Fricke. 360 Außerdem nahm er an einem Studentenlager und mindestens einem Dozentenlager als freier Mitarbeiter des "Ahnenerbes" teil. 3 6 1 Obwohl Helmut Birkhan von einer "zunehmenden Entfremdung" des Ordinarius vom "Ahnenerbe" spricht, nutzte dieser später seine Kontakte zu Himmler, um auf diesem Weg Devisen für die Beschaffung von nordischer Literatur in Skandinavien zu bekommen. 362 Trotz seiner Mitarbeit in der SS-Stiftung trat Höfler nicht der SS bei. 363 Dagegen gehörte er seit Mai 1937 der NSDAP an. 364 Den Aufnahmeantrag stellte
354
SS-Sturmbannführer Wüst war Dekan der Philosophischen Fakultät und später auch Rektor der LMU. Am 11.3.1937 wurde er Präsident des "Ahnenerbes" (vgl. Bollmus 1970, S.l80). 355 BDC Parteiakte Höfler, Das Ahnenerbe (W. Wüst) an Reichsführer SS Heinrich Himmler, 15.10.1937. 356 Ebd., Himmler an Rust, 29.10.1937. - Dieser Brief muß Michael H. Kater nicht vorgelegen haben, denn er ließ es offen, ob der Reichsführer SS wirklich unterschrieb (vgl. Kater 1974, S.138). 357 Ebd., Rust an Himmler, 18.11.1937. 358 Zu den Gründen geht aus den Akten nichts hervor. 359 Ebd., Reichsgeschäftsführer an Höfler, 18.10.1937. 360 Vgl. Hübinger 1974, S.215, Anm.341. 361 Vgl. Birkhan 1988, S.400. - Zu seinen weiteren Aktivitäten für das "Ahnerïerbe" vgl. Gajek [1993], S.14. 362 Vgl. ebd., S.401. - Zur Devisenangelegenheit vgl. weiter unten. 363 Höflers Ablehnung begründete Helmut Birkhan mit der tiefreligiösen Haltung des Katholiken Höflers: Der Beitritt zur SS hätte den Austritt aus der Kirche vorausgesetzt (vgl. Birkhan 1988, S.401 und 398).
326
4. Germanistik im Dritten Reich
Höfler am 1. Dezember 1937, die Aufnahme wurde auf den 1. Mai 1937 zurückdatiert. 365 Daß sein Name anfangs falsch, nämlich "Häfler", geschrieben und erst am 18.3.1941 korrigiert wurde, nimmt Helmut Birkhan als Beweis für Höflers Desinteresse für die "Führer"-Partei. 366 Diese Interpretation wird jedoch ziemlich fragwürdig, wenn man Höflers "Lebenslauf" berücksichtigt, den er bei seiner Bewerbung um das Ordinariat in München eingereicht hatte. Darin hatte er auf seine frühe Zugehörigkeit zur Wiener Ordner-Truppe, der späteren SA, verwiesen und die Nicht-Mitgliedschaft in der NSDAP mit seiner Tätigkeit in Schweden entschuldigt. 367 Tatsache ist dennoch, daß von Otto Höfler keine ungestümen Forderungen nach Parteiaufnahme überliefert sind, wie es bei Herbert Cysarz der Fall war. 368 Daß es sich bei Höfler dennoch nicht nur um aufgesetzte Kundgebungen gehandelt haben kann, sie vielmehr seiner echten Überzeugung entsprochen haben müssen, zeigt eine Äußerung von 1950: "Es war ein Irrtum, zu hoffen, das organische Nationalprinzip und der Nationalismus der Anerkennung und der Verständigung könnten, wenn auch unter schweren Geburtswehen, innerhalb des Nationalsozialismus sich schließlich durchsetzen. Ich habe diese Hoffnung gehabt, und daß sie enttäuscht wurde, ist das bitterste Geschehen in meinem Leben gewesen."369 Mit "Nationalismus" und "Anerkennung" bzw. "Verständigung" kombiniert Höfler Begriffe, die einander von vorneherein ausschließen. Diese Aussage erweckt den Eindruck, als hätte er noch Jahre danach von den Ereignissen des Dritten Reichs nichts verstanden. Außer der NSDAP gehörte Höfler der Wissenschaftlichen Akademie des NSD-Dozentenbundes an, für den er als Organisator und Redner auftrat. 370 Bei
364
Vgl. BDC Parteiakte Höfler, Mitgliedskarte Nr. 5 443 927. - Nach 1950 äußerte sich Höfler vor seinen Studenten nicht näher zu seiner NSDAP-Mitgliedschaft, aber er leugnete sie auch nicht (Auskunft Prof. Schier, 1.7.1993). 365 Vgl. BDC Parteiakte Höfler, Mitgliedskarte Nr. 5 443 927. - Das Formblatt "Anzeige über Zugehörigkeit und Tätigkeit in der NSDAP" weist Höfler sogar als NSDAP-Anwärter seit dem 1.12.1934 (Mgl.-Nr. 5 5904) aus. Höfler hatte es am 13.10.1938 unterschrieben (vgl. UAM E II N). - Die Angabe von Helmut Birkhan, Höfler hätte erst 1939 Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt, ist nachweislich falsch (vgl. Birkhan 1988, S.401). 366 Vgl. Birkhan 1988, S.401. 367 Vgl. BayHStA MK 43770, Lebenslauf Höfler, 15.3.1937, z.T. zitiert in Kap. 2.6.2.3. 368 Vgl. Kap. 4.2. 369 UAM E II N, Höfler an Rektor Gerlach, 7.3.1950. 370 Vgl. BayHStA MK 43770, Spruchkammer-Bescheid, 19.10.1948 (Ab.). - Vgl. hierzu auch Gajek [1993], S.13f.
4.3. Otto Höfler
327
der "Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums" (DA) leitete er die Forschungsabteilung für Altertumskunde und war Mitglied der Sektion "Deutsche Volkskunde". 371 Im "Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands" von Walter Frank arbeitete er im Sachverständigenrat mit als "Mittelsmann des Reichsinstituts zur germanistischen Disziplin und [...] zugleich als Kenner der nordischen Länder". 372 Deutliche Parallelen zwischen Cysarz und Höfler zeigen sich im kulturpolitischem Engagement, wozu diverse Auslandsreisen - zu privaten oder offiziellen Studienzwecken sowie zu Vorträgen - reichlich Anlaß boten. Nach einer "privaten" Forschungsreise nach Italien bemängelte Höfler die "relativ dürftige Ausstattung" der Bibliotheken vor allem mit deutscher wissenschaftlicher Literatur sowie das jüdische Sortiment in den Buchhandlungen. Hier glaubte er "grosse und wichtige Aufgaben" für die "deutsche Kulturpolitik" zu erkennen: "Im Buchhandel dominieren an ausländischem Schrifttum sehr auffallend französische und englische Bücher, die zudem sehr billig abgesetzt werden und die überdies durch eine wohlorganisierte Pressereklame propagiert werden. Auffallend häufig sieht man, in deutscher Sprache, aber auch in italienischer Übersetzung, Literatur aus der Systemzeit, darunter auch viel jüdische Literatur (Artur Schnitzler und ähnliche). Das wirklich deutsche Schrifttum, gerade auch der letzten Jahre ist in den Buchhandlungfenstern (wenigstens in Florenz und Verona, wo ich diesmal war) kaum zu sehen."373 Während seines langjährigen Aufenthalts in Schweden hatte Höfler zahlreiche Kontakte geknüpft, die er nutzen wollte, um "bei der Wiederherstellung normaler, bezw. guter wissenschaftlicher Beziehungen zu Schweden behilflich zu sein." 374 Da er für den Leiter der Dozentenschaft "auch vom politischen Gesichtspunkt aus der rechte Mann für ein solches Unternehmen" war, hielt sich Höfler im September 1940 für zwei Wochen in Schweden auf. 375 Im Anschluß daran berichtete er von "ausführlichen wissenschaftlichen und politischen Gesprächen": "Dabei fand ich wieder bestätigt, mit welcher Naivität die Zeitdarstellungen durch die Presse, deren überwiegende Westorientierung auch heute noch weiter besteht, auch von intelligenten Leuten aufgenommen werden. Im persönlichen Gespräch 371
Zur Zielsetzung der DA vgl. Röther 1980, S.200ff. Heiber 1966, S.551. 373 BayHStA MK 43770, Reisebericht, 7.5.1940. - Esther Gajek weist darauf hin, daß Höflers Forschungsthema in Italien durchaus politisch brisant war. Er untersuchte "Cangrande von Verona und das Hundesymbol der Langobarden" und bearbeitete damit "die (vor dem Hintergrund der Achse Berlin-Rom politische) Frage des Verhältnisses zwischen germanischer und römischer Kultur." (Gajek [1993], S.l2) 374 Ebd., Höfler an REM, 16.7.1940 (Antrag auf Studienreise nach Schweden). 375 Ebd., Leiter der Dozentenschaft (Bergdolt), 5.8.1940. 372
22 Bonk
328
4. Germanistik im Dritten Reich
konnte dabei vieles richtiggestellt werden, umso mehr, als ich die meisten der Fachgenossen seit zwölf und mehr Jahren persönlich gut kenne."376 Nach einer Dänemark-Reise beklagte sich Höfler in Berlin bitter über das lange Genehmigungsverfahren, das seine Vorträge beinahe verhindert hätte. Er vermutete ein grundsätzliches Mißtrauen gegen ihn, wogegen er sich vehement zur Wehr setzte: "Ich habe mich solchen Aufgaben noch nie entzogen, da ich nach vieljähriger eigener wissenschaftlicher Auslandstätigkeit nur allzu genau weiß, auf welch unglaublich heißem Boden man sich bewegt, wenn man, und gerade jetzt im Krieg das Reich als deutscher Gelehrter im Ausland repräsentativ vertreten soll. [...] Und ich darf [...] geradezu die Frage stellen, ob nicht gewünscht werde, daß ich in Hinkunft Aufforderungen zu solchen wissenschaftlichen Vorträgen von vorneherein ablehne. Sie werden es nach dem hier Vorgetragenen menschlich begreiflich finden, wenn ich mich veranlaßt sehe, geradezu diese persönliche Vertrauensfrage zu stellen."377 Nachdem das Reichserziehungsministerium Höflers Bedenken zerstreut hatte, wollte er erneut nach Kopenhagen reisen, wofür er wiederum politische Gründe ins Spiel brachte: "Ich bin einer der wenigen Ordinarien von Deutschland, die Nordische Philologie vertreten. Und wahrscheinlich der, der (nach 8-jährigem Aufenthalt im Norden) die engsten persönlichen Verbindungen im Norden hat. Die Pflege solcher Verbindungen auch im Kriege ist - bei der Intensität der englischen Bemühungen um die nordische Wissenschaft - zweifellos auch ein Politicum."378 Speziell für Skandinavien trat Höfler als Repräsentant des neuen Deutschland auf. Was Gierach für das Sudetenland und Cysarz für viele europäische Länder leistete, nämlich Propaganda im Sinne des nationalsozialistschen Staates zu treiben, das erbrachte Otto Höfler für den nordischen Raum. 379 Besondere Bedeutung kam diesem im Krieg zu, als Hitler-Deutschland die nordischen Länder zu erobern versuchte. Höfler engagierte sich bewußt als "Aufklärer" gegen alle kritischen Stimmen, was einen tief verankerten Glauben an die nationalsozialistische Sache voraussetzt. Davon schien auch das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) auszugehen, denn Höfler erhielt zusätzlich den Auftrag, "eine Denkschrift über die kulturpolitische Lage in Skandinavien fertigzustellen, die dem Reichsführer-SS im 376
Ebd., Reisebericht, 5.10.1940. Ebd., Höfler an REM, 22.5.1942. 378 Ebd., Höfler an REM, 25.8.1942. - In Höflers Personalakte befindet sich auch ein Schreiben des REM an das Rektorat, in dem das lange Bearbeitungsverfahren auf das A A und auf zu ungenaue Informationen von Seiten Höflers geschoben wird (vgl. UAM E II N, REM an Rekt., 16.7.1942). 379 Zu Gierach und Cysarz vgl. Kap. 4.1. und 4.2. 377
4.3. Otto Höfler
329
Führerhauptquartier vorgelegt werden soll." 3 8 0 Dagegen erhob das Auswärtige Amt (AA) allerdings Einwände, weil dieser "Sonderauftrag [...] vor allen Dingen nicht in das Aufgabengebiet des Reichsführers SS" fällt." 3 8 1 Demgegenüber interpretierte das RSHA den Auftrag als "nachrichtendienstlich", weshalb er "zur Zuständigkeit des R.F.-SS gehöre", und setzte sich über den Einspruch des A A hinweg. 382 Diese Kompetenzstreitigkeiten zwischen NS-Organisationen waren im Dritten Reich kein Einzelfall. 383 Letztendlich trugen sie zum inneren Verfall des totalitären Regimes mit bei. Abgesehen von seinem Dienst für die deutsche Kulturpropaganda verband Höfler die Skandinavien-Reisen mit einem weiteren Ziel: Er wollte die nordische "Abteilung" am Deutschen Seminar in München ausbauen und versuchte, dafür Literatur in Schweden und Dänemark zu beschaffen. 384 Auch hier schob er die kulturpolitische Motivation in den Vordergrund, wobei er München eine besondere Rolle zuwies: "Schon bei früherer Gelegenheit habe ich darauf hingewiesen, wie gross die kulturpolitischen Aufgaben der Skandinavistik gerade für die Universität München sein werden. Wenn der Norden künftig sehr viel stärker an Deutschland herangezogen werden soll, so kommt dabei angesichts des hohen Kulturstandes von Skandinavien, der Universität eine hervorragende, ja entscheidende Funktion zu. Dabei wird München aus dem Grund in vorderster Linie zu stehen haben, weil traditionsgemäss seit vielen Jahrzehnten gerade die kulturinteressierten Skandinavier vielleicht am liebsten nach München gehen. Der Ausbau der Skandinavistik ist also [...] von aktueller wissenschaftlicher und kultureller Bedeutung, ebenso auch von kulturpolitischer." 385
380
IfZ MA-148, S.9187, Bescheinigung vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD, 29.11.1942. 381 Ebd., S.9184, Aktennotiz AA, Referat D II, 8.10.1942. 382 BDC RSHA, Ref. III B5 an Reichsführer SS, 23.11.1942. - Laut Esther Gajek befindet sich in Höflers NSDAP-Akte im BDC ein "35-seitiges Gutachten über 'Die Entwicklung der geistigen Lage in Skandinavien", eine "sehr eigen-willige Deutung skandinavischer Geschichte und 'nordischen Charakters', die von stärkstem Antisemitismus durchzogen ist" (Gajek [1993], S.15). Diese Quelle fehlt in dem mir vom BDC übersandten Material. 383 Vgl. z.B. die Auseinandersetzungen zwischen dem "Amt Rosenberg" und seinen Gegnern (vgl. Bollmus 1970). 384 Höflers Venia lautete offiziell nur auf "germanische Philologie und Volkskunde", obwohl er von Anfang an einen Schwerpunkt auf die nordische Philologie setzte. Erst als er 1954 zum persönlichen Ordinarius für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde ernannt wurde, führt das VV die Skandinavistik in einer eigenen Rubrik auf (vgl. VV SS 1954). 385 BayHStA MK 407/3186, Höfler an Fak., 18.7.1941. 22"
330
4. Germanistik im Dritten Reich
Zwar gelang es Höfler, einige außerordentliche Zuschüsse zur Erweiterung der Bücherei zu erwirken. 386 Problematisch blieb es aber, die Fachliteratur in Dänemark, Norwegen und Schweden zu finden, da die intensivierte Nordforschung die Nachfrage stark erhöht hatte. Um die erforderlichen Devisen zu bekommen, nutzte Höfler seine Kontakte zum "Ahnenerbe" und wandte sich in einem Schreiben an den Reichsführer SS als "den Förderer der Germanenkunde und der germanischen Volkstumsarbeit". Als sein Ziel nannte er eine wissenschaftlich fundierte "Auseinandersetzung mit jenen skandinavischen 'Widerstandsnestern", um das "Geschichtsbild des antideutschen Skandinavismus" zu korrigieren: "Ich kann nun unter voller persönlicher wissenschaftlicher Verantwortung bezeugen, daß die Gemeinsamkeiten und Kräfte, die Deutschland seit zwei Jahrtausenden mit Skandinavien verbinden, so groß und wichtig sind, daß, wenn sie nur erst allgemein bekannt sein würden, daraus ein Geschichtsbild entstehen müßte, in dem Deutschland und Skandinavien als Schwestern erscheinen, nicht als Gegenspieler oder Feinde, wenngleich Deutschland dabei fast immer der führende und gebende Teil war." 387 Die Aufstockung der nordischen Bücherei wurde durch Höflers Lehrangebot am Deutschen Seminar erforderlich. Obwohl sein Lehrauftrag nicht explizit auf Nordische Philologie lautete, bildete sie doch von Anfang an einen Schwerpunkt. Dabei klammerte er die neuere Skandinavistik fast vollkommen aus: Nur im SS 1941 bot er "ausgewählte Kapitel" aus der "Skandinavischen Geistesgeschichte seit 1880" an. Bei dieser Veranstaltung rückte er auch von seinem sonst dominierenden philologischen Interesse ab. 388 In der Regel standen von Otto Höfler in jedem Semester drei Veranstaltungen auf dem Programm. 389 Zu einer bzw. zwei Vorlesungen kamen entweder
386
Vgl. ebd., z.B. KuMi an Rekt., 21.2.1940 (5000 RM); KuMi an Rekt.25.1.1941 (4 000 RM); KuMi an Rekt., 8.8.1941 (3 000 RM); KuMi an Rekt., 10.1.1942 (12 000 RM). 387 BDC Parteiakte Höfler, Höfler an Himmler, 24.3.1942. - In seinem Brief an Wolff (= SS-Obergruppenführer Karl Wolff, höchster SS- und Polizeiführer Italiens ?) erwähnt Höfler "die persönliche Anteilnahme des Reichsführers" in dieser Sache (vgl. ebd., Höfler an Wolff, 3.8.1942). - Zu Höflers Kontakten zum "Ahnenerbe" vgl. weiter unten. 388 Nach 1950 bezog Höfler auch die neuere nordische Literatur mit ein, "die ihn zwar interessiert hat, aber nie im Mittelpunkt seiner Arbeit stand." (Prof. Schier, 1.7.1993) 389 Die Gliederung des Hochschulbetriebs in Trimester brachte 1940 eine Reduktion auf zwei Vorlesungen. Trotz seiner Tätigkeit in Kopenhagen erhöhte sich ab dem SS 1943 die Zahl auf vier Veranstaltungen, die er blockweise abhielt (nach einer Aussage von seiner ehemaligen Assistentin Hildegunde Prütting, vgl. Kap. 2.6.2.3.).
4.3. Otto Höfler
331
"Übungen" oder ein "Vorseminar" sowie ein Seminar. Häufig konzipierte er die Hauptvorlesung in zwei Teilen über zwei Semester hinweg. 390 Bisweilen hingen Vorlesung und Seminar eng zusammen, z.B. befaßten sich im SS 1943 beide Veranstaltungen mit "frühgermanischer Sprachgeschichte". Manchmal nahm er auch das Vorlesungsthema später im Seminar wieder auf und umgekehrt. 391 Ab dem SS 1943 tauchte mit dem "Dissertanten-Seminar" eine neue Veranstaltungsform auf. Vermutlich entstand sie im Zusammenhang mit seinem Amt in Kopenhagen, das er im Mai 1943 antrat. 392 Da er nicht während der gesamten Vorlesungszeit in München sein konnte, lag es nahe, die Betreuung der Doktoranden an einem bestimmten Termin zusammenzufassen. Thematisch weisen seine Vorlesungen signifikante Parallelen zu seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf. 393 Höfler stellte das germanische Altertum aus sprachwissenschaftlicher, literatur-, sagen- und kulturgeschichtlicher Perspektive vor. Zur ersten Kategorie gehören überblicksartige Beiträge zur Sprachgeschichte sowie Kollegs mit propädeutischer Funktion, wie z.B. "Einführung ins Altnordische" (WS 1942/43). 394 Sie lassen vermuten, daß Höfler auch die Studienanfänger selber betreute. Die germanische Dichtung erläuterte er entweder in einem literaturgeschichtlichen Abriß, oder er griff einzelne Beispiele heraus. 395 Speziell für die "Edda" schien Höfler eine Art von Interpretations-Kolleg angestrebt zu haben. 396 An der Schnittstelle zwischen Dichtung und Sage bewegte sich z.B. die Vorlesung "Nibelungensage und Nibelungenlied" (III. Tr. 1940). Mit "Faust und die Faustsage" (SS 1943 und WS 1943/44) wählte er hier sogar einen mittelalterlichen Stoff aus. Eher einen Überblickscharakter hatt der "Grundriß der germanischen Altertumskunde" (I. Tr. 1940). Ein großer Anteil an seinem Vorlesungsangebot kommt den - im weitesten Sinn des Worts - kulturgeschichtlichen Themen zu. Hier stellte er die Verbindung zu Religionsgeschichte und allgemeiner Geschichte her, wenn er z.B. "Das germanische Königtum und seine religiösen Ursprünge" (SS 1944) behandelte. Sein besonderes Interesse galt der Entstehung und Ausbildung des
390
Vgl. z.B. "Die altgermanische Dichtung" (I und II, WS 1941/42 und SS 1942) oder "Frühgermanische Sprachgeschichte" (I und II, WS 1942/43 und SS 1943). 391 Z.B. "Nibelungensage und Nibelungenlied" (III. Tr. 1940) und "Übungen zum Nibelungenlied" (I. Tr. 1941); "Seminar: Ursprung und Wesen des altgermanischen Königtums" (SS 1941) und "Das germanische Königtum und seine religiösen Ursprünge" (SS 1944). 392 Vgl. weiter unten. 393 Vgl. weiter unten. 394 z.B. "Frühgermanische Sprachgeschichte" (I und II, WS 1942/43 und SS 1943). 395 Z.B. "Die altgermanische Dichtung" (I und II, WS 1941/42 und SS 1942). 396 Z.B. "Lesung und Erklärung ausgewählter Eddalieder" (WS 1939/40).
332
4. Germanistik im Dritten Reich
germanischen Staats. Speziell an Vorlesungen wie "Ursprünge und Grundformen des germanischen Staates" (WS 1943/44) oder "Die altgermanischen Gemeinschaftsformen, ihre Grundlagen und ihr Fortleben" (1938/39) fallen die Überschneidungen zu seinen eigenen Forschungen am meisten auf. 397 Über Religion, Sitte und Brauchtum der Germanen knüpfte er schließlich an die Volkskunde an. Dazu bot er diverse "Übungen" (z.B. WS 1938/39, 1939/40) oder Seminare wie z.B. über " Das Volksdrama" (II. Tr. 1940) an. 398 Obwohl sich in Höflers Vorlesungsprogramm durchaus Schwerpunkte erkennen lassen, bildete sich doch kein bestimmter Kanon heraus, wie er bei den Münchner Kollegen Hans Ferdinand Maßmann oder Walther Brecht nachzuweisen war. 399 Für seine Vorlesungen stützte sich Höfler auf Manuskripte, die ursprünglich zur Veröffentlichung gedacht waren, d.h., er unterschied im Prinzip nicht zwischen dem spezifischen Charakter ein Vorlesung und einer Publikation. Allerdings löste er sich in der Regel bald von der Vorlage, was ihren Aussagewert im Hinblick auf den Vorlesungsaufbau erheblich einschränkt. 400 Obwohl Höfler ab 1943 ein spezielles "Dissertanten-Seminar" einrichtete, kamen unter seiner Führung nur wenige Arbeiten zum Abschluß. 401 Nachweisbar sind lediglich fünf Dissertationen, zu denen er das Erstgutachten anfertigte. 402 Die Doktoranden betreute er sehr intensiv. 403 Günter Herold promovierte z.B. 1941 mit einer Arbeit zum "Volksbegriff im Sprachschatz des Althochdeutschen und Altniederdeutschen". 404 Dem Le-
397
Vgl. weiter unten. Vgl. die Liste der volkskundlichen Veranstaltungen in Gilch/Schramka 1986, S.83. - Höfler gehörte in der "Deutschen Akademie" außer der Abteilung "Deutsche Altertumskunde" (Leiter) auch der Sektion "Deutsche Volkskunde" an (vgl. BDC Parteiakte Höfler, DA-Protokoll, o.D.). Bei der Feier des 15. Jahrestags der DA-Gründung am 4.5.1940 hielt er den Festvortrag "Gab es ein Einheitsbewußtsein der Germanen?" (vgl. Harvolk 1990, S.40). 399 Vgl. Kap. 3.2.2. und 3.4.3. 400 Auskunft Prof. Schier, 1.7.1993. - Im Nachlaß befinden sich auch einige Vorlesungsmanuskripte aus der Zeit nach 1952. Für diese Information danke ich Frau Hanna Höfler, Wien. 401 Zum Dissertanten-Seminar vgl. auch weiter oben. 402 ygj 2. - Esther Gajek führt auch die Arbeit von Ursula Buettner über "Land und Erde im Rechtsbrauch" als Höfler-Dissertation auf (vgl. Gajek [1993], S.l 1). Entscheidendes Kriterium für diese Untersuchung ist aber der Erstreferent, und der war in diesem Fall Friedrich von der Leyen. Er übernahm die Betreuung von Otto Höfler und führte die Promotion zu Ende (vgl. Buettner 1947, S.l). 398
403 404
Auskunft Prof. Schier, 1.7.1993. Vgl. Herold 1940. - Seitenangaben ab sofort im Text.
4.3. Otto Höfler
333
benslauf des Verfassers nach muß er Höfler aus Kiel nach München gefolgt sein, wo er das examen rigorosum ablegte (vgl. S.314). Demzufolge handelte es sich ursprünglich um eine Kieler Dissertation, zu der der Impuls auch nicht von Höfler, sondern von dem Jenenser Professor Carl Wesle ausgegangen war (vgl. ebd.). Mit dem Begriff "Volk" untersuchte Günter Herold das Vorkommen eines zentralen Terminus des Dritten Reichs im Altdeutschen. Der erste Teil bringt Belege für den Volksbegriff in zahlreichen altdeutschen Dichtungen, die im zweiten Teil auf ein Moment der Entwicklung ausgewertet werden. Fragwürdig ist somit vor allem die Zielsetzung der gesamten Arbeit, die Herold als Beitrag zum "deutschwissenschaftlichen Schrifttum" (S.l 1) verstand: "Nur dann kann eine sprachgeschichtliche Arbeit fruchtbar sein, wenn die aus ihr gewonnenen Erkenntnisse eingeordnet werden in den Gesamtzusammenhang des völkischen Lebens der zu betrachtenden Zeit." (S.l3) In diesem Sinn entdeckt er speziell bei den althochdeutschen Volksbezeichnungen "die Einheit der Blutgenossenschaft" oder die "blutmäßige, sprachliche und kulturelle Einheit" (S.291). Dabei wirken diese Formulierungen ziemlich aufgesetzt, gewissermaßen wie ein Zugeständnis an die aktuellen Verhältnisse. Insgesamt wollte Günter Herold einen "Beitrag zur Wesenserkundung germanischer Volksauffassung" - so der Untertitel seiner Arbeit leisten. Ähnliches nahm sich Annemarie Lange-Seidl mit ihrer Dissertation zum Thema "Der germanische Zaubersänger und -spielmann" vor: "Wir fragen in dieser Abhandlung nach dem W e s e n des altgermanischen S p i e l m a n n s und S ä n g e r s , des urtümlichen Musikanten und seiner Einordnung in das Leben."405 Insbesondere die ausführliche Einleitung (S.3-30) verfolgt die Aufgabe, das deutsche Volk als die legitimen Nachfahren der Germanen aufzuwerten, denen sie ein musikalisches Empfinden als wesenseigen zuschreibt. Der Gegensatz "wesenseigen - artfremd" bestimmt das Denken, wie es vom nationalsozialistischen Regime auf allen Ebenen propagiert wurde. Wie der Betreuer Otto Höfler auf diese Arbeiten reagierte, kann nicht geklärt werden. 406 Noch vor ihrer Promotion wurde Annemarie Lange-Seidel Assistentin am Institut für Deutsche Philologie in München. Sie ersetzte damals ihren Mann Wolfgang Lange, der zum Kriegsdienst einberufen worden war. 407 Ihn hatte
405 406 407
Lange-Seidl 1944, S.30. - Seitenangaben ab sofort im Text. Die Promotionsakten im UA München waren mir nur bis 1933 zugänglich. Vgl. BayHStA MK 407/3186, Rekt. an KuMi, 28.4.1943.
334
4. Germanistik im Dritten Reich
Höfler vermutlich ebenfalls aus Kiel mit nach München gebracht und dem Bayerischen Ministerium als "besonders qualifizierte Kraft" für eine Assistentenstelle am Deutschen Seminar vorgeschlagen. 408 Nach Langes Promotion war auch seine Habilitation geplant, die jedoch im Untersuchungszeitraum nicht zum Abschluß kam. 4 0 9 Außerdem arbeitete Hildegunde Prütting als seine wissenschaftliche Hilfskraft, die nach Höflers Tod die Inventarisierung seines Nachlasses übernahm. 410 In seiner langen Universitätslaufbahn sammelte Otto Höfler eine Reihe von Schülern um sich, die sich später selbst der Wissenschaft widmeten. Zu ihnen gehören z.B. Helmut Birkhan, Otto Gschwantler, Heinrich Beck, Edith Marold und Kurt Schier. 411 Im wesentlichen rekrutieren sich aus ihnen die Mitarbeiter der Festschriften von 1968 und 1976. 412 Nachweislich zu seinen Münchner Hörern zwischen 1938 und 1945 zählten Wolfgang Lange und Mohammed Rassem.413 Im Umgang mit seinen Studenten muß Höfler eine Faszination ausgestrahlt haben, der sich niemand entziehen konnte. Helmut Birkhan schilderte den späteren Wiener Ordinarius als charismatische Persönlichkeit: "Fast alle Studenten Höflers wurden von seiner Persönlichkeit beeinflußt, ja mitgeprägt. Gegenüber dem ziemlich verzopften Studienbetrieb vor seiner Ankunft in Wien wirkten seine menschliche Wärme und Aufgeschlossenheit, die Toleranz, mit der er sich in den Seminaren Widerspruch gefallen ließ, die schon erwähnte 'Besessenheit' der Fragestellung, der detektivische Spürsinn, mit dem er die Bausteine seiner Hypothesen und Theorien zusammentrug, die granseigneurale Großzügigkeit, mit der er zu Heurigen und Faschingsfesten einlud, so anziehend, daß es von jenen, die sich stärker 408 Ebd., Höfler an KuMi, 4.12.1942. - Wolfgang Lange wurde am 29.6.1915 in Kiel geboren. 409 Lange wurde später Ordinarius in Göttingen (vgl. Gilch/Schramka 1986, S.60). - Er promovierte 1940 bei Höfler über das Thema "Der Drachenkampf'. 410 Vgl. Kap. 2.5. - Vgl. Birkhan 1992, S.XVI - Die Inventarisierung ist noch nicht abgeschlossen. - Für diese Auskunft danke ich Frau Hanna Höfler, Wien. 411 Helmut Birkhan wurde Höflers Nachfolger in Wien. Er betätigte sich als sein Biograph und als (Mit-)Herausgeber seiner Festschriften und posthum seiner Schriften (vgl. Birkhan/Gschwantler 1968, Birkhan 1976, Birkhan 1988 und Birkhan 1992). Otto Gschwantler lehrt heute Skandinavistik in Wien. Auch er arbeitete bei den Festschriften mit (vgl. Birkhan/Gschwantler 1968, Birkhan 1976 und Birkhan 1992). Heinrich Beck ist Ordinarius für Germanische Philologie in Bonn. Er betreut als Hauptherausgeber die Neuauflage des "Reallexikon der Germanischen Altertumskunde". - Edith Marold ist Ordinaria in Kiel. - Kurt Schier leitet heute das Institut für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde an der LMU. 412 Vgl. Birkhan/Gschwantler 1968 und Birkhan 1976. - Vgl. auch die Liste der Schüler in Birkhan 1992, S.XIV. 4,3 Auskunft Prof. Schier, 1.7.1993.
4.3. Otto Höfler
335
in der Altgermanistik zu engagieren gedachten, kaum einen gab, der ihm nicht verfallen wäre." 414 Von Höflers Lehre profitierten vor allem die älteren Studenten, da der Ordinarius "kein Handwerkszeug" vermittelte. 415 Trotzdem haben in den Münchner Jahren manche "Einführungs"-Veranstaltungen propädeutischen Charakter. 416 Dem Interesse des Anfängers, ein größeres Stoffgebiet eröffnet zu bekommen, kam Höfler allerdings nicht entgegen.417 Er lieferte auch keine umfassende Bibliographie oder keine Gliederung zu seiner Vorlesung, "denn an die hätte er sich sowieso nie gehalten." Er gab keinen Überblick über die gesamte Forschung, sondern griff nur exemplarisch Strömungen heraus, die seine Position stützten oder ihr auch widersprachen. Für Fragen zeigte er sich offen, so daß auch die Vorlesung oft den Charakter eines Gesprächs annahm. Dennoch hatte Höfler "unübersehbar die Neigung zu Monologen", da ihn "die Sache so faszinierte." Außerdem tendierte er zu Wiederholungen z.B. von Grundpositionen oder auch Anekdoten. Im Seminar stand die Diskussion eines jeweils vorgegebenen Themas im Mittelpunkt. Den Referenten pflegte Höfler häufig zu unterbrechen, um ausführlich zu einem bestimmten Aspekt Stellung zu nehmen, was "pädagogisch zwar wenig sinnvoll, aber aus fachwissenschaftlicher Sicht stets förderlich war." Besonders lange und intensiv wurde in den sogenannten "Samstags-Seminaren" gearbeitet, zu denen Höfler zu sich nach Grünwald einlud. Sie dauerten - mit Pausen - von 10 Uhr vormittags bis zum späten Abend. In den Pausen ergaben sich sehr viele persönliche Gespräche, denn Höfler war an den persönlichen Belangen seiner Studenten überaus interessiert. Daß Höfler die wissenschaftlichen Grundlagen bei seinen Hörern voraussetzte, deutet Helmut Birkhan als Parallele zu Höflers Lehrer Rudolf Much. 4 1 8 Von dem Wiener Ordinarius für germanische Sprachgeschichte und Altertumskunde wurde Höfler in seinen Forschungszielen und seiner Methode entscheidend geprägt. Aus Muchs Schule gingen außer ihm Lily Weiser, Richard Wolfram und Robert Stumpfl hervor. Da ihre jeweiligen Forschungen um das Thema "germanische Männerbunde" kreisten, bürgerte sich auch die Bezeich414
Birkhan 1992, S.XIII. - Helmut Birkhan erwähnt auch eine Karikatur, die Otto Höfler als "Schlangenbeschwörer und neuen Orpheus" darstellt (S.XIV). - Vermutlich bedingt diese Faszination die noch heute anhaltende Verehrung der Schüler für ihren Lehrer, vor der manch kritisches Wort verblaßt. 415 Ebd., S.XIV. 416 Vgl. weiter oben. 417 Das Folgende nach Auskünften von Prof. Schier, 1.7.1993. - Wie eingangs erwähnt, beziehen sich diese Aussagen auf die Nachkriegsjahre in München und werden unter Vorbehalt auf die Zeit zwischen 1938 und 1945 übertragen. 418 Vgl. Birkhan 1992, S.XIV.
336
4. Germanistik im Dritten Reich
nun g "Männerbund-Sc hule" ein. 4 1 9 Seinen Beitrag dazu legte Höfler als Habilitationsschrift in Wien vor. 1934 erschien der erste Band mit dem Titel "Kultische Geheimbünde der Germanen", das auf damals aktuellen ethnologischen Theorien basierte, die er in die Germanische Altertumskunde transferierte. 420 Höfler ging von der Existenz von Männerbünden auch bei den Germanen aus. Er fragte nach "der religiösen, sozialen und geschichtlichen Bedeutung" bündischer Gliederungen der Germanen und ihren späteren Erscheinungsformen bis in die Gegenwart (S.VII). An den bekannten Volkssagen vom "Wilden Heer" kommt er zu einer neuen Sicht der mythologischen Bezüge jener kultischen Verbände als "heroisch-ekstatische, ethisch streng verpflichtende V e r b u n d e n h e i t d e r L e b e n d i g e n m i t i h r e n v e r e h r t e n T o t e n " (S.VIII). Eine politische Dimension erhalten Höflers Ausführungen, indem er den "h e r ο i s c h - d ä m o n i s c h e n T o t e n k u l t der Mannschaftsverbände" als "eine Quelle religiöser, ethischer und historisch-politischer Kräfte von ungeheurer Macht" (ebd.) versteht. Mit den Worten von Helmut Birkhan: "Für Höfler waren die Germanen das Volk mit der staatsbildenden Kraft schlechthin."421 Klaus von See zeigt, daß Höfler damit ein Germanenbild formte, das dem Nationalsozialismus entgegenkam. Durch die beiden Momente Ekstase und staatsbildende Funktion der germanischen Männerbünde gelang es, eine direkte Linie zwischen der germanischen Frühzeit und der Gegenwart des Dritten Reichs zu ziehen. 422 Läßt man diese einengende ideologische Perspektive beiseite, bleibt aus fachwissenschaftlicher Sicht festzustellen, daß Otto Höfler hier wie in all seinen Arbeiten "brennende Fragen" aufgriff, die bis heute noch nicht ausdiskutiert sind. 423 Erich Gierach, Höflers Kollege später in München, nannte das Werk "eines der wichtigsten und erfolgreichsten Bücher, die in den letzten Jahren erschienen sind; kein Forscher, der sich mit Germanenkunde befaßt, kann an ihm vorübergehn." 424 Dennoch war Höflers Buch bei den Zeitgenossen nicht unumstritten, worin sich jedoch prinzipielle - politische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen zwischen diversen NS-Organisationen widerspiegelten.
419 420
Bockhorn 1989, S.21. Vgl. Höfler 1934 (kein weiterer Band erschienen). - Seitenangaben ab sofort im
Text. 421
Birkhan 1988, S.390. - Vgl. die Parallelen bei Erich Gierach (Kap. 4.1.). See 1983, S.32ff. 423 Auskunft Prof. Schier, 1.7.1993. 424 IdS Schriften E. Gierach, Rezension: Höfler, Kultische Geheimbünde, 1934 (Masch. Ms.). - Zu weiteren Stellungnahmen vgl. Gajek [1993], S.7f. 422
4.3. Otto Höfler
337
Matthes Ziegler beanstandete bei den "Männerbünden" die "weltanschauliche Auswirkung seiner mißverständlichen Begriffssprache" und wehrte sich gegen "Ekstase und dämonische Raserei" als urgermanische Eigenschaften, die dem eigenen heroischen Germanenbild nicht entsprachen. 425 Diese Kritik erschien in den "Nationalsozialistischen Monatsheften", die dem Parteiideologen Alfred Rosenberg zugerechnet werden, der 1934 zum "Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP" ernannt worden war. Als Gegner des "Amtes Rosenberg" profilierte sich "Das Ahnenerbe", dem der Rezensent Eugen Fehrle nahestand. Er rechnete Höflers Werk zu "den besten Büchern der deutschen Volkskunde", das "altgermanischen Brauch und Mythos mit den heute noch lebenden Sitten unseres Volkes" verknüpft. 426 Er verteidigte damit die Veröffentlichung eines freien Mitarbeiters der SS-Stiftung. 427 Ursprünglich waren die "Kultischen Geheimbünde" auf zwei Bände konzipiert. Es blieb jedoch bei der Veröffentlichung des ersten Bands. 428 Höfler widmete ihn seinem Lehrer Rudolf Much (vgl. S.[V]) und hob zusätzlich dessen Anteil am Entstehen des Buchs hervor: "Er hat als Lehrer wie als Gelehrter strengste kritische Schärfe mit dem Weitblick vereinigt, der stets nach den Lebenszusammenhängen Ausschau hält - und so hat er seine Schüler in eine Germanistik geführt, die zur Geschichte hindrängt, weil sie im Sinne Jacob Grimms 'Wissenschaft vom Volk' sein will." (S.XI) Damit beriefen sich Germanisten des 20. Jahrhunderts bewußt auf die Anfänge ihrer Disziplin in der Romantik. Grimms Auffassung vom Volk als unverbildetes Schöpferpotential wurde allerdings realiter verzerrt zur völkischen Gemeinschaft auf der Grundlage des gemeinsamen Bluts. Im selben Themenkreis wie seine Habilitationsschrift bewegte sich die einzige Edition von Otto Höfler. 1937 und 1939 gab er die deutsche Übersetzung von "Kultur und Religion der Germanen" von Wilhelm Grönbech in zwei Bänden heraus. 429 In diesem Zeitraum vollzog sich auch sein Wechsel von
425
Ziegler 1936, S.46. Fehrle 1934, S.191. 427 Vgl. weiter oben. - Eine weitere Kontroverse zwischen beiden Organisationen entzündete sich wenig später erneut an diesem Germanenbild. Diesmal hießen die Kontrahenten Otto Höfler und Bernhard Kummer, der 1942 zum Professor in Jena ernannt wurde (zu diesen Auseinandersetzungen vgl. die Korrespondenz Höflers mit dem REM in BayHStA MK 43770; vgl. auch Birkhan 1991, S.XIf., und Gajek [1993], S.7f.; zu Kummer vgl. Heiber 1991/1992, Bd.l, 1991, S.404f.). 428 Von dem für Bd.2 vorgesehenen Material ist viel bereits an anderer Stelle publiziert (Auskunft Prof. Schier, 1.7.1993). 429 Vgl. Höfler 1937-1939. - Seitenangaben aus Bd.l ab sofort im Text. 426
338
4. Germanistik im Dritten Reich
Kiel nach München. Die dänische Originalausgabe des vierbändigen Werks von Wilhelm Grönbech war bereits 1909-1912 erschienen. Daß die deutsche Übersetzung während des Dritten Reichs veröffentlicht wurde, ist symptomatisch für die Blüte der Germanen-Forschung respektive den "Germanenmythos in der Germanistik der dreißiger Jahre". 430 Bei dem Dänen Grönbech stieß Höfler auf Parallelen zu seiner eigenen Sicht des germanischen Altertums, speziell der Mythologie: "Weitab von dem, was eine ästhetisierende Mythologie zu lehren gewohnt ist, macht Grönbech den Mythos mitten im realen Leben der Alten als religiöse und ethische Gewalt sichtbar, die das ganze Dasein gestaltet hat. Nicht von Fabeln redet er, sondern von den formenden Kräften der Wirklichkeit." (S.7) Eine zentrale Rolle spielen bei Grönbech die Gemeinschaftsformen wie z.B. Sippe, Stamm oder Geschlecht, durch die der einzelne erst existieren könne (vgl. S.30). Aus diesem Grund muß, so der Herausgeber Höfler, das germanische Altertum jedem "atomistischen Denken" unverständlich bleiben (S.9). Statt dessen setzt er darauf, sich mit Grönbech die Kontinuität vom Früher zum Heute bewußt zu machen - eine Forderung, die auch in Höflers eigenen Arbeiten laut wird: "Den lebendigen Zusammenhang der Zeiten, in dem die Blutsgemeinschaften stehen, die Verpflichtung durch das Gewesene wie durch das Werdende, hat er als mächtigste geistige Wirklichkeit erwiesen. Bisher unbegreifliche Züge in Kult und Sitte der Germanen werden erst durch dieses Ineinander der Zeiten erfaßbar." (S.9) Gleichzeitig wirkt Höfler dem seit Tacitus' "Germania" gängigen Vorurteil des "barbarischen Germanen" entgegen, indem er ihm eine "harte Größe" (S.10) zuschreibt. Die dritte große Veröffentlichung zur germanischen Religionsgeschichte legte Otto Höfler erst lange nach Kriegsende und damit außerhalb des Untersuchungszeitraums vor. 431 Da die Vorarbeiten zum "Germanischen Sakralkönigtum" jedoch lange zurückreichten, soll es im folgenden kurz vorgestellt werden. 432 Wie bei den "Kultischen Geheimbünden" folgten auf den ersten Band keine weiteren. 433 Ähnlich wie bei Konrad Hofmann oder Michael Ber-
430
Vgl. den gleichlautenden Aufsatz von Ruth Römer (Römer 1983). Vgl. Höfler 1952. - Seitenangaben ab sofort im Text. 432 Band 1 war bereits 1943/44 gesetzt (vgl. S.XV). - Vgl. auch den Vortrag "Der Runenstein von Rök und das altgermanische Königtum", den Höfler 1942 am Deutschen Wissenschaftlichen Institut in Kopenhagen hielt (vgl. BayHStA MK 43770, Reisebericht, 5.5.1942). 433 Vgl. weiter oben. - Laut Helmut Birkhan gibt es noch ein Manuskript zu einem zweiten Band (vgl. Birkhan 1988, S.391). Höfler selbst deutete zwei weitere Bände an 431
4.3. Otto Höfler
339
nays hat das wissenschaftliche Œuvre von Otto Höfler eher fragmentarischen Charakter. 434 Dabei beschäftigte sich Höfler mit einem sehr umfangreichen Forschungsgebiet. Manche Projekte erstreckten sich über viele Jahre und wurden nie vollendet, andere erschienen als Ausschnitt z.B. in Aufsatzform. 435 Zuerst liefert Höfler eine ausführliche Deutung des "Runenstein von Rök" (S.l-82). Im zweiten Teil (S.83-256) behandelt er die "germanische Individualweihe", d.h. "die persönliche, individuelle Bindung von Menschen an heilige Mächte" (S.83). Anhand von zahlreichen Belegen aus Dichtung und Sage will er nachweisen, daß es sich dabei nicht um "eine bloß literarische Erscheinung" handelt: "Wir wollen demgegenüber zeigen, daß diesem in der Literatur wiederholt auftauchenden Motiv letztlich eine Einrichtung des wirklichen Lebens und echter Glaube zugrunde gelegen hat." (S.83) Damit stand auch diese Arbeit unter "Höflers Fernziel [...], das durch A. Heusler falch entworfene Bild eines religionslosen germanischen Altertums zurechtzurücken." 436 Diese Korrektur geschah allerdings nicht um ihrer selbst willen, sondern hatte eine durchaus politische Dimension. Durch eine sogenannte " V o l k sk u n d e d e s P o l i t i s c h e n " soll die Gegenwart ein Bewußtsein für die "germanische Kontinuität" entwickeln, proklamiert Otto Höfler in dem Vortrag "Das germanische Kontinuitätsproblem", der auch gedruckt erschien. 437 Der Wissenschaft komme die Aufgabe zu, statt nach Brüchen nach Zusammenhängen mit der germanischen Frühzeit zu fragen und so "die alles übergreifende Einheit unseres Lebens gerecht zu Bewußtsein [zu] bringen" (S.32) Ziel sei es, den "Bann" der "römischen Kontinuität des Geschichtsbewußtseins" (S.l 1) zu lösen und letztendlich zu einem neuen "Selbst-Bewußtsein" (S.32) zu gelangen. Die Fortdauer der germanischen Kultur sieht Höfler in vier Bereichen, in dem "der Rasse, der Sprache, des Raumes und des Staates" (S.l2). Die unein(vgl. Höfler 1952, S.XV). - Nach Auskunft von Prof. Schier reichen die Unterlagen im Nachlaß nicht aus, um einen Folgeband herauszugeben. 434 Vgl. Kap. 3.2.3. und 3.4.1. 435 Auskunft Prof. Schier, 1.7.1993. 436 Birkhan 1988, S.403. - Heusler seinerseits nannte Höfler einen "Neutöner" und "Fanatiker" (vgl. Düwel/Beck 1989, Heusler an Ranisch, 29.11.1936, S.610; Heusler an Ranisch, 24.1.1937, S.613). 437 Vgl. Höfler 1937, S.31. - Seitenangaben ab sofort im Text. - Höfler hielt diesen Vortrag im Juli 1937 auf dem Deutschen Historikertag in Erfurt. Er erschien als eine "Schrift des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands" und belegt Höflers Zusammenarbeit mit dieser NS-Einrichtung unter der Leitung von Walter Frank.
340
4. Germanistik im Dritten Reich
geschränkt positive Konnotation von Kontinuität tritt klar zutage, wenn Höfler die "sprachliche Uneingebrochenheit" als "eine unermeßliche Kraft selbständigen Seelentums" (S. 11) erlebt. Ein erneuerndes Moment durch Einflüsse von außen steht für den Verfasser überhaupt nicht zur Diskussion. Höflers Stoßrichtung entsprach damit exakt dem nationalsozialistischen Denken. Die germanischen Völker treten als Schöpfer einer eigenen Kultur auf und nicht nur als Eklektiker von römisch-antiken Traditionen. Durch die Kontinuität der germanischen Kultur, die er auf die "Entwicklung der völkischen Lebensformen" (S.6) reduziert, erweist sich gleichzeitig die Überlegenheit der nordischen über die südliche Rasse. Als Höfler diese Theorie der germanischen Kontinuität entwickelte, hatte sich der Nationalsozialismus in Deutschland bereits fest etabliert. Im nachhinein trug der Germanist Höfler zu seiner "wissenschaftlichen Begründung" bei. Dem Ideal von Wissenschaftlichkeit widersprach allerdings der Ausschließlichkeitsanspruch dieser "Theorie", die den Gedanken an eine mögliche Alternative überhaupt nicht zuließ. Das Ergebnis aller wissenschaftlichen Bemühungen scheint vielmehr von Anfang an durch das Ziel bereits vorgegeben. Konsequent kehrt Höflers These von der germanischen Kontinuität in dem Aufsatz "Germanische Einheit" wieder. 438 Diese Einheit des Germanentums über alle geographischen Grenzen hinweg will er auf verschiedenen Ebenen nachweisen, z.B. im Körperbau (vgl. S.5), in der "politischen Baukraft" (S.15) oder in gemeinsamen Werten wie Heil, Friede und Ehre (vgl. S.16f.). Weitere Belege findet er in Dichtung (S.18ff.), Religion (S.22ff.) und Sprache (S.33). 439 Summarisch begründet er die gemeinsame Kultur mit der "E i nh e i t d e s L e b e n s g e s e t z e s": "Wir sprachen hier von jener Gemeinsamkeit der germanischen Kulturen, die sich nur begreifen läßt aus der Gemeinsamkeit des in diesem Riesenraum wirkenden Volkstums, der Rasse, der Entelechie, die aus gleichem Wesen Gleichartiges schafft. Also von einer Gemeinsamkeit nicht bloß der Gebilde, sondern darüber hinaus der Bildungskräfte. Wir richten damit den Blick auf die gestaltenden Gesetze des Lebens." (S.29) Da die germanische Einheit auch auf biologischen Gründen basiert, setzt sie sich fort, "so lange das verwandte Blut herrscht." (S.31) Damit aber wird der Transfer in die Gegenwart möglich: Die "Einheit des Germanischen" wird als
438
Vgl. Höfler, Germanische Einheit, 1941. - Seitenangaben ab sofort im Text. Mit der Theorie von der "spontanen Parallelentfaltung" zeigen sich hier auch Ansätze zur historischen Linguistik, die Höfler aber erst in den 50er Jahren intensivierte (vgl. die Werkbibliographien: Gschwantler 1968, Schriftenverzeichnis 1984 und Höfler 1992, S.842-848). 439
4.3. Otto Höfler
341
"Gesetz" erklärt, "unter dem die Entwicklung unserer Geschichte steht." (S.34) Obwohl Höfler an keiner Stelle explizit vom NS-Staat spricht, sind die Bezüge unverkennbar. Besonders deutlich werden sie in der Erläuterung der politischen Verfassung der germanischen Staaten. Der "Gefolgschafts-Staat" trägt die idealisierten Züge des "Führer"-Staats: "Hier aber steht ein einzelner Mann auf und wählt sich seine Leute. Gewiß, es ist freier Wille, wer sich einer Gefolgschaft, einem Gefolgsherrn anschließen will. Aber entscheidend für die Aufnahme bleibt, ob der Gefolgsherr den sich Meldenden in die Gefolgschaft, s e i n e Gefolgschaft, aufnimmt. Die Treuebindung zwischen Führer und Gefolge ist freilich eine durchaus gegenseitige. Und der Stolz und die Würde bleiben ungeschmälert die eines Freien. Aber Entscheidung und politische Exekutive wie die militärische Gewalt liegt beim Gefolgsherrn, nicht bei seinen Leuten." (S.10) Die Geschlossenheit der Volksgemeinschaft in ihrem Kampf gegen äußere Feinde und das Ziel der "Erweiterung des Volksraumes" (S.l5) finden ihre unmittelbare Entsprechung in den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Höflers Aufsatz erschien 1941 im zweiten Band der Zeitschrift "Von deutscher Art in Sprache und Dichtung", die Gerhard Fricke, Franz Koch und Klemens Lugowski herausgaben. In einem programmatischen Vorwort zu Band 1 definiert Franz Koch die Zielsetzung des Unternehmens: "Der totale Krieg, wie wir ihn erleben, ist nicht nur eine militärische, sondern zugleich auch eine geistig-kulturelle Auseinandersetzung größten Maßes. Geht es doch nicht um irgendwelche Einzelziele, sondern um den Untergang eines überlebten und siechen Zustandes und um die Schaffung eines neuen und gesunden, um den Untergang des alten und den Aufbau eines neuen Europa. Vor Deutschland erhebt sich die ungeheure Aufgabe, diesem neuen Europa auch eine neue geistige Ordnung zu geben, geistig zu durchdringen, was das Schwert erobert hat. In der Erkenntnis dieser geschichtlichen Stunde haben sich die deutschen Geisteswissenschaften aufgemacht, um auf ihre Weise am Kriege teilzunehmen, indem sie der künftigen friedlichen Auseinandersetzung vorarbeiten." 440 Speziell für die Germanistik komme es darauf an, "ein Bild von deutscher Art im Spiegel der deutschen Sprach- und Dichtungsgeschichte [zu] umreißen" und so "einen Beitrag zu jenem Selbstfindungsstreben unseres Volkes zu leisten." 441 Für dieses Ziel setzte sich auch Otto Höfler ein, indem er beim
440 441
Koch 1941, S.V. Ebd., S.VIII und VI.
342
4. Germanistik im Dritten Reich
zweiten Band den Komplex "Frühzeit" betreute und selbst zwei Beiträge dazu lieferte. 442 Höfler akzeptierte aber nicht nur in diesem "Kriegseinsatzwerk der Hochschulgermanisten" die Maximen des nationalsozialistischen Staates.443 Es gibt eine Veröffentlichung, in der er sich mit dem Antisemitismus identifizierte und an seiner "wissenschaftlichen Begründung" mitarbeitete. 1936 war am Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands eine Forschungsabteilung "Judenfrage" eingerichtet worden. Bei der Eröffnung in München erläuterte Walter Frank als Präsident des Reichsinstituts ihre Zielsetzung. 444 Nach dem Sieg der nationalsozialistischen Revolution in der Politik sollten sich die Kräfte nun auf die Wissenschaft konzentrieren. Gefordert war eine " e r n e u e r t e Wissenschaft" und eine " e r n e u e r t e Hohe Schule", d.h. ein von Juden freier Wissenschaftsbetrieb. 445 Alle Disziplinen sollten zur Lösung der internationalen Judenfrage als "einem der wichtigsten und bedeutsamsten Probleme der europäischen Geschichte" beitragen und die Macht "dieses Königtums Israel" brechen. 446 Zur Publikation der Forschungsergebnisse etablierte sich ein eigenes Organ, die "Forschungen zur Judenfrage". 447 Hier veröffentlichte Otto Höfler den Aufsatz "Friedrich Gundolf und das Judentum in der Literaturwissenschaft", der zu seinen Lebzeiten in keiner Werkbibliographie auftauchte. 448 Höfler "entlarvt" den Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf als Juden, der er trotz aller "Tarnversuche" gewesen sei. Als solche wertet er z.B. die harsche Kritik an dem Juden Heine (vgl. S.117f.) sowie die scharfe Analyse und Verurteilung der jüdischen "Verwesungsvorgänge" (S.l 19). Dies seien letztendlich nur weitere Beweise für die Dreistigkeit und den Machtanspruch dieses "Künders deutschen Geistes" (S.l25). Dabei könne "Professor Gundel-
442 Vgl. Höfler, Germanische Einheit, 1941 (vgl. weiter oben). - Vgl. Höfler, Deutsche Heldensage, 1941. - Zum Mitarbeiterkreis gehörten außerdem Friedrich Neumann aus Göttingen und Hans-Friedrich Rosenfeld aus Greifswald, der später auch an der LMU lehrte. 443 Meissl 1989, S.l43. 444 Vgl. für das Folgende Frank 1937. - Zu Walter Frank und seinem Reichsinstitut vgl. Heiber 1966. 445 Ebd., S.30f. 446 Ebd., S.23 und 19. 447 Allgemein zu den "Forschungen" vgl. Heiber 1966, S.458f. 448 Vgl. Höfler, Friedrich Gundolf, 1940. - Seitenangaben ab sofort im Text. - Vgl. die Werkbibliographien: Gschwantler 1968, Werkverzeichnis 1984 und Höfler 1992, S.843. - Helmut Birkhan begründet das Fehlen des Aufsatzes mit dem Festschriftencharakter der frühen Werkverzeichnisse (vgl. Birkhan 1988, S.399).
4.3. Otto Höfler
343
finger" (ebd.) - mit Genugtuung macht er von dessen eigentlichem Namen Gebrauch - "jüdische Grundzüge" (S.l26) nicht leugnen, wie z.B. "ganz primitive Literateninstinkte" (S.126) oder die Verachtung von Volk und Geschichte als "Bildungserlebnis" (S.l30). Gerade Gundolfs Intelligenz, die Höfler nicht bestreitet, erzeuge ein Moment der Tragik. Gleichzeitig schien sie jedoch die Gefahr zu erhöhen, die von diesem Juden für das deutsche Volk ausgehe: "Und gerade weil es eine so brillante Begabung, ein so fanatisch zäher Wille waren, die hier wirkten, wiegt dieses Schicksal um so schwerer. Man mag es tragisch nennen, nicht nur für den einen Mann, sondern für den gesamten Typus. Aber nicht wir sind schuld an dieser Tragik. An uns ist es, sie klar zu erkennen und dafür zu sorgen, daß sie nicht verderblich werde für unser eigenes Volk." (S.l33) Höflers Aufsatz basierte vermutlich auf einem Vortrag zum selben Thema, den er 1939 auf der 4. Arbeitstagung des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, Abteilung Judenfrage, in München hielt. 4 4 9 Höflers Referat wurde von dem Berichterstatter H. Löffler - wohl ein Parteimann - eher zwiespältig beurteilt: "So interessant und in vielem aufschlußreich die Ausführungen Höflers auch waren, so konnten sie mich im letzten nicht befriedigen. Man vermißte beim Vortragenden den politischen Willen, die letzten Konsequenzen zu ziehen und das verheerende Wirken Gundolfs auf dem Gebiete der Literaturwissenschaft herauszustellen."450 Die Kritik muß erstaunen, falls Höfler in seinem Vortrag nicht zu sehr von dem späteren Aufsatz abwich, in dem er an seiner antijüdischen Haltung keinen Zweifel gelassen hatte. Diese Haltung wurde auf die Wagner-Verehrung in Höflers Elternhaus zurückgeführt und im Rahmen des Wiener Antisimetismus der zwanziger Jahre gesehen.451 Bis zu einem militanten Antisemitsmus entwickelte sie sich allerdings nicht, was insbesondere die Freundschaft mit dem Juden Julius Pokorny bezeugt, die auch während des Kriegs und Pokornys Emigration anhielt. 452 Damit stellt sich die Frage, ob Höfler in seinem Innersten wirklich überzeugter Antisemit war. 453 Persönliche Äußerungen wie Briefe oder Tagebücher fehlen, um diese Annahme zu bestätigen oder zu widerlegen. Andererseits
449
BDC Parteiakte Höfler, Bericht über die 4. Arbeitstagung vom 4.-6. Juli 1939 von H. Löffler, 13.7.[19]39, S.13ff. und 19. - Vgl. vor allem die inhaltlichen Parallelen. 450 Ebd., S.14f. 451 Vgl. Birkhan 1988, S.399. 452 Vgl. Birkhan 1992, S.XIIL 453 Prof. Schier ist der Ansicht, daß Höfler durchaus an jüdisch-religiösen, insbesondere alttestamentarischen Fragen wissenschaftlich interessiert war. 2
Bonk
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4. Germanistik im Dritten Reich
muß einem Ordinarius bewußt gewesen sein, welche Wirkung eine Publikation mit diesem Inhalt an dieser Stelle zeitigen würde. 454 Auch in seiner prinzipiellen Auffassung von einer national gebundenen Wissenschaft stimmte Höfler mit der offiziellen Parteilinie überein. In einem Schreiben an "Das Ahnenerbe" plädierte er für "solide Arbeiten, die unter voller und uneingeschränkt strenger Verantwortung deutscher Wissenschaftlichkeit erscheinen": "Sie wissen, dass ich es für ein Grundübel halte, wenn heute 'politische' Wissenschaft und gründliche Wissenschaft zwei getrennte Gebiete sind, die erste mit den Belegen in einer Weise umspringt, dass diese Produkte naturgemäss immer nur ganz kurze Zeit leben, bis sich dann eben doch, in längstens ein paar Jahren, herumspricht, dass die Belege der Theorie widersprechen, - während die 'gründliche' Wissenschaft sich mit Belanglosigkeiten die Zeit vertreibt." 455 Offenbar wollte Höfler nicht zugeben, daß eine "politische" und eine "gründliche" Wissenschaft einander per definitionem ausschließen. Das heißt zwar nicht, daß Wissenschaft im politiklosen Raum stattfindet, aber sie gibt ihren Charakter auf, wenn sie sich einer festen politischen Vorgabe verschreibt und unterordnet. Freiheit der Wissenschaft gilt seit Wilhelm Humboldt als eine der unabdingbaren Voraussetzungen für ihren Fortschritt. Bei Otto Höfler ergaben sich im Untersuchungszeitraum deutliche Parallelen zwischen Vorlesungsangebot und Forschungsinteresse. Im Mittelpunkt standen die Untersuchungen zum germanischen Altertum im Hinblick auf religions·, literatur- und sprachgeschichtliche Aspekte. Seine Beiträge zur historischen Linguistik und zur Faustforschung sind erst später zu datieren. 456 Im Sinne "einer umfassenden deutschkundlichen Orientierung der Germanistik" betrieb er Volkskunde, zu der er auch explizit Veranstaltungen leitete. 457 Sein neues Germanenbild trug Züge von kultisch-ekstatisch gebundenen Gemeinschaften mit staatenbildender Energie. Darauf baute er seine germanische Kontinuitätstheorie auf, mit der er die Fortdauer der altgermanischen Kultur bis in die Gegenwart proklamierte. Damit spielte er der NSDAP ein Instrument in die Hände, das ihre Ideologie wissenschaftlich fundierte und die
454 In der zweiten Phase seiner Tätigkeit in München (1950-1957) äußerte sich Höfler vor seinen Studenten nie über seine antisemitischen Veröffentlichungen, distanzierte sich aber auch nicht davon (Auskunft Prof. Schier, 1.7.1993). 455 BDC Parteiakte Höfler, Höfler an Sievers [= Sekretär des "Ahnenerbes"], 3.8.1938 456 Vgl. z.B. Höfler, Otto, Stammbaumtheorie, Wellentheorie, Entfaltungstheorie, in: PBB 77 (1955), S.30-66 und 424-476, Fortsetzung in: PB Β 78 (1956), S. 1-44. Vgl. z.B. Höfler 1972. 457 Meissl 1989, S.139.
4.4. Fazit
345
Überlegenheit der nordischen Rasse bis in die Gegenwart des Dritten Reichs sicherte. Gegen diese Einvernahme erhob Höfler keinen Einspruch, sondern er zeigte sich bis 1945 dessen Ideen verpflichtet, wenn er der völkischen Gemeinschaft, dem Mythos des Blutes und der Rassenlehre offiziell huldigte. Angesichts dieser Äußerungen verwundert es, wie Höfler 1948 im Entnazifizierungsverfahren nur als "Mitläufer" eingestuft werden konnte.
4.4. Fazit Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 setzte in Deutschland eine tiefgreifende Umstrukturierung der Universitäten und ihrer Lehrinhalte ein. 458 Am Institut für Deutsche Philologie in München zeigten sich die Auswirkungen der neuen Hochschulpolitik mit Verzögerung. Erst 1935 trat die entscheidende Wende ein: Walther Brecht wurde zwangsemeritiert, und Carl von Kraus schied aus Altersgründen aus. Für die Neubesetzung dieser Lehrstühle galten neue Richtlinien, bei der die fachwissenschaftliche Kompetenz um die politische Zuverlässigkeit ergänzt bzw. von ihr überdeckt wurde. Diese Kriterien waren auch maßgeblich für die Errichtung des dritten Ordinariats "für Germanische Philologie und Volkskunde", das unmittelbar auf die Konjunktur der Germanenforschung antwortete. 459 Ab 1938 lag die Institutsleitung in München in der Hand von Erich Gierach, Herbert Cysarz und Otto Höfler, die aufgrund ihres Verhaltens und ihrer Veröffentlichungen als "linientreu" eingestuft werden müssen. Alle drei traten in München der NSDAP bei. Für Gierach und Cysarz war es ein Wechsel aus der Sudetendeutschen Partei, der sie zuvor in Prag angehört hatten. Aus dieser Zeit resultiert ihre enge Verbundenheit mit der sudetendeutschen Minderheit, die sie in ihrem "Volkstumskampf" aktiv unterstützten. Dieser Aktivismus hatte bei Gierach eine deutlich volksbildnerisch und -erzieherische Komponente, die in München etwas zurücktrat. Cysarz' kulturpolitisches Engagement, das sich in zahlreichen Vortragsreisen äußerte, spielte sich demgegenüber in einem größeren europäischen Rahmen ab, während Höfler vor allem im skandinavischen Raum als Repräsentant der "Deutschen Wissenschaft" auftrat. Die Veröffentlichungen aller drei Germanisten lassen eine breite Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Ideologie erkennen, vor allem im Hinblick auf die Rassentheorie, den völkischen Gedanken und die "Germanophilie". Damit trugen sie zu ihrer Verbreitung und Etablierung von der "Hauptstadt der Bewegung" aus bei. 458 459
23*
Vgl. allg. Heiber 1991/1992. Vgl. allg. Engster 1986.
346
4. Germanistik im Dritten Reich
Nach außen hin zeigte sich das Vorlesungsangebot davon weniger berührt. Allerdings fehlte fast durchweg das Material, um diese Beobachtung fundiert zu untermauern. Sicher muß jedoch eine Feststellung von Ulrich Hunger unterschrieben werden, daß "der Alltagsbetrieb - soweit er ohne Reibungen und Neuerungen ablief - in der Regel nicht dokumentiert" ist. 4 6 0 Nach 1945 gelang es nur Otto Höfler, wieder an eine Universität zurückzukehren: Zuerst lehrte er an der LMU, dann in seiner Heimatstadt Wien. Doch auch Herbert Cysarz wurde ab 1951 mit staatlichen Versorgungsbezügen ausgestattet. Beider Stellungnahmen zu ihrem Verhalten im Dritten Reich konnten hier nur punktuell angerissen werden, wären jedoch eine eigene Untersuchung wert.
460
Hunger 1987, S.288.
5. Zusammenfassende Schlußbemerkungen
Man befindet sich in einer Selbsttäuschung, wenn man meint das einfachste historische Faktum ohne eine Zutat von Spekulation konstatieren zu können. Man spekuliert eben nur unbewusst, und es ist einem glücklichen Instinkte zu verdanken, wenn das Richtige getroffen
wird.
(Hermann Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 1909)
Die vorliegende Arbeit unternahm es, die Entwicklung der Deutschen Philologie an der L M U München zwischen 1800 und 1945 nachzuvollziehen. Dabei ergänzten sich wissenschafts-, universitäts-, fach-, institutions- und personengeschichtliche Fragestellungen. Diese Vielfalt der Perspektiven eröffnete den Zugang zu einem Thema, das aufgrund seiner Komplexität hier nicht ausdiskutiert werden konnte. Die einzelnen Ergebnisse wurden jeweils am Ende eines Unterabschnitts bzw. eines Hauptteils bereits zusammengefaßt. 1 Um überflüssige Wiederholungen zu vermeiden, folgt hier nur ein knapper Überblick über die Hauptresultate. Diese lassen sich zum Teil auch erst in einer Art Synthese aus den Einzelanalysen gewinnen. A m Anfang der Untersuchung stand der Etablierungsprozeß der Germanistik im Fächerkanon der Universität München, wie er in der Geschichte des Deutschen Seminars als Institution sichtbar wurde. Da von den ersten Germanistik· Vorlesungen bis zur Gründung des Instituts fast ein Jahrhundert verging, war es berechtigt, von einem Institutionalisierungsprozeß zu sprechen. Für die Anfänge war die allmähliche Emanzipation der Deutschen Philologie von der Klassischen Philologie charakteristisch. Einzelne Stationen wurden durch die Errichtung des ersten Extraordinariats für altdeutsche Sprache und Literatur (1828 Johann Andreas Schmeller) und die Umwandlung in ein Ordinariat (1835 Hans Ferdinand Maßmann) markiert, schließlich durch die Gründung des Lehrstuhls für neuere Literatur (1874 Michael Bernays). Dieser Schritt leitete innerhalb der Fach- und Institutsgeschichte eine Teilung in eine ältere und eine neuere Abteilung ein, wie sie bis in die Gegenwart besteht.
1
Vgl. z.B. das Resümee für jeden Ordinarius oder die Abschnitte "Rückblick" (Kap. 3.5.) und "Fazit" (Kap. 4.4.).
348
5. Zusammenfassende Schlußbemerkungen
Speziell für die Etablierung der neueren deutschen Literaturgeschichte übernahm die L M U eine Vorreiterrolle in Deutschland. Das Seminar für neuere Sprachen (1876 gegründet) fungierte als Vorläufereinrichtung bis zur Ausgliederung und Gründung eines eigenen Deutschen Seminars (1891/92 Matthias von Lexer). Im Vergleich zu den anderen deutschen Universitäten erfolgte dieser Schritt verhältnismäßig spät, denn die Hauptwelle der Institutsgründungen setzte 1871 nach der Gründung des Deutschen Reiches ein. Die Ursachen dafür waren nicht auf ministerieller Seite zu suchen, sondern vor allem auf den Widerstand des damaligen Lehrstuhlinhabers Konrad Hofmann zurückzuführen. Die einzelnen Vorgänge verrieten viel von der Mentalität eines machtbewußten Universitätsprofessors aus dem 19. Jahrhundert. Ein Kennzeichen für die Auf- und Ausbauphase des Instituts bis 1933 war die Häufung von Habilitationen, die chronologisch eingeordnet vorgestellt wurden. 2 In diesem Zeitraum wurde auch der Grundstein zu den neuen Disziplinen Theaterwissenschaft und Volkskunde gelegt, die sich erst in den siebziger bzw. sechziger Jahren von der Deutschen Philologie emanzipieren konnten. Damit wiederholten sich die Vorgänge um die Institutionalierung eines neuen Universitätsfachs,wie sie im 19. Jahrhundert zu verzeichnen waren, auch im 20. Jahrhundert. Allerdings hatte jetzt die Deutsche Philologie die Rolle der Klassischen Philologie übernommen. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zeigten sich in einer rigiden Personalpolitik: Zwangsemeritierung (1937 Waither Brecht) und Berufung von parteikonformen Germanisten gingen Hand in Hand. Nach 1945 kehrten die meisten der Dozenten an die Universität München zurück, die während des Dritten Reichs entweder hier oder an anderen Hochschulen gelehrt hatten. Von einem personellen Neubeginn konnte also keine Rede sein. Die nächste Untersuchungsebene betraf die Entwicklung der Fachinhalte und Methoden, die an Forschung und Lehre der Ordinarien festgemacht wurde. Für den Zeitraum bis 1933 ließ sich ein klares Moment der Kontinuität ausmachen, bedingt durch die lange Verweildauer der Ordinarien in ihrem Amt sowie durch die Verwandtschaft der Forschungsansätze. Statt zur Ausweitung des Forschungsspektrums neigten die Münchner Germanisten eher zur Tradierung des Bewährten. Ausnahmen bildeten der "Komparatist" Konrad Hofmann, der Junggrammatiker Hermann Paul sowie Walther Brecht. Mit Brecht kam 1927 ein Vertreter der Geistesgeschichte an die LMU. Zu diesem Zeitpunkt hatte diese literaturwissenschaftliche Methode bereits ihre
2
Vgl. Tab. 3 und Abb.
5. Zusammenfassende Schlußbemerkungen
"Blütezeit" hinter sich, die zwischen 1910 und 1925 anzusetzen ist. 3 Ihre Hauptträger lehrten an anderen Hochschulen, z.B. Friedrich Gundolf in Heidelberg, Rudolf Unger in Basel, Halle und Zürich, Hermann August Korff in Frankfurt/Main. Eine Ausnahme bildete Fritz Strich, der erst 1929 aus München nach Bern berufen wurde. 4 Die Erweiterung des Methodenspektrums fand im wesentlichen ohne eine Beteiligung der Münchner Fachvertreter statt. Dabei hatten einige "Geistesgeschichtler" ihre wissenschaftliche Ausbildung an der L M U erhalten (z.B. Rudolf Unger). 5 Zwischen den (privaten) Forschungs- und den (offiziellen) Lehrinteressen bestand in den meisten Fällen Kongruenz. Unterschiede fielen bei Johann Andreas Schmeller, Konrad Hofmann und Walther Brecht auf. Interessante Abweichungen gab es auch im Hinblick auf die individuelle Neigung und Begabung zur Lehre, die bei Michael Bernays am stärksten ausgeprägt waren. Mit Hilfe von Vorlesungsmanuskripten konnte für viele Ordinarien das Bild des Universitätslehrers konkretisiert werden. Der letzte Hauptteil behandelte die Rolle der Münchner Germanisten während der NS-Zeit. Die Konjunktur der Germanenforschung hatte dem Deutschen Seminar eine Aufstockung auf drei Ordinariate gebracht. Für alle drei Lehrstuhlinhaber ließen sich deutliche Berührungspunkte zu ideologischen Tendenzen des Dritten Reichs nachweisen. Ihre Veröffentlichungen spiegelten nationalsozialistisches Gedankengut wider bzw. trugen zur Formulierung der NS-Ideologie bei. Die Ergebnisse ihrer Forschungen waren durch die ideologische Perspektive geprägt. Aus diesem Grund muß vielen Arbeiten der Charakter der Wissenschaftlichkeit weitgehend aberkannt werden. Auch in ihrem persönlichen Verhalten präsentierten sich die Ordinarien am Deutschen Seminar in München linientreu. Neben ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP arbeiteten sie in diversen NS-Organisationen mit. Im Ausland traten sie als Repräsentanten der "Deutschen Wissenschaft" auf und trugen auch auf diese Weise zur Absicherung der NS-Diktatur bei. Nicht nur durch den geistigen Führungsanspruch, durch den deutsche Hochschullehrer seit dem 19. Jahrhundert als "Elite" auftraten, sondern auch durch ihren realen (wissenschafts)politischen Einfluß lieferten Erich Gierach, Herbert Cysarz und Otto Höfler das abschreckende Beispiel für die unheilvolle Verknüpfung von Wissenschaft und Politik. 6
3
Vgl. König/Lämmert 1993. Vgl. Kap. 2.4.1.2. 5 Vgl. auch weiter unten. 6 Zu den "Deutschen Hochschullehrern als Elite" vgl. den gleichlautenden Sammelband Schwabe 1988. 4
350
5. Zusammenfassende Schlußbemerkungen
Auf den gesamten Untersuchungszeitraum bezogen, liegt die Frequenz der Lehrstuhlbesetzungen relativ niedrig. Alle Ordinarien lehrten ziemlich lange manche mehrere Jahrzehnte - in München. Einige erhielten zwar einen Ruf von einer anderen Universität, doch lehnten sie ihn jeweils ab (z.B. Carl von Kraus, Otto Höfler). Ein Wechsel von einem Münchner Lehrstuhl aus auf ein Ordinariat an einer anderen Universität im deutschsprachigen Raum kam nicht vor. Angesichts dieser Kontinuität läßt sich ein Moment der Statik nicht ganz leugnen, was allerdings kein München-spezifisches Phänomen ist. Andererseits ist Kontinuität eine Voraussetzung für eine prägende Wirkung der Lehre und somit auch positiv zu werten. Die Tradition wurde auch durch eine Lehrer-Schüler-Kette gesichert, die sich zum Teil über mehrere Generationen hinweg fortsetzte. Auf Johann Andreas Schmeller und Hans Ferdinand Maßmann folgte Konrad Hofmann, des einen Protégé und des anderen Schüler. Carl von Kraus setzte massiv seinen Einfluß ein, um seinen Schüler Erich Gierach nach München zu holen. Auch dessen Nachfolger Eduard Hartl hatte in den zwanziger Jahren seine Anstellung am Deutschen Seminar dem Eintreten von Kraus zu verdanken. Dieselben Verbindungen ließen sich auch in der Neugermanistik beobachten. Nach Michael Bernays' freiwilligem Rücktritt vom Lehramt bestieg Franz Muncker den Lehrstuhl für deutsche Literaturgeschichte. Muncker war gleichermaßen Bernays- und Hofmann-Schüler, so daß die Lehrer-Schüler-Beziehungen sogar über die Grenze zwischen Alt- und Neugermanistik hinausgriffen. 7 Nach dem "Lehrer-Schüler-Paar" Waither Brecht und Herbert Cysarz setzte sich die Muncker-Tradition nach 1945 fort. Nachdem sein ehemaliger Habilitand Walther Rehm die Annahme des Rufs zurückgezogen hatte, wurde Hans Heinrich Borcherdt zum Ordinarius ernannt - ebenfalls ein ehemaliger Muncker-Absolvent. Diese Beobachtung läßt sich auch an anderen deutschen Hochschulen machen, es handelt sich also nicht um eine Ausnahmeerscheinung im Wissenschaftsbetrieb. 8 Im 19. Jahrhundert war es vielmehr sogar die Regel, daß ein ehemaliger Schüler den Lehrstuhl seines Lehrers übernahm. Trotz dieser zahlreichen personellen Verknüpfungen über Jahrzehnte hinweg, trotz der gelungenen Protektion der eigenen Schüler an der L M U , gehört eine "Münchner Schule" der Germanistik - im Gegensatz zur Berliner oder
7
Eine Grenze, die bei Munckers Ernennung zum Extraordinarius de facto noch nicht so ausgeprägt war, wie sie nach der Seminargründung durch das Amt des 1. und 2. Institutsvorstands auch nach außen hin sichtbar wurde. 8 Vgl. exemplarisch die Linie Karl Lachmann - Wilhelm Scherer - Erich Schmidt in Berlin.
5. Zusammenfassende Schlußbemerkungen
Leipziger Schule - nicht zur Terminologie der Fachgeschichtsschreibung. 9 Verbindet man mit der wissenschaftlichen Schulenbildung in erster Linie eine methodische Einengung, stellt sich das Manko eher als Pluspunkt dar. 10 Dennoch kamen einige wegweisende Neuerungen vom Deutschen Seminar an der LMU. Hier lehrten etablierte Wissenschaftler, was die Attraktivität des Studiums am Deutschen Seminar erhöhte. Als Mundartenforscher gab Schmeller einen Rahmen vor, der ihm noch heute (fast) ungeteiltes Lob zukommen läßt. Hermann Pauls Leistungen auf grammatikalischem und lexikalischem Gebiet sind bis zur Gegenwart unumstritten. Mit seiner strengen Philologisierung setzte Carl von Kraus neue Standards in der Edition mittelhochdeutscher Texte (z.B. Walther von der Vogel weide, Minnesang). Nach 1945 und damit außerhalb des Untersuchungszeitraums entwickelte sich erneut eine große mediävistische Tradition in München (z.B. mit Hugo Kuhn). Der Name von Michael Bernays steht für den Beginn der wissenschaftlichen Behandlung der neueren deutschen Literatur. 11 Die historisch-kritische Lessing-Edition von Franz Muncker ist noch heute als vorbildlich anzusehen. Diese Leistungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Gros des Forschungs- und Lehrbetriebs am Deutschen Seminar in München statt auf Innovation auf Tradition setzte. Dies entspricht gleichzeitig einem Charakteristikum dieser Institution, die den Fortbestand der wissenschaftlichen Lehre und Forschung garantieren soll. Vielleicht ist es deshalb charakteristisch, daß sich hier zwar viele bedeutende Germanisten habilitierten, diese jedoch bald an eine andere Universität wechselten und dort "Karriere" in ihrem Fach machten. Um nur einige Beispiele zu nennen: Rudolf Unger, Julius Petersen, Fritz Strich. Damit stellt sich die Frage, ob sie an der Münchner Hochschule nicht die erforderliche Freiheit zu methodischen Innovationen fanden. Andererseits erhielten sie am Münchner Seminar gewissermaßen den Grundstock, um später an einer anderen Hochschule ein eigenes unverwechselbares Profil zu gewinnen - vor allem mit theoretischen Beiträgen zur Literaturwissenschaft.
9
Die Absicherung konnte beabsichtigt, aber auch eher ungewollt gewesen sein, wie z.B. der Fall Bernays - Muncker zeigt (vgl. Kap. 3.4.2.). 10 Außerdem fehlen hier Anlässe für Auseinandersetzungen mit anderen "Schulen", die bekanntlich bis ins Persönlich-Beleidigende gehen können (vgl. die Ausführungen zum Nibelungenstreit zwischen der Berliner und Leipziger Schule in Kap. 3.3.1.). 11 Bernays leitete die philologische Behandlung der neueren deutschen Literatur allerdings bereits vor seiner Münchner Zeit ein, in der er nur mehr wenige Beiträge zur Forschung leistete.
352
5. Zusammenfassende Schlußbemerkungen
Hauptverbindungslinien bei den Berufungen bestanden zu Freiburg, Würzburg und Wien. 1 2 Hermann Paul kam aus Freiburg nach München, während fünf Münchner Germanisten einen Ruf von dort annahmen. Der Austausch zwischen München und Würzburg betraf Matthias von Lexer, in umgekehrter Richtung Oskar Brenner, Roman Woerner und Johannes Alt. Zwei Dozenten (Kraus und Kranzmayer) wechselten aus Wien an die Isar, Höfler ging 1957 in die Donau-Metropole. Die Zusammenarbeit konzentrierte sich damit vor allem auf den - im weitesten Sinn - süddeutschen Raum. Das beweist, daß die Kooptationsstrategie, also die gezielte Wahl des Nachfolgers mit Blick auf die bestehenden Verhältnisse, im personellen, methodischen und mentalen Bereich voll gegriffen hat. Es wäre interessant, der Frage nachzugehen, ob sich hier nach 1945 Veränderungen feststellen lassen. Die Hoffnungen auf eine Fortsetzung der Forschungen richten sich aber nicht nur auf den Zeitraum nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. In dieser Untersuchung der Germanistik in München wurde nur ein lokal und zeitlich begrenzter Ausschnitt aus der allgemeinen Fachentwicklung behandelt. Der Umfang des Untersuchungszeitraums forderte statt Detailforschung die Konzentration auf die wesentlichen Strukturen. Als historische Studie unterliegt sie der von Hermann Paul einleitend zitierten Prämisse, die einige prinzipielle Überlegungen nach sich zog. Für die vorliegende Arbeit hieß das konkret, den Grad der Spekulation durch gründliche Quellenarbeit so klein wie möglich zu halten. Es hieß aber auch, sich der Vorläufigkeit der Ergebnisse bewußt zu sein. Derzeit noch unzugängliche Quellen könnten eine Revision in Teilaspekten bzw. eine Ergänzung der hier erzielten Resultate notwendig machen. In diesem Sinn versteht sich die Untersuchung als ein Schritt auf dem nie endenden Weg wissenschaftlicher Forschung.
12 Vgl. Tab. 5. - Königsberg war ein Sonderfall, da H. H. Borcherdt bereits vor seiner Berufung als Ordinarius nach München einen Lehrauftrag an der LMU hatte.
Anhang
Tabellen und Abbildung
Tabelle 1: Anzahl der am Deutschen Seminar entstandenen Dissertationen je Dozent und Jahr (1877 - 1950) Diese Tabelle gibt an, wie viele Dissertationen pro Jahr jeder Dozent als Erstreferent betreut hat. Die Reihenfolge der Namen ergibt sich aus dem Eintrittsdatum sowie aus dem Rang und Titel (Ordinarien vor Nicht-Ordinarien) des Dozenten. Die grau gerasterten Felder markieren den Zeitraum der offiziellen Tätigkeit an der LMU. Vorübergehende kürzere Tätigkeiten an anderen Universitäten (z.B. Lehrstuhlvertretungen, Gastprofessuren) blieben unberücksichtigt. Ausschlaggebend für die Zuordnung der Dissertation zu einem bestimmten Jahr war nicht das Datum des Gutachtens, sondern des examen rigorosum, mit dem die Promotion erst abgeschlossen ist. Die beiden Termine weichen bisweilen stark voneinander ab. Deshalb tauchen z.B. Dozenten als Betreuer von Dissertationen auch dann auf, wenn sie offiziell schon längst nicht mehr an der LMU tätig sind. Die Tabelle wurde anhand folgenden Materials erstellt: 1. Resch/Buzas 1978, 2. Hochschulschriftenverzeichnis, 3. Promotionsakten aus dem UA München: UA Ο I 78p - Ο Ν ρ (SS 1950),1 4. gedruckte und maschinenschriftliche Dissertationen in der UB München.
1
Selber einsehen konnte ich nur die Akten bis 1933. Für den Zeitraum danach war ich auf die Unterstützung der wissenschaftlichen Hilfskräfte im UA München angewiesen, für die ich mich herzlich bedanke.
356
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