Deutsche Mystik 3423240644


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Deutsche Mystik
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Deutsche Mystik

manesse im dtv

manesse im dtv

Deutsche Mystik A usgew ählt, ü b ertragen und eingeleitet von Louise G nädinger

D eutscher Taschenbuch Verlag M anesse Verlag

Oktober 1996 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München ©Manesse Verlag, Zürich Gesamtkonzept: Max Bartholl Umschlagbild: Illustration zu H. Seuses (Horologium Sapientiae» (Brüssel, 15. Jhdt.) Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • i s b n 3-423-24064-4

D E U T S C H E M Y S T IK

U nd ich hörte eine Stimme vom Him m el her rufen: Schreibe: Selig die Toten, die im H errn sterben, von jetzt an; ja, spricht der Geist, sie sollen ausruhen von ihren M ühen; denn ihre Werke begleiten sie. Offb. 14,13 * Dem Andenken meines Vaters, Hans Gnädinger

H IL D E G A R D V O N B IN G E N (1098-1179) *

Hildegard von Bingen wurde 1098 als zehntes Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim und seiner Frau Mechthild in Bermersheim bei Alzey (Rheinhessen) geboren. Achtjährig über­ nahm die der Benediktinerregel verpflichtete Einsiedlerin Jutta von Spanheim (um 1090 bis 1136) das Kind, um es zusammen mit anderen Schülerinnen zu erziehen. Zwischen 1112 und 1115 legte Hildegard ihre Ordensversprechen ab und wurde nach Juttas Tod 1136 Vorsteherin des kleinen Konvents. 1151 übersiedelte die ange­ wachsene Schwesterngemeinschaft in das von Hildegard erbaute Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen; später gründete sie ein weiteres Klo­ ster am gegenüberliegenden Rheinufer bei Eibin­ gen. Nach eigener Bestätigung besaß Hildegard die Gabe der visionären Schau seit früher Kindheit. Doch erst nach langer Krankheitszeit, bereits zweiundvierzigjährig, schrieb sie ab 1141 ihre von einer erklärenden Stimme begleiteten Ge­ sichte auf. Der Benediktinermönch Volmar vom benachbarten Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg half ihr dabei. Eine malerisch begabte Mitschwester wirkte als Buchillustratorin mit. Hildegards Schriften wurden durch mehrere kirchliche Instanzen geprüft. Nach autobiogra­ phischen Angaben zuerst durch den Magister und Abt auf dem Disibodenberg, dann zusätz­ lich durch die zuständige bischöfliche Kirchen-

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behörde in Mainz, weiter durch Papst Eugen III. Wohl durch die Vermittlung Bernhards von Clairvaux (um 1090 bis 1153) erteilte der Papst auf der Synode von Trier 1147/48 die Erlaub­ nis zur Fortsetzung von Hildegards erstem Werk, der Visionsschrift Scivias (Wisse die Wege). Durch ihre Sehergabe und ihr prophetisches Auftreten wurde Hildegard zu einer gesuchten Ratgeberin in naturkundlichen und medizini­ schen, aber ebenso in politischen Belangen. Rund dreihundert echte Briefe Hildegards sind bis heute nachgewiesen. Unter den vielerlei Adres­ saten befinden sich Papst und Kaiser, auch die jüngere Visionärin Elisabeth von Schönau (um 1129 bis 1164). Hildegard nimmt in ihren Briefen zu allen damals aktuellen Zeitfragen Stellung. Als öffentlich kirchliche Mahnerin unternahm sie darüber hinaus - eine Seltenheit für eine Frau (damals wie heute) - vier Predigtreisen: eine Mainfahrt führte sie zwischen 1158 und 1161 bis Bamberg, eine Reise 1160 über Trier nach Loth­ ringen, eine weitere Fahrt zwischen 1161 und 1163 führte rheinabwärts bis Siegburg und Köln, und 1170/71 besuchte sie verschiedene schwäbi­ sche Klöster. Trotz der empfindlichen Konstitution und einer außergewöhnlichen Last an Verantwor­ tung und Arbeit verstirbt Hildegard im hohen Alter von über achtzig Jahren am 17. Septem­ ber 1179. Hildegards schriftliches Werk ist vielfältig, umfangreich und in jeder Beziehung außer-

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ordentlich. Das in den Jahren zwischen 1141 und I I 51 entstandene Offenbarungsbuch Scivias (Wisse die Wege) ist gefolgt vom Liber vitae meri­ torum (Buch der Lebensverdienste; 1158-1163) und vom Liber divinorum operum, auch Liber de opera­ tione genannt (Buch von den Werken bzw. dem Wirken Gottes; 1163-1173/74). Dazu entstehen Hildegards einmalige natur- und heilkundliche Schriften, die sogenannten Physica —ein Tier-, ein Pflanzen- und ein Steinbuch sowie eine Elementenlehre - und die Abhandlung Causae et curae über Ursache und Heilung von Krankheit. Hauptsächlich für die Mitschwestern, deren Vorsteherin Hildegard war, notierte sie Erklä­ rungen zu den Evangelien, der Benediktsregel und zum Glaubensbekenntnis. Zur Erbauung schrieb sie die Viten der Heiligen Rupert und Disibod, auch ein Singspiel für Solostimme und Chor, den Ordo Virtutum (Ordnung der Tugenden), der die Umkehr und Rückkehr der Seele zu Gott darstellt. Für den eigenen liturgischen Gebrauch dichtete und komponierte Hildegard zudem geistliche Gesänge; 77 Antiphonen, Responsorien, Hymnen und Sequenzen sind erhalten. Bis heute ein Rätsel bilden die Geheimschrift (Lit­ terae ignotae) und die Geheimsprache (Lingua ignota), die Hildegards theologisch bedingtes In­ teresse fanden. Die unbekannte Sprache mit un­ bekanntem Alphabet umfaßt rund 900 Wörter, nach Sachbereichen geordnet, und stellt die Ver­ schlüsselung einer besonderen Mitteilung vom Himmel dar.

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Hildegard von Bingen verstand sich in ihrem charismatischen Auftrag als Seherin und Prophe­ tin in der Nachfolge der alttestamentlichen Pro­ pheten und Seher wie auch des neutestamentlichen Sehers Johannes, des Apostels und Liebesjüngers. Zwar wollte sie kein Zukunftswissen vermitteln, jedoch verbindliche Belehrung über die die ganze Schöpfung umfassende christliche Heilslehre erteilen. Gott in seinem Sein und Le­ ben bestimmt und durchdringt nach Hildegard den gesamten Kosmos, insbesondere den Men­ schen als das Ebenbild Gottes wie auch des Kosmos. Hildegards theologische und heilsge­ schichtliche Schau bestimmt deren ethische Vor­ stellungen vom richtigen Verhalten des Men­ schen. Wie der Mensch sich konkret in dem von Gott belebten Mikro- und Makrokosmos zu be­ nehmen habe, versuchen vor allem die natur­ kundlich-medizinischen Schriften, aber auch die heilsgeschichtlich ausgerichteten Visionsbücher festzulegen. Gewiß, die Ausdrucksform der Schauungen und Auditionen als solche, dazu das literarische Darstellungsverfahren in lateinischer Sprache erschwert den Zugang zu Hildegards Theologie und theologisch bestimmter Kosmo­ logie. Doch erschlösse sich bei entsprechender Bemühung eine großartige ganzheitliche Welt­ auffassung, die gerade auch im heutigen Zeit­ punkt, im Sinne von Scivias (Wisse die Wege), hilfreich sein könnte. Bereits damals hatte Hildegards ungewöhn­ liches und eigenständiges, vor allem auch an-

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spruchsvolles Werk eine wohl schwer abzuschät­ zende, doch eher geringe Nachfolge gefunden. Immerhin hat sich die heilsgeschichtliche Scivias (Wisse die Wege) in zehn Handschriften erhalten, von denen sechs noch aus dem 12. Jahrhundert stammen. Trotzdem, wenn auch noch in Latein, bildet es einen Ausgangspunkt und Anfang der im Rheinland und ihm angrenzenden Gebiet sich begründenden deutschsprachigen Mystik, die gerade in ihrer visionären Ausformung immer wieder von Frauen getragen war.

SCIVIAS (W ISSE DIE W EGE) *

Das E rstw erk unter Hildegards von Bingen Vi­ sionsschriften fuhrt den «sprechenden» Titel Scivias (Wisse die Wege). Das Buch besteht aus 26 Einzelvisionen und je darauf folgenden, den Text bzw. das Bild auslegenden Auditionen. Eine M it­ schwester Hildegards hat unter deren Aufsicht den SciViiti-Codex in seinen wichtigsten Partien m it einmalig schönen und eindrücklichen Buch­ malereien illustriert. Hildegard von Bingen schickt dem Buch Wisse die Wege ein öffentliches Zeugnis voraus. Es sollte der Beglaubigung dienen, daß die geschilderten Visionen sam t ihrer Auslegung von G ott aus­ gegangen seien. Besonders die Eröffnungsvision m uß die Echtheit des Geschauten und Gehörten und die Aufrichtigkeit der Seherin bestätigen.

Und siehe! Im dreiundvierzigsten Jahre meiner Lebenszeit sah ich, da ich in großer Furcht und zitternder Gespanntheit auf eine himmlische Schau ausgerichtet war, einen überaus hellen Glanz. Aus ihm erscholl eine Stimme vom Him­ mel und sprach zu mir: «O schwacher Mensch, Asche von Asche und Moder von Moder, verkünde und schreibe auf, was du siehst und hörst! Doch da du furchtsam zum Reden und einfaltig in der Darlegung und ungebildet dies aufzuschreiben bist, so sage und schreibe es nicht dem Menschenmunde, nicht der

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menschlichen Auffassungsgabe noch mensch­ lichem Gestaltungswillen entsprechend, sondern gemäß dem, was du aus dem Himmel herab von den Wundertaten Gottes siehst und hörst. Er­ örtere es und trage es so vor, wie ein Schüler die Worte seines Lehrers auffaßt, sie nach dem Wort­ laut seiner Rede - wie er selbst es meint, darlegt und lehrt - weitergibt. So auch du, o Mensch: Verkünde, was du siehst und hörst. Und schreibe es nicht nach deinem oder anderer Gefallen auf, sondern nach dem Willen dessen, der weiß, wei­ ter sieht und alles im Verborgenen seiner Ge­ heimnisse wohl ordnet.» Und darauf hörte ich die Stimme vom Him­ mel zu mir sagen: «So tu denn diese Wunder kund! Und schreibe sie, auf diese Weise belehrt, auf und verkünde sie.» Es geschah im Jahre 1141 nach der Geburt des Gottessohnes Jesus Christus, als ich zweiundvier­ zig Jahre und sieben Monate alt war, da fuhr ein heftig loderndes feuriges Licht aus offenem Himmel. Es durchdrang mein ganzes Gehirn, mein ganzes Herz und meine ganze Brust wie eine Flamme, nicht aber versengend, vielmehr flammte es wärmend, wie die Sonne alles er­ wärmt, worauf ihre Strahlen fallen. Und augen­ blicklich wußte ich den geistigen Sinn der Schriftauslegung, nämlich des Psalters, der Evangelien und der anderen allgemein anerkann­ ten Bücher des Neuen und des Alten Testamen­ tes, obwohl ich die Erklärung der einzelnen Wör-

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ter ihres Textes noch die Regeln der Silbeneintei­ lung oder die Handhabung der Kasus und Tem­ pora nicht erlernt hatte1. Hingegen die Fähigkeit und geheime Könnerschaft verborgener und er­ staunlicher Schauungen nahm ich seit meinem Kindesalter, nämlich seit der Zeit, da ich fünf Jahre zählte, bis zur heutigen Zeit und gerade jetzt auf wunderbare Weise in mir wahr. Ich machte es jedoch keinem Menschen bekannt, außer einigen wenigen und nur Ordensleuten, welche denselben Lebensstand verwirklichten, zu dem auch ich gehörte. Seither bis zu der Zeit, da Gott es durch seine Gnade offenbar machen wollte, behielt ich es in ruhiger Verschwiegen­ heit. Die Gesichte aber, die ich schaute, empfing ich nicht im Traum, auch nicht im Schlafzustand oder im Wahn, nicht mit den körperlichen Augen oder den Ohren des äußeren Menschen, ebenso­ wenig empfing ich sie an abgeschiedenen Orten, vielmehr nahm ich sie im Wachzustand und auf­ merksam bei klarem Geist mit den Augen und Ohren des inneren Menschen an allgemein zu­ gänglichen Orten nach dem Willen Gottes ent1 An dieser Stelle gibt Hildegard von Bingen sich bewußt als Ungelehrte und Ungebildete zu erkennen: sie versteht sich weder auf etymologisierende und andere Worterklä­ rungen des heiligen Textes, wie sie im damaligen Unter­ richt üblich waren, noch will sie etwas von rhetorischen und poetischen Regeln wissen, ja sie scheint sogar eine Kenntnis der einfachen Grammatik für sich abzustreiten. Um so eindrücklicher soll dadurch die ihr in den Schau­ ungen von Gott direkt mitgeteilte Wissenschaft bzw. Er­ kenntnis erscheinen.

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gegen. Daß dies so sei, bleibt dem fleischlichen Menschen schwer faßbar. Als ich die Kindheit hinter mir hatte und ich zu dem vorhin erwähnten Lebensalter in voll er­ wachsener Körperkraft gelangt war, hörte ich eine Stimme vom Himmel, die sprach: «Ich, das lebendige und alles Dunkel erleuch­ tende Licht1, habe den Menschen, der mir be­ liebte und den ich, da es mir so gefiel, wunderbar auserwählte, in große Wunderwerke gestellt, über die früheren Menschen hinaus, die in mir bereits viele Geheimnisse erschaut hatten. Doch w arf ich eben diesen zur Erde nieder, damit er sich nicht in irgendeinem Übermut seines Geistes emporrecke. Die Welt fand denn auch keine Freude oder Lust an ihm, auch hatte er keine Gewandtheit in jenen Geschäften, die die Welt betreffen. Denn ich hatte ihn von hartnäckigem Mut frei gemacht, er stand in Furcht und äng­ stigte sich in seinen Unternehmungen. Er leidet nämlich Schmerzen in seinem Mark und in den 1 Ich, das lebendige und alles Dunkel erleuchtende Licht: Diese in ihrem grammatikalischen Zusammenhang nicht leicht durchschaubare Textstelle könnte auch anders ge­ deutet und übertragen werden. Die Hauptaussage lautete dann wie folgt: Ich, das lebendige und finstere Licht, habe den Menschen erleuchtet, der mir beliebte [...]. Die zunächst vielleicht befremdliche Formel vom «finsteren Licht» wiese auf die Hildegard von Bingen sehr wahr­ scheinlich bekannte mystische Theologie des (Pseudo-) Dionysius Areopagita (5.Jahrhundert) und seines Vermitt­ lers Johannes Scotus Eriugena (9.Jahrhundert) zurück. Da nach Hildegards neuplatonisch gefärbter Kosmostheo-

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Adern seines Fleisches, in Geist und Sinnen fühlt er sich beeinträchtigt, und schwere Krankheit des Körpers erträgt er, so daß in ihm keine zer­ streute Sorglosigkeit sich verborgen hält, er sich vielmehr in all seinen Beweggründen schuldhaft fühlt. Denn die Ausflüchte seines Herzens habe ich ihm versperrt, damit sein Geist sich nicht in Hochmut und Prahlerei erhebe, er vielmehr aus all dem mehr Furcht und Schmerz denn Mutwil­ len zöge. [...] Du also, o Mensch, der du dies nicht in der Verstörtheit des Betrügens, sondern in der Rein­ heit der Einfalt entgegennimmst, damit das Ver­ borgene offenbar werde, schreibe auf, was du siehst und hörst.» *

logie das göttliche Licht zwar in die Schöpfung sich er­ gießt, sich mit zunehmender Materialität jedoch auch zu­ nehmend verdunkelt, würde der paradoxe Ausdruck «fin­ steres Licht» im weiteren Kontext verständlich. Er fügte sich auch gut in Hildegards Bestreben ein, den Schöpfer und die Schöpfung nicht dualistisch im Sinne des eben damals sich ausbreitenden Katharertums auseinanderfallen zu lassen. Das göttliche Licht verfinstert sich zwar in der Materie - also auch im Menschen - und schwächt sich ab, es durchströmt jedoch, nach Hildegard, die gesamte Welt und läßt sich auf bestimmten Wegen auch wiederum in Gott, den lebendigen Lichtquell, zurückführen.

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Scivias, III. Teil, neunte Vision: ln dem von H il­ degard geschauten umfassenden Bauwerk oder Gebäude des Heils w ird in einer ArchitekturVision gegenüber dem Turm der Kirche der Sitz der Weisheit sichtbar.

[...] Und weiter erblickte ich innerhalb des Ge­ bäudes [des Heils], gegen den Turm [der Kirche] zu, gleichwie sieben weiße, marmorne, in wun­ derbarer Rundung gedrechselte Säulen stehen, sieben Ellen hoch. Und am oberen Ende trugen sie so etwas wie einen eisernen gerundeten Auf­ satz, der sich anmutig eine ziemliche Strecke nach oben in die Höhe wölbte. Am obersten Punkt des Gewölbes sah ich wie eine überaus schöne Men­ schengestalt stehen und gegen die Menschen in der Welt hinblicken. Ihr Haupt erstrahlte wie ein Blitz in solch blendendem Glanz, daß ich sie nicht ausführlich betrachten konnte. Doch ihre Hände hatte sie ehrfurchtsvoll über ihrer Brust zusam­ mengelegt, ihre Füße waren durch eben jenen Aufsatz meinem Anblick entzogen. Einen in fun­ kelndem Glanz erstrahlenden Reif in der Art ei­ nes Kranzes trug sie auf ihrem Kopf. Weiter war sie mit einer goldfarbenen Tunika umkleidet, auf der ein Streifen mit den kostbarsten Edelstei­ nen besetzt von oben herab über die Brust bis zu den Füßen lief, der, man denke, von den im Purpurglanz der Luft ineinander schimmernden Farben Grün, Weiß und Rot geziert war. Und sie rief den Menschen, die in der Welt waren, zu: «O ihr Säumigen! Warum kommt ihr nicht herbei? Würde euch denn etwa nicht geholfen

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werden, wenn ihr nur auch kommen wolltet? Doch kaum habt ihr auf Gottes Weg zu laufen angefangen, hält euch das Summen von Mücken und Fliegen auf. Ergreift doch den Fächer der Eingebung des Heiligen Geistes und vertreibt sie so rasch wie möglich von euch! Laufen müßt ihr, und von Gott wird euch dazu geholfen werden. Gebt euch dem Dienste Gottes aufrichtig hin, und seine Hand wird euch stark machen.» [...] *

Von der Weisheit, ihrer Stellung, ihrer Kleidung und was sie bedeutet, so ist in der Handschrift von Scivias der Abschnitt überschrieben, in dem Hil­ degard von Bingen die in der Audition gehörte E rklärung ihrer Schau wiedergibt.

Daß du auf dem Scheitel jenes Aufsatzes gleichwie eine überaus schöne Menschengestalt stehen siehst, das bedeutet, daß diese Kraft vor aller Schöpfung1 im höchsten Vater war, in seinem Ratschluß gewis­ sermaßen das Rüstzeug der Geschöpfe, die im Himmel und auf Erden geschaffen sind, bereit1 Jes.Sir. 24,5-7: Ego ex ore Altissimi prodivi primoge­ nita ante omnem creaturam: Ego feci in caelis ut orietur lumen indeficiens, et sicut nebula texi omrtem terram: Ego in altissimis habitavi, et thronus meus in columna nubis (nach dem Vulgatatext der Heiligen Schrift). - Ich ging aus dem Munde des Höchsten hervor, die Erstgeborene vor aller Schöpfung: Ich bewirkte in den Himmeln, daß das unabschwächbare Licht aufging, doch wie in einen Nebel hüllte ich die Erde: Ich wohnte in den Höhen, und mein Thron stand auf einer Wolkensäule.

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stellend. Sie nämlich leuchtet in Gott als prächti­ ger Schmuck und zeigt sich in ihm als der ausge­ dehnteste Rang unter all den Stufen der übrigen Kräfte und ist ihm im Dreischritt der lodernden Liebe in sanftester Umarmung verbunden. Sie blickt zu den Menschen in der Welt hin, denn jene, die ihr folgen wollen, leitet und bewahrt sie immerfort unter ihrem Schutz, sie innig liebend, da sie in ihr feststehen. Diese Gestalt nämlich stellt die Weisheit Gottes dar: denn durch sie hat Gott alles erschaffen und erhält er alles. Ihr Haupt erstrahlt in Blitzeshelle, so daß du es nicht ausßihrlich betrachten kannst: denn erschrekkend und liebkosend ist die Gottheit gegenüber jeglicher Kreatur. Alles sieht und beachtet sie, wie das Auge des Menschen jegliches wahr­ nimmt, das sich ihm darbietet. Keiner unter den Menschen jedoch vermag sie in der Tiefe ihres Geheimnisses bis ins Letzte recht zu erfassen. Daher auch legt sie die Hände ehrfurchtsvoll auf ihrer Brust zusammen, was die Macht der Weisheit bedeutet, die sie einsichtsvoll bei sich zurückhält, indem die ihr gesamtes Werk derart lenkt, daß niemand ihr durch Klugheit oder Macht in ir­ gendwelcher Beziehung widerstehen kann. Ihre Füße sind deinem Blick durch den Aufbau verborgen: denn ihr im Herzen des Vaters verbor­ gener Weg ist keinem Menschen offenbar. Einzig Gott sind ihre Geheimnisse unverhüllt und auf­ gedeckt. Daß sie einen überaus hell strahlenden Reif in der Art eines Kranzes auf dem Kopf trägt, dies ist so,

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weil die Herrlichkeit Gottes ohne Anfang und Ende in unvergleichlicher Ehre erglänzt, in so hellem Göttlichkeitsglanz strahlend, daß die Spitze des Verstandes der Sterblichen in ihm zurückgebogen wird. Daß die Gestalt mit einer goldfarbenen Tunika umkleidet ist, das bedeutet, daß die Wirksamkeit der Weisheit zumeist sozusagen im lautersten Gold erkannt wird. Darum auch läuft von oben über die Brust hinunter bis zu den Füßen ein mit den kostbarsten Edelsteinen besetztes Band, nämlich im purpurnen Glanze der Luft durch die ineinander schimmernden Farben Grün, Weiß und Rot geziert: denn vom Weltbeginn an, da die Weisheit ihr Wirken offen zur Schau stellte, erstreckte sie sich auch schon sozusagen als der eine Weg, ausgestattet mit den heiligen und gerechten Weisungen, nämlich in der ersten Pflanzung der grünen Keimlinge der Patriarchen und Propheten, die in der Drangsal ihrer Not durch Seufzen und heftiges Verlangen den Sohn Gottes dringend aufforderten, Mensch zu wer­ den; dann auch in der mit der blendenden Weiße derjungfräulichkeit geschmücktenjungfrau Ma­ ria und nachher in dem überaus starken und rot leuchtenden Glauben der Märtyrer und schließ­ lich in der purpurnen und leuchtend weißen Liebe der Beschauung, in welcher Gott und der Nächste in der Wärme des Heiligen Geistes ge­ liebt werden soll. So wird sie bis zum Ende der Welt fortschreiten. Von ihrer Mahnung wird sie nicht ablassen, sie wird sie vielmehr, solange die

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Weltzeit dauert, bekanntgeben, was eben ihre Kraft in ihrer Aufforderung erklärt, wie oben gesagt wurde. * N eben dem Sitz der Weisheit hatte Hildegard von Bingen, auf dem Boden rechts und links der Weisheit stehend, drei weitere Figuren geschaut. Eine davon lehnte sich an die das Gebäude tragen­ den Säulen. Sie w ar unabschätzbar groß, über­ ragte den ganzen Weisheitsbau so, daß sie darüber hinausschaute. Blendend weiß in ihrer Gesam t­ erscheinung, blickte sie m it m ächtigem Haupt aus hellsichtigen und scharfen Augen zum H im ­ mel auf. Die erklärende Stim m e deutet Hildegard die schwer beschreibbare Gestalt wie folgt.

Die Gestalt also, welche sich anjene Säulen lehnt, sie stellt die Gerechtigkeit Gottes dar. Denn sie be­ wirkt - nach der Weisheit - durch den Heiligen Geist in den Menschen jegliches gerechte Verhal­ ten. Sie erscheint in solcher Breite, daß fü n f Men­ schen, nebeneinander stehend, sie ausmachen würden: dies bedeutet die Ausdehnung der fünf Sinne im menschlichen Fassungsvermögen. Der Mensch wandelt durch sie in der Weite des göttlichen Gesetzes. Sie umfaßt und bewahrt die von Gott aufgestellten Lebensgesetze für die, die sie lieben. Daß sie so hochgewachsen ist, daß du ihre Größe nicht vollständig abzuschätzen vermagst und sie so über das ganze Gebäude hinwegschauen kann, dies bedeutet, daß sie durch ihre Größe die menschliche Er­ kenntnis weit überragt und empor zum Himmli­ schen sich erstreckt. Darum auch hat sie bei der

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Menschwerdung des Erlösers vom Himmel her­ abgeschaut, als er, der Erlöser, der Sohn Gottes selbst, der die wahre Gerechtigkeit ist, vom Va­ ter ausging. Von dort aus richtet sie auch ihren Blick auf alle kirchlichen Bausteine: denn durch sie werden diese hergestellt und zusammenge­ schlossen, damit sie dem Turm, um in ihm ihren Halt zu finden, als hochragende Zinnen eingefugt werden. Und deshalb hat sie ein mächtiges Haupt und hellsichtige Augen und blickt sie scharf zum Himmel, weil sie in ihrer großen und höchsten Güte der Gerechtigkeit durch den fleischgewor­ denen Gottessohn den Menschen den allerklar­ sten Blick eröffnet hat, da dieser sich in einem menschlichen Leib den irdischen und verdunkel­ ten Augen offenbarte, während er zur Erlösung der Seelen das Himmlische im Auge behielt. Und blendend weiß und helleuchtend zeigt sie sich, wie eine ganz lichte Wolke es ist: denn sie wohnt in der schimmernden Weiße und Geistesreinheit der Gerechten, die ihr ganzes Streben darauf richten, der Gerechtigkeit Gottes vollständig untergeord­ net zu sein. So macht sie sich den Wolken gleich, wenn sie sich in den Herzen der Gerechten eine ihr genehme Wohnung bereitet. Doch daß du in ihr nichts von einer menschlichen Gestalt entdeckst, dies kommt daher - wie dir schon erklärt wurde -, daß sie himmlisch bleibt und nicht irdisch, indem nämlich menschliche Werke, durch die die Menschen belastet werden, ihr nicht anhangen, nur solche, die ihnen zur Rechtfertigung des Lebens gereichen. Denn daß

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Gott gerecht ist wie sie, die sich dem Teufelswerk entgegenstellt, im Gotteswerk die übrigen Tu­ gendkräfte aneifernd, dies stellt der obere Teil genau dar. *

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