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German Pages 689 Year 2001
HEINER TIMMERMANN (Hrsg.)
Deutsche Fragen
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann
Band 97
Deutsche Fragen Von -der Teilung zur Einheit
Herausgegeben von
Reiner Timmermann
Duncker & Humblot · Berlin
Dieses Projekt wurde mit Hilfe der Union-Stiftung, Saarbrücken, und der ASKO-Europa-Stiftung, Saarbrücken, unterstützt.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Deutsche Fragen: von der Teilung zur Einheit I Hrsg.: Heiner Timmerrnann.- Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e.V.; Bd. 97) ISBN 3-428-10715-2
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gerrnany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-10715-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068
Inhaltsverzeichnis I. Einführung Heiner Timmermann Konzeption und DDR-Forschertagungen in Otzenhausen ... .... ........ .. ... ... .......... ........... .... ............... .... ..... ... ....... ... .. ... .... .. ... .... .. ..
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II. Außenbeziehungen Gerhard Bark/eil Modeme Waffensysteme filr die Sowjetunion- die SED im Spagat zwischen ökonomischen Zwängen und ideologischer Gefolgschaft ........... ... ................ ....... .....
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Michael Ploetz Breshnews Langzeitstrategie im Spiegel von SED·Dokumenten ............................. .
53
Armin Vo/ze Probleme der Westverschuldung der DDR und ihrer Aussenhandelsstatistik ............
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lngaGrebe Die Anerkennung der DDR durch die Republik Chile ............................................ .
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Dörte Putensen Die Beziehungen der DDR zu den nordischen Ländern in der Zeit der "N ichtanerkennung" ... ... .................. ...... ... ... ... .... ........... ....... .. .......... .. ... ... ..... .. ..... .... ...
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Ulrich Pfeil Die DDR und der Schuman-Pian (1950-1952)...........................................................
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111. Herrschaft Armin Owzar Bündnispartner wider Willen. Der gewerblich-industrielle Mittelstand in der SBZ/DDR (1945 bis 1953) ..........................................................................................
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Mike Schmeitzner Instanzen der Diktaturdurchsetzung in Sachsen 1945-1952. Ein Forschungsbericht .
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Inhaltsverzeichnis
Jochen Hecht Die Unterlagen der Hauptverwaltung Aufklärung des Mts (HVA)- Vernichtung, Überlieferung, Rekonstruktion ........ .......... ...... ... ............... .........................................
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Albrecht Kästner Bestandslage im Bundesarchiv-Militärarchiv zur militärischen Überlieferung und Möglichkeiten der Forschung .. ......... ....... ... ... .... .. ... ... ... ... ............ ............. ... .. ....
219
Johannes Raschka 1981 als Zasur in der Entwicklung der DDR. Innenpolitischer Wandel als Folge außenpolitischer Veranderungen .................... ...................... ................
227
Tobias Wunschik Die Strafvollzugspolitik des SED-Regimes und die Behandlung der Häftlinge in den Gefllngnissen der DDR....................................................................................
257
IV. Gesellschaft Helmut Jenkis Hatte die DDR eine Überlebenschance? Illusionen über die wirtschaftliche Lage .
287
Siegfried Grundmann Die absurde Logik des Wohnungs- und Städtebaus der DDR....................................
321
Jnge Bennewitz Die Glatzkopfbande- ein DEFA-Spielfilm und seine Hintergründe ..........................
339
Andreas Ma/ycha "Produktivkraft Wissenschaft" - Wissenschaft und Politik in der SBZ/DDR in den Jahren von 1945 bis 1952 ...........................................................................................
353
Annegret Schüfe Die gesellschaftliche und lebensgeschichtliche Bedeutung weiblicher Industriearbeit in der DDR- eine Fallstudie aus der Textilindustrie .............
379
Dieter Wink/er Das Projekt "Schubladentexte aus der DDR"- Motive, Inhalte, derzeitiger Stand ....
391
Lothar Mertens Zur Geschichte und Entwicklung der Akademie filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED ........................................................................................................
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V. Einigungsaspekte Gerhard Wettig Wege des BemUhens um die nationale Einheit in der Zeit des Kalten Krieges
425
Jürgen Hofmann Identifikation und Distanz. Ostdeutsche Meinungsbilder zur DDR-Gesellschaft und zum Einigungsprozeß im Spiegel der Untersuchungsreihe " ident" 1990 bis 1999 .. ...
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Inhaltsverzeichnis
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Philipp Springer Vom Verschwinden der Zukunft. Stadthistorische Überlegungen zum Utopieverlust in der sozialistischen Stadt Schwedt ..................... ...................................................
451
Anton Sterbling Gesellschaftlicher Wandel in zwei sächsischen Städten in den letzten Jahrzehnten..
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Sven Korzilius Die Rehabilitierung von Opfern der SED-Unrechtsjustiz ..........................................
485
Andreas Ludwig Gedächtnisbildung durch museale Arbeit. Das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR ........... ................................... ............................. ..........
517
Hermann Schäfer "Laboratorium Deutsche Einheit". Aufbau Ost: Erfahrungen der Stiftung der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland............ .................................................
529
Laurence McFal/s Die Verwandlung: Ostdeutsche politische und Alltagskultur vom real-existierenden Sozialismus zur postmodernen kapitalistischen Konsumkultur ...................
541
Alexander v. P/ato Widersprüchliche Erinnerungen: Internationale Protagonisten der Wiedervereinigung und nationale Vereinigungsmythen .............................................
561
U/rich Schröter Erfahrungen mit einem Gesprächskreis .................................................................. .....
605
Ingrid Reichart-Dreyer Das Zusammenwachsen der CDU durch die Meinungsbildung zum ersten gesamtdeutschen Grundsatzprogramm "Freiheit in Verantwortung".........................
617
Bernd Faulenbach Zehn Jahre Auseinandersetzung Ober die doppelte Nachkriegsgeschichte und die Frage der inneren Einheit in Deutschland ..................................................................
647
Siegfried Schwarz Deutsche Außenpolitik ein Jahrzehnt nach der Vereinigung- Eine Bilanz...............
661
Hans-Joachim Veen Keine falschen Mythen: Wir haben die innere Einheit schon! ............................... .....
677
Autorenverzeichnis ...........................................................................................................
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I. Einführung
Konzeption und DDR-Forschertagungen in Otzenhausen
Von Heiner Timmerrnann Den Erläuterungen zu Konzeption und Inhalt dieses Sammelbandes sollen einige Anmerkungen vorangestellt werden, die sich mit den interdisziplinären DDR-Forschertagungen in der Europäischen Akademie Otzenhausen beschäftigen. Zum Begriff "DDR-Forschertagung": Dieser wurde in Anlehnung an die DDR-Forschertagungen in Lerbach bis jetzt beibehalten, obwohl sich die Konzeption, die Finanzierung, selbstverständlich der Teilnehmerkreis, die Art der Veröffentlichungen der Erträge veränderten. Inhaltlich ist er nicht mehr stringend zutreffend, da die ausgebreiteten Forschungsergebnisse sich nicht mehr auf die DDR beschränken, was beispielsweise beim Einigungsprozeß und bei der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands besonders auffiillig wird. Personell könnte der Begriff unverstanden werden, wenn man annähme, daß es sich bei den Teilnehmern um Forscher aus der DDR handeln würde. I. DDR-Forschertagungen in der Europäischen Akademie Otzenhausen
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der DDR in der Europäischen Akademie Otzenhausen ist aus der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit der 60er, 70er und 80er Jahre hervorgegangen . Noch vor dem Herbst 1989 kam es zu zwei nationalen und zwei internationalen Kolloquien, an denen bundes- und DDR-deutsche Sozialwissenschaftler teilnahmen: 1988: ,.Sozialstruktur und sozialer Wandel in der DDR"
Teilnehmer: Soziologen aus der Bundesrepublik und aus der DDR. Eine Publikation ist erschienen in der Schriftenreihe der Akademie im Dadder-Verlag, Saarbrücken, 1988. 1988: .. Wirtschaftsordnungen im Dialog. Bundesrepublik Deutschland und DDR"
Teilnehmer: Wirtschaftswissenschaftler aus der Bundesrepublik und aus der DDR. Eine Publikation ist erschienen in der Schriftenreihe der Akademie im Dadder-Verlag, Saarbrücken 1989.
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Heiner Timmennann
1986:"Die Bildung des frühmodernen Staaten.
Stände und Konfessionen"
Teilnehmer: Historiker aus der Bundesrepublik, der DDR, Frankreich und Polen. Eine Publikation ist in der Schriftenreihe der Akademie erschienen. Dadder-Verlag, Saarbrücken 1989.
1989: "Deutschland und Europanach dem Zweiten Weltkrieg. EntwicklungenVerflechtungen -Konflikte" Teilnehmer: Historiker, Politikwissenschaftler, Völkerrechtler, Soziologen aus der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, der Tschechoslowakei, Ungarn, Frankreich, Großbritannien, USA, Polen, Österreich. Eine Publikation ist erschienen in der Schriftenreihe der Akademie, Dadder-Verlag, Saarbrücken 1990. Eine Sonderveranstaltung fand kurz vor der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion im April 1990 in Strausberg bei Berlin statt:
1990:" Soziologie und Datenreports in beiden deutschen Staaten" Teilnehmer: Politikwissenschaftler und Soziologen aus der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Wegen der überschlagenden Ereignisse von 1990 konnte eine Publikation der Ergebnisse nicht erfolgen. 1991 wurde das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut der Europäischen Akademie Otzenhausen gegründet, in dem die wissenschaftlichen Veranstaltungen der Akademie zusammengefaßt werden. Dieses Institut setzt sich mit den Wandlungsprozessen der europäischen Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart, mit Geschichts- und Politikforschung im europäischen Vergleich, mit der Analyse der Europäischen Integration, mit Problemen der europäischen Politik, mit der Analyse der transatlantischen Beziehungen, mit Kulturbeziehungs- und Demokratieforschung sowie mit dem Management von Forschung und Entwicklung auseinander. Dazu arbeitet es auf drei Ebenen: Durchfiihrung von Kolloquien und wissenschaftlichen Projekten sowie Herausgabe von Publikationen. Im Rahmen seiner Kolloquien filhrt es in Fortsetzung bisheriger deutschlandpolitischer Veranstaltungen Fachtagungen durch zur Erforschung der DDR, kurz: DDR-Forschertagungen. Die Bilanz von 1993 bis 2001 sieht wie folgt aus: Nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes und mit der deutschen Vereinigung wurde in der Öffentlichkeit immer wieder auf die weitverbreitete Fehleinschätzungen der DDR in Politik, Publizistik und Wissenschaft
Konzeption und Inhalt
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hingewiesen. Bedauerlicherweise war es lange nicht gelungen, eine konkrete wissenschaftsbezogene Auseinandersetzung über Erträge und Fehlleistungen der DDR- und Deutschlandforschung in Gang zu bringen, die alle beteiligten Forschungsgruppen zusammenfiihrte. Das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut der Europäischen Akademie Otzenhausen ergriff die Initiative und brachte mit der Fachtagung vom Dezember 1993 erstmals einen Dialog zwischen den DDR-Forschern verschiedener Disziplinen und unterschiedlicher theoretischer Grundpositionen zustande. Sie sollte den selbstkritischen Rückblick mit einer Klärung der aktuellen Forschungsschwerpunkte fiir eine umfassende Rekonstruktion der Geschichte der DDR verbinden. Die DDR-Forschung konnte 1993 nicht nur im Licht ihrer Versäumnisse und Irrtümer betrachtet werden. Es mußte vielmehr im einzelnen geprüft werden, wo sie falsche politische Schlußfolgerungen gezogen hat, vor allem aber auch, welche Beiträge sie bereits vor der Wende zum Verständnis von Entwicklungsprozessen in der DDR-Gesellschaft geleistet hat, die für jetzt mögliche umfassende Aufarbeitung der DDR-Geschichte wichtige Grundlagen bereitstellte. Insbesondere in den 80er Jahren haben wichtige Teile der sozialwissenschaftliehen DDR-Forschung die Zuspitzung der Krisensymptome im Verhältnis von Politik und Gesellschaft detailliert beschrieben, wobei speziell auf die Abkehr der jungen Generation vom System der SED-Diktatur hinge-wiesen worden ist. Auch der vollständige Verlust der ideologischen Glaub-würdigkeit des SED-Regimes und der von ihr propagierten marxistisch-leni-nistischen Weltanschauung ist in vielen Beiträgen dargestellt worden. Der die 70er Jahre kennzeichnende Antagonismus zwischen den Positionen einer system-immanenten und einer aus dem Totalitarismuskonzept abgeleiteten DDR-For-schung war in den 80er Jahren deutlich abgeschwächt. Eine ebenso kritische wie differenzierende Bilanz der DDR- und vergleichenden Deutschlandfor-schung war unerläßlich, wenn es gelingen sollte, die Aufarbeitung der Ge-schichte der SED-Diktatur umfassend zu bewerkstelligen. Für diese und die folgenden Veranstaltungen galt: die interdisziplinäre Ausrichtung, die Präsentation und Diskussion aktueller Forschungsergebnisse, der persönliche Gedankenaustausch unter den Forschern.
1993: "Hat die DDR- und vergleichende Deutschlandforschung versagt? Leistungen und Defizite" Die Arbeit erfolgte in fiinf Sektionen: Wirtschaft, Geschichte, Kultur, Politisches System, Politische Soziologie. Die Historiker, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler und Soziologen kamen aus der alten Bundesrepublik und der alten DDR. Einige kamen aus dem Ausland. Eine Publikation erschien in der Schriftenreihe der Akademie im Verlag Duncker & Humblot, Berlin, 1995.
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Heiner Timrnermann
1995: ,.Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert- der Fall DDR"
Fast sechs Jahre nach dem Mauerfall und filnf Jahre nach dem formalen Ende der DDR steckte die Forschung zum Gesamtproblem der zweiten. Diktatur in Deutschland noch in den Kinderschuhen, wenngleich vieles geleistet wurde. Weder konservative noch liberale oder linke DDR-Forscher und Publizisten auch nicht Politiker oder Wirtschaftsfilhrer - hatten Zeitpunkt Schnelligkeit und Ergebnis des Zusammenbruchs des SED-Regimes vorausgesehen. Offenbar waren die Erkenntnismöglichkeiten um die Prognosen der Entwicklung in der DDR und Mittel- und Osteuropa bei den DDR-Forschern so beschränkt wie bei den Politikern. Das hatte wissenschaftlich seine Gründe: Zentrale Strukturen und Prozesse der Herrschafts- und Gesellschaftsordnung der DDR konnten wegen Datenmangels weithin nicht erforscht werden. Wichtige externe Rahmenbedingungen und Einflußfaktoren (z. B. die Entwicklung in der UdSSR und in Mitteleuropa), das wirkliche Denken und Fühlen der Bevölkerung, die Motive und Strategien der Herrschenden in Krisenzeiten waren kaum berechenbar. Wenn außerdem nur unzuverlässige Daten über die wirtschaftliche und finanzielle Lage zugänglich sind, wenn unabhängige empirische und systemkritische Forschung im Lande selbst nicht möglich ist, dann können eigentlich Sozialwissenschaftler auch keine Projektionen oder gar Prognosen erstellen, wobei Projektionen und Prognosen in politischen, kulturellen und psychologischen Bereichen ohnehin zu den schwierigsten Unterfangen in der Sozialwissenschaft gehören. Der Zusammenbruch des bürokratischen Sozialismus hatte langfristige Ursachen, die in ihrem Zusammenwirken noch keineswegs erforscht sind. Es wurde versucht, eine Zwischenbilanz filr diverse Aspekte folgender Forschungsfelder zu ziehen: Herrschafts-, Gesellschafts-, Beziehungsgeschichte. Eingerahmt wurden diese Forschungsfelder von zwei Plenarteilen: Forschungsfelder übergreifender Themen und Ermittlung von "Weißen Flecken" in der Erforschung der DDR. Erstmals nahmen auch DDR-Forscher aus dem Ausland an der Tagung teil. Eine Publikation erschien in der Schriftenreihe der Akademie im Verlag Duncker & Humblot, Berlin. 1996: ,.Die DDR- Politik und Ideologie als politisches Instrument"
Die Struktur dieser Tagung hatte sich aus den Erkenntnissen und Bedürfnissen der vorherigen etwas verändert: Nicht weniger als acht deutsche Einrichtungen zur Erforschung der DDR-Geschichte stellten sich mit ihren Arbeiten und laufenden Projekten vor. Die Arbeit erfolgt in filnf Sektionen: Alltags- und Mentalitätsgeschichte, Wirtschaft, Geschichte, Herrschaftssystem, Gesellschaft-Bildung-Kultur. Führende DDR-Forscher diskutierten auf einem hohen Niveau abschließend über Aufgaben zeitgeschichtlicher DDR- und Deutschlandforschung.
Konzeption und Inhalt
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Neben insbesondere Nachwuchsforschern aus Deutschland nahmen Forscher aus Großbritannien, Dänemark, USA, Frankreich, Niederlande, Belgien, Ungarn, Tschechien und Polen teil. Eine Publikation erschien mit dem Titel "Die DDR Politik und Ideologie als politisches Instrument bei Duncker & Humblot, Berlin. 1997: "Die DDR- Erinnerung an einen untergegangenen Staat"
Erstmals wurden nichtdeutseben Forschungseinrichtungen zur DDRGeschichte die Gelegenheit gegeben, sich zu präsentieren. Davon machten Einrichtungen aus Frankreich" Niederlande, USA, Ungarn, Tschechien, Dänemark, Großbritannien und Belgien Gebrauch. Drei Schwerpunkte wurden in Sektionen bearbeitet: Herrschaft, Alltag, Außenbeziehungen. Erstmalig war es auch, daß ein prominenter Zeitzeuge, der ehemalige ungarische Botschafter, Dr. Istvan Horvath, von 1984-1991 in Bonn, aus bisher nicht zugänglichen Quellen Hintergründe der Maueröffnung erläuterte. Eine aktuelle wissenschaftliche Kontroverse wurde im Abschlußplenum thematisiert: "Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft in der DDR-Forschung". Eine Publikationmit dem Titel: "Die DDR - Erinnerung an einen untergegangenen Staat" erschien im Verlag Duncker & Humblot. 1998: "Die DDR- Recht und Justiz als politischem Instrument"
Im Rechtsverständnis der DDR war das Recht Instrument der gesellschaftlichen Praxis und insofern ein Mittel der bewußten Gesellschaftsgestaltung im Sinne des Sozialismus. Recht war nicht so sehr ein Mittel zur Sicherung der Ordnung und Gewährleistung der bestehenden Verhältnisse denn als Mittel zur beständigen Weiterentwicklung des sozialistischen Gesellschaft. Das sozialistische Recht war ein Mittel des Staates, um die gesellschaftliche Entwicklung zu organisieren. Bei der Auswahl der Themen hatten wir uns leiten lassen von der Liste der Forschungsdesiderata, die der Bericht der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland vom Mai 1994 nannte: Eine Analyse der politischen Steuerung der Justiz aus rechtspolitischer Sicht, die Transformation der Rechtsordnung von den alten in die neuen Bundesländer mit mannigfaltigen Aspekten der politischen Instrumentalisierung des DDR-Rechts. Im zweiten Teil setzten sich Juristen, Historiker, Rechtssoziologen und Politikwissenschaftler und Praktiker mit Aspekten des Familien-, Arbeits- und Strafrechts auseinander. Für die Publikation wurden die Beiträge überarbeitet und ergänzt. Sie erschien in der Schriftenreihe der Akademie im Verlag Duncker & Humblot, Berlin, 2000. 1998: "Neue Analysen und Erkenntnisse zur DDR-Geschichte"
Aus der Fülle der angebotenen Beiträge wurden 32 in vier Sektionen vorgestellt und diskutiert: Alltag/Gesellschaft, DDR-Frühgeschichte/Herrschaft,
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Heiner Timmermann
Außenbeziehungen, Kultur. Sie wurde eröffnet mit einem Zeitzeugen, dem Staatssekretär im DDR-Außenministerium während langer Strecken der 2+4-Verhandlungen von 1990. Es folgte ein zweiter plenarer Teil mit Zeitzeugen zur DDR-Geschichte: Dem ehemaligen Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission und dem persönlichen Referenten vom SED-Wirtschaftssekretär. Ein weiterer Schwerpunkt bildete das Thema "Konzeptionen von Diktaturen in Deutschland und Diskussionen über Diktaturen in Deutschland". Zum Abschluß wurde der Einfluß der Sowjetunion auf die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa in den 80er Jahren von namhaften Experten und Praktikern aus der UdSSR, Polen, Ungarn und Deutschland analysiert, dargestellt und diskutiert. Teilnehmer: Historiker, Politik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Juristen, Völkerrechtler, Soziologen aus Deutschland und anderen Ländern Europas. Die Veröffentlichung eines Sammelbandes erfolgte in der Schriftenreihe der Akademie bei Duncker & Humblot, Berlin. 1999: " Die DDR in Deutschland- ein Rückblick auf 50 Jahre"
10 Jahre nach dem Mauerfall gewann diese DDR-Forschertagung durch die Teilnahme von ehemaligen politischen Akteuren aus der Bundesrepublik, der DDR und der Sowjetunion einen besonderen Zeitzeugenakzent so daß die "Saarbrücker Zeitung" die Headline formulierte "Otzenhausen schreibt deutsche Geschichte". Michael Mertes, Ministerialdirektor a.D., einer der Mitverfasser des 10-Punkte-Programms vom 28.11.1989, eröffnete die Veranstaltung, die mit Günter Schabowski, ehemaliges Politbüro-Mitglied der SED, abgeschlossen wurde. Die Tagung wurde plenar und in Sektionen durchgefilhrt. In den Sektionen setzten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit den Außenbeziehungen, der Herrschaft, der Gesellschaft und mit Kultur und Mentalität der DDR auseinander. Die Plenarteile umfaßten I. "Das Jahr der Einigung" mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Bundesrepublik, der ehemaligen DDR, der ehemaligen UdSSR, aus Frankreich und Großbritannien; 2. "Der Streit um die deutsche Kultur". Hier stand im Vordergrund die Weimarer Ausstellung von 1999. Es beteiligten sich der vorletzte DDR-Kultunninister Dr. Dieter Keller, die letzte DDR-Kulturstaatssekretärin Gabriele Muschter, Dr. Lindner vom Haus der Geschichte Leipzig, Prof. Dr. Achim Preiß, dem Ausstellungsmacher aus Wiemar, und Alexander U. Martens, Kulturredakteur. Das 3. Plenum mit dem Titel "Der Fall der Mauer" holte die Ereignisse von vor zehn Jahren nochmals in die Erinnerung. Günter Schabowski referierte und diskutierte mit Prof. Dr. Manfred Wilke und Dr. Kar! Wilhelm Fricke, und die "Saarbrücker Zeitung" schrieb über diese Diskussion "Otzenhausen schreibt deutsche Geschichte". Die Publikation erfolgte in der Schriftenreihe der Akademie bei Duncker & Humblot, Berlin.
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2000: "Deutsche Fragen- von der Teilung zur Einheit" Zweifelsohne erhielt diese Veranstaltung ihren besonderen Akzent durch die Mitwirkung des Bundesministers a d. Dr. Wolfgang Schäuble, der maßgeblich an der vertraglichen Gestaltung der deutschen Einheit beteiligt war. In zwei plenaren Sitzungen setzten sich die 120 DDR-Forscher aus Deutschland, Europa und Nordamerika mit der mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte und mit der Bilanz der Einigung auseinandersetzen. Von den 68 angebotenen Vorträgen wurden 33 zu einem Gesamtprogramm in vier Sektionen strukturiert: Außenbeziehungen, Herrschaft, Gesellschaft, Einigungsaspekte. Die Erträge werden hiermit vorgelegt.
2001: Vor 40 Jahren: Mauerbau und Außenpolitik" Es wurde eine Gesamtschau gegeben der außenpolitischen Um- und Vorfelder des Mauerbaus, wobei die innenpolitische Situation in der DDR und im Ostblock nicht ausgeklammert wurde. Eröffnet wurde die Veranstaltung durch den saarländischen Ministerpräsidenten Müller, der die lothringisch-saarländische Grenze als positiven Kontrast zum Antimodell der Mauer darstellte. Inhalte waren: Das Berlin-Ultimatum Chruschtschows und seine BeweggrUnde und Folgewirkungen (Dr. Wettig), die Bedeutung von Mauerbau und Mauerfall filr die internationale Politik (Prof. Jesse), Der Warschauer Pakt und der Mauerbau (Prof. Filitov), die UdSSR und der Mauerbau (Portugalow), die ContingencyPlanning der USA und der NATO (David Klein, David Murphy, Prof. Timmermann), die Haltung Frankreichs, Dr. F. Manfrass-Sirjacques), die Haltung Großbritanniens (Prof. Larres), die Haltung der Blockfreien (Prof. Saarinen), westliche Geheimdienste und Mauerbau ( George Bailey), östliche Geheimdienste und Mauerbau (Sergei Kondraschow), der Mauerbau und seihe Auswirkungen auf die Außenpolitik von BRD und DDR (Dr. Rainer Barzel, Dr. Kilian, Dr. Voß). Die besondere Note bekam diese Veranstaltung durch die Mitwirkung früherer Geheimdienstler von CIA und KGB (Murphy, Bailey, Kondraschow), durch den engen Mitarbeiter Gorbatschows bei den 2+4Verhandlung (Portugalow) und durch den prominenten Zeitzeugen Dr. Barzel. Eine Publikation erfolgt in der Schriftenreihe der Akademie bei Duncker & Humblot.
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II. Inhalte dieses Bandes Die ft1r die Publikation dieses Bandes aufbereiteten Vorträge wurden in vier Kapitel gebündelt: Außenbeziehungen Herrschaft Gesellschaft Einigungsaspekte Überschneidungen waren nicht zu venneiden. Daß bei der Gesamtthematik "Von der Teilung zur Einheit" und angesichts der Tatsache von zehn Jahren deutscher Einheit das Kapitel "Einigungsaspekte " mit 14 Beiträgen gegenüber den anderen umfangreicher ausgefallen ist, ist erklärbar. Der Beitrag von Gerhard Barkfeit eröffnet das Kapitel "Außenbeziehungen" mit "Moderne Waffensysteme fiir die Sowjetunion - die SED im Spagat zwischen ökonomischen Zwängen und ideologischer Gefolgschaft". Ideologische Gefolgschaft dominierte das Verhältnis zwischen dem SED-Staat und der UdSSR. nicht ökonomische Realität, sofern dieser Begriff auf eine Kommandowirtschaft sowjetischer Prägung überhaupt anwendbar ist. Das mit dem Begriff "Spagat" assoziierte Bild von Spannungen bis nahe an die Belastungsgrenze traf dabei jedoch nur selten zu; denn die DDR stellte auch für sich selbst das Primat der Ideologie über die Ökonomie niemals in Frage. Darüber hinaus blieb die SED-Führung, trotz gelegentlicher Betonung eigener wirtschaftlicher Interessen, jederzeit dem gemeinsamen Ziel der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages verpflichtet, im Wettstreit der Systeme zumindest mithalten zu können. Die von der UdSSR praktizierte Kooperationsverweigerung trug in der Geschichte der DDR wiederholt zum Scheitern ehrgeiziger Projekte bei. Äußerte sich die Kooperationsverweigerung beim Flugzeugbau und auch in der Mikroelektronik vor allem in einer mangelnden Kooperationsbereitschaft, so spielten bei der militärischen Anwendung auf Hochtechnologien Defizite in der Kooperationsfiihigkeit auf Grund von Kompetenzgerangel der unterschiedlichen Entscheidungsträger und fehlendem wissenschaftlichem Vorlauf eine ausschlaggebende Rolle. Der Ausstieg der DDR aus dem Projekt "Optoelektronischer Zielsuchkopf' wurde dadurch erleichtert und zu einem der wenigen Beispiele ft1r einen Sieg ökonomischer Realität über ideologische Gefolgschaft.
Michael Ploetz beleuchtet "Breshnews Langzeitstrategie im Spiegel von SEnDokumenten". Vergleicht man Mielkes Reden mit dem, was Breshnew und Ponomarjow im Dezember 1973 auf dem Treffen der "Sekretäre für ideologische Arbeit und für internationale Verbindungen" zu sagen hatten, so wird deutlich, daß der oberste SED-Tschekist vor seinen Mannen immer nur getreulich die
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strategische Linie der KPdSU referierte. Es kann mithin als bewiesen angesehen werden, daß der Entspannungspolitik von Breshnews Politbüro eine langfristige Strategie zugrunde lag, deren Ziel es war, den Westen niederzuwerfen. Der entscheidende strategische Durchbruch sollte dabei mit Hilfe einer möglichst breiten, gegen die Militärpolitik der NATO gerichteten Protestbewegung erzielt werden. Trotz beeindruckender Anfangserfolge gelang es diesem "Friedenskampf' aber nicht, das Militärpotential der NATO mit Hilfe betrügerischer Rüstungskontrollofferten oder der parallel zur Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte entfalteten Abrüstungskampagnen auf eine militärisch oder politisch unerhebliche Residualgröße zu reduzieren. Das von Breshnews Politbüro mit geradezu manischer Besessenheit angehäufte Waffenarsenal konnte so zu einer ökonomischen Bleiweste werden, die das überdehnte Sowjetimperium im Laufe der 80er Jahre rettungslos absaufen ließ. Armin Volze geht in einem kursorischen Überblick der Frage "Der Westverschuldung der DDR und ihrer Außenhandelsstatistik" nach. Die Westverschuldung der DDR und deren Handelsbilanzentwicklung zu verfolgen, war ftlr westliche Beobachter in den 70er und 80er Jahren keine leichte Aufgabe. Nach 1990 bot sich mit Öffnung der DDR-Archive die überraschende Möglichkeit, die früheren Beobachtungsergebnisse an Hand des zur VerfUgung stehenden Materials zu überprüfen Volze stellt in einer Art Zwischenbericht einige Erkenntnisse beider Aufarbeitung der DDR-Außenwirtschaft vor. Das Thema Westverschuldung der DDR läßt sich inzwischen wohl endgültig abhaken., nachdem die Deutsche Bundesbank im August 1999 ihre Berechnungen der DDR-Zahlungsbilanz 1975 bis 1989 vorgelegt hat. Hier bleibt nur noch die Geschichte einer Verwirrung nachzuzeichnen. Noch nicht abschließend läßt sich über den Aussagewert der DDR-Außenhandelsstatistik urteilen und die Frage ihrer Weiterverwendbarkeit beantworten.
Inga Grebe setzt sich mit "Die Anerkennung der DDR durch die Republik Chile" auseinander. Allende hatte sich bei der wirtschaftlichen Umgestaltung Chiles auf Berater aus der DDR gestützt, und die KP interessierte sich ftlr die Bündnispolitik der SED nach 1945/46. Über kurz oder lang hätte die chilenische KP die Erfahrungen der DDR vielleicht anwenden können. Der Putsch der Militärs verhinderte dies. Für die DDR blieb Chile ein interessantes Objekt. Immerhin war Allende im Endeffekt derjenige, der die Anerkennung der DDR vorantrieb. Dörte Putensen beschäftigt sich mit "Die Beziehungen der DDR zu den nordischen Ländern in der Zeit der ,Nichtanerkennung' ". Die Unterschiede zwischen Finnland, Schweden und den nordischen NATO-Staaten werden herausgearbeitet. Obwohl alle nordischen Staaten nie einen Zweifel an ihrer Zugehörigkeit und Verbundenheit zum Westen hatten aufkommen lassen, war aus Sicht der DDR-Führung Skandinavien insgesamt prädestiniert, in gewisser Hinsicht die Rolle einer Brücke zum Westen oder eines Vermittlers zwischen Ost und West zu spielen. Dieses "nordische Gleichgewicht" implizierte eine 2*
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insgesamt ausgewogene Bilanz in der Präsenz der westlichen und östlichen Großmacht USA und Sowjetunion in der Region. Darin sah die DDR fiir sich gewissen Möglichkeiten, mußte aber gleichzeitig einkalkulieren, daß weder die nordischen Staaten noch die Großmächte An der Entstehung einer Schieflage dieses Gleichgewichts interessiert waren.
Ulrich Pfeil macht das Thema auf "Die DDR und der Schuman-Plan" auf. Wladislaw Subok und Konstantin Pleschakow wiesen auf einen Bedrohungskomplex bei den kommunistischen Führern hin, der spätestens bei der Verkündung des Marshall-Planes seinen Anfang genommen hatte. Dem Wesen wurde dabei dieselben Fähigkeiten zur Verschwörung unterstellt, die sich selbst zutrauten. Also geriet der Schuman-Plan in die anti-imperialistische Propaganda der DDR. Das nächste Kapitel "Herrschaft" wird eröffnet durch einen Beitrag von Armin Owzar "Bündnispartner wider Willen. Der gewerblich-industrielle Mittelstand in der SBZ/DDR (1945-1953)". Das widerwillige Arrangement der Mittelschichten mit dem Realsozialismus blieb auch den wenigen Westdeutschen, die sich nach 1949 noch fiir die ostdeutsche Gesellschaft interessierten, nicht verborgen. Seit die SED dazu übergegangen war, mit Hilfe wirtschaftspolitischer Hebel wie dem Steuerwesen die Selbständigkeit der Privatbetriebe zu geflihrden, haben die Handwerker ihre insgeheim ablehnende, nach außen hin aber neutral eingenommene Haltung dem Staat gegenüber aufgegeben. Anders als die handlungswillige Arbeiterschaft zeigte der Mittelstand keinerlei Bereitschaft, durch persönlichen Einsatz die Lage zu verändern. Hilfe erwartete man nur von außen, von der Bundesrepublik, vom Westen. Der scheinbar widersprüchliche, auf den gesamten gewerblich-industriellen Mittelstand übertragbare Befund von interessegeleiteter Kooperation und aktivem Aufbegehren z. B. im Verlaufe des Aufstandes vom Juni 1953 hilft, das eigentümliche Nebeneinander von Stabilität und Instabilität des SED-Regimes zu erklären. Gegenüber dem Mittelstand vermochte die SED mit Hilfe ihrer bündnispolitischen Strategie Krisen über viele Jahre hinweg entgegen zu steuern.
Mike Schmeitzner flihrt in diesem Kapitel fort mit "Instanzen der Diktaturdurchsetzung in Sachsen von 1945-1952" und kommt zu dem Schluß, daß dem Prozeß der Diktaturdurchsetzung ein strategisches Konzept zugrunde lag, welches in Moskau formuliert und in Sachsen modifiziert und präzisiert worden war. Sein Forschungsprojekt untersucht die Durchsetzung des Sachsen zwischen der kommunistischen Regimes im SBZ-Modell-Land sogenannten "Stunde Null" 1945 und der als Schlußpunkt dieses Prozesses anzusehenden Zerschlagung der ostdeutschen Länder 1952. Jochen Hecht gibt einen Überblick über "Die Unterlagen der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS (HVA)- Vernichtung, Überlieferung, Rekonstruktion". Im Zusammenhang mit dieser sehr speziellen archivalischen Hinterlassenschaft werden Ereignisse und Aufgaben benannt, die zur Vergangenheit gehörten, die
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Gegenwart berühren und in die Zukunft weisen. Deshalb können seine Aussagen nur einen Zwischenstand im Erkenntnisprozeß festhalten. Die Besonderheit der Überlieferung, besser: der Nichtüberlieferung von Unterlagen der HV A, hat auch etwas mit der Stellung dieser Struktureinheit im MfS und vielleicht noch mehr mit deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu tun.
Albrecht Kästner weist in seinem Beitrag "Bestandslage im BundesarchivMilitärarchiv zur militärischen Überlieferung und Möglichkeiten der Forschung" vielen Forschern und potentiellen Forschern den Weg zu Archivmaterialien militärischer Überlieferung deutscher Streitkräfte seit 1867. Das BundesarchivMilitärarchiv übernahm die Archivalien der Dokumentenzentrale - das waren die Unterlagen des Forschungsamtes, die die Westalliierten an die Bundesrepublik zurückgegeben hatten, so daß bis 1990 in Freiburg die militärische Überlieferung der deutschen Streitkräfte ab 1867 einschließlich die der Bundeswehr und ihrer Vorläufer konzentriert war. Mit d3em 3. Oktober 1990 übernahm das Bundesarchiv die Zentralarchive der DDR. Das Militärarchiv verblieb zunächst unter der Bezeichnung Militärisches Zwischenarchiv in Potsdam. Ab 1992 wurden die Unterlagen nach Freiburg in das Bundesarchiv-Militärarchiv verlagert und das Referat "Nationales Volksarmee" aufgebaut. Das Militärische Zwischenarchiv in Potsdam wurde Ende 1995 aufgelöst. Johannes Raschka weist in "1981 als Zäsur in der Entwicklung der DDR. Innenpolitischer Wandel als Folge außenpolitischer Veränderungen" nach, daß der Wegfall sowjetischer Subventionen nach 1981 den SED-Staat in immer größere ökonomische Abhängigkeit von der Bundesrepublik drängte, die ihren Ausdruck auch in einer seit 1983 wieder deutlich steigenden Verschuldung fand und die DDR zu immer umfangreicheren und in ihrer Form Zugeständnissen im humanitären Bereich zwang. Sein strafrechtliches Instrumentarium konnte der SED-Staat nur noch in eingeschränktem Maß zur Bekämpfung der Ausreisebewegung einsetzen. Der Beitrag, den die politischen Paragraphen und die politische Strafgerichtsbarkeit zur Stabilisierung der DDR leisteten, wurde immer geringer. Im Ietzen Beitrag dieses Kapitels beschäftigt sich Tobias Wunschik mit "Die Strafvollzugspolitik des SED-Regimes und die Behandlung der Häftlinge in den Getangoissen der DDR", ein trauriges Kapitel der DDR-Herrschaft. Die harten Haftbedingungen im DDR-Strafvollzug sind durch die Berichte vormals Inhaftierter Augenzeugen hinlänglich bekannt. Der traurige Alltag in den Getangoissen war durch die ungenügende medizinische. Die mangelhafter Ernährung und die Degradierung von Personen zu anonymen Insassen ohne Privatsphäre geprägt. Das Kapitel "Gesellschaft" wird eröffnet durch Helmut Jenkis mit "Hatte die DDR eine Überlebenschance? Illusionen über die wirtschaftliche Lage". Die Unflihigkeit zur Fehler- und Systemkorrektur bedeutete der grundlegende Unter-
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schied zwischen der deterministischen marxistischen Doktrin und dem kritischen Rationalismus. Vor der utopischen Idee der Planung und der Planwirtschaft kann nur gewarnt werden, nicht, weil aus wirtschaftlicher Sicht die Produktivität niedriger ist, sondern deshalb, weil die Idee einer utopischen sozialen Planung ein großes Irrlicht ist. Jenkis kommt zu dem begründeten Schluß: Unabhängig davon, wie hoch die Auslandsverschuldung war, wie groß die Produktivitätsunterschiede waren und unabhängig davon, ob die Bundesrepublik einen Solidarbeitrag von 15 Mrd. DM gewährte: Die DDR hatte keine ökonomische Überlebenschance. Die ökonomische Misere hatte den Untergang der DDR beschleunigt., die Gewährung des Selbstbestimmungsrecht der Deutschen durch Gorbatschow hat diesen besiegelt. Mit einem weiteren gesellschafts- und wirtschaftspolitischem Thema setzt sich Siegfried Grundmann auseinander "Die absurde Logik des Wohnungs- und Städtebaus der DDR", wobei er das Schwergewicht auf die Honecker-Ära legt. Es "pfupfert" ihn eigentlich, auch einen Artikel zum Wohnungs- und Städtebau der letzten zehn Jahre zu verfassen - aber "das ist nicht mein Thema". Die Formulierung "Wohnungs- und Städtebau" kam in der DDR dieser Ära leicht von den Lippen. Sorgfliltig und chronologisch geht Grundmann das Thema an vom "Wohnungsbauprogramm des VIII. Parteitages der SED" von 1971, über die "Lösung der Wohnungsfrage bis 1990" auf der 120. Tagung des ZK der SED im Oktober 1973. Seit Ende der 70er Jahre war von der "Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis zum Jahre 1990" die Rede. Eine bindende, SED-offizielle Defmition des Zieles hat es nie gegeben. Grundmann erläutert die Rahmenbedingungen des Wohnungs- und Städtebaus seit 1971, den Zentralismus, die Kosten (niedrige Mieten und Tarife), die Bodenpreise" die Resultate, den Qualitätsverlust, die fortschreitenden Segregation in den Städten" die Versuche der Gegensteuerung in den 80er Jahren und die Gründe des Scheitems. Er belegt übersichtlich mit Statistiken und Quellen und stellt abschließen die Frage "Was wäre, wenn die DDR 1989/90 nicht untergegangen wäre?". Die Antworten sind süffisant bis kabarettreif. Mit einem längst vergessen geglaubten Ereignis und Thema setzt sich Jnge Bennewitz auseinander: "Die Glatzkopfbande- ein DEFA-Spielfilm und seine Hintergründe". Dieser Film kam 1963 in die Kinos und brachte es in ftlnf Jahren Laufzeit auf 2,2 Mio. Zuschauer, keine besondere Rekordzahl (den Kinderfilm "Der kleine Muck" sahen 16 Mio.). Dennoch- wer in der DDR aufgewachsen und vor 1955 geboren ist, erinnert sich meist an diesen Film. Daß er angeblich nach authentischen Ereignissen gedreht wurde und tatsächlich im Zusammenhang mit einer "Glatzkopfbande 11 junge Männer im Sommer 1961 im Sommer 1961 zu insgesamt 27 Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurden, haben heute viele vergessen. Bennewitz beschreibt den Inhalt des Filmes, die Ereignisse von 1961, Verurteilung und die Zeit nach der Entlassung im Jahre und kommt zum folgenden Schluß: Die Glatzkopfbande ist eindeutig eine Erfmdung. Mit Kußhand hat der Machtapparat der SED die Bandentheorie
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aufgegriffen und mit großem Aufwand fiir die Rechtfertigung des Mauerbaus 1961 vermarktet. Die elf Verurteilten jungen Menschen waren keine Kriminellen und auch keine Helden, sondern junge Menschen wie du und ich., die im Urlaub Spaß haben wollten - Spaß, der durch das Zusammentreffen mehrerer Umstände auf die Spitze getrieben wurde und einige junge Männer scheinbar vergessen ließ, wo sie lebten. Mit einem weiteren gesellschaftspolitischen Thema setzt sich Andreas Malycha in seinem Beitrag "Produktivität und Wissenschaft"- Wissenschaft und Politik in der SBZ/DDR in den Jahren 1945-1952" auseinander. In der DDR beanspruchten Wissenschaft, Forschung und Technologie sowohl in den öffentlichen Selbstdarstellungen der SED als auch in der praktischen Politik einen ökonomisch und gesamtgesellschaftlich hohen Stellenwert. Wurde "Produktivkraft Wissenschaft" von Wissenschaftlern als schöpferische Weiterentwicklung der marxistischen Gesellschaftstheorie begriffen, so widerspiegeln die von den verschiedenen Parteigremien verabschiedeten Deklarationen über die Rolle der Wissenschaft als neue Produktivkraft am deutlichsten die Versuche der SED, Wissenschaft nicht nur auf der personellen und institutionellen, sondern auch auf der kognitiven Ebene zu steuern. Auf diese Weise hat die Politik die Wissenschaftsentwicklung einerseits stimuliert, andererseits der Entfaltung der wissenschaftlichen Kreativität deutliche Grenzen gesetzt und die Wissenschaft insgesamt politisiert. Annegret Schüfe beschäftigt sich in einer Fallstudie mit "Die gesellschaftliche und lebensgeschichtliche Bedeutung weiblicher Industriearbeiter in der DDR". Mit einem Anteil von 41 % wurde weibliche Industriearbeit in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR zu einem wesentlichen Faktor der ostdeutschen Industriegesellschaft. Die Erweiterung der industriellen Kapazitäten sowie die Kompensation von in den Westen abgewanderten Arbeitskräften wurden vor allem von ihnen ermöglicht. Insgesamt waren rund 90 % der Frauen erwerbstätig. Industrien mit einem traditionell hohen Frauenanteil wie zum Beispiel die Textilindustrie wurden zu reinen Frauendomänen. Daß die hohe Frauenquote eine strukturelle Geschlechterhierarchie im Berufsleben der DDR nicht aufhob, ist vielfach gezeigt worden. Frauen waren in leitenden Positionen unterrepräsentiert, verdienten 25 bis 30 % weniger als Männer und wurden in Berufe gedrängt, die als traditionell weiblich galten. Der Vergleich von traditionell männliche und traditionell weiblichen Industriebranchen bringt weitere geschlechterhierarchische Strukturen ans Licht.
Mit einem anderen gesellschaftspolitischen Aspekt setzt sich Dieter Wink/er auseinander in seinem Beitrag "Das Projekt ,Schubladentexte aus der DDR' Motive, Inhalte, derzeitiger Stand". Er meint, erst mit dem Ende der DDR begann ein wirkliches Interesse an ihrer Geschichte. Von diesem neuerwachten Interesse zeugen mittlerweile eine Fülle von Dokumenteneditionen, die Publikationen der Enquete-Kommission, Erinnerungsbände, insbesondere ehemaliger
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Funktionsträger, eine zunehmende Zahl von Forschungsmonographien. Gefördert wurde dies Entwicklung durch die Öffuung aller wichtiger Archive des zweiten deutschen Staates schon kurz nach dessen Untergang. Da in diesen Archiven aber vor allem zu fmden ist, was die Mächtigen des verflossenen Staates wollten, wußten und nach eigenem Urteil erreichten, tendiert eine Geschichtsbetrachtung, die sich vorrangig auf Archive stützt, thematisch zu einer auf die Politik der Mächtigen der DDR orientierten Geschichtsschreibung. Obwohl Voraussetzung und Beginn der Nach-DDR-Historiographie die demokratische Bewegung des Herbstes 1989 war, spielte und spielt eine Geschichtsbetrachtung "von unten" in der neueren DDR-Geschichtsschreibung nur eine geringe Rolle. Auf Grund der immer noch höchst kontrovers geführten Debatten über die Geschichte der DDR und mehr noch über deren politisches, wirtschaftliches und kulturelles Erbe und Hineinwirken dieses Erbe in die ostund gesamtdeutsche Mentalität möchte Winkler mit Torsten Hille mit dem Projekt Schubladentexte auf bislang wenig erschlossene, aber doch höchst authentische Quellen zur DDR-Geschichte aufmerksam machen. Dieses Kapitel wird abgeschlossen von Lothar Mertens mit "Zur Geschichte und Entwicklung der Akademie der Wissenschaften beim ZK der SED". Die Akademie fiir Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (AfG) war nicht nur eine wichtige wissenschaftliche Ausbildungsstätte für die Parteikader, die in mehrjährigen Kursen ausgebildet wurden. Die AfG war darüberhinaus eine zentrale gesellschaftswissenschaftliche Forschungsinstitution, welcher in den Bereichen Philosophie, Soziologie und Wissenschaftlicher Kommunismus eine Richtlinienkompetenz zukam. Die langjährige personelle Kontinuität der Führungskader weisen auf die hohe politisch-ideologische Bedeutung dieser Institution hin, die in der breiten Öffentlichkeit erst durch die Rolle bei den Verhandlungen des SPD-SED-Papiers von 1987 wahrgenommen wurde. Nach dem historischen Abriß der AfG beschreibt und analysiert er den Institutsaufbau und setzt sich abschließend mit der Publikationstätigkeit auseinander. Im Anhang wird die Struktur der AfG präsentiert. Den Reigen des umfangreichen Kapitels "Einigungsaspekte" eröffnet Gerhard Wellig mit einer historisch-politischen Thematik "Wege des Bemühens um die nationale Einheit in der Zeit des Kalten Krieges". Spätestens seit dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges Mitte 1947 war die Systemfrage das Kernproblem der deutschen Einheit. Für die sowjetische Führung und ihre Gefolgschaft in der SBZ/DDR war allein ein "demokratisches und friedliebendes Deutschland", d. h. ein Staat mit sozialistischer Ordnung und unter kommunistischem Regime, akzeptabel. Die Westdeutschen forderten demgegenüber mit Unterstützung der Westmächte eine "Wiedervereinigung durch freie Wahlen", d. h. ein auf demokratische Selbstbestimmung gegründetes Gesamtdeutschland, dessen Ordnung vorhersehbarerweise westlich-demokratisch sein würde. Angesichts dieses grundlegenden Gegensatzes stellte sich die Frage, wie die nationale Einheit dann noch zu erreichen sein sollte. Die in der Bundesrepublik entwickelten
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Vorstellungen und Konzepte stellt Wettig kurz vor: Das einheitliche Deutschland zwischen den Blöcken, Adenauers "Politik der Stärke", die "Neue Ostpolitik" und Bahrs Variante der "militärischen Entspannung". Als Fazit hält Wettig fest: Die deutsche Wiedervereinigung nahm einen anderen Verlauf, als in irgendeinem der Konzepte vorgesehen war. Alle waren davon ausgegangen, daß es zu einer Übereinkunft über die Einheit Deutschlands mit einem weiter an der Macht bleibenden kommunistischen Regime kommen werde. Mit den grundlegenden Erschütterungen von System und Imperium, die der Zustimmung des Kreml 1990 vorausgingen, hatte in den 50er und 60er Jahren noch niemand gerechnet. Daher war jeder davon ausgegangen, daß nur ein Verhaltenswechsel des Regimes- und nicht ein von innen oder von unten kommender Wandel- die Vereinigung nach sich ziehen könne. Davon abgesehen, traf Adenauers Voraussage zu: Die Bereitschaft des Kreml, den gesamtdeutschen Staat auf demokratischer Grundlage zuzulassen, ergab sich nicht als Lohn langdauernden Verhandelns, sondern auf Grund einer Situation, in der die Sowjetunion mit besonderen Herausforderungen konfrontiert war und sich daher auf kooperatives Verhalten der Westmächte und der Bundesrepublik angewiesen war. Adenauer lag auch mit einer zweiten Einschätzung richtig: Das vereinigte Deutschland werde weder als Resultat eines Austausches wesentlicher Zugeständnisse zwischen Ost und West noch durch sicherheitspolitische Abmachungen zustande kommen. Vielmehr werde das politische und wirtschaftliche Übergewicht des Westens die entscheidende Voraussetzung sein. Als richtig erwies sich auch die These, das vereinigte Deutschland mit seinem vergrößerten politischen Gewicht werde nur in der westlichen Einbindung für die anderen europäischen Staaten akzeptabel sein.
Jürgen Hofmann überschrieb seinen Beitrag mit "Identifikation und Distanz", in dem er ostdeutsche Meinungsbilder zur DDR-Gesellschaft und zum Einigungsprozeß im Spiegel der Untersuchungsreihe "ident" von 1990 bis 1999 vorstellt. Im Sommer 1999 gaben 42 % der befragten Ostdeutschen bei einer Forsa-Umfrage an, sie hätten sich "im Gesellschaftssystem der DDR alles in allem wohler gefühlt als heute" , 31 % verneinten dies und 18 % vermochten keinen Unterschied auszumachen. Mit der Demokratie zeigten sich im September 2000 laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest Dimap nur 46% der Ostdeutschen zufrieden, während unter den Westdeutschen die Zufriedenheitsrate 70 % erreichte. Solche und ähnliche Umfragen nähren regelmäßig Befürchtungen, in den neuen Bundesländern bilde sich eine Tendenz der Verklärung der DDR-Gesellschaft heraus, die mit einer anhaltenden Distanz zur gesamtdeutschen Gesellschaft korrespondiere. Vereinzelt werden sogar "Symptome einer gewachsenen Entfremdung, einer Gegenidentifikation zum öffentlich proklamierten Wertekonsens" der Bundesrepublik ausgemacht. Die Untersuchungsreihe "ident" erfaßt seit mehr als einem Jahrzehnt Meinungsbilder der Ostdeutschen zum Einigungsprozeß, Rückblicke auf die DDR-Gesellschaft und DDR-Geschichte als wesentliche Komponenten erfahrener Sozialisation
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sowie die Urteile über die Gesellschaft der Bundesrepublik, die zunächst einen Erwartungs- und später einen spezifischen Erfahrungshorizont widerspiegeln. In den nächsten zwei Beiträgen setzen sich die Autoren mit Einigungsaspekten auf lokaler Eben auseinander. Phitipp Springer macht das mit der brandenburgiseben Stadt Schwedt, Anton Sterling mit den sächsischen Städten Görlitz und Hoyerswerda. Springer beginnt mit einem Zitat aus der Festschrift der Stadt Schwedt zur 700Jahr-Feier aus dem Jahre 1965: "Und was werden die Geschichtsschreiber im Jahre 2000 zu berichten haben?" Kaum eine andere Frage war in der Öffentlichkeit der "dritten sozialistischen Stadt Schwedt" an der Oder in den 60er Jahren stärker präsent als diese. In Reportagen, Romanen, Gedichten und in der bildenden Kunst, in Reden, Zeitungsartikeln, Diskussionsforen und Ausstellungen wurde den Schwedtern eine glückliche kommende Zeit versprochen. Die Euphorie über das Morgen läßt sich jedoch seit Anfang der 70er Jahre nicht mehr in der Stadt aufspüren. Die Zukunft als demnächst realisierte Utopie war verschwunden, die Bewohner in der real existierenden sozialistischen Stadtgesellschaft angekommen. Die Analyse dieses Wandels in der Zukunftsdarstellung und Zukunftswahrnehmung ist allerdings nicht nur filr die Geschichte dieser einzelnen Stadt und ihrer Bevölkerung von Bedeutung. Der Versuch, das Herrschaftssystem durch euphorische Zukunftsvisionen, deren Realisierung unmittelbar bevorzustehen schien, die notwendige Legitimation zu verschaffen, ist typisch filr diese Periode der DDR-Geschichte. Doch zudem läßt sich filr den engen lokal-geographischen Rahmen hinaus dieses Thema "Zukunft" als Beispiel dafilr heranziehen, daß der Ansatz einer gesellschaftsgeschichtlich orientierten Stadtgeschichte Impulse filr die Untersuchung von Politik-, Sozial- und Alltagsgeschichte der DDR geben kann. Von all den Hoffnungen auf eine bessere Zukunft war am Ende der DDR nicht mehr viel übrig. 25 Jahre nach der Festschrift zum 700jährigen Jubiläum erschien zum 725jährigen Jubiläum erneut eine Festschrift. Von dem Optimismus und der Utopiegläubigkeit der 106er Jahre war darin nichts mehr zu finden. Die Zukunftserwartungen waren schon lange vor 1989/90 verschwunden. Sterblings Ausfiihrungen beziehen sich vornehmlich auf die beiden im Osten Sachsens gelegenen Städte Görlitz und Hoyerswerda. Zunächst stellt er einige Befunde zur demographischen, beschäftigungsbezogenen und sozialen Entwicklung in diesen Städten dar. Anschließend werden ausgewählte Ergebnisse zur subjektiven Wahrnehmung und Bewertung wichtiger lebensqualitäts-relevanter Aspekte angesprochen, die sich auf seine empirischen Untersuchungen stützen. Die ausgewählten Befunden lassen sich durchaus mit anderen Untersuchungen in Ostdeutschland und in der Bundesrepublik vergleichen und stimmen mit diesen, wenn man hinreichend berücksichtigt, daß mit unterschiedlichen Erhebungsinstrurnenten, Einzelfragen und Skalen gearbeitet wurde, weitgehend überein. Wie in Ostdeutschland insgesamt stellt die hohe Arbeitslosigkeit ein großes Problem dar. Hinzu kommt die Problematik der anhaltenden
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Abwanderung. Nach dem Niedergang der kommunistischen Herrschaft und seit der Wiedervereinigung haben die Menschen aber zugleich ein hohes Maß an persönlicher Freiheit errungen und eine deutliche Einkommens- und Wohlstandssteigerung erlebt. Daher ist es nicht erstaunlich, daß die subjektive Zufriedenheit mit der Lebenssituation insgesamt, mit den materiellen Lebensbedingungen sowie mit einzelnen Infrastruktur- und Lebensbereichen relativ hoch ist. Niedriger sind indes die Zufriedenheitswerte mit der Arbeits-, Beschäftigungsund Einkommenslage und mit den politischen und gesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten. Noch geringer ist die Zufriedenheit mit der inneren Sicherheit. Probleme der Sicherheit und Ordnung werden neben der Arbeitslosigkeit als die größten Herausforderungen und Belastungen empfunden. Sven Korzilius setzt sich mit einem ganz besonderen Problem der Herstellung der inneren Einheit auseinander: "Die Rehabilitierung von Opfern der SEDUnrechtsjustiz". Während die Prozesse gegen die Polit-Prominenz der ehemaligen DDR oder die sog. "Mauerschützen-Prozesse" große öffentliche Aufmerksamkeit genossen, wurde über den opferbezogenen Teil der Aufarbeitung des SED-Unrechts weit weniger berichtet. Nach den - nicht vollständigen - Gefangenenstatistiken wurden in der DDR über 700.000 Personen zu Freiheitsstrafen verurteilt, davon nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 150.000 und 400.000 aus politischer Motivation. Schwerpunkte bilden (neben dem gesonderten Komplex der Verurteilungen durch die Sowjets, insbesondere durch die Militärtribunale und dem Sonderfall der "Waldheimer Prozesse") politisch motivierte Strafurteile aus den 50er und 60er Jahren, aber auch Verurteilungen des 2. Und 8. Kapitels des DDR-StGB von 1968, wobei insgesamt über die rund 45 Jahre hinweg eine abnehmende Tendenz der politischen Strafjustiz festzustellen ist. Hinzu kommen die Fälle von Bürgern, die zu Unrecht zwangsweise in psychiatrische Anstalten eingewiesen wurden, die Fälle derjenigen, die von der innerdeutschen Grenze in andere Teile der DDR zwangsumgesiedelt wurden, und diejenigen, die an "Ausbildung und Fortkommen gehindert" wurden. Für die Rehabilitierung in der DDR zu Unrecht strafrechtlich Verurteilter durch die Bundesrepublik die Bundesrepublik "alt" und "neu" sind nach den jeweiligen Rechtsgrundlagen - drei Phasen zu unterscheiden: Die erste Phase, in der das Häftlingshilfegesetz und das Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen von 1953 galten, eine (kurze) zweite Phase, in welcher das Rehabilitierungsgesetz der DDR galt und schließlich seit 1992 die Rehabilitierung nach dem Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet. Stets bedeutete Rehabilitierung dabei die Befreiung vom Makel der Verurteilung, die Anerkennung als Regimeopfer, die, wie es die Präambel des DDR-Rehabilitierungsgesetzes ausdrückte, "politisch-moralische Genugtuung ftlr den Betroffenen" einerseits, andererseits zugleich aber auch mehr oder weniger materielle Leistungen unter Aspekten der Entschädigung und soziale Hilfe. Mit der "Arbeit der Justiz allein" allerdings ist es in der Sache der Rehabilitierung nicht getan. Das Hauptaugenmerk sollte nicht auf der rein
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finanziellen Seite liegen, sondern auf einer gesellschaftlichen Aufarbeitung. Es gilt hierbei zum einen, in der Gesellschaft der ehemaligen Bundesrepublik die schwach entwickelte und nach mehr als 10 Jahren deutscher Einheit stark nachlassende gesellschaftliche Aufmerksamkeit fiir das durch die zweite deutsche Diktatur verübte Unrecht und die Schicksale der Opfer zu stärken, zum anderen, innerhalb der Gesellschaft der ehemaligen DDR ein Klima zu schaffen, welches zwischen Tätern und Opfern einen Dialog ermöglicht, welcher nicht von Rachegefiihlen, aber noch weniger von bloßem Vergessen oder gar einseitigem Verzeihen geprägt sei solle, sondern von einem offenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Andreas Ludwig hat seinen Artikel "Gedächtnisbildung durch museale Arbeit. Das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR" genannt. Mehr als l 0 Jahre nach der deutschen Einheit steht man vor widersprüchlichen Beobachtungen, was das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart angeht: Als Historiker mag man überrascht sein über das Maß an Aufmerksamkeit, das Geschichte, zumal die Zeitgeschichte, erregt. Durchlebten die Zeitzeugen die Jahre 1989/90 durchaus in dem Bewußtsein, Teilnehmer oder zumindest Beobachter historischer Ereignisse zu sein, so mag dieses anhaltende Interesse- ob Neugier über das "Andere", aus Differenzierungserfahrung oder als Sicherung der jeweils "eigenen" Biographie mag dahingestellt bleiben - an der Geschichte der DDR und des geteilten Deutschland zugleich erstaunen, haben doch andere Probleme inzwischen größere alltagspraktische und politische Relevanz bekommen. Unmittelbarer Auslöser fiir das Projekt, ein Museum zur Alltagsgeschichte und Alltagskultur der DDR aufzubauen, war die in den Jahren nach 1990 einprägsame Beobachtung, daß die Objektwelt DDR in einem ungeheuren Ausmaß entsorgt wurde. Haufen von Hausrat, periodisch abgefahren und erneut aufgetürmt, entlang den Straßen, Container voller Bücher, Halden von Schriftgut aus Betrieben und Verwaltungen auf Freiflächen ließen den Eindruck entstehen, daß ein ganz~s Land entsorgt würde und binnen kurzem ein Austausch seiner materiellen Kultur vonstatten ginge. Die löste den Impuls der Sicherung und Bewahrung aus. Als das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR 1993 in Eisenhüttenstadt seine Arbeit aufnahm. War dem eine Inkubationsphase vorangegangen. Heute: Die Sammlung als Objektivation des sozialen Gedächtnisses, das Museum als Ort des Gedächtnisses und der an geschichtlichen Fragen orientierten Kommunikation - dies sind Aspekte, die das Museum gesellschaftlich verorten, in seiner Funktion als institutioneller Wissensspeicher neben Archiv und Bibliothek einerseits, in seiner Funktion als mediales Angebot durch seine Ausstellungen in Konkurrenz zu andren Medien andererseits.
Die Makroebene der Bewahrung des Gedächtnisses wird von Hermann Schäfer bearbeitet: " ,Laboratorium Oeutsche Einheit' ". Aufbau Ost: Erfahrungen der Stiftung der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland". Am 4. November 1989, dem Tag der Massendemonstration in Ost-Berlin, begann eine neue Phase in der Arbeit des Aufbaustabes des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik
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Deutschland. Nach dem Fall der Mauer, fünf Tage später, eröffneten sich deutschlandpolitische Perspektiven, von denen Wochen vorher nur geträumt werden konnte. Die Aufbewahrung geschichtlicher Zeugnisse ist Quellen- und Spurensicherung. Unter den Medien, die wesentlich zur Auseinandersetzung mit der Geschichte beitragen, kommt Ausstellungen eine besonders wichtige Rolle zu. Die konzeptionellen Überlegungen zur Errichtung eines "Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrums zur deutschen Einheit (Leipzig) (Arbeitstitel)" wurden Ende Januar 1993 vorgelegt. Die damals formulierten Zielsetzungen und Aufgaben haben heute noch Gültigkeit. Das Kuratorium der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nahm erstmals in seiner Sitzung vom 24. Mai 1993 diese neue Entwicklung und die Ausweitung des Aufgabenbereichs des Museums zustimmend zur Kenntnis. Die Anregung zu einer ersten Ausstellung "Fünf Jahre danach" stammt aus einer Besprechung zwischen Vertretern des Hauses der Geschichte und Vertretern der Bürgerbewegung am 29. September 1993. Unter dem endgültigen Titel "Zum Herbst '89: Demokratische Bewegung der DDR" sahen vom 25. September bis zum 9. November 1994 fast 15.000 Menschen die Ausstellung, anschließend ging sie nach Berlin und Bremen. So war ein wichtiger Anfang für ein größeres Projekt gemacht. Fünf Jahre später wurde das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig eröffnet. Die Flut historischer Informationen und zahlreiche Exponate werden in Ausstellungsszenen gebündelt. Die Ausstellung will Menschen an die Geschichte heranführen und zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart anregen. Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig wirkt dem Verschweigen entgegen und fördert somit Verantwortung für die Zukunft im Handeln der Gegenwart. Einem interessanten Einigungs-Aspekt wendet sich Laurence McFalls zu "Die Verwandlung: Ostdeutsche politische und Alltagskultur vom real-existierenden Sozialismus zur postmodernen kapitalistischen Konsumkultur". Von wo aus auch immer betrachtet, werden die politischen und kulturellen Widerstände und Brüche, mit denen sich das vereinigte Deutschland vermeintlich herumplagt, meistens mit der leidigen Vergangenheit und den widersprüchlichen Interessenlagen der Gegenwart erklärt. Dank der durch die Einheit induzierten Schocktherapie waren die Ostdeutschen, so McFalls, nicht nur zur raschen Anpassung an irgendein System gezwungen, sondern auch an eine spätkapitalistische Konsumgesellschaft in Reinform, die sozusagen das Musterbeispiel für einen erbarmungslosen Schlagabtausch im internationalen Wettbewerb abgibt, die das Sozialstaatsprinzip ständig weiter verringert und das Nonplusultra an Lebensqualität durch allgegenwärtige Einkaufszentren, Mobiltelefone und im Autohandel verwirklicht sieht. Dieser Crashkurs in postmodernem Wirtschaftsgebaren katapultierte die Ossis sozusagen von heute auf morgen auf den gemeinschaftlichen Weg mit den Wessis in die globalisierte neoliberale Gesellschaft, diesen allerdings des raschen Anpassungsdrucks wegen immer eine Nasenlänge voraus.
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Alexander von Plato holt in sei~em Beitrag "Widersprüchliche Erinnerungen: Internationale Protagonisten der Wiedervereinigung und nationale Vereinigungsmythen" noch einmal das Jahr 1989/90 durch Befragen maßgeblicher Akteure ins Gedächtnis. Deutschland am Ende des alten Jahrhunderts und am Beginn des neuen ist Schauplatz, und wir sind Zeugen der Herausbildung eines kollektiven Mythos. Noch ehe die Akten der meisten Staatskanzleien, der Außenministerien und der Geheimdienste der beteiligten Staaten geöffnet sind, haben die Fernsehanstalten, die Hörfunksender und die Zeitungen, manchmal auch Zeithistoriker in Deutschland in einem medialen Overkill ein Bild von der Wiedervereinigung und der Beendigung des Kalten Krieges in Buropa gemalt, das wie die frühe Fixierung eines nationalen Mythos erscheint: Das Volk der DDR hat auf Initiative der Bürgerrechtsbewegung, gefilhrt von einem weitsichtigen westdeutschen Kanzler, unter dem Beistand des Meistertaktikers Gorbatschow, unter Bedrohung sowjetischer Generale, unter Nutzung eins nur schmalen Zeitraums seine Befreiung erkämpft und sich zu einer gemeinsamen, zukunftsträchtigen Bundesrepublik vereint. Dieses Bild ist natürlich nicht (ganz) falsch. Es gibt auch genügend Quellen, die ein näheres Hinschauen erlauben: Autobiographische Schriften, Interviews mit Beteiligten, wissenschaftliche Dokumentationen und Untersuchen. Außerdem sind Aktenbestände geöffnet worden ohne Einhaltung einer sonst üblichen Sperrfrist von 30 oder mehr Jahren. Im Zuge der Vorbereitung filr das zweiteilige "Dokudrama" zur Wiedervereinigung mit dem Titel "Deutschlandspiel" hat das ZDF ca. 60 Interviews mit Hauptbeteiligten dieses Prozesses durchfUhren lassen, an denen v. Plato beteiligt war. Alle diese Quellen werden in diesem Beitrag in knapper Form berücksichtigt, um einige der wissenschaftlichen und medialen Imaginationen über die Wiedervereinigung zu untersuchen. Fast alle Beteiligten erliegen der Versuchung, den Zeitpunkt ihrer Erkenntnis über die baldige Wiedervereinigung und ihre Aktivität filr diesen Prozeß sehr früh anzusiedeln bei allgemeiner Betonung, daß es kaum eine abschätzbare Beschleunigung hin zu Wiedervereinigung gegeben habe. Wichtiger erscheint, was denn eigentlich vorausgesehen wurde: Der Zusammenbruch der DDR und der Fall der Mauer, die Entmachtung der SED, die Vereinigung oder sogar die NATO-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland? Hier, indem Inhalt der im Nachhinein erinnerten Prophetien, gibt es große Unterschiede zwischen den amerikanischen, französischen, britischen, sowjetischen sowie den deutschen Politikern. Und unter den deutschen Politikern in Ost und West sind wiederum erhebliche Differenzen auszumachen. In allen diesen Fragen gehören nachträgliche Vorverlegungen der eigenen Erkenntnisse und Aktivitäten zur Selbstverständlichkeit und Selbstverständigung. Denn die Antworten auf die Fragen vereinigen Gruppen, auch solche mit unterschiedlichen Interessen bis heute, schaffen Mythengemeinschaften, die flir die spätere Politik nicht unwichtig werden. Abgesehen davon geht es den politischen Repräsentanten auch um die Überlieferung ihrer eigenen Leistungen als Interessenvertreter ihrer nationalen Politik. Die vom Autor aus verschiedenen Ländern angeführten Beispiele sollen reichen, um zu zeigen, daß es auch und besonders in diesen entscheidenden Fragen der Beendigung des Kalten Krieges und der
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staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands einen Kampf um die Interpretation der Geschichte gibt, die im Rückblick die Geschichte selbst und die Protagonisten dieses Prozesses verändert.
Ulrich Schröter setzt durch Gespräche andere Maßstäbe menschlicher Kommunikation in seinem Beitrag "Erfahrungen mit einem Gesprächskreis". Politische Umwälzungen verändern schlagartig die Wertvorstellungen. Bisher Herrschende werden zur Verantwortung gezogen. Plötzlich finden sie sich in der Verteidigerrolle. Nicht, daß sie damit auch schon zur DDR-Zeit Opfer des von ihnen vertretenen Systems werden konnten. Auch sollen sie den Opfern ihres Verantwortungsbereiches nicht gleichgestellt werden. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß sie sich in einem entscheidenden Wechsel unterworfen sehen. Plötzlich sind sie die Angefragten, Angegriffenen und damit in keiner leichten Rolle. Die Notwendigkeit, die Verantwortlichen in den Prozeß der Neugestaltung einzubeziehen, sie zu befragen, ergibt sich zunächst aus dem Erleiden der bisher Benachteiligten. Sie haben ein recht darauf, zu erfahren, warum man ihnen mitspielte, warum man sie im Beruf benachteiligte, ihnen das berufliche Fortkommen erschwerte oder unmöglich machte, warum man sie überwachte oder gar in Haft nahm. Der Gewaltenteilung in unserem Staat entspricht es, daß jedenfalls auf der gerichtlichen Ebene Opfer nicht zugleich Richter sein können. Anderes gilt beim außergerichtlichen Weg: Vorträge, Diskussionsrunden und Gesprächsgruppen sind hier Gestaltungsmöglichkeiten. Im Museum am Check-point Charlie gab es Gespräche zwischen je einem Mitarbeiter der Staatssicherheit und einem Betroffenen. Dieser kurzzeitige Versuch hat die Zuhörer mitunter gespalten, oft votierten sie eindeutig gegen den Mitarbeiter des MfS, konnten sie verständlicherweise - dessen Ausfllhrungen kaum ertragen. Sich selbst die Schuldfrage zu stellen, ist ein schwieriges Unterfangen. Es ist die Frage zu stellen, was öffentlich und was zumindest zunächst nur in kleineren Kreisen geschehen kann. Das Ziel liegt darin, warum der einzelne so und nicht anders gehandelt hat- politisch Verantwortliche wie Betroffene. Das Beurteilen kann erst der zweite Akt sein, ebenso die Erkenntnis eigenen Versagen. Es zeigt sich, daß schon das Wahrnehmen der Handlungskriterien eine anstrengende Arbeit ausmacht. Parteigenossen und Mitarbeiter des MfS hatten kaum einen echten Zugang zu Andersdenkenden. Zu schnell wurden sie lediglich als Gegner, ja, Feinde gesichtet., die zu bekämpfen waren .. Umgekehrt wurde das MfS von denen, die im sich in ihrem Visier befanden, als anonyme, bedrohliche Größe erfahren. Durch den Bericht über das Erleben bekommen die Gesprächspartner ein Gesicht - Verstrickte wie Betroffene. Die gegenseitige Verwunderung darüber, daß man schon einige Jahre miteinander spricht und noch kein entscheidender Wandel in der Erkenntnis der Mitarbeiter, aber nach der Betroffenen eingetreten ist, wird mitunter zum Ausdruck gebracht. Einige sehen deshalb auch nach einiger Zeit den Redebedarf gedeckt. Wie vielfältig die Einigungsaspekte sind, zeigt uns der nächste Beitrag von Ingrid Reichart-Dreyer: Das Zusammenwachsen der CDU durch Meinungs-
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bildung zum ersten gesamtdeutschen Grundsatzprogramm ,Freiheit in Verantwortung'. Die deutsche Vereinigung forderte von den politischen Parteien, über den materiellen Ausgleich hinaus, die staatliche Einheit durch eine gemeinsame Identität zu sichern. Mit dem Vereinigungsparteitag in 1990m in Harnburg stellte die CDU den Neuanfang symbolisch heraus, doch mußte erstens ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Mitgliedergruppen in den neuen Bundesländern gefunden und zweitens eine Brücke zwischen Ost und West geschlagen werden. Im April 200 signalisierte die CDU mit der Wahl von Angela Merkel zur Vorsitzenden, daß sie die Einheit in der Spitze personell vollzogen hat. Ob sie den Anspruch, Partei der deutschen Einheit zu sein, auch programmatisch erfilllt, versucht Reichart-Dreyer, am Beispiel von Prozeß und Ergebnis der Meinungsbildung zu einem neuen Grundsatzprogramm der CDU von 1990 bis 1994 zu prüfen. Programmarbeit bietet die Chance, mit der Artikulation der Prinzipien und der gemeinsamen Anliegen ein alle Mitglieder umfassendes, einigendes Band herzustellen; denn in der Programmarbeit können Erfahrungen und Erwartungen ausgetauscht, Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkannt und die Trennung zwischen Ost und West aufgehoben werden. Wird außerdem Konsens über die Ausgangslage, über die Orientierung und die Prinzipien erarbeitet, kann die zum Handeln notwendige Macht durch Übereinstimmung entstehen. Die Verfasserin klärt, ob die CDU einen ausreichenden Konsens über Grundlagen, Werte, Prinzipien und Gestaltungsziele ihrer Politik erreichte. Als Resümee führt die Autorin an: Der Blick auf die Leistungen der CDU, die Partei personell und programmatisch zu integrieren, neue und alte Bundesländer zusammenzufiihren, Führungspersonal auszubilden, Mitglieder zu gewinnen und in einen Dialog mit der Gesellschaft einzutreten, zeigt, daß die Partei den eigenen demokratischen Anspruch nur bedingt erfiillt. Die Entwicklung der CDU in den neuen Bundesländern ist symptomatisch fiir den Reformbedarf der Parteien und für ihr Bestreben, Reformen abzuwehren. Im Westen halten alte Bindungen und Gewöhnung die Mitglieder, doch deutet auch hier die geringe Beteiligung junger Menschen in den Parteien und bei Wahlen Legitimationsdefizite an. Schwachstellen der Parteien sind derzeit ihre Lernfähigkeit und ihr Vermögen, aus einer Annäherung an das Gemeinwohl jene Präferenzen zu formulieren, die sowohl zur individuellen Orientierung und Motivation als auch zur Koordination der Entscheidungen und zur Integration von Gruppen und Teilsystemen gebraucht werden. Das Grundsatzprogramm hat nach Auffassung der Verfasserin diese Lücke nicht gefiillt, doch konnte in der ausfUhrliehen Darstellung des Meinungsprozesses gezeigt werden, wie Gemeinwohl annäherungsweise durch Aufgabenverteilung und Amtsprinzip artikuliert und umgesetzt werden kann. Die letzten drei Beiträge ziehen Bilanz: Bernd Faulenbach in seinem Beitrag "Zehn Jahre Auseinandersetzungen über die doppelte Nachkriegsgeschichte und die Frage der inneren Einheit in Deutschland" eröffuet die Bilanz. Mit dem 3. Oktober 1990 wurde der Vereinigungsprozeß nur im staatsrechtlichen Sinne vollzogen. Die innere Vereinigung begann erst, das Gleiche gilt für den Transformationsprozeß, dem die Gesellschaft der bisherigen DDR unterworfen
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wurde. Sprach man Mitte der 90er Jahre häufig von der "Vereinigungskrise, so gehen heute viele von einem lande dauernden Vereinigungsprozeß aus. Nicht nur die ökonomischen Probleme haben sich als wesentlich schwieriger erwiesen als in der Euphorie 1990 angenommen wurde. Weit unterschätzt wurden auch die kulturellen Probleme: Die in jahrzehntelanger Trennung herausgebildeten mentalen Unterschiede, die differierenden Wertorientierungen, die stark abweichenden Erfahrungen und dadurch geprägt politisch-gesellschaftlichen Anschauungen. Die Unterschiede sind dabei erst im Laufe der Jahre bewußt geworden, so daß der Eindruck entstehen konnte, die Gräben zwischen Ost und West würden sich weiter vertiefen, ein Eindruck, der besonders auch durch die Probleme in den neuen Ländern und ihre politisch-kulturelle Verarbeitung genährt wurden Vor diesem Hintergrund_ geht der Verfasser der Frage nach, welche Rolle die Auseinandersetzung über die Nachkriegsepoche in den letzten Jahren im Hinblick auf das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen, auf die politische Kultur, auf die "innere Einheit" gespielt hat. Faulenbach behandelt vier Aspekte: Den Prozeß der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur in seinen verschiedenen Phasen. Inwieweit über die alte Bundesrepublik und ihre Geschichte ein neues Bild entstanden ist. Die Asymmetrie der Betrachtungsweise der west- und ostdeutschen Entwicklungen und fragt dabei, inwieweit darin westdeutsche Dominanz, gleichsam der Wille der Beherrschung des Geschichtsbewußtseins von westdeutscher Seite zum Ausdruck kommt. Möglichkeiten der Entwicklung eines gemeinsamen Geschichtsbewußtseins und seine Bedeutung für die innere Einheit, was u.a. die Frag aufwirft: Wie viel "Einheit" brauchen wir in Deutschland? Er kommt zu dem Schluß, daß wir im vereinigten Deutschland dauerhaft mit Unterschieden leben müssen. Die verbindliche Anerkennung der demokratischen Verfassungsordnung wäre schon viel, auch die prinzipielle Grundsympathie und Bereitschaft zur nationalen Solidarität.
Hans-Joachim Veen gibt seinem Artikel einen positiv markanten Namen "Keine falschen Mythen: Wir haben die innere Einheit schon!" Die Staats- und völkerrechtliche Vereinigung bescherte uns ein weiteres Vereinigungsproblem, wie er meint, die sogenannte "innere Einheit" . Im Jubiläumsjahr 2000 wurde sie vielfach beschworen, als ein Fernziel formuliert. Aber wohin wir sie vollenden sollen, was eigentlich alles zusammenwachsen soll, das weiß bis heute niemand zu sagen. Eine auch nur einigermaßen greifbare, abgrenzbare Definition gibt es nicht. Die Folge ist, daß die Forderung nach innerer Einheit längst zu einem parteienpolitischen Instrument in der Ost-West-Auseinandersetzung Ober knappe Mittel geworden ist. Mehr noch: Das Bestreiten der inneren Einheit und die Betonung ihrer Defizite trägt teils gewollt, teils ungewollt zur permanenten Delegitimierung der Vereinigung und des politischen Systems der Bundesrepublik 3 limmermann
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Heiner Timrnermann
und seiner wesentlichen Prinzipien bei. Eine weitere Folge ist, daß sich ftir die Forschung ein nahezu unbegrenztes Feld eröffuet. Kein Bereich der menschlichen Existenz bleibt verschont: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Verglichen werden politische Kultur und Alltagskultur, Mentalitäten, Werthaltungen, Vorurteile, Konsum- und Freizeitverhalten sowie individuelle und kollektive Psyche, wohlgemerkt, alles im Ost-West-Vergleich. Entscheidend wir wohl sein, daß das Ziel der inneren Einheit strikt auf die Legitimitätsgrundlagen des Grundgesetzes und den gemeinsamen Willen, in diesem Verfassungsstaat zusammen leben zu wollen, begrenzt bleiben muß. Innere Einheit bedeutet dann Zustimmung der Bürger zu den gemeinsamen Grundlagen der staatlichen Ordnung, die das Grundgesetz formuliert. Die Anforderungen an die innere Einheit dürften substantiell also nicht weiterreichen, nicht mehr an Einheitlichkeit einfordern, als der Grundkonsens des Grundgesetzes verlangt. Aber wieweit wird der Grundkonsens in Ost und West mitgetragen, wenn nicht von allen, so doch von deutlichen Mehrheiten?! Die Verfassungsordnung wird weithin akzeptiert, die Wirtschaftsordnung zumindest prinzipiell, die Zugehörigkeit zu EU und NATO wird von unterschiedlich großen Mehrheiten geteilt, den Gesetzen durchweg Gehorsam geleistet und den Institutionen auf allen Ebenen Respekt gezollt. Zurück in die Teilung wollen keine 10% der Ostdeutschen. Das Grundsätzliche ist also längst geklärt. Wir leben in einem Zustand der inneren Einheit. Siegfried Schwarz zieht eine andere Bilanz: Die Außenpolitik. Im Jahrzehnt seit der Vereinigung ist spürbar geworden, daß Deutschland ein erheblich stärkeres Gewicht in Europa und über einen größeren internationalen Spielraum verfUgt als früher, wobei das "Früher" nur auf die Bundesrepublik bezogen werden kann. Dies resultiert ftir den Verfasser allein schon aus objektiven Daten: Von Rußland abgesehen, besitzt Deutschland nunmehr die größte Bevölkerung, das größte Bruttosozialprodukt und eine beträchtliche militärische Kapazität innerhalb Europas. Es ist der wichtigste Handelspartner fast aller seiner Nachbarn und der bedeutendste Beitragszahler der Europäischen Union. Seine geopolitische Lage in der Mitte des Kontinents, seine Nähe zur mittelosteuropäischen Region, seine bedeutende Finanzkraft und seine traditionsreichen Verbindungen zu vielen Völkern in West-, Nord- und Osteuropa verleihen der Bundesrepublik heute zweifellos eine herausgehobene Stellung und damit eine erhöhte Verantwortung in der europäischen Staatenwelt Diese erweiterten politischen und ökonomischen Einflußmöglichkeiten in Europa und darüber hinaus sollten jedoch nicht zu dem Fehler verleiten, übersteigerte Erwartungen zu hegen und überhöhte Ansprüche - etwa auf exklusive Führungsrollen - geltend zu machen. Sollte die Bundesrepublik, so warnt der Autor, einen Kurs einschlagen, der die neugewonnene Größe und Stärke allzu demonstrativ in den Vordergrund rückt, könnte im Westen wie im Osten des Kontinents eine Reaktion in dem Sinne einsetzen, daß die Nachbarn und Partner das deutsche Gewicht durch die Bildung von "Gegenkoalitionen" auszubalancieren suchen. Dennoch: Aus der Fülle der Probleme, denen sich die deutsche Außenpolitik gegenübersteht, lassen sich
Konzeption und Inhalt
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Schwierigkeiten, Verwicklungen und Unübersichtlichkeiten ihre zukünftigen Aufgaben ermessen. In den Jahren seit der Wiedervereinigung konnte niemand an der berechenbaren deutschen Außenpolitik Zweifel hegen. Zukunftsprojekte greifen über die nationale Außenpolitik eines einzelnen, in der Mitte Europas gelegenen Staates hinaus.
3*
II. Außenbeziehungen
Moderne Waffensysteme für die Sowjetunion- die SED im Spagat zwischen ökonomischen Zwängen und ideologischer Gefolgschaft Von Gerhard Barkleit I. Einführung
Bereits Anfang 1952, im dritten Jahr ihres Bestehens, unternahm die DDR einen ersten Versuch, unter Verletzung der Bestimmungen des Potsdamer Abkommens und in enger Abstimmung mit der UdSSR die Luftfahrtindustrie "entsprechend der Notwendigkeit der Verstärkung der Landesverteidigung" wieder aufzubauen. 1 Nachdem an den Standorten Dessau und Ludwigsfelde etwa 40 Millionen Mark investiert worden waren, brach die Staatspartei im Juni 1953 den weiteren Ausbau ab. 2 Nach diesem als "frühe Episode" zu bezeichnenden Vorstoß verzichtete die DDR künftig darauf, eine leistungsflihige Rüstungsindustrie aufzubauen. Es gab später keine Versuche mehr, Produktionskapazitäten zur Herstellung von schweren Waffen wie Flugzeugen und Panzern zu schaffen. Der 1954 beginnende und 1961 abrupt endende Aufbau einer ausschließlich zivilen Luftfahrtindustrie stellte wiederum nicht mehr als eine Episode in der Wirtschaftsgeschichte dar - das erste gescheiterte Prestigevorhaben der DDR-Planwirtschaft überhaupt. Die Rüstungsindustrie zählte in der DDR zu keiner Zeit zu den Wirtschaftszweigen von besonderem Gewicht. Der Anteil der Rüstungsproduktion an der industriellen Warenproduktion betrug lediglich etwa I%. 3 Waffen- und militärtechnische Großgeräte wurden vor allem 1 BStU Ast. Dresden, Nr. 2087/62 Objektvorgang 1894/61 "Ökonomik der Luftfahrtindustrie" Bd. 1, BI. 47-49. 2 Vgl. Barkleit,G :Die Spezialisten und die ParteibUrokratie. Der gescheiterte Versuch des Aufbaus einer Luftfahrtindustrie in der DDR. In: Barkleit, G./Hartlepp, H.: Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR 1952-1961 (Berichte und Studien I) Dresden 1995, S. 7. 3 Vgl. Lösch, Dieter/Plötz, Peter: Die Bedeutung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung filr die Volkswirtschaft der DDR. In: Der Bereich Kommerzielle Koordinierung und Alexander SchalckGolodkowski- Werkzeuge des SED-Regimes, Deutscher Bundestag- 12. Wahlperiode, Drucksache 12/76000, Bonn 1994, Anhangband, S.62.
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Gerhard Barkleit
aus der Sowjetunion sowie in geringerem Umfang aus der CSSR, Polen bzw. anderen Mitgliedsländern des Warschauer Vertrages importiert. Auf der Grundlage sowjetischer Lizenzen produzierte die DDR Handfeuerwaffen, Panzerabwehrwaffen, Granatwerfer, Minen, Handgranaten und Munition sowie in geringerem Umfang Nachrichten- Werkstatt- und militärische Medizintechnik. Instandsetzungsleistungen für Panzer- und Flugtechnik rundeten neben verschiedenartigsten Ersatzteilen die Palette ab. 4 Wenn auch die Waffenproduktion auf der Grundlage sowjetischer Lizenzen gesamtwirtschaftlich keine besondere Rolle spielte, war sie fur die beteiligten Betriebe aber dennoch ein lukratives Geschäftsfeld. Denn neben der Nationalen Volksarmee gab es weltweit zahlreiche andere Abnehmer fur Waffen und Kriegsgerät Nach außen unermüdlich den Charakter eines "Friedensstaates" betonend,5 ließ die politische Führung nichts unversucht, Deviseneinnahmen aus Waffenexporten zu erzielen. Dabei scheute sie keineswegs davor zurück, Waffen in Spannungsgebiete zu liefern. Vor allem der inoffizielle Waffenhandel des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo) bot die Möglichkeit, durch Lieferungen an direkte Kriegsgegner, wie z.B. an den Iran und an den Irak oder an Nord- und Südjemen, dem chronischen Devisenmangel entgegen zu wirken. 6 Der Bereich KoKo wurde von Alexander Schalck-Golodkowski geleitet, einem Offizier im besonderen Einsatz (OibE) des Ministeriums fur Staatssicherheit. Auch wenn dem illegalen Waffenhandel des Bereichs KoKo sowohl die bestehenden Verträge des Warschauer Vertrages als auch die bilateralen Verträge mit der Sowjetunion entgegenstanden, setzten sich Bonecker und Mittag, ohne deren ausdrückliche Genehmigung Schalck-Golodkowski keine Verträge abschließen durfte, bewusst über diese Vereinbarungen hinweg. Vertragsbruch unter "Klassenbrüdern" nahmen sie in Kauf, um zusätzliche Deviseneinnahmen zu ermöglichen. 7 Anfang der achtziger Jahre, im Zeichen der "Strategischen Verteidigungsinitiative" (SDI) der Vereinigten Staaten, der Vision eines weltraumgestützten Raketenabwehrsystems ihres Präsidenten Ronald Reagan, und der Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses forderte die UdSSR mit Nachdruck ein verstärk4 Abschlußbericht des I. Untersuchungsausschusses, Zweiter Teil. In: Der Bereich Kommerzielle Koordinierung und Alexander Schalck-Golodkowski - Werkzeuge des SED-Regimes, Deutscher Bundestag- 12. Wahlperiode, Drucksache 12176000, Bonn 1994, Textband, S.l85. 5 Die DDR stellte sich nach innen wie auch vor allem nach außen als "Friedensstaat" dar. Dieser Selbstdarstellung versuchte die Staatspartei dadurch Glaubwürdigkeit zu verleihen, dass Begriffe wie "Rüstungsproduktion" oder gar "Waffenexport" tunliehst vermieden wurden. Man sprach statt dessen von "spezieller Produktion" zum Zwecke der Landesverteidigung.
6 Vgl. Lösch, Dieter/Plötz, Peter: Die Bedeutung des Bereiches ..., S. 59. 7
Vgl. Lösch, Dieter/Piötz, Peter: Die Bedeutung des Bereiches .. .., S. 60.
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tes Engagement der DDR im militärischen Bereich. In den PropagandaApparaten des Ostblocks wurde das SDI-Programm heftig attackiert. Auf diese Weise, so argumentierten Politiker wie Militärs, werde das nukleare Gleichgewicht des Schreckens destabilisiert. Das SDI-Konzept führe "letztendlich zu der militärischen These eines gewinnbaren Kernwaffenkrieges". 8 Die Militärs im Kreml verfolgten in jener Phase des Zweiten Kalten Krieges das strategische Ziel, einen konventionellen Krieg in Europa gewinnen zu können. 9 Das Politbüro konnte und wollte sich den Wünschen Moskaus nicht widersetzen, eine größere Verantwortung fiir die Ausstattung der Streitkräfte des Warschauer Vertrages und die Modernisierung von Waffensystemen zu übernehmen. Führende Vertreter der Wirtschaft, wie z.B. der Generaldirektor des Kombinates Carl Zeiss Jena, warnten vergeblich vor einer Überforderung der DDR-Wirtschaft. 10 Mit der Entscheidung des Politbüros fiir eine neue Qualität der militärischen Produktion ging eine Ära zu Ende, in der die Produktion von Militärtechnik auf der Grundlage sowjetischer Lizenzen erfolgte. Nunmehr forderte die Staatspartei, die Eigenentwicklung hochmoderner Kampfmittel in Angriff zu nehmen. Sie glaubte, mit intelligenteren Waffensystemen auch bessere Chancen zu haben, den Export von Rüstungsgütern über die Länder des Ostblocks hinaus in Länder der Dritten Welt auszuweiten. Dieser neue Rüstungsimpuls fügte sich allerdings so gar nicht in die offizielle Politik des "Friedensstaates" ein. Um so wichtiger war es, den Geheimnisschutz zu verschärfen. Der Sprung in eine neue Qualität der High-Tech-Rüstung, die Entwicklung einer "intelligenten" Seezielrakete in den 1980er Jahren, scheiterte allerdings ebenso wie der Aufbau einer Luftfahrtindustrie in den 1950ern. Dabei machte Erich Honecker die gleichen Erfahrungen wie sein Vorgänger im Amt des Parteichefs, Walter Ulbricht, ein Vierteljahrhundert vorher. Die UdSSR erwies sich bei der Zusammenarbeit in sensiblen Bereichen stets als ausgesprochen schwieriger Partner. Neben diesen grundsätzlichen Gemeinsamkeiten beider Vorhaben gibt es aber durchaus auch Unterschiede. Diese betrafen nicht zuletzt das Verhältnis von SED und KPdSU. Wachsende Spannungen zwischen Moskau und Ostberlin nach dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow, die Ablehnung der Politik von Glasnost und Perestroika durch die SED-Führung, trugen nicht unwesentlich dazu bei, über die wachsende Distanz in ideologischen Fragen hinaus auch die ökonomische Rationalität verstärkt zur Grundlage in den Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR werden zu lassen. Als es auch 8
Ho.ffmann, Manfred: Kernwaffen und Kemwaffenschutz, Berlin 1987, S. II.
9 Vgl. Ploetz, Michael: Wie die Sowjetunion den Kalten Krieg verlor. Von der Nachrüstung zum Mauerfall, Berlin und München 2000, S. 34.
10 SAPMO-BArch, vorl. SED DY 30, Nr. 30164 (unpag.).
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Honecker klar wurde, dass sich die DDR mit dem Projekt "Seezielrakete" übernommen hatte, konnte er es sich erlauben, den ökonomischen Interessen der DDR ein größeres Gewicht beizumessen als der ideologischen Gefolgschaft, und aus dem Vertrag mit der UdSSR auszusteigen. Beide Entscheidungen, die Liquidierung der Luftfahrtindustrie im Jahre 1961 wie auch der Abbruch der Entwicklung der Seezielrakete im Januar 1987, stellten eine Brüskierung des Staatssicherheitsapparates dar. Denn sie erfolgten ohne Konsultation des Ministeriums filr Staatssicherheit. 11 1961 reagierte der Chef des MfS, Erich Mielke, mit strukturellen Maßnahmen. Er ordnete die Auflösung der Abteilung VI an, die filr die Sicherung von Flugzeugindustrie, Kern~ forschung und Verteidigungsindustrie zuständig war. 12 Mitte der 1980er Jahre waren Bedeutung und Einfluss der Staatssicherheit vor allem im Hochtechnologiebereich im Vergleich zu der 1950er Jahren in einer Weise gewachsen, dass sich das MfS neben der SED und dem Staatsapparat als dritte Säule einer Führungstrias darstellte. Dennoch beschlossen Honecker und sein Wirtschaftssekretär Günter Mittag im Alleingang den Abbruch des Gemeinschaftsprojekts.13
II. Die militärische Produktion im VEB Kombinat Carl Zeiss Jena Innerhalb des Warschauer Paktes verfUgte neben der Sowjetunion nur die DDR über ein fUr die Entwicklung von Hochtechnologien hinreichendes wirtschaftliches und innovatives Potential. Nur diese beiden Länder waren in der Lage, eine eigene mikroelektronische Industrie aufzubauen - eine entscheidende Voraussetzung filr die Entwicklung moderner, intelligenter Waffensysteme. Bereits im April 1981 hatten beide Länder ein "Regierungsabkommen zum militärischen Schiffbau" unterzeichnet, das die gemeinsame Entwicklung eines Raketenwaffenkomplexes filr ein Artillerieboot beinhaltete. Am 6. April 1983 reiste der Minister filr Verteidigung der UdSSR, Marschall Ustinow, nach Jena, um sich persönlich von den Möglichkeiten des Kombinates Carl Zeiss zur Entwicklung und Produktion modernster kampfwertbestimmender Militärtechnik zu überzeugen. Das Kombinat Carl Zeiss gehörte zu den bedeutendsten Unternehmen im High-Tech-Bereich der DDR. Dort setzten bereits 1966 Forschungen 11 Vgl. Bark/eil, Gerhard: Die Rolle des MfS beim Aufbau der Luftfahrtindustrie der DDR (Berichte und Studien 5) Dresden 1996, S. 57-59.
12 Vgl. Haendke-Hoppe-Arndt, Maria: Die Hauptabteilung XVIII: Volkswirtschaft. In: Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur und Methoden - MfS-Handbuch, hg. von Siegfried Suckut, C/emens Vol/nhals, Walter Süß und Roger Enge/mann, Teil II I/I 0, Berlin 1997, S. 28.
13 Vgl. Barkleit, Gerhard: Mikroelektronik in der DDR. SED, Staatsapparat und Staatssicherheit im Wettstreit der Systeme (Berichte und Studien 29) Dresden 2000, S. 67-72.
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zum Einsatz der damals noch sehr jungen Lasermesstechnik für die Erhöhung der Zielgenauigkeit von Panzerkanonen ein. 14 Unter Hinweis auf das wachsende Militärpotential der NATO forderte Ustinow nun die Steigerung der Rüstungsproduktion des Kombinates auf das Drei- bis Vierfache. Gleichzeitig wandte er sich in den mehrstündigen internen Gesprächen, an denen Staatssekretär Kar! Nendel für das Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik und Oberstleutnant Seidel, Stellvertreter des Leiters der Bezirksverwaltung Gera, filr das MfS teilnahmen, mit Nachdruck dagegen aus, Rentabilitätsgesichtspunkte als Grundlage von Entscheidungen in die Gespräche einzubringen. Die derzeitigen Vorstellungen der DDR-Seite hinsichtlich einer ausschließlich auf ökonomische Effekte orientierten Produktion müßten neu durchdacht werden. Mit dieser Bemerkung dämpfte er von vornherein die Hoffnungen der DDR-Wirtschaft auf einen rentablen Export neuer militärtechnischer Erzeugnisse. 15 In die weiteren Verhandlungen brachten die Vertreter der DDR jedoch die Fragen eines rentablen Exports immer wieder ein. So auch beim Besuch einer sowjetischen Militärdelegation im Juni 1983. 16 Die Führung des Kombinats Carl Zeiss bemühte sich, einen Kompromiss zwischen den widerstreitenden Interessen zu finden. Es galt, den Widerspruch zwischen den Anforderungen der Militärs und den Interessen des Betriebes zu lösen. Diesem Ziel diente auch die Aufuahme einer außerplanmäßigen Aspirantur dreier Mitarbeiter der ersten Leitungsebene an der Sektion Militärökonomie der Hochschule filr Ökonomie in Berlin. Im Rahmen einer Gemeinschaftsdissertation sollten sie theoretisch fundiert den "Anforderungen einer militärisch effektiven waffentechnischen Ausstattung der Armee und den sich daraus ableitenden taktisch-technischen Forderungen und ökonomischen Vorgaben" die Forderungen nach einer "ökonomischen Fertigung im volkswirtschaftlichen Maßstab" gegenüberstellen. 17 Auch in solche betriebswirtschaftliehen Überlegungen war das MfS auf "natürliche Weise" involviert. Nicht nur der Fachdirektor "Inspektion und Sicherheit", einer der drei Doktoranden, sorgte qua Amt für eine Mitwirkung der Staatssicherheit an dieser Dissertation. Die beiden anderen waren als "IM in Schlüsselpositionen" ebenfalls sehr eng mit diesem "Organ" liiert.
14 Vgl. Döbert, Frank: Zeiss als "VEB Pulver und Blei". Die High-Teeh-Rüstungsschmiede des Ostblocks. Gerbergasse 18, Forum ftlr Geschichte und Kultur, Nr. I 0, Jena 1998, S. 2-6. 15
BStU, MfS-HA XVlll, Nr. 10228, BI. 4-8.
16
BStU, MfS-HA XVlll, Nr. 10228, BI. 9-11.
17 Gallnar, Klaus-Dieter/Meißner, Woifgang/Schulz, Ernst: Thesen zur Dissertation "Theoretische und praktische Erfahrungen bei der Organisation und Sicherung der speziellen Produktion des Kombinats VEB Carl Zeiss Jena". (Archiv der Zeiss-Stiftung in Jena, Sign. VA 02186, unpag.).
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Wenige Wochen nach dem Ustinow-Besuch, am 24. Mai 1983, beschloss das Politbüro gravierende Eingriffe in das Forschungs-, Produktions- und Exportprofil des renommierten Jenaer Unternehmens. Die Eingriffe zielten, wie von der Sowjetunion gefordert, vor allem auf eine drastische Erhöhung des Anteils an militärischer Produktion hin und sollten die DDR in die Lage versetzen, gemeinsam mit der UdSSR modernste Militärtechnik zu entwickeln und zu produzieren. Schwerpunkte der künftigen Zusammenarbeit bildeten die Aufklärung sowohl aus dem Kosmos wie auch auf dem Gefechtsfeld, die aktive Nachtkampffähigkeit der Truppen und die Erhöhung der Ersttreffer-Wahrscheinlichkeit 18 Dieser Politbürobeschluss hatte beträchtliche Folgen für den gesamten Industriebereich Elektrotechnik/Elektronik, fügte sich nahtlos in den seit langem expandierenden militärischen Komplex ein und stellte diesen gleichzeitig vor ganz neue Herausforderungen. Im Jahre 1983, dem Zeitpunkt des folgenreichen Politbürobeschlusses, hatte das Produktionsvolumen des Kombinates Carl Zeiss Jena eine Höhe von 3.256,9 Millionen Mark erreicht. Die zivile Produktion besaß mit einem Volumen von 2.746,9 Millionen Mark einen Anteil von 81,4%. Der Anteil der militärischen Produktion betrug 510,0 Millionen Mark, bzw. 15,7%. Das Stiefkind der DDRWirtschaft, die Produktion von Konsumgütern, nahm mit 96,0 Millionen Mark, das waren lediglich 2,9%, nur einen geringen Umfang ein. 19 Auch wenn der Anteil an militärischer Produktion vergleichsweise hoch war und dem Profil des Kombinats entsprechend im technologisch anspruchsvollen Bereich lag, so scheint die Charakterisierung von Carl Zeiss als "die High-TeebRüstungsschmiede des Ostblocks"20 der tatsächlichen Bedeutung des Unternehmens für das östliche Militärbündnis nicht zu entsprechen. Dass Ustinow im April 1983 den Wunsch äußerte, künftig gemeinsam mit der DDR aktive Laserwaffen zu entwickeln/ 1 spricht zwar für das innovative Potential des Kombinats, kann die These von Zeiss als der High-Teeb-Rüstungsschmiede des Ostblocks allerdings nicht überzeugend stützen. Die Exportrentabilität der Zeiss-Erzeugnisse, das Verhältnis von Valutagegenwert zu Betriebspreis, wies mit einem Koeffizienten von 1.294 im Ostblock, dem sogenannten sozialistischen Wirtschaftsbereich (SW), und von 0.629 im 18
SAPMO-BArch, J IV 2/2-2003, Bd. 4 (unpag.).
19
BStU, MfS-HA XVIII, Nr. 10048, BI. 1-37.
20
Vgl. Döbert, Frank: Zeiss als "VEB Pulver und Blei".
21 BStU, MfS-HA XVlll, Nr. 10228, BI. 2.
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sogenannten nichtsozialistischen Wirtschaftsbereich (NSW) fiir DDR-Verhältnisse günstige Werte auf. Der Anteil der Militärtechnik, in offiziellen Dokumenten in der Regel "spezielle Produktion" genannt, an der Gesamtproduktion des Kombinates sollte dem Beschluss zufolge von 15,7 % auf 28% im Jahre 1990 und auf mehr als 30% in den Jahren danach gesteigert werden. Das bedeutete, dass die Militärtechnik, deren Produktion sich im Zeitraum von 1976 bis 1985 bereits vervierfacht hatte, sich bis 1990 noch einmal verdoppeln sollte. Die Kennziffer Industrielle Warenproduktion (IWP) der militärischen Erzeugnisse erhöhte sich von 300 Millionen Mark im Zeitraum 1976-1980 auf 1.160 Millionen Mark fiir 1981-1985 und sollte fiir den Zeitraum 1986-1990 den Wert von 2.480 Millionen Mark erreichen. Schwerpunktsortimente waren Feuerleitsysteme fiir Panzer, Infrarot-Zielsuchköpfe, Kosmostechnik, Sicherungstechnik sowie optische Beobachtungs- und Messgeräte. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Produktionszahlen und Hauptabnehmer im Rüstungsbereich. Tabelle 1 Produktion und Abnehmer für High-Teeb-Rüstungsobjekte
Objekt
Export
Produktion pro Jahr
Zielsuchkopf flir Luft-Luft-Rakete INEJ-70 Feuerleitanlage "Wolna" die fiir Modemisierung desKampfpanzersT-55 A Feuerleitsystem flir den Kampfpanzer T-72
UdSSR
3.000
UdSSR,Polen, CSSR
1.000
Polen,CSSR, NSW
Ca. 800
111. Der optoelektronische Zielsuchkopf für Schiffsraketen Der verstärkte Ausbau des militärischen Komplexes im High-Tech-Bereich und die Abkehr von der reinen Lizenzproduktion sowjetischer Militärtechnik begann mit der Entwicklung eines optoelektronischen Zielsuchkopfes fllr Raketen, die von Kriegsschiffen abgefeuert werden konnten. Diese Aufgabe erforderte die Beherrschung einer großen Anzahl fiir die DDR prinzipiell neuer Basistechnologien, den Einsatz neuer Werkstoffe und die Entwicklung zahlreicher Einzelverfahren. Nach Einschätzung der Fachministerien fehlten in der DDR aber nicht nur Forschungsgeräte und Ausrüstungen der Mess- und Prilftechnik, sondern auch Erfahrungsträger und leistungsflihige Teams in Forschung und
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Gerhard Barkleit
Entwicklung. Das Politbüro veranschlagte die zusätzlichen Kosten fiir dieses Engagement in der Militärtechnik mit etwa 2.3 Milliarden Mark filr den Zeitraum von 1984 bis 1990 - 1.4 Milliarden fiir Investitionen, 0.9 Milliarden fiir Forschung und Entwicklung. 22 Neben dem Kombinat Carl Zeiss Jena erhielten auch das Forschungszentrum ftir Mikroelektronik in Dresden (ZFTM) und das Kombinat Robotron Teilaufgaben aus dem Gesamtprojekt übertragen. Das ZFTM sollte spezielle mikroelektronische Bildprozessoren entwickeln, Robotron die Lizenzproduktion des digitalen Bordrechners übernehmen. Die Sicherheitsmaßnahmen zur Realisierung des Projektes waren selbst filr die im Schutz von tatsächlichen wie auch vermeintlichen Geheimnissen kaum zu überbietende DDR-Wirtschaft ungewöhnlich. Auf den sonst üblichen Regierungsbeschluss wurde verzichtet. Der Vorsitzende des Ministerrates setzte die Pläne und Verordnungen allein mit seiner Unterschrift in Kraft. Für die Leitung des Gesamtvorhabens wurde der Staatssekretär im Ministerium filr Elektrotechnik und Elektronik, Karl Nendel, als Regierungsbeauftragter eingesetzt, der als GMS "Sekretär" auch filr das MfS arbeitete?3 Das Mielke-Ministerium begnügte sich aber keineswegs mit einem Beobachterstatus, sondern erreichte die institutionelle Einbindung in das Projekt mit "sicherheitspolitischen Erfordernissen höchster Priorität". Innerhalb des Staatssicherheitsapparates wurde eine nichtstrukturelle Koordinierungsgruppe Militärtechnik gebildet, in der unter Leitung des Chefs des Sektors Wissenschaft und Technik die Leiter der Hauptabteilungen I (NY A und Grenztruppen) und XVIII (Wirtschaft) sowie die Leiter der Abteilungen BCD (Bewaffnung und Chemischer Dienst) und IV (militärische Aufklärung) der HV A (Hauptverwaltung Aufklärung) zusammen arbeiteten. Mit dem Befehl Nr. 11/84 vom 30. Mai 1984 ordnete der Minister fiir Staatssicherheit an, dass "alle Maßnahmen zur politisch-operativen Sicherung der Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsvorhaben fiir moderne, strategisch bedeutsame Waffensysteme" unter dem Code "Präzision" laufen sollten.24 IV. Die Kooperationsverweigerung der Sowjetunion
Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit der Sowjetunion waren die unabdingbaren Voraussetzungen fllr den Erfolg der DDR bei der Entwicklung von zivilen und erst recht von militärischen Hochtechnologien. 22
SAPMO-BArch, J IV 2/2A-2975 (unpag.).
23 Nendel wurde im Juni 1998 von der Wirtschaftsstraflcammer des Landgerichts Berlin unter Berufung auf Artikel VIII Absatz I und 2 des Militärregierungsgesetzes Nr. 53 bzw. der Verordnung Nr. 500 verwarnt und zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 66.000 DM verurteilt. Seine Tätigkeit fur das MfS spielte im Prozess keine Rolle. (Landgericht Berlin, Geschäftsnummer (505) 21 Js 39/95 Kls (5/98)). 24
BStU, MfS-HA XVIII, Nr. 7872. BI. 1-7.
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Defizite in beiden Kategorien, sowohl in der Bereitschaft als auch in der Fähigkeit, trugen entscheidend zum Dilemma der DDR-Mikroelektronik in den 1980er Jahren bei.25 Bei der Entwicklung der Seezielrakete handelte es sich um ein Projekt, an dem im Gegensatz zur Mikroelektronik die UdSSR ein größeres Interesse als die DDR haben musste, so dass an der Kooperationsbereitschaft von vornherein keinerlei Zweifel bestehen konnten. Probleme in der Zusammenarbeit dürften ihre Ursache demzufolge vor allem in einer unzureichenden Kooperationsfiihigkeit haben. So waren unterschiedliche Auffassungen bei den Teilstreitkräften der Roten Armee über die Einbeziehung der DDR in die Entwicklung kampfwertbestimmender Militärtechnik alles andere als optimale Voraussetzungen fUr eine Kooperation aufvöllig neuem Niveau?6 Als Partner stand der DDR zunächst das Ministerium fUr Flugzeugindustrie gegenüber. Das war jedoch bereits mit der Definition der technischen Parameter des Zielsuchkopfes überfordert. Nendel verlangte deshalb die Einbeziehung des Ministeriums fUr Elektronische Industrie und die Unterstellung des Gesamtkomplexes unter das Ministerium fUr Verteidigungsindustrie der UdSSR. In Abstimmung mit dem MfS erwirkte er ein Schreiben des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, an den Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR mit der Bitte um Klärung der strittigen Kompetenz- und Koordinationsprobleme.27 In seiner Antwort teilte Nikolai Tichonow am 29. Juni 1985 mit, sowohl das Ministerium filr Verteidigungsindustrie als auch das Ministerium fUr Elektronische Industrie würden technische Unterstützung gewähren.28 In der Folgezeit fand eine Reihe von Expertentreffen fUhrender Fachleuten beider Länder zu Detailproblemen des Gesamtkomplexes statt, mit denen das Projekt voran gebracht werden konnte. Obwohl es mit Hilfe der staatlichen Administration und des MfS gelungen war, bürokratische Hemmnisse innerhalb der UdSSR zu überwinden, konnte von einer zielgerichteten und effektiven Zusammenarbeit keine Rede sein. Waren Forschung und Entwicklung im zivilen High-Tech-Bereich, z.B. fUr die Mikroelektronik, weitgehend autark und unabhängig von der UdSSR möglich, so galt das keineswegs filr die Militärtechnik. Ohne präzise Vorgaben war eine originäre Entwicklung von Komponenten hochmoderner Waffensysteme absolut unmöglich. Und gerade diese präzisen Vorgaben konnte die Sowjetunion nicht liefern. Bei der Arbeit am technischen Detail nährte sich in Jena schon bald der Verdacht, dass es auch der Sowjetunion an ausreichendem Forschungsvorlauf 25 Vgl. Bark/eil, Gerhard: Mikroelektronik in der DDR. SED, Staatsapparat und Staatssicherheit im Wettstreit der Systeme (Berichte und Studien 29) Dresden 2000, S. 32-34. 26
BStU, MfS-HA XVIII, Nr. 10228, Bl.lO.
27 BStU, MfS-HA XVIII, Nr. 9521, BI. 40. 28 BStU, MfS-HA XVIII, Nr. 9505, BI. 33.
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auf dem Gebiet der Optoelektronik fehle. 29 Deshalb konnte sie das Projekt nach der Übergabe der technis·chen Aufgabenstellung im Juli 1985 nur ungenügend unterstützen. Darüber hinaus rang sie sich weder zu einer Absichtserklärung über den Import der Zielsuchköpfe noch zu Festlegungen über die benötigten Stückzahlen durch. Mit fortschreitendem Entwicklungsstand wuchsen die Schwierigkeiten und die Kosten. Ein Erfolg wurde immer unwahrscheinlicher. Honecker und Mittag entschlossen sich zu reagieren. Als im Juli 1986 die Staatliche Plankommission in einem Brief ihres Vorsitzenden Gerhard Schürer an Günter Mittag darauf drängte, den Abschluss der Entwicklung des Zielsuchkopfes um zwei Jahre hinauszuschieben, hatten sie schon Kurs auf einen Ausstieg aus dem Vertrag mit der UdSSR genommen. Angesichts der dramatisch gestiegenen Aufwendungen fiir die "spezielle Produktion" und der Möglichkeit, die neu geschaffenen und noch geplanten Kapazitäten auch fiir zivile Zwecke nutzen zu können, beauftragten Honecker und Mittag im Juni den Generaldirektor Biermann inoffiziell mit der Ausarbeitung einer Untersuchung zur Beschleunigung der Entwicklung und Produktion der Mikroelektronik im Kombinat Carl Zeiss Jena. Diese Analyse führte zu Biermanns Empfehlung, die Entwicklung Zielsuchkopfes einzustellen und sich auf die Mikroelektronik zu konzentrieren. 30 Der Generaldirektor hatte seinen Profilierungsvorschlag mit einem kleinen Kreis verantwortlicher Genossen erarbeitet, zu dem kein offizieller Vertreter des MfS gehörte. Der illustre Kreis von stellvertretenden Generaldirektoren und Fachdirektoren war jedoch mit Inoffiziellen Mitarbeitern durchsetzt, die dafiir sorgten, dass dem MfS eine Kopie des in nur drei Exemplaren, zwei fiir den Auftraggeber Günter Mittag und eins fiir Biermann selbst, vorliegenden geheimen Papiers zugespielt wurde. Und das, obwohl sich alle Beteiligten schriftlich zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet hatten. Die Loyalität der Inoffiziellen Mitarbeiter gegenOber dem MfS war so groß, dass sie offensichtlich in keinem Augenblick daran dachten, dass sie sich in ihrem Betrieb zum Schutz von Geheimnissen und zur Verschwiegenheit verpflichtet hatten. Am 3. Oktober 1986 setzte Biermann den Regierungsbeauftragten Nendel Ober das Ergebnis der Beratungen in Kenntnis. 31 Erst im November unterrichtete er den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission über die Vorstellungen, die Arbeiten zum Zielsuchkopf einzustellen und die frei werdenden Kapazitäten zur Entwicklung von Schlüsseltechnologien bzw. des 1- und 4-Megabit-Speicherschaltkreises einzusetzen. Die Vorschläge der Plankommission vom Juli zur 29 BStU, MfS-HA XVIII, Nr. 9521, BI. 54-59. 30
BStU, MfS-HA XVIII, Nr. 9521, BI. I 09-110.
31
BStU, MfS-HA XVIII, Nr. 9521, BI. 174-178.
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Fortsetzung der Arbeiten spielten bei der Entscheidungstindung überhaupt keine Rolle. 32 Der Vorsitzende des Militärbereiches der Plankommission, Neidhardt, wies vergeblich daraufhin, dass die Sowjetunion einer Verschiebung von bis zu drei Jahren bereits zugestimmt habe, und befilrchtete negative Auswirkungen fUr die "weitere Gestaltung der militärischen, wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Zusammenarbeit". 33 Nachdem auch der Regierungsbeauftragte Nendel sowie die beiden Stellvertretenden Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Heinze und Neidhardt, zu der Überzeugung gelangten waren, dass die von der DDR übernommenen Verpflichtungen nicht erfilllt werden könnten, beschloss das Politbüro am 20. Januar 1987, die Entwicklung des optoelektronischen Zielsuchkopfes filr eine kleine Seezielrakete einzustellen. V. Die Parallelen zur Liquidierung der Luftfahrtindustrie Der Aufbau einer zivilen Luftfahrtindustrie in der DDR erfolgte Mitte der 1950er Jahre sicher nicht direkt auf Initiative der UdSSR. Zumindest aber stießen die Vorstellungen der SED, auf diese Weise die zurückkehrenden Flugzeugspezialisten mit einer lukrativen Arbeitsaufgabe in die DDR zu locken und gleichzeitig die prekäre Lage im zivilen Flugzeugbau der Sowjetunion zu entspannen, auf wohlwollende Unterstützung.34 Ebenso wenig ordnete Moskau die Einstellung des Flugzeugbaus an. Vielmehr filhrte die Erkenntnis der politischen Führung, dass es filr das viel zu langsam entwickelte Haupterzeugnis, ein strahlgetriebenes Mittelstreckenpassagierflugzeug, zum Zeitpunkt der Serienreife keine Absatzmärkte geben würde, zur Liquidierung eines ganz\ln Industriezweiges mit etwa 25.000 Beschäftigten. 35 Allerdings filhrten nicht allein die Mängel und Funktionsschwächen der DDR-Planwirtschaft zu den schwerwiegenden Tempoverlusten, sondern auch die mangelnde Kooperationsbereitschaft der UdSSR. 36 Es hatte sich als unmöglich erwiesen, dieses Defizit durch bi-und multilaterale Kooperationsbeziehungen innerhalb des RGW 32
BStU, Mts-HA XVIII, Nr. 9521, BI. 189-190.
33
BStU, MfS-HA XVIII, Nr. 9521, BI. 192.
34
Vgl. Bark/eil, Gerhard: Die Spezialisten ... , S. 8-10.
35 Vgl. Diene!, Hans-Luidger: "Das wahre Wirtschaftswunder" - Flugzeugproduktion, Fluggesellschaften und innerdeutscher Flugverkehr im Ost-West-Vergleich 1955-1980. In: Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen EntwickJung im geteilten Deutschland 1945-1990, hg. von Johannes Bahr und Dietmar Petzina, Berlin 1996. 36
Vgl. Bark/eil, Gerhard: Die Spezialisten ... , S. 21.
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zu kompensieren. Nicht nur hinsichtlich der Investitionsaufwendungen, wie gelegentlich behauptet, erwies sich die Luftfahrtindustrie als zu groß fi1r die kleine DDR. 37 Ein Vierteljahrhundert später war es nicht die fehlende Kooperationsbereitschaft, sondern die mangelnde Kooperationstahigkeit, die ein Problem bei der Entwicklung von High-Teeb-Rüstungsprodukten darstellte. Die Sowjetunion ließ auch hier die fi1r eine partnerschaftliehe Zusammenarbeit notwendige Offenheit vermissen. So klagten die verantwortlichen Bearbeiter in Industrie wie Administration auch bei der Entwicklung der Seezielrakete immer wieder über die Weigerung der sowjetischen Partner, rechtzeitig verbindliche Absprachen zu treffen bzw. wenigstens deutliche Absichtserklärungen zu geben. Das erschwerte die Planungen und brachte neben einem hohen Maß an Unsicherheit auch immer ein Restrisiko mit sich. Während Partei- und Wirtschaftsfunktionäre 1961 noch Verständnis dafür zeigten, dass die Hegemonialmacht Sowjetunion in erster Linie auf die Wahrung ihrer eigenen Interessen bedacht war, so war dieses Verständnis in den 1980er Jahren zunehmend abhanden gekommen. Angesichts der dramatischen Krisenzeichen der DDR-Wirtschaft standen nunmehr auch für sie die wirtschaftlichen Notwendigkeiten der DDR im Vordergrund. Setzte die Staatspartei bei der Liquidierung der Luftfahrtindustrie darauf, dass die Automatisierungstechnik als neue Schlüsseltechnologie die erhoffte Leistungssteigerung der Volkswirtschaft bringen werde, so sah sie 1987 durch die Einstellung der Arbeiten am Projekt "Seezielrakete" beträchtliche Kapazitäten frei werden. Diese sollten der Mikroelektronik einen zusätzlichen Impuls verleihen. Denn bis zum Ende der DDR glaubte Günter Mittag an die Mikrochips als "Wunderwaffen" im Wettstreit der Systeme. 38 VI. Der Traum von einem Anti-SDI-System Der Abbruch des Projektes "Zielsuchkopf' bedeutete keineswegs einen vollständigen Rückzug der DDR aus der Hochtechnologie-Rüstung, sondern stellte lediglich den Versuch dar, militärische und zivile Anforderungen besser, d.h. ökonomisch sinnvoller, aufeinander abzustimmen. Honecker persönlich war es, der 1985 Gorbatschow die Zusammenarbeit zur Abwehr der Bedrohung durch die Weltraumrüstung der USA vorschlug. Gorbatschow lobte daraufhin die 37 Vgl. Roesler. Jörg: Zu groß fllr die kleine DDR? Der Auf- und Ausbau neuer Industriezweige in der Planwirtschaft am Beispiel Flugzeugbau und Mikroelektronik. In: Wirtschaft im Umbruch. Strukturveränderungen und Wirtschaftspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, hg von Wolfram Fischer, Uwe Müller und Frank Zschaler, St. Katharinen 1997, S. 321. 38 Vgl. Bark/eil, Gerhard: Mikrochips als "Wunderwaffe" - Hochtechnologie in der Zentralplanwirtschaft der DDR, Dresdener Beitrage zur Geschichte der Technikwissenschaften, Heft 25 (1998), S. 71-87.
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DDR, weil sie als erstes sozialistisches Partnerland Vorschläge in dieser Richtung unterbreitete. 39 Über den Inhalt des Honecker-Vorschlages wurde die HA XVIII des MfS durch den Staatssekretär im Ministerium ftir Wissenschaft und Technik, Dr. Leupold, informiert.40 Die HA XVIII begleitete daraufhin den Prozess mit konspirativen Mitteln, vor allem durch den OibE Dr. Fischer, Mitarbeiter im Ministerium ftir Wissenschaft und Technik. Der Vorschlag des Generalsekretärs beinhaltete Arbeiten zum Schutz von Weltraumobjekten gegen Ortung und Zerstörung durch Lasereinwirkung, zur Entwicklung spezieller Keramikwerkstoffe sowie zur Bildaufnahme- und Bildverarbeitungstechnik. Aber auch filr die Entwicklung von Abwehrsystemen glaubte die DDR mit ihrer Rechentechnik und von Elementen der künstlichen Intelligenz einen Beitrag leisten zu können. 41 Aus diesen Vorstellungen entwickelte sich ein geheimes Programm mit dem Decknamen "Heide", das sogar als geplatzter Traum von einem Anti-SDISystem der DDR interpretiert wird. 42 Einzelne Teile dieses Programms konnten bis zum Zusammenbruch der DDR realisiert werden. Im Forschungszentrum filr Militärtechnik und Elektronikmaschinenbau des Kombinates Carl Zeiss Jena wurde an der Entwicklung von Aufnahmetechnik und Positionierungssystemen filr den kosmischen Raum sowohl ftir militärische als auch filr zivile Anwendungen gearbeitet. 43 VII. Resümee Nicht ökonomische Rationalität, sofern dieser Begriff auf eine Komman~o wirtschaft sowjetischer Prägung überhaupt anwendbar ist, sondern ideologische Gefolgschaft dominierte das Verhältnis zwischen dem SED-Staat und der Führungsmacht des Ostblocks. Das mit dem Begriff "Spagat" assoziierte BÜd von Spannungen bis nahe an die Belastungsgrenze traf dabei jedoch nur selten zu. Denn die DDR stellte auch filr sich selbst das Primat der Ideologie über die Ökonomie niemals in Frage. Darüber hinaus blieb die SED-Führung, trotz gelegentlicher Betonung eigener wirtschaftlicher Interessen, jederzeit dem gemeinsamen Ziel der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages verpflichtet, im 39
BStU Mts-HA XVIII, Nr. 4720, BI. 2.
40
BStU Mts-HA XVIII, Nr. 4720, BI. 23.
41
BStU Mts-HA XVlll, Nr. 4720, BI. 5-7.
42 Vgl. Buthmann, Reinhard: Hochtechnologien und Staatssicherheit. Die strukturelle Verankerung des Mts in Wissenschaft und Forschung der DDR, Berlin 2000, S. 206.
43 Sachbericht Uber die militärische Produktion im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena, GVS g 3500058/89, (Archiv der Zeiss-Stiftung-Jena, Sign. VA 02186, unpag.).
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Wettstreit der Systeme zumindest mithalten zu können. Der "Quantensprung" der DDR-Rüstungsindustrie von der Lizenzproduktion zur Entwicklung kampfwertbestimmender High-Tech-Waffensysteme wäre nur auf der Grundlage einer echten partnerschaftliehen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion möglich gewesen, die in vielen Fällen jedoch nur auf dem Papier existierte. Die von der UdSSR praktizierte Kooperationsverweigerung trug in der Geschichte der DDR wiederholt zum Scheitern ehrgeiziger Projekte bei. Äußerte sich die Kooperationsverweigerung beim Flugzeugbau und auch in der Mikroelektronik vor allem in einer mangelnden Kooperationsbereitschaft, so spielten bei der militärischen Anwendung von Hochtechnologien Defizite in der Kooperationsfll.higkeit aufgrund von Kompetenzgerangel der unterschiedlichen Entscheidungsträger und fehlendem wissenschaftlichem Vorlauf eine ausschlaggebende Rolle. Der Ausstieg der DDR aus dem Projekt "Optoelektronischer Zielsuchkopf' wurde dadurch erleichtert und zu einem der wenigen Beispiele für einen Sieg ökonomischer Rationalität über ideologische Gefolgschaft.
Breshnews Langzeitstrategie im Spiegel von SED-Dokumenten Von Michael Ploetz I. Spurensuche Wäre der Sowjetblock nicht infolge der friedlichen Revolutionen von 1989 zusammengebrochen, der Kommunismus gälte heute wohl als die erfolgreichste politische Bewegung des 20. Jahrhunderts. Kaum zehn Jahre vor dem Fall der Mauer hielten viele den kommunistischen Siegeszug noch keineswegs fiir abgeschlossen. Skeptische Beobachter glaubten gar, das Ende der westlichen Demokratien ankündigen zu müssen. 1 Aber auch innerhalb der Führungsspitze der KPdSU herrschte angesichts der großen Erfolge, die die kommunistische Weltbewegung noch in den 70er Jahren errungen hatte, große Zuversicht. Der Westen schien, hoffuungslos in die Defensive gedrängt, von einer Niederlage zur nächsten zu ta~eln. 2 Durch den nahezu vollständigen Zusammenbruch, den der europäische Kommunimus 1989 erlebte, ist die Frage nach den Gründen fiir seinen kometenhaften Aufstieg begreiflicherweise weitgehend aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden. Dies ist insofern bedauerlich, als der Kommunismus seinen allenfalls mit dem Aufstieg des Islam vergleichbaren Siegeszug nicht allein dem Umstand verdankte, daß er als politische Religion der industriellen Unterschichten den sozialdarwinistischen Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den überkommenen Mustern des christlichen Chiliasmus verband.3 Die von Marx begründete Heilslehre lieferte der kommunistischen Bewegung zwar die emotionale Energie, die sie benötigte, um ihre Anhänger zu großen 1
Jean-Fran~ois Revel, So enden die Demokratien, 3. Aufl., München 1985.
2 Michael Ploetz, Wie die Sowjetunion den Kalten Krieg verlor. Von der Nachrüstung zum Mauerfall, Berlin, München 2000, S. 86-87, 136.
3 Zu den sozialdarwinistischen Zügen von Lenins Heilslehre und ihrer Wesensverwandschaft mit Faschismus und Nationalsozialismus siehe: Richard Pipes, Die Russische Revolution, Band 3, Rußland unter dem neuen Regime, Berlin 1993, S. 391-458; auf die christlich-chiliastischen Wurzeln des modernen Sozialismus verwies zuerst Kar! Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus, Berlin 1991.
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Opfern zu bewegen. Ausschlaggebend filr die politischen und militärischen Siege der kommunistischen Parteien war indes ihre Fähigkeit, soziale Energie und individuelle Ressentiments zu organisieren und in den Dienst einer mehr oder minder wohldurchdachten Strategie und Taktik zu stellen.4 So beharrt Douglas Pike, einer der besten Kenner des vietnamesischen Kommunismus, darauf, daß die vietnamesischen Kommunisten ihren Sieg nicht so sehr ihrer Popularität bei der Bevölkerung verdankten, als vielmehr einer überlegenen Strategie, die den Kampfwillen des Gegners in einem langwierigen AbnUtzungskrieg durch den orchestrierten Einsatz von bewaffueten und nichtbewaffeneten Formen des Kampfes zermürbte. 5 Auch die Siegeszuversicht, die Ende der 70er und selbst noch Anfang der 80er Jahre bei Spitzenfunktionären des Ostblocks zu beobachten war, gründete zu einem nicht geringen Teil auf dem Bewußtsein, dem imperialistischen Lager durch eine bessere Strategie überlegen zu sein. 6 Als Hermann Axen, der Leiter der Internationalen Abteilung beim ZK der SED, und Boris Ponomarjow, sein einflußreicher Gegenüber im sowjetischen ZK-Apparat, Ende Januar 1980 die internationale Lage analysierten, taten sie dies natürlich in den ihnen geläufigen Kategorien des kommunistischen Strategiedenkens. Die nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan eingetretene Abkühlung im Ost-West-Verhältnis ordnete Axen einer Reihe von feindseligen Handlungen zu, mit denen der Westen die vorangegangene Erosion seiner Macht umkehren und den weiteren Vormarsch der antiimperialistischen Kräfte aufhalten wolle:
,. Genosse Axen nannte in diesem Zusammenhang das Langzeitprogramm der NATO vom Mai I978, das Separatabkommen von Camp David, die Aggression Chinas gegen die SRV {Sozialistische Republik Vietnam], die Verzögerung des SALT-II-Abkommens und die Verschiebung seiner Ratifizierung, die Brüsseler Raketenbeschlüsse, den Ausbau des imperialistischen Stützpunktsystems, Anschläge und Verschwörungen gegen den Iran, andere Länder des Nahen und Mittleren Ostens sowie im Süden Afrikas. Afghanistan sei nur als Vorwand für die hysterische Hetzkampagne genommen worden. Alles in allem wurde und werden seitens des Imperialismus gefährliche Schläge gegen die Entspannung geführt, die sehr abenteuerliche Akzente aufweisen. Das sind Schritte im Stile des kalten Krieges. Aber der Imperialismus hat das internationale Kräfteverhältnis dadurch nicht verändern können. Er hat schwere Niederlagen hinnehmen 4 Das kleine Einmaleins des kommunistischen Strategiedenkens findet sich in: "Strategie und Taktik der revolutionären Arbeiterklasse." in: Kleines Politisches Wörterbuch, 2. Autl., Berlin 1973, S. 843-845. 5
Douglas Pike, PAVN. People's Army ofVietnam, Novato/Califomia 1986, S. 212-253.
6 Michael Ploetz, "Honeckers Siegeszuversicht Die marxistisch-leninistische Strategie im Friedenskampf der frühen achtziger Jahre." in: Deutschland Archiv, 31. Jhrg., Nr. 6 (November/Dezember 1998), S. 947-961.
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müssen und will keinen weiteren Machtzuwachs der UdSSR, der sozialistischen Staatengemeinschaft, aller drei revolutionären Hauptströme zulassen. Deshalb möchte der Imperialismus dem Sozialismus keine Friedensperiode von langer Dauer gestatten, die den Sozialismus stärkt. "7 Der ehemalige Komintern-Funktionäre Ponomarjow sah die Lage naturgemäß ähnlich wie Axen. Über das von diesem Gesagte hinaus läßt Ponomarjows Antwort indes erkennen, daß die sogenannte "Friedensperiode" Teil eines langfristigen strategischen Plans war, vor dessen Hintergrund sich die disparaten Handlungen des Westens in der Perzeption der beiden SED- und KPdSUFunktionäre zwangsläufig zu einer "großangelegten Gegenattacke" verdichten mußten:
"Was die Ursachen der Verschärfung der Lage anbelangt, so seien diese verschiedener Natur. Er stimme Genossen Axen zu, daß der Imperialismus sich mit den objektiven Prozessen der Stärkung der UdSSR und der sozialistischen Staatengemeinschaft sowie der immer breiteren Entfaltung der antiimperialistischen Bewegungen nicht abfinden wolle. Er verwies in diesem Zusammenhang auf Vietnam Athiopien, Mo~ambique, Angola, Südjemen, Iran, Afghanistan, den Süden Afrikas und Nikaragua. Genosse Axen habe recht, wenn er festgestellt habe, daß der Imperialismus mit einer großangelegten Gegenattacke die strategische Absicht der sozialistischen Länder durchkreuzen wolle, in einer Friedensperiode von vier bis fünf FünfJahresplänen die Überlegenheit des Sozialismus und Kommunismus weiter und entscheidend auszubauen. ,,y Eine "Interne Analyse des internationalen Kräfteverhältnisses", die Honecker im November 1980 erhielt,9 sah in den westlichen Reaktionen auf Afghanistan und im NA TO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979 gleichfalls Belege filr die "antisozialistischen Gegenattacken", mit denen die "imperialistischen Regierungen" die Langzeitstrategie des sozialistischen Lagers konterkarieren wollten:
"Das Monopolkapital möchte nicht die Verwirklichung der strategischen Linie der sozialistischen Länder zulassen, in einer Friedensperiode von vier bis fünf FünfJahrplänen die Überlegenheit des Sozialismus auf den ausschlaggebenden Gebieten des Kampfes und Wettbewerbes zwischen den beiden Systemen zu erlangen, zu behaupten und in entscheidendem Maße auszubauen. Das würde 7 SAPMO-BArch, DY/30/IV 2/2.035/57, "Bericht über ein Arbeitstreffen des Genossen Hermann Axen mit leitenden Genossen des Zentralkomitees der KPdSU am 23. und 24. Januar 1980 in Moskau." S. 3-4. 8
Ebenda, S. 5-6.
9 SAPMO-BArch, DY/30/vorl. SED 42440, ZK-Hausmitteil von H. Axen an E. Honecker vom 07.11.1980.
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die Existenzkrise des Imperialismus in ausschlaggebender Weise besch/eunigen"10. Aus den obigen Zitaten wird deutlich, daß die Führungskader in Moskau und Ost-Berlin den Ost-West-Konflikt als eine strategische Interaktion begriffen, deren Verlauf von Offensiven und Gegenattacken bestimmt wurde. Es wird ferner deutlich, daß die Rüstungsanstrengungen, mit denen die NATO seit Mitte 1978 auf ein sich bedenklich zu ihren Ungunsten veränderndes Kräfteverhältnis reagierte, von den Führungskadern des Ostblocks als reaktiver Versuch des Westens bewertet wurden, eine kommunistische Offensive zu stoppen, die in einer "Friedensperiode von vier bis fiinf Fünfjahrplänen" die Voraussetzungen fiir die endgültige Niederwerfung des Westens schaffen sollte. Offen bleibt hingegen, wann diese Offensive begann. II. Zeugenaussagen Im Februar 1968 floh der tschechoslowakische Generalmajor Jan Sejna in den Westen. Als Stabschef des tschechoslowakischen Verteidigungsministers und Sekretär des Militärkomitees des ZK (1969 zum Nationalen Verteidigungsrat umbenannt) war er bestens mit den militärischen und geheimdienstliehen Interna des Ostblock vertraut. 11 Die Aussagen, die Sejna nach seiner Flucht machte, stießen zunächts auf große Skepsis, wurden aber nach 1989 durch Aktenmaterial aus der DDR und aus der Sowjetunion weitestgehend bestätigt. Sejnas Hinweise zur Rolle der Ost-Blockgeheimdienste im internationalen Terrorismus haben sich ebenso erhärtet wie seine Auskünfte zu den "tschekistischen Einsatzgruppen", die die Ostblockgeheimdienste filr Terroranschläge im Westen bereit hielten. Selbst solche in ihrer Monstrosität kaum glaublichen Details wie die Pläne der "tschekistischen Einsatzgruppen", in einer Krisensituation gezielt die Wasserversorgung von Großstädten zu vergiften, konnten inzwischen anhand von StasiAkten belegt werden.12 10 SAPMO-BArch, DY/30/vorl. SED 42440, Das internationale Kräfteverhältnis und die weltpolitische Entwicklung zu Beginn der 80er Jahre. S. 96.
11 Jan Sejna, Joseph D. Douglass Jr., Decision-Making in Cornrnunist Countries. An Inside View, Washington u.a. 1986. 12 Zu den von Sejna vor dem Mauerfall gemachten Aussagen, siehe: Hans Graf Huyn, Sieg ohne Krieg. Moskaus Griff nach der Weltherrschaft, 2. Aufl., München 1985, S. 13-18, 193, 253; "Testimony of General Sejna - A View from the Top." in: Uri Ra'anan u.a. (Hrsg.), Hydra of Camage. The International Linkages of Terrorism and Other Low-lntensity Operations. The Witnesses Speak, Lexington/Mass., Toronto 1986, S. 570-578; zu den seit 1989 gehobenen Archivalien siehe: Thomas Auerbach, Einsatzkommandos an der unsichtbaren Front. Terror- und Sabotagevorbereitungen des MfS gegen die Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Berlin 1999, S. 9-10; Christopher Andrew, Wassili Mitrochin, Das Schwarzbuch des KGB. Moskaus Kampf gegen den Westen, I. Aufl., Berlin 1999, S. 446-490; zur Stasi-RAF-Connection: Tobias Wunschik, BaaderMeinhofs Kinder. Die Zweite Generation der RAF, Opladen 1997, S. 389-403.
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Aufgrund seiner herausragenden Stellung im "kommunistischen ParteiMilitär-Komplex'"3 besaß Sejna jedoch nicht nur eine intime Kenntnis der operativ-taktischen Mittel, mit denen die Sowjetkommunisten den Westen niederringen wollten, sondern er konnte darüber hinaus auch Auskünfte zu der langfristig angelegten Gesamtstrategie von Breshnews Politbüro geben. Laut Senja setzte Leonid Breshnew die Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages im Oktober 1966 über den langfristigen "strategischen Plan" der UdSSR in Kenntnis. Breshnew habe die Bundesgenossen ferner dazu aufgefordert, in Ergänzung zu dem von der KPdSU ausgearbeiteten "langfristigen strategischen Plan fiir die nächsten 10 bis 15 Jahre und die Jahre danach" nationale Pläne zu entwickeln, in denen diese ihre jeweiligen nationalen Kampfaufgaben präzisieren sollten. Die laufenden Fünfjahrespläne sollten als taktische Dokumente in das Rahmenwerk des langfristigen strategischen Plans eingefUgt werden. 14 Offenbar lag dem Plan der Sowjets bereits ein zeitliches Gerüst zugrunde, das sich gleichermaßen in Vergangenheit und Zukunft erstreckte. Die erste Phase des strategischen Plans umfaßte demnach die Jahre 1956 bis 1959; ihr Inhalt war die "Vorbereitung auf die friedlichen Koexistenz". Die Phase II, die von 1960 bis 1972 andauern sollte, war dem "Kampf im Rahmen der friedlichen Koexistenz" gewidmet. In der von 1973 bis 1985 bemessenen Phase III sollten sich entscheidende Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis vollziehen, weshalb sie als "Periode der dynamischen sozialen Veränderung" bezeichnet wurde. Für die sich daran anschließende IV. Phase war der Titel "Zeitalter des globalen demokratischen Friedens" reserviert. 15 Zu der ab 1973 einsetzenden Phase III schrieb Sejna:
"Der wichtigste strategische Zweck der Phase III, der 'Periode der dynamischen sozialen Veränderung', lag nach den Worten der sowjetischen Direktive darin, 'die Hoffnung auf die falsche Demokratie zu zerschlagen' und für die totale Demoralisierung des Westens zu sorgen. Unsere Beziehung zu den Vereinigten Staaten würde das entscheidende Element dieser Phase sein. Durch Förderung des Glaubens an unsere Politik der Freundschaft und Zusammenarbeit mit Amerika gedachten wir die größtmögliche wirtschaftliche und technologische Hilfe vom Westen zu erlangen und die kapitalistischen Staaten gleichzeitig zu überzeugen, daß sie keine militärischen Bündnisse benötigen. Die in Phase 1/ begonnene Erosion der NATO würde mit dem Rückzug der 13 Den Begriff des Partei-Militar-Komplexes pragte William E. Odom, "The Party-Military Connection: A Critique." in: Dale R. Herspring, lvan Volgyes (Hrsg), Civil-Military Relations in Communist Systems, Boulder/Colo. 1978, S. 27-52.
14 Phillip A. Petersen, John G. Hines, "Die sowjetische Friedens- und Kriegsstrategie in Europa." in: Gerhard Wettig, Sicherheit über alles! Krieg und Frieden in sowjetischer Sicht, Köln 1986, S. 6162; Sejna, Douglass, a.a.O., S. 48-50. 15
Petersen, Hines, a.a.O., S. 62; Sejna, Douglass, a.a.O., S. 48; GrafHuyn, a.a.O., 13-15.
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Vereinigten Staaten aus ihrer Verpflichtung zur Verteidigung Europas und mit dem der Feindseligkeit der Europäer gegen alle Militärausgaben abgeschlossen werden, wie sie durch eine wirtschaftliche Rezession erzeugt und durch das Bemühen 'progressiver' Bewegungen verstärkt werden würde. " 16
111. Die Strategiekommission der SED In der zweiten Jahreshälfte von 1966 berief die SED-Filhrung in der Tat eine "Gesamtkommission 'Strategie und Taktik der Partei'" ein, die fi1r den Zeitraum bis 1980 strategische Leitlinien im Bereich der Innen-, Außen- sowie der Wirtschaftspolitik erarbeiten sollte. Leiter der" Arbeitsgruppe 'Strategie und Taktik der Partei auf dem Gebiet der Außenpolitik"' war der Ulbricht-lntimus Gerhard Kegel, der als langjähriger Mitarbeiter des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU allerdings auch als Vertrauensmann des Kremls anzusehen ist. 17 Bei ihrer ersten Sitzung, am 07.12.1966, erstellte die Strategiekommission einen Arbeitsplan, der vorsah, die außenpolitischen Entwicklungen "bis 1975 bzw. 1980" in 22 prognostischen Einzelstudien zu untersuchen. Neben zumindest vom Titel her unverflinglichen Fragenstellungen wie der "Einschätzung der USAPolitik in Europa" wurden Analysen angefordert, die das Bild von Breshnews Gesamtstrategie bestätigen, welches Sejna gezeichnet hat. Zu untersuchen waren "Probleme im Zusammenhang mit der Auflockerung und Aufspaltung des früher mit starren Fronten gefilhrten kalten Krieges und des ihn ablösenden Bewegungskrieges in der Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus bezogen auf die Situation der DDR". Entsprechend dem Selbstverständnis ihrer Partei, die Zukunft des deutschen Volkes zu repräsentieren, befaßten sich die SED-Strategen auch mit "Problemen der revolutionären Entwicklung in Westdeutschland". Darüber hinaus planten sie selbst, ein "demokratisches Wirtschaftsprogramm fiir Westdeutschand" sowie ein "offensives demokratisches Programm zur Zurückdrängung der Macht der Monopole, des Militarismus und der groBkapitalistischen Meinungsfabriken - nach Möglichkeit gestützt auf die Bestimmungen des Grundgesetzes und der Länderverfassungen" - zu erstellen. 18 Die Ausarbeitungen der Strategiekommission, die bis 1971 tagte, geben ein recht gutes Bild davon, in welchen Kategorien das sozialistische Lager den Kai16
Zitiert nach: Petersen, Hines, a.a.O., S. 62.
17 SAPMO-BARch, DY/30/IV A 2/20/7, Information über eine Beratung der Arbeitsgruppe 'Strategie und Taktik der Partei auf dem Gebiet der Außenpolitik', bei Gen. Kegel. S. I; zu Kegels Vita siehe: Helmut Müller-Enbergs,Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann (Hrsg.), Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Bonn 2000, S. 416.
18 SAPMO-BArch, DY/30/3310, Protokoll: Erste Arbeitsbesprechung der Arbeitsgruppe 'Außenpolitik, außenwirtschaftliche Beziehungen, Westdeutschland und Westberlin'- am 7.12.1966. BI. 1-7.
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ten Krieg wahrnahm und wie es ihn langfristig fiir sich zu entscheiden gedachte. Basis aller Überlegungen war stets das marxistisch-leninistische Epochenverständnis: "Die grundlegende Gesetzmäßigkeit der Klassenauseinandersetzung in unserer Epoche ist die Durchsetzung der sozialistischen Revolution gegen den Imperialismus." 19 Der globale Endkampf, den dieses Epochenverständnis postulierte, entfaltete sich nach Ansicht der SED-Strategen als "Kampf zwischen integrierten Staatengruppen bei ständiger Tendenz [... ], in der wechselseitigen Einwirkung nationale Interessen zur Schwächung des gegnerischen Gesamtsystems zu nutzen."20 Das Wechselverhältnis zwischen der angestrebten Integration des eigenen und der Desintegration des gegnerischen Lagers bildete auch den Rahmen, innerhalb dessen die SED-Strategen ihre Konzeptionen zur Lösung der deutschen Frage entwickelten. Dabei lehnten sie es ab, die "deutsche Frage" begrifflich auf "irgendeine mehr oder minder mechanische Wiedervereinigung" einzugrenzen. Vielmehr sei mit der Gründung der DDR der "Beginn des Auszugs der Deutschen aus dem Lager des Imperialismus und ihres Übergangs in das Lager des Sozialismus" vollzogen worden.21 Die nationale Mission der DDR bestand folglich darin, die "Klassenauseinandersetzung in Deutschland" auf lange Sicht im Sinne des Sozialismus zu lösen:
"Im Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten vollzieht sich seit über zwanzig Jahren ein Klassenkampf. der um die Klärung der Frage Wer- wen? ausgefochten wird. Zu den geschichtlichen Aufgaben der DDR gehört es, dazu beizutragen, daß auch Westdeutschand den Weg heraus aus dem imperialistischen Lager findet. Erst wenn das erreicht ist, kann die Vereinigung der beiden deutschen Staaten aktuell werden. "22 Die "Parole der Vereinigung der beiden deutschen Staaten unter diesem oder jenem Vorzeichen" wurde von den SED-Strategen jedoch auch deshalb als unter den gegebenen Umständen irreal zurückgewiesen, weil sich keines der beiden Lager mit der dann eintretenden Verschiebung des Kräfteverhältnisses abfmden könne. Deshalb gelte es zunächst, zwischen den beiden deutschen Staaten "Beziehungen friedlicher Koexistenz" herzustellen, um auf dieser Basis "filr einen unbekannten historischen Zeitraum" Wege "des friedlichen Nebeneinander19 SAPMO-BArch, DY/30/3311, Arbeitsgruppe I: Probleme der Klassenauseinandersetzung zwischen dem Sozialismus in der DDR und dem Imperialismus in der BRD bis 1980. BI. 70. 20
Ebenda, BI. 38.
21 SAPMO-BArch, DY/30/3312, Entwurf: Zu einigen wichtigen Aspekten der internationalen Lage und der internationalen Beziehungen am Vorabend des VII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Januar 1967, BI. 27-36. 22
Ebenda, BI. 32.
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und Miteinanderlebens" zu fmden. 23 Hinter derlei wohlklingenden Formulierung verbarg sich jedoch wieder die Absicht, in der festgefahrenen Systemauseinandersetzung Spielraum für die schrittweise Auflösung des gegnerischen Bündnissystems zu schaffen. In ihrem historischen Rückblick zu der Rolle, die die "deutschen Imperialisten" seit 1917 in der internationalen Klassenauseinandersetzung gespielt hatten, unterschieden die SED-Strategen zwischen der Funktion eines "Bollwerks" gegen den Sozialismus, die Deutschland vor und nach dem 2. Weltkrieg von den Westmächten zugedacht gewesen sei, und "der Politik von Rapallo" als Versuch "einen Weg des Ausgleichs" mit der UdSSR zu beschreiten. Seit 1918 seien die imperialistischen Mächte deshalb "von der Furcht geplagt, ein friedliches und demokratisches Deutschland, in dem die Imperialisten und Militaristen von der Macht ausgeschaltet sind, könnte mit der Sowjetunion zusammengehen." 24 Um die "deutsche Frage" langfristig im Sinne der SED lösen zu können, sollten der Gegenseite durch die stete Verschiebung des politischen, ökonomischen und militärischen Kräfteverhältnisses "die Aussichtslosigkeit der auf Annexion der DDR gerichteten 'Deutschlandpolitik' der westdeutschen Imperialisten" vor Augen gefiihrt werden. Zugleich sollten militärische Machtdemonstrationen das Selbstbewußtsein des "Gegners" zermürben: "Auch solche Demonstrationen der militärischen Kraft der Staaten des Warschauer Vertrages, wie sie in den Manövern 'Oktobersturm' und 'Moldau' zum Ausdruck kam, erschüttern das Selbstbewußtsein der über Westdeutschland herrschenden Kreise."25 Das beim "Gegner" zu erregende Geftful der Machtlosigkeit sollte die Spannungen innerhalb des "imperialistischen Lagers" verschärfen und die Westdeutschen davon überzeugen, daß sich die Wiedervereinigung niemals im Rahmen ihres gegenwärtigen Bündnissystems verwirklichen lassen würde:
"Die Krise in der NATO und die hiermit wie auch mit der Aussichtslosigkeit der Revanchepolitik verbundene Krise der Führung der westdeutschen Bundeswehr erschütterten das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Bündnissystems und die Zweckmäßigkeit der riesigen Rüstungsausgaben Die zusätzliche Erkenntnis, daß die NATO-Bundesgenossen der westdeutschen Bundesrepublik nicht bereit sind, sich um der revanchistischen Ziele der Banner Politik willen in militärische Abenteuer zu stürzen, wirkt ebenfalls ernüchternd. "26
23
Ebenda, BI. 33-34.
24
Ebenda, BI. 28.
25
Ebenda, S. 37.
26
Ebenda, BI. 39-40.
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Neben den harten, machtpolitischen Maßnahmen, mit denen die Bundesrepublik zur Aufgabe ihrer Wiedervereinigungspolitik genötigt werden sollte, hielten die SED-Strategen natürlich auch ein weiches Integrationskonzept bereit, welches den Westdeutschen eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den deutschen Staaten für den Fall in Aussicht stellte, daß sie sich in ein von der Sowjetunion formuliertes System der europäischen Sicherheit einbinden ließen. Dabei sollte die Bundesrepublik durch "die territoriale Anerkennung des Status quo" in aller Form von ihrem Anspruch auf eine Wiedervereinigung zurücktreten. Im Rahmen des europäischen Sicherheitssystems war die Regelung der deutschen Frage jedoch nur ein Randbereich, den die Sowjets zur Erlangung sicherheitspolitischer Zugeständnisse zu instrumentalisieren trachteten. Ihr zentrales Anliegen war vielmehr die Schaffung eines Geflechts von Nichtangriffsverträgen, die als Grundlage für Abrüstungsverhandlungen und die Schaffung von atomwaffenfreien Zonen dienen sollten. Dabei stand 1967 natürlich noch das Bestreben des Kremls auf der Tagesordnung, die Option einer westdeutschen oder aber einer multilateralen NATO-Atomstreitmacht durch eine Politik der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen zu verhindern. Außerdem strebten die Sowjets in Europa eine Bilateralisierung des militärischen Gleichgewichts an, bei der das Militärbudget der Bundes-republik dem der DDR angeglichen werden sollte: "Im Interesse der euro-päischen Sicherheit und des Friedens sollten beide deutsche Staaten auf jegliche irgendwie geartete Verfilgungsgewalt über Kernwaffen verzichten und in einem zweiseitigen Vertrag ihre Rüstungsausgaben wesentlich herabsetzen."27 Die Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen im Sinne der "friedlichen Koexistenz" sollte auf der gesellschaftspolitischen Ebene die Voraussetzungen dafilr schaffen, nach einem "längeren Neben- und Miteinanderleben" der beiden deutschen Staaten zu "einer grundlegenden antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung in Westdeutschland" und darauf fußend schließlich zu einer
27 Ebenda, BI. 47-56. (Daß die Sowjets tatsächlich ein militärisches Gleichgewicht zwischen der DDR und der Bundesrepublik anstrebten, bestätigte unlängst Generaloberst Fritz Streletz, der Sekretär der Nationalen Verteidigungsrates der DDR: "Insbesondere der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Ustinow erwies sich als schwieriger Gesprächspartner[ ...]. Massiv wurde von ihm z.B. unterstrichen: Die BRD gebe flir die Bundeswehr jährlich 50 Milliarden aus, die DDR aber nur 10 Milliarden. Die BRD habe eine moderne Rüstungsindustrie aufgebaut und produziere erstklassige Militärtechnik für die Bundeswehr und fUr den Export in andere NATO-Staaten. Die DDR besitze so gut wie keine eigene RUstungsindustrie und verlasse sich in dieser Frage voll auf die Sowjetunion. Bei fast allen Begegnungen forderte er höhere Ausgaben fUr die Landesverteidigung und den Aufbau einer eigenen Verteidigungsindustrie." Fritz Streletz, Der Nationale Verteidigungsrat der DDR und das Vereinte Kommando des Warschauer Vertrages. in: Wolfgang Wunsche (Hrsg.), Ruhrt Euch! Zur Geschichte der NVA, Berlin 1998, S. 130-173 hier: 149. Eine analoge Paritätsvorstellung, nur eben bezogen auf das Verhältnis der Supermächte, bestimmte das sowjetische Vorgehen während der Genfer INF-Verhandlungen, siehe: Gerhard Wettig, Umstrittene Sicherheit. Friedenswahrung und Rüstungsbegrenzung in Europa, Berlin 1982, S. 20-46.)
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"Vereinigung" zu gelangen. 28 Um dafilr den Boden zu bereiten, plante die SED zum einen, ihren "Hauptstoß" weiterhin gegen die CDU/CSU zu richten, zum anderen beabsichtigte sie eine Politik zu entwickeln, "mit der die Mehrheit der westdeutschen Sozialdemokraten und die großen Gewerkschaften wie deren Mitglieder und Anhänger einverstanden sein können." Letzteres wurde auch deshalb filr notwendig erachtet, weil die SED in den Sozialdemokraten und Gewerkschaftern nicht nur "potentielle Bundesgenossen" sah, sondern "die Hauptkraft" eines zukünftigen Umsturzes. Um die SPD schrittweise an die ihr zugedachte Rolle heranzuftlhren, mußte nach Ansicht der SED-Strategen aber zuerst einmal darauf hingewirkt werden, "die sozialdemokratischen Mitglieder und Funktionäre von ihrem Nationalismus zu kurieren und ihnen klarzumachen, daß zum Beispiel die Nichtanerkennung der DDR und die Forderung nach den Grenzen von 1937 eine filr Westdeutschland lebensgefllhrliche Unterstützung der Revanchepolitik der westdeutschen Imperialisten und ihrer Militaristen ist."29 Eine sehr interessante Rolle spielte in den Ausarbeitungen der StrategieKommission der Neonazismus in der Bundesrepublik. Weit davon entfernt, sich durch den Ende der 60er Jahre zu beobachtenden Aufstieg der rechtsextremen NPD ins Bockshorn jagen zu lassen, legten die SED-Strategen vielmehr ein nüchtern kalkulierendes Verhältnis zu diesem Phänomen an den Tag. Ihre diesbezüglichen Überlegungen drehten sich vor allem darum, wie der westdeutsche Neonazismus im Sinne der SED-Strategie instrumentalisiert werden konnte. So sollte das Phänomen einerseits dazu benutzt werden, die Bundesrepublik international zu isolieren und ihre Wiedervereinigungskonzepte zu diskreditieren:
"Gerade das Wachsen des Neonazismus im imperialistischen Westdeutschland macht es den anderen Völkern leichter, die Rolle des antifaschistischen sozialistischen Friedensstaates [DDR] zu verstehen und zu begreifen, weshalb in der westdeutschen Bundesrepublik eine antifaschistisch-demokratische Umwälzung unabdingbar ist, bevor eine reale Politik, die zur Vereinigung der deutschen Staaten führen könnte, auf die Tagesordnung der Geschichte gesetzt werden kann. "30 Andererseits stand der "Kampf gegen die Rechtsgefahr" aber auch im Zentrum jener Bündnisstrategie, mit der die SED das gesellschaftliche Kräfteverhältnis in der Bundesrepublik in "Richtung einer parlamentarischen Demokratie mit antimilitaristischem und antifaschistischem Charakter" verschieben wollte. 31 In 28
Ebenda, BI. 54.
29
Ebenda, BI. 43-46
30
Ebenda, BI. 43.
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einer Ausarbeitung zu den Perspektiven der deutsch-deutschen Klassenauseinandersetzung bis 1980 wurde gefordert, auch weiterhin
"die Argumentationslinie in Westdeutschland sowohl gegenüber sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen und anderen Kräften der nichtmonopolistischen Klassen und Schichten als auch für Teile der Monopolbourgeoisie auf die Frage der sie durch den Rechtsradikalismus bedrohenden Gefahren zu konzentrieren, den Kampf gegen die Rechtsgefahr zur optischen Achse der Kritik an der Regierungspolitik und den sie tragenden Parteien zu machen und von daher auch die Kritik gegen den Reformismus anzusetzen. "32 Auf diese Weise seien "Fakten" zu schaffen, "die die reaktionären imperialistischen Strömungen und Organisationen unterdrücken," so daß "die bestmöglichen Voraussetzungen einer antiimperialistischen und antinazistischen Demokratie und ihres Hinüberwachsens in eine Phase antiimperialistisch-demokratischer Umwälzungen geschaffen werden, die später in den Sozialismus hineinfUhren werden. " 33 Der Hinweis auf den "westdeutschen Neonazismus" ließ sich indes auch trefflich dazu nutzen, im Bedarfsfall einen sowjetischen Angriff auf die Bundesrepublik mit dem Schein des Rechts zu versehen. So hatte die UdSSR in den Jahren 1967 und 1968 lautstark ihren auf die Feindstaatenklausel der UNOCharta gestützten Anspruch bekräftigt, "zur Abwendung 'revanchistischer' und 'neonazistischer' Friedensgefahren in der Bundesrepublik" zur Intervention nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet zu sein.34 Im September 1968 gaben die SED-Strategen in einer Ausarbeitung, die den Optionen der sich zu dieser Zeit entwickelnden Vertragspolitik gewidmet war, der Frage breiten Raum, wie das sowjetische Interventionsrecht auch im Falle "einer umfassenderen politischen Regelung" weiter aufrechterhalten werden könne: "Dieses Interventionsrecht - falls wir es als realisierbares Recht und nicht als bloße Möglichkeit einschätzen, propagandistischen Druck auszuüben - könnte in der Zukunft noch eine bedeutende Rolle spielen." Als Lösung dieser heiklen Frage erwogen die SED-Strategen, in einem Vertrag zur europäischen Sicherheit einen Paragraphen über "Sanktionen gegen etwaige Friedensstörer" zu verankern: "Die erwähnten Interventionsartikel der UNO-Charta, die damit allerdings hinfilllig würden,
31 SAPMO-BArch, DY/30/3311, Arbeitsgruppe 1: 'Probleme der Klassenauseinandersetzung zwischen dem Sozialismus in der DDR und dem Imperialismus in der DDR bis 1980'. 1968, BI. 61.
32
Ebenda, BI. 62.
33
Ebenda, BI. 61.
34 Gerhard Wettig, Die Sowjetunion, die DDR und die Deutschland-Frage, 1965-1976. Einvernehmen und Konflikt im sozialistischen Lager, 2. Autl., Stuttgart 1977, S. 196.
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könnten in dem Dokument des europäischen Friedens und der Sicherheit durch geeignete Sanktionsbestimmungen gegen Friedensstörer ersetzt werden. " 35 Die Doppelbödigkeit der östlichen Entspannungspolitik wird indes auch daran deutlich, daß die SED-Strategen bereits 1968 davon ausgingen, daß der Friedenskampf in den 70er Jahren ins Zentrum der Ost-West-Konfrontation rücken würde. Der "Kampf um den Frieden" sollte dabei auch als politisches und organisatorisches Vehikel filr den Export des antiimperialistischen Kampfes dienen:
"Der Sozialismus wird in den 70er Jahren in entscheidendem Maße durch eine sozialistische Friedensstrategie die Überlegenheit seiner zutiefst humanistischen Gesellschaftsordnung über den aggressiven und damit offen menschheitsfeindlichen Imperialismus und seine Globalstrategie beweisen. Er wird damit den notwendigen antiimperialistischen Inhalt des Kampfes um den Frieden zunehmend sichtbar machen und diesen Kampf verstärken. " 36 Eine ähnliche Position fmden sich in einem Handbuch der Sowjetarmee, das 1979 auch in der DDR erschien. Darin wird unumwunden festgestellt, daß der Kampf, den die Kommunisten in den kapitalistischen Ländern "filr die Verwirklichung allgemeindemokratischer Losungen und filr den Frieden" ftllirten, letztlich dazu diene, "eine politische Massenarmee filr die sozialistische Revolution zu schaffen."37 Im Dezember 1970 erhielt die SED-Führung schließlich einen ausfiihrlichen Bericht der "Strategischen Arbeitsgruppe", in dem diese die "Hauptaufgaben der Außenpolitik der sozialistischen Staatengemeinschaft und der DDR" filr den Zeitraum bis 1980 skizzierte. Grundlage ihrer Analyse war die Feststellung, daß sich in den letzten Jahren das globale Kräfteverhältnis klar zugunsten der antiimperialistischen Kräfte verschoben hatte, so daß "die Offensive der Kräfte des Sozialismus und des Friedens weiter fortschreiten" könne, während "der Imperialismus in die historische Defensive gedrängt ist und bleibt." Zur Absicherung dieser günstigen Entwicklung seien jedoch "ständig große Anstrengungen notwendig", um die "Gegenaktionen" des Imperialismus "wirksam abzufangen und seinen Spielraum mehr und mehr einzuengen."38 Als Hauptaufgabe fUr die 35 SAPMO-BArch, DY/30/3311, Einige Hauptproblem der weiteren Entwicklung der außenpolitischen und außenwirtschaftliehen Beziehungen der Deutschen Demokratischen Republik bis etwa 1975. 06.09.1968, BI. 76-78.
36 SAPMO-BArch, DY/30/311, Arbeitsgruppe I: Probleme der Klassenauseinandersetzung zwischen dem Sozialismus in der DDR und dem Imperialismus in der BRD bis 1980. BI. 37. 37
142.
A.S. Miliwidow u.a., Krieg und Armee. Philosophisch-soziologischer Abriß, Berlin 1979, S.
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"sozialistische Europapolitik" formulierten die SED-Strategen das Ziel, "die höchstmöglichen Ergebnisse bei der Veränderung des Kräfteverhältnisses in Europa zugunsten des Sozialismus [... ] zu erreichen." Dies sollte dazu fUhren, "die Sicherheit und Unangreifbarkeit der sozialistischen Staatengemeinschaft politisch und militärisch zu gewährleisten". Konkret bedeutete dies, in den 70er Jahren die eigene Machtposition bis zur Erreichung der Unverwundbarkeit auszubauen. Eine solche Sicherheitsarchitektur setzte jedoch die totale Verwundbarkeit des Gegners voraus, der es dann angesichts seiner Schwäche nicht einmal mehr wagen durfte, das sozialistische Lager auch nur politisch herauszufordern. Mit dem "Prozeß der Durchsetzung von Beziehungen der friedlichen Koexistenz zwischen den europäischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung" sollten die Voraussetzungen dafiir entstehen, "auf der Basis der weiteren Stabilisierung des territorialen Status quo die notwendigen Elemente eines kollektiven europäischen Sicherheitssystems zu verwirklichen", "die revanchistische Politik und die aggressivsten Kräfte des Imperialismus der BRD weiter zurückzudrängen und zu isolieren" sowie "den Einfluß der NATO, des aggressiven amerikanisch-westdeutschen Sonderbündnisses und den Einfluß der USA in Westeuropa zurückzudrängen." Das Ziel, das gegnerische Bündnissystem zu zersetzen, wurde durch die Selbstverpflichtung der DDR ergänzt, sich "auf den ständigen Ausbau des Bündnisses mit der UdSSR" zu konzentrieren. 39 Die Angaben, die in dieser Ausarbeitung zu den von der UdSSR im Prognosezeitraum zu lösenden Aufgaben gemacht wurden, bestätigen die Aussagen Sejnas zur Langzeitstrategie von Breshnews Politbüro. Als "Hauptkraft des Sozialismus in der Auseinandersetzung zwischen den beiden Weltsystemen" war es gleichsam Ehrenpflicht der UdSSR, "den entscheidenden Beitrag fiir die Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses zugunsten des Sozialismus" zu leisten. Im Hinblick auf den "Hauptfeind" USA verfolgte die "Hauptkraft des Sozialismus" eine Doppelstrategie, die darauf abzielte, unter dem Deckmantel freundschaftlicher Beziehungen zum entscheidenden Stoß gegen die westliche Führungsmacht anzusetzen:
"Der politisch Hauptstoß in der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus richtet sich vor allem gegen die USA. Diese Stoßrichtung ändert jedoch nichts an dem Interesse der UdSSR, die bilateralen Beziehungen zu den USA zu verbessern. Die Bemühungen der UdSSR, mit den USA zu einem modus vivendi zu kommen, dürften sich verstärken. Begrenzte Vereinbarungen auf Teilgebieten (Abrüstung) zwischen der UdSSR und den USA erscheinen möglich. Der ökonomische Wettbewerb kann mehr und mehr eine Grundlage von Beziehungen der 38 SAPMO-BArch, DY/30/3317, Analyse und Prognose des internationalen Kräfteverhältnisses und der Entwicklung der internationalen Beziehungen sowie die sich daraus ergebenden Erfordernisse ftlr die Außenpolitik und Außenwirtschaft der DDR bis 1980. 08. 12.1970, BI. 26. J9
Ebenda. BI. 28-29.
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friedlichen Koexistenz, das heißt von Beziehungen des Kampfes und der friedlichen Zusammenarbeit zwischen den beiden entgegengesetzten Gese/1schaftssystemen, und damit zu einem relativ stabilen Faktor des Friedens in der Welt werden. "40 Das Hauptfeld, auf dem die UdSSR ihren Beitrag zur Veränderung des Kräfteverhältnisses leisten sollte, blieb indessen die Stärkung ihrer Streitkräfte. Im Prognosezeitraum sollten diese zunehmend offensiv wirksam werden, um so den globalen Einfluß der USA zurückzudrängen:
"Da der Imperialismus als Quelle der Kriegsgefahr im Prognosezeitraum nicht nur über umfangreiche Mittel ökonomischer, wissenschaftlich-technischer, politischer und ideologischer Diversion, sondern auch militärischer Aggressivität verfügen wird, dürfte sich für die UdSSR die Notwendigkeit ergeben, ihre Verteidigungskraft weiter zu stärken und ihr Militärpotential vor allem im Bereich der Entwicklung von Interkontinentalraketen, eines Raketenabwehrsystems und beim weiteren Ausbau ihrer Positionen zu einer führenden Seemacht zu erhöhen. Auch die militärische Stärke der UdSSR wird der Globalstrategie des Imperialismus immer engere Grenzen setzen und der imperialistischen Politik des Exports der Konterrevolution weitere Fesseln anlegen. Nachdem sich bereits im Mittelmeerraum und im Nahen Osten das militärstrategische Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus verändert hat, wird die UdSSR im Prognosezeitraum den USA auch auf den Weltmeeren mit einer ständigen militärischen Präsenz entgegentreten. "41 IV. Die Moskauer Beratung von 1969 Wer glaubt, die Sowjetkommunisten hätten ihre Pläne fiir den globalen Endkampf allenfalls im arkanen Bereich geheimer Strategiekommissionen diskutiert, der irrt. Tatsächlich nutzte der Kreml die im Juni 1969 in Moskau einberufene "Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien" als Forum, um seine Strategie fiir das Entspannungsjahrzehnt in aller Öffentlichkeit zu präsentieren. 42 Zu dem im Gesamtdokument der Konferenz skizzierten "Kampfprogramm" schrieb 1973 Vadim Sagladin, der Stellvertreter Ponomarjows: "Das von der Beratung unterbreitete Kampfprogramm ist ein Offensivprogramm. Der Imperialismus muß nicht nur gezügelt, er muß vernichtend geschlagen werden." 43 40
Ebenda, BI. 39.
41
Ebenda, BI. 39-40.
41 Dem Rang dieses Ereignisses entspricht der Raum, den es im Kleinen Politischen Wörterbuch der SED einnimmt: "Moskauer Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien 1969." in: Kleines Politisches Wörterbuch, 2. Auflage, Berlin 1973, S. 561-565.
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Grundlage des Moskauer "Kampfprogramms" von 1969 war eine recht optimistische Lageanalyse, die davon ausging, daß die Systemauseinandersetzung in der anstehenden Etappe des Kampfes endgültig zugunsten des Sozialismus entschieden werden könne: "Die gegenwärtige gesellschaftliche und politische Lage in der Welt ermöglicht es, den Kampf gegen den Imperialismus auf eine neue Stufe zu heben. Durch die Verstärkung der Offensive gegen den Imperialismus kann die entscheidende Überlegenheit über ihn errungen[ ... ] werden."44 Zur Entfaltung dieser Offensive wurden den "drei revolutionären Hauptströmen" - dem sozialistischen Lager, der "nationalen Befreiungsbewegung" in der Dritten Welt und der "Arbeiterklasse in den Hochburgen des Kapitals" - jeweils eigenständige Kampfaufgaben zugewiesen. Um trotzdem eine einheitliche Hauptstoßrichtung zu gewährleisten, sollte "der Kampf um den Frieden" weiterhin als "Hauptkettenglied der gemeinsamen Aktionen der antiimperialistischen Kräfte" dienen. Auf der Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen war es das Ziel des Friedenskampfes, "die Imperialisten zur friedlichen Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung zu zwingen." Um etwaige Zweifel am revolutionären Gehalt dieser Politik auszuräumen, wurde im "Gesamtdokument'' jedoch ausdrücklich bekräftigt, daß die Koexistenzpolitik "weder die Aufrechterhaltung der bestehenden sozialen und politischen Verhältnisse noch die Abschwächung des ideologischen Kampfes" beinhalte. Auch was die Wahl der Kampfmittel anbelangte, stand es den kommunistischen Parteien ungeachtet der friedlichen Koexistenz weiterhin frei, "den bewaffneten oder nichtbewaffneten Weg zu beschreiten." Mehr noch, gerade die KPs in den kapitalistischen Ländern wurden ausdrücklich zum Klassenkampf verpflichtet: "Das unveräußerliche, unbestreitbare Recht und die Pflicht der Werktätigen und ihrer kommunistischen und Arbeiterparteien in den kapitalistischen Ländern ist der entschlossene Klassenkampf fiir die Beseitigung der Monopole und deren Macht, filr die Durchsetzung einer wirklich demokratischen Ordnung und fiir die Errichtung der sozialistischen Macht, gleich aufwelchem Wege."45 Daß derlei klassenkämpferische Selbst- und Fremdverpflichtungen keineswegs nur Schaumschlägerische Rhetorik waren, belegen die unter den Stasi-Akten sichergestellten "Kampfgrundsätze" der tschekistischen "Einsatzgruppen", die fiir paramilitärische Einsätze im westlichen "Operationsgebiet" bereitstanden. In einer Dienstvorschrift über "das Zusammenwirken mit patriotischen Kräften im Operationsgebiet bei der Durchfiihrung offensiver tschekistischer Kampfmaßnahmen" Ww'de direkt auf die Moskauer Beratung von I 969 Bezug genommen. 43 Vadim Sagladin, Die Kommunistische Weltbewegung. Abriß der Strategie und Taktik, Berlin 1973, S. 52. 44 Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien - Moskau 1969, Prag 1969, S. 35. 45
Ebenda, S. 36-37.
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Deren Lageanalyse diente dabei als Ausgangspunkt fiir eine Neuformulierung des Einsatzspektrums der Stasi-Paramilitärs, wobei unter anderem festgelegt wurde, was zu tun war, falls im Operationsgebiet eine vorrevolutionäre oder revolutionäre Lage entstünde. Diese Dienstvorschrift wurde 1974 abgefaßt, also zu einer Zeit, da die Entspannung ihrem Höhepunkt zustrebte. 46 Für die Niederringung des Imperialismus blieb die paramilitärische Ebene, auf der die kommunistischen Parteien und die MfS-Einsatzgruppen agieren sollten, einstweilen jedoch ohne größere Bedeutung. Um fiir derlei Handlungsoptionen den Weg freizumachen, mußte zunächst der Rüstungswettlauf zwischen den beiden Militärblöcken zugunsten einer erdrückenden Überlegenheit des Sozialismus entschieden werden. Das Militärprogramm der Mokauer Beratung konzentrierte sich daher vor allem auf politische Maßnahmen zur Ausschaltung des westlichen Militärpotentials. Während sich das "sozialistische Weltsystem" seinerseits dazu verpflichtete, durch den weiteren Ausbau der eigenen Streitkräfte die Möglichkeiten des Imperialismus fiir den "Export der Konterrevolution" immer weiter einzuschränken, 47 sollte gleichzeitig der Kampf "gegen alle Formen des Militarismus, besonders gegen den militärisch-industriellen Komplex der USA und anderer imperialistischer Staaten" forciert werden. 48 Den propagandistischen Großangriff auf das westliche Militärpotential sollten Forderungen wie die nach der "Schaffung kernwaffenfreier Zonen", einer "radikalen Kürzung der Militärausgaben" oder der "Liquidierung der Militärblöcke" vorantreiben. Neben derlei Aufrufen zur Zerstörung der westlichen Sicherheitsstrukturen trat aber auch das Werben um ein neues System der kollektiven Sicherheit, dessen Errichtung als Schritt zur Überwindung der Blockkonfrontation angepriesen wurde: "Gerade die Auflösung der NATO wäre ein entscheidender Schritt zur Auflösung der Blöcke und aller Militärstützpunkte auf fremden Territorien, zur Schaffung eines zuverlässigen Systems der kollektiven Sicherheit."49 Die Forderung nach gleichzeitiger Auflösung von NATO und Warschauer Vertag konnte die Sowjetunion in der Tat unbesorgt erheben, da sie die Bündnisverpflichtungen ihrer Militärallianz längst in einem System bilateraler Freundschaftsverträge dubliert hatte. 50
46
Auerbach, a.a.O., S. 142-146.
47
Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien, S. 27.
48
Ebenda. S. 38.
49
Ebenda. S. 38.
50 Siehe hierzu: Alexander Uschakow. Dietrich Frenzke, Der Warschauer Pakt und seine bilateralen Bündnisvertrage. Analyse und Texte. Berlin 1987.
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Den Sowjetkommunisten war natürlich klar, daß sie ihr ambitioniertes "Kampfprogramm" nicht alleine verwirklichen konnten. Deshalb beschworen sie die "Einheit der Arbeiterklasse", um so Sozialisten und Sozialdemokraten als Bündnispartner zu gewinnen. Hoffnungsfroh stimmte sie hierbei ein "Differenzierungsprozeß", den sie in den Reihen der Sozialdemokratie auszumachen glaubten. 51 In seiner Rede vor der Moskauer Beratung widmete sich Breshnew ausführlich der Sozialdemokratie, wobei er deren Antikommunismus als wichtigstes Hindernis auf dem Weg zur antiimperialistischen Aktionseinheit anprangerte:
"Der Antikommunismus macht die rechte Sozialdemokratie auch in den Fragen der internationalen Politik zu einer Gefangenen der imperialistischen Bourgeoisie. Das Hauptmotiv der außenpolitischen Tätigkeit der sozialdemokratischen Führer einer Reihe von Ländern war in den letzten zwanzig Jahren die Sorge um die Festigung der 'atlantischen Solidarität', das heißt des militärpolitischen Bündnisses der Staaten Westeuropas mit den Vereinigten Staaten im Rahmen des Nordatlantikpaktes. "52 Zur Ausräumung dieses Hindernisses empfahl Breshnew die klassische Differenzierungsstrategie der Kommunisten: Einerseits sollte der Kampf gegen die sozialdemokratischen Kommunismus-Gegner entschieden fortgesetzt werden, andererseits weiterhin beharrlich die Aktionseinheit in solchen Fragen wie der "Abwendung eines Weltkrieges", der "Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems" und dem "Kampf gegen die Gefahr des Faschismus" gesucht werden. 53
V. Ab 1973 "Periode des dynamischen sozialen Wandels"? Folgt man dem zeitlichen Gerüst, das laut Sejna Breshnews Langzeitstrategie zugrunde lag, so hätte 1972 der Kampf im Rahmen der friedlichen Koexistenz abgeschlossen und 1973 die "Periode der dynamischen sozialen Veränderung" eingeleitet werden müssen. In den Dokumenten von SED und MfS finden sich in der Tat zahlreiche Hinweise, die die These stützen, daß die Sowjetkommunisten im Jahre 1973 den Übergang zu einerneuen und höheren Etappe ihres globalen Friedenskampfes vollzogen. So hatten die USA nach Meinung des Kremls mit dem Dokument über die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, das USPräsident Nixon im Mai 1972 in Moskau unterzeichnet hatte, die Leninsche Konzeption der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesell51
Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien, a.a.O., S. 29.
52
Ebenda, S. 203.
53
Ebenda, S. 203.
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schaftsordnung als völkerrechtlichen Rahmen der beiderseitigen Beziehungen anerkannt. In ihrem Informationsschreiben an die SED erklärte die KPdSU hierzu, daß sich mit diesem Dokuments zwar nichts am reaktionären aggressiven Wesen des amerikanischen Imperialismus geändert habe, es aber trotzdem zu einem geeigneten weiteren Mittel fiir die ZügeJung der Aggressivität der USA werden könne: "Zugleich wird das eine Plattform fiir den Zusammenschluß und die Aktivierung der Friedenskräfte im amerikanischen Volk sein, was von nicht geringer Bedeutung ist." 54 Mit dem Ende Januar 1973 in Paris unterzeichneten Abkommen über die Beendigung des Vietnamkriegs besiegelten die USA überdies ihr Ausscheiden aus dem 2. Indochinakrieg, was de facto auf die Preisgabe ihrer sildvietnamesischen und kambodschanischen Alliierten hinauslief. Auf den amerikanischen Rückzug aus Vietnam reagierten die Sowjets charakteristischerweise damit, daß sie in der Arbeit ihrer mit Auslandspropaganda betrauten Frontorganisationen die Themen der Dritten Welt auf einen nachrangigen Platz verwiesen und statt dessen den Fragen der europäischen Sicherheit und der Beendigung des "Wettrüstens" höchste Priorität zumaßen. 55 Als Axen am 27. Februar 1973 in Moskau weilte, erläuterte ihm Ponomarjow, warum "den Bruderparteien in den kapitalistischen Ländern [...} stärker auf ideologischem Gebiet" geholfen werden müsse: "Wir müssen die Entspannung fiir die entscheidende Offensive gegen Antikommunismus und Antisowjetismus nutzen." Ponomarjow fiihrte weiter aus, daß die Arbeit der "gesellschaftlichen Organisationen"- womit natürlich insbesondere der Weltfriedensrat gemeint war - zunltchst darauf konzentriert werden müsse, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu einem günstigen Abschluß zu bringen. Auf dieser Grundlage solle dann gegen die Erhöhung der westlichen Militärbudgets zu Felde gezogen werden.56 Daß es bei der Arbeit der gesellschaftlichen Organisationen um die Entfaltung einer dynamischen und langfristig angelegten Kampagne ging, unterstrich Ponomarjows Stellvertreter Sagladin in einem vertiefenden Hinter54 SAPMO-BArch, DY/30/J IV 2/202/571 , Infonnation der KPdSU zur Moskaureise Nixons, 06.06.1972, S. 2-3. 55 SAPMO-BArch, DY/30/IV 2/2.035/55, Vennerk Ober das Gespräch bei Genossen V. Sagladin [ ...] am 27. Februar 1973 in Moskau. BI. 128-129. Bei einem Treffen im Juli 1973 beschwerten sich die vietnamesischen Kommunisten Ober diesen Prioritätenwechsel in der sowjetischen Auslandspropaganda. Dabei machten sie geltend, daß "trotz des Sieges ober den USA-Imperialismus [...] der Krieg in Indochina weitergefilhrt wird", siehe: SAPMO-BArch, DY/30/vorl. SED 32447/1, Bericht ober das 2. Internationale Konsultativtreffen vom 7.-9. 7.1973 in Moskau zur Vorbereitung des Weltkongresses der Friedenskrafte. S. 3. 56 SAPMO-BArch, DY/30/IV 2/2.035/SS, Vennerk Ober das Gespräch beim Kandidaten des Politbüros und Sekretär des ZK der KPdSU, Genossen Ponomarjow, am 27. Februar 1973 in Moskau. BI. 67, 77.
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grundgespräch mit Axen: "Hinsichtlich der Staatenkonferenz sind viele Fragen noch nicht gelöst. Deshalb ist es notwendig, den Druck der Völker zu verstärken. Wenn die Staatenkonferenz erfolgreich abgeschlossen wurde, steht die Frage der Realisierung der Beschlüsse. Das erfordert erst recht den Druck der Öffentlichkeit." 57 Das zentrale Mobilisierungsereignis des Jahres 1973 war der Weltkongreß der Friedenskräfte, der im Oktober vom sowjetischen Friedenskomitee in Moskau einberufen wurde. Gemäß dem Etappenziel, mit einem weltweiten Netzwerk von Kampagnekomitees die organisatorische Basis filr die Friedensoffensive zu schaffen, war der Weltkongreß in einen Veranstaltungszyklus von insgesamt 5 Vor- und Nachbereitungstreffen eingebettet, die dann im Dezember 1974 in eine neue Konferenzenreihe einmündeten.58 Im Juli 1973 nutzte Breshnew das Krilltreffen der Generalsekretäre, um seinen Bundesgenossen nochmals die große Bedeutung des Weltkongresses vor Augen zu stellen. Wichtig sei ein möglichst breiter Teilnehmerkreis; wobei die Teilnahme von sozialdemokratischen Parteien und vieler nichtkommunistischer Gewerkschaften schon vorab als wichtiger Erfolg zu werten sei. Ziel des Kongresses sei es zu demonstrieren, daß Sozialismus und Frieden zusammenhängen, daß der Sozialismus den Frieden bringt. Darüber hinaus sollte der Kongreß aber auch verhindern, erklär-te Breshnew, daß die Entspannung zu einer Demobilisierung im fortschrittlichen Lager filhre: "Gleichzeitig wird der Kongreß eine unüberhörbare Warnung gegen jede Selbstzufriedenheit und Selbstberuhigung ertönen lassen, gegen das Nachlassen der Wachsamkeit, zu dem es im Zusammenhang mit der Minderung der Spannungen gekommen ist."59 Welche Denkprozesse die Sowjetkommunisten bei den westlichen Besuchern des Weltkongresses auslösen wollten, lassen die Arbeitsmaterialien filr die Delegation der DDR erkennen, mit denen sich die SED-Propagandisten filr die in Moskau zu führenden Gespräche wappneten. Ausgangspunkt der Gesprächsfiihrung war das marxistisch-leninistische Epochenverständnis. Die Gegenwart wurde dabei als Zeit der "Wende von der Ära des kalten Krieges, der zuge~ spitzten Kriegsgefahr, zu einer Zeit, in der der Weltfrieden dauerhaft gewährleistet werden kann," charakterisiert. Als Ursache filr diesen "geschichtlich ausserordentlich bedeutungsvollen Umbruch" wurde die "gewachsene Macht der UdSSR [... ] und ihrer Verbündeten im Friedenskampf' angefilhrt. Trotzdem sei 57 SAPMO-BArch, DY/30/IV 2/2.035/55, Vermerk über das Gespräch bei Genos~en V. Sagladin [...] am 27. Februar 1973 in Moskau. BI. 128-129. 58 Zu den Daten und Kommuniques dieser Treffen der Weltfriedensbewegung siehe: Friedensrat der DDR (Hrsg.), Dokumente der Weltfriedensbewegung. Oktober 1962 bis Dezember 1974, Halle 1976.
59 SAPMO-BArch, DY/30/IV 8 2/201157, Schlußwort des Genossen Leonid lljitsch Breshnew auf der Krim Konferenz am 31 . Juli 1973. S. 4-5.
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zu beachten, daß die günstige Lageentwicklung kein Prozeß des Selbstlaufs sei und neue Aufgaben und Möglichkeiten es gerade gegenwärtig erforderlich machten, das Bündnis der "Triebkräfte des Kampfes um Frieden und friedliche Koexistenz" zu vertiefen. 60 Freimütig sollte die SED-Delegation einräumen, daß die Kommunisten ihren beharrlichen Kampf um die dauerhafte Sicherung des Weltfriedens nicht alleine zu einem erfolgreichen Abschluß bringen konnten: "Sie [die Kommunisten] wissen und berücksichtigen vielmehr, daß sich im Kampf um die Erhaltung des Friedens die übergroße Mehrheit der Menschheit miteinander vereinen muß und bei aller sozialen, politischen und ideologischen Differenziertheit eine potentielle Friedenskraft darstellt."61 Im weiteren Gesprächsverlauf sollte mit Hinweis auf die Bedrohung, die nach wie vor von dem mit atomaren Massenvernichtungswaffen ausgestatteten Imperialismus ausging, herausgearbeitet werden, welche Minderheit das Überleben der Mehrheit der Menschheit gefahrdete. Der Verweis auf die lokalen Kriege in der Dritten Welt diente dabei dazu, den Gesprächspartnern die Aktualität dieser Bedrohung ins Bewußtsein zu rufen:
"In unserer Epoche, in der sich die Geschicke der Völker immer mehr miteinander verbinden, in der sich die internationale und die innerstaatliche Entwicklung in zunehmendem Maße miteinander verflechten, ist jeder scheinbar noch so lokal begrenzte Krieg eine weltpolitische Größe. Er berührt die Interessen aller Völker unmittelbar, nicht nur weil in ihm stets die Gefahr seiner Eskalation zum Weltkrieg besteht, sondern auch deshalb, weil der Grad der Internationalisierung der gesellschaftlichen Beziehungen und des Klassenkampfes in unserer Zeit ein solches Ausmaß angenommen hat, das es keine Volk ermöglicht, sich in der Krieg-Frieden-Frage neutral zu verhalten und sich ihrer zu entziehen. "62 Als Wegweiser in einer Zeit, da der Menschheit einerseits durch die Atomwaffen eine reale Gefahr fiir ihre Existenz erwachsen war, während ihr andererseits die Internationalisierung des Klassenkampfes den nahenden Einzug ins kommunistische Weltfriedensreich verhieß, sollten die SED-Propagandisten den "Friedensappell der Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau 1969" in die Diskussion einfUhren. 63 Bei näherem Hinsehen erweist sich die Friedensbotschaft, um deren Vermittlung es den Sowjetkommunisten 1973 60 SAPMO-BArch, DY/30/IV B 2/2.028/54, Weltkongreß der Friedenskräfte, Moskau 25.10.3l.LO.l973. Arbeitsmaterialien for die Delegation der DDR. BI. S-6.
61
Ebenda, BI. 6.
62
Ebenda, BI. 7.
63
Ebenda, BI. 7.
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auf dem Weltkongreß ging, denn auch nur als eine Neuauflage des vier Jahre zuvor verabschiedeten "Kampfprogramms":
"Es ist das hervorragende Verdienst W. I. Lenins, wenn er als eine der grundlegenden Thesen des Marxismus-Leninismus zur Krieg-Frieden-Problematik herausstellte, daß ein demokratischer, von breiten Volksmassen ersehnter Frieden nur durch die Zurückdrängung der aggressivsten imperialistischen Kräfte und nur unter Führung des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse errungen werden kann. Angesichts der vom Imperialismus heraufbeschworenen, die Völker in ihrer Existenz bedrohenden, völlig neuen Dimension des Krieges verkörpert die internationale Arbeiterklasse, an ihrer Spitze die Staaten der sozialistischen Gemeinschaft, mit ihrem revolutionären Kampf die Alternative zum imperialistischen Krieg. Der Friedenskampf, der sich heute unter der Führung der UdSSR und der gesamten sozialistischen Gemeinschaft machtvoll entfaltet, ist daraufgerichtet, diese Schicksalfrage der Menschheit zu lösen. "64 Daß der Weltkongreß Teil einer Kampagne war, die zur zielstrebigen Umsetzung von Breshnews Langzeitstrategie entfaltet wurde, unterstreicht seine Rezeption durch die SED. So wurde in einem internen Bericht hervorgehoben, daß die Teilnehmer "eine gemeinsame politische Plattform fiir Aktionen erarbeitet" hätten, "die der strategischen Linie des XXIV Parteitages der KPdSU und der sozialistischen Staatengemeinschaft entspricht." Als "Aktualisierung und Konkretisierung des Friedensprogramms des XXIV. Parteitages der KPdSU" komme der Rede des Genossen Breshnew ebenfalls höchste Bedeutung zu. Auch mit den auf "Weltkongreß" vermittelten Inhalten zeigte sich die SED zufrieden. So sei einerseits überzeugend demonstriert worden, daß der Friede vom Sozialismus ausgeht." Während andererseits einer allzu optimistischen Feindlagebeurteilung entgegengewirkt werden konnte: "Der Kongreß trug dazu bei, jeglichem Nachlassen der Wachsamkeit zu begegnen und 'Entspannungs-illusionen' abzubauen." 65 Insgesamt sei die Grundlage dafiir geschaffen worden, den Friedenskampf auf einer in jeder Hinsicht höheren Ebene fortzusetzen:
"Der Kongreß hat die gesellschaftlichen Kräfte entsprechend den neuen Notwendigkeiten und Möglichkeiten auf einer höheren Ebene zusammengeführt. Die Rolle der gesellschaftlichen Kräfte im Rahmen unserer Friedensoffensive wurde theoretisch untermauert und praktisch erhöht. Es wurde das Verständnis vertieft, daß der Kampf um Frieden und Sicherheit eng mit dem nationalen und
64
Ebenda, BI. 9-10.
65 SAPMO-BArch, DY/30/vorl. SED 32447/1, Information über den Verlauf und Ergebnisse des Weltkongresses der Friedenskräfte vom 25. bis 31. Okt. 1973. S. 2-3. (Zum XXIV. KPdSU-Parteitag und seinem Friedensprogramm siehe: "Friedensprogramm des XXIV. und XXV. Parteitages der KPdSU." in: Kleines Politisches Wörterbuch, 3. Aufl., Berlin 1978, S. 256-257.)
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sozialen Kampf in den kapitalistischen Staaten und dem Kampf um Befreiung und nationale Unabhängigkeit verbunden ist. "66 Die Leitreferate, die Mielke 1973 vor dem Offizierskorps des MfS hielt, stüzen ebenfalls die These, daß das sozialistische Lager in diesem Jahr Kurs darauf nahm, seinen Friedenskampf entsprechend den Erfordernissen der Periode der dynamischen sozialen Veränderung zu intensivieren. Die Ideen und Vorschläge des historisch bedeutsamen Friedensprogramms des XXIV. Parteitages der KPdSU lieferten auch in den Reden Mielkes den Maßstab fiir die Bewertung der seither errungenen Erfolge. 67 Was Mielkes Redemanuskripte von Dokumenten auf der Parteiebene unterscheidet, ist die brutale Offenheit, mit der er die Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses als Hauptursache fi1r die positive Lageentwicklung benannte. Mit dem Aufwuchs des sozialistischen Militärpotentials verband Mielke denn auch die Perspektive, dem Gegner Freiräume zur Entfaltung des revolutionären Weltprozesses abzutrotzen: "Aufgrund des veränderten Kräfteverhältnisses wird es fi1r den USA-Imperialismus immer schwieriger, mit militärischen Mitteln seine Positionen zu halten oder bei antiimperialistischen Entwicklungen in der Welt militärisch zu intervenieren."68 Um zu demonstrieren, wie sehr sich die militärische Machtbalance gerade in Europa zugunsten des Sozialismus verschoben hatte, berief sich Mielke ungeniert auf die sorgenvollen Lageanalysen der NATO:
"Wir wissen, Genossen, daß insbesondere die führenden NATO-Militärs in Westeuropa über die militärische Stärke der Sowjetunion und der anderen Staaten des Warschauer Paktes geifern. Wir sagen jedoch mit Recht: Gerade diese Stärke ist eine der entscheidenden Grundlagen dafür, daß der Weltfrieden sicherer gemacht werden konnte." 69 Daß es bei der Verschiebung des Kräfteverhältnisses vor allem darum ging, dem Sozialismus das Gesetz des Handeins fi1r den Endkampfmit dem Westen zu sichern, erklärte Mielke ebenfalls ganz unverblümt:
66
Ebenda, S. 2.
67 BStU, ZA, MfS-S.d.M. 1288, Referat ftlr die Parteiaktivtagung zur Auswertung der 9. ZKTagung in der Parteiorganisation der HA PS am 19.7.1973. BI. 41.
68
Ebenda, BI. 42.
69 BStU, ZA, MfS-S.d.M. 1288, Schlußwort des Genossen Minister auf der Aktivtagung der Kreisparteiorganisation des MfS am 21.6.1973 zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED. BI. 123.
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"Der Imperialismus hat im militärischen Bereich keine Chance. Das war nicht immer so, aber das ist heute eine Tatsache. Wir, die sozialistischen Staaten, sind es, die den Kampfplatz und die Formen der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit dem Imperialismus bestimmen. "70 Wegen der Gefahr der nuklearen Eskalation blieb dem sozialistischen Lager die politische Nutzbarmachung seines überlegenen Militärpotentials aber nach wie vor versagt. Anfang der 70er Jahre hofften die Sowjetkommunisten jedoch noch, in dieser Frage einen entscheidenden Durchbruch bei den Verhandlungen zwischen den Supermächten zu erringen. So hatten die Sowjets den USA bereits 1972 ein Abkommen vorgeschlagen, das vorsah, in einem eventuellen Krieg die Kampfhandlungen auf das Gebiet der jeweiligen Bündnispartner zu begrenzen. Von Washington war dies abgelehnt worden, da man dort erkannte, daß ein solcher Vertrag zum Totenschein fiir die NATO werden würde. 71 Ungeachtet dieses Rückschlags begleitete Mielke die sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen des Jahres 1973 weiterhin mit frenetischen Kommentaren. Dabei hob er zum einen hervor, daß die Prinzipien der friedlichen Koexistenz nun völkerrechtlich verbindlicher Maßstab fiir die zwischenstaatlichen Beziehungen geworden waren, zum anderen unterstrich er die große Bedeutung all jener Vereinbarungen, die darauf abzielten, "die Gefahr eines Atomkrieges fUr alle Zeiten zu beseitigen."72 Die endgültige Bannung der Atomkriegsgefahr war natürlich kein philantropischer Selbstzweck, sondern ein weiterer Schritt zur Verschiebung des Kräfteverhältnisses. Am 21. Juni 1973 sagte Mielke:
"Besonders die gegenwärtigen Gespräche des Genossen Breshnew in den USA sind von außerordentlich großer Bedeutung für die weitere Durchsetzung unserer Politik und die Veränderung des Kräfteverhältnisses. Dabei wird konsequent um Grundfragen gerungen, wie z.B. um die weitere Abrüstung auf nuklearem Gebiet."73 Die mit Hilfe der Vertragspolitik voranzutreibende Verschiebung des Kräfteverhältnisses stand fiir Mielke natürlich ganz im Zeichen der sich dadurch verbessemden Perspektiven des revolutionären Weltprozesses: "Was sich in den letzten Jahren im Weltgeschehen vollzogen hat, ist von revolutionärer Bedeutungfür den weiteren Vormarsch der Kräfte des Friedens, 70
Ebenda, BI. 27.
71 Oie Diehl, Die Strategiediskussion in der Sowjetunion. Zum Wandel der sowjetischen Kriegsftlhrungskonzeption in den achtziger Jahren, Wiesbaden 1993, S. 54. 72 BStU, ZA, MfS-S.d.M. 1288, "Referat ftlr die Parteiaktivtagung zur Auswertung der 9. ZKTagung in der Parteiorganisation der HA PS am 19.7.1973." BI. 44. 73 BStU, ZA, MfS-S.d.M. 1288, Schlußwort des Genossen Minister auf der Aktivtagung der Kreisparteiorganisation des MfS am 21.6.1973 zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED." BI. 129.
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des Sozialismus und der nationalen Befreiung; das ist zugleich von revolutionierender Wirkung für den weiteren Kampf gegen Imperialismus und Reaktion, und zwar nicht nur in bestimmten Teilen der Welt, sondern auf dem gesamten Erdball. Das alles wurde möglich durch die gewaltige, umfassende Offensive der Kräfte des Sozialismus/Kommunismus im Weltmaßstab, durch die außerordentliche Stärkung ihrer weltpolitischen Positionen unter der Führung der sozialistischen Weltmacht Sowjetunion und ihrer marxistisch-leninistischen Partei, durch die weitere Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Kräfte des gesellschaftlichen Fortschritts." 74 Gerade Mielke betonte immer wieder, "daß die Offensive, die Friedenspolitik des Sozialismus langfristig angelegt" seien, da es gelte, "den Weltfrieden dauerhaft, fiir alle Zeiten zu sichern und den Krieg vollständig aus dem Leben der Völker zu verbannen." Bei seinen Ausfuhrungen zu der "auf lange Sicht angelegte[n] strategische[n] Linie" des sozialistischen Lagers vergaß Mielke niemals, an das unwandelbar aggressive Wesen des Imperialismus zu erinnern. Im Einklang mit diesem Feindbild verwahrte er sich gegen die Annahme, der revolutionäre Weltprozeß könne sich ohne aktives Zutun revolutionärer Akteure entfalten. Vielmehr belegten gerade die jüngsten Erfolge, daß "nichts absolut nichts im Selbstlauf entstanden ist, sondern im harten Kampf des Sozialismus gegen den Imperialismus." 75 Daher bleibe auch der strategische Inhalt der tschekistischen Klassenmission unverändert, nur die taktischen Fonnen des Kampfes müßten den Gegebenheiten der neuen Lage angepaßt werden:
"Unsere Hauptaufgabe ist und bleibt, den Feind zu schlagen, auch und gerade unter den neuen Bedingungen. Darauf konzentrieren wir unsere Kräfte. Wir dürfen dabei in unserer politisch-operativen Arbeit nichts tun, was den Kampf der sozialistischen Staatengemeinschaft, die Politik der friedlichen Koexistenz stören könnte. Wir müssen deshalb noch gewissenhafter prüfen und abwägen, welche politisch-operativen Mittel und Methoden in der jeweiligen operativen Lagebedingungen angewandt und welche Taktik eingeschlagen werden sollen. " 76
74
Ebenda, BI. 120.
15 BStU, ZA, MfS-S.d.M. 1288, Referat fur die Parteiaktivtagung zur Auswertung der 9. ZKTagung in der Parteiorganisation der HA PS am 19.7. 1973. BI. 48, 46. 76 BStU, ZA, MfS-S.d.M. 1288, Schlußwort des Genossen Minister auf der Aktivtagung der Kreisparteiorganisation des MfS am 21.6.1973 zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED. BI. 125.
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VI. Fazit Vergleicht man Mielkes Reden mit dem, was Breshnew und Ponomarjow im Dezember 1973 auf dem Treffen der Sekretäre fiir ideologische Arbeit und fiir internationale Verbindungen zu sagen hatten, so wird deutlich, daß der oberste SED-Tschekist vor seinen Mannen immer nur getreulich die strategische Linie der KPdSU referierte. 77 Es kann mithin als bewiesen angesehen werden, daß der Entspannungspolitik von Breshnews Politbüro eine langfristige Strategie zugrunde lag, deren Ziel es war, den Westen endgültig niederzuwerfen. Der entscheidende strategische Durchbruch sollte dabei mit Hilfe einer möglichst breiten, gegen die Militärpolitik der NATO gerichteten Protestbewegung erzielt werden. Trotz beeindruckender Anfangserfolge gelang es diesem "Friedenskampf' aber nicht, das Militärpotential der NATO mit Hilfe betrügerischer Rüstungskontrollofferten oder der parallel zur Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte entfalteten Abrüstungskampagnen auf eine militärisch und politisch unerhebliche Residualgröße zu reduzieren. 78 Dadurch ließ sich wiederum das überlegene Militärpotential des Warschauer Vertrages nicht als Trumpfkarte im politischen Ringen um Westeuropa ausspielen. Das von Breshnews Politbüro mit geradezu manischer Besessenheit angehäufte Waffenarsenal konnte so zu einer ökonomischen Bleiweste werden, die das überdehnte Sowjetimperium im Laufe der 80er Jahre rettungslos absaufen ließ.
77
Auszüge aus diesen Reden finden sich in: Ploetz (2000), a.a.O., S. 122-129.
7H Zum
sowjetischen Abrüstungsbetrug siehe: Ebenda, S. 148-151, 206.
Probleme der Westverschuldung der DDR und ihrer Aussenhandelsstatistik Von Armin Volze Die Westverschuldung der DDR und deren Handelsbilanzentwicklung zu verfolgen, war filr westliche Beobachter in den 70er und 80er Jahren keine leichte Aufgabe. Es gab erhebliche Wahrnehmungs- und Verständnisschwierigkeiten. Die DDR veröffentlichte keine Zahlungsbilanzen, die Aussenhandelsstatistik schien wenig transparent und voller Rätsel. Undurchsichtigkeilen dieser Art zählten zu den typischen Begleiterscheinungen des realen Sozialismus. Ein politisches System, das ohnehin zur Kryptomanie neigte, war von Natur aus darauf bedacht, in den sensiblen Bereichen der Aussenwirtschaft und der Auslandsverschuldung die Einsichtsmöglichkeiten des Klassenfeindes zu beschneiden, ja ihn vielleicht sogar zu verwirren. Für die DDR in ihrer exponierten Lage und angesichts des heiklen Verhältnisses zur Bundesrepublik Deutschland galt das in besonderem Maße. Die westliche DDR-Beobachtung musste bis 1989 sehen, wie sie mit spröden Veröffentlichungen und ihren Ungereimtheiten zurechtkam, und auf dieser Grundlage mit einer gehörigen Portion Vorsicht und Skepsis die Lage einschätzen. Nach 1990 bot sich mit der Öffuung der DDR-Archive die überraschende Möglichkeit, die früheren Beobachtungsergebnisse anhand des nun zur Verfügung stehenden reichen Archivmaterials zu überprüfen, Bestätigungen zu finden oder auch Fehleinschätzungen zu korrigieren. Wie falsch oder wie richtig war das Bild der DDR-Aussenwirtschaft, das man sich bis 1989 gemacht hatte? Dieser Aufarbeitungsprozess ist nur zögernd in Gang gekommen und sehr bald durch "Sensationen" abgelenkt worden. Zunächst war es die durch zweifelhafte Äusserungen hoher DDR-Funktionäre genährte These, die Westverschuldung der DDR sei viel höher gewesen als angenommen. 1995 folgte der von Peter von der Lippe dokumentierte Vorwurf, die DDR-Aussenhandelsstatistik sei nach allen Regeln der Kunst geflilscht worden. Dass solche Thesen auf einen fruchtbaren
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Boden fielen und begierig aufgenommen wurden, ist nur mit einem weitverbreiteten Bedürfnis zu erklären, von der DDR getäuscht worden zu sein. Dies ist besonders verbreitet bei Forschern, die sich bis 1989 mit der DDR nur am Rande beschäftigt haben und an deren Phänomeme nun unbesehen und direkt westliche Massstäbe anlegen. Wer mit DDR-Verhältnissen nur mangelhaft vertraut war und auch heute noch Schwierigkeiten hat, sie zu begreifen, gerät leicht in Versuchung, alle Unklarheiten und Verständnisprobleme auf gezielte Manipulationen zurückzufiihren. Man sollte aber mit Vokabeln wie Täuschung und Fälschung solange behutsam umgehen, wie nicht die zugrundeliegenden, häufig kompli-zierten internen Verhältnisse und Konstruktionen der DDR ermittelt und verstanden worden sind. Die systemimmanenten Analyse wird heute als eine Abart des gehobenen Positivismus diskreditiert. In einem eingeschränkten Sinn erscheint sie als erste Stufe jedes Erkenntnisprozesses unentbehrlich. Ein fremdes System muss zunächst aus seinen eigenen Bedingungen heraus verstanden werden; erst wenn das geleistet ist, kann man vom eigenen Standpunkt aus beurteilen oder auch verurteilen. Im Folgenden werden in einer Art Zwischenbericht einige Erkenntnisse bei der Aufarbeitung der DDR-Aussenwirtschaft vorgestellt. Das Thema Westverschuldung der DDR lässt sich inzwischen wohl endgültig abhaken, nachdem die Deutsche Bundesbank im August 1999 ihre Berechnungen der DDR-Zahlungsbilanz 1975 bis 1989 vorgelegt hat. Hier bleibt nur noch die Geschichte einer Verwirrung nachzuzeichnen, die symptomatisch fiir das Täuschungsbedürfnis war und leider immer noch Nachwirkungen hat. Noch nicht abschliessend lässt sich über den Aussagewert der DDR-Aussenhande/sstatistik urteilen und die Frage ihrer Weiterverwendbarkeit beantworten. Wo gab es gezielte statistische Manipulationen, was waren nur Reflexe systembedingter Eigenheiten oder Verwerfungen? Wie zuverlässig war die Datenerhebung, wie irrefiihrend waren die Veröffentlichungen wegen ihrer Methodik, ihren Beschränkungen und der rätselhaften Währung Valutamark? Und schliesslich: Welche Bedeutung hatte und welchen Hintergrund hatte die aufgedeckte Fälschung von Export/Import-Zahlen?
I. Westverschuldung und Zahlungsbilanz
Die DDR-Aussenverschuldung warf fiir westliche Beobachter, anders als die Aussenhandelsstatistik, keine Probleme mit DDR-Zahlen auf, weil keine Zahlungsbilanzen veröffentlicht wurden. Man war darauf angewiesen, sich ein Bild aus eigenem westlichen Material zu machen und Lücken durch Schätzungen
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zu schliessen. Das ist für die Devisenverschuldung erstaunlich gut gelungen - im Gegensatz zur Beobachtung der Handelsbilanzentwicklung anhand der OECDPartnerlandstatistik, die ein völlig falsches Bild geliefert hat. Basismaterial filr die Ermittlung der DDR-Verschuldung in konvertierbaren Devisen waren die Zahlen der Bank fiir internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel. Die westlichen Banken - ausser den westdeutschen - hatten der BIZ ihre Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber DDR-Banken (und Unternehmen des Koko-Bereichs) regelmässig zu melden. Aus dem Meldungsautkommen war deutlich zu erkennen, dass sich nach der verheerenden Liquiditätskrise von 1981182 die Struktur der Devisenverschuldung in den 80er Jahren entscheidend veränderte. Die Verbindlichkeiten der DDR wuchsen zwar, aber noch stärker wuchsen die Forderungen, eine Folge der Mittagsehen Politik 'Liquidität geht vor Rentabilität'. So kräftig die Bruttogrössen anstiegen, die Nettodevisenverschuldung im Bankensektor blieb verhältnismässig moderat und belief sich 1989 auf 7,5 Mrd $. Die Meldungen an die BIZ erfassten keine kommerziellen Kredite (Lieferantenkredite und Zahlungsziele). Deren Volumen wurde anhand mehr oder weniger zuverlässiger Kriterien ermittelt bzw. geschätzt, für 1989 auf netto 2,2 Mrd $, die zu der Bankenverschuldung hinzukamen. Daraus ergab sich rechnerisch fiir 1989 eine Gesamtnettoverschuldung der DDR in konvertierbaren Devisen in Höhe von 9,7 Mrd $. Eine Nettoverschuldung in der Grössenordnung von I 0 Mrd $ war fiir die internationale Bankenwelt nicht alarmierend, im Gegenteil, die DDR wurde als ein so potenter und zuverlässiger Schuldner eingeschätzt, dass die Kreditbedingungen (Zinssatz und Laufzeit) 1989 so günstig wie lange nicht mehr waren. Die Nettoverschuldung in konvertierbaren Devisen war der entscheiden4e Faktor der Westverschuldung, hier schlummerten, wie sich 1981182 gezeigt hatte, die Liquiditätsprobleme. Verbindlichkeiten und Forderungen im Clearingbereich waren nicht devisenrelevant und nur von zweitrangiger Bedeutung. Dazu gehörte die Verschuldung im innerdeutschen Handel, der in Verrechnungseinheiten (VE) abgewickelt wurde; sie belief sich, in $ umgerechnet, 1989 auf 3,5 Mrd $. In den übrigen Clearingbeziehungen, insbesondere mit Entwicklungsländern, verftlgte die DDR sogar über einen Aktivsaldo, allerdings von sehr zweifelhafter Wertigkeit. Die konsölidierte Zahlungsbilanz der DDRfür das gesamte Nichtsozialistische Wirschaftsgebiet (NSW) unter Einschluss des innerdeutschen Handels und der anderen Clearingwährungen war wegen ihrer Heterogenität von geringem politischen Interesse. Erstaunlicherweise hat die DDR selbst häufig in dieser wenig aussagekräftigen Einheit gerechnet. Im Westen wurden kaum Schätzungen der NS W-Verschuldung angestellt, auch deshalb, weil es kaum Anhaltspunkte filr Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber den Entwicklungsländern gab. 6 Timmennann
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Hypothetisch lässt sich sagen, dass solche Schätzungen für 1989 auf eine Grössenordnung von etwa 12 bis 13 Mrd $gekommen wären. Es ist daher verständlich, dass es auch im Westen wie eine Bombe einschlug, als nach der Wende aus offiziellen DDR-Quellen verlautete, dass die NSW-Verschuldung sich in ganz anderen Grössenordnungen bewege. In einem Papier für Krenz von Ende Oktober wurde die NSW-Verschuldung auf der Basis des Zahlenmaterials der Plankommission umgerechnet auf 26,5 Mrd $ [= 49 Mrd VM] beziffert, Mitte November in einem Papier für Modrow immer noch auf20,6 Mrd $ (= 38 Mrd VM]. Das war umgerechnet fast das Doppelte der westlichen Vorstellungen. Diese Zahlen waren schlicht falsch. Und obwohl das seit langem feststeht, geistern sie immer noch durch die Welt. Meine eigenen Berechnungen sind bereits im Jahre 1996 unter sehr vorsichtigen Annahmen auf eine NSW-Nettoverschuldung von 13 bis 14 Mrd $im Jahre 1989 gekommen. Die Deutsche Bundesbank hat nun 1999 in einer umfassenden und sorgfliltigen Neuberechnung der NSW-Zahlungsbilanz einen wesentlich niedrigeren Wert, nämlich 10,8 Mrd $ [=19,9 Mrd VM] ermittelt. Die Verschuldung in harten Devisen betrug nur 8,2 Mrd $ [ = 15,2 Mrd VM]. Damit ist eindeutig, dass die westlichen Berechnungen und Schätzungen der Westverschuldung nicht zu niedrig, sondern zu hoch gelegen haben. Wie konnte es Ende 1989 in der DDR zu einer derartigen Fehleinschätzung kommen, die im Westen den Vorwurf der Täuschung und eines "Grossen Bluff' laut werden liess? Ursache war die innere Undurchsichtigkeit des DDR-Systems, die sich in der Endphase gegen das System selbst kehrte. Ökonoimische Informationen wurden gezielt geheimgehalten. Die für Planung und Zahlungs-bilanz zuständigen Institutionen der DDR hatten keinen vollen Durchblick und waren über die vorhandenen Devisenreserven im finanziellen Bereich, insbe-sondere im Bereich Koko nicht unterrichtet. Der Westen hatte sich also nicht täuschen lassen und die DDR war Ende 1989 tatsächlich nicht zahlungsunflihig im technischen Sinne. Sie wäre es wohl auch in nächster Zukunft ceteris paribus nicht geworden - also unter der Vorausetzung stabiler politischer Verhältnisse, der Stetigkeit des Aussenhandels mit Ost und West und einer anhaltenden Kreditbereitschaft des Westens. Die Devisenverschuldung wäre fiir sich genommen 1989 kein akuter Anlass gewesen, die Flinte ins Korn zu werfen. Der jähe Zusammenbruch der DDR verdankte sich anderen politischen und wirtschaftlichen Gründen, vor allem der Entwicklung in der Sowjetunion, aber auch der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Versorgung und Zukunftsperspektiven in der Bürgerbewegung. Ebenso klar ist aber auch, dass der allgemeine und fortgeschrittene wirtschaftliche Niedergang der DDR, bedingt
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durch fehlende Investitionen und Ineffizienz, nicht mehr sehr lange die Weiterfilhrung des Krisenmanagements auf dem Kreditgebiet erlaubt hätte, und es ist eine interessante, aber wohl kaum präzise zu beantwortende Frage, wieweit das Krisenmanagement selbst dazu beigetragen hat, den Niedergang der DDRWirtschaft zu beschleunigen.
II. Handelsbilanz und DDR-Aussenhandelsstatistik Zur Analyse der Handelsbilanzentwicklung stand der westlichen DDR-Beobachtung anders als bei der Zahlungsbilanz DDR-Material zur Verfiigung: die veröffentlichte Aussenhandelsstatistik der DDR. Sie erfreute sich im Westen grosser Aufmerksamkeit, aber nur geringer Wertschätzung. Sie galt als lückenhaft, widersprüchlich und voller Ungereimtheiten. Ihre Währungseinheit Valutamark war nicht defmiert, und auch die Zuverlässigkeit der Daten erschien nicht zweifelsfrei. Man hatte kein rechtes Zutrauen zur DDR-Statistik und zog nach Möglichkeit westliche Quellen vor. Generell ruiniert wurde ihr Ruf darm 1995 durch den Vorwurf der gezielten politischen Fälschung. Der nachfolgende Überblick wird zeigen, dass dieses Bild allzu düster geraten ist, auch wenn noch nicht in allen Bereichen letzte Klarheit besteht. 1. Datenerhebung
Die statistische Datenerhebung ist, wie man inzwischen weiss, im Aussenhandel wesentlich zuverlässiger gewesen als in anderen Wirtschaftszweigen der DD~. Die Meldungen der Ausssenhandelsbetriebe fiir die sog. Geschäftsstatistik des Ministeriums fiir Aussenhandel (MAH) basierten auf den zahlungsauslösenden Export- und Importdokumenten. Die Deutsche Aussenhandelsbank (DABA) hatte deren Vorliegen zu bestätigen. Ein entsprechendes Verfahren ist bei der Uranausfuhr der Wismut AG und bei der Ein- und Ausfuhr von Spezialtechnik (Militärgüter) angewandt worden. Der Bereich Koko meldete seit 1977 seine Aussenhandelsumsätze monatlich auf eigenen EDV-Bändern an das MAH. Auch diese Meldungen basierten auf tatsächlichen Zahlungsvorgängen; dadurch waren Manipulationen so gut wie ausgeschlossen. Es gab zwar keine bankmässige, aber eine bereichsinterne Kontrolle, die wohl als effizient anzusehen ist Die Koko-Meldungen waren aber gröber gegliedert und enthielten nur wenig Einzelländerangaben. Einfuhren von Embargogütern wurden nur wertmässig erfasst. Dass die Aussenhandelszahlen der DDR korrekt erhoben worden sind, ist heute allgemein anerkarmt. Ludwig/Stäglin gehen bei ihren Untersuchungen über das 6*
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Bruttoinlandsprodukt der DDR von der Zuverlässigkeit der MAH-Geschäftsstatistik aus, mit leichten Einschränkungen hinsichtlich der Meldungen der KokoAussenhandelsgeschäfte. In ähnlicher Weise hat 1999 die Deutsche Bundesbank ihre Neuberechnung der DDR-Zahlungsbilanz auf dem statistischen Ursprungsmaterial des MAH aufgebaut. 2. Methodische Besonderheiten
Für westliche Beobachter hatte die DDR-Aussenhandelsstatistik einige störende methodische Eigenheiten. Sie war - neben der stärkeren Einbeziehung von Dienstleistungen und einer anderen Abrechnung der Lohnveredelung - auf Käufer- und Verkäuferland ausgerichtet statt auf Herstellungs- und Verbrauchsland wie im Westen üblich. Diese harmlos erscheinende Differenz hatte erhebliche Auswirkungen. Der DDR-Handel mit Drittländern wurde zu einem nicht unerheblichen Teil über westeuropäische Länder, insbesondere die Niederlande, Österreich und die Schweiz, abgewickelt und von der DDR statistisch als Handel mit diesen Ländern ausgewiesen. Die westlichen Partnerländer, in denen die Waren eingekauft oder verkauft wurden, betrachteten diese Geschäfte in der Regel aber nicht als Geschäfte mit der DDR. Hinzukam, dass die USA, Australien und Kanada ihre Transshipments von Agrarerzeugnissen über den Hamburger Hafen nicht als Lieferungen in die DDR auswiesen. Aus diesen Gründen hat die sog. Partnerlandstatistik der OECD, auf die im Westen gern zurückgegriffen wurde, ein entstelltes Bild des DDRAussenhandels geliefert und z.B. in den 70er Jahren die Importüberschüsse der DDR in krasser Weise untertrieben. Während sich anhand der DDR- und RGW-Statistik ein Handelsdefizit in konvertiblen Devisen von I 0 Mrd $ ermitteln liess, wies die OECD-Statistik dafiir knapp 2 Mrd $ aus, also nur ein Fünftel. Weil man aber eigentlich der OECDStatistik doch mehr traute als der DDR-Statistik, hat diese Diskrepanz ohne Schuld der DDR einige Verwirrung angerichtet. Die methodischen Besonderheiten der DDR-Aussenhandelsstatistik waren wegen der eingeschränkten Vergleichbarkeit lästig, aber sie rechtfertigen nicht den Vorwurf einer vorsätzlich herbeigefiihrten Undurchsichtigkeit. Sie gingen durchgehend auf RGW-Regelungen zurück und entsprachen praktischen Bedürfnissen des Planwirtschaftsystems, das bilateral orientiert war und an Zahlungsvorgängen anknüpfte. Kritisch anzumerken wäre allenfalls, dass die DDR sich im RGW erfolgreich dafur eingesetzt haben soll, entgegen Empfehlungen in der Schlussakte der KSZE von 1975 nicht den Ausweis nach Ursprungs- und Bestimmungsland zu übernehmen.
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3. Valutamark Die Verwendung der Valutamark als Währungseinheit fiir den Aussenhandel hat zu einer ungleich schwerer wiegenden Undurchsichtigkeit gefiihrt. Die Geschichte der VM und ihrer Spaltungen ist der Gang durch einen Irrgarten währungspolitischer Improvisationen im Spannungsfeld zwischen politischen Zwängen und praktischen Bedürfnissen. Sie kann hier nur grob skizziert werden. Wie wir inzwischen wissen, wurde die VM 1961 zunächst nur in der internen Planrechnung als einheitlicher Wertmasstab im Aussenhandel unter den Bedingungen des damals herrschenden Goldstandards eingefiihrt. Die VM war das rechnerische Äquivalent der DM im Verhältnis 1: I. Im bilateralen Verhältnis blieb die VM stets ein Doppelgänger der DM. Der innerdeutsche Handel und andere DM-Geschäfte wurden immer l: l in VM gerechnet und auch statistisch so ausgewiesen. Im Verhältnis zu anderen Währungen entlehnte die VM gewissermassen die Goldparität der DM. Daraus errechneten sich 1961 entsprechend den damaligen Goldparitäten Gegenwerte von 4,20 VM fiir den $ und von 4,67 VM fiir den Rubel. Dieses System war fiir kurze Zeit multilateral in sich stimmig. Als die DM nach 1962 zweimal aufgewertet wurde, hätte die DDR konsequenterweise die Aufwertung der DM gegenüber den anderen westlichen Währungen mitmachen müssen. Sie hielt jedoch an den alten Paritäten der anderen Handelswährungen fest bzw. rechnete weiter über die alte Goldparität der DM. Es blieb bei 4,20 VM fiir den $, obwohl der $-Kurs der DM jetzt bei 4,00 lag. Damit wurde der übrige Aussenhandel gegenüber dem innerdeutschen Handel zu hoch bewertet. Als die VM 1965 in der Aussenhandelsstatistik als Währungseinheit den Rubel ablöste, wurde diese Verzerrung in den Aussenhandelsausweis hineingetragen. 1971172 kam es zu einer zweiten Spaltung der VM. Weil die Goldparitäten weltweit durch flexible Wechselkurse abgelöst wurden, musste die DDR ihre Währungspolitik umstellen. In der internen Planrechnung wurden SW-Handel und NSW-Handel völlig getrennt, die VM wurde fiir den NSW-Handel wieder voll an der DM und ihrenjetzt flexiblen Wechselkursen orientiert. Zugleich wurden intern zusätzliche Mechanismen wie z.B. Richtungskoeffizienten eingefiihrt, um die Kosten in M auszugleichen. In der Aussenhandelstatistik aber wurde die VM an die Wechselkursfestsetzungen des transferablen Rubel (TRbl) gekoppelt. Die Leitfunktion des TRbl - die in der Zeit des Goldstandards kaum erkennbar war - trat nun deutlich in Erscheinung. Die Kursfestsetzungen des TRbl gegenüber den westlichen Handelswährungen wurden
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über den fixen Gegenwert von 4,67 VM/TRbl zur Grundlage der Berechnung der Aussenhandelswerte in statistischer VM. Da sich die Paritäten des TRbl nicht synchron zu den VM-Kursfestsetzungen in der internen Planrechnung entwickelten, ergab sich eine (beträchtliche) Wertdifferenz zwischen PlanVM und statistischer VM, intern ausgewiesen als statistischer Faktor. Er bewegte sich von 1972 bis 1989 zwischen 1,2 und 1,8. Entsprechend wurden die Aussenhandelsergebnisse in statistischer VM um 20 bis 80 % höher ausgewiesen als sie intern in PlanVM gerechnet wurden. Diese Aufblähung hatte keine verfälschende Wirkung, wenn man die statistische VM über die Wechselkurse des TrRbl in $ umrechnete, man durfte sie nur nicht mit der DM gleichsetzen. Weil die DMIVE in der Statistik nach wie vor 1:1 in VM erschien, wurde der innerdeutsche Handel nun in erheblich grösseren Dimen-sionen als vor 1972 zu niedrig ausgewiesen. Die Spaltung der VM seit 1962 und das Nebeneinander von Plan VM und statistischer VM seit 1972 haben die Aussenhandelsstatistik in hohem Masse undurchsichtig gemacht. Weil sie in absolutem Widerspruch zu westlichen Vorstellungen von der Homogenität eines Währungssystems standen, war es schwierig, sie zu erkennen Es liegt aus westdeutscher Sicht nahe, hinter den hier nur knapp skizzierten Vorgängen gezielte Manipulationen zur Kleinmalerei des innerdeutschen Handels aus politischen Gründen zu vermuten. Die Suche nach den Motiven ist so die schwierig wie die Materie selbst. Es spricht einiges dafiir, ein fundamentales währungspolitisches Dilemma als Ursache anzunehmen und nicht eine statistische Täuschung, so sehr die statistischen Folgen natürlich ins Konzept passten. Wenn die DDR aus politischen Prestigegründen eine zeitlose Ebenbürtigkeit von MIVM zur DM beanspruchte, war sie gezwungen, dies auch in der Statistik durchzu-halten, sonst wäre die "Abwertung" der VM im inner-deutschen Handel bemerkbar geworden. Konsequenterweise hätte man die DM zur Leit- und Ankerwährung auch in der Statistik machen müssen. Das war politisch undenkbar und mit der Rolle des Rubel als sozialistischer Leitwährung nicht zu vereinbaren. Für diese antagonistischen Widersprüche sind pragmatische, die Aussenhandelsstatistik ausserordentlich verwirrende Kompromisse gefunden worden. Dass ihnen ein Täuschungszweck zugrunde lag, ist auch deshalb wenig wahrscheinlich, weil die Kausalkette der VM-Spaltung bereits 1962 begonnen hat, zu einer Zeit, in der der innerdeutsche Handel rückläufig war und kein akuter politischer Grund bestand, ihn noch kleiner erscheinen zu lassen.
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4. Veröffentlichungsprobleme
Der Aussagewert der DDR-Aussenhandelsstatistik war von Anfang an durch Unstimmigkeiten und Einschränkungen in den Veröffentlichungen gemindert. Bis 1974 wurden noch durchgehend Export- und Importzahlen veröffentlicht, und zwar fiir Einzelländer und in Zusammenfassung fiir drei Ländergruppen: Sozialistische Länder, Entwicklungsländer und Kapitalistische Industrieländer. Ein Problem war schon damals, dass die Summe der Einzelländerangaben nicht mit den zusammenfassenden Ländergruppenausweisen übereinstimmte; dies liess sich nicht ausreichend damit begründen, dass nicht alle Handelspartner als Einzelländer aufgeftihrt wurden. Die z.T. erheblichen Differenzen lassen sich inzwischen weitgehend erklären. Ein wichtiger Grund dürfte die schon erwähnte Diskretion des Bereichs Koko gewesen sein. Aussenhandelsumsätze der Koko wurden nur dann Einzelländern zugeordnet, wenn es sich um Lieferungen oder Bezüge im Rahmen von Handelsverträgen handelte - was oft nicht der Fall war, z.B. bei Geschäften auf dem Weltmarkt, bei Sondergeschäften oder beim Import von Embargogütern. Ausserdem wurden Warenbewegungen, die über Freihäfen liefen, nicht ländennässig zugeordnet, ebenso nicht die Geschäfte auf DM-Basis mit westdeutschen Finnen im Transithandel. 1975 wurden wegen der prekären Handelsbilanzentwicklung die Jalousien regelrecht heruntergelassen. Um die Importüberschüsse im Handel mit den westlichen Industrieländern zu kaschieren, wies die DDR-Aussenhandelsstatistik bis 1982 nur noch Umsätze, keine Export/lmportzahlen mehr aus; es ist sogar erwogen worden, überhaupt keine Aussenhandelszahlen mehr zu veröffentlichen. Als sich die Handelsbilanzsituation verbessert hatte, gab es ab 1982 wieder Export/Import-Zahlen, aber nicht mehr fiir Einzelländer und die traditionellen drei Ländergruppen, sondern nur noch filr die beiden Wirtschaftsgebiete SW und NSW. Damit war die Handelsbilanzentwicklung gegenüber den westlichen Industrieländern, mit der die Devisenverschuldung eng zusammenhing, nicht mehr unmittelbar zu erkennen. Diese Verschleierung funktionierte aber nur unvollkommen. Weil der RGW auf der Fortfilhrung der traditionell aufgeglie-derten Meldungen bestand, erschienen in den einschlägigen RGW-Publikationen die ganze Zeit hindurch weiter Export/lmportzahlen filr die Kapitalistischen Industrieländer -allerdings in TRbl und inmitten eines russischen Textes. Anband dieser Zahlen blieb es also möglich, die reale Aussenhandelsentwicklung der DDR einschliesslich der devisenrelevanten Handelssalden gegenüber den westlichen Industrieländern zu verfolgen.
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Hauptzweck der Einschränkungen in den deutschsprachigen Veröffentlichungen dürfte gewesen sein, die prekäre Aussenhandelsentwicklung vor der ~igenen Öffentlichkeit zu verschleiern und gleichzeitig den ausländischen Beobachtern Steine in den Weg zu legen, die nicht mit RGW-Publikationen vertraut waren. Die verfiigbaren NSW-Zahlen hatten wegen ihrer Heterogenität fiir Analysen im Zusammenhang mit der Devisenverschuldung nur einen begrenzten Aussagewert, was jedem Sachkenner bewusst war.
5. Fälschungen
Trotz aller Vorbehalte gegen die DDR-Aussenhandelsstatistik wurde der Verdacht, sie werde regelrecht gefiilscht, vor der Wende nur selten geäussert. Von der Lippe hat diesen Vorwurf 1995 erhoben und sich auf Dokumente aus den Jahren 1987 und 1988 gestützt, auf die er im Archiv der Staatlichen Zentralverwaltung Statistik (SZS) gestossen war. In mehreren Vorlagen an das ZK-Sekretariat bzw. an Mittag wurde vorgeschlagen, bei den Meldungen von Aussenhandelszahlen an RGW- und UNOOrgane die Ergebnisse des Gesamt-handels- vornehmlich fiir den NSW-Bereichzu erhöhen, und zwar in Grössenordnungen von mehreren Mrd VM. Daraus ergaben sich filr 1987 und 1988 höhere Exportüber-schüsse als nach der regulären Abrechnung. Die aufgestockten Zahlen sind in den Aussen-handelsausweis des Statistischen Jahr-buchs der DDR eingegangen. Es ist verständlich, dass eine solche Entdeckung nach willkürlicher und politischer Fälschung riecht. Bei näherer Betrachtung melden sich aber gewisse Zweifel, ob es hier tatsächlich so einschichtig zugegangen ist, wie es von der Lippe unterstellt. Die Aufstockungsvorschläge wurden von Statistikern gemacht, denen man auch im DDR-System ein Interesse an professioneller Arbeit zubilligen möchte. Aus den Dokumenten ergibt sich weiter, dass die Aufstockungsvorschläge mit dem Bereich Koko und dem MAH abgestimmt bzw. abzustimmen waren. Es muss also eine Art Gegenrechnung mit dem Aussenhandelsapparat gegeben haben. Die aufgefundenen Dokumente offenbaren nur einen Teil der Wahrheit, und sie sind von ihrem Entdecker unzulänglich, nämlich überhaupt nicht interpretiert worden. Zunächst ist es von der Lippe entgangen, dass die Aufstockung der Export/Importzahlen früher als 1987/88 begonnen hat. Belegbar sind Aufstockungen fiir die Jahre ab I 985; sie werden - als Korrekturen bezeichnet - in einer Aufzeichnung der SZS vom 20. Dezember 1989 im einzelnen ausgewiesen. Interessant ist, dass die Korrekturen in den Jahren 1985 und 1986 zwar das Handelsvolumen erhöht haben, aber anders als 1987/88 nicht oder nur geringfiigig den Exportüberschuss. Was war dann der Hintergrund der Aufstockungen? Gespräche mit ehemaligen
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Funktionären der DDR haben dazu interessante Aspekte ergeben, aber noch keine volle Klarheit gebracht. Schriftliche Unterlagen stehen nicht zur Verfiigung, die Erinnerungen der Beteiligten sind lückenhaft und werden nach 15 Jahren verständlicherweise ungenauer. Der frühere Leiter der Statistischen Zentralverwaltung Statistik, Prof. Donda, hat als Motiv fiir die Aufstockungen folgende Erklärung anzubieten: In seiner Behörde verstärkte sich in den 80er Jahren anhand von Ennittlungen zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der Eindruck, eine Reihe von Aussenhandelsumsätzen, insbesondere beim Handel mit dem NSW, werde von der Geschäftsstatistik des MAH nicht erfasst und gehe damit nicht in die Aussenhandelsstatistik ein. Der Verdacht richtete sich vor allem auf den Bereich Koko. Mittag soll auf entsprechende Hinweise zunächst zurückhaltend bis abweisend reagiert haben: Die Ausklammerung gewisser Geschäfte beruhe auf einer Weisung des Generalsekretärs. Er liess sich aber schliesslich von der Zweckmässigkeit und Nützlichkeit einer Ausweitung der Aussenhandelsstatistik überzeugen. Danach hat es quartalsweise Nachmeldungen des Bereichs Koko an die SZS gegeben. Die sich aus den Nachmeldungen ergebenden 'Korrekturen' waren dem ZK-Sekretariat bzw. Mittag zur Bestätigung vorzulegen. Die von von der Lippe publizierten Dokumente gehören in diesen Zusammenhang. Welche Aussenhandelspositionen im einzelnen nachgemeldet worden sind und ob diese Zahlen korrekt waren, lässt sich kaum noch ennitteln bzw. nachprüfen. Die Nachmeldungen des Bereichs Koko dürften sich im wesentlichen auf zwei Geschäftsfelder bezogen haben: Geschäfte auf dem Weltmarkt - Käufe auf Kredit, Verkäufe gegen Kasse -, wobei die Warenbewegungen das Gebiet der DDR in der Regel nicht berührten. Solche Ausserplan Geschäfte betrafen vor allem Erdöl und Erdölprodukte, Buntmetalle und andere Rohstoffe, aber auch Nahrungsmittel. Auch spezielle Transaktionen mit der Sowjetunion scheinen in diesem Zusammenhang eine Rolle gespielt haben. Geschäfte dieser Art hatten ein beachtliches Milliardenvolumen und waren zuvor nicht in der Export/Import-Statistik erschienen. Intershopverkäufe mit unterstellter 'Auslandsbeziehung', das waren Verkäufe der Mitropa-Verkauftstellen (an Transitstrecken, auf Flug- und Seehäfen und z.B. auf dem Bahnhof Friedrichstrassein Berlin) und Verkäufe in den Interhotels. Sie bewegten sich in den 80er Jahren in Grössenordnungen von einer dreiviertel Mrd VM im Jahr.
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Alle diese Warenbewegungen - hinzu kamen noch sog. Exportabkaufe von geringerem Gewicht - sind zwar nach westlichen statistischen Kriterien keine Exporte oder Importe. Die DDR-Defmitionen waren jedoch weitherziger, weil sie sich primär an der Entstehung von Forderungen und Verbindlichkeiten orientierten und nicht ausschliesslich an grenzüberschreitenden Warenbewegungen. Geschäfte auf dem Weltmarkt konnten durchaus als Reexporte angesehen werden. Die oben erwähnten Geschäftsfelder waren ohne Zweifel devisenrelevant Wenn sie zu Aktivsalden filhrten, bedeutete das in jedem Fall zusätzliche Deviseneinnahmen und Verbesserung der Zahlungsbilanz. Sie in toto als politische Fälschungen ohne sachliche Substanz anzusehen, wie das inzwischen üblich geworden ist, ist nicht gerechtfertigt und schiesst über das Ziel hinaus. Andererseits haben die DDR-Statistiker in der schon erwähnten Aufzeichnung vom 20. Dezember 1989 die erste sich bietende Gelegenheit benutzt, um die 'Korrekturen' wieder zu beseitigen. Dabei soll allerdings eine wesentliche Rolle gespielt haben, dass das vom Bereich Koko gelieferte statistische Material in Übermittlung, Aufgliederung und Spezifikation nicht den strengeren Anforderungen einer normalen Aussenhandelsstatistik entsprach, zu der man nach der Wende zurückkehren wollte. Hinzu dürfte gekommen sein, dass es wohl in den Jahren 1987 und auf jeden Fall 1988 massive direkte Vorgaben und Einflussnahmen des ZK-Sekretariats gegeben hat, um jeden Preis einen Exportüberschuss auszuweisen. 1988 wurde durch die Korrektur immerhin ein regulärer Importüberschuss von 4,5 Mrd VM in einen Exportüberschuss umgewandelt. Aber selbst in diesen beiden letzten Jahren dürften die Korrekturen keine reinen Phantomzahlen gewesen sein. Die aufgestockten Exportzahlen könnten durchaus noch devisen-mässig gedeckt gewesen sein. Die Importzahlen filr 1988 dürften aber wohl hochgradig manipuliert worden sein, indem bereits in diesem Jahr abgewickelte Importe statistisch in die Zukunft verschoben wurden. Der kursorische Überblick über die wichtigsten Felder der DDR-Aussenhandelsstatistik hat nicht nur deren Probleme aufgezeigt, sondern nebenbei auch erkennen lassen, wieweit sich bereits in DDR-Zeiten Undurchsichtigkeiten analysieren und durchdringen Hessen. Die Arbeit von Paul-Günther Schmidt hat dabei Vorbildliches geleistet. Schmidt ist 1985 in einem knappen Exkurs seiner als Buch veröffentlichten Dissertation den Rätseln der DDR-Aussenhandelsstatistik mit Fleiss und Scharfsinn auf den Grund gegangen und hat sie, wie sich jetzt nachprüfen lässt, weitgehend richtig gelöst. Er hatte erkannt, dass die DDR-Statistik bei allen ihren Schwächen im Kern zuverlässig und filr eine Analyse der DDR-Handelsbilanz ungleich brauchbarer
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war als die OECD-Statistik und dass sich ihr Kardinalfehler, die Spaltung der VM zum Nachteil des innerdeutschen Handels, korrigieren liess. Genau das ist auch heute noch notwendig. Die im Statistischen Jahrbuch der DDR veröffentlichten VM-Zahlen können wegen der zweifachen Spaltung der VM und wegen der Korrekturen nicht mehr unbesehen weiter verwendet werden, was gelegentlich immer noch geschieht. Als Minimalberichtigung filr den Hausgebrauch, wenn man möglichst weit im System der DDR-Aussenhandelsstatistik bleiben will, müssen die NSW-Zahlen filr die Jahre 1985 bis 1988 um die Korrekturen bereinigt und, um den innerdeutschen Handel angemessen darzustellen, von statistischer VM durch Eliminierung des statischen Faktors auf PlanVM umgerechnet werden. Als günstigstes Basismaterial steht dafilr inzwischen das (spezielle) Statistische Jahrbuch Aussenhande/ Teil I und 11 im Bundesarchiv zur Verfilgung. Es enthält die Gesamthandelszahlen des Statistischen Jahrbuchs mit besonderem Ausweis des innerdeutschen Handels (BRD/WB). Inzwischen gibt es eine Reihe von Neuberechnungen des DDR-Aussenhandels, angefangen vom Statistischen Jahrbuch der DDR 1990 bis hin zur jüngsten Zahlungsbilanz der Deutschen Bundesbank. Sie beruhen auf unterschiedlichen Ansätzen, sind zumeist auf westlicher Methodik aufgebaut und berücksichtigen oft nicht mehr den innerdeutschen Handel. Das allen Neuberechnungen gemeinsame Dilemma ist die angemessene Bewertung des Transferablen Rubels filr den SW-Handel. Dass der TRbl mit den traditionellen 4,67 VM überbewertet war und deshalb den Anteil des RGWHandels überhöht auswies, ist allgemeine Meinung. Das Statistische Bundesamt hat den transferablen Rubel rückwirkend bis 1980 und auch noch weiter zurück mit nur 2,34 VM bzw. DM bewertet. Die Deutsche Bundesbank ist dem, wenn auch mit erkennbaren Vorbehalten, gefolgt. Ob es richtig sein kann, den 1990 gewählten Umstellungskurs der DDR-Mark zur DM von 2 : 1 als Masstab zu nehmen und den Wert des TRbl kurzweg zu halbieren, ist ein schwieriges und vermutlich kaum lösbares Problem der Wirtschaftsgeschichte. Literatur
Deutsche Bundesbank (Hg.):Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989, Selbstverlag der Deutschen Bundesbank, Frankfurt/Main, August 1999. Haendcke-Hoppe, Maria: Die DDR-Außenhandelsstatistik und ihr Informationswert, PS-Analysen 3 - 1978.
- Wer wusste was? Der ökonomische Niedergang der DDR, DeutschlandArchiv 511995 S.588 ff.
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Die gesamtwirtschaftlichen Leistungen der DDR-Wirtschaft in den offiziellen Darstellungen - Die amtliche Statistik der DDR als Instrument der Agitation und Propaganda der SED, Materialien der Enquete-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden, FrankfurtiMam 1995, Band 1113 S. 2053 ff. Ludwig, Udo!Stäglin, Rainer: Die gesamtwirtschaftliche Leistung der DDR in den letzten Jahren ihrer Existenz, Zur Neuberechnung von Sozialproduktdater für die ehemalige DDR, in Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Il/1997 S. 55 81. Roesler, Jörg: Der Einfluss der Aussenwirtschaftspolitik auf die Beziehungen DDR- Bundesrepublik, DeutschlandArchiv 5/1993 S. 558 ff. Schmidt, Paul-Günther: Internationale Währungspolitik im sozialistischen Staat, Stuttgart, New York 1985 - Anhang C, Die externe Handelsbilanz der DDR nach der offiziellen Außenhandelsstatistik, S. 383 ff. Statistisches Bundesamt (Hg.): Umsätze im Aussenhandel 1975 und 1980 bis 1990, Sonderreihe mit Beiträgen fiir das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 9, Wiesbaden 1993. Volze, Armin: Ein grosser Bluff? Die Westverschuldung der DDR,in: DA, 5/1996 S. 701ff.
- Die gespaltene Valutamark, in: DA 2/1999 S. 232 ff. - Zur Devisenverschuldung der DDR- Entstehung, Bewältigung und Folgen, in: Die Endzeit der DDR-Wirtschaft, Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, Opladen 1999, S. 151 ff.
Die Anerkennung der DDR durch die Republik Chile Von Inga Grebe I. Einleitung
Dieser Artikel stützt sich hauptsächlich auf Quellenmaterial der Abteilung Internationale Verbindungen des Zentralkomitees der SED, die ich im Rahmen meiner Doktorarbeit zum Thema "Die DDR und Chile" eingesehen habe. Akten des Staatsrates wurden auch herangezogen, da sie häufig Kopien der Akten des Ministeriums fiir Auswärtige Angelegenheiten der DDR enthalten. Zusätzlich habe ich die Akten des chilenischen Außenministeriums, die im Archivo General Hist6rico in Santiago de Chile liegen, konsultieren können. Interviews mit Zeitzeugen rundeten das Bild ab. In der ersten außenpolitischen Erklärung der DDR vom 24. Oktober 1949 hatten vor allem deutschlandpolitische Grundsätze Vorrang. Doch klangen hier auch schon andere Töne an: neben den Prämissen er Wiederherstellung der Eiheit Deutschlands, dem Abschluß eines Friedensvertrages, der Erfiillung der Abkommen von Jalta und Potsdam stand eben auch der Grundsatz der friedlichen und freundschaftlichen Beziehungen zu allen anderen Völkern. Doch genau an dieser Stelle, den Beziehungen zu allen anderen Völkern, zeigte sich die Ohnmacht der ostdeutschen Außenpolitik. Erfolgreich schaffte es der westdeutsche Staat jahrzehntelang, die DDR vom internationalen Parkett fernzuhalten. Die HaBstein-Doktrin war Drohung genug, die meisten Staaten von der Aufuahme von Beziehungen zur DDR fernzuhalten. Für die DDR war es ein Kampf gegen Windmühlenflilgel, als eigener Staat wahrgenommen zu werden. Erst nach Abschluß des Grundlagenvertrages am 21. Dezember 1972 hatte dieser Kampf ein Ende. Anderthalb Jahre vorher jedoch, am 6. April 1971, war er auf der anderen Hälfte der Erde schon gewonnen worden: Die DDR war von der aus Linksparteien bestehenden Regierung der Unidad Popular (Volkseinheit) mit Präsidenten Salvador Allende anerkannt worden. Für die DDR war die Anerkennung durch den ersten lateinamerikanischen Staat - nach Kuba - ein wichtiger Meilenstein, konnte diese Anerkennung doch Auswirkungen auf die Entscheidung der umliegenden lateinamerikanischen Staaten haben.
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Schließlich gelang sie noch vor der großen Anerkennungswelle nach der Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO und mit Walter Ulbricht als Generalsekretär der SED. Und schon diese völkerrechtliche Anerkennung durch Chile hatte die DDR Geld und vor allem viel Geduld gekostet. An dieser Stelle geht es mir um den langen Weg bis zur Anerkennung durch Chile. Ein Aspekt dazu soll die in diesem Prozeß so entscheidende Figur des Präsidenten der Republik Chile - Salvador Allende - sein. II. Die Anerkennung 1. Der steinige Weg
In den filnfziger Jahre hatten - wie in der außenpolitischen Erklärung schon anklingt- deutsche Themen Vorrang. Das sollte zwar bis zum Ende der DDR auch so bleiben, aber mit dem Beginn der sechziger Jahre weitete sich der Horizont der DDR-Außenpolitik. Vor dem Jahr 1960 hatte die DDR nach Chile allein auf Parteiebene Kontakte. Diese Parteibeziehungen der SED zur Kommunistischen Partei (KP) Chiles sollten - so schlug es Walter Ulbricht vor1 - ab 1960 ausgebaut werden. Ein Mitglied der KP Chiles sollte als Korrespondent in der DDR arbeiten. Seit Oktober 1960 kamen erste Kontakte auf staatlicher Ebene hinzu. Auf Einladung der Volkskammer besuchte eine Delegation Parlamentsabgeordneter der Republik Chile drei Wochen lang die DDR. Sie sah sich die Höhepunkte des sozialistischen Aufbaus (Stalinstadt, Schwarze Pumpe, Dresden) und klassische Stätten (Meißen, Leipzig, Weimar, Erfurt) an. Eine Führung durch Buchenwald rundete den Besuch ab. Dieser Parlamentarierdelegation aus Chile wurde ausdrUcklieh auf persönlichen Wunsch Ulbrichts besondere Aufinerksamkeit gewidmet. 2 Walter Ulbricht sorgte auch fiir ein angemessenes Staatsgeschenk ein komplett eingerichteter Kindergarten mit Spielzeug, Fotoapparaten und Filmvorftihrgeräten. Ein Gegenbesuch einer Volkskammerdelegation der DDR nach Chile wurde ebenfalls geplant. Diese ersten Delegationen kennzeichneten den Beginn eines regen Austauschs auf den Ebenen der Außenpolitik, die der DDR überhaupt zur VerfUgung standen. Er1 DY 30 IV 2120/336, unpaginiert. BriefU!bricht an das Zentralkomitee der Kommunistischen Par· tei Chiles, 8.2.1960. 2 DY 30 IV 2/20/337, unpaginiert. Gleichzeitig teile ich Dir mit, daß der Genosse Ulbricht wünscht, daß Ihr Euch um die chilenische Parlamentsdelegation besonders kümmert. Brief Otto Gotsche an Peter Florin, 13.10.1960.
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staunlieh ist hierbei, daß es sich bei den Delegationen aus Chile nicht um kommunistische, sondern um christdemokratische, das heißt konservative Senatoren handelte. Sicher bildeten die Parteibeziehungen der SED zur KP Chiles weiterhin den größten Teil der Verbindungen nach Chile, jedoch gab es auch auf der staatlichen und nichtstaatlichen Ebene immer mehr Kontakte. So reisten Volkskammerabgeordnete auf Weisung der SED nach Chile, es wurden weitere Parlamentarierdelegationen in der DDR empfangen, eine Andenexpedition wurde ausgerüstet und weilte 1961162 in Chile und der FGB schickte im August 1962 eine Delegation zum 3. Nationalkongreß der einflußreichen Einheitszentrale der Werktätigen (Central Unica de Trabajadores, CUT).
Am 24. Oktober 1964 beschloß dann das Präsidium des Ministerrates der DDR eine - so lautete der Titel - "Konzeption zur Entwicklung der auslandspolitischen und wirtschaftlichen Beziehungen der DDR zu lateinamerikanischen Staaten bis zum Jahre 1970" 3 . Für Chile waren darin als Schwerpunkte festgehalten, ständige Handelsbeziehwtgen aufzunehmen, Handelsabkommen auf Regierungsebene in die Wege zu leiten und eine Handelsvertretwtg der DDR in Chile zu erwirken. Um diesem Ziel näher zu kommen, praktizierte das Ministerium fUr Auswärtige Angelegenheiten weiterhin die Politik der kleinen Schritte: Gespräche zwischen Mitarbeitern des Ministeriums und chilenischen Senatoren, Einladwtgen von chilenischen Parlamentariern durch die Volkskammer der DDR, Einladwtgen von Kulturensembles etc. Das Interesse der DDR an Chile lag in den sechziger Jahren auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Die DDR schickte im Jahr 1965 eine offizielle Delegation mit Vertretern des Ministeriums fiir Außenhandel und Innerdeutschen Handel und des Ministeriums fiir Auswärtige Angelegenheiten nach Chile. Konkrete Verträge wurden hier allerdings noch nicht abgeschlossen. Es handelte sich vor allem um wechselseitige Aufenthalte und Gespräche. Um diesen Gesprächen aber mehr Farbe zu verleihen, präsentierte der zuständige Sektorenleiter der 6. Außereuropäischen Abteilung des Ministeriums fUr Auswärtige Angelegenheiten in einer Information dann ein "solides System von Kontakten mit Wirtschaftskreisen", Mitgliedern des Parlaments und der Regierungspartei - 1965 die Christdemokratische Partei mit Eduardo Frei als Präsidenten - sowie "Persönlichkeiten, die dem Präsidenten nahestehen." 4 Auf diese Weise hoffte die DDR, ihre Vorstellungen über die Entwicklwtg der Wirtschaft und des Handels in Chile an den Mann zu bringen. Dem Sektorenleiter 3 DY 30 IV A 2/20/726, unpaginiert. Konzeption zur Entwicklung der auslandspolitischen und wirtschaftlichen Beziehungen der DDR zu lateinamerikanischen Staaten bis zum Jahre 1970. 4 Ebenda. 6. AENSekt. 111, Information über den Stand der Verhandlungen mit Chile zur Aufnahme offizieller Handelsbeziehungen, Berlin 12.11 .1965. Unterschrieben mit Langer, Sektoren Ieiter.
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erschien es auch immer offensichtlicher, daß die chilenische Regierung von sich aus am Handel mit den sozialistischen Ländern interessiert sei. Diese Aussage stützte er auf eine Information, welche die offizielle Volkskammerdelegation im seihen Jahr von Volodia Teitelboim erhalten hatte. Volodia Teitelboim war nicht nur Mitglied des Politbüros der KP, sondern auch Senator und Mitglied des Außenpolitischen Ausschusses des Senats Chiles. Teitelboim hatte der Volkskammerdelegation mitgeteilt, daß Chile die Handelsbeziehungen auch mit der DDR erweitern wolle und daß die DDR in kurzer Zeit die Genehmigung zur Einrichtung einer Handelsvertretung erhalten würde. Auch ein Wirtschaftsberater des christdemokratischen Präsidenten Frei, Carlos Dominguez, hatte nach einem Besuch in der DDR festgestellt, daß die Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Chile und der DDR vielversprechend wären. Ein Gutachten über den Handel Chiles mit der DDR habe den Präsidenten Frei davon überzeugt, daß "der Errichtung einer DDR-Vertretung im Prinzip nichts entgegen stehe und daß der Außenminister [... ] eine entsprechende Regelung treffen werde." Die DDR solle fiir die Personen, die fiir die Arbeit in der Handelsvertretung vorgesehen seien, vorsorglich schon die entsprechenden Visa beantragen. Bis Dezember sollte dann eine konkrete Antwort von den "zuständigen Stellen" vorliegen. 5 Solche und ähnliche Aussagen untermauerten aus Sicht der DDR, auf dem richtigen Weg zu sein. Für das Ministerium ftlr Auswartige Angelegenheiten der DDR stellte sich die Situation schließlich so dar, daß ,,reale Möglichkeiten [bestehen], eine Handelsvertretung mit offiziellem Status [...] bewilligt zu bekommen." 6 Trotzdem ließ diese 'offizielle Handelsvertretung' noch em1ge Zeit auf sich warten. Schrittweise mußte sich die DDR in Chile "entsprechend den inneren Möglichkeiten ~d dem Stand der Entwicklung der ökonomischen Beziehungen" 7 vorarbeiten. Die erhoffte 'offizielle Handelsvertretung' war - wie aus einer vertraulichen Dienstsache der 6. Außereuropäischen Abteilung bei der Abteilung Internationale Verbindungen des ZK der SED hervorgeht- offenbar fiir das Jahr 1966 zu brisant: Führende Mitglieder der Kommunistischen Partei, befreundete Abgeordnete und leitende Funktionäre der Christdemokratischen Partei hatten die Lage in Chile dafiir als ungünstig beurteilt. Hany Spindler, ehemaliger Mitarbeiter der Abteilung Internationale Verbindungen des ZK der SED filhrte die Verhandlungen in Santiago, obwohl er eigentlich in der Handelsvertretung der DDR in Montevideo akkreditiert war. Er war auf DDR-Seite die entscheidende Person, welche die spätere Anerkennung möglich machte. Im April 1966 konnte er trotz der ungüns5
Ebenda.
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Ebenda. 7Ebenda.
6. AEA, Genossen Minister Stibi, Vertrauliche Dienstsache, 6.4.1966.
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tigen Situation wenigstens erreichen, als Vertreter des Außenhandels der DDR in Santiago de Chile ein Büro einzurichten. Der Auftrag, dieses Büro in Santiago zu eröffuen, erging also in diesem Fall vom Ministerium fiir Außenhandel. Vom Westen wurden die Aktivitäten der DDR in Chile immer genau beobachtet und vom RIAS im August 1966 bösartig kommentiert: Alle Aktivitäten der ,,Zone" - der schon fast inflationäre Delegationsaustausch- hätten die DDR ihrem "Hauptziel, in Chile eine ständige Handelsvertretung ihrer Außenhandelskammer einrichten zu können, noch keinen Schritt nähergebracht." 8 Doch schon ein Jahr später war auch dieser Schritt getan: das Büro des Außenhandels der DDR konnte in eine Handelsvertretung umgewandelt werden. Mit dem Sieg der Unidad Popular bei den Präsidentschaftswahlen am 4. September 1970 rückte die Möglichkeit offizieller diplomatischer Beziehungen zu einem Staat in Südamerika in greifbare Nähe. Allende hatte immer wieder betont, daß einer der ersten außenpolitischen Akte der Regierung der Unidad Popular die Aufnahme von Beziehungen zu Kuba, Nordkorea und der DDR sein werde. So konnte Harry Spindler, inzwischen Leiter der Handelsvertretung der DDR in Chile, in einem Briefvom 7. Oktober 1970 an die Abteilung Internationale Verbindungen beim ZK der SED folgendes mitteilen: In Gesprächen mit Vertretern der einzelnen Parteien der Unidad Popular hatten diese Vertreter es übereinstimmend als moralische Verpflichtung bezeichnet, diplomatische Beziehungen zur DDR aufzunehmen. Darüber hinaus gebe es einen Beschluß, den das nationale Kommando der Unidad Popular auf Vorschlag von Salvador Allende zur diplomatischen Anerkennung der DDR gefaßt habe. Dieser Beschluß sei zugunsten der DDR ausgefallen.9 Auch Walter Ulbricht nutzte den Glückwunsch zum Amtsantritt Allendes, auf eine baldige Anerkennung zu drängen. 10 Chile hatte es da nicht ganz so eilig. In einem Privatbrief an den damaligen stellvertretenden Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen, Friede! Trappen11, vom 18. November 1970 munkelte Harry Spindler sogar von der Bestechung von Mitgliedern der Sozialistischen Partei Allendes durch die Bundesrepublik. Von sich selber sagte er, daß er "alle Register" ziehe. Dazu zählte er z.B. auch eine Urlaubsreise des Privatsekretärs von Allende, Osvaldo Puccio, in die DDR. Er 8 DA 5/8023, unpaginiert. Inhalt ist nicht zur Veröffentlichung bestimmt, Rias (9.8.) polemisiert gegen Ausstrahlung der DDR in Kolumbien und Chile, 10.8..1966.
9 DY 30 IV A 2/20/724, unpaginiert. Information über die Aufuahme diplomatischer Beziehungen seitens der Volksregierung zur Deutschen Demokratischen Republik, Santiago 7. Oktober 1970. 10
DA 5/12279, BriefWaller Ulbricht an Dr. Salvador Allende Gossens, 30. Oktober 1970.
11 Friede! Trappen löste Harry Spindler im August 1973 als Botschafter der DDR in Chile ab. Er verbrannte alle Akten im Garten der Botschaft in EI Golf 34. In den achtziger Jahren war er prominenter Geldüberbringer der DKP. Interview Friede! Trappen, 15.01.2001.
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wollte die Anerkennung der DDR ,,noch in diesem Jahr unter Dach und Fach" bringen. Dabei sah er zwar Schwierigkeiten, aber "wir werden es schon schaffen". 12 Zwei Monate nach seiner Wahl zwn Präsidenten empfing Salvador Allende eine hochrangige Delegation aus der DDR. Er entschuldigte sich bei dieser Delegation filr seine Amstantrittsrede, in der er nur sehr allgemein über die Beziehungen zu allen Ländern gesprochen hatte. 13Hier wird das Dilemma der Anerkennung der DDR offensichtlich. Allende gab als Grund filr diese allgemeinen Formulierungen an, daß er auf die USA, die Bundesrepublik und andere kapitalistische Staaten habe Rücksicht nehmen müssen. Chile sei wirtschaftlich zu abhängig von ihnen, als daß es sich leisten könne, sofort Beziehungen zur DDR aufzunehmen. Auf wirtschaftlichem, technischem und kommerziellem Gebiet könne man aber sofort kooperieren. Allerdings werde die DDR die BRD nicht ersetzen können. Die DDR-Delegation drängte Allende jedoch, ein Datum filr die Aufuahme diplomatischer Beziehungen festzusetzen, worauf Allende sich nicht einlassen wollte. Er wollte zunächst diplomatische Beziehungen zu Kuba aufuehmen, um die Reaktionen zu testen. Aus den Informationen des Ministeriums filr Auswärtige Angelegenheiten der DDR geht schließlich hervor, daß es Chile vor allem darum ging, zuerst den neuen Botschafter der Unidad Popular, Federico Klein, in Bonn zu akkreditieren, bevor an Beziehungen mit der DDR zu denken war. 14 Hier spielten allerdings auch - filr die DDR nicht sichtbar - die Gespräche zwischen Willy Brandt und dem chilenischen Sonderbotschafter, Santa Cruz, im Dezember 1970 eine Rolle. Willy Brandt machte dem Sonderbotschafter die Lage der innerdeutschen Politik deutlich. Er wollte die chilenische Regierung zwar nicht daran hindern, ihre Wahlversprechen einzulösen, aber er machte ebenso klar, "daß die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik eine plötzliche und isolierte chilenische Entscheidung nicht werde verstehen können. Viele Menschen würden sie vielmehr filr einen unfreundlichen Akt halten." 1s 12
DY 30 IV A 2120/724, unpaginiert. Abschrift, Santiago 18. November 1970, Lieber Friede!!
13 ''Nosotros s6lo queremos tener las mejores relaciones politicas, culturales, econ6micas con todos los paises del mundo." (Wir wollen nur die besten politischen, kulturellen, wirtschaftlichen Beziehungen zu allen Landern der Welt unterhalten). Salvador Allende: Obras escogidas (1970-1973), ed. Critica, Barcelona 1989. 14 DA 5/12782, unpaginiert. Ministerium filr Auswartige Angelegenheiten, Information 7411, 18. Januar 1971, Zu den Beziehungen DDR-Chile, "Es sei vorgesehen, die Beziehungen im Marz aufzunehmen, da man aus gewissen Gründen zunächst einen eigenen Botschafter in Westdeutschland haben mUsse."
15 1970 Alemania Mision Residente, Notas. Vermerk Ober ein Gespräch zwischen dem Herrn Bundeskanzler und dem chilenischen Sonderbotschafter, Herrn Santa Cruz, am II. Dezember 1970.
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Derweil versuchte Hany Spindler in Santiago de Chile, immer wieder Druck vor allem auf die Mitglieder der Kommunistischen Partei der Unidad Popular auszuüben. Sie sollten Allende an seine vollmundigen Versprechungen vor seinem Amtsantritt erinnern. 16 Zu Kuba nahm Chile noch 1970 Beziehungen auf. Die DDR mußte tatsächlich erst abwarten, bis der neue Botschafter in Bonn akkreditiert war. Am 6. April 1971 17 war es dann so weit: Die DDR konnte die "westdeutsche Alleinvertretungsanmaßung" - wie es die Propaganda immer nannte - zum ersten Mal auf dem südamerikanischen Kontinent durchbrechen. Chile war der 28. Staat, der die DDR völkerrechtlich anerkannte. Die DDR konnte darauf hoffen, daß andere lateinamerikanische Länder dem Beispiel Chiles folgen würden. Interessant ist in diesem Zusammenhang noch, daß der Außenminister Chiles, Clodomiro Almeyda, seine Reise durch die sozialistischen Länder erst nach der Anerkennung der DDR antrat. Im Mai 1971 begann er in Moskau und beendete die Besuche in Berm. l . 18 2. Die entscheidende Figur
Die wichtigste Persönlichkeit in diesem Verwirrspiel ist und bleibt Salvador Allende. Seinem persönlichen Bemühen ist die Anerkennung geschuldet. Da sich fiir die DDR alles um Allende - Luis Corvalan war zwar Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles, aber Allende war Präsident der Republik - drehte, soll an dieser Stelle etwas näher auf seine Person eingegangen werden. Der Wahlkampfvon 1970 war nicht sein erster Wahlkampf um die Präsidentschaft. Bei den drei vorangehenden Wahlkämpfen 1952, 1958 und 1964 war er jeweils Kandidat der Sozialistischen Partei gewesen. Allende hatte sich schon in den sechziger Jahren um Kontakte in die DDR bemüht. 1966 war er zum ersten Mal zu einem Kunbesuch in der DDR, nachdem er auch andere sozialistische Länder wie die CSSR und Polen bereist hatte. Allende bezeichnete es bei Gesprächen mit Vertretern der Abteilung Internationale 16 Vor allem der Generalsekretar der Kommunistischen Partei Chiles, Luis Corvalän, ftlhrte diesbezüglich immer wieder Gespräche mit Salvador Allende. Vgl. DA 5/12782, unpaginiert. Ministerium filr Auswartige Angelegenheiten, Information 2211, 6. Januar 1971.
17 Ingrid Muth: Die DDR-Außenpolitik 1949-1972. Inhalte, Strukturen, Mechanismen, Berlin 2000, S. 285 gibt März 1971 an. Im März wurden zwar die Verhandlungen im Rahmen einer chilenischen Delegation zur Leipziger Frühjahrsmesse gefilhrt und am 16. März wurde die Vereinbarung Ober die Herstellung diplomatischer Beziehungen unterschrieben, aber veröffentlicht wurden sie erst am 6. April. Am 4. April fand noch eine Wahl zur Stadtverordnetenversammlung in Santiago statt, die man von Seiten der UP-Regierung nicht gefllhrden wollte. Vgl. DA 5/12279, unpaginiert. Brief Otto Winzer an Walter Ulbricht, 30.3.1971.
18 DY 30 IV A 2120/729, unpaginiert. Besuch des chilenischen Außenministers in sozialistischen Ländern (Quelle: AV Santiago), 3. Mai 1971.
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Verbindungen beim ZK der SED als schweren Fehler, nicht schon vor seiner letzten Präsidentschaftskandidatur die DDR besucht zu haben. Seiner Meinung nach hatten die westdeutschen Christdemokraten seinem Gegner im Wahlkampf, Eduardo Frei, zwn Wahlsieg verholfen. Von den anderen sozialistischen Ländern fiihlte sich Allende vernachlässigt und das, obwohl er seiner eigenen Meinung nach "doch die gleiche Rolle wie Castro" spiele. Über den Besuch in der DDR zeigte er sich hingegen sehr zufrieden, er habe seine Erwartungen bei weitem übertroffen. 19 Für die DDR brachte der Besuch nach eigener Anschauung vor allem Verbesserungen der staatlichen Beziehungen und der Information über die DDR in Chile. Ein weiterer Besuch 1967 kam nicht zustande, weil die bürokratischen Mühlen der DDR zu langsam mahlten. Ein Mitarbeiter der Botschaft der DDR in der Sowjetunion, Rossmeisl, gab in einem Telegramm an Paul Markowski zu verstehen, daß Allende aus Moskau nach Prag abgereist sei und "sehr ungehalten" war, nicht in die DDR reisen zu können. 20 In Berlin ging man in der Abteilung Internationale Verbindungen später sowieso davon aus, daß Salvador Allendes Verhalten stark von seinem persönlichen Ehrgeiz geprägt sei. 21 Allende hatte aber weiterhin ein ungebrochenes Interesse an der DDR. Dieses Interesse war stark durch persönliche Erfahrungen und Kontakte geprägt. Beson-ders das gute Verhältnis zu Harry Spindler spielte hier eine Rolle. 22 Seit 1967 war Harry Spindler Vertreter der Handelsmission der DDR in Chile und fiihrte in dieser Funktion einige Gespräche mit dem Präsidentschaftskandidaten Allende. So unterhielten sie sich z.B. 1969 zwei Stunden lang über die politische Zukunft Chiles. Allende erklärte die Bildung der Unidad Popular und bat um Unterstützung fiir den Wahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen im September 1970. Als Unterstützung durch die DDR stellte sich Allende z.B. die Lieferung von einem oder zwei Agitationszügen mit Lautsprechern, FilmvorfUhrgeräten und Handdruckereien fiir die Wahlkampagne vor. Von Seiten der SED wurde zugesagt, die Wünsche Allendes zu prüfen, aber sie legte eindeutig den Schwerpunkt auf politisch-ideolo-gische Untertützung. Der Kommunistischen Partei überwies sie jedoch
19 DY 30 IV A 21201724, unpaginiert. Inhaltliche Wiedergabe von Äußerungen unseres Gastes, Senator Dr. Salvador Allende, Generalsekretar der Volksaktion Chiles, 7. Juli 1966. Bei der Volksaktion (Frente de Aceion Popular, FRAP) handelte es sich um das der Unidad Popular vorausgehende Bondnis linker Parteien.
20 Ebenda. Blitz-Telegramm Genosse Rossmeisl, Moskau, an Genossen Markowski, Berlin, 16. November 1967. 21 Ebenda. Abteilung Internationales Verbindungen, Zur Politik der Sozialistischen Partei Chiles, 14. Oktober 1968. 22 Dies bestätigte Jorge lnsunza, der wahrend der Regierung der Unidad Popular stellvertretender Staatssekretar war und nach dem Putsch am 18. September 1973 ins Exil in die DDR ging. Interview mit Jorge lnsunza am 4. Mai 2001.
Die Anerkennung der DDR durch Chile
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kurzfristig für die heiße Phase des Wahlkampfes 15 000 US-Dollar23 und schickte gut ausgebildete Kader zurück. 24 Nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen, noch im November 1970, schickte Allende einen persönlichen Beauftragten, Juan Vadell, in die DDR. Vadell ersuchte bei der Abteilung Internationale Verbindungen um Berater für Allende. Allende wünschte sich drei bis vier Experten für Finanzen, Planung der Wirtschaft und Verarbeitung von Salpeter. Sie sollten noch vor der offiziellen Anerkennung ihre Beratertätigkeit aufuehmen. Das fiihrte dazu, daß sie offiziell von der Nationalen Front anstatt von der SED entsandt wurden. Empfiinger in Chile war dann auch die Unidad Popular, obwohl diese Berater fur Allende perönlich gedacht waren?5 Zwei Jahre später war dieses Versteckspiel nicht mehr nötig. Allende bat offiziell über die Kommunistische Partei Chiles um weitere Berater auf wirtschaftlichem Gebiet,26 die ihm von der SED selbstverständlich zugesprochen wurden. Überhaupt war die KP Chiles auf dem Gebiet der Wirtschaft in der Unidad Popular am regsten tätig, was sich auch auf die Wirtschaftspläne Allendes auswirkte. Die SED stellte auf Wunsch der Führung der KP Chiles von September 1972 bis März 1973 eine Beratergruppe zur Verfiigung. In einer Vorlage für das Sekretariat begründeten die Mitarbeiter der Abteilung Internationale Verbindungen die Entsendung der Beratergruppe damit, daß sie "für die Konsolidierung und Weiterentwicklung der Revolution in Chile von außerordentlichem Wert'27 sei. Eine spätere Information über besagte Beratergruppe bestätigte diese Begründung: "Präsident Allende stützt 23 DY 30 IV A 2/20/712, unpaginiert. Abteilung Internationale Verbindungen an Abteilung Finanzverwaltung und Parteibetriebe, 3. April 1970. Wieviel Dollar die DDR insgesamt fllr den Wahlkampf überwies, konnte nicht ermittelt werden. Jorge Montes, Mitglied der Politischen Kommission des ZK der KP Chiles, hatte um insgesamt I 00 000 Dollar gebeten. Im gleichen Atemzug bedankte er sich fiir die bereits erhaltenen 23 000 Dollar. DY 30 IV A 2/201712, unpaginiert. Abteilung Internationale Verbindungen, Vermerk Ober ein Gespräch von Genossen Gunmarm mit Genossen Montes am 14. Juli 1970. Eine handschriftliche Notiz eines Mitarbeiters der Abteilung Internationale Verbindungen macht noch einmal die Prioritäten an dieser Stelle deutlich: "Gen. Axen Gespräch am 22.7.1970 (Gen. März als Dolmetscher): wir helfen der Partei (nicht der Volkseinheit) nach unseren Kräften, die Summe wird noch mitgeteilt." Ebenda. Handschriftliche Notiz von Jörg Schwiegk, Mitarbeiter der Abteilung Internationale Verbindungen, 23. Juli 1970.
24 So z.B. Sergio Villegas, Korrespondent der Parteizeitung der KP Chiles "EI Siglo" (Das Jahrhundert). Interview Sergio Villegas, 26. April 200 I. 25 DY 30 IV A 2/20/724, unpaginiert. Abteilung Internationale Verbindungen, Zum Aufenthalt des persönlichen Beauftragten des chilenischen Präsidenten in der DDR, Genossen Juan Vadell, Berlin, 6. November 1970.
26 DY 30/2432, Blatt 23. Gespräch des Ersten Sekretars des ZK der SED, GenossenErich Honecker, mit dem Generalsekretar des ZK der KP Chiles, Genossen Luis Corvalan, am 24.11.1972 im Hause des ZK. 27 DY 30 IV B 2/20/255, unpaginiert. Abteilung Internationale Verbinsungen, Vorlage an das Sekretariat, Betr.: Entsendung einer Beratergruppe fllr das ZK der KP Chiles, 19. Juli 1972.
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sich in Grundfragen seiner Wirtschaftspolitik weitgehend auf den Rat der fUhrenden Genossen der KP Chiles. "28Von seinen eigenen Beratern schien Allende nicht viel zu halten. Es wären Theoretiker und stünden nicht auf der Grundlage des Marxismus!Leninismus.29 Auch der Botschafter der Sowjetunion in Chile, Alexander Basov, war der Meinung, daß Berater aus der DDR fiir Chile von großer Wichtigkeit seien. Basov machte Harry Spindler, der inzwischen längst zum Botschafter avanciert war, klar, daß Allende auf diesem Wege gut zu beeinflussen sei. Schließlich würden die Entwicklungen in Chile denen der DDR gleichen. So könne die DDR ihre wertvollen Erfahrungen an Allende weitergeben. 30 Die chilenische KP zeigte sich besonders an den Erfahrungen der Bündnispolitik der SED nach 1945 interessiert. Die Führung der KP Chiles wollte von der SED lernen, "eine Regierungspartei zu sein." 31 Sie stellten "sehr konkrete Fragen und wollten insbesondere wissen wie in der DDR die Probleme angepackt und gelöst wurden." 32
III. Schlußbemerkung Über kurz oder lang hätte die chilenische KP die Erfahrungen der DDR vielleicht anwenden können. Das Militärregime mit seiner blutigen Unterdrückung verhinderte dies. Ob Chile ein zweiter kommunistischer Staat vor den Toren der USA geworden wäre, bleibt zwar letztendlich unklar, aber die Anzeichen sprechen doch eine deutliche Sprache. Allende hatte sich bei der wirtschaftlichen Umgestaltung seines Landes auf Berater aus der DDR gestützt und die Kommunistische Partei interessierte sich fiir die Bündnispolitik der SED nach 1945. Für die SED natürlich ein interessantes Objekt. Daß sie Allende vor seinem Wahlsieg als karrieristisch bezeichnete, spielte dabei keine Rolle. Immerhin war er im Endeffekt deijenige, der die Anerkennung der DDR vorantrieb und Chile auf den "sicheren" Weg des Sozialismus filhrte.
28 Ebenda. Information Ober die Tatigkeit der Beratergruppe des ZK der SED beim ZK der KP Chiles, ohne Datum. 29 Ebenda. Blitztelegramm, Genosse Spindler an Genossen Axen, Markowski und Stibi, Santiaga 21 . November 1972. 30 Ebenda Blitztelegramm, Genosse Spindler an Genossen Axen, Markowski, Stibi und Kohrt, Santiago, 21. November 1972.
31 Ebenda Beratung mit der Politischen Kommission des ZK, 4. Dezember 1972. Der Abstand der Jahre hat diese Meinung geandert. Heute werden beide Lander als nicht vergleichbar betrachtet. Interview mit Jorge lnsunza 4. Mai 200 I. 32 Ebenda
Bemerkungen zur Arbeitsweise der Delegation, Santiago, 29. November 1972.
Die Beziehungen der DDR zu den nordischen Ländern in der Zeit der "Nichtanerkennung" Von Dörte Putensen
In seiner ersten Regierungserklärung am 12. Oktober 1949 sprach sich Ministerpräsident Otto Grotewohl für "die Herstellung normaler diplomatischer, wirtschaftlicher und sonstiger Beziehungen zwischen der Provisorischen Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und jeder Regierung aus, die bereit ist, mit der Deutschen Demokratischen Republik auf dem Boden der gegenseitigen Achtung und Gleichberechtigung ( .... ) Beziehungen aufzunehmen" 1• Diese Offerte seitens der DDR blieb im Westen nicht unbeantwortet. Am 21. Oktober 1949 erklärte Konrad Adenauer vor dem deutschen Bundestag, daß das nicht freigewählte SED-Regime rechtswidrig sei und deshalb nicht im Namen der Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone sprechen könne.2 Dieses Ansinnen der DDR-Regierung und die entsprechende Antwort von Bundeskanzler Adenauer sollte die weitere Außenpolitik beider deutscher Staaten und darüber hinaus die Haltung der sich in den folgenden Jahren herausbildenden Blöcke zur deutschen Frage entscheidend mitbestimmen. Die skandinavischen Länder reagierten sehr unterschiedlich. Der Erklärung aus London, daß die britische Regierung der DDR die Anerkennung verweigern werde, schlossen sich u.a. die Regierungen der skandinavischen NATO-Staaten an. In gewissem Grad folgte auch das bündnisfreie Schweden den skandinavischen NA TO-Staaten. Schweden schwenkte nach anfanglieh zögernden Positionen Ende der 40er Jahre prinzipiell letztlich doch auch auf den westlichen Standpunkt ein und akzeptierte den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, hielt sich allerdings im Sinne seiner "Bündnisfreiheit im Frieden zum Zwecke der Neutralität im Krieg" aus den nachfolgenden internationalen Diskussionen um die Lösung der deutschen Frage grundsätzlich heraus. Die fmnische Position unterschied sich gravierend sowohl von der Haltung der skandinavischen NATO-Staaten als auch von der Schwedens. Finnland hatte 1 Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. I. Berlin 1954, S. 39. 2
Vgl. H Hi/ge (Hrsg.) Deutschland 1945-1963, Hannover 1985, S. 66 f
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großes Interesse an der Errichtung einer Handelsvertretung in Deutschland, die nach finnischen Plänen im Jahre 1947 fiir ganz Deutschland zuständig sein sollte. Nachdem die Arbeit der Alliierten Kontrollkommission ins Stocken geraten war und erst recht nach der Berlin-Blockade, als sich die Konturen des Kalten Krieges sehr deutlich abzuzeichnen begannen, wurde dieser Plan mit Zustimmung der westlichen Besatzungsbehörden verworfen und Finnland errichtete sowohl in der östlichen als auch in den westlichen Besatzungszonen jeweils eine Handelsvertretung. Von diesem Zeitpunkt an war Finnland peinlich genau darauf bedacht, beide deutsche Staaten formal gleich zu behandeln. Diese Politik der Gleichbehandlung beider deutscher Staaten entsprang ursprünglich pragmatischen Zweckmäßigkeitserwägungen und als Reaktion auf die bestehenden Verhältnisse, ehe sie dann seit Mitte der 50er Jahre nach den zur Motivierung finnischen Verhaltens sehr brauchbaren Begriffen der finnischen Neutralitätspolitik definiert wurde. Erst wurden praktisch Fakten geschaffen und im Nachhinein die politischen Begründungen geliefert. Damit hatten sich in Skandinavien drei unterschiedliche Grundkonstellationen in der deutschen Frage herausgebildet. Die unterschiedlichen Ausgangspositionen und Zielsetzungen der Deutschlandpolitik der skandinavischen Länder ergaben •sich aus deren jeweiligen sicherheitspolitischen Orientierungen. Das stellte die DDR vor schwierige Aufgaben und verlangte eine Differenzierung ihrer Außenpolitik gegenOber den Staaten dieser Region. Schweden und Finnland standen bei den Bestrebungen der DDR-Führung nach internationaler staatlicher Anerkennung an vorderster Stelle. Mittel auf dem Wege zur Anerkennung waren aus Sicht der DDR-Führung der Aufbau eines Netzes von Beziehungen, vorrangig auf den Gebieten der Außenwirtschafts- und der auswärtigen Kulturpolitik, die ihrerseits wiederum zurückstrahlen sollten auf den Bereich der politischen Beziehungen. Über eine De-facto- sollte eine De-jure-Anerkennung erreicht werden. Großer Wert wurde auf eine breite Selbstdarstellung der DDR in den skandinavischen Ländern gelegt, deren Kern eine einseitige und problemlose Darstellung der "Vorzüge des Sozialismus" war. Dazu nutzte die DDR-Führung alle Kanäle, die ihr offen standen bzw. die von ihrerschließbar waren. Mitte der 1950er Jahre kam es zu einer Intensivierung der außenpolitischen Bemühungen der DDR gegenüber Skandinavien. Während die DDR-Führung in den Jahren bis 1954/55 ihr Hauptaugenmerk auf die Deutschlandpolitik legte, waren Mitte der fiinfziger Jahren die Weichen so klar gestellt, daß eine deutsche Wiedervereinigung vorläufig nicht in Sicht war und stattdessen beide deutsche Staaten in die zwischenzeitlich jeweils entstandenen Bündnissysteme in Ost und West integriert waren. Außerdem sah sich die DDR durch den Staatsvertrag mit der Sowjetunion in ihrer Souveränität gestärkt. Von nun an strebte sie noch zielgerichteter eine internationale Anerkennung an, da darin ein innenpolitischer Legitimitätsfaktor von erstrangiger Bedeutung lag, d.h. sie brauchte interna-
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tionale Anerkennung außerhalb des Ostblocks, um die innenpolitische Situation zu stabilisieren und sich als separater deutscher Staat zu legitimieren. Richtschnur dabei war stets die Bundesrepublik, der es aufgrund der besonderen Situation des Kalten Krieges sehr schnell gelungen war, wieder Aufnalune in die internationale Staatengemeinschaft zu fmden und die damit Legitimation bei ihren Bürgern erworben hatte. Von diesem Zeitpunkt an wurden daher die außenpolitischen Aktivitäten der DDR in Skandinavien spürbar intensiviert. Im Außenministerium, das die im Politbüro des ZK der SED gefaßten Beschlüsse umzusetzen hatte, wenngleich es in den fiinfziger Jahren noch einen gewissen Spielraum hatte, seit Mitte der 60er Jahre hingegen vollends zum "ausfiihrenden Organ" degradiert wurde, wurde diese Staatengruppe von nun an in einer Abteilung zusammengefaßt, was schon allein deshalb berechtigt schien, weil diese Staaten einige charakteristische Züge aufwiesen, die sie zweifellos verbanden: Gemeinsamkeiten in der Gesellschaftspolitik, im politischen System, der politischen Kultur, der Handelspolitik und zum Teil auch der Außenpolitik. Sie verfugten über ausgeprägte demokratische Traditionen, was allerdings eine spürbare Distanz zum diktatorischen DDRRegime implizierte. Gravierende Unterschiede bestanden jedoch seit Ende der 40er Jahre hinsichtlich der sicherheitspolitischen Orientierung dieser Staaten. Diese nordische Kombination von Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten stellte die DDR vor eine überaus schwierige Herausforderung. Obwohl alle nordischen Staaten nie einen Zweifel an ihrer Zugehörigkeit und Verbundenheit zum Westen hatten aufkommen lassen, war aus Sicht der DDRFührung Skandinavien insgesamt prädestiniert, in gewisser Hinsicht die Rolle einer Brücke zum Westen oder eines Vermittlers zwischen Ost und West zu spielen. Das hing damit zusammen, daß Skandinavien nicht einfach als eine "westliche Staatengruppe" angesehen wurde, sondern ein kompliziertes und sehr empfindliches Subsystem des Ost-West-Gleichgewichts war, fiir das der Begriff von der "nordischen Balance" oder vom "nordischen Gleichgewicht" geprägt wurde. Dieses "nordische Gleichgewicht" implizierte eine insgesamt ausgewogene Bilanz in der Präsenz der westlichen und östlichen Großmacht USA und Sowjetunion in der Region. Darin sah die DDR fiir sich gewisse Möglichkeiten, mußte aber gleichzeitig einkalkulieren, daß weder die nordischen Staaten noch die Großmächte an der Entstehung einer Schieflage dieses Gleichgewichts interessiert waren. Diese Konstellationen hatten zweifellos Rückwirkungen auf die Deutschlandpolitik der nordischen Länder, wirkten aber nicht unbedingt förderlich im Sinne der Zielstellungen der DDR-Außenpolitik, im Gegenteil - sie fiihrten mit dazu, daß sich der Ansatz der DDR-Führung, bei den skandinavischen Neutralen am ehesten eine staatliche Anerkennung erlangen zu können, als vereinfacht und zu optimistisch erwies.
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Dennoch - die außenpolitische Führung der DDR setzte alles daran, von Schweden und Finnland als erstes diplomatisch anerkannt zu werden und versprach sich davon eine Kettenreaktion im Norden und im Westen. Auch wenn diese außenpolitischen Vorstellungen nicht realisiert werden konnten, hatte die DDR auf jeden Fall in diesen Staaten wesentlich günstigere Wirkungsbedingungen als in den skandinavischen NATO-Staaten oder anderen westlichen Ländern. Das triffi in erster Linie fUr Finnland, in abgestuftem Maß aber auch ftlr Schweden zu. Auch wenn Schweden letztlich den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik unterstützte, gewährte es der DDR dennoch größeren Spielraum zur Gestaltung der Beziehungen (Freundschaftsgesellschaft, Kulturinstitut, Regelung von Visafragen u.a.) als die skandinavischen NATO-Staaten. Finnland, das außerhalb der Großmachtkonflikte bleiben wollte, versuchte einer Stellungnahme zur deutschen Frage, die ja jahrelang zu den zentralen Konfliktstoffen zwischen den Großmächten gehörte, weitgehend auszuweichen und betrieb daher als einziges westeuropäisches Land gegenüber beiden deutschen Staaten eine Politik der Gleichbehandlung und Nichtanerkennung, d.h. seit 1953 wurden die Beziehungen zwischen Finnland und den beiden deutschen Staaten auf der Ebene von Handelsvertretungen mit diplomatischen und konsularischen Rechten geregelt. Damit hatte sich bis 1953 schrittweise der Rahmen fUr die finnische Deutschlandpolitik herausgebildet, die von allen Beteiligten stets nur als ein Provisorium verstanden wurde, das aber immerhin fast zwei Jahrzehnte Bestand haben sollte. Das war zunächst weder absehbar noch unbedingt wünschenswert, garantierte aber auch auf Dauer durchaus praktikable Lösungen der anstehenden Aufgaben und galt letztlich wohl fUr jeden der drei betroffenen Staaten als das kleinere Übel. Beide deutsche Staaten vertraten in ihrer Finnlandpolitik hingegen konträre Ziele: Die DDR sah in Finnland - wenn überhaupt - das erste und einzige westliche Land, in dem eine Anerkennung möglich schien und betrieb daher eine überaus aktive Politik mit dem Ziel der völkerrechtlichen Anerkennung. Die Bundesrepublik war bereit, die Nichtanerkennung des eigenen Staates in Kauf zu nehmen, um die Anerkennung des anderen deutschen Staates zu verhindem und war daher bestrebt, Finnland zur unbedingten Beibehaltung seines deutschlandpolitischen Kurses zu bewegen. Diese Konstellationen hatten zur Folge, daß sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR versuchten, Finnland als Terrain fiir deutsch-deutsche politische Auseinandersetzungen zu nutzen und es fUr sich und ihre politischen Zwecke zu vereinnahmen. Insgesamt gesehen hatte die DDR in Finnland einen wenn auch eingeschränkten, letztlich aber doch so großen Spielraum wie in keinem anderen westlichen Land. Sie nutzte diesen Spielraum, um die eigenen Positionen in Finnland auf- und die der Bundesrepublik abzuwerten, um auf diese Weise Finnland schließlich zu einer Änderung seiner Deutschlandpolitik zu bewegen. Wenngleich es der DDR sicher durch eine sehr einseitige Darstellung der "Vorzüge des Systems" auch gelang, die DDR in den Augen vieler Finnen zu einem "Mekka des Sozialismus" zu machen, so gingen insgesamt die
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kostspieligen, z.T. vordergründig politischen Aktivitäten und die teilweise pluii_lpe Propaganda vielen Menschen in Finnland auf die Nerven und führten letztendlich doch nicht zum Ziel.
Im Unterschied zu Finnland entwickelten sich die Beziehungen zwischen der DDR und Schweden viellangsamer und blieben auf wenige Gebiete beschränkt. Die politischen Beziehungen gingen über erste Ansätze inoffiziellen Charakters nicht hinaus. Dennoch gab es eine Reihe von Fragen, an deren Lösung nicht nur die DDR, sondern auch Schweden interessiert war. Die Klärung bestimmter, beiderseitig interessierender Sachfragen wurde zum Ausgangspunkt für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen. Zu Beginn der 50er Jahre wurde zunächst an traditionelle Verbindungen zwischen Schweden und den östlichen Teilen des ehemaligen "Deutschen Reiches" angeknüpft. Zu den wichtigsten gemeinsamen Interessen gehörten die Aufrechterhaltung und schrittweise Erweiterung des Eisenbahntransitverkehrs durch die DDR. Dabei kam der Fährverbindung Saßnitz-Trelleborg zentrale Bedeutung zu. Diese mit ca. 107 km kürzeste Fährverbindung über die Ostsee erlangte bereits kurz nach ihrer Wiedereröffnung im August 1953 außerordentliche ökonomische und verkehrspolitische Bedeutung, so daß bereits 1955 die höchste, vor dem Zweiten Weltkrieg erbrachte Trajektierungsleistung überboten wurde. 1970 wurde die 2-Millionen-Tonnen-Grenze überschritten. Durch die Bedeutung, die die DDR für Schweden als Transitland hatte, gelang es, eine Reihe von Vereinbarungen zwischen der Deutschen Reichsbahn und den Schwedischen Staatsbahnen zu treffen, in denen die Modalitäten für die Personen-, Güter- und Postbeförderung geregelt wurden. Auf der Grundlage dieser Vereinbarungen errichtete die DDR 1956 eine "Generalvertretung der Deutschen Reichsbahn in Schweden", die 1960 in "Verkehrsvertretung der DDR in Schweden" umbenannt wurde. Darüber hinaus konnte 1956 ein "Informationsbüro für Reisen und Tourismus der DDR" in Stockholm eröffnet wurden. Reiseerleichterungen für DDR-Bürger implizierten diese Vereinbarungenjedoch in keiner Weise. Ein weiterer Bereich, auf den sich die DDR in Schweden angesichts der schwedischen Akzeptanz des Bonner Alleinvertretungsanspruchs konzentrierte, war die auswärtige Kulturpolitik. Fast ausschließliche Ansprechpartner für die DDR waren anfangs in Schweden Mitglieder der Kommunistischen Partei. Als Verbindungsleute wirkten mehrfach auch Emigranten, die nach dem Krieg aus dem schwedischen Exil in die Sowjetische Besatzungszone zurückgekehrt waren. Sie fielen jedoch zum größten Teil Ende der vierziger Jahre den "Säuberungen" in der SED zum Opfer und spielten in der Skandinavienpolitik der DDR seit Beginn der 50er Jahre keine bemerkenswerte Rolle mehr. 3 Die Kultur3 Vgl. M Scholz, Skandinavische Erfahrungen erwUnscht? Nachexil und Remigration. Die ehemaligen KPD-Emigranten in Skandinavien und ihr weiteres Schicksal in der SBZIDDR, Habilitationsschrift, Greifswald 1998, S. 260 ff.
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kontakte begannen 1949 mit kleinen Ausstellungen in Schweden, wurden Anfang der fiinfziger Jahre mit Gastspielen von DDR-Künstlern fortgesetzt, DDRVerlage entwickelten bemerkenswerte Aktivitäten bei der Herausgabe klassischer und moderner schwedischer Literatur. Mit der Gründung der Gesellschaft für Verbindungen mit der Deutschen Demokratischen Republik 1956, die später in "Vereinigung Schweden-DDR" umbenannt wurde und der DeutschNordischen Gesellschaft bei der Liga für Völkerfreundschaft 1961 eröffneten sich für die DDR neue Wirkungsmöglichkeiten in Schweden. Die erste DDR-Institution, die in Schweden eröffnet wurde, war das "Kulturzentrum der DDR", das in Stockholm 1967 als Einrichtung der Liga für Völkerfreundschaft entstand. Die offizielle Aufgabe dieses Kulturzentrums bestand ebenso wie die des Kulturzentrums in Helsinki, das bereits 1960 eröffnet worden war, darin, "breite Kreise der schwedischen (bzw. finnischen) Öffentlichkeit wahrheitsgetreu über die Entwicklung der DDR zu informieren." 4 Es gelang diesen Zentren relativ schnell, sich einen Freundeskreis zu schaffen, der meistens im linken politischen Spektrum angesiedelt war. Das Veranstaltungsangebot war sehr breit gefiichert - neben vielfiiltigen hochkarätigen Kultur-Veranstaltungen gab es allerdings auch eine Vielzahl von vordergründig politischen Veranstaltungen, bei denen in der Regel ein sehr idealisiertes Bild der DDR vermittelt wurde. Den Kulturzentren waren Deutschlektorate angeschlossen, die zu sehr günstigen Konditionen Sprachunterricht durchfilhrten, aber natürlich immer auch eine politische Funktion hatten. Neben diesen Verkehrs- und Kulturbeziehungen spielten offensichtlich die wirtschaftlichen Beziehungen mit Schweden für die DDR eine herausragende Rolle. Der Handel war sehr frühzeitig - bereits vor Gründung der DDR - in Gang gekommen, wenngleich er auch nie die Dimensionen erreichte, die der DDR vorschwebten. Dafür gab es zahlreiche Gründe Qualitätsfragen, Liefermöglichkeiten, Preise, Schwerfiilligkeiten und Unexaktheiten auf seiten der entsprechenden DDR-Behörden, den Betrieben fehlte der nötige Anreiz zum Export ins westliche Ausland, usw. Seit 1950 regelten Warenkompensations-Ankommen zwischen der Deutschen Innen- und Außenhandelskompensation (DIA) und der halbstaatlichen Aktiengesellschaft "Sukab" Stockholm den Warenaustausch zwischen beiden Staaten. Ab 1952 trat die "Kammer für Außenhandel der DDR" als Vertragspartner der "Sukab" auf. Der 1952 von der DDR unterbreitete Vorschlag, eine staatliche Vertretung der Außenhandelsorgane in Schweden zu errichten, wurde von schwedischer Seite strikt zurückgewiesen- einmal, weil "Sukab" um das einträgliche Monopol im DDRHandel fürchtete und zum anderen, weil die schwedische Regierung keinerlei offizielle staatliche Behörden im Umgang mit der für sie offiziell nicht existenten DDR installieren wollte. 1957 richtete die DDR eine "Vertretung der Kammer für Außenhandel in Schweden" ein, 1968 erfolgte ihre Umbenennung 4 H.-D. Ziesche, Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und dem Königreich Schweden in der Periode von 1972 bis 1984, Diplomarbeit (MS), Greifswald 1986, S. 43
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in "Handelsrepräsentation der DDR in Schweden". Nach anfänglichen Protesten wurde dieser Schritt von der schwedischen Seite letztlich akzpetiert. Bereits im November 1969 hatte das Ministerium fiir Auswärtige Angelegenheiten der DDR die Handelsrepräsentation leitungsmäßig übernommen. Gemeinsam mit dem Ministerium fiir Außenhandel der DDR wurden Maßnahmen eingeleitet, um diese Einrichtung zu einer funktionstüchtigen staatlichen Auslandsvertretung der DDR in Schweden zu entwickeln. Die Handelsrepräsentation wurde von schwedischer Seite zwar nicht als offizielle staatliche Vertretung anerkannt und ihr Status war auch in keiner Weise vertraglich fixiert, sie konnte aber von den schwedischen Behörden und Politikern auch nicht ohne weiteres ignoriert werden. Das bewog den Sprecher des außenpolitischen Ausschusses des Reichstages am 4. Dezember 1968 zu erklären, daß sich die DDR-Vertretung "als staatliches Organ mit vielleicht halbdiplomatischem Charakter" betrachtet. 5 Ein vertraglich vereinbarter Status der Handelsrepräsentation in Form einer offiziellen Anerkennung durch die schwedische Regierung war unter den damaligen Umständen nicht zu erreichen. Das galt ebenso fiir den Abschluß eines staatlichen Handelsabkommens oder eine offizielle Genehmigung fiir die Handelsrepräsentation zur Erledigung konsularischer Angelegenheiten. Daher bestand die Hauptorientierung der DDR im schrittweisen Ausbau der erreichten Positionen im Gastland. Dazu gehörte u.a. der Ausbau des Stabes außenpolitischer Mitarbeiter und deren Ausstattung mit Diplomatenpässen. Dem Leiter der Vertretung wurde der diplomatische Rang eines Gesandten verliehen, sein Stellvertreter wurde ebenfalls mit einem diplomatischen Rang ausgestattet. Erst die Neue Ostpolitik der SPD fiihrte auch in Schweden zu einem Umdenken im Verhältnis zur DDR und machte den Weg frei zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR. Am 21. Dezember 1972 wurden diplomatische Beziehungen zwischen beiden Staaten hergestellt. Während die DDR seit ihrer Gründung und besonders seit Mitte der fiinfziger Jahre alle ihre politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten gegenüber Schweden und Finnland darauf konzentrierte, von diesen beiden Staaten eine staatliche Anerkennung zu erreichen, herrschte in Ostberlin weitgehend Klarheit darüber, daß von den skandinavischen NATO-Staaten, wenngleich sie sich auch nur zu "Minimalbedingungen" dem westlichen Bündnis angeschlossen hatten, keine deutschlandpolitischen Alleingänge zu erwarten waren, sondern sie in der deutschen Frage der bundesdeutschen Außenpolitik folgen würden. Das hatten sie bereits unmittelbar nach Gründung der DDR, im Oktober 1949, sehr deutlich zum Ausdruck gebracht und diese Positionen wurden Mitte der 50er Jahre im Gefolge der Hallstein-Doktrin noch zementiert. s Utrikesfrägor, offentliga dokument m.m. rörande viktiga svenska utrikespolitiska frägor, 1968,
Stockholm 1969. S. 65
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Das Fehlen staatlicher Beziehungen brachte die DDR gegenüber den skandinavischen Staaten, vor allem gegenüber den NATO-Staaten, in eine ungünstige Ausgangsposition und erwies sich immer wieder als schweres Handicap, denn sie verfilgte damit über keine offiziellen Wirkungsmöglichkeiten und mußte auf inoffiziellen Wegen ein Kontaktnetz aufbauen, was anfangs nur auf Parteiebene machbar war. Wiederholt zeigte sich das Außenministerium in Ostberlin hochgradig unzufrieden, daß es nicht gelang, die Isolation der DDR in den skandinavischen Ländern, besonders in Dänemark und Norwegen, zu durchbrechen. Bis zur Einrichtung der DDR-Handelskammervertretungen in der zweiten Häflte der 1950er Jahre waren die Beziehungen auf Parteiebene zwischen der SED und der norwegischen bzw. dänischen Kommunistischen Partei die einzigen Kontakte der DDR in diesen Ländern, aber auch danach blieb der Wirkungsspielraum der DDR äußerst begrenzt. Das wurde der DDR deutlich vor Augen gefilhrt, als der Leiter der DDR-Handelskammer in Oslo, Dieter Stropp, im Januar 1961 seine Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert bekam, was praktisch einer Ausweisung gleichkam. Sie kam auf Veranlassung des norwegischen Geheimdienstes zustande, der die vielseitigen Aktivitäten Stropps, ein Kontaktnetz in Norwegen auf- bzw. auszubauen, argwöhnisch beobachtet hatte. 6 Für die skandinavischen NATOLänder - abgeschwächt auch filr Schweden und in gewisser Weise selbst filr Finnland - war die Haltung der Bundesrepublik zur DDR die entscheidende Grundlage ihrer Politik gegenüber Ostdeutschland. Diese Länder befanden sich während der gesamten l950er und 1960er Jahre in folgendem Spannungsfeld: Aus prinzipiellen politischen Gründen kam eine Anerkennung der DDR - eine de jure oder eine de facto - filr sie nicht in Frage. Andererseits mußten auch sie eine Reihe praktischer Aufgaben lösen. Sie mußten auf solch eine Weise angepackt werden, daß der DDR nicht die Möglichkeit gegeben wurde, daraus irgendeine Art von staatlicher Anerkennung abzuleiten. Von ostdeutscher Seite wurde immer wieder versucht, bewußt auf solche Situationen hinzuarbeiten. Diese Konstellationen filhrten bei vielen praktischen Fragen immer wieder zu Schwierigkeiten und Komplikationen und die skandinavischen NATO-Länder bewegten sich sehr oft in Grenzräumen, in denen zumindest eine stillschweigende Anerkennung nahelag oder abgeleitet werden konnte. (z.B. bei Verkehrs- oder Wirtschaftsverhandlungen mit staatlichen DDR-Behörden, selbst bei der Teilnahme von Politikern und Gewerkschaftsfunktionären an den Ostseewochen in Rostock). Sie bemühten sich, sich in der Weise aus der Affäre zu ziehen, daß versucht wurde, alle Initiativen und
6
Siehe: S. Holtsmark, Avaktens diplomati. DDR i Norge 1949-1973, Oslo 1999,125 fT
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Kontakte als "private" zu deklarieren und damit Rechtfertigungssituationen zu umgehen bzw. jeglichem Rechtfertigungszwang von vornherein auszuweichen. 7 Trotz ihrer prinzipiellen Positionen der Nichtanerkennung des ostdeutschen Staates ergaben sich allem Anschein nach auch fii.r die skandinavischen NATOStaaten aus ihrer eigenen Interessenlage heraus sowie aufgrund der geographischen Lage immer wieder Zwänge, zu gemeinsamen Lösungen anstehender Fragen zu kommen. So war Dänemark - ebenso wie Schweden - anders als alle anderen westlichen Staaten direkt und praktisch durch die Eisenbahn- und Fl.ilirverbindung Gedser-Warnemünde mit der DDR verbunden und mußte pragmatisch Vereinbarungen treffen, ohne daß die DDR daraus eine de facto Anerkennung hätte ableiten können. Als ebenso schwierig erwies sich die Gestaltung der Handelsbeziehungen. Der bilaterale Außenhandel mußte institutionalisiert werden, weil der DDR-Außenhandel über das zentrale Außenhandelsministerium in Berlin abgewickelt wurde. Daher wurden zwischen 1954 und 1957 sog. Kammervertretungen der DDR in Kopenhagen und Oslo eröffnet. Abkommenspartner der Kammer fii.r Außenhandel der DDR waren in Norwegen die Norsk Kompensasjonsselskap AIS und in Dänemark die vier Handelsorganisationen Grosserer Societetes-Komite, Industrirädet, Landbrugs-rädet und Provinshandelskammeret. Nur über diese Organisationen konnten die norwegischen und dänischen Firmen Kontakte mit der DDR aufnehmen. Alle genannten Unternehmen waren zwar staatlich sanktioniert, aber die Handelsvereinbarungen mit ihnen erfiillten bei weitem nicht die WUnsche der DDR nach langfristigen, staatlich garantierten Abkommen auf Regierungsebene. Offensichtlich fuhlte sich die DDR auch durch die Lizenzpolitik der nordischen Regierungen stark diskriminiert. Am schwierigsten waren die Wirkungsbedingungen ftir die DDR in Norwegen. Seit Anfang der 50er Jahre gab es zwar ein DDR-Komitee im Rahmen der Gesellschaft Norwegen- Volksdemokratien; in ihm wirkten aber fast ausschließlich norwegische Kommunisten. Die zuverlässigsten Akteure waren Georg Rosef und Sigurd Mortensen. Seit 1958 wurden die jährlichen Ostseewochen der wichtigste Kanal zur Aufrechterhaltung und Ausweitung der Kontakte. Als weitere Kontaktinstitution kam Anfang der 60er Jahre die Sozialistische Volkspartei (SF), eine Abspaltung der Norwegischen Kommunistischen Partei (NKP) hinzu. Viele Einladungen, Besuchsreisen usw. kamen allerdings sporadisch zustande - einmal geknüpfte Verbindungen wurden nur sehr inkonsequent und unkontinuierlich weiterverfolgt und blieben damit oftmals unwirksam. Im Verlaufe der 60er Jahre setzte Norwegen seine überaus restriktive Politik gegenüber der DDR nahezu unverändert fort. Wenngleich NKP- und SF-Vertreter in den Medien und auch im Parlament wiederholt flir eine Anerkennung der DDR eintraten, so blieben derartige Versuche vereinzelte Vorstöße ohne RUckhalt bei 7 Siehe u.a. K. Ch. Lammers, Danmark og Tysklandsspersmälet. Hovedlinjer i dansk Tysklandspolitik fra 1945 til ca. 1973, in: Fra mellemkrigstid til efterkrigstid, Festskrift til Hans Kirchhoffog Henrik S. Nissen pä 65-ärsdagen oktober 1998, S. 754 f.
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breiteren gesellschaftlichen Kräften, zumal beide Parteien in der norwegischen Gesellschaft relativ einflußlos waren. Bis Ende der 60er Jahre herrschte in Norwegen - wie auch in den anderen skandinavischen Ländern - ein weitgehender gesellschaftlicher Konsens in der Anerkennungsfrage, was das Agieren der DDR zusätzlich erschwerte. Erst die deutsch-deutschen Verhandlungen veränderten die Situation. In der außenpolitischen Strategie gegenüber Norwegen spielte - wie auch gegenüber den anderen skandinavischen Ländern - die Vertretung der Außenhandelskammer der DDR eine zentrale Rolle. Zwar bestand deren offizielle Aufgabe in der Regelung der Handelsbeziehungen, dennoch war schon allein die personelle Zusammensetzung der "Handelsvertreter" symptomatisch fiir die politischen Ziele der DDR, wurden doch zunehmend auch Vertreter des Ministeriums fiir Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) in den Vertretungen eingesetzt. Alle Mitarbeiter wurden durch systematische Schulungen immer wieder auf den Zusammenhang zwischen handelspolitischen Aufgaben und außenpolitischen Zielsetzungen hingewiesen. Auch wenn fiir das Agieren der DDRVertreter Vorsicht geboten war und sie politisch nicht allzu aktiv werden konnten, so war die Installierung der Kammervertretung 1957 doch die Grundlage fUr eine etwas erfolgreichere Periode in der ostdeutschen Kontaktarbeit in Norwegen. Ähnlich waren die Positionen der DDR in Dänemark. Dadurch, daß die DDR alle ihr zur VerfUgung stehenden Mittel nutzte und trotz ihrer permanenten Devisenknappheit kaum finanzielle Mittel scheute, gelang es ihr im Verlauf der 60er Jahre in Skandinavien - bei allen Differenzierungen von Land zu Land insgesamt ein breiteres. Netz von Kontakten zu knüpfen, Anerkennungsbewegungen in dies~n Ländern zu installieren und filr die Existenz von zwei deutschen Staaten in der politischen Öffentlichkeit dieser Länder größere Aufmerksamkeit zu finden. Ihr außenpolitisches Ziel, die diplomatische Anerkennung konnte sie dadurch jedoch nur sehr bedingt erreichen, denn die völkerrechtliche Anerkennung der DDR war kaum das Ergebnis der vielseitigen, zum Teil aufwendigen und teuren Bemühungen und Aktivitäten der DDRAußenpolitik und auch nicht Resultat der Aktivitäten der von ihr initiierten bzw. massiv unterstützten nationalen Anerkennungsbewegungen in den skandinavischen Staaten, sondern in erster Linie Ergebnis der Veränderungen im politischen Klima Europas, vor allem eine Folge der "neuen Ostpolitik" der SPD in der Bundesrepublik und des einsetzenden Entspannungsprozesses. Als besonders kompliziert und langwierig erwies sich der Anerkennungsprozeß in Finnland, das mit seinem Deutschlandpaket vom September 1971 den Preis fUr die Anerkennung beider deutscher Staaten besonders hoch treiben wollte, indem es im Zusammenhang mit der Anerkennung weitere wichtige Forderungen an beide deutsche Staaten stellte, wie eine Gewaltverzichtserklärung, die Anerkennung der finnischen Neutralität sowie Reparationsfragen. Dieser Schritt
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erwies sich im Nachhinein als sehr riskant, denn bereits die ersten Reaktionen deuteten die Schwierigkeiten an, mit denen Finnland in den folgenden Monaten zu kämpfen hatte. Die Reaktionen auf dieses Deutschlandpaket waren in Ost und West sehr unterschiedlich. Die Bundesrepublik stand diesem Paket eigentlich zum damaligen Zeitpunkt ablehnend gegenüber, wollte aber keine Verschlechterung der Beziehungen zu Finnland riskieren und sah daher den einzigen Ausweg darin, auf Zeit zu spielen. Die DDR sah sich fast am Ziel ihrer Wünsche und wollte die sofortige Aufnahme von Verhandlungen, alle anderen Forderungen des Deutschlandpakets waren aber fiir sie äußerst problematisch. Es begann ein langwieriger, komplizierter Verhandlungspoker, bei dem letztlich alle drei Beteiligten ihre Ziele - wenn auch mit Abstrichen - durchsetzen konnten: Die Bundesrepublik zögerte .die Verhandlungen und die Anerkennung so lange es irgendwie ging hinaus und lenkte eigentlich erst ein, als die Ergebnisse der deutsch-deutschen Verhandlungen in Sicht waren und nachdem auch andere westliche Staaten eine diplomatische Anerkennung der DDR in Aussicht gestellt hatten. Die DDR konnte letztlich die von ihr so lange und so hartnäckig angestrebte Anerkennung erreichen, wenngleich zu einem viel späteren Zeitpunkt als erhofft, so daß dieser Schritt auch nicht mehr die Rolle einer Initialzündung spielen konnte. Und Finnland hatte in den Verhandlungen mit der DDR drei Viertel seines Deutschlandpakets, mit der Bundesrepublik vorerst nur ein Viertel realisieren können, aber beide deutsche Staaten hatten sich zu weiteren Verhandlungen nach der Anerkennung bereit erklärt. Die DDR hatte sich in diesem Prozeß sogar bereit gezeigt, Kontroversen mit der Sowjetunion zu riskieren, um möglichst schnell die diplomatische Anerkennung durch Finnland zu erreichen, hatte sich letztlich jedoch sowjetischen Wünschen unterordnen müssen. Diese Auseinandersetzungen offenbarten jedoch deutlich, daß es in der Frage der diplomatischen Anerkennung der DDR keine abgestimmte Linie unter den Ostblockstaaten gab und auch den fUhrenden sowjetischen Politikern, die seit Mitte der 60er Jahre zwar wiederholt gegenüber der finnischen Staatsfilh.rlffig fiir eine DDR-Anerkennung plädiert hatten, letztlich die staatliche Anerkennung des kleineren Verbündeten nicht so wichtig war, daß sie unter Umständen Unstimmigkeiten mit den finnischen Politikern riskiert hätten und schon gar nicht zu einer Zeit, in der die Sowjetunion Finnland wegen der Fortsetzung des KSZE-Prozesses dringend brauchte. Auch wenn die DDR ihre völkerrechtliche Anerkennung weniger aus eigener Kraft, denn aufgrund günstiger europäischer politischer Entwicklungen und Klimaveränderungen erreicht hatte, wirkte sich die staatliche Anerkennung der DDR insgesamt jedoch sehr förderlich auf die weitere Gestaltung der Beziehungen zwischen der DDR und den skandinavischen Ländern aus. Danach gelang der DDR auf jeden Fall eine Intensivierung der Kontakte auf verschiedenen Gebieten, dennoch blieb die unterschiedliche Bedeutung dieser Staaten fiir die DDR-Außenpolitik erhalten, was sich deutlich am Umfang der Beziehungen in den einzelnen Bereichen nachweisen läßt. 8 Timmermann
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Oft standen allerdings auch formale Aktivitäten im Vordergrund, was teilweise zu deutlich erkennbaren Varianten der damals in der DDR eigentlich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens üblichen "Tonnenideologie" filhrte. D.h. Quantität wurde oft vor Qualität gesetzt, fi1r den außenpolitischen Bereich bedeutete das Bemühungen um vielfältige Aktivitäten, ohne immer nach deren Nutzen und Ergebnissen zu fragen. Dazu gehörte z. B. im einzelnen: -
das Streben nach möglichst vielen und hochrangigen Besuchen, die breite Wiedergabe von Kommuniques und Erklärungen beim Austausch von Delegationen, die Planung von Ministerbesuchen nebst Gegenbesuchen unabhängig von deren konkretem politischen oder ökonomischen Nutzen, der Wunsch nach möglichst hochrangiger Behandlung von DDR-Delegationen und ihren Leitern, um die Bedeutung der Reise in den DDR-Medien entsprechend hervorheben zu können, das Streben, möglichst viele Verträge abzuschließen.
Vergleicht man die von der DDR-Diplomatie ausgehandelten und geschlossenen Vereinbarungen und Abkommen mit den einzelnen skandinavischen Ländern nach der Herstellung diplomatischer Beziehungen mit der Entwicklung in der Zeit davor, so fällt auf, daß in diesem Bereich - sowohl quantitativ als auch qualitativ - eine deutliche Entwicklung zu verzeichnen ist. Nicht nur die Zahl der vertraglichen Regelungen nahm zu, sondern die Vertragsinhalte wurden auch spezifischer. Wenngleich derartige Verträge noch wenig über die bilateralen Beziehungen aussagen, so sind sie doch ein gewisses Indiz fiir die Intensität von zwischenstaatlichen Kontakten. Danach rückte Schweden neben Finnland noch mehr in den Mittelpunkt des außenpolitischen Interesses der DDR-Führung, was vor allem auf Schwedens Position im internationalen System, vor allem auf seine sicherheits- und entspannungspolitische Haltung sowie auf seine wirtschaftliche Potenz zurückzufUhren ist. Als gemeinsame Interessensphären zwischen der DDR und Schweden hob Ostberlin vor allem die Bedeutung der DDR als Transitland, Fragen des Umweltschutzes im Bereich der Ostsee und Fischereiprobleme hervor. Die herausragende Bedeutung Schwedens filr die DDR-Außenpolitik spiegelte sich nicht zuletzt in der Vielzahl von Staatsbesuchen wider. Die Beziehungen zu den skandinavischen NATO-Staaten hoben sich von der Intensität der Kontakte zwischen der DDR und Schweden deutlich ab, waren allerdings auch auf dem Weg zur "Nonnalisierung", was im Abschluß verschiedener Verträge und gelegentlicher Besuche auf Außenministerebene seinen Niederschlag fand. Finnland hielt auch nach der diplomatischen Anerkennung beider deutscher Staaten am Grundsatz der Neutralität und der Devise der Gleichbehandlung fest. Für die DDR blieb Finnland nach wie vor außenpolitisch ein Schwerpunktland und sie strebte dementsprechend nach einem Ausbau der politischen, aber
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daneben auch der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Politisch war Finnland fiir die DDR im weiteren Verlauf der siebziger Jahre vor allem als Gastgeber der KSZE wichtig, um anhand der guten bilateralen Beziehungen auf die Einhaltung der Helsinkier Schlußakte verweisen zu können und auf diese Weise Kritiken an der DDR-Außenpolitik ad absurdum zu :filhren. Da auch finnischerseits die Friedenspolitik der DDR immer eine angemessene Würdigung fand, wurden die relativ problemfreien Beziehungen mit Finnland verständlicherweise immer wieder als Idealfall und Musterbeispiel friedlicher Koexistenz gepriesen, vor allem im Zusammenhang mit den stärker werdenden Menschenrechtsdiskussionen in den achtziger Jahren. Über mehrere Jahre .belasteten die bilateralen Verhandlungen in Sachen Wiedergutmachung die Beziehungen zwischen der DDR einerseits sowie Schweden und vor allem Finnland andererseits, wobei die DDR im letzteren Fall jegliche Reparationszahlungen ablehnte und sich lediglich zur Entschädigung fiir enteignetes Vermögen in der DDR bereitfand. Erst Mitte der 1980er Jahre konnten die Verhandlungen durch einen fiir beide Seiten zufriedenstellenden Kompromiß beendet werden. Auch in den 1980er Jahren bemühte sich die DDR angesichts der wachsenden Spannungen in den internationalen Beziehungen darum, den eingeschlagenen Kurs der Intensivierung der Kontakte zu den skandinavischen Ländern ungebrochen fortzusetzen. Damit verfolgte sie zwei Ziele: Einmal sollte hierdurch eine auch in Zeiten erhöhter Spannungen in der internationalen Politik vorhandene Dialogbereitschaft der DDR gegenüber den westlichen Ländern demonstriert werden. Zum anderen zielte dieses außenpolitische Verhalten der DDR darauf ab, sich als dezidierter Entspannungsförderer zu profilieren und gleichzeitig fiir die sicherheitspolitischen Positionen und Konzeptionen des Ostblocks zu werben, um dadurch die eigene Westpolitik blockintern zu rechtfertigen.
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Die DDR und der Schuman-Pian (1950-1952) Von Ulrich Pfeil
Als der französische Außenminister Robert Schuman in seiner Regierungserklärung vom 9. Mai 1950 den Vorschlag zur Gründung einer ,,Europäischen Gemeinschaft fiir Kohle und Stahl" unterbreitete und der amerikanische Außenminister Dean Acheson nur einen Tag später die Absicht seiner Regierung bekannt gab, die Bundesrepublik wieder als ein gleichberechtigtes Glied der europäischen Gemeinschaft anzuerkennen und in das Verteidigungssystem des Westens einzubeziehen, 1 folgte eine harsche Reaktion des Ostblocks und der kommunistischen Parteien Westeuropas. Unter der Führung der Sowjetunion begann sofort eine heftige Pressekampagne, in der der französische Vorschlag als Idee der "amerikanischen Kriegsbrandstifter" und als erster Schritt zu einem neuen Krieg diffamiert wurde. 2 In diesen Verlautbarungen fmden wir jene Elemente wieder, die die östliche Seite seit 1947 gegen die westlichen Integrationsbestrebungen benutzte und auch in den folgenden Monaten und Jahren - bedingt durch tagespolitische Erfordernisse - in beliebiger Reihenfolge variierte und zum integralen Bestandteil ihrer Propaganda gegen die westeuropäische Integration machte. Sie sah im Schuman-Plan ein weiteres Mosaiksteinehen im Prozess der westlichen Auf1 Vgl. Curt Gasteyger: Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945-1990, Bonn, Bundeszentrale fur politische Bildung, 1991 2, S. 60ff. Washington hatte im Frühjahr 1950 verstllrkten Druck auf die französische Regierung ausgeübt, damit diese bisherige Bedenken gegen eine westdeutsche Wiederbewaffnung zurückstellt. In einem Memorandum der Vereinigten Stabschefs vom 2. Mai 1950 heißt es: "Es wird anerkannt, dass politische und psychologische Hindernisse in Westeuropa überwunden werden müssen, wenn die gegenwartige alliierte Politik geandert werden soll. Auf Frankreich soll Druck ausgeübt werden, um sicherzustellen, dass einseitige Maßnahmen Frankreichs, wie z.B. diejenige, die es kürzlich im Hinblick auf das Saargebiet ergriffe hat, sich nicht wiederholen, sondern dass Frankreich zu der Überzeugung gebracht wird, dass die UdSSR eine größere Bedrohung der Unabhangigkeit Frankreichs darstellt als Deutschland"(Departement of State (Hrsg.): Foreign Relations ofthe United States [FRUS)1950, Washington, Bd. IV, S. 687). Bis Sommer 1950 hatte die amerikanische Seite jegliche politische Bedenken abgelegt und arbeitete auf eine westdeutsche Wiederbewaffitung hin; vgl. Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München, 1999, S. 294ff. 2
Prawda, 23.5.1950, in: Archiv der Gegenwart (AdG), 23.5.1950, S. 2396.
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rüstung in politischer Kontinuität zum Marshall-Plan (5. Juni 1947), dem Brüsseler Pakt (17. April 1948) und der NATO-Gründung (4. April 1949) und bei der Herausbildung einer antisowjetischen Weltkoalition. 1 Die Kampagne des Ostblocks gegen den Schuman-Plan2 und später gegen die westeuropäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ist bei aller Kontinuität in der propagandistischen Konzeption aber gleichzeitig von neuer Qualität. Die Auseinandersetzung erfuhr durch die kurz zuvor erfolgte Gründung der beiden deutschen Staaten und die sich daraus ergebene Konkurrenzsituation neue Vehemenz, die noch gesteigert wurde, weil die Sowjetunion in dieser heißen Phase des Kalten Krieges den letzten Versuch unternahm, die europäische Karte nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Die politische und ideologische Auseinandersetzung um den Schuman-Plan kann somit als Teil der Geschichte des Kalten Krieges auf seinen unter-schiedlichsten Ebenen verstanden werden und reiht sich ein in die Studien zur europäischen Teilung sowie zur Bedeutung und zu den Eigenschaften des "deutschen Sonderkonflikts" im internationalen Staatensystem. Antikommunismus und Antitotalitarismus auf der einen, Antirevanchismus, Antimilitarismus und Antiimperialismus auf der anderen Seite bestimmten die Systemauseinandersetzung und wirkten in beiden Lagern als IntegrationsvehikeL 3 In den meisten (west-)europäischen Ländern war der Kampf um den Schuman-Plan in erster Linie Ausdruck des ideologischen Gegensatzes im Kalten Krieg und spaltete die politischen Landschaften. In Deutschland verschärfte sich der Konflikt durch den das Land trennenden Eisernen Vorgang, der sich in diesen Jahren zunehmend schloss. Darüber hinaus entstanden Bündnisse über die Ländergrenzen hinweg, die zumeist entlang der weltanschaulichen Grenzlinie verliefen. Dabei war der Widersacher nicht immer nur der "Klassenfeind", oft war die Heftigkeit, mit der gegen Abweichler aus der eigenen Familie vorgegangen wurde, weitaus stärker. Entsprechend der marxistisch-leninistischen Ideologie galt jedes Abkommen von dem durch die Partei bestimmten Pfade als Hilfe zur Stärkung der Klassengegner und den Feinden des Fortschritts. Die Auseinandersetzung innerhalb der internationalen Gewerkschaftsbewegung, auf die in dem folgenden Kapitel ausfilhrlicher eingegangen werden soll, war ein Beispiel dafilr. In Frankreich stand die Führungsrolle in der Arbeiterbewegung auf dem Spiel und damit verbunden die Machtfrage im eigenen Land. Da die 1 Vgl. Wjalscheslaw Daschilschew: Deutschland in der Politik Stalins, in: Deutschland Archiv [DA]33 (2000) 3, S. 391-398.
2 Vgl. die Rezeption des Schuman-Pians in der DDR-Historiographie in: Michael Lemlce: BRD und Montanunion im historischen Umfeld, in: Zeitschrift filr Geschichtswissenschaft [ZfG] 37 (1989) 3, S. 195-212. 3
Peler Bender: Ansatze zu einer deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Merkur 47 (1993) 3, S. 197-
206, hier: S. 198f.
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beiden deutschen Staaten die Schaufenster der im Kalten Krieg im Wettstreit liegenden Weltanschauungen waren, ging es bei ihnen nicht nur um den Beweis fi1r die Überlegenheit einer politischen Richtung, sondern - wie es schließlich die Ereignisse von 1989/90 gezeigt haben - um die Existenz einer der beiden deutschen Staaten und damit auch seiner Ideologie. Im folgenden soll deshalb den Inhalten, Strategien und Methoden der Auseinandersetzungen um den Schuman-Plan im Rahmen des Kalten Krieges, des "deutschen Sonderkonflikts" und der (ost-) deutsch-französischen Beziehungen nachgegangen werden. I. Europäische Integration im Westen- nationalistische Politik im Osten Die außenpolitischen Grundvoraussetzungen fi1r beide deutschen Staaten ähnelten sich bei ihrer GrUßdung und können als ein Wettlauf um internationale Anerkennung und Souveränität beschrieben werden. Zur Erreichung ihrer Ziele gingen die Bundesrepublik und die DDR jedoch entgegengesetzte Wege. Bundeskanzler Konrad Adenauer setzte auf ein machtpolitisches Sicherheitskonzept der Westintegration, signalisierte schon frlih seine Bereitschaft, nationale Souveränitätsrechte zugunsten supranationaler Integration aufzugeben und staatliche Unabhängigkeit und die Erlangung von Souveränität nur als Folge der Wiederaufrlistung erreichen zu wollen. 4 Diese Politik gehört im öffentlichen heutigen Bewusstsein vielfach zur "success story" der Bundesrepublik Deutschland; sie erscheint bei genauerem Hinsehen jedoch keineswegs gradlinig und musste wiederholt Rückschläge verkraften. Auch Adenauer war in der damaligen Situation keineswegs sicher, sein Vorhaben erfolgreich in die Tat umzusetzen. Patriotische Kräfte auf der rechten Seite des politischen Spektrums, die nationalneutralistische Alternative Gustav Heinemanns und der harte Kampf des SPDVorsitzenden Kurt Schumacher gegen die Westintegration machten die Pläne des Kanzlers keineswegs zu einer sicheren Sache. In seinen Erinnerungen gesteht er, dass er nur wenig Vertrauen in das deutsche Volk hatte und filr die Zeit nach seiner Kanzlerschaft eine Verständigung mit der Sowjetunion zu Lasten Deutschlands fiirchtete. 5 Er setzte deshalb seine ganze Kraft in eine Politik, die den Weg nach Westen unumkehrbar machen sollte, um aus einer Position der Stärke heraus die Wiedervereinigung erreichen zu können. 6 Wolfram F. 4 Vgl. Detlef Bald: "BUrger in Uniform": Tradition und Neuanfang des Militars in Westdeutschland, in: Axel Schild/Arno/d Sywotlek (Hrsg.): Modemisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn, 1993, S. 392-402.
5
Konrad Adenauer: Erinnerungen, Bd. 3, 1955-1959, Stuttgart, DVA1967, S. 144f.
6 Christoph Klessmann/Bernd Stover: Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung Adenauer und die politisch-parlamentarische Diskussion in dieser Zeit, in: Materialien der Enquete-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. V/2, S. 1612-1635.
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Hanrieder spricht in diesem Zusammenhang von "modernen" Zügen der Adenauerschen Außenpolitik. 7 Die Westalliierten kamen ihm bei diesen Ziel immer wieder entgegen, weil die europäische Integration das Verlangen der ehemaligen Kriegsgegner nach Sicherheit vor Deutschland weitgehend stillte und die Gewähr dafiir bot, das wirtschaftliche und militärische Potential in internationalen und supranationalen Organisationen zu kontrollieren. Auf dieser Grundlage war es fiir die westlichen Siegermächte bedeutend leichter, der Bundesregierung Zugeständnisse zu machen, die diese als Erfolge im "deutschen Sonderkontlikt" präsentieren konnte. So weist LudolfHerbst daraufhin, dass das Petersberger Abkommen vom 24. November 1949, durch das die Bundesrepublik einen ersten Schritt zur Rückgewinnung ihrer nationalen Souveränitätsrechte tat und wieder konsularische Beziehungen mit dem Ausland aufnehmen durfte, in erster Linie auf die Einsicht der westlichen Siegermächte zurückging, die Bundesrepublik müsse nach der Gründung der DDR und infolge der "nationalen" Politik der SED zusätzlich stabilisiert werden. 8 Die Immunisierung der Westdeutschen gegen die Gefahren des Kommunismus beschränkte sich aber nicht nur auf politisches Entgegenkommen, sondern besass auch immer eine kulturelle Komponente. An dieser Stelle sei nur der "Kongress fiir kulturelle Freiheit" vom 26. bis 30. Juni 1950 in Berlin erwähnt, mit dem der Westen auf die unterschiedlichen Friedens- und Neutralitätskampagnen des Ostens antwortete. Diese von den Amerikanern initiierte und von der CIA finanzierte Veranstaltung wandte sich mit dem westlichen Verständnis von Freiheit an Schriftsteller und Intellektuelle und wurde zu einem Manifest eines moralisch begründeten, leidenschaftlichen Antitotalitarismus. 9 Immer wieder galt es in dieser Zeit, die nationale Zusammengehörigkeit gegen die politisch-ideelle Westlichkeit auszubalancieren und die vielfältigen Widerstände gegen die Westintegration zu überwinden. Schließlich gelang es dem Bundeskanzler, der Bundesrepublik bei den ehemaligen Kriegsgegnern und Nachbarn im Westen wieder Mitsprache und Einfluss zu sichern, was ihr innen- wie außenpolitisch Legitimation einbrachte. Der Wunsch nach Neuern und die ersten Anzeichen eines wirtschaftlichen Aufschwungs sowie die gestiegene Bedeutung der Bundesrepublik in der westlichen Welt in den 50er Jahren ließen die Zustimmungskurve fiir die europäische Integration kontinuierlich ansteigen, um 7 Wolfram F. Hanrieder Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, Paderbom, 1995 2, S. 157. 8 Ludo/f Herbst: Stil und Handlungsspielraume westdeutscher Integrationspolitik, in: ders. u.a. (Hrsg.): Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München, 1990, S. 3-18, hier: S. 9. 9 Anselm Doering-Manteu.ffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen, 1999, S. 84ff.
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schließlich diejenige des "unabhängigen Nationalstaats" zu überflügeln. 10 Die steigende Zustimmung bei den Wahlen konnte der Kanzler zudem als Bestätigung fiir seine Richtungsentscheidung ansehen. Die zunehmende Akzeptanz "von unten" und das Einschwenken der westdeutschen Bevölkerung auf die Linie Adenauers ("Freiheit vor Einheit") erweiterten die deutschlandpolitischen Handlungsspielräume der Bundesregierung spürbar und verbesserten ihre Position gegenüber dem ostdeutschen Konkurrenten. 11 Die Reaktion der DDR auf die ersten außenpolitischen Fortschritte der Bundesrepublik lassen sich nur mit dem Blick nach Moskau erklären. Ausgehend von seinen Kriegserfahrungen ging Stalin von der Prämisse aus, dass der Nationalismus weiterhin "eine überragende, alle Bevölkerungsschichten - einschließlich vieler Kommunisten - umfassende Ausprägung" besitze und gedachte ihn fiir seine Zielsetzungen einzuspannen.12 Nationale Leitbilder- so seine Auffassung- sollten den "VolksfrontSpagat" ermöglichen und unterschiedliche Standpunkte in anderen Politikfeldern zurückdrängen. 13 Er verschrieb seinen Satelliten sowie den kommunistischen Parteien in Westeuropa ein Vorgehen, das Züge des revisionistischen Nationalismus der Zwischenkriegszeit trug und Kontinuitäten mit den politisch-kulturellen Ressentiments gegenüber der westlichen Modeme aufwies. Nachdem es der Sowjetunion gelungen war, in den Satellitenstaaten bei der Proklamation der "Volksdemokratien" einen "nationalen Block" aus heterogenen Kräften zu formieren, sah sich der Kremlchef auch in seiner nationalen Deutschlandpolitik bestärkt. Das Engagement vieler in sowjetische Gefangenschaft geratener Generäle und Offiziere der Wehrmacht im "Nationalkomitee Freies Deutschland" und der gesamtnationale Führungsanspruch von Christdemokraten, Liberaldemokraten und Nationaldemokraten in der SBZ/DDR konnte Stalin als Ermunterung fiir seine Initiativen verstehen. 14 10 Vgl. Axel Schildt: Modeme Zeiten. Freizeit, Massenmedien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg, 1995, S. 321. 11 Michael Lemke: Deutschlandpolitik zwischen Sowjetisierung und Verwestlichung 1949-1963, in: Konrad Jarausch/Hannes Siegrist (Hrsg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt/M., S. 87-110, hier: S. 100. Axel Schildt stellt in diesem Zusammenhang fest, dass Adenauers semiautoritärer Politikstil des borgerliehen Honoratiorentypus von vor 1933 den Erwartungen der Mehrheit der Westdeutschen entsprach; Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt/M., 1999, S. 23. 12 Wolfgang Pfe iler: Die ,nationale' Politik der KPD/SED 1945-1952, in: Materialien der EnqueteKommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. V/2, S. 1967-2014, hier: S. 2013f
ll Peter März: Rahmenbedingungen deutscher Staatlichkeil 1945-1990, in: ders.: 40 Jahre Zweistaatlichkeil in Deutschland. Eine Bilanz, München, 1999, S. 17-46, hier: S. 22. 14 Vgl. Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus, Frankfurt/M., 2000, S. 344f.
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Bei der Umsetzung der sowjetischen Zielvorstellungen kam der SED/DDR eine wichtige Rolle zu. Als Stellvertreter der UdSSR sollte sie diese "nationale" Politik in Deutschland realisieren und maßgebliche politische Kräfte in der Bundesrepublik für Stalins Konzept der staatlichen Einheit gewinnen. Ein einiges Deutschland (langfristig unter sowjetischen Vorzeichen) gegen eine ins westliche Bündnis integrierte Bundesrepublik hieß nun die Devise, die die SED umzusetzen hatte. 15 Wichtige Zielgruppen in diesem Volksfrontmodell waren dabei die Arbeiter, Wertkonservative, Vertreter nationaler Autonomievorstellungen und Verfolgte des NS-Regimes, zu denen sie durch klassenkämpferische, antiamerikanische, 16 nationalstaatliche und antimilitaristische Parolen Kontakte herstellen wollte. Auch wenn die SED ihren Führungsanspruch in dieser Zeit hinter der Politik der "Nationalen Front" verbarg, verstand sie sich von ihrem Selbstverständnis her als Avantgarde bei der Durchsetzung der von Moskau vorgegebenen Politik. Die Arbeiterklasse müsse, so hieß es in einem internen Dokument vom August 1949, an der Spitze der "Nationalen Front" für die nationale Sache kämpfen, um sich nicht dem Feind auszuliefern. 17 Die SED erklärte sich zum Anwalt der Wiedervereinigung und versuchte auf diese Weise, die westliche Bündnispolitik zu blockieren und den Einheitswünschen der eigenen Bevölkerung nachzukommen. 18 Sie zielte kurzfristig auf die Mobilisierung der Massen durch den Appell an das "gesamtdeutsche Gefiihl" und sah dafür gute Chancen, nicht zuletzt, weil die Bundesregierung durch ihre Westorientierung dieses Politikfeld vernachlässigte. Mittelfristig erhoffie sie sich davon die Konsolidierung ihrer eigenen Macht und langfristig - ganz der politökonomischen Nationsdefmition verpflichtet 19 - die Übertragung des "antifaschistisch-demokra-
15 W. Pfeiler (Anm. 14), S. 2001; Gerhard Wettig: Treue Dienste filr den Kreml. Zur Rolle der KPD/SED in der sowjetischen Deutschland-Politik 1945-1952, in: DA 33 (2000) 3, S. 399-416, hier: s. 412. 16 Gerhard Koenen weist darauf hin, dass der von teilweise paranoiden Unterwanderungsangsten genllhrte Antikommunismus, der seine scharfsie Ausprägung in der "McCarthy-Ära" fand, nicht nur bei Kommunisten die Vorstellung von einem "amerikanischen Faschismus" gefbrdert hat und deshalb nicht unterschätzt werden sollte; G. Koenen (Anm. 16), S. 351f.
17 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 19.-22.8.1949; SAPMO-BA, DY 30/IV 2/2/40, BI. 112. 18 Auf einer Sitzung des Ausschusses filr gesamtdeutsche Fragen des Deutschen Bundestages vom 4. September 1951 heißt es in einem Bericht über RIAS-Gespräche mit ostdeutschen Jugendlichen, dass ihr Interesse fllr alles sehr stark sei, was in der Bundesrepublik passiere. Besonders hervorgehoben wurde dabei das Verhältnis der Bundesrepublik zu den Alliierten und der SchumanPian; vgl. Andreas Biefang: Der Gesamtdeutsche Ausschuss. Sitzungsprotokolle des Ausschusses filr gesamtdeutsche Fragen des Deutschen Bundestages 1949-1953, Düsse1dorf, 1998, S. 207. 19 Vgl. Sigrid Meuschel: Legitimationsstrategien in der DDR und in der Bundesrepub1ik, in: Christoph Klessmann u.a. (Hrsg.): Deutsche Vergangenheiten - eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin, 1999, S. 115-127, hier: S. 118.
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tischen" bzw. sozialistischen Modells auf die Bundesrepublik mit Hilfe einer gesamtdeutschen Volksfront. Als beispielhaft ftir diese nationale Agitation kann der folgende Auszug aus dem Manifest anlässlich einer "Massenveranstaltung" der westdeutschen KPD gegen das Ruhrstatut im Januar 1950 gelten, das von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl unterzeichnet worden war: "Das Ruhrbecken ist das Herz Deutschlands, und unser Volk wird niemals hinnehmen, dass es aus dem Körper der deutschen Nation herausgerissen wird." 20 Positive Rückwirkungen dieser Politik konnte der Kreml-Chef in den Monaten nach der GrUndung der DDR jedoch nicht feststellen und bestellte die mit der Absicherung ihrer Herrschaft im Inneren beschäftigte SED-Spitze Anfang Mai 1950 nach Moskau und warf ihr vor, ihre gesamtdeutschen Aufgaben vernachlässigt zu haben. Das Politbüro gelobte Besserung und konstatierte selbstkritisch das Ungenügen der eigenen Westarbeit und wollte den Kampf ftir Frieden und nationale Einheit in den Mittelpunkt ihrer Agitation stellen.21 Neben der unmissverständlichen Aufforderung von Stalin war die Bekanntgabe des SchumanPlans am 9. Mai 1950 ein weiterer Anlass ftir den Ausbau des Partei- und Staatsapparates und seine Ausrichtung auf den Konflikt mit dem westdeutschen Nachbarn. Im Juni 1950 wurden im Ministerium ft!r Auswärtige Angelegenheiten Umstrukturierungen vorgenommen, so dass die Hauptabteilung II "Kapitalistische Staaten" oder "West" eine Unterabteilung "Deutschlandpolitik der westlichen Imperialisten" erhielt, die ihre Beobachtung u.a. auf die Entwicklung der "Europaunion und des Atlantikpaktes", die "Widersprüche zwischen den imperialistischen Großmächten" und die "Entwicklung Westdeutschlands im allgemeinen, außen- und innenpolitisch im besonderen" richten sollte. 22 Ziel war es weiterhin, die internationale Isolierung der DDR zu durchbrechen, die im Frühjahr 1950 auch durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den sozialistischen "Bruderstaaten! nicht verdeckt werden konnte.23 Ein hervorragendes Politikfeld zur Anwendung ihrer politischen Strategie schien die Saarfrage zu bieten, in der die SED eine betont harte Haltung einnahm. Sie wollte dabei von dem Disput zwischen Bonn und Paris profitieren, der durch die Zollunion des Saargebiets mit Frankreich und den zunehmenden Einfluss der Pariser Regierung auf Saarbrücken ausgelöst worden war und zu 20 Zit. nach: Telegramme n° 10 de Maurice Dejean au Departement du 7 janvier 1950; MAE, EU 44-60, ALL, 798, BI. 207.
21 Vgl. Wi/fried Loth: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Monchen, 1996, S. 169ff. 22 Vgl. Sitzungsprotokoll vom 19.6.1950; PNAA, Bestand MfAA, LS-A 207, BI. 13; Hauptabteilungsleitersitzung am 1.12.1950; PNAA, Bestand MfAA, A 2, BI. 113/115. 23 Vgl. Michael Lemke: Prinzipien und Grundlagen der Außenbeziehungen der DDR in der Konstituierungsphase des DDR-Außenministeriums 1949-1951 , in: ders. (Hrsg.): Sowjetisierung und Eigenstandigkeit in der SBZ/DDR (1945-1953), Köln, 1999, S.256.
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heftigen Reaktionen auf westdeutscher Seite geführt hatte, die gegen die schleichende Einverleibung des französischen "Protektorats" protestierte und seine Rückkehr zu Deutschland forderte. Der frostige Empfang des französischen Außenministers Robert Schurnarr im Januar 1950 in Deutschland war Ausdruck der schweren Spannungen zwischen Paris und Bonn, die ihren Höhepunkt erreichten, als Frankreich und das Saarland im März 1950 ein Abkommen unterzeichnen, das ihre wirtschaftlichen Beziehungen präzisierte und der Saarbrücker Regierung eine größere Autonomie gab. Die westdeutschfranzösischen Beziehungen schienen in eine Sackgasse geraten zu sein. 24 Die SED konnte sich in ihrer Ansicht vorerst bestätigt filhlen, dass die Konflikte zwischen französischen und deutschen "Monopolisten" um die Gruben und Stahlwerke an der Saar die Beziehungen zwischen beiden Ländern belasten würden. 25 Die Hoffnungen der SED auf einen Bruch zwischen Paris und Bonn wurden jedoch durch die positive Reaktion Adenauers auf den Schuman-Plan vorerst zunichte gemacht. So wie sie bereits 1946 heftig gegen eine mögliche Abtrennung des Ruhr- und Saargebiets polemisiert hatte, beschuldigte sie den Bundeskanzler nun der "Preisgabe" des Saarlandes. Sie wertete die westdeutsch-französische Übereinkunft als Kniefall vor den Interessen Frankreichs im Saargebiet bzw. als "Annexion", um sich selber als starke Kraft filr die Vertretung der deutschen Interessen darzustellen. Diese Haltung kam auch in ihrer Propaganda gegen die Hohe Behörde zum Ausdruck, der von den Schuman-Plan-Ländem eine weitgehende fmanzielle Unabhängigkeit zugestanden und die Möglichkeit eingeräumt wurde, eigenmächtig in den wirtschaftlichen und sozialen Fragen zu handeln. 26 Gebetsmühlenartig wurde sie als Mittel zur "Beseitigung der nationalen Souveränität der Völker zur Verstärkung der USA-Hegemonie" in Europa präsentiert. 27 Eine weitere bevorzugte Zielscheibe der SED in der Bundesrepublik stellte der SPD-Vorsitzende Kurt Schurnacher dar. Obwohl sich Sozialdemokraten28 und Einheitssozialisten in vielen Punkten trafen wie etwa in der Forderung nach 24
Vgl. Marie-Therese Bitsch: Histoire de Ia construction europeenne, Brüssel,1999, S. 66f.
2S Vgl. Sondermaterial "Nur filr den Dienstgebrauch" des MfAA, Abt. Presse und Information, zu den amerikanischen Unionsplanen zur wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung in Westeuropa vom 25.10.1951; PNAA, Bestand MfAA, A 9632, BI. 13.
26
Vgl. M-T Bitsch (Anm. 26), S. 73ff.
27 Vgl. Sondermaterial "Nur filr den Dienstgebrauch" des MfAA, Abt. Presse und Information, zu den amerikanischen Unionsplanen zur wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung in Westeuropa vom 25.10.1951; PNAA, Bestand MfAA, A 9632, BI. 1-20. 28 Vgl. zur ablehnenden Haltung von Herbert Wehner seine Aussagen in dem Auszug aus dem "Neuen Vorwärts" vom 8.6.1951, abgedruckt in: A. Biefang (Anm. 20), S. 196.
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Auflösung der Ruhrbehörde und der Hohen Behörde, in ihrer "nationalen" Politik/9 in ihrer Perzeption des Schuman-Plans als Fortftihrung kapitalistischer Politik zum Nachteil Deutschlands und der Arbeiter so wie als Glied in einer Kette, die zur Wiederbewaffnung Deutschlands ftihre, 30 setzte die SED auf Konfrontation mit der SPD. Ihr wurde eine besondere Rolle innerhalb der gemeinsamen Front der westdeutschen "Imperialisten" zugeschrieben:
,,Die mit radikalen und nationalistischen Phrasen vorgetragene Scheinopposition der SPD-Führung auf der anderen Seite soll ein Ventil für die Unzufriedenheit des Volkes schaffen, soll die Massen täuschen und ablenken. Doch auch Schumacher ist im Prinzip für den Plan. "31 Auf beiden Seiten bestimmte die alte Konkurrenzsituation zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten das politische Denken und Handeln. Während die SPD im groben Interpretationsraster der SED Helfershelfer der kapitalistischen Bundesregierung war, beftirchtete Schumacher als Folge des Schuman-Pians den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands und einen Prozess der sozialen Zersetzung, der schließlich die KPD stärken würde und damit die "Geburtsurkunde einer neuen kommunistischen Bewegung" darstelle. 32 Die Politik der SED einzig als taktisches Winkelspiel zu präsentieren, würde jedoch einen Aspekt vernachlässigen, der die Politik des Ostens im Kalten Krieg mitbestimmte. Stalin wie auch die SED-Führung sahen in "faschistischen" wie in liberal-demokratischen Staatsformen Mitglieder der gleichen kapitalistischen 29 Schumacher sagte in einem Interview am 5.8.1952 im NWDR: "Die Wiedervereinigung Deutschlands ist nach sozialdemokratischer Meinung vordringlicher und fllr die Befriedung und Neuordnung wichtiger als jede Form der Integration mit anderen Ländern"; AdsD, Schumacher Q I 7.
30 Die Idee der europäischen Integration lehnte die SPD nicht prinzipiell ab und verstand sie ursprUnglieh als eine Idee der Linken. Ihre Ablehnung resultierte vor allem aus dem tiefen Misstrauen des SPD-Vorsitzenden gegenOber Frankreich, das - so Schumacher- den Schuman-Pian zur Sanktionierung seiner Vorherrschaft in Europa nutzen wolle. Er beklagte wiederholt die fehlende Gleichberechtigung Deutschlands und sah in dem Plan die Fortfllhrung der Besatzungspolitik, durch die sich die Siegermächte die Verfllgungsgewalt Ober das Ruhrgebiet sichern wollten. Seine Ablehnung fasste er in den vier K's zusammen: konservativ, klerikal, kapitalistisch und kartellistisch. Mit dieser Politik hatte der SPD-Vorsitzende seine Partei in die Isolation innerhalb der Gemeinschaft der sozialistischen Parteien getrieben. Während die SED zumindest das "KampfbOndnis" CGTFDGB vorweisen konnte, waren die Beziehungen zwischen der SPD und der SFIO auf einem Tiefpunkt. Die französischen Sozialisien warfen Schumacher vor, den Kampf gegen den Schuman-Pian als Mittel im Kampf gegen Adenauer zu benutzen; vgl. Ralf Steininger: Deutschland und die Sozialistische Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg. Darstellung und Dokumentation (Archiv for Sozialgeschichte, Beiheft 7), Bonn, Neue Gesellschaft, 1979, S. 16lff.; Wolfgang Benz Kurt Schumachers Europakonzeption, in: Ludolf Herbst u.a. (Hrsg.): Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München, 1990, S. 47-62. 3 1 Sondermaterial "Nur for den Dienstgebrauch" des MfAA, Abt. Presse und Information, zu den amerikanischen Unionsplänen zur wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung in Westeuropa vom 25.1 0. I 951 ; PN AA, Bestand MfAA, A 9632, BI. 9. 32
Vgl. R. Sleininger (Anm, 32), S. 162.
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Familie und nahmen diese als Bedrohung für die eigene Position wahr. 33 Jürgen Danyel weist auf die Sozialisation der SED-Führungsriege hin, die durch die nationalsozialistische Verfolgung und die Säuberungen im sowjetischen Exil geprägt war. Diese Erfahrungen hätten zu einem an Feindbildern orientierten Denken geilihrt, das "sich primär über die Abgrenzung zu anderen politischen Gruppierungen definierte. Dieses in sehr groben Rastern befangene Denken richtete sich nicht nur nach außen, sondern schloss immer auch die Distanzierung zu realen und potentiellen Opponenten aus den eigenen Reihen ein. In enger Verbindung damit standen oft irrationale Bedrohungs- und Einkreisungsängste, die reale Konflikte und Gefllhrdungen verzerrend erhöhten bzw. auf dem völligen Verlust einer differenzierten und nüchternen Wahrnehmungsfiihigkeit beruhten." 34 Dabei spielte es auch eine Rolle, dass die Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit die junge Bundesrepublik immer wieder einholten. SchlussstrichMentalität und die Weigerung zur Diskussion über die Verantwortung der Gesellschaft für die NS-Verbrechen innerhalb der westdeutschen Bevölkerung fUhrten zur schnellen Rehabilitierung von Armee, Polizei und Bürokratie.35 Während auch in der SBZ/DDR die so genannten "Mitläufer'' relativ rasch wieder in die Gesellschaft integriert wurden, hatte die SED diese machtpolitisch zentralen Bereichen nicht zuletzt aus Gründen der Durchsetzung ihrer Herrschaft und dem Willen zur sozialen Umgestaltung konsequent gesäubert?6 Öffentliche Skandale wie die Personalpolitik des Bonner Auswärtigem Amts, in dem der Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder unter den höheren Beamten etwa zwei Drittel betrug und damit höher lag als zu Zeiten des NSAußenministers Ribbentrop 37 und die Rolle ehemaliger Wehrmachtsgeneräle wie n Vgl. Laurent Rucker: La strategie de Staline, in: L'Histoire 209 (1997), S. 34-35. 34 Jürgen Danyel: Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als Grundungskonsens? Zum Umgang mit der Widerstandstradition und der Schuldfrage in der DDR, in: ders. (Hrsg.): Die geteilte Vergangenheit: Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin, 1995, S. 33. JS Vgl. u.a. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfllnge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, MUnchen, 1996; Je.ffrey Herf: Zweierlei Erinnerung: die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin, 1998. 36 Vgl. Damian van Melis: "Der große Freund der kleinen Nazis". Antifaschismus in den Farben der SED, in: Heiner Timmermann (Hrsg.): Die DDR- Erinnerung an einen untergegangenen Staat, Berlin, 1999, S. 245-264; Ulrich Pfeil: Antifascisme et denazification en zone d'occupation sovietique (SBZ), 1945-1948, in: Revue d'AIIemagne 32 (2000) 2, S. 13-27.
37 Curt Garner: Der öffentliche Dienst in den 50er Jahren. Politische Weichenstellungen und ihre sozialgeschichtlichen Folgen, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.): Modemisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn, 1993, S. 759-790, hier: S. 769.
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Hans Speidel, von dem sich Adenauer in dieser Zeit beraten ließ und ihn später zum General der Bundeswehr machte, waren Ausdruck der vergangenheitspolitischen Defizite in der Bundesrepublik und bestärkten die SED in ihrer Sicht der "faschistischen" Kontinuitäten sowie in ihrer Kampagne gegen Adenauer und seine Politik der Westintegration. Während der Kanzler mit dem Vorschlag eines westdeutschen Wehrbeitrags in einem supranationalen Rahmen Vertrauen im Westen erlangen und demokratische Zuverlässigkeit unter Beweis stellen wollte, löste diese Politik und das verstärkte militärische Engagement der Amerikaner in Europa bei der SED Bedrohungsszenarien aus. So besteht z.B. ein enger Zusammenhang zwischen der Verstärkung der westeuropäischen Truppen-kontingenten in der Bundesrepublik im September 1950 und dem sich ver-schärfenden "Kampf gegen die Remilitarisierung Westdeutschlands" seitens der SED. 38 Die Versäumnisse in Westdeutschland im Umgang mit der national-sozialistischen Vergangenheit machten es der SED oft sehr einfach, die DDR als das "geläuterte" Deutschland bzw. den "Hort einer antifaschistischen-demokratischen Umwälzung" darzustellen. Die gezielte Propaganda der SED gegen Männer wie Speidei setzte aber erst in den 60er Jahren ein. Anfang der 50er Jahre war man noch um ein Bündnis mit allen bemüht, darunter auch ehemaligen Nationalsozialisten, "wenn sie sich nur gegen die Westintegration aussprachen", wie Axel Schildt hervorhebt. 39 Nachdem Moskau und Ost-Berlin Ende 1950 erkennen mussten, dass die erste Welle ihres propagandistischen Angriffs nur wenig Wirkung im Westen gezeigt hatte, war die Prager Außenministerkonferenz (20 ./21. Oktober 1950), zu der sich auf Initiative der Regierung der Sowjetunion alle Ostblockstaaten unter Einschluss der DDR versammelt hatten, ein erneuter Versuch, die Einbindung der Bundesrepublik in den Westen zu verhindern. Die Teilnehmerstaaten schlugen im Abschlusskommunique die Bildung eines aus Vertretern Ost- und Westdeutschland paritätisch zusammengesetzten Gesamtdeutschen Konstitu-ierenden Rates vor, der die Bildung einer provisorischen demokratischen, friedliebenden, gesamtdeutschen, souveränen Regierung vorbereiten und den Regierungen der UdSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs die entsprechenden Vorschläge zwecks gemeinsamer Bestätigung unterbreiten sollte. Darin heißt es außerdem:
"Die Politik der drei Westmächte sei darauf gerichtet, die Entwicklung der deutschen Industrie auf die Vorbereitung eines neuen Krieges in Europa auszurichten, anstatt die Entwicklung der Friedenswirtschaft, die Beseitigung 38 Vgl. dazu Heike Amos: Die Westpolitik der SED 1948/49-1961 , Berlin, Akademie Verlag, 1999, S. 59. 39 A.
Schild/ (Anm. 13), S. 134.
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der Kriegsschäden und den Wiederaufbau zu fördern, worauf die Sowjetunion ständig bestehe."40 Am 30. November 1950 richtete Otto Grotewohl auf direkte sowjetische Anordnung und unter Federfilhrung Walter Ulbrichts ein Schreiben an Bundeskanzler Adenauer, in dem er genau diese Forderungen wiederholte, ohne jedoch zu präzisieren, welche Gegebenheiten fiir die Durchfiihrung freier Wahlen erfiillt sein müssen und ob eine gesamtdeutsche Regierung vor oder nach den Wahlen gebildet würde. Die SED versuchte in der Folge, eine Zustimmungskampagne in der Bundesrepublik zu inszenieren, um den Druck auf die Bundesregierung zu verstärken. 41 Bundeskanzler Adenauer sah sich durch die neuen ostdeutschen Initiativen in Zugzwang und bemühte sich bei den Westmächten um neue Zugeständnisse, um seine eigene Position zu stärken. Er war dabei nicht nur durch den GrotewohlBrief unter Druck geraten, sondern ebenfalls durch die vehemente Opposition Schumachers. Der britische Hohe Kommissar Sir lvone Kirkpatrick plädierte daher dafiir, Adenauer durch alliiertes Entgegenkommen zu helfen, weil seine Person fiir die Westintegration der Bundesrepublik stehe. Auch wenn die Westmächte in der Folge nur sehr dosiert zu neuen Zugeständnissen bereit waren, so konnte der Bundeskanzler doch gestärkt bei seiner Regierungserklärung am 15. Januar 1951 auftreten und auf den Grotewohl-Brief antworten. Vor der Konstituierung eines Gesamtdeutschen Rates müssten freie Wahlen in der DDR, politische Betätigungsfreiheit fiir alle in der DDR lebenden Deutschen und die Auflösung der "Polizeitruppen militärischen Charakters" gewährleistet seien. 42 Mit diesen Prämissen hatte Adenauer die westdeutschen Grundsätze zur Wiedervereinigung Deutschlands formuliert, die in der Folge konstant blieben und auch von den Westmächten übernommen wurden. Die Regierung der Sowjetunion bemühte sich ihrerseits um ein Wiederaufleben der Vier-Mächte-Kontrolle und richtete am 15. Dezember 1950 eine Note an die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs, in der sich der Kreml gegen die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte und ihre Einbindung in ein westliches Bündnis wandte, ohne jedoch auf die Modalitäten fiir eine deutsche Vereinigung bzw. für freie Wahlen einzugehen. Er stellte die potentielle Gefahr in den Vordergrund, die durch eine Wiederaufstellung einer deutschen Armee entstünde: "Diesen Weg gehen, heißt die Lehren der jüngsten Vergangenheit vergessen, und seine Wiederherstellung anstreben. Damit können sich weder die Sowjetunion noch die Völker Europas abfinden, die das Unglück der deutschen 40
AdG, 22.9.1951, S. 2636.
41
Vgl. H. Amos (Anm. 40), S. 71 ff.
42 Vgl. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 1-6 (1949-1953), Boppard, Boldt, 19821989, hier: Bd. 4 (1951 ), S. XXXV.
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Aggression und einer langen Besetzung im ersten und zweiten Weltkrieg zu ertragen hatten. " 43 Moskau wies gegenüber Frankreich in erster Linie auf den Vertrag zwischen beiden Ländern vom 10. Dezember 1944 hin, in dem sich beide verpflichtet hatten, "an keinerlei Koalition teilzunehmen, die gegen eine der hohen vertragschließenden Parteien gerichtet wäre" (Artikel 5) und warf Paris Vertragsbruch vor. Nachdem Paris und London am 5. Januar 1951 die sowjetischen Vorwürfe zurückgewiesen hatten, richtete die Regierung der Sowjetunion an die beiden europäischen Westalliierten 20. Januar 1951 eine Antwortnote, in der sie die vorher erhobenen Vorwürfe wiederholte. Wieder beschuldigte sie beide der Verletzung der Bündnisverträge, weil sie gemeinsam mit den USA eine "militärische Allianz mit Deutschland gegen die Sowjetunion und die Volksdemokratien" organisieren würden. In der Note an die französische Regierung hob Moskau hervor, dass der Schuman-Plan ein Beitrag zur westdeutschen Aufrüstung darstelle. 44 Die DDR stellte ihren Kampf gegen die Westintegration der Bundesrepublik ab Anfang 1951 unter das Motto "Deutsche an einen Tisch" und versuchte so, direkten Kontakt mit Adenauer herzustellen. Diese Aktionen sollten den Bemühungen der SED einen neuen nationalen Schwung geben und den Einheitswillen der Bevölkerung in Ost und West stärken. Die Formel "Deutsche an einen Tisch" bot darüber hinaus den Vorteil, die Alliierten aus dem Spiel zu lassen. Im März 1951 musste jedoch auch die SED das Scheitern ihrer Kampagne feststellen, die den Einheitswillen des deutschen Volkes unter- und die Ausstrahlungskraftdes Kommunismus überschätzt hatte. 45 Doch schon am 5. April 1951, neun Tage vor der Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft fi1r Kohle und Stahl, beschloss der Ministerrat der DDR eine Erklärung gegen die Paraphierung des Schuman-Plans durch die Bundesregierung, in der Adenauer die Schuld an der Spaltung Deutschlands gegeben und zum "nationalen Widerstand" gegen die Paraphierung des Montan-Union-Abkommens aufgerufen wurde. Der Schuman-Pian sei ein "Verrat an der Unabhängigkeit des [deutschen] Volkes", weil er die Lostrennung des Ruhrgebiets von Deutschland und die gleichzeitige Annexion des Saargebiets durch Frankreich bedeute. Damit vertiefe die Bundesregierung "die Spaltung unseres deutschen Vaterlandes" und begünstige die Remilitarisierung Westdeutschlands: "Geleitet von den nationalen Interessen des ganzen deutschen Volkes, verurteilt die Regierung der DDR entschieden die Politik der Regierung Adenauer und lehnt den Schuman-Plan ab. Der Schuman-Plan muss vereitelt 43 Note der Sowjetregierung vom 15. Dezember 1950 an die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs; AdG, 15.12.1950, S. 2718M. 44 Vgl. Note der Sowjetregierung vom 20. Januar 1951 an die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs; AdG, 20.1.1951, S. 2781F.
45
Vgl. zur Grotewoh1-Initiative H. AMOS (Anm. 40), S. 67fT.
9 Timmermann
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werden, da er den Lebensinteressen nicht nur des deutschen, sondern auch des französischen, italienischen und aller anderen europäischen Völker widerspricht. " 46 Für die UdSSR stand seit Mitte 1951 jedoch der Schuman-Plan schon nicht mehr im Zentrum der ihrer Propaganda gegen die europäische Integration. Der Kampf gegen die wirtschaftliche Integration hatte endgültig der Agitation gegen die militärische Platz gemacht, weil eine solche Ausrichtung gerade in Frankreich die Möglichkeit bot, Uber die Widerstände gegen eine deutsche Wiederbewaffnung Schuman-Plan und EVG gemeinsam zum Scheitern zu bringen.47 Am 11 . September 1951 sandte die Sowjetunion eine weitere Note an Großbritannien und Frankreich und warf beiden vor, der Bundesrepublik freie Hand bei ihren Kriegsvorbereitungen zu lassen. Abschließend heißt es in der Note: "Die Sowjetregierung kann nicht umhin, den Folgen der gegenwärtigen Politik der französischen Regierung Rechnung zu tragen, einer Politik zur Wiederaufrichtung des deutschen Militarismus und zum Abschluss eines MilitärbUndnisses mit den aggressiven Kräften in Westdeutschland". 48 Vier Tage später, am 15. September 1951, richtete die DDR-Volkskammer unter Federtuhrung Moskaus einen Appell an den Bundestag, in dem sie ihn vor der Westintegration der Bundesrepublik warnte, weil dadurch die nationale Einheit verloren gehe. In der Regierungserklärung von Otto Grotewohl vom gleichen Tag erklärte dieser, dass deutsche Truppen in einer europäischen Armee "lediglich als ein Werkzeug in fremden Händen missbraucht werden, ähnlich wie die farbigen Truppen in Frankreich. Es gehe um die Ausnützung des deutschen Volkes und in erster Linie seiner Jugend im Interesse eines neuen Krieges, letztlich eines Bruderkrieges, in dem Deutsche gegen Deutsche kämpfen sollen." 49 Trotz aller Anstrengungen der DDR wurde das Abkommen über die Errichtung einer Montanunion am 18. April 1951 paraphiert und vom Bundestag am 11. Januar 1952 ratifiziert. Als Reaktion auf die Adenauer-Rede vor dem Deutschen Bundestag vom Vortag polemisiert eine Denkschrift des MfAA vom 12. Januar 1952 nochmals gegen die supranationalen Strukturen der Montan-Union:
46
AdG, 5.4.1951, S. 2893.
47 Vgl. zu dem Kalkül von Jean Monnet in dieser Frage Andreas Wilkens: Jean Monnet, Konrad Adenauer und die deutsche Europapolitik: Konvergenz und Dissonanzen (1950-1957), in: ders. (Hrsg. ): Interessen verbinden. Jean Monnet und die europäische Integration der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 1999, S. 73- 140, hier: S. 89; ders.: Jean Monnet, Konrad Adenauer et Ia politique europeenne de l'AIIemagne federale- Convergence et discordances (1950-1957), in: ders ./Gerard Bossut (Hrsg.): Jean Monnet, l'Europe et les ehernins de Ia Paix, Paris, Publications de Ia Sorbonne, 1999, S. 147-202. 48
AdG, 11.9.1951, S. 3110.
•• Vgl. AdG, 15.9.1951 . S. 3122.
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"Die Montan-Union bedeutet den Beginn der Beseitigung der nationalen Souveränität nicht nur des deutschen Volkes, sondern aller beteiligten Staaten. Wichtige Industriezweige werden der nationalen Verfügungsgewalt entrissen und einem so genannten übernationalen Organ, der Hohen Behörde, unterstellt."50
Weiterhin argumentierte die SED, dass der Schurnarr-Plan die Teilung Deutschlands vertieft habe, weil der Warenaustausch mit der DDR die Zustimmung der Hohen Behörde finden müsse, was sie zollpolitisch zum Ausland mache: "Durch die Unterzeichnung des Schuman-Planes und die Ratifizierung durch den Bonner Bundestag beging Adenauer erneut Landesverrat."51 Zur gleichen Zeit begannen im sowjetischen Außenministerium Vorbereitungen fiir eine Initiative, die auf den Sturz der Adenauer-Regierung durch die bundesdeutsche Bevölkerung abzielte. Die sowjetischen Politiker wa-ren überzeugt, dass ein erneuter Appell an den deutschen Nationalismus, die Hinwendung der Bundesrepublik zur westlichen Staatenwelt doch noch verhindem könnte. In den ersten Entwürfen zu der im März 1952 einsetzenden Notenoffensive wird dabei auch die Montan-Union als unzulässig bezeichnet, was Gerhard Wettig urteilen ließ, die von Moskau geplante Abkoppelung der Deutschen vom Westen verfolge nicht allein politisch-militärische Ziele, sondern visiere auch eine gesamtgesellschaftliche Umwälzung an. 52 Eine solche Entwicklung schlossen die Pläne Stalins zweifellos ein, in der damaligen Situation scheint mir die Erwähnung der Montanunion in den Vorgesprächen zur MärzNote jedoch eher Ausdruck des dogmatischen Denkens des Kreml-Chefs, der die westeuropäischen Integrationsbemühungen einzig unter der Prämisse einer militärischen Aufrüstung verstand. II. Europäische Integration versus "proletarischer Internationalismus" Der Vorschlag des französischen Außenministers Robert Schurnarr vom 9. Mai 1950 zu einer Europäischen Gemeinschaft fiir Kohle und Stahl und die sich daraus ergebende verstärkte Kooperation zwischen Bonn und Paris hatte filr die
50 Ausarbeitung des MfAA vom 12.1.1952 zur Adenauer-Rede vor dem Deutschen Bundestag anlässtich der Ratifizierung des Schuman-Plans am 12.1.1952, PNAA, Bestand MfAA, A 9689, BI. 2. 51 Ausarbeitung des MfAA vom 12.1.1952 zur Adenauer-Rede vor dem Deutschen Bundestag anlässtich der Ratifizierung des Schuman-Pians am 12.1.1952, PNAA, Bestand MfAA, A 9689, BI. 6.
52 Vgl. Gerhard Wettig: Bereitschaft zu Einheit in Freiheit ? Die sowjetische Deutschland-Politik 1945-1955, München, 1999, S. 209ff.
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Außen- und Sicherheitspolitik der Sowjetunion eine neue Herausforderung dargestellt. Der Gedanke an ein wiedererstarktes Deutschland im Zentrum Europas ließ bei dem in geografischen und territorialen Dimensionen denkenden KremlChef das nationale Trauma des Feldzuges "Barbarossa" wieder aufleben. Während die französische Deutschlandpolitik in den Nachkriegsjahren ebenfalls von einem Sicherheitsbedürfnis gegenüber dem östlichen Nachbarn und dem Willen zur Kontrolle seines politischen, wirtschaftlichen und militärischen Potentials geprägt war, bedeutete das Einschwenken der französischen Regierung auf eine Integrationspolitik die endgültige Abkehr von der Nachkriegsposition.53 Damit wurde Frankreich zu einem wichtigen Aktionsfeld der sowjetischen Außenpolitik, in deren Mittelpunkt weiterhin die "deutsche Frage" stand. Die Ausgangssituation fUr den Aufbau einer Massenbewegung gegen die Montanunion stellte sich im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten durchaus günstig dar. Zum einen zählten zum Kreis der Schumanplan-Gegner außer den Kommunisten und denen von ihnen angeleiteten Organisationen wichtige Gruppen der französischen Gesellschaft. Neben einer nicht geringen Anzahl französischer Industrieller, die die Konkurrenz des Auslands fiirchteten, 54 vom Marxismus geprägter Intellektueller, einflussreicher Vertreter der Mittelparteien widersetzten sich besonders die Gaullisten den supranationalen Integrationsplänen der Regierung. In der Forderung nach nationaler Unabhängigkeit - trotz aller unterschiedlichen Konzeptionen und Motivationen - ergaben sich Anknüpfungspunkte zwischen Kommunisten 55 und Gaullisten, die Schumans Projekt durch eine negative Opposition zum Scheitern zu bringen drohten. Die in den folgenden Monaten einsetzende vehemente und kontroverse innenpolitische Debatte innerhalb des kapitalistischen Lagers bestärkte die Kommunisten in der Richtigkeit ihrer Politik. Die sich aus Moskauer Sicht zuspitzende internationale Lage ließ es Stalin geboten erscheinen, die antiimperialistische Politik zur Verteidigung des Friedens und zur Stärkung des kommunistischen Lagers - unter Anleitung der KPdSU und der Kominform - nicht nur durch die kommunistischen Parteien in ihren jeweiligen Ländern fUhren zu lassen, sondern den Zusammenschluss der Bruderparteien unter der Parole des Proletarischen Internationalismus fiir die Umsetzung seines weltrevolutionären und globalen j J Vgl. Pierre Grosser: L' entree de Ia France en guerre froide, in: Serge Berstein/Pierre Milza (Hrsg.): L'annee 1947, Paris, 2000, S. 167-188. 54 Vgl. Neue Zllrcher Zeitung [NZZ], 11.6.1951. Der Status der Hohen Behörde war immer wieder Anlass filr Kontroversen zwischen den Schuman-Pian-Landem. Während die Bundesrepublik und Frankreich eher bereit waren, Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund zu stellen, um zu einer Einigung zu kommen, protestierten die Benelux-Staaten im Laufe der Verhandlungen wiederholt gegen eine mögliche "Diktatur" der Hohen Behörde; vgl. Ulrich I.Appenküper: Der Schuman-Pian. Mühsamer Durchbruch zur deutsch-französischen Verständigung, in: VfZ 42 (1994) 3, S. 403-445, hier: S. 418ff.
"Vgl. zu den Formen der nationalen Politik der PCF Stephane Courtois/Marc Lazar: Histoire du Parti communiste fran~ais, Paris, 1995, S. 273ff.
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Plans zu nutzen. 56 Dieses Vorgehen gehörte zu einer in sich widersprüchlichen Zick-Zack-Politik, bei der je nach Bedarf und Tagespolitik mal nationale, mal "intemationalistische" Argumente in den Vordergrund geschoben wurden. So stellten z.B. die kommunistischen Parteien in den westlichen Ländem57 bei gemeinsamen Veranstaltungen stets den "internationalen Klassenkampf' ins Zentrum der Agitation, um ein gemeinsames Vorgehen gegen den Schuman-Plan zu ermöglichen und divergierende politische Ziele zu übertünchen. 58 Auf dem Weg dorthin bedurfte es vielfach einer gewissen Anlaufzeit wie sich an der Zusammenarbeit zwischen PCF und SED zeigen lässt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren ihre Beziehungen nicht frei von Spannungen und geprägt von den Jahren der deutschen Besatzung Frankreichs sowie der Auffassung der PCF, auch die deutsche Arbeiterklasse trage Schuld an der Machtergreifung Hitlers und seinen Verbrechen. 59 Auch unter den französischen Kommunisten war die Kollektivschuldkrise der Deutschen in diesen Jahren weit verbreitet und ließ nur wenig Differenzierung zwischen Volk und Führung zu. Edgar Wolfrum weist darauf hin, dass die Anerkennung eines deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime die Fronten verwischt hätte: "Je geschlossener das ,Nazi-Volk' präsentiert wurde, um so eindrucksvoller ließ sich die historische Leistung der Franzosen - die Resistance und die Liberation des Vaterlandes herausstreichen." Auch wenn dieses dichotomische Weltbild in erster Linie den gaullistischen Geschichtsmythos beschreibt, so ließ sich diese Denkhaltung auch bei den Kommunisten fmden, die in dem simplen Credo "Le boche payera" gipfelte.60 Die KPD/SED wurde zur gleichen Zeit in der DDR nicht müde zu behaupten, die Arbeiterklasse sei dank ihres unermüdlichen Kampfes gegen die s6 Vgl. Jose Gotovitch u.a: L'Europe des communistes, Brüssel, 1992, S. 163ff. s7 Vgl. auch die vom Politbüro der SED im Dezember 1951 formulierte Erklärung ftlr die KPD in der Bundesrepublik, in der diese als Folge des Generalvertrages einen neuen Krieg heraufbeschwor und dem ,,Vasallen Adenauer" Verrat am deutschen Volk vorwarf(Anlage Nr. 4 "Erklärung der KPD zu den Pariser Verhandlungen Adenauers über den Generalvertrag" zum Protokoll Nr. 80/51 der Politbürositzung des ZK der SED vom 4.12.1951; SAPMO-BArch, DY 30/JV 2/2/180, Bl.59-65). Von gleichem Charakter war der Aufruf der SED "aus höchster nationaler Verantwortung" an alle Abgeordneten des Bundestages vom Januar 1952 (Anlage Nr. 2 "Der Inhalt des Generalvertrages" zum Protokoll Nr. 89/52 der Politbürositzung des ZK der SED vom 29.1.1952; SAPMO-BArch, DY 30/JV 2/2/189, Bl.7-27). so Durch die Anwesenheit aller kommunistischen Parteien der "Schuman-Plan-Lander" bei der oben angesprochenen Protestveranstaltung in DUsseldorf im Januar 1950 sollte der klassenkämpferische und nicht der nationale Charakter in den Vordergrund gestellt werden; vgl. Telegramme no 10 de Maurice Dejean au Departement du 7 janvier 1950; MAE, EU 44-60, ALL, 798, BI. 207.
s9 Vgl. Alain Lattard: Gewerkschaften und Arbeitgeber in Rheinland-Pfalz unter französischer Besatzung 1945-1949, Mainz, 1988, S. 295. 60 Edgar Woifrum : Frankreich und der deutsche Widerstand gegen Hitler 1944-1964. Von der Aberkennung zur Anerkennung, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der 20. Juli. Das »andere Deutschland(( in der Vergangenheitspolitik, Berlin 1998, S. 68-81 , hier: S. 72.
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Ideen des Nationalsozialismus geimpft gewesen und exkulpierte sie auf diese Weise. Diese divergierende Auffassung zur Verantwortung der Arbeiter sowie der nicht ausgeräumte Disput zur Rolle der KPD beim Abschluss des HitlerStalin-Pakts von 193961 ließ deutsche und französische Kommunisten anfangs auf Distanz. Zwar vermutete die PCF den "antifaschistischen Deutschen" eher in der DDR,62 doch sprechen das kurz und neutral gehaltene Glückwunschtelegramm der Pariser Parteizentrale zur Gründung der DDR fiir eine eher zurückhaltende Einstellung. 63 Ein neuer Interessengegensatz entstand aus den deutschlandpolitischen Zielen der SED. Während Ost-Berlin eine sozialistische DDR als Magnet fiir ein zukünftiges Gesamtdeutschland darstellte, herrschten im kommunistischen Milieu Frankreichs und in der Parteifiihrung große Zurückhaltung gegenüber derartigen Plänen. 64 Zwar sagte die PCF der SED am 19. Januar 1951 Unterstützung in ihrem Kampf fiir ein einiges pazifistisches und demokratisches Deutschland zu, 65 doch brauchte es in der Folge mehr als drei Jahre, bis beide Parteien ein gegen die Westintegration der Bundesrepublik gerichtetes "Kampfbündnis" schlossen, 66 das jedoch nur auf dem Papier bestand. Zu einer wirklichen Zusammenarbeit zwischen beiden Parteien kam es erst verstärkt ab 1957, als sich im Mai ihre Vertreter auf Vermittlung Moskaus in Ost-Berlin trafen, um die Propagandamaßnahmen gegen die Aufrüstung der Bundesrepublik stärker aufeinander abzustellen.67 An der Basis der PCF und besonders in der Provinz, so stellte der französische Hochschullehrer Jacques Nieolle - selber kein Kommunist - in einem Gespräch mit einem Vertreter der ostdeutschen "Gesellschaft ftlr kulturelle Verbindungen mit dem Ausland" im gleichen Jahr fest, würden er und seine Freunde "keine genügende Unterstützung durch die Genossen erhalten. Er schilderte einige Versammlungen in der Provinz, in denen Mitglieder der KPF allgemein gegen jede Information oder Aktivität, von deutscher Seite sind [... ]. Nieolle sagte, dass von Persönlichkeiten, die der KPF 61 Vgl. Hans-Albert Waller: Das Pariser KPD-Sekretariat, der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt und die Internierung deutscher Emigranten in Frankreich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, in: VfZ 36 ( 1988), S. 483-528.
62
Vgl. L'Humanite, 24.7.1950.
63
Vgl. «La Republique democratique d'Ailemagne est nee »; L'Humanite, 8.10.1949.
.s. Vgl. Mare Lazar: Communisme fran~ais et communisme international, in: Serge Berstein/Pierre Milza (Hrsg.): L'annee 1947, Paris 2000, S. 357-372. 65 L ' Humanite, 19.1.1951. Im Neuen Deutschland wurde dieser Artikel am 14. Marz 1951 abgedruckt.
66
Vgl. Neues Deutschland, 27.1.1953.
67 Vgl. Ausarbeitung des Informationsboro West vom 25 .5.1957 zu den Besprechungen SED-KPF; AdsD, SPD-Ostboro, 0397m.
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nicht angehören, eine bessere und wirksamere Arbeit zur Popularisierung der DDR durchgeführt werde, selbst gegen den Widerstand der Funktionäre der KPF."6s Obwohl auch die Beziehungen zwischen dem ostdeutschen FDGB und der kommunistischen französischen Gewerkschaft CGT von den gleichen Problemen belastet waren, 69 bestanden durch ihre gemeinsame Arbeit in dem von Moskau angeleiteten Weltgewerkschaftsbund (WGB) 70 ausgedehntere Kontakte, durch die bestehende Ressentiments zum Teil in den Hintergrund getreten waren.71 Die Konzentration des gemeinsamen Kampfes gegen die Westintegration auf die Massenorganisationen bot verschiedenen Vorteile. Zum einen gehörten FDGB wie CGT mittlerweile wieder zu den größten gesellschaftlichen Organisationen ihres Landes und standen im unmittelbaren Kontakt zu Millionen von Menschen in ihren Ländern. 72 Zum anderen verwischte ihre hervorgehobene Stellung in der Agitation gegen den Schuman-Plan die Einflussnahme der Parteifiihrungen und machte zudem die aus den unterschiedlichen deutschlandpolitischen Positionen herrührenden Widersprüche weniger offenbar. Eine Mischung aus antimilitaristischen, antifaschistischen und klassenkämpferischen Parolen73 stellten die 68 Vgl. Aktennotiz über ein Gespräch zwischen Prof. Jacques Nieolle und Kurt Heiss vom 28.11.1957; SAPMO-BArch, NY 4062/111, BI. 15-18.
69 Der Hitler-Stalin-Pakt hatte auch innerhalb der CGT zu Spaltungstendenzen gefilhrt, nachdem aus ihrer Führung die Kommunisten ausgeschlossen worden waren. Erst nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion wurde die Einheit wiedergefunden (Denis Bonvalot: La politique et l'activite internationale de Ia CGT, in: Guillaume Devin (Hrsg.): Syndicalisme : Dimensions internationales, La Garenne-Colombee, 1990, S. 381-404, hier: S. 382). 70 Horst Lademacher/Jürgen C. Hess/Herman J. Langeveld/Henk Reitsma: Der Weltgewerkschaftsbund im Spannungsfeld des Ost-West-Konflikts, in: Archiv filr Sozialgeschichte 18 (1978), S. 119-216; Rene Mouriaux: La Federation syndicale mondiale (FSM). De 1945 ä 1990, in: Guillaume DEVIN (Hrsg.): Syndicalisme : Dimensions internationales, La Garenne-Colombee, 1990, s. 101-122.
71 Die relativ kurzen Glückwünsche der CGT an ihre ostdeutschen Genossen anlasslieh der Gründung der DDR sprechen filr distanzierte Beziehungen; Glückwunschtelegramm der CGT an den FDGB anlasslieh der Gründung der DDR (22.1 0.1949), in: Frieden - Sozialer Fortschritt - Solidarität 35 Jahre Kampfbündnis FDGB - CGT. Dokumente, Berlin (DDR), Verlag TribUne Berlin, 1985, S. 98f. Vgl. zu Kontakten von vor 1949 auch SAPMO-BArch, DY 34/ 13/243/2328. 72 In seiner Selbstkritik, die der PCF-Führer Maurice Thorez auf der Sitzung des Zentralkomitees seiner Partei am 29./30. Oktober 1947 präSentierte, erwähnte er u.a., dass die Politik der PCF in der Vergangenheit zu sehr von der Spitze bestimmt worden sei, dabei jedoch die Bemühungen um eine einige hinter den Parteibeschlossen stehende Basis vernachläSsigt worden seien; vgl. S. Courtois/M Lazar (Anm. 57), S. 267.
73 Vgl. als charakteristisches Beispiel filr diese Politik folgende Sätze des PCF-Mitglieds, Pierre Villon, bei einer Veranstaltung gegen das Ruhrstatut am 7. Januar 1950 in Düsseldorf: « Le statut de Ia Ruhr procedait de Ja meme idee que l'occupation de Ia Ruhr il y a 27 ans; que dans l'une et dans l'autre experience, il s'agissait d'une tentative de constituer un trust international des industries lourdes, en 1923, sous Ia direction du capitalistes (sie!) fran,.:ais, maintenant sous celle des
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gemeinsamen "essentials" dar, welche die Zusammenarbeit zwischen CGT und FDGB in den nächsten Jahren ermöglichten und die prononciert nationale Haltung im eigenen Land kaschierten. In Frankreich zählte die CGT weiterhin zu den heftigsten Verfechtern der "independance nationale", 74 in der DDR erfiillte der FDGB die Funktion des Transmissionsriemens im Jeninsehen Sinne und war Teil der aus Moskau vorgegebenen und durch die SED umzusetzende Politik der "Nationalen Front", die im Februar 1950 zur "Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedlichen und unabhängigen Deutschlands" aufgerufen hatte. 75 Entsprechend den Vorgaben der SED-Westkommission zur Intensivierung der Wiedervereinigungspolitik gehörte es zu den Auf~aben des FDGB, die Einheit der deutschen Gewerkschaftseinheit zu schaffen. 6 Die aus ihrer "nationalen" Innenpolitik herrührenden Interessengegensätze wurden unter den Tisch fallen lassen. So weist die NZZ in ihrer Ausgabe vom 21. Juni 1950 auf die Ausklammerung der Saarfrage in dem "Kampfbündnis" hin und spricht von einem stillschweigenden Verzicht des FDGB bzw. der SED auf das Saarland. Der Einsatz gegen die europäische Integration war außerdem Ausdruck fiir eine Entwicklung in der Gewerkschaftsbewegung, die bereits seit 1945 zu erkennen war und sich in ihrer veränderten Grundhaltung ausdrückte. Sie trat nun auch als Akteur auf internationaler und transnationaler Ebene in Politikfeldern auf, die traditionell jenseits aller gewerkschaftlichen Aktionsmöglichkeiten lagen. Es bedurfte aber wohl auch hier des Drucks Moskaus, damit Vertreter der beiden Gewerkschaftsorganisationen sich am 14./15. Juni 1950 in Berlin unter der Regie der jeweiligen Parteileitungen trafen und "eine wirksame Zusammenarbeit der französischen und deutschen Arbeiterklasse fiir die Erringung eines festen und dauerhaften Friedens, fiir den Kampf gegen die Wiedergeburt des Faschismus und fiir die Verteidigung der Lebensinteressen der Arbeiterschaft" vereinbarten.77 In dem bereits am 13. Juni im SED-Politbüro beschlossenen Ab-
capitalistes americains qui voulaient realiser non pas les Etats-Unis d' Europe mais une Europe des Etats-Unis, entierement soumise leur exploitation [...] »; Telegramme n° II de Humbert au Departement du 9 janvier 1950; MAE, EU 44-60, ALL, 798, BI. 208.
a
74 Michel Drey.fus : Histoire de Ia CGT. Cent ans de syndicalisme en France, BrUssel, 1995, S. 246ff. 7j Text in: Programmatische Dokumente der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands, hrsg. und eingel. von Helmut Neej, Berlin, 1967, S. 102-118, hier: S. 102.
76 Vgl. Josef Kaiser: "Der politische Gewinn steht in keinem Verhältnis zum Aufwand". Zur Westarbeit des FDGB im Kalten Krieg, in: Jahrbuch flir Historische Kommunismusforschung 1996, Berlin, 1995, S. 106-13J, hier: S. 109f. 77 Anlage Nr. 3 zum Protokoll Nr. 94/50 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 13.6. 1950; SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2/94, BI. 6; Telegramme no 2907 de M. Andre Fran~ois Poncet au Ministere des Affaires etrangeres du 20 juin 1950; MAE, EU 44-60, ALL, 685, BI. 4.
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kommen78 riefen beide Gewerkschaftsorganisationen zum Kampf gegen den "Schuman-Adenauer-Plan", gegen den Marshall-Plan sowie die NATO auf. Sie sahen im Schuman-Plan79 ein wichtiges Element in den "Kriegsvorbereitungen der Imperialisten" fiir die "profitbringende Ausnutzung der französischen und westdeutschen Schwerindustrie im Interesse des amerikanischen Monopolkapitals auf Kosten der Arbeiter beider Länder". In immer neuen Variationen wurde in der Folge auf die desaströsen Konsequenzen fiir den Arbeitsmarkt hingewiesen. CGT und FDGB gingen von einer massiv steigenden Arbeitslosenquote aus und prognostizierten ein Heer billiger Arbeitskräfte, das von den Industriemonopolen ausgebeutet werde. Der gemeinsame Kampf gegen den Schuman-Plan fiihrte in der Folge zu einem gesteigerten Austausch auf Führungsebene, worauf die seit 1950 ansteigende Zahl von Reisen leitender CGT-Funktionäre zu schließen scheint, die über die Schweiz oder die CSSR zu Gewerkschaftsveranstaltungen in der DDR kamen. Dieses zu diesem Zeitpunkt entstehende Beziehungsnetz entwickelte sich in der Folge zu einem der tragenden Elemente in den Kontakten zwischen der DDR und Frankreich. Aufenthalte französischer Gewerkschaftler wurden von DDRSeite genutzt, das "Kampfbündnis" durch die jeweiligen Einzelgewerkschaften, Landesverbände, verschiedenen Betriebe und die Massenorganisationen wie die FDJ zu bekräftigen und eine gezielte Pressekampagne zu starten sowie Demonstrationen, Streiks und selbst Sabotageaktionen zu organisieren. 80 In den nachfolgenden Monaten wurden auf der Basis dieses Abkommens von vierzehn Industriegewerkschaften Frankreichs und der DDR zusätzliche "Kampfabkommen" abgeschlossen, in denen fiir den jeweiligen Sektor Ergänzungen und Konkretisierungen vorgenommen wurden. 81 So hoben z.B. die Arbeiter der chemischen Industrie in ihrem Abkommen hervor, dass der Schuman-Plan über die Sektoren Kohle und Stahl hinausgehe und der Bundesrepublik ermögliche, Giftgas und Raketentreibstoff zu produzieren. Die Postgewerkschaften beschlossen das Abfangen von Paketinhalten, die der Kriegsvorbereitung dienen könnten 78 Vgl. auch Anlage Nr.l7 "Für das Kampfbündnis der deutschen und französischen Gewerkschaften gegen den Schumanplan" zum Protokoll Nr. 95/50 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 20.6.1950; SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2/95, BI. 95. 79 Vgl. zur Reaktion der CGT auf den Schuman-Pian M. Dreyfus (Anm. 76), S. 290f.; Denis Bonvalot: La politique et l'activite internationale de Ia CGT, in: Guillaume Devin (Hrsg.): Syndicalisme: Dimensions internationales, La Garenne-Colombee, 1990, S. 381-404, hier: S. 393.
80 Telegramme no 235 du General Ganeval au MAE du 12 aofit 1950; MAE, EU 44-60, ALL, 758, BI. 12-14; SAPMO-BArch, DY 34113/196/2059; DY 34113/241/2327. · 81 Vgl. den kurzen Überblick über die wirtschaftliche und politische Lage in Frankreich und die Gewerkschaftsbewegung von 1955: "Der gemeinsame Kampf der deutschen und französischen Arbeiterklasse gegen die Kriegsvorbereitungen der USA-Imperialisten und westdeutschen Militaristen"; SAPMO-BArch, DY 34/13/494/3161; Lesematerial zum 4. Jahrestag des Kampfbündnisses des CGT und FDGB; SAPMO-BArch, DY 34/13/475/3160; Frieden - Sozialer Fortschritt Solidaritat. 35 Jahre Kampfbündnis FDGB- CGT. Dokumente, Berlin (Ost), 1985, S. lOOfT.
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und riefen zu Störaktionen gegen Telefone, Telegrafen und Radios mit militärischen Zielen auf. 82 Ostdeutsche Lehrer und ihre französischen Kollegen von der CGT wollten Friedenskomitees in den Schulen gründen, um die Benutzung von militaristischen und antisozialistischen Bücher zu verhindem und organisierten Versammlungen zur Verhinderung eines Krieges gegen die UdSSR. 83 Wichtigstes Ziel war es dabei immer, eine Aktionseinheit von französischen und deutschen Arbeitern auszulösen, die Druck auf die jeweiligen Regierungen ausüben sollten, um die westeuropäische Integration zum Scheitern zu bringen. In der Anfangszeit ist auf unterer Ebene jedoch nur von schüchternen Kontakten auszugehen. Die von CGT- und FDGB-Seite immer wieder als großer Erfolg dargestellte gemeinsame Aktion von Hafenarbeitern in beiden Ländern, die sich im Rahmen der gegen den Schuman-Plan beschlossenen Maßnahmen weigerten, Rüstungsgüter in deutschen und französischen Häfen zu laden bzw. zu löschen,84 hatte in der Realität wohl nur bescheidene Ausmaße und fand weder in der französischen noch in der westdeutschen Öffentlichkeit ein großes Echo.85 Der parteiliche Duktus des folgenden Schreibens des VEB Zuckerfabrik Anklam vom 21. Juni 1950 spricht eher dafiir, dass es immer wieder der Anleitung und des Anstoßes durch SED bzw. FDGB bedurfte, um Beziehungen zwischen ostdeutschen Betriebe und französischen Arbeitern aufzunehmen: "Es ist uns bewusst, dass in einem kommenden Krieg das deutsche und französische Volk die schwerste Last zu tragen hat, deshalb grüßen wir die französischen Arbeiter und verpflichten uns, Komitees zu Verteidigung des Friedens zu organisieren."86 Das "Kamptbündnis" zwischen FDGB und CGT ist jedoch nicht alleine vor dem Hintergrund des Schuman-Plans zu verstehen, sondern war Teil der Systemauseinandersetzung der beiden antagonistischen Lager seit Ausbruch des Kalten Kriegs 1947. Die KPdSU hatte in der Zwischenzeit ihren Westapparat bedeutend ausgebaut und sich durch die Gründung der Kominform ( 1947) ein Instrument geschaffen, durch das der Einfluss auf die Politik der kommunistischen Parteien erheblich ausgedehnt werden konnte. Im Umfeld dieser Strukturen waren weitere Organisationen entstanden, die mehr und mehr unter sowjetischen Einfluss gelangten und sich zum Sprachrohr der Politik Moskaus entwickelten. Ziel dieser 82 Telegramme chiffre envoye de Berlin par Jean de Noblet le 17 fevrier 1951; MAE, EU 44-60, ALL, 568. 83
Le Monde, 26.9.1950.
84
ADN, 19.6.1950, in: AdG, 19.6.1950, S. 2443.
85 Vgl. Chantal Metzger: La politique frant;aise de Ia Republique Democratique Allemande 19491955, in: Jean-Claude Allain (Hrsg.): Des etoiles et des croix: melanges offerts a Guy Pedroncini, Paris, 1995, S. 441-450, hier: S. 444.
116 Schreiben der VEB Zuckerfabrik Anklam an den BV des FDGB vom 21.6.1950; SAPMOBArch, DY 34/13/19812059.
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halboffiziellen Verbände war die Popularisierung der kommunistischen Ideologie und die Formierung einer Massenbewegung in ganz (West-) Europa. Neben den kommunistischen Gewerkschaften gehörte zu diesem Netz auch die Friedensbewegung (Mouvement pour Ia Paix), die durch ihre Aktionen die westlichen Regierungen von dem Ziel abbringen sollte, die Integration des westlichen Bündnis unter Einschluss der Bundesrepublik voranzutreiben und zu diesem Zweck seit 1948 immer wieder neue "Friedensinitiativen" auf den unterschiedlichsten Niveaus startete. 87 Wenige Wochen vor Bekanntgabe des Schuman-Plans, am 10. März 1950, war es zu einem ersten Höhepunkt gekommen, als eine europäische Friedensbewegung unter Führung der kommunistischen Parteien von Stockholm einen Appell zum Verbot von Atomwaffen veröffentlichte und eine Unterschriftenaktion startete, die jedoch gerade in kapitalistischen Ländern nicht den Erfolg fand, den die Organisatoren erwartet hatten.88 CGT und FDGB hatten diese Friedensbewegung immer unterstützt,89 konzentrierten sich in den folgenden Jahren jedoch in erster Linie auf die Auseinandersetzung zwischen den Gewerkschaften kommunistischer bzw. demokratischer Richtung. Auf internationaler Ebene fand diese Systemaus-einandersetzung ihren Ausdruck in der Abspaltung des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) (7.12.1949) von dem 1945 gegründeten WGB. In Frankreich ließ die unterschiedliche Reaktion zum Schuman-Plan das Schisma der Gewerkschaftsbewegung wieder virulent werden und die alten Grabenkämpfe erneut aufflammen. Leon Jouhaux, der 1947 die CGT verlassen und mit seinen Anhängern Force Ouvriere (FO) gegründet hatte, unterstützte die Initiative des französischen Außenministers und distanzierte sich mit dieser Position demonstrativ von der ablehnenden Haltung der CGT. In Deutschland wies der Gründungskongress des DGB in München vom 12. bis 14. Oktober 1949 mit Nachdruck auf den endgültigen Bruch in der deutschen Gewerkschaftsbewegung hin.90 Der FDGB-Vorsitzende Herbert Warnke warf Hans Böckler, Vorsitzender 87 Vgl. Marie-Pierre Rey: L'URSS et Ia securite europeenne 1953-1956, in: Communisme 49-50 (1997), S. 121-135, hier: S. 122f 88 Vgl. Louis Saillant: Faire retenir partout Ia Voix de Ia Paix, in: Le Mouvement Syndical Mondial 10 (5 octobre 1950), S. 1-4. GOnter Wernicke weißt daraufhin, dass es zwischen den verschiedenen Friedensbewegungen in Ost und West zwar einen grundlegenden Konsens gab, der in der Verhinderung eines atomaren Weltkrieges und im Abbau der Spannungen zwischen den Militärblöcken bestand, dass der immanente politische Führungsanspruch der Kommunisten und ihre politisch-moralische Dogmatik bzw. die Kommunistenangst im Westen schließlich aber zu einem paralysierenden Differenzierungs- und Aufspaltungsprozess ftlhrte; Günter Wernicke: Verbündete oder Rivalen? Einige Bemerkungen zur Diskussion über die Friedensbewegung im Kalten Krieg, in: Beitrage zur Geschichte der Arbeiterbewegung 41 ( 1999) 3, S. 62-77. 89
Vgl. M Dreyfus (Anm. 76), S. 290f
90 Vgl. Michael Schneider: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfllngen bis heute, Bonn, 1989, S. 254ff.
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des DGB und Vizepräsident des IBFG, im März 1950 in einen Topf mit Aderrauer und bezeichnete beide als Handlanger der anglo-amerikanischen Imperialisten. 91 So scheint es mehr taktischer Natur gewesen zu sein, dass der ostdeutsche Gewerkschaftsbund am 10. Mai 1950 ein Schreiben an den oben noch verunglimpften Hans Böckler richtete, in dem er vor der durch den Schuman-Plan ausgelösten Kriegsgefahr warnte und eine gemeinsame Aktion zum Verbot der Atombombe vorschlug. Böckler ignorierte den Vorschlag des FDGB, verweigerte jegliche Kontakte auf Führungsebene und unterstützte ebenso wie Jouhaux die europäischen Integrationsbemühungen. Die ostdeutsche Gewerkschaft mit Unterstützung der CGT setzte daraufhin ihre Diffamierungspolitik fort. Unter Anleitung des WGB warfen CGT und FDGB beiden Revisionisten vor, die Arbeiter zu täuschen und sich an der "Kriegshetze" der Regierungen in Paris und Bonn zu beteiligen.92 Durch die Gründung der Internationale jaune hätten sie die Kräfte der Gewerkschaftsbewegung geschwächt und würden nun Arm in Arm mit den "Imperialisten" arbeiten. 93 Als eine Reaktion auf eine gemeinsame Veranstaltung von DGB und CGT-FO im September 1950 in Düsseldorf zur Unterstützung des Schurnarr-Pians schrieb Louis Saillant: "Ils argumentent comme le faisait Goebbels quand il voulait justifier Ia guerre dite civilisatrice de Hitler contre !es peuples sovietiques."94 Weil es dem FDGB nicht gelang, die Leitung des DGB zu einer gemeinsamen Haltung zum Schurnarr-Plan zu bewegen, konzentrierte sie sich wieder auf die Basis und verschickte Flugblätter an die westdeutschen Arbeiter und alle Abteilungen des DGB gegen die Politik ihres Vorsitzenden. 95 Durch die Herstellung von persönlichen Kontakten zu westdeutschen Arbeitern und Gewerkschaftlern sollte nicht allein gegen die Politik der Bundesregierung gekämpft werden, wichtiger Aspekt dabei war ebenfalls, die Legitimation des DGB bei seinen Mitgliedern zu erschüttern. Dieser Kampf war sicherlich nicht von Beginn an aussichtslos, wie die einsetzende Diskussion innerhalb der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung zeigte, in der die Westernisierer anfangs noch eine 91 Bericht vom 21.3.1950 über die Besprechung mit den Vertretern der SchwerpunktIndustriegewerkschaften des Büros filr deutsche Gewerkschaftseinheit am 20.3.1950; SAPMOBArch, DY 34, vorl. 26/-1277. 92 Vgl. Documents a l'Appui: Le «Plan Schuman » acemit les dangers de guerre, in: Le Mouvement Syndical Mondial6 (juin 1950), S. 6-10. 93 Vgl. Aspects de Ia Lutte pour Ia Paix en Allemagne, in: Le Mouvement syndical Mondial 8-9 (aoilt-septembre 1950), S. 8-10.
94 Louis Sai//ant: Faire retenir partout Ia Voix de Ia Paix, in: Le Mouvement Syndical Mondial 10 (5 octobre 1950), S. 4. 95 Vgl. Aspects de Ia Lutte pour Ia Paix en Allemagne, in: Le Mouvement Syndical Mondial 8-9 (aofit-septembre 1950), S. 8-10.
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Außenseiterrolle bekleideten. Dem DGB gelang es in der Folge aber, alle tatsächlichen und vermeintlichen kommunistischen Unterwanderungstendenzen seitens des FDGB zu verhindern, reagierte mit Gegenmaßnahmen und organisierte Abwehraktionen, so dass die Zahl der Kontakte zwischen gewerkschaftlich organisierten Arbeitern aus der Bundesrepublik und der DDR nur sehr gering war. In den 50er Jahren wurden über 600 Gewerkschaftler wegen gewerkschaftsschädigenden Verhaltens aufgrund ihrer KPD-Mitgliedschaft aus dem DGB ausgeschlossen. JosefKaiser kommt zu dem Schluss, dass das scharfe Vorgehen der westdeutschen Gewerkschaften das negative Image der kommunistischen Gewerkschaftsarbeit verstärkt und die Einflussmöglichkeiten der ostdeutschen Seite geschmälert habe. 96 Um trotz dieser erschwerten Bedingungen Einflussmöglichkeiten auf die westdeutsche Gewerkschaftsbasis zu bekommen, war der Kontakt des FDGB zur CGT von außerordentlicher Bedeutung. Der Umweg über Frankreich gestattete der ostdeutschen Gewerkschaft, selber nicht in exponierter Position auftreten zu müssen. Nach außen konnten die französischen Genossen bei der Organisation der "machtvollen Bekenntnisse der Arbeiter" gegen die "Kriegspläne" des Westens die dominierende Rolle spielen und das Zustandekommen von so genannten "Friedenskomitees" in westdeutschen Betrieben anleiten. Mobilisierend fiir ganz Europa sollte die Organisation einer Versammlung der Metallarbeiter aus den Schuman-Plan-Ländem wirken. 97 Doch erst im folgenden Jahr (22.-25. März 1951) kam es zu einer Konferenz europäischer Arbeiter in Ost-Berlin. Nachdem es in der Zwischenzeit zu keiner schweren Wirtschaftskrise gekommen war - so wie es die kommunistischen Gewerkschaften vorausgesagt hatten -, beschränkte sich die Agitation im Vorfeld des Kongresses einzig auf den "faschistischen und militaristischen" Charakter des Schuman-Pians. Um den FDGB in seiner Arbeit gegen die "Kriegshetzer" in Westdeutschland besser unterstützen zu können, gründeten die Teilnehmer ein Komitee der europäischen Arbeiter gegen die Remilitarisierung der Bundes-republik. Dieses sollte die Aktionen der Arbeiter in Europa koordinieren und hatte seinen Sitz in OstBerlin. An dieser Konferenz nahmen nach Angaben des WGB 894 Delegierte aus Betrieben und Gewerkschaftsorganisationen teil. Dabei sollen 378 aus der Bundesrepublik, 55 aus der DDR, 28 aus Berlin und 143 aus Frankreich gekommen sein, was im westeuropäischen Vergleich die mit Abstand stärkste Delegation darstellte. Unter den Teilnehmern befanden sich u.a. Herbert Warnke, Louis Saillant und der Generalsekretär der CGT und Vizepräsident des WGB,
96
J. Kaiser (Anm. 78), S. 130.
97 Vgl. Schreiben des Zentralvorstands der Gewerkschaft Bühne, Film, Musik, Artistik an den Bundesvorstand des FDGB, Abt. Internationale Verbindungen vom 9.8.1950; Bericht der Abt. Internationale Verbindungen des FDGB vom 31.7.1950 über die Kampagne zur Auswertung des Kampfbündnisses des CGT und des FDGB; SAPMO-BArch, DY 34/13/26112331.
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Alain Le Leap. 98 Der WGB machte es sich in der Folge zur Aufgabe, die Aktionen der französischen und deutschen Arbeiter gegen die europäische Integration zu steuem. 99 Obwohl der FDGB versuchte, der Veranstaltung einen pluralistischen Anstrich zu geben und die Beteiligung der verschiedenen Strömungen in der Gewerkschaftsbewegung betonte, scheinen die Versuche, der Protestbewegung eine europäische Dimension zu geben, doch weitgehend gescheitert zu sein. 100 Weder FDGB in Deutschland noch CGT in Frankreich gelang es, die erhitzte politische Atmosphäre in den beiden Ländern in diesem Jahr 1951 zu nutzen. Ihre Aktionen fanden nur bescheidene Resonanz und blieben auf das kommunistische Milieu beschränkt. Um den gemeinsamen Kampf auf breite Grundlage zu stellen, bemühte sich der FDGB im Januar 1952 unter Berufung auf das "Kamptbündnis" mit der CGT um eine "breite Freundschaftsaktion zwischen dem deutschen und dem französischen Volk." In dem Beschluss heißt es:
"Es kommt darauf an, dem französischen Volk zu zeigen, dass alle friedliebenden Menschen Gesamtdeutschlands bereit sind, mit dem französischen Volk in Frieden und guter Nachbarschaft zu leben, und es kommt weiter darauf an, allen Menschen zu zeigen, dass das französische Volk nicht für den Schuman-Plan und die Kriegsvorbereitungen einer Regierung ist, sondern für Frieden und Freundschaft mit allen Völkern. " Diese Aktion "Festigung der deutsch-französischen Freundschaft" sollte der Auftakt ftlr ständige Verbindungen und ständigen Austausch sein und sich über das ganze Jahr erstrecken. Zur Durchführung plante der FDGB die Gründung eines Komitees, dem die Gewerkschaft Kunst, die FDJ, 101 die Nationale Front, das Deutsche Arbeitskomitee, der Kulturbund, der Demokratische Frauenbund 9s Vgl. Resolutions adoptees par le Conseil General de Ia FSM contre Ia repression des libertes democratiques en Allemagne occidentale, session du Conseil General a Berlin du 15 au 21 novembre 1951; Rapport generat d'activite de Ia FSM, tome II, session du conseilgenerat ä Berlin du 15 au 21 novembre 1951; CCA, 2 es 9, 4; vgl. auch den Artikel von Alain Le Leap: La Iutte des peuples contre le rearmement de I'AIIemagne de I'Ouest, in: Le Mouvement Syndical Mondial5 (5 mars 1951), S. 9-17. 99 Resolution du Comite executif de Ia FSM lors de sa session ä Berlin du 15 au 21 novembre 1951; CCA 2 es 13, 3. 100 Vgl. den vom FDGB ausgearbeiteten Bericht zum Tagesordnungspunkt "Der Kampf gegen die Remilitarisierung Deutschland" zur Sitzung des Bureau executifde Ia FSM am 2.-6.7.1951 in Wien; CCA, 2Csl7. 101 1953 vereinbarte die FDJ mit ihren französischen Partnern ein Kampfbündnis gegen die Pariser Vertrage und die Remilitarisierung Westdeutschlands, das jedoch nur auf dem Papier bestand und inhaltslos blieb; vgl. Analyse der Hauptabteilung I -Abt. Westeuropaische Lander-im MfAA über bestehende Verbindungen und Kontakte zwischen der DDR und der Republik Frankreich vom 20.8.1955; PNAA, Bestand MfANA 12056, BI. 27.
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Deutschlands (DFD) sowie Vertreter des DFD und der Nationalen Front aus Westdeutschland angehören sollten. 102 Über den Erfolg dieser Aktion liegen keine weiteren Aussagen vor, da das Komitee jedoch keine weitere Erwähnung in der Folge findet, kann davon ausgegangen werden, dass seine Wirkung nicht den gesteckten Zielen entsprach. Obwohl nicht zu dem oben genannten Komitee gehörend, spielte die Gruppe der ehemaligen Widerstandskämpfer und KZ-Insassen auf französischer und deutscher Seite von Anfang an eine wichtige Rolle im Kampf der SED gegen den Schuman-Plan. Die heterogene Struktur dieses antifaschistischen Milieus rechtfertigt ihre Subsumierung unter den "proletarischen Internationalismus" nicht. Erst das besondere Verständnis der SED, die Arbeiterklasse mit ihrer marxistisch-leninistischen Partei an der Spitze sei Träger des Antifaschismus, erklärt diese Einteilung. Die Taktik der SED, sozialistische Veränderungen als "antifaschistisch" zu kennzeichnen, war Teil ihres Bündniskonzepts, das antisozialistische Widerstände lähmen und ihre Herrschaft stabilisieren sollte. Im Rahmen dieses Prozesses der "Stalinisierung" der SBZ/DDR reduzierte sie den antifaschistischen Kampf gegen das NS-Regime auf den kommunistischen Widerstand und hatte 1947/48 die Unterscheidung zwischen "echten" Widerständlem/Antifaschisten (Kommunisten) und "falschen" Hitlergegnem (Bürgerliche) eingefilhrt. Letztere hätten nur Widerstand geleistet, um dem NS-Regime seine terroristischen Spitzen zu nehmen, dabei jedoch auf die Erhaltung der "imperialistischen Klassenherrschaft" gezielt. 103 Durch die Aufkündigung des antifaschistisch-demokratischen Konsenses degenerierte dieser Antifaschismus infolge seines selektiven Charakters zu einem Instrument der Machtsicherung und konnte zur Ausschaltung politischer Gegner in der SBZ/DDR und in der Propaganda gegen die westdeutschen Eliten benutzt werden, wie Olaf Groehler zutreffend formuliert: "Wer das Erbe des Widerstandes gegen Hitler filr sich reklamierte und vorgab, es zu repräsentieren, konnte damit einen politischen Führungsanspruch im Nachkriegsdeutschland geltend machen." 104 Während der bisher dargestellte Aspekt des SED-Antifaschismus Teil der "nationalen" Politik um die Führung in Deutschland war, instrumentalisierte die SED den Antifaschismus in ihrer Politik gegen die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis nun auch bei der Suche nach Partnern über die 102 Vgl. Beschlussvorlage des Büros flir Internationale Verbindungen des FDGB vom 22. 1.1952; AdsD, SPD-Ostbüro, 0386, BI . 103 Vgl. Jnes Reich/Kurt Fink/er Reaktionäre oder Patrioten? Zur Historiographie und Widerstandsforschung in der DDR bis 1990, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der 20. Juli. Das "andere Deutschland" in der Vergangenheitspolitik, Berlin, 1998, S. 158-178, hier: S. 160. 104 0/af Groeh/er: Verfolgten- und Opfergruppen im Spannungsfeld der politischen Auseinandersetzungen in der SBZ und DDR, in: Jürgen Danye/ (Hrsg.): Die geteilte Vergangenheit: Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin, 1995, S. 17-30, hier: S. 18.
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deutschen Grenzen hinweg und besonders nach Frankreich. Sie konnte dabei von dem gemeinsamen Kampf deutscher Kommunisten und französischer Resistancekämpfer gegen das nationalsozialistische Deutschland, dem gemeinsamen Leiden in den Konzentrationslagern und der sich anschließenden Erirmerungskultur profitieren. Die antifaschistische Vergangenheit führender SED-Politi-ker galt als lebendiger Beweis für eine gelungene "antifaschistisch-demokratische Umwälzung" und sollte das Bild des "besseren" Deutschlands fördern. Die SED nutzte dabei den echten und ehrlichen antifaschistischen Impuls vieler Opfer nationalsozialistischer Gewalttaten und den eigenen Charakter dieser Beziehungen, "der im gemeinsamen Gedenken, im gemeinsamen Sich-Erinnern seinen Ausdruck" fand 105, wie Fritz Klein anschaulich darstellt:
"Die antifaschistische Grundorientierung dort stand für viele fest, die den Nationalsozialismus ablehnten - auch für Leute, die dem sich herausbildenden politischen System in Ostdeutschland kritisch gegenüberstanden. Der ,gewöhnliche' Antifaschist sah sich in einer Gesellschaft, die laut und eindringlich die radikale Überwindung der faschistischen Herrschaft als ihr Ziel bezeichnete, auf dessen Verwirklichung zahlreiche Bestrebungen und Maßnahmen in Politik und Kultur, Volksbildung und Wissenschaft gerichtet waren. "106 Während das bindende Glied zwischen dem deutschen und französischen Widerstandsmilieu die gemeinsamen Erfahrungen in der Vergangenheit waren, lenkte die SED dieses Mobilisierungspotential auf die Gegenwart bzw. die Zukunft, um das antifaschistische Argument gegen die westdeutsche Konkurrenz zu wenden. Dabei bildete der Bezug auf die zwölf Jahre des Dritten Reiches zwar den Ausgangspunkt und das zentrale rhetorische Element im offiziellen Diskurs, indem die Antifaschismuspropaganda nun aber vornehmlich auf den Ost-WestGegensatz konzentriert wurde, erfuhr der Antifaschismus-Begriff eine inhaltliche Verschiebung. Hitler war so, wiePeterBender schreibt, zu einem Westdeutschen geworden 107 und Bundeskanzler Konrad Adenauer, die Personifizierung der Bundesrepublik, zu einem "Kriegshetzer" und neuen Hitler avanciert. 108
105 Andrea Suchting-Hanger: Widerstandstradition - Brocke zwischen Frankreich und der DDR, in: Vis-a-vis: Deutschland und Frankreich, hrsg. vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln, 1998, S. 179-186. 106 Fritz Klein: Ein schlimmes gemeinsames Erbe kritisch und selbstkritisch auf beiden Seiten aufarbeiten, in: Jürgen Danyel (Hrsg.): Die geteilte Vergangenheit: Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin, 1995, S. 139-141, hier: S. 139. 107 Peter Sender: Deutsche Parallelen. Anmerkungen zu einer gemeinsamen Geschichte zweier getrennter Staaten, Berlin, 1989, S. 48.
'"" Vgl. Michael Lemke: Instrumentalisierter Antifaschismus und SED-Kampagnepolitik im deutschen Sonderkonflikt 1960-1968. in: Jürgen Danyel (Hrsg.): Die geteilte Vergangenheit: Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten. Berlin. 1995, S. 61-86.
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Die Bekanntgabe des Schuman-Plans beschleunigte das gemeinsame Handeln deutscher und französischer "Antifaschisten". Am 13. August 1950 schlossen 47 Vertreter der "Federation Internationale des Anciens Prisonniers Politiques" (F.I.A.P.P.) unter der Leitung des Colonel Henri Manhes, ein ehemaliger Insasse des KZ Buchenwalds, und der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN) unter der Führung von Franz Dahlem in Buchenwald ein Bündnis gegen den Schuman-Plan. In der Deklaration heißt es:
.. Dieser ,Schuman-Plan' ist die logische Konsequenz einer Politik der Westmächte, die in der Zerreißung der Beschlüsse von Ja/ta und Potsdam bestand, einer Politik, die den Nazismus und den Militarismus in Westdeutschland wieder zum Leb-en erweckt, in einem Gebiet, wo schon heute wieder Rassenverfolgungen und politische Verfolgung an der Tagesordnung sind Dieser Plan ist eine Wiederholung des schändlichen Bündnisses zwischen Petain und Hit/er, zwischen den Ruhrmagnaten und den Landesverrätern in Frankreich. " Am folgenden Tag organisierten deutsche und französische Widerstandskämpfer im Friedrichstadtpalast in Ost-Berlin eine Kundgebung aus Anlass der Unterzeichnung des "Kampfbündnisses" gegen den Schuman-Plan. Es sprachen u.a. der Präsident der FIAPP, Colonel Manhes, und Franz Dahlem. 109 Sie warnten davor, dass der Schuman-Plan Westdeutschland in ein Waffenarsenal verwandle, um ganze Völker auszurotten (aneantir) und vereinbarten eine Unterschriftenaktion, um die "Kriegsvorbereitungen" (preparatifs de guerre) zu verhindern. 110 Zwar waren in den gemeinsamen Erklärungen die marxistisch-leninistische Ideologie deutlich in den Hintergrund getreten und hatten Bedrohungsszenarien die Reden bestimmt, so presste die SED die Veranstaltung trotz allem in die ideologische Schablone ihres Widerstandsbegriffes. Die 1946 gegründete VVN, die sich bis 1950 zu einer SED-hörigen Kaderorganisation entwickelt hatte, 111 lehnte Reisen ehemaliger französischer KZ-Häftlinge zu der Feier in Buchenwald ab, wenn sie nicht von kommunistischen Partnerorganisationen in Paris organisiert waren. 112 Nicht-institutionelle Erinnerung sollte in der DDR keinen
109
Vgl. Neues Deutschland, 15.8.1950 u. 16.8.1950.
110
Telegramme no 616 deM. Gourson au MAE du 16.8.1950; MAE, EU 44-60, ALL, 758, BI. 16-
17.
111 Der SPD-Vorstand hatte 1948 die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in der SPD und in der VVN beschlossen; vgl. Susanne Mi/ler: Widerstand und Exil. Bedeutung und Stellung des Arbeiterwiderstands nach 1945, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der 20. Juli. Das »andere Deutschland« in der Vergangenheitspolitik, Berlin, l998, S. 294-312, hier: S. 306.
10 Timmermann
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Platz mehr haben. Diese offene Diskriminierung nichtkommunistischer französischer Widerstandskämpfer entsprach der oben beschriebenen dogmatisch verengten Widerstandsrezeption in der DDR, die sich nicht wie der französische Widerstand als parteiübergreifende Gemeinschaft verstand. Zu diesem Zeitpunkt konnte die SED das antifaschistische Gedenken fUr ihre politischen Zwecke punktuell aufrufen, um den Antifaschismus aber in den transnationalen Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich nutzbar und ihn zu einem verbindenden Element zu machen, bedurfte es einer größeren Distanz zu den realen Erlebnissen und einer Weiterentwicklung des Begriffes ftlr den "grenzüberschreitenden Gebrauch". Die PCF ihrerseits war infolge der häufigen französischen Wahlkämpfe auf Diskretion bezüglich ihrer Kontakte nach Deutschland bedacht, denn - so Edgar Wolfrum -"es gehörte zu den innen-politischen zehn Geboten Frankreichs, dass die öffentliche Meinung deutsch-feindlich war." 113 Erst zum 10. Jahrestag der Gründung der DDR ging L 'Humanite ausftlhrlicher auf den gemeinsamen Kampf deutscher und französischer Antifaschisten gegen das Dritte Reich ein. 114 Es wäre jedoch zu einfach, die gemeinsamen Bemühungen auf französischer und (ost-) deutscher Seite gegen den Schuman-Plan ausschließlich als Misserfolg darzustellen und sie auf ihren instrumentellen Charakter zu reduzieren. Die u.a. mit dem Schlagwort vom Proletarischen Internationalismus geftlhrte Kampagne gegen die Westintegration der Bundesrepublik wurde zum Ausgangspunkt ftlr die Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich, die zu dem wechselseitigen Gewöhnungs- und Normalisierungsprozess zwischen Deutschland und Frankreich nach 1945 gehören. In Abgrenzung zur Bundesrepublik entstanden erste institutionalisierte Kontakte zwischen Gewerkschaftlern und Widerstandskämpfern, die auch in der Zukunft die Grundlage fUr die bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern darstellten. Sie sind auch heute noch Teil des französischen Deutschlandbildes, auch wenn es sich dabei in erster Linie um ein bestimmtes politisches Milieu handelt. 112 Vgl. Lettre du Haut-Commissaire de Ia Republique frant;:aise en Allemagne au ministre des Affaires etrangeres fran~ais, Robert Schuman, du 15 septembre 1950; MAE, EU 44-60, ALL, 758, BI. 29. lll Edgar Woifrum : Französische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie : politische Neuansatze in der "vergessenen Zone" bis zur Bildung des Sudweststaates 1945 - 1952, Dusseldorf, S. 307. 114 Pierre Durand revient d'Allemagne democratique. A I' Est du nouveau (3), in: L'Humanite, 3.1 0.1959. Ausdruck dieser Politik war auch die Auflösung der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes""im Februar 1953 und die GrUndung des "Komitees der antifaschistischen Widerstandskampfer". Zu den Vollstreckern der Zerschlagung der VNN gehörte Franz Dahlem, ein ehemaliger Frankreich-Emigrant und ab 1963 Prasident der "Deutsch-Französischen Gesellschaft" der DDR, der im Mai 1953 von allen Parteiamtern entbunden und erst 1956 rehabilitiert wurde. Seine Haltung als Chef der Exii-KPD in Paris und die Ferne zu Moskau wurden ihm nun u.a. zum Verhangnis; vgl. 0. Groeh/er (Anm. 106), S. 27ff.; U/rich Mählert: "Die Partei hat immer recht!" Parteisauberungen als Kaderpolitik in der SED (1948-1953), in: Hermann Weber!U/rich Mtihlert (Hrsg.): Terror. Stalinistische Parteisauberungen 1936-1953, Paderborn, 1998, S. 351-457, hier: S. 442fT.
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111. Das Scheitern der kommunistischen Doppelstrategie Sicherlich ließe sich formulieren, dass die Erfolgsaussichten der ostdeutschen und französischen Kommunisten bei ihrem Bestreben zur Blockierung der Westintegration der Bundesrepublik von Anfang an nur sehr beschränkt waren und der Glaube an die Mobilisierung einer "Volksfront" bzw. Massenbewegung gegen die Westintegration immer auf Illusionen aufbaute. Die PCF konnte bei den Wahlen zur Nationalversammlung zwischen 1945 und 1952 stets knapp über ein Viertel der Stimmen auf sich vereinigen konnte, war aber durch die von Stalin vorgegebene "nationale" Politik nach ihrem Ausscheiden aus der Regierung in der politischen Landschaft Frankreichs ins Abseits geraten und auf ihr eigenes Milieu zurückgeworfen. Die Spaltung der französischen Gewerkschaftsbewegung hatte Erosionserscheinungen bei der CGT gezeigt, die deutlich an Einfluss auf die Arbeiter verloren hatte. 115 Die schwachen Ergebnisse der KPD bei den Bundestagswahlen 1949 (5,7%) und 1953 (2,2%) und die Siege Adenauers wiesen darauf hin, dass die Westdeutschen in ihrer Mehrheit fUr das westlich-demokratische Modell menschlichen Zusammenlebens optierten und jegliche kommunistische Experimente ablehnten. Auch wenn die SED die unterschiedlichen Argumente der westdeutschen Integrationsgegner mit ihrer Politik bedienen wollte, so kam sie jedoch über partielle Interessenübereinkünfte mit den verschiedenen sozialen Gruppen und politischen Milieus in der Bundesrepublik nicht hinaus. Zwar lassen sich bei den Konservativen Ressentiments gegen die "amerikanische Ideologie" finden, 116 wehrten sich patriotische Kreise gegen die supranationalen Institutionen, postulierte Gustav Heinemann eine nationalneutralistische Alternative und ähnelten die nationalen Parolen Schumachers teilweise den Leitartikeln im Neuen Deutschland. Nationalstaatliches Denken war jedoch in der Bundesrepublik immer auch mit einem scharfen Antikommunismus verbunden und "Freiheit" zeitbedingt die grundlegende Antithese zum Totalitarismus, 117 was die SED fortwährend unterschätzte, wie Ulrich Mählert zugespitzt formuliert: "Dies war ein Ansinnen, das für den umworbenen nationalgesinnten Kritiker der ,Amerikanisierung' im Westen kaum etwas anderes bedeuten konnte, als den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.'.I 18 IIS Dominique Labbe: Le declin electoral de Ia CGT, in: Communisme 35-37 (1994), S. 67-86; Antoine Bevort: Les effectifs syndiques a Ia CGT et a Ia CFDT 1945-1990, in: Communisme 35-37 (1994), S. 87-90. 116 Vgl. Kurt Lenk: Zum westdeutschen Konservatismus, in: Axe/ Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.): Modemisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn, 1993, S. 636-645.
117
118
IO•
A. Doering-Manteuffel (Anm. II ), S. 123. U. Mähler/ (Anm. 116), S. 357.
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Im Gegensatz zu Frankreich, wo die Kommunisten nach der Liberation der Regierung angehörten, sich zwar nach dem Ausbruch des Kalten Kriegs selber isoliert hatten, aber weiterhin akzeptierter Bestandteil der politischen Landschaft blieben, wirkten der antikommunistische und antitotalitäre Grundkonsens in der Bundesrepublik und die Verteufelung des Weltkommunismus als äußere Klammer und ließen auch Kritiker der Adenauerschen Politik den Regierungskurs aus realpolitischer Einsicht unterstützen. Durch die Stilisierung des Kalten Kriegs zum "Kampf zwischen abendländischer Freiheit und bolschewistischem Dämon" 119 konnten Kritiker der westdeutschen Gesellschaft und der Politik der Westintegration immer wieder domestiziert werden, was die Position Adenauers fortwährend stärkte. Axel Schildt bemerkt in bezug auf die SPD, dass ihre radikale Tonart gegenüber Ost-Berlin u.a Folge der Politik der Bundesregierung war, die sie immer wieder auf eine Stufe mit den Kommunisten stellte. 120 Nachdem sie über Jahrzehnte als "vaterlandslose Gesellen" beschimpft wurden, wollte sie dieses Image nun endlich ablegen. Die SED baute deshalb weniger auf die Unterstützung durch die SPD, sondern suchte das kurzfristige Bündnis mit dem "Klassengegner" und hoffte von Interessengegensätzen im ,,kapitalistischen Lager'' zu profitieren. Die Doppelstrategie, je nach Bedarf und Tagespolitik mal nationalistische, mal "internationalistische" Parolen zu bevorzugen, wurde in diesen Kreisen jedoch stets als Teil der von Lenin vorgegebenen und von Stalin weitergeftlhrten aggressiven Außenpolitik verstanden, die die Festigung kommunistischen Lagers und die Sicherheit der Sowjetunion garantieren sollte. Bestes Beispiel dafilr war die Politik der SED in der Saarfrage. Während sie im Kampfbündnis zwischen CGT und FDGB mit keinem Wort erwähnt wurde, musste sich Adenauer infolge seiner positiven Reaktion auf den Schuman-Plan als Verräter beschimpfen lassen, der das Saarland an Frankreich verkauft habe. Die aggressive Wortwahl in der Westpolitik der SED stand immer auch in engem Zusammenhang mit ihrer schwierigen Situation in bezug auf die Regelung der ehemaligen deutschen Ostgebiete. Entsprechend den im sowjetischen Satellitensystem herrschenden Kommunikationsstrukturen 121 hatte Stalin Anfang 1947 der SED-Führung klar gemacht, dass filr die Sowjetunion die Regelung der
119
A. Schildt (Anm. 13), S. 32.
120 Vgl. Axel Schildt: Ende der Ideologien? Politisch-ideologische Strömungen in den 50er Jahren, in: ders./Amold Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn, 1993, S. 627-635, hier: S. 630.
121 Gerhard Wellig: Abhangigkeiten und Handlungsspielraume der SBZ/DDR im Verhaltnis zur UdSSR 1945-1955, in: Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung und Folgen der SEDDiktatur im Prozess der deutschen Einheit", hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. VIII/3, BadenBaden 1999, S. 2546-2626.
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deutschen Ostgrenze endgültig sei 122 und ihr damit zu verstehen gegeben, dass sie über keinerlei Handlungsspielräume mehr in der Grenzfrage verfiige. Er zwang die ostdeutschen Genossen, eine politische Kehrtwendung zu vollziehen, nachdem sich die SED in den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch filr eine Revision der Oder-Neiße-Linie eingesetzt hatte. Sie wurde durch diese Entscheidung des Kremls nicht nur auf ihre weitgehende Einflusslosigkeit gestoßen, sondern gleichzeitig auch auf einen unauflöslich scheinenden Wider-spruch in ihrer Politik zu Moskau. Während Pieck und Ulbricht immer wieder betonten, dass ihr privilegiertes Verhältnis zur Sowjetunion der beste Garant filr die Durchsetzung deutscher Interessen sei, entsprach die Perzeption der Bevölkerung keineswegs dieser Einschätzung. Die Bemühungen der SED um Erleichterungen und Verbesserungen der Lebenslage der Menschen waren weit-gehend erfolglos geblieben und auch die Regelung der Ostgrenze entsprach nicht den Erwartungen der Mehrheit der Bevölkerung, wie der Missmut unter ihren Mitgliedern dokumentierte. Andreas Malycha zitiert die Aussage eines Genossen aus dem Kreis Oberhavel vom Januar 1950: "Man müsste sie mit dem Knüppel raushauen, der Deutsche verrät sein Vaterland filr ein bisschen Schokolade und andere Kleinigkeiten." 123 Als die DDR und Polen am 6. Juni 1950 vereinbarten, "die festgelegte, zwischen den beiden Staaten bestehende unantastbare Friedensund Freundschaftsgrenze an Oder und Lausitzer Neiße zu markieren" 124 und am 6. Juli 1950 das Görlitzer-Abkommen schlossen, in dem die ostdeutsche Seite die Oder-Neiße-Grenze als Polens Westgrenze offiziell anerkannte, verstärkten sich die innerparteilichen Proteste. Die SED reagierte mit Repression gegen solche "Abweichler" und schloss sie aus der Partei aus. 125 Malycha schreibt dazu: "Ab Anfang der fiinfziger Jahre gehörten ,schwankende Haltungen' zur Oder-Neiße-Grenze zu den Kriterien, mit denen ein Ausschluss aus der SED gerechtfertigt wurde." 126 Durch Gewalt und verstärkte Polemik gegen die Bundesregierung wollten Pieck und Ulbricht ihr erzwungenes Einknicken in der Frage der polnische Westgrenze verdecken, konnten dadurch jedoch nicht ihr Image als "Russenpartei" ablegen. 122 Vgl. Bernd Bonwetsch/Gennadij Bordjugow: Stalin und die SBZ, in: VfZ 42 (1994) 2, S. 279303, hier: S. 30 I.
123 Andreas Malycha: "Wir haben erkannt, dass die Oder-Neiße-Grenze die Friedensgrenze ist." Die SED und die neue Ostgrenze 1945-195 I, in: DA 33 (2000) 2, S. 193-207, hier: S. 204. 124 Deutsches Institut fiir Zeitgeschichte: Dokumentation zur Außenpolitik der DDR, Bd. 4, Berlin (DDR), 1957, S. 113. 125 Die SED sah die Probleme der Flüchtlinge als geregelt an und sprach den Umsiedlem nach dem Abschluss des Görlitzer Abkommens das Recht ab, als eigenständige Gruppe zu existieren. Die Flüchtlingssonderverwaltung wurde aufgelöst und alle Ansatze zur Selbstorganisationen unterbunden; vgl. Thomas Grosser/Sylvia Schraut: Vertriebene, in: Werner Weiderifeld!Kari-Rudolf Karte (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit 1949-1989-1999, Frankfurt/M, 1999, S. 829-838, hier: S. 834. 126
A. Ma/ycha (Anm. 125), S. 207.
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Die Bundesregierung protestierte gegen den Abschluss des Görlitzer Abkommens, 127 und auch die öffentliche Meinung in Westdeutschland reagierte auf die Politik der SED. In der Beurteilung des Französischen Hohen Kommissars hatte die ostdeutsch-polnische Übereinkunft wesentlichen Einfluss auf die Bereitschaft der Bevölkerung, die Politik der Westintegration Adenauers zu unterstützen. Andre Fran~ois-Poncet schreibt am 22. Juni 1950: « Ce geste des , marionnettes ' de Berlin a ete regarde comme un acte de haute trahison. I/ a sou/eve une co/ere vehemente, une indignation profonde, une exp/osion d 'anti-sovietique. Quoi de plus nature!, dans ces conditions, que d'adherer, en guise de riposte, a / 'union de / 'Europe contre le danger russe? » 128 Der drei Tage später ausbrechende Korea-Krieg fOrderte diesen Prozess und besaß bei der Öffnung der bundesdeutschen Gesellschaft nach Westen eine katalytische Funktion. Er schürte zum einen in der westdeutschen Öffentlichkeit - die Bundesregierung hatte dieser Perzeption nicht unwesentlich Vorschub geleistet - die Furcht, zwischen dem geteilten Korea und dem geteilten Deutschland könnte es Parallelen geben und verstärkte den Wunsch nach Sicherheit in dem sich zuspitzenden Kalten Krieg 129 sowie die Bereitschaft der Westdeutschen sich dem Westen zu öffnen. Wir müssen also von einem dynamischen Prozess ausgehen, der zeitweise durch die Rücksichtnahme auf nationale Interessen der Deutschen und die Präsens der DDR gebremst wurde, der aber immer auch wieder durch den Kalten Krieg und den Antikommunismus angekurbelt wurde. Das zweite Moment behielt dabei die Oberhand, wie auch Doering-Manteuffel feststellt: "Im Kalten Krieg wurde Westdeutschland deshalb ganz wie von selbst eine , westliche Demokratie'." 130 Zum anderen bewirkte der Krieg einen wirtschaftlichen Aufschwung in ganz Westeuropa und vor allem in der Bundesrepublik. Seinen eigentlichen Zweck, die internationale Verwaltung und die Koordinierung der Verteilung des Stahlüberflusses in Europa, 131 musste der Schuman-Plan nicht mehr erfiillen, weil der Korea-Krieges einen Stahlboom nach sich zog, wovon auch die Arbeiter 127 Vgl. Die/er Blumenwitz: Oder-Neiße-Linie, in: Werner Weidenfeld!Kari-Rudolf Korle (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit 1949-1989-1999, Frankfurt/M, 1999, S. 586-595, hier: S. 588f. 128 Les rapports mensuels d'Andre Franr,;ois-Poncet. Haut-Commissaire franr,;ais en Allemagne 1949-1952, tome I, Paris, Imprimerie Nationale, 1996, S. 288.
129
A. Schildt (Anm. 12), S. 308f.
130
A. Doering-Manteulfel, (Anm. II), S. 55.
131 Constanlin Goschler/Chrisloph Buchheim/Werner Buhrer: Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik. Zur historischen Wirkung eines falschen Kalküls, in: Vtz 37 (1989) 2, S. 171-206, hier: S. 201.
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profitierten, so dass sich die wirtschaftlichen Horrorszenarien der kommunistischen Gewerkschaften nicht bewahrheiteten. 132 Neben politischen und wirtschaftlichen Ursachen müssen jedoch auch soziokulturelle und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ins Feld geführt werden. Die nationale Politik Ost-Berlins war zum Scheitern verurteilte, weil sie nicht der Erwartungen der Bevölkerung nach 1945 entsprach. Die "entankerte" westdeutsche Zusammenbruchsgesellschaft hatte sich in den Wochen nach Kriegsende auf die letzte Etappe ihres "langen Wegs nach Westen" (Heinrich-August Winkler) begeben und hielt Ausschau nach neuen Sinnangebote, die der Neuordnung der Gesellschaft eine Richtung zu geben vermochten. 133 Insbesondere die Öffnung der jungen Generation gegenüber dem Westen und seinen Werten sowie die zunehmende Attraktivität des american way of life führten gerade innerhalb der städtischen Arbeiterjugend zu einem tiefgreifenden Wandel in den Verhaltensmustern, der vom Osten unterschätzt wurde. Doering-Manteuffel schreibt dazu: "In den unterbürgerlichen Schichten war die Bereitschaft zur Aufnahme amerikanischer Einflüsse im Konsum- und Freizeitverhalten am frühesten gegeben, weil sich hier die damit verbundene sozial-kulturelle Egalisierung als Chance zur Emanzipation auswirkte." 134 Der deutsche Nationalismus war hingegen durch den Nationalsozialismus desavouiert und in seinen Grundfesten erschüttert. Die Berufung auf das Nationale in Sprache und Politik in der sowjetischen und ostdeutschen Propaganda wirkte vor diesem Hintergrund eher abschreckend und verstärkte den bedrohlichen Eindruck des östlichen Kommunismus nur noch weiter. Das dogmatische Verharren in traditionellen Denkmustern auf östlicher Seite war zudem Ursache für die einseitige Interpretation des Schuman-Plans als "Remilitarisierung" der Bundesrepublik bzw. als Teil der westlichen Aufiilstung. Wirtschaftliche Argumente traten gegenüber "militärischen Stellungnahmen" deutlich in den Hintergrund. 135 Das mag zum einen daran gelegen haben, dass der Schuman-Plan seine wirtschaftliche Nagelprobe nie bestehen musste, doch wäre es zu einfach, die antiimperialistischen und antimilitaristischen Parolen des 132 Vgl. beispielhaft Peggy Higgs: Mobilisations des Mineurs et Metallurgistes contre le Plan Schuman, in: Le Mouvement Syndical Mondial11 (20 octobre 1950}, S. 25-30. 133
Vgl. A. Doering-Manteu.ffel, (Anm. 11), S. 34ff.;
134 A. Doering-Manteu.ffel, (Anm. 11 ), S. 41; vgl ebenfalls Bemd Greiner: « Go west » - Arnericanisation et civilite dans l'Allemagne de Ia "premiere heure, in: Francine-Dominique Liechtenhan: Europe 1946. Entre Je deuil et l'espoir, Brüssel, 1996, S. 175-184; Heinz Bude!Bernd Greiner (Hrsg.): Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg, 1999.
135 Vgl. Jana Wüstenhagen: "Blick durch den Vorhang": Die SED/DDR und die Europäische (Wirtschafts-) Gemeinschaft (1946-1972}, Diss., Halle, 1999, S. 118; dies.: RGW und EWG: Die DDR zwischen Ost- und Westintegration, in: Ulrich Pfeil (Hrsg.): Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen im Kalten Krieg 1949-1989, Berlin, 2001, S. 135-150.
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Ostens als Propaganda zur Verhinderung der europäischen Integration unter Einbeziehung der Bundesrepublik abzutun. Wladislaw Subok und Konstantirr Pleschakow weisen zu Recht auf einen Bedrohungsreflex bei den kommunistischen Führern hin, der spätestens bei der Verkündung des Marshall-Plans seinen Anfang genommen hatte und immer auf eine Fonn von Machtausübung fixiert blieb, die sich weiterhin auf Militär und Kriegsfähigkeit gründete. Dem Westen wurden dabei dieselben Fähigkeiten zu Verschwörungen unterstellt, die sie sich selbst zutrauten. 136 Dabei ignorierte sie einen der wichtigsten Wandlungsprozesse der Nachkriegszeit in Westdeutschland, die Ablösung der militärischen Macht durch die ökonomische Variante. "Macht war nicht mehr die Macht des Militärstaats, sondern die Macht des Handelsstaats", schreibt Niedhart zutreffend. 137 So kam es, dass die EVG zunehmend in den Mittelpunkt der östlichen Propaganda geriet und der Schurnarr-Plan bzw. die Montan-Union in gleichem Maße an Aufmerksamkeit verloren.
136 Vgl. Wladis/aw Subok!Konstanlin Pleschakow: Der Kreml im Kalten Krieg von 1945 bis zur Kuba-Krise, Hildesheim, 1997, S. 47. 137 Gottfried Niedhart: Deutsche Außenpolitik: Vom Teilstaat mit begrenzter Souveränität zum postmodernen Nationalstaat, in: APuZ B 1-2/ 1997, S. 15-23, hier: S. 18.
111. Herrschaft
Bündnispartner wider Willen Der gewerblich-industrielle Mittelstand in der SBZ/DDR (1945 bis 1953)• Von Annin Owzar 10.000 DM verspricht eine in Harnburg beheimatete Interessenvertretung demjenigen, der die von den Sowjets im Rahmen der Industriereform, der zwischen 1945 und 1948 durchgefiihrten Enteignung der ,Naziaktivisten und Kriegsverbrecher', angefertigten Rückgabe-Listen beschafft. 1 Dieser Initiative, der es zuvörderst um die Rückerstattung von Firmen und Immobilien an die Alteigentümer geht, schaltet zur Bekräftigung ihrer materiellen Interessen regelmäßig Anzeigen in fiihrenden Zeitungen und Zeitschriften, in denen Mitglieder der vormaligen christliberalen Regierungskoalition als Diebe und Staatshehler verunglimpft werden. 2 Nicht zuletzt aus taktischen Gründen pflegt die Gruppierung, die sowjetischen Besatzer zu entlasten und den deutschen Kommunisten die Hauptschuld zuzuschieben. So heißt es in einem ihrer Offenen Briefe: ,,Kommunisten haben 1945/49 in ihrem Einflußbereich alle, die es zu Vermögen gebracht hatten, beraubt, vertrieben, ermordet oder ins KZ gesperrt. [...] Dieser Tatbestand hat fortgedauert bis zum 3. Oktober 1990. Dann wurde aus Raub und Diebstahl die bestandsfeste Enteignung."3 Zur Förderung • Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen des von Prof. Dr. Hans-Uirich Tharner (Münster) und Prof. Dr. Jochen-Christoph Kaiser (Marburg) geleiteten und von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojektes Transformationsgesellschaft und Stalinisierung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 19451948149: Politische und soziostrukturel/e Transformationsprozesse zwischen zwei Diktaturen. Den Projektleitern und -mitarbeitem danke ich herzlich fiir die offenen Diskussionen und vielfaltigen Anregungen. 1 10.000 D-Mark Belohnung! In: FAZ 180 (6. August 1998), S. 7. Allein aus Gründen der Lesbarkeit wird im folgenden bei ideologisch belasteten Termini wie ,Industriereform' oder ,Säuberung' auf Anfiihrungsstriche verzichtet.
2 Eine Auswahl: ,,Die Sache stinkt zum Himmel! Das deutsche Watergate, in: Die Zeit 15 (2. Aprill998), S. II; Hans D. Orlovius, Es ist etwas faul im Staate, wenn sich Demokraten verweigern 0 Offener Brief, in: FAZ 167 (22. Juli 1998), S. 4; Regierung Kohl: Verwickelt in eine gigantische Betrugsaffiire, in: FAZ 223 (25. September 1998), S. 15; Aufbau Ost, Faß ohne Boden. Wie ein Regierungsskandal Steuermilliarden verschlingt, in: FAZ 133 (12. Juni 1999), S. 7. 3 Offener Brief an EX-CDU-Generalsekretär Peter Hintze, lesenswert auch fiir den designierten Kanzler Gerhard Schröder, in: FAZ 238 (14. Oktober 1998), S. 15.
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historischer Erkenntnisse trägt diese Initiative nicht bei. Gleichwohl kommt ihr insofern eine gewisse Bedeutung zu, als die Lobbyisten mit der Industriereform einen Bereich der DDR-Geschichte ihrer Deutung unterworfen haben, den die neuere historische Forschung bislang kaum aufgearbeitet hat. Zwar lagen bereits vor dem Mauerfall fundierte Überblicksdarstellungen westdeutscher Autoren zur DDR-Geschichte vor, in denen auch die Frühphase behandelt wurde. 4 Ihr Schwergewicht aber legten diese Abhandlungen auf die (partei)politische Entwicklung. Das wechselseitige Verhältnis von Staat(spartei) und Gesellschaft im sozioökonomischen Transformationsprozeß wurde nur eher beiläufig thematisiert. Das galt auch ftir die den Vorgaben der SED verpflichtete DDRHistoriographie. So unterschiedlich die Antworten auf die Frage nach der Entstehung der zweiten deutschen Diktatur auch ausfielen, methodisch waren die Unterschiede nicht so groß. Politische und militärische Funktionsträger galten als die alles entscheidenden Potenzen: Stalin, die Offiziere der SMAD oder die deutschen Exilkommunisten um Walter Ulbricht. Die Bevölkerung geriet so zur Verfilgungsrnasse der Politik. Die DDR-Historiographie beschrieb sie als Masse, die von der revolutionären Avantgarde der deutschen Arbeiterklasse befreit und in eine lichte Zukunft gefiihrt worden sei; westdeutsche Historiker betrachteten sie dagegen nahezu ausschließlich als Opfer kommunistischer Willkürmaßnahmen. Erst mit der Beschreibung der DDR als "durchherrschter Gesellschaft" 5 und dem Aufspüren von "Grenzen der Diktatur"6 hat sich in Teilen der DDR-Forschung ein Paradigmenwechsel vollzogen. Es reicht eben nicht aus, den Blick allein auf das Penetrationspotential der Herrschaft zu richten. Nur wenn man das Verhältnis zwischen sozialistischer Staatspartei und Gesellschaft als ein wechselseitiges analysiert, wird man der Komplexität des Transformationsprozesses gerecht. Die gesellschaftspolitischen Konstruktionen der Sozialisten gewinnen so an Tiefenschärfe. Denn, so lautet die erste These, die Strategie und Taktik der KPD/SED war weitaus flexibler und vielseitiger, als gemeinhin vermutet. 7 Hielt die marxistischSiehe insbesondere Dietrich Staritz, Geschichte der DDR. 1949-1985 (NHB), Frankfurt am Main ders., Die Gründung der DDR. Von der sowjetischen Besatzungsherrschaft zum sozialistischen Staat (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), München 2 1987 und Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 3 1989. 4
2 1987,
5 Siehe die Beiträge in dem von Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka und Hartmut Zwahr herausgegebenen Sammelband Sozialgeschichte der DDR, Stungart 1994, zur Terminologie insbesondere Alf Lüdtke, "Helden der Arbeit" - Mühen beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR, S. 188-213 undJürgen Kocka, Eine d.urchherrschte Gesellschaft, S. 547-553. 6 Siehe die Einleitung sowie die Beiträge in dem von Richard Hesse/ und Ralph Jessen herausgegebenen Band Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996.
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leninistische Parteiführung auch an dem Telos einer klassenlosen Gesellschaft grundsätzlich fest, so zeigte sie sich doch auf sowjetische Initiative hin bereit, ihre Etappenziele auf die bestehenden Strukturen und die zu erwartenden Gegenreaktionen der Gesellschaft abzustimmen. 8 In den ersten Nachkriegsjahren konzentrierte sie ihre gesellschaftspolitischen Stoßrichtung auf die zahlenmäßig kleine Oberschicht, namentlich auf die Großgrundbesitzer, Großaktionäre und Konzernchefs, derweil sie sich um die Integration weiter Teile der Bevölkerung in die Transformationsgesellschaft bemühte. Erst unter Berücksichtigung dieses "bündnispolitischen" Kurses9 werden die vielfaltigen Verhaltensmuster der Bevölkerung verständlich, die von aktiver Teilnahme über Kooperation, Apathie und Teilverweigerung bis zu Opposition und Widerstand reichten. 10 Bei der Mehrheit der mehrheitlich antikommunistisch eingestellten Bevölkerung Ostdeutschlands kristallisierte sich dabei ein Verhalten heraus, das sich, so die zweite These, als widerwilliges Arrangement bezeichnen läßt. 11 Mißmutig, bisweilen auch unbeabsichtigt trugen die Angehörigen aller Parteien, aller sozialen Schichten zur Etablierung des SED-Regirnes bei. Von einem allgemeinen Wertekonsens konnte indes keine Rede sein: zu keinem Zeitpunkt gründete das Arrangement auf Legitimationsglauben. Von einer marxistisch sozialisierten Minder-heit abgesehen, handelte es sich um eine "strategische, interes7 Die Bandbreite strategischen und taktischen Verhaltens ist bereits in der sozialistischen Definition des Terminus angelegt (vgl. den Art. Strategie und Taktik der revolutionären Arbeiterbewegung, in: Kleines politisches Wörterbuch, Neuausgabe 1988, hg. von Wa/traud Böhme et al., Ost-Berlin 7 1988, S. 965f. ).
8 Zur sowjetischen Deutschlandpolitik siehe grundsätzlich Peter Er/er/Horst Laude/Manfred Wilke, Zur programmatischen Arbeit der Moskauer KPD-Führung 1941-1945, in: "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 fiir Nachkriegsdeutschland (Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der FUB), hg. von P. E., H L. und M W., Berlin 1994, S. 23-123; Alexander Fischer, Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg 1941-1945 (Studien zur Zeitgeschichte [8]), Stuttgart 1975; Jochen Laujer, Konfrontation oder Kooperation? Zur sowjetischen Politik in Deutschland und im Alliierten Kontrollrat 1945-1948, in: Studien zur Geschichte der SBZ/DDR, hg. von Alexander Fischer, Berlin 1993, S. 57-80 und Gunther Mai, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945-1948. Alliierte Einheit - deutsche Teilung? (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 37), München 1995. 9 Nach sozialistischem Selbstverständnis handelte es sich bei der Bündnispolitik um ein "strategisches und taktisches Verhalten einer sozialen Klasse, die sich zur Durchsetzung ihrer Ziele mit anderen Klassen und Schichten auf der Basis dauernder oder zeitweiliger gemeinsamer Interessen verbündet" (Art. Bündnispolitik, in: DDR Handbuch, wissenschaftliche Leitung: Hartmut Zimmermann unter Mitarbeit von Horst Ulrich und Michael Gehlauer, Bd 1., hg. vom Bundesministerium fur innerdeutsche Beziehungen, Köln 3 1985, S. 249). 10 Vgl. Jürgen Kocka, Die Geschichte der DDR als Forschungsproblem. Einleitung, in: Historische DDRForschung. Aufsätze und Studien, hg. von J. K., Berlin 1993, S. 9-26, hier II. 11 Zur Terminologie vgl. Klaus-Michael Mallmann!Gerhard Paul, Resistenz oder loyale Widerwilligkeit? Anmerkungen zu einem umstrittenen Begriff, in: ZfG 41 (1993), S. 99-116, hier 115f.
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sengeleitete Hinnahme der Herrschaftsfonn". 12 Bei Gewährung freier Wahlen hätte die Mehrheit der SED sicherlich den Rücken gekehrt. Am Beispiel des gewerblich-industriellen Mittelstandes soll nun dieses widerwillige Arrangement mit der sich konstituierenden Diktatur zwischen Kriegsende und dem Aufstand vom 17. Juni 1953 analysiert werden. 13 Zunächst werden die Handwerker und Industrieunternehmer innerhalb der realsozialistischen Gesellschaft verortet (I). Es folgt eine Skizze der Handwerkspolitik, da sich an ihr die Flexibilität der sozialistischen Bündnispolitik besonders deutlich demonstrieren läßt (II). Im Anschluß daran wird das Arrangement des Mittelstandes mit dem SED-Regime ins Zentrum der Betrachtung gerückt (III).
I. Soziale Lage In den zeitgenössischen Selbstdarstellungen der ostdeutschen Gesellschaft ist der Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit spätestens gegen Ende der fiinfziger Jahre gelöst: dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse steht nichts mehr im Wege; die verbliebenen privaten Warenproduzenten hat die SED mit Hilfe der verbündeten Parteien erfolgreich in den Arbeiter- und Bauernstaat eingebunden. 14 Auf den Plakaten und Gemälden sucht man sie derweil zumeist vergebens, die priva12 Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt am Main 1992, S. 23. 13 Für einen Überblick siehe Per Anders Aslund, Private Enterprise in Eastern Europe. The NonAgricultural Private Sector in Po1and and the GDR, 1945-1983, mit einem Vorwort von Wlodzimierz Brus, London!Basingstoke 1985; Andreas Pickel, Radical Transitions. Survival and Revival ofEntrepreneurship in the GDR, Boulder/San Francisco/Oxford 1992. Siehe jetzt auch Thomas Großbölting, Zwischen ökonomischer Marginalisierung und SED-Bündnispolitik: das Handwerk in der sowjetischen Besatzungszone, in: ZfG 48 (2000), S. 405-422; Rüdiger Schmidt, Vom "autoritären Korporatismus" zur Planökonomie: Der gewerbliche Mittelstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Das letzte Jahr der SBZ. Politische Weichenstellungen und Kontinuitäten im Prozeß der Gründung der DDR (Veröffentlichungen zur SBZ/DDR-Forschung im 1fZ), hg. von Dierk Hoffinann und Hermann Wentker, München 2000, S. 221-244; Armin Owzar, Sozialistische Bündnispolitik und gewerblich-industrieller Mittelstand. Thüringen 1945 bis 1953 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission filr Thüringen. Kleine Reihe 4), München/Jena 2001. 14 Siehe etwa Wolfgang Weiche//, Über die Entwicklung der ökonomischen Basis der Arbeiter- und Bauern-Macht und die Herausbildung der moralisch-politischen Einheit des Volkes, in: Der deutsche Arbeiter- und Bauernstaat, hg. von der Deutschen Akademie filr Staats- und Rechtswissenschaft" Walter Ulbrichr', Ost-Berlin 1960, S. 75-108, hier 98-106. Siehe in diesem Zusammenhang auch die seit Mitte der sechziger Jahre an ostdeutschen Universitäten entstandenen, nicht veröffentlichten Dissertationen, etwa von Horst Abraham, Die Bündnispolitik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands mit den Handwerkern, Gewerbetreibenden sowie den kleinen und mittleren Unternehmern in der Zeit des Übergangs von der antifaschistisch-demokratischen zur sozialistischen Revolution (Juni 1948- Juli 1952) [Diss. A, Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Ost-Berlin], 1966 und von Horst Eisermann, Die städtischen Mittelschichten in der revolutionären Umwälzung von 1945 bis 1949/50, die Entwicklung ihrer Struktur und ihrer Stellung in der Gesellschaft, insbesondere zur Arbeiterklasse, dargestellt am Beispiel des Landes Sachsen-Anhalt [Diss. A, KMU Leipzig], 1973.
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ten Unternehmer und Handwerker. Noch deutlicher als in den offiziösen Handbüchern und Geschichtswerken regiert hier der Wunsch die Wirklichkeit. Von dem einst Zylinder tragenden, Zigarre rauchenden Kapitalisten ist nicht einmal ein Schatten übrig geblieben. Auch die Welt des selbständigen Handwerksmeisters, umgeben von seiner Familie, seinen Gesellen und seinen Lehrlingen, gehört der Vergangenheit an; ehemals dem privaten Handwerk zuzurechnende Berufe wie Maurer oder Näherin werden innerhalb volkseigener Industriebetriebe oder sozialistischer Produktionsgenossenschaften ausgeübt. 15 Verhaftet waren solche Selbstbeschreibungen der DDR dem über 100 Jahre zuvor erschienenen Kommunistischen Manifest. Dem hierin aufgestellten Konzentrationsgesetz zufolge stand das mittelständische Handwerk bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vor seiner Selbstauflösung. Längst, so Karl Marx und Friedrich Engels, seien die Zunftmeister verdrängt worden; die moderne Industrie habe die "kleine Werkstube des patriarchalischen Meisters in die große Fabrik des industriellen Kapitalisten verwandelt"; "die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen [fielen] ins Proletariat hinab". 16 Die gesellschaftliche Realität sah anders aus, nicht nur in den Ländern mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen. In der DDR galten sie als Spitzenverdiener der Republik: gegen Ende der sechziger Jahre verfUgten zahlreiche selbständige Handwerker über einen Wohlstand, der sie von der übrigen nivellierten Gesellschaft deutlich abhob: sie wohnten in renovierten Eigenhäuser, fuhren teure lmportautos, sammelten Antiquitäten; manche leisteten sich sogar ein Segelboot. 17 Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte sich diese soziale Differenzierung abzuzeichnen begonnen: während die Mehrheit der Bevölkerung noch um 1950 an Unterernährung litt, 18 hielten viele derjenigen Privathandwerker, die nicht den Sequestrierungen, den kalten Enteignungen und Kollektivierungskampagnen zum
15 Siehe etwa die von Karl-Erich Koch 1959 zum 10. Jahrestag der Staatsgründung angefertigte Lithographie aus einer Präsentmappe des VEB GRW Teltow, abgedruckt in: Parteiauftrag: ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR, hg. von Dieler Vorsteher. Buch zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 13. Dezember 1996 bis II. März 1997, [Berlin]1996, S. 232.
16 Kar/ Marx!Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, Ost-Berlin 1959, S. 459-493, hier 463, 469 und 475.
17 Siehe etwa die einschlägigen Erfahrungsberichte ostdeutscher Handwerker in: Uwe Gerig, Wir von Drüben. Zwanzig Schicksale im geteilten Deutschland, Asendorf 1989, S. 135f., 161 und 163. 18 Siehe Marcel Boldorj, Sozialfürsorge in der SBZ/DDR 1945-1953. Ursachen, Ausmaß und Bewältigung der Nachkriegsarmut (VSWG-B 138), Stuttgart 1998, S. 62; Pe/er Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945-1970 (Zeithistorische Studien 3), Berlin 1995, S. 130-144.
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Opfer gefallen waren, einen überdurchschnittlichen Lebensstandard. 19 Dieser relative Wohlstand verdankte sich paradoxerweise zu einem nicht geringen Teil dem realsozialistischen System selbst. Privilegiert waren in der Mangelwirtschaft vor allem diejenigen, die über einen direkten Zugriff auf die Sachen, auf die Ressourcen, Gebrauchswerte und Instrumente verfilgten?0 Mehr noch als filr die Industriearbeiter galt dies filr diejenigen Handwerker, die den ganzheitlichen Betriebsablauf beherrschten und ihr Produkt bei allen Arbeitsgängen persönlich begleiteten. Aber auch die Angehörigen des reparierenden und dienstleistenden Handwerks profitierten partiell von der allgegenwärtigen Versorgungskrise. Hinzu kam die Anerkennung, die der private Handwerkeraufgrund seiner Selbständigkeit genoß: in einer nahezu vollsozialisierten, autoritär reglementierten Gesellschaft umgab den von Vorgesetzten nicht unmittelbar abhängigen Meister ein Hauch von Selbstbestimmung. Das zeichnete ihn vor den meisten anderen Lohnabhängigen aus, unabhängig von seiner tatsächlichen materiellen Lage. Dieses immaterielle ,Kapital' des Privathandwerkers mußte mit den Jahren um so wertvoller werden, als der von der SED forcierte Vergesellschaftungsprozeß immer weiter um sich griff. Nach der Enteignungsaktion von 1972 bildete das Handwerk den einzigen Wirtschaftsbereich, der sich mehrheitlich in der Hand Selbständiger befand. Und die Tendenz war steigend: nachdem der Anteil der privaten Handwerksbetriebe an den Gesamtleistungen des Handwerks in der DDR zwischen 1960 und 1970 um mehr als 20 % (von 70,6 auf 50, 1) gefallen war, stieg er bis 1975 rapide an (auf 61,7 %); nach einem kurzfristigen Rückgang gelang es dem handwerklichen Sektor nicht nur, sich zu behaupten, sondern sogar kontinuierlich zu expandieren (von 58,9% im Jahre 1980 auf 59,5 %im Jahre 1988).21 All diese Umstände mögen erklären, warum die Handwerker in der inoffiziellen Sozialhierarchie einen hohen Platz einnahmen, allen voran der Autoschlossermeister, der auf der Sozialprestigeskala aufPlatz 5, direkt hinter dem Arzt, Professor, Techniker und Lehrer, rangierte?2
19 Siehe Eberhard Lohse/Siegfried Voigtsberger, Handwerk, Privatindustrie und Aufbau des Sozialismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Umgestaltung des Handwerks und der privatkapitalistischen Industrie in der DDR, Ost-Berlin 1959, S. 37. 20
Vgl. Wolfg ang Eng/er, Die ungewollte Modeme. Ost-West-Passagen, Frankfurt am Main, S. 46.
21 Siehe Kar/ C. Tha/heim/Maria Haendcke-Hoppe, Das Handwerk in der ehemaligen DDR und in Berlin (Ost), in: DA 24 (1991), S. 1186-1192, hier 1188. Siehe auch Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Zwischenbilanz zur Vereinigung, mit einem Beitrag von Thomas Meyer, Opladen 2 1996, S. 117. 22 Siehe Ch. Tesch, Die Prestigeordnung der Berufe als Maßstab sozialer Wertvorstellungen in der DDR [Diss.], Erlangen!Nümberg 1970, S. 121. Siehe auch Dieter Voigt!Werner Voß/Sabine Meck, Sozialstruktur der DDR. Eine Einfuhrung, Darmstadt 1987, S. 161-163.
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An der Spitze der Wohlstandsskala standen bis Anfang der siebziger Jahre auch die ,kapitalistischen' oder ,halbkapitalistischen' Unternehmer. Dabei handelte es sich um diejenigen Inhaber zwneist kleiner, auch mittlerer Betriebe, die sowohl die Industriereform als auch die kalten Enteignungen der ftlnfziger Jahre überstanden hatten, die ihre Selbständigkeit zwn Teil oder ganz zu behaupten vermochten und die trotz aller Reglementierungen über ein vergleichsweise hohes Einkommen verfügten, freilich "ohne nach westlichen Maßstäben jemals richtig reich werden zu können". 23 lnfolge des in der deutschen Geschichte einmaligen sozioökonomischen Transformationsprozesses sind diese zahlreichen Privatunternehmer bereits zu Beginn der fiinfziger Jahre dem Blickfeld der westdeutschen Zeitgenossen entrückt. Erinnert wurde die Enteignung und Verstaatlichung der Konzerne, der größeren Unternehmen, wahrgenommen wurden die existenzgefährdenden Folgen der schikanösen Steuerpolitik und die spektakulären Enteignungswellen, vor allem durch die Anwendung der Wirtschaftsstrafverordnung. Daß sich aber seit 1949 der privatwirtschaftliche Sektor in der DDR unter bewußter Duldung durch die SED hatte behaupten köllllen, daß sich noch Mitte der fiinfziger Jahre fast 70% aller Industrieunternehmen in privater Hand befanden, hat die westdeutsche Öffentlichkeit kaum interessiert. 24 Dieses Desinteresse war sicherlich nicht nur auf die periphere Bedeutung dieser Betriebe filr die DDR-Volkswirtschaft zurückzuführen. Dellll die zwneist im Konsumgüterproduktion angesiedelten Unternehmen beschäftigten nicht mehr als 15 % der in Industriebetrieben beschäftigten Arbeitnehmer und erwirtschafteten lediglich 15 % des industriellen Brutto-Produktionswertes.25 Nichtsdestotrotz: rechnet man zu den etwa 320.000 Handwerksmeistem und den etwa 14.000 Unternehmern noch die Familienangehörigen hinzu, so wird deutlich, daß der gewerbliche Mittelstand in den fiinfziger Jahren DDR eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Inmitten der weithin nivellierten Staatsgesellschaft existierte mithin eine Sozialgruppe, die sich über private Initiative, Selbständigkeit und (relativen) Wohlstand defmierte.
~ 3 Hanns Werner Schwarze, DDR heute, Köln/West-Berlin 1970, S. 40f. Siehe auch Lutz Niethammer!A/exander von Plato!Dorothee Wierling, Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffuungen, Berlin 1991, S. 278-281. 24 Eine Ausnahme bildeten namentlich Maria Haendcke-Hoppe und Kar/ C. Tha/heim, die regelmäßig über die ostdeutsche Privatwirtschaft, insbesondere über das Handwerk, berichteten (siehe etwa Tha/heim!Haendcke, Das Handwerk in Ost-Berlin und der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Beilage zu: Das Berliner Handwerk im Jahre 1963. Bericht der Handwerkskammer Berlin, West-Berlin 1964; Haendcke-Hoppe, Privatwirtschaft in der DDR. Geschichte - Struktur- Bedeutung (FS-Analysen), West-Berlin 1982). 25 Siehe Werner Bosch, Die Sozialstruktur in West- und Mitteldeutschland, hg. vom Bundesministerium fiir gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1958, S. 83.
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II. Telos, Strategie und Taktik Immer wieder unternahm die Parteispitze der KPD/SED Anstrengungen, diese soziale Differenzierung zu überwinden, immer wieder setzte sie an, die ostdeutsche Gesellschaft nach ihren Vorstellungen wnzuformen, sie zu homogenisieren und den im Verlauf der Modeme vollzogenen Prozeß einer Ausdifferenzierung von Politik, Ökonomie, Recht und Moral rückgängig zu machen. Alle Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit wollte die Staatspartei kontrollieren, planen und steuem. 26 Für den zentralen Bereich sozialistischer Gesellschaftspolitik, die Privatwirtschaft, hatte die SED daher ein Instrumentariwn ausgebildet, dessen strafrechtliche wie steuerpolitische Hebel eine Enteignungjederzeit erlaubten. 27 Binnen weniger Jahre zerschlug die SED denn auch die kapitalistischen Strukturen in Ostdeutschland und ging in den folgenden Jahrzehnten daran, eine staatssozialistische Wirtschaftsordnung zu etablieren.Z8 Radikal und unverzüglich umzusetzen vermochte die SED ihre gewaltigen Pläne jedoch nicht. Zu groß waren die bestehenden, aber auch die neu entstehenden Grenzen, so daß sich die Staatspartei bis zuletzt gezwungen sah, ihre Konstruktionen zu modifizieren, sie auf die außenpolitischen Lage, auf die ökonomischen Sachzwänge, auf die mentalen Vorbehalte der Bevölkerung abzustimmen. Das Telos einer klassenlosen, einer homogenisierten, einer entdifferenzierten Gesellschaft rUckte somit in weite Feme. 29 Inwiefern es der SED dank ihrer ständig modifizierten Strategie und Taktik kurz- und mittelfristig gelang, ihre Politik auf die tradierten Grenzen, auf die sozioökonomischen und mentalen Ausgangsbedingungen, abzustimmen und eine Diktatur zu errichten, inwiefern sie aber langfristig an den kontraproduktiven Folgen 26 Vgl. Meusche/ (wie Anm. 12) und dies., Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: GG 19 (1993), S. 5-14. 27 Siehe Hannsjörg F. Buck, Formen, Instrumente und Methoden zur Verdrängung, Einbeziehung und Liquidierung der Privatwirtschaft in der SBZ/DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. 11/2: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden/Frankfurt am Main 1995, S. 1070-1213. 28 Für einen Überblick über die wirtschaftspolitische und ökonomische Entwicklung in der SBZ/DDR siehe Wemer Matschke, Die industrielle Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) von 1945 bis 1948 (Wirtschaft und Gesellschaft im geteilten Deutschland 2), West-Berlin 1988 und Wolfgang Mühlfriedel, Herausbildung und Entwicklungsphasen des ,Volkseigentums', in: Materialien der Enquete-Kommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. 11/3: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden/Frankfurt am Main 1995, S. 2218-2286. Für eine Darstellung aus regionaler Perspektive siehe etwa Anel/e Dunkel, Zur industriellen Entwicklung Thüringens im Zeitraum 1945 bis 1952, 2 Bde. [Diss., FSU Jena], 1994.
29 Vgl. Ralph Jessen, Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: GG 21 ( 1995), S. 96-110.
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ihrer eigenen Transformationspolitik scheiterte, soll im folgenden am Beispiel des Handwerks skizziert werden. Noch vor Kriegsende hatten die im Moskauer Exil residierenden Kommunisten um Ulbricht, Pieck und Ackermann aufDruck Stalins und der von Dimitroff geleiteten Komintern von einer mittelstandsfeindlichen Gesellschaftspolitik Abstand genommen und eine sogenannte Bündnispolitik konzipiert. Der Enteignung anheimfallen sollten lediglich die sehr großen, industriell produzierenden Handwerksunternehmen sowie die Betriebe außerordentlich aktiver Nationalsozialisten. Die übrigen Betriebsinhaber sollten, unabhängig ihrer politischen Vergangenheit, verschont bleiben.30 Dieser bündnispolitischen Strategie lagen ausschließlich pragmatische Motive zugrunde. Zum einen hatten mit dem gewerblich-industriellen Mittelstand vertraute Kommunisten erkannt, wie unentbehrlich das Handwerk war, wollte man die akuten Probleme der Zusammenbruchsgesellschaft bewältigen. Denn ohne die kleinen Bäckereien und Metzgereien, ohne die Betriebe des Bekleidungshandwerks wäre die Versorgung der Bevölkerung unverzüglich zusammengebrochen. Auch filr die allerorts anfallenden Reparaturen erwies sich das Handwerk als unverzichtbar: die Schneider und Schuhmacher, die Schlosser und Schmiede, die Tischler und Maurer, die Feinmechaniker und KFZ-Instandsetzer, sie trugen entscheidend dazu bei, die allgegenwärtige Notlage zu mildem. Auch das produzierende Handwerk spielte eine zentrale Rolle, allen voran das zur Enttrümmerung wie zum Wiederaufbau herangezogene Bauhandwerk. Aber auch die ehemals fi1r den Export produzierenden Zweige wie das Töpfer- oder Glasinstrumentenhandwerk erfuhren nun eine deutliche Aufwertung. 31 Hinzu kam ein arbeitsmarktpolitisches Motiv: ohne die Ausbildungsbetriebe des Handwerks wäre ein Lehrstellenmangel entstanden, den weder die volkseigene noch die in sowjetischer Hand befmdliche Industrie hätte beheben köpnen.32 Ausschlaggebend fiir den moderaten handwerkspolitischen Kurs der KPD/SED aber war ein gesellschaftspolitisches Motiv. Die Parteifilhrung konzentrierte sich auf 30 Vgl. die Programmentwürfe der KPD-Führung im Moskauer Exil, in: "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 filr Nachkriegsdeutschland (Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der FUB), hg. von Peter Er/er, Horst Laude und Man.fred Wilke, Berlin 1994, S. 23-123. Siehe auch den seinerzeit vielbeachteten Aufruf des Zentralkomitees der KPD vom II. Juni 1945, abgedruckt in: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945-1949, hg. vom Ministerium filr Auswärtige Angelegenheiten der DDR und vom Ministerium filr Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Ost-Berlin 1968, S. 56-64. 31 Siehe die von der HA VI, Abt. Handwerk der Deutschen Zentralverwaltung der Industrie zusammengestellte Denkschrift Das Handwerk. Einzeldarstellungen vom Januar 1947, in: BArchB, G 2, Nr.
1308.
32 Vgl. Wolfgang Zank, Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland 1945-1949. Probleme des Wiederaufbaus in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (Studien zur Zeitgeschichte 31 ), München 1987, S. 116-119.
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die Enteignung der Konzerne, der großen und der mittleren Unternehmen. Es hätte einen strategischen Fehler bedeutet, wenn man eine weitere Front gegenüber einer zahlenmäßig weitaus größeren Sozialgruppe eröffuet hätte. Es ging nicht nur um die 320.000 selbständigen Meister, um deren 700.000 Familienangehörige, um die Hunderttausenden Gesellen und Lehrlinge. Die Sozialisten fiirchteten den Bandwerksmeister auch als Multiplikator bürgerlicher Ideologeme inmitten seiner Nachbarschaft. Täglich, so ein Funktionär, verkehrten beim Handwerker Menschen aus allen Kreisen. Der Bäcker, Fleischer, Schuhmacher, Schneider oder der Friseur, sie alle könnten "in geschickter Weise [ihre] Ansicht zum Ausdruck bringen." Denn im Laden, in der Werkstatt, im Salon spreche "man nicht nur vom Wetter", sondern diskutiere "auch über Tagesereignisse". 33 Daß der durchschnittliche Handwerker über eine antikommunistische, reaktionäre Gesinnung verfUge, daran zweifelte in der KPD/SED kaum einer. 34 Um so wichtiger war es, in dieser zahlenmäßig großen, fiir den sozioökonomischen Transformationsprozeß indes sekundären Sozialgruppe Unruhe gar nicht erst entstehen zu lassen. Keinesfalls durfte die Enteignung des Großkapitals durch die Eröffuung eines Nebenschauplatzes gefährdet werden. Zumal die KPD/SED mit der Forderung nach einer Sozialisierung der Privatwirtschaft auch den labilen Konsens zwischen den Blockparteien gefahrdet hätte. Für den innenpolitischen Frieden war es unabdingbar, in wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen Kompromißflihigkeit zu signalisieren. Und die stellten die Kommunisten durch ihr demonstratives Bekenntnis zur freien Handwerkswirtschaft unter Beweis.35 Ja, es gelang ihnen sogar, sich aufKosten der Sozialdemokraten als Vertreter einer ,neuen Mitte' zu profilieren. Denn während sich fiihrende Funktionäre der SPD nicht nur fiir eine flächendeckende Sozialisierung der Industrie, sondern auch fiir die Organisation der Handwerker in autonom sich selbst verwaltenden Kollektiven aussprachen, 36 lehnten die Kommunisten die Einrichtung handwerklicher Produktionskollektive kategorisch ab.37 Sie favorisierten ein Neben-
33 Gustav Lange, Die Bedeutung des Handwerks, S. 1-3, in: SAPMO-BArchB, NY 4182, Nr. 959, BI. 143-145. 3' Siehe etwa den Artikel des kommunistischen Wirtschaftswissenschaftlers Prof. Fritz Behrens, Die Mittelschichten in der kapitalistischen Gesellschaft, in: Einheit 2 (1947), S. 576 und die vom Präsidenten der thüringischen HWK Hans Kettel vermutlich im Jahre 1950 angefertigte Denkschrift Was erwarten wir von den Handwerksgenossenschaften? in: ThHStA W, LTh, MfW, Nr. 267, BI. 297f. Zur tatsächlichen Einstellung, insbesondere zur Nazifizierung der deutschen Handwerkerschaft zwischen 1918 und 1945 siehe Friedrich Lenger, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800 (NHB), Frankfurt am Main 1988, S. 186-202.
35 Siehe etwa Walter V/bricht, Das Aktionsprogramm der KPD in Durchfuhrung. Rede auf der GroßBerliner Funktionärkonferenz. 12. Oktober 1945, in: W. V. , Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, Bd. 2: 1933-1946, Ost-Berlin 1953, S. 486-508, hier 496. 36 Siehe etwa die vom Mitglied des sächsischen Landesvorstandes der SPD/SED Paul Gärtner verfaßte programmatische Schrift über Die Genossenschaftsbewegung, Ost-Berlin 1947, S. 57.
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einander von freier Handwerkswirtschaft und herkömmlichen Einkaufs- und Liefergenossenschaften (ELG), eine Position, mit der sie sich in der SED schon im Juni 1946 durchsetzen konnten. 38 Den bürgerlichen Parteien präsentierte die KPD/SED sich dadurch als eine Partei, die es mit der Bündnispolitik ernst meinte, als eine Partei, die ihrer sozialrevolutionären Vergangenheit abgeschworen hatte und nun bereit war, auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie zu agieren. Dieser Kurswechsel erleichterte es den Liberalen, vor allem den Christdemokraten, die sich mehrheitlich fiir eine entschädigungslose Enteignung der Schlüsselindustrien und der von NS-Verbrechern geleiteten Betriebe aussprachen,39 sich den politischen Sachzwängen zu beugen und sich mit der KPD/SED auf ein Reformprogramm zu einigen. Daß diesem Programm ein transformatorischer Kern eignete, daß die Industriereform der Vorbereitung sozialistischer Produktionsverhältnisse diente, haben viele erst zu spät erkannt. Diejenigen wiederum, die in grundlegenden Fragen von dem Reformprogramm abwichen, wurden von den Sowjets bestochen, bedroht, erpreßt, inhaftiert, bisweilen auch deportiert oder ermordet.40 Wer nicht bereit war, in den Westen überzusiedeln, der mußte sich spätestens seit 1948 zwischen innerer Emigration oder systemimmanenter Kooperation entscheiden. Eine bürgerliche Opposition gab es nicht mehr, sie war zusammengebrochen.41 37 Vgl. Heinz Buske, Zur Politik der SED bei der Entwicklung der Genossenschaften des Handwerks, in: Historische Leistungen der SED bei der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR, hg. von der Akademie filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED der deutschen Arbeiterbwegung, OstBerlin 1986, S. 104-112, hier 108. 38 Siehe das von Waller Ulbricht und Max Fechner versandte Rundschreiben Nr. 8/46 des SEDZentralsekretariates vom 18. Juni 1946 an die SED-Landes- und Provinzialvorstände, in dem zum Widerstand gegen die Errichtung von Produktivgenossenschaften aufgerufen wird (in: SAPMO-BArchB, DY 30, Nr. IV 2/6.02/14, BI. 19).
39 Zur gesellschaftspolitischen Grundposition der CDU siehe etwa deren zentralen Berliner Gründungsaufruf vom 26. Juni 1946 (abgedruckt in: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland (s. Anm. 30), S. 78-81.. Bei dem Aufruf der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands vom 5. Juli 1945 (abgedruckt in: ebd., S. 88-91) handelte es sich gewissermaßen um ein Kompromißprogramm, das den beiden Hauptströmungen in der Partei gerecht werden sollte: derjenigen, die einer weitreichenden Nationalisierung das Wort redete, und derjenigen, die eine Restitution der freien Marktwirtschaft anvisierte. So kontrovers die Diskussion über die Verwendung der enteigneten Betriebe auch gefiihrt wurde: die Mehrheit der Liberaldemokraten hatte gegen eine Enteignung der Konzerne und Großbetriebe nichts einzuwenden (siehe etwa Dunkel (wie Anm. 28), S. 134f.). 40 Siehe dazu die Studien von Stefan Creuzberger, Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ (Schriften des Hannah-Arendt-lnstituts fiir Totalitarismusforschung 3), Weimar/Köln/Wien 1996; Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949. Struktur und Funktion (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 44), München 1999; Norman M Naimark, The Russians in Gerrnany. A History ofthe Soviel Zone of Occupation, 1945-1949, Cambridge (Mass.)/London 1995 sowie die Beiträge in dem von Serge) Mironenko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato in Verbindung mit Volkhard Knigge und Günter Morsch herausgegebenen Sammelband über Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. I: Studien und Berichte, hg. und eingel. von A. v. P., Berlin 1998. 41
Siehe auch Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 2 1998, S. 55-59.
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Bis zu diesem Zeitpunkt war die KPD/SED in der Handwerkspolitik ihren bündnispolitischen Prinzipien treu geblieben. So hatte sie die handwerkliche Selbstverwaltung zwar reorganisiert, aber nicht völlig gleichgeschaltet.42 Gegenüber der SED-Zentrale konnte die regionale Verwaltung sich zunächst durchaus behaupten. Gemäßigte Handwerksfunktionäre nutzten den beachtlichen Spielrawn, den die Parteispitze den Ländern einräwnte, bis zum Herbst 1948.43 Das hatte zur Folge, daß in diesen Ländern, namentlich in Thüringen, eine Handwerkspolitik betrieben wurde, die im Interesse der Selbständigen erfolgte. Das läßt sich etwa an der Genossenschaftsbildung belegen. In sozialistisch dominierten Ländern wie Sachsen setzte die Kammer alles daran, die Handwerker zum Eintritt in eine ELG zu bewegen, in Thüringen dagegen wurde auf jeglichen Druck verzichtet. Diese regionalspezifische Politik hatte erhebliche Unterschiede zur Folge: während sich die Anzahl der Mitgliederbetriebe in den Handwerkergenossenschaften der SBZ zwischen 1945 und 1948 durchschnittlich verdreifachte, in Brandenburg sogar mehr als verzehnfachte, stieg sie in Thüringen nicht einmal wn die Hälfte. 44 Zu intervenieren pflegte die Parteifiihrung der KPD/SED eher dann, wenn die Bündnispolitik durch eigene Genossen der lokalen oder regionalen Ebene ernsthaft gefiihrdet wurde. So beugte man in allen Ländern einer Abwanderung, gar einer Revolte der mehrheitlich konservativ gesinnten Handwerker dadurch vor, daß man sie im Rahmen der Industriereform demonstrativ von einer Enteignung verschonte. Spätestens war im Frühjahr 1946 intern die Losung ausgegeben worden, die Mehrzahl der volkswirtschaftlich unbedeutenden Betriebe an die Eigentümer zurückzugeben.4s Und Ulbricht zögerte nicht, dieses Vorgehen immer wieder öffentlichkeitswirksam zu propagieren.46 Ein solcher bUndnispolitischer Kurs stieß bei den
42
Siehe Wilhelm Wernet, Handwerkspolitik (Grundriß der Sozialwissenschaft 13), Göttingen 1952, S.
64f. und 85. Vgl. fur Sachsen-Anhalt Thomas Großbölting, Integration, Repression und Eigen-Sinn: Sach-
sen-Anhaitisches Handwerk und seine Organisation in der werdenden DDR, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission fiir Sachsen-Anhalt 22 (1999/2000), S. 315-344, hier 319-334.
43 Das gilt insbesondere fiir die thüringische Handwerkskammer, deren bis zum Oktober 1948 amtierender Präsident Heinz Baumeister (SPD/SED) auch der Kommission ftlr Handwerksfragen vorsaß. Bei diesem innerhalb der Abt. Wirtschaft des SED-Zentralsekretariats angesiedelten Ausschuß handelte es sich um die einzige zonale Interessenvertretung des ostdeutschen Handwerks (siehe die Niederschriften über die Vorstandssitzungen der HWK Thüringen, in: ThHStAW, LTh, Mtw, Nr. 1082). 44 Siehe Bartho Plönies/Otto Schönwalder, Die Sowjetisierung des mitteldeutschen Handwerks. Ein Bericht über die Lage des Handwerks in der sowjetischen Zone (Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn 2 1953, S. 21.
45
Siehe das Protokoll über die am 12. April 1946 abgehaltene Besprechung der ZDK, in: BArchB, DO
3, Nr. I, BI. 96-113.
46 Siehe etwa Waller Ulbricht, Der große Wirtschaftsplan und seine Kritiker. Aus dem Referat auf der 12. Tagung des Parteivorstandes der SED. 28. und 29. Juli 1948, in: W U., Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, Bd. 3: 1946-1950, Ost-Berlin 1953, S. 284-286.
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Kommunisten vor Ort zum Teil auf erbitterten Widerstand. 47 Pennanent versuchten sie, die Industrierefonn zur flächendeckenden Enteignung auch kleiner und mittlerer Betriebe zu instrumentalisieren. Die Berliner Parteispitze sah sich immer wieder gezwungen, mit Hilfe der ZDK, der Zentralen Deutschen Kommission fi1r Sequestrierung und Beschlagnahme, die sozialistisch dominierten Landeskommissionen zu disziplinieren. So mußte sich der Delegierte aus Weimar auf einer im Mai 1946 anberaumten Besprechung vorhalten lassen, die Sequesterbefehle unterlaufen zu haben. Voller Entrüstung nahm die Kommission zur Kenntnis, daß die Thüringer nur ein Fünftel aller Betriebe zur Rückgabe vorgesehen hatten. Die ZDK, die mindestens dreimal so viele Objekte in private Hand zurückgegeben sehen wollte, begnügte sich nicht damit, den Weimarer Delegierten aufrecht grobe Weise zurechtzustutzen, sie stellte ihm vier ihrer Mitarbeiter an die Seite, um sicherzugehen, daß die Landeskommission den zonalen Vorgaben folgte. 48 In der Folge wurden in Thüringen denn auch die meisten der beschlagnahmten Handwerksbetriebe ihren Eigentümern zurückgegeben. Insgesamt sollten in der SBZ nur 20 %aller Handwerksbetriebe der Enteignung anheimfallen. 49 Davon überdurchschnittlich betroffen waren die größeren Finnen, namentlich die Bauunternehmen. 50 Insofern hatte die lndustrierefonn ihre bündnispolitische Funktion erfiillt. Nachdem die wichtigste Phase des sozioökonomischen Transfonnationsprozesses ohne nennenswerten Widerstand seitens der Handwerkerschaft abgeschlossen worden war, begann die SED ihren bündnispolitischen Kurs ihr gegenüber einzuschränken. Noch vor Gründung der DDR wurde etwa in Thüringen ein Großteil der fiir Handwerkspolitik zuständigen Funktionäre auf regionaler und lokaler Ebene gegen willfiihrige Genossen ausgetauscht. 51 Gegen den anflinglich lautstarken Protest zahlreicher Genossenschafter ging die SED seit 1949 dazu über, in allen Ländern die konventionell verfaßten Landesgenossenschaften aufzulösen und die darin organisierten Handwerker in besser kontrollierbare Kreisgenossenschaften zu überfiihren. 52 Die damit bezweckte Atomisierung der genossenschaftlich organisierten Handwerkerschaft erfuhr überdies dadurch eine Steigerung, daß die SED im 47 Zu den KPD/SED-intemen Konflikten zwischen der ParteifiihruntJ und der radikalen Basis siehe auch Frank Thomas Stößel, Positionen und Strömungen in der KPD/SED 1945-1954, Köln 1982, passim.
•• Siehe den Bericht über die Besprechung mit der ZDK in Berlin am 28. Mai 1946, in: ThHStA W, LTh, Md!, Nr. 204, BI. 45f. 49
Siehe RudolfWassermanns Art. Enteignungen, in: Lexikon des DDR-Sozialismus, S. 181-184.
50
SieheLenger (wie Anm. 34), S. 206f.
51 Siehe etwa das Protokoll Nr. 28/48 über die Sitzung des Sekretariats der SED Thüringens am 6. Juli 1948, auf der die kurz darauf vollzogene Säuberung der thüringischen Handwerkskammer erstmals thematisiert wurde (in: ThHStAW, BPA SED EF, Nr. IV L 2/3-033, BI. 66).
52 Siehe etwa den Monatsbericht der thüringischen Abt. Handwerk fiir September 1949 und den Beitrag des Referates Allgemeine Handwerksfragen zum Jahresbericht 1949, in: ThHStAW, LTh, MfW, Nr. 1062.
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Jooi 1949 eine Beschäftigungsgrenze einfiihrte: alle Betriebe, die über mehr als zehn Mitarbeiter verfUgten, mußten aus der Handwerksrolle ood damit auch aus den Handwerksgenossenschaften ausscheiden. Diese zumeist bürgerlich gesinnten Meister, von denen überdurchschnittlich viele in den Genossenschaftsvorständen vertreten gewesen waren oder als (Landes-)Obermeister fungiert hatten, wurden fortan von den Industrie- und Handelskammern betreut. 53 Gleichzeitig verschärfte die SED den Druck auf die noch selbständigen Handwerker, um sie zu einem Eintritt in diese reorganisierten Kollektive zu bewegen. Allzu rigide durfte sie dabei freilich nicht operieren: die Genossen wußten um die Labilität des innenpolitischen Friedens und verhielten sich dementsprechend.54 Keinen geringen Erfolg versprach sich die SED von Agitationskampagnen. Zu diesem Zweck bediente sie sich der insbesondere zwecks Integration des Mittelstandes gegründeten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD), die einen gewaltigen Werbefeldzug filr die Popularisierung der Genossenschaftsidee startete.55 Da sich aber nur die wenigsten Handwerker so überzeugen ließen, verlegte die SED sich darauf, die Handwerker durch das Versprechen materieller Vergünstigungen zu gewinnen. Die demonstrative Benachteiligoog der freien Handwerker bei der Material- und Rohstoffversorgung sollte gleichzeitig in weiten Kreisen der Handwerkerschaft die Angst vor dem Bankrott schüren. Viele Handwerker zogen es denn auch vor, den weitaus besser bedachten Genossenschaften beizutreten, zumal sie sich von ihnen einen gewissen Schutz vor der Konkurrenz anderer auf dem handwerklichen Sektor tätiger Kollektive (wie Handelsorganisationen oder Konsumgenossenschaften) versprachen. 56 Insofern die SED in der Regel aufbrachiale Gewalt verzichtete ood statt dessen eine von indirektem Druck begleitete Gewinnungstaktik verfolgte, bewies sie innerhalb ihrer von ideologischen Vorgaben geprägten Strategie eine ausgeprägte Sensibilität filr die weiterhin waltenden Sachzwänge ökonomischer wie innenpolitischer Art. Sie wußte, daß das private Handwerk filr den Aufbau des Arbeiter- und Bauernstaates noch immer unverzichtbar war.
53 Siehe auch Peter Knoblich, Die Ordnung des Handwerks in beiden deutschen Staaten [Diss., JuliusMaximilians-Universität Würzburg], 1976, S. 24.
54 Siehe etwa das von dem thüringischen Kammerpräsidenten Paul Heß und seinem Mitarbeiter Waller Segebrecht an das thüringische Wirtschaftsministerium gerichtete Schreiben vom 7. Dezember 1950, in: ThHStAW, LTh, Mtw, Nr. 1101. 55 Neben der Veranstaltung sogenannter Versammlungswellen schlug sich dies vor allem in der Verbreitung von Broschüren wie denen der Nationaldemokratischen Schriftenreihe nieder. Zur Funktion der NDPD siehe grundsätzlich Josef Haas, Die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD). Geschichte, Struktur und Funktion einer DDR-Blockpartei [Diss.], Erlangen!Nümberg 1987 und Dietrich Staritz, Die National-Demokratische Partei Deutschlands 1948-1953. Ein Beitrag zur Untersuchung des Parteiensystems der DDR, West-Berlin 1968.
56 Siehe Bartho Plönies/Otto Schönwalder, Die Sowjetisierung des mitteldeutschen Handwerks. Ein Bericht über die Lage des Handwerks in der sowjetischen Zone (Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn 1951, S. 12.
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Dementsprechend blieb die bilndnispolitische Strategie und Taktik weiterhin verbindlich. Zwar kündigte Ulbricht bereits wenige Jahre später, auf der Il. SEnParteikonferenz im Juli 1952, die Umwandlung der reorganisierten Genossenschaften in Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) an. 57 Auch die bislang nicht genossenschaftlich organisierten Handwerker, namentlich die Inhaber größerer Betriebe mit bis zu zehn Beschäftigten, sollten diesen Kollektiven beitreten, deren Verfassung nicht mehr zwischen Meistem, Gesellen und Arbeitern unterschied. Doch die Handwerker konnten solchen sozialistischen Experimenten nichts abgewinnen: weder der PGH II noch der PGH I, einer Übergangsorganisation, die man der echten Produktionsgenossenschaft vorgeschaltet hatte und in der die Produktionsmittel offiziell im Eigentum der Handwerker blieben, war Resonanz beschieden. Bis 1955 trat weniger als 1 %der selbständigen Handwerker einer der beiden Produktionsgenossenschaften bei.58 Gleichwohl sah sich die SED aus innenpolitischen wie ökonomischen Gründen gezwungen, bei der Kollektivierung auf allzu repressive Maßnahmen zu verzichten. Eine Zwangskollektivierung, wie sie auf dem Lande in den Jahren 1952/53 durchgefilhrt wurde, eine Enteignungsaktion, wie sie gegenüber Gastwirten und Hotelbesitzern im Rahmen der ,Aktion Rose' im Frühjahr 1953 stattfand,59 gab es gegenüber der Handwerkerschaft nicht. Bis zu einem gewissen Grade blieb die SED dieser bündnispolitisch ausgerichteten Strategie auch in den folgenden Jahrzehnten verhaftet. So verengte sie zwar seit Ende der filnfziger Jahre erneut den Spielraum filr den Mittelstand. Ihren Tiefpunkt erreichte die Bilndnispolitik dann mit der Vergesellschaftungsaktion von 1972, in deren Folge sämtliche Industriebetriebe verstaatlicht wurden. 60 Gegenüber dem Handwerk aber gab die SED ihre bündnispolitische Strategie grundsätzlich nicht auf. Ja, sie förderte sogar seit Beginn der l980er Jahre eine partielle Reprivatisierung. 61 57 Siehe das Protokoll der Verhandlungen der II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 9. bis 12. Juli in der Wemer-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Ost-Berlin 1952, S. 98. 58 Siehe Maria Haendcke-Hoppe, Kurskorrekturen in der Handwerkspolitik der DDR, in: DA 14 (1981 ), S. 1276-1284, hier 1276. 59 Siehe Fa/co Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht (Forschungen zur DDR-Geschichte 1), Berlin 1995, S. 59-67 und 73-85 sowie Klaus Müller, Die Lenkung der Strafjustiz durch die SEDStaats- und Parteifuhrung der DDR am Beispiel der Aktion Rose, Frankfurt am Main!Berlin/Bem!New York!Paris!Wien 1995, S. 17-78. Zur Anwendung der Wirtschaftsstrafverordnung siehe auch Kar/ Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1979, S. 269-273; Petra Weber, Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945-1961 (Veröffentlichungen zur SBZIDDR-Forschung im !tz/Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 46), München 2000, S. 163-251. 60 Siehe Maria Haendcke-Hoppe, Die Vergesellschaftungsaktion im Frühjahr 1972, in: DA 6 (1973), S. 37-41 ; Monika Kaiser, 1972 0 Knockout flir den Mittelstand. Zum Wirken von SED, CDU, CDU, LDPD und NDPD flir die Verstaatlichung der Klein- und Mittelbetriebe, Berlin 1990. 6 1 Siehe Haendcke-Hoppe (wie Anm. 58); dies., Das private Handwerk in der DDR, in: DA 20 ( 1987), S. 843-851; Thalheim!Haendcke-Hoppe (wie Anm. 21 ).
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111. Kapitulation, Verweigerung und Arrangement Solange die SED auf eine Zwangskollektivierung verzichtete, solange sie die Selbständigkeit des Handwerkers oder Privatunternehmers duldete, konnte sie mit deren widerwilliger Kooperation rechnen. Das Arrangement der Mittelständler mit der sich etablierenden Diktatur verdankte sich nicht allein der Hoffnung auf einen gewissen materiellen Wohlstand. Wichtiger noch war der soziale Status, den der Selbständige in der nivellierten Gesellschaft von Lohnabhängigen einnahm. Wer seinen Betrieb trotz aller Benachteiligungen über die Runde brachte, der genoß in der Bevölkerung ein hohes Prestige, selbst wenn der Fiskus jeden nennenswerten Gewinn wegsteuerte. 62 Dieses ,Kapital' wurde um so wertvoller, als der Kreis selbständiger Handwerker und Unternehmer allmählich immer kleiner wurde. Das Arrangement des gewerblichen-industriellen Mittelstandes spiegelte sich auch im Fluchtverhalten wider.63 Gerade aus den Kreisen der Handwerkerschaft entschloß sich nur ein vergleichsweise geringer Teil filr eine Übersiedlung in den Westen. Es waren vorwiegend solche Handwerker, die sich noch keine sichere ökonomische Existenz aufgebaut hatten, deren Selbständigkeitaufgrund der sozialistischen Wirtschaftspolitik gefährdet war oder deren Know-how auch im Westen auf derart große Nachfrage stieß, daß sich der Verlust von Werkstatt, Werkzeugen und Kundenstamm verkraften ließ. In der Regel handelte es sich bei den übersiedelnden Handwerker um Flüchtlinge aus den Ostgebieten oder um Spezialhandwerker wie die Büchsenmacher aus dem Thüringer Wald, nicht aber um KFZ-Schlosser, Wäscher oder Konditoren. 64 Angesichts der unsicheren Zukunft, die einen in Westdeutschland erwartete, war es nur verständlich, daß man den kleinen Wohlstand, das Eigenheim, die Werkstatt, die Fabrik nicht aufzugeben und die Heimat zu verlassen bereit war. Geschickt verstand die ostdeutsche Fachpresse, die Handwerker und Unternehmer in diesem nicht immer unzutreffenden Bild von der westdeutschen Zusammenbruchsgesellschaft zu bestätigen. So war die in Ost-Berlin verlegte Zeitschrift Das Handwerk voll von Berichten über die Krisen des Kapitalismus, über die Folgen der von den Amerikanern forcierten Gewerbefreiheit, über die hohe Arbeitslosigkeit. 65 62 Siehe Monika Tatzlww, Gehen oder Bleiben. Privatindustrielle nach der Staatsgründung, in: "Provisorium fiir längstens ein Jahr". Protokoll des Kolloquiums ,Die Gründung der DDR', hg. von Eike Scherstjano Berlin 1993, S. 205-209. 63 Vgl. Peter Hejele, Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen aus der SBZJDDR nach Westdeutschland. Unter besonderer Berücksichtigung Bayerns (1945-1961) (BzUG 4), Stuttgart 1998, 60f.
s.
64 Siehe etwa die zwischen 1948 und 1949 angefertigten Listen derjenigen thüringischen Handwerks-, Klein- und Industriebetriebe, deren Inhaber in den Westen übergesiedelt waren, in: ThHStAW, LTh, MfW, Nr. 425. 65
Eine Auswahl: Art. Ein Vergleich, in: Das Handwerk. Zeitschrift fiir das deutsche Handwerk 2 (April
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Grundsätzlich gilt es auch zu berücksichtigen, daß die Handwerker zumeist einer traditionellen Lebenswelt verhaftet, daß sie bodenständig, heimatverbunden, familienbewußt waren. 66 Nicht nur deshalb sind RUckschlüsse aus dem unterdurchschnittlichen Fluchtverhalten auf die politische Einstellung mehr als fragwilrdig. Viele Ostdeutsche hatten Angst vor der mit strafrechtlicher Verfolgung verbundenen Republikflucht, viele hatten sich auf ein ,Überwintern' in der DDR eingestellt: der Abzug der Sowjets, die Kapitulation der SED, die Wiedervereinigung, das alles schien noch zu Beginn der filnfziger Jahre eine realistische Option zu sein. Und doch: wer blieb, wer seinen Betrieb behalten, wer seinem Beruftreu bleiben wollte, der mußte sich mit der Diktatur arrangieren, auch wenn er sie aus tiefster Überzeugung ablehnte. Nicht selten verlangte die SED von den Gewerbetreibenden ein plakatives Bekenntnis zum Sozialismus: sie mußten an Festveranstaltungen teilnehmen, ihre Schaufenster mit Agitationsmaterial schmUcken oder in die Einheitspartei eintreten.67 Bei Nichtbefolgung drohte die SED, die Gewerbegenehmigung zu entziehen, Steuerprüfungen zu veranlassen oder Verträge zu stornieren.68 Immer wieder fanden sich aber auch Unternehmer oder Handwerker, die der SED freiwillig beitraten, seltener aus Überzeugung denn aus Kalkill: um bei Auftragsvergaben und Materialverteilungen bevorzugt behandelt zu werden. 69 Die Mehrheit indes verhielt sich zurückhaltend. So blieb etwa der Anteil von Handwerkern und Unternehmern in der NDPD weit hinter den Erwartungen zurück. 70 1948), H. 4, S. I; Ernst Amis, Was nun? In: Das Handwerk 7 (Juli 1948), H. 7, S. 2; Art. Wachsende Notlage des Westberliner Handwerks, in: Das Handwerk 3 (Januar 1949), H. I, S. 12; Art. Tragödie des Währungsbetruges, in: Das Handwerk 4 (April 1950), H. 4, S. 13. Zur tatsächlichen Lage des westdeutschen Handwerks vgl. Christoph Boyer, Zwischen Zwangswirtschaft und Gewerbefreiheit. Handwerk in Bayern 1945-1949 (Studien zur Zeitgeschichte 41 ), München 1992; Abdolreza Scheybani, Handwerk und Kleinhandel in der Bundesrepublik Deutschland. Sozioökonomischer Wandel und Mittelstandspolitik 1949-1961 (Studien zur Zeitgeschichte 48), München 1996. 66 Siehe Heinz Lamprecht, Das Handwerk in der industriellen Gesellschaft, in: Beiträge zur Soziologie der industriellen Gesellschaft, hg. von Wallher Hoffmann, Dortmund 1952, S. 68-74, hier 68. 67 Siehe etwa den Arbeitsplan der HWK Thüringen zur Vorbereitung der Volkswahlen im Jahre 1950, in: ThHStAW, LTh, MfW, Nr. 1064.
68 Diese Praxis, von befragten Zeitgenossen immer wieder bestätigt, ist in der partei- und verwaltungsinternen Überlieferung nur selten dokumentiert ( vgl. etwa die im Juni 1951 gefilhrte Korrespondenz zwischen der SED-Kreisleitung Eisenach und der dortigen !HK-Geschäftsstelle, in: ThHStAW,IHK Th, KGS ESA, Nr. 81). 69 In Eisenach etwa waren um 1950 12 %aller dort ansässigen Unternehmer Mitglied in der SED (errechnet nach SED-internen Angaben, in: ThHStAW, !HK Th, KGS ESA, Nr. 81). 70 Siehe Jürgen Frölich, Transmissionsriemen, Interessenvertretung des Handwerks oder Nischenpartei? Zu Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der NDPD, in: Materialien der Enquete-Kommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. 1112: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und
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Das Arrangement der Handwerker und Unternehmer gründete bestenfalls auf einer interessengeleiteten Loyalität. Darüber gab selbst die SED sich keiner Illusion hin. Aus den intern angefertigten Überwachungsberichten, aus den Protokollen der Handwerkerversammlungen, aus den Eingaben und Beschwerden wußte sie schließlich um die weit verbreiteten Aversionen des gewerblich-industriellen Mittelstandes gegen das realsozialistische System. 71 Solange sich diese Abneigung aber in spontanem oder vereinzeltem Protest gegen konkrete Mißstände erschöpfte, versuchte die SED auf die von den Handwerkern vorgebrachten Klagen mit Agitationskampagnen und dem Erlaß neuer, vorgeblich dem Handwerk dienender Gesetze zu antworten. 72 Erst auf Kritik, die sich so nicht mehr einbinden ließ, reagierte die Staatspartei mit Erpressung oder Kriminalisierung. Bei den geringfilgigsten Vorkommnissen pflegten Volkspolizei und Staatssicherheit zu Beginn der filnfziger Jahre zu ermitteln. 73 Politische Gewalt blieb mithin ein konstitutiver Bestandteil der sozialistischen Taktik. Ihre Wirkung entfaltete sie vor allem als Präventivmittel. Jeder Handwerker, jeder Unternehmer wußte um die Omnipotenz des Staatsapparates und verhielt sich dementsprechend. Das widerwillige Arrangement der Mittelschichten mit dem Realsozialismus blieb auch den wenigen Westdeutschen, die sich noch nach 1949 filr die ostdeutsche Gesellschaft interessierten, nicht verborgen. So registrierte der Psychologe Hans Köhler in seinem Lagebericht Zur geistigen und seelischen Situation der Menschen in der Sowjetzone bei der Handwerkerschaft einen ausschließlich von materiellen Motiven bestimmten Anpassungskurs. Seit die SED dazu übergegangen sei, mit Hilfe wirtschaftspolitischer Hebel wie dem Steuerwesen die Selbständigkeit der Privatbetriebe zu geflihrden, hätten die Handwerker ihre insgeheim ablehnende, nach außen hin aber neutral eingenommene Haltung dem Staat gegenüber aufgegeben. Sie zeigten sich zu Zugeständnissen bereit, nur um ihren Status aufrechtzuerhalten oder im Falle einer Enteignung in ihrem ehemaligen Betrieb als angestellter Meister oder Verkäufer arbeiten zu dürfen. Anders als die handlungswillige Arbeiterschaft zeige der Mittelstand keinerlei die Frage der Verantwortung, hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden/Frankfurt am Main 1995, S. 1542-1578, hier 1553-1557. 71 Siehe etwa das Expose über Handwerksfragen der Abt. Wirtschaftspolitik im SED-Parteivorstand vom 25. Aprill950, in: BArchB, DEI, Nr. 11679, BI. 12-26. 72 Siehe insbesondere das Gesetz zur Förderung des Handwerks vom 9. August 1950, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik.Nr. 91 (19. August 1950) und das Gesetz über die Steuer des Handwerks. Vom 6. September 1950, in: Die Steuer des Handwerks mit Steuertabellen, hg. vom Ministerium der Finanzen der Deutschen Demokratischen Republik, Ost-Berlin [1952], S. 57-60.
73 Siehe etwa die im Jahre 1952 angefertigten Lageanalysen des Erfurter Volkspolizeipräsidenten, in: ThHStAW, LTh, Mdl, LVoPoTh, Nr. 217.
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Bereitschaft, durch persönlichen Einsatz die Lage zu verändern. Hilfe erwarte man stets nur von außen, von der Bundesrepublik, vom Westen. 74 Wie Köhler fiihrte auch Arnulf Baring dieses Verhalten des Mittelstandes auf dessen überkommene Mentalitäten zurück. Ihm zufolge war die durch Republikflucht dezimierte Handwerkerschaft durch die sozialistische Politik derart eingeschüchtert worden, daß sie am 17. Juni 1953 nur als passiver Zuschauer teilgenommen hätte. 75 Nun vertreten neuere Forschungen die Ansicht, daß es sich entgegen Barings Behauptung nicht nur um einen Aufstand der Arbeiter gehandelt habe, sondern um eine gescheiterte Revolution, an der auch die bürgerlichen Mittelschichten teilgenommen hätten. 76 Tatsächlich läßt sich aus den Quellen eine Beteiligung des gewerblichindustriellen Mittelstandes durchaus nachweisen. 77 Die Initiative ergriffen hat er freilich nicht. Hätte die Arbeiterschaft den Aufstand nicht ausgelöst, so hätten die Handwerker und Unternehmer sicherlich nicht aufbegehrt. Insofern ist Barings These von der Atomisierung der Handwerkerschaft so unzutreffend nicht. Der scheinbar widersprüchliche, auf den gesamten gewerblich-industriellen Mittelstand übertragbare Befund von interessengeleiteter Kooperation und aktivem Aufbegehren im Verlaufe des Aufstandes hilft, das eigentümliche Nebeneinander von Stabilität und Instabilität des SED-Regimes78 zu erklären. In der Regel brauchte die SED kollektiven Widerstand tatsächlich nicht zu befiirchten, zu groß war die Furcht der Bevölkerung vor Repressionen aller Art. Prinzipiell aber befand sich die sozialistische Herrschaft zu jedem Zeitpunkt in einer mehr oder weniger prekären Lage. Bei jeder größeren politischen oder ökonomischen Krise drohte die Bevölkerung ihr Arrangement aufzukündigen.
74 Siehe Hans Köhler, Zur geistigen und seelischen Situation der Menschen in der Sowjetzone (Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn 1952, S. 38.
75
Siehe ArnulfBaring, Der 17. Juni 1953 (Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn 1957,
S. 39f.
76 Siehe insbesondere Arm in MilleriStefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDRGeschichte, München 1993, S. 27-162.
77 Siehe etwa den Situationsbericht Ulrich Fahls vom 17. Juli 1953, in: ACDP, Nr. Vll-011 -1743, zitiert nach Udo Wengsl, Der Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. Aus den Stimmungsberichten der Kreisund Bezirksverbände der Ost-CDU im Juni und Juli 1953, in: VZG 41 (1993), S. 277-321, hier 295f. Auch die schichtspezifische Zusammensetzung der im Verlauf des Aufstandes Inhaftierten deutet auf eine nicht unbedeutende Beteiligung der Handwerker und Unternehmer hin (siehe Torsten Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk, Berlin 1991 , S. 300f.). 70
Vgl. Hermann Weber, Die DDR 1945-1990 (Oidenbourg Grundriß der Geschichte 20), München
2 1993,
S. I.
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Arminüwzar
Gegenüber dem Mittelstand vermochte die SED mit Hilfe ihrer bündnispolitischen Strategie solchen Krisen über viele Jahre hinweg entgegenzusteuem. Die Bereitschaft der SED, auf Versorgungskrisen kurzfristig und flexibel zu reagieren und ihren gesellschaftspolitischen Kurs gegebenenfalls zu revidieren, sollte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Staatspartei grundsätzlich nicht in der Lage war, die selbstproduzierten strukturbedingten Dysfunktionen des realsozialistischen Systems zu erkennen. Bis zuletzt blieb sie den Gesetzen des Marxismus-Leninismus verhaftet, bis zuletzt versprach sich sie sich von der Vollendung des Sozialismus eine prinzipielle Lösung aller Probleme. Als Gefangene ihres gesellschaftspolitischen Diskurses trugen die Sozialisten so nolens volens zur Auflösung ihres eigenen Systems bei.
Instanzen der Diktaturdurchsetzung in Sachsen 1945-52 Ein Forschungsbericht
Von Mike Schmeitzner I. Vorüberlegungen Das hier vorzustellende Forschungsprojekt 1 untersucht - wie im Titel bereits ersichtlich - die Durchsetzung des kommunistischen Regimes im SBZ-ModellLand Sachsen zwischen der sogenannten "Stunde Null" im Jahre 1945 und der als Schlußpunkt dieses Prozesses anzusehenden Zerschlagung der ostdeutschen Länder 1952. Sie konzentriert sich dabei auf jene politischen Instanzen des Landes, die als die zentralen strategischen Hebel angesehen werden müssen, mit denen die sowjetische Besatzungsmacht im Verein mit den deutschen Kommunisten in einem fast siebenjährigen Prozeß die politischen, sozialen und ökonomischen Umwälzungen auf dem Weg von der ersten zur zweiten deutschen Diktatur vorbereitete, durchfiihrte und absicherte: Die "Sowjetische Militäradministration in Sachsen" (SMAS), die KPD/SED und das als "Parteiministerium" etablierte sächsische Innenministerium. Im Mittelpunkt der herrschaftsgeschichtlich ausgerichteten Untersuchung stehen konsequenterweise der Aufbau, die Verzahnung sowie die Funktions- und Wirkungsweise jener zentralen Hebel. Diese Mechanismen und Zusammenhänge können in dem vorliegenden Forschungsbericht allerdings nur angedeutet und problematisiert werden. Die Wahl Sachsens als Untersuchungsgegenstand erfolgte aufgrund des besonderen sozialökonomischen und politischen Charakters dieses Landes sowie seines Modell-Charakters innerhalb der SBZ. Als eines der wichtigsten Ursprungsländer der industriellen Revolution in Deutschland wies Sachsen im Jahre 1945 48% des sowjetzonalen Industriepotentials auf. Es war außerdem das 1 Unter dem Titel "Instanzen der Diktaturdurchsetzung in Sachsen 1945-1952" wird z. Z. vom Autor am Hannah-Arendt-lnstitut ein Forschungsprojekt bearbeitet, welches Teil des Forschungsverbundes "Sachsen unter totalitärer Herrschaft 1933-1961" ist.
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bevölkerungsreichste Land der SBZ und darüber hinaus die "Wiege" der organisierten deutschen Arbeiterbewegung. Bereits um die Jahrhundertwende galt Sachsen als "Rotes Königreich". Neben Thüringen hatte Sachsen zudem Ende 1923 den einzigen Regierungseintritt von Kommunisten in der Zeit der Weimarer Republik erlebt. Schon damals hatte die Führung der Kommunistischen Internationale in Moskau das Land als Ausgangspunkt eines "Deutschen Oktobers" in den Blick genommen.2 Diese sozialökonomische und politische Schlüsselstellung Sachsens, das wie kein anderes Land der SBZ noch über eine derart prägende Tradition landespolitischer Konstitution und parlamentarischer Partizipation verfUgte, rückte es ab 1945 in das Blickfeld von SMAD und deutschen Kommunisten. Bei der antizipierten sozialökonomischen und staatspolitischen Umwälzung wurde es zu dem "Modell-Land" der SBZ. Das Industriereferendum vom 30. Juni 1946 fand nur in Sachsen statt, weil, wie Walter Ulbricht im März des Jahres betonte, dieses Land "als eines der stark industrialisierten Länder des Reiches und als Land mit der stärksten Industrie in der sowjetischen Besatzungszone als Schrittmacher in der Veränderung der Produktionsverhältnisse vorangehen müsse" 3• Daß SMAD und SED die ersten Gemeindewahlen am I. September 1946 in Sachsen abhielten, hatte mit den hier SBZ-weit schlagkräftigsten SEDund FDGB-Landesverbänden zu tun. Man versprach sich ein "positives Signal" fiir die terminlieh später anberaumten Wahlen in den übrigen Ländern der SBZ. Eine Vorreiterrolle kann das Land aber auch bei der Grundlegung polizeistaatlieber Strukturen beanspruchen. Nach Norman Naimark sei es zum "Modell fiir die Polizeiorganisation in der Besatzungszone geworden." 4
II. Das Personal der Diktaturdurchsetzung Für die Entwicklung Sachsens ab Mai 1945 waren die Moskauer Exilplanungen der KPD5 samt ihrer Modifizierungen und die im Gefolge der Roten Armee ins Land gelangten Moskau-Kader der KPD von maßgeblicher Bedeutung. Ohne 2 Vgl. dazu Mike Schmeitzner, A/fred Fe/lisch 1884-1973. Eine politische Biographie, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 243 f. 3 Stefan Creuzberger, "Klassenkampf in Sachsen". Die Sowjetische Militaradministration in Deutschland (SMAD) und der Volksentscheid am 30. Juni 1946, in: Historisch-Politische Mitteilungen, I. Jg. (1994), S. 121. 4 Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997, S. 453.
s Zu den Exil-Planungen der Moskauer Führung der KPD ausführlich Peter Er/er/Horst Laude/Marifred Wilke (Hg.), "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994; Gerhard Keider/ing (Hg.), "Gruppe Ulbricht", in: Berlin April bis Juni 1945. Von den Vorbereitungen im Sommer 1944 bis zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945. Eine Dokumentation, Berlin 1993.
Instanzen der Diktaturdurchsetzung in Sachsen
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die bis nach Mitteleuropa vorgeschobene sowjetische Einflußsphäre und die am 9. Juli I945 installierte "Sowjetische Militäradministration in Sachsen" (SMAS) ist die mit der Besetzung von Schlüsselpositionen in der Verwaltung und der Gründung der KPD einsetzende kommunistische Diktaturdurchsetzung allerdings nicht vorstellbar. Die in der Sowjetunion geschulten und für ihren Einsatz in Sachsen!Mitteldeutschland speziell präparierten Moskau-Kader der KPD waren Teil der sowjetischen Politik. Das kam schon dadurch zum Ausdruck, daß Mitglieder aller drei Initiativgruppen bis zu ihrem Einsatz in Deutschland als Bürger der Sowjetunion, Mitglieder der KPdSU und Angehörige von sowjetischen Geheimdienstorganen gewirkt hatten. Bei der endgültigen Zusammenstellung der drei Gruppen für Sachsen!Mitteldeutschland, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern im April I945 in Moskau mußten die weitreichenden Planungen der KPD aufgrund sowjetischen Drucks vorerst auf Eis gelegt werden. Eine Wiedergründung der KPD stand einstweilen nicht auf der Tagesordnung. Den Kadern der Initiativgruppen war im besetzten sowjetischen Gebiet nunmehr lediglich die Rolle als "Helfer der Roten Armee" in kommunalen Fragen zugedacht. 6 Allerdings konnten die deutschen MoskauKader mit der geplanten Übernahme von Schlüsselpositionen in den Verwaltungen bereits die politisch-programmatischen und kaderpolitischen Grundlagen für die von ihnen erhoffte KPD-Zulassung legen. Die ersten Schritte in Dresden und Sachsen bieten hierfür entsprechende Belege. Die am I. Mai 1945 von Moskau ins niederschlesische Sagan geflogene "Initiativgruppe Ackermann" umfaßte 20 Mitglieder, zehn Moskau-Kader der KPD und zehn in sowjetischer Gefangenschaft geschulte Wehrmachtsoldaten. Das kommunistische Kader-Kontingent setzte sich aus Anton Ackermann, Egon Dreger, Kurt Fischer, Peter Florin, Heinrich Greif, Ferdinand Greiner, Arthur Hofmann, Hermann Matern, Fred Oelßner und Georg Wolff zusammen. Die aus dem Zuchthaus von Jauer befreite Eisa Fenske wurde als elftes Mitglied dieses Kontingentes in die weitere Planung einbezogen. 7 Aus diesem Personenkreis ragten mindestens funf Moskau-Kader aufgrund ihres biographischen Hintergrundes, ihres geplanten Einsatzspektrums und der späteren Verwendung hervor: Das Mitglied des ZK der KPD, Anton Ackermann, als Leiter der Gruppe, der bisherige Chef der KPD-Parteischule in Moskau, Hermann Matern, der Oberst-
6 Jörg Morre, Kommunistische Emigranten und die sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland, in: Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitichen Entwicklung in Deutschland nach 1945, herausgegeben von C/aus-Dieter Krohn und Martin Schumacher, DUsseldorf2000, S. 293. 7 Vgl. Agatha Kobuch, Die Personalpolitik der Landesverwaltung Sachsen vom Juli 1945 bis April 1946 im Spiegel ihrer Präsidialsitzungen, in: Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag, herausgegeben von Uwe John und Josef Matzerath, Stuttgart 1997, S. 681 ff.
12 Timmermann
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Ieutnant der sowjetischen Militäraufklärung (GRU), Kurt Fischer, 8 der bereits als Propagandist in Kriegsgefangenenlagern und als sowjetischer Partisan zum Einsatz gekommene Arthur Hofmann9 sowie der im früheren Abwehrapparat der KPD und als Redakteur des NKFD-Senders "Freies Deutschland" tätig gewesene Egon Dreger. 10 Sämtliche Mitglieder der Gruppe begannen noch Anfang Mai 1945 mit der Installierung von neuen Verwaltungseinrichtungen im sächsischmitteldeutschen und im südbrandenburgischen Raum. 11 Eine besondere Bedeutung kam hierbei der früheren Landeshauptstadt Dresden zu, deren Verwaltung vom Kern der Moskau-Kader als "Musterverwaltung" aufgebaut werden sollte. Gemäß den "Richtlinien ftlr die Arbeit der deutschen Antifaschisten" vom 5. April wurde der Posten des Oberbürgermeisters mit einem Sozialdemokraten besetzt; die Schlüsselpositionen übernahmen die Kommunisten: So wurde Kurt Fischer 1. Bürgermeister, Hermann Matern Dezernent fiir Allgemeine Verwaltung und Personalpolitik, Eisa Fenske Dezernentin fiir Sozialwesen und Heinrich Greif Dezernent fiir Kultur und Volksbildung. 12 Dieses Muster wurde auf die Anfang Juli gegründete Landesverwaltung Sachsen übertragen. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe und dem seit Ende Mai bzw. Anfang Juni betriebenen Wiederaufbau der sächsischen KPD erhielt die "Initiativgruppe Ackermann" am 28. Mai eine personelle Verstärkung durch eine zweite Moskauer Gruppe. Sie setzte sich aus 14 Moskau-Kadern der KPD und 16 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft geschulten Wehrmachtsoldaten zusammen. 13 Mitte Juni stießen darüber hinaus noch die kommunistischen Schulungsspezialisten Bernhard Dohm und Ludwig Amold dazu, die bis zu diesem Zeitpunkt als Lehrer und Leiter an der Antifa-Schule der I. Ukrainischen Front gearbeitet hatten. 14 Bis auf Anton Akkermann als Leiter der Gruppe, der bis zum 5. Juni den Verwaltungsneuaufbau im ostsächsisch-mitteldeutschen Raum maßgeblich koordinierte, um hiernach als 8 Zur Biographie Fischers ausfilhrlich: Michael Richter!Mike Schmeilzner, "Einer von beiden muß so bald wie möglich entfernt werden". Der Tod des sachsischen Ministerprasidenten Rudolf Friedrichs vor dem Hintergrund des Konfliktes mit Innenminister Kurt Fischer 1947, Leipzig 1999, S. 66 ff 9 Aktenauszug Artbur Hofmann, Berlin, den 2.12.1953 (BstU, MfS KS I 8/87, Nebenakte Artbur Hofmann, BI. 3).
10 Vorlauf/Personalakte Egon Dreger, Dresden, am 31.5.1960 (BstU, AlM 419/69 KW "Kulturpark", BI. 5f). 11 Vgl. etwa den Tatigkeitsbericht der Genossen Artur Hofmann und Herbert Oehler vom 13. Mai bis 7. August 1945, Dresden, den 4.5. 1965 (SAPMO-Barch, NY 4076, Nr. 139, BI. 2 tf.).
12
Vgl. Richter!Schmeilzner, S. 49.
13 Die Moskau-Kader waren Fritz Schalicke, Georg Schneider, Helmut Gennys, Helene Geyer, Kate Wald, Gertrud Balzer, Max Aronut, Richard Dombrowsky, Felix Fuchs, Otto Sinz, Willy Stecker, Jakob Wiss, Georg Wirsgalla, Hans Wurbs. Vgl. Keiderling, S. 442. 14 Erinnerungen Erich Glaser, 1976 (SachsHStAD, SED-BPA Dresden, V/2.41-002, NL Erich Glaser, BI. 263).
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Agitprop-Sekretär der KPD-Zentrale in ideologischer und schulungspolitischer Richtung eine entsprechende Wirkung zu entfalten, spielte der schon genannte kleinere Kreis der ersten Gruppe der Moskau-Kader filr einen größeren Zeitraum eine entscheidende Rolle. Für die Diktaturdurchsetzung in Sachsen waren insbesondere Hermann Matern und Kurt Fischer von grundlegender Bedeutung. Der 1. Sekretär der KPD-Bezirksleitung, Matern, dem aufgrund seiner kaum verhüllten Strategiebeschreibungen wesentliche Einsichten über die kommunistischen Planungen und Ziele zu verdanken sind, kann bis zu seinem Weggang nach Berlin im März 1946 in parteipolitischer Hinsicht als zentrale Figur der Diktaturdurchsetzung angesehen werden. Als Pendant auf verwaltungspolitischer Ebene, besonders im inneren Bereich, kann der seit 1924 in der Sowjetunion beheimatete Geheimdien~tkader Fischer gelten. Fischer wurde mit Gründung der Sächsischen Landesverwaltung (LVS) Anfang Juli 1945 Ressortleiter filr Inneres und bis zu seiner Berufung als Präsident der Deutschen Verwaltung des Ionern (DVdl) im Juli 1948 sächsischer lnnenminister. Ihm unmittelbar unterstellt waren in dieser Funktion zwei weitere, bereits erwähnte Mitglieder der Gruppe Ackermann: Egon Dreger, der von Juli 1945 an als Chef des Personalamtes der Landesverwaltung wirkte und 1950 zum Chef des Büros des sächsischen Ministerpräsidenten avancierte, sowie Artbur Hofinann, der zuerst ab Mai 1945 als zweiter Bürgermeister von Görlitz und stellvertretender Landrat amtierte, um im Oktober 1945 die Schlüsselposition des Chefs der sächsischen Polizei zu übernehmen. Nach dem Weggang Fischers und dem kurzen Intermezzo Wilhelm Zaissers agierte Hofinann von 1949 bis 1952 als sächsischer lnnenminister. Schlüsselpositionen in der sächsischen KPD nahmen außer Hermann Matern noch die Moskau-Kader Georg Wolff, Bernhard Dohm und Ludwig Amold ein. Während Wolff ab Juli 1945 als Leiter der Sonderabteilung innerhalb der Kaderabteilung fiir die Überprüfung und "Auslese" der Funktionäre verantwortlich zeichnete und auch aktive Kaderpolitik innerhalb der sächsischen Polizei und Innenverwaltung betrieb, 15 bauten Dohm und Amold schon ab Mitte Juli 1945 die marxistisch-leninistische Kaderschulung auf. 16
111. Das Programm der Diktaturdurchsetzung Das Programm der Diktaturdurchsetzung verkörperte und formulierte als deutsche Instanz die am 11. Juni 1945 offiziell begründete sächsische KPD. Sie konstituierte sich als marxistisch-leninistische Kampfpartei und setzte damit Vor15 Vgl. z.B. Bericht der KPD, Bezirk Sachsen, vom 18.8.1945 und Schreiben von Fritz Große an die Landeskommandantur, z.H. des Gen. Trufanow vom 16.11.1945 (SächsHStAD, SED-BPA Dresden, VNOl7, unpaginiert). 16 Erinnerungen Erich Glaser, 1976 (SächsHStAD, SED-BPA Dresden, V/2.41-002, NL Erich Glaser, BI. 270 ff.).
12*
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stellungen um, die ihre Exil-Führung 1944/45 in Moskau entwickelt hatte, auch wenn sie sich nach außen hin als Vollenderin der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 gerierte. Vorbild und Inspirator war und blieb die KPdSU. Parteiintern wurde dies auf der 1. Landeskonferenz der KPD Sachsen am 28. Juli 1945 offen verkündet und ein entsprechendes Verhalten von allen anwesenden Funktionären gefordert. Hermann Matern erklärte den Delegierten, daß die KPD mit der Ideologie des Marxismus und Leninismus die "fortschrittlichste Weltanschauung" besitze. Diese Weltanschauung herrsche nämlich in der Sowjetunion, wo der Sozialismus bereits verwirklicht sei. 17 Der AgitpropSekretär der KPD-Bezirksleitung Sachsen, Artbur Schliebs, ergänzte in seinem Referat über den "Aufbau der Partei" Materns Sicht insofern, als er das Prinzip des "demokratischen Zentralismus" als grundlegendes Organisationsprinzip bezeichnete und mit einem Negativverweis auf die Sozialdemokratie die Organisation der KPdSU als Leitbild präsentierte. 18 Ausgehend von dieser parteipolitischen Charakterisierung erläuterte Matern sodann in recht ungeschminkter Art und Weise die kommunistische Strategie und Taktik bei der geplanten gesellschaftspolitischen Transformation ganz Deutschlands. Unter Bezugnahme auf die unterschiedlichen Besatzungszonen und das daraus resultierende Vorgehen erklärte der KPD-Landesleiter:
"Wir könnten auf dem Gebiet, was die Rote Armee besetzt hat, in der Entwicklung zu neuen gesellschaftlichen Formen sehr schnell marschieren. Das würde bedeuten, eine politisch andere Entwicklung auf diesem Gebiet, als auf dem Gebiet, das von England und Amerika besetzt ist. Wir wollen und können nichts anderes, als auf unserem Gebiet, auf dem wir arbeiten, vorbildliche Beispiele und Anregungen für die anderen Gebiete schaffen. Wir werden immer ein wenig voraus sein. Wir müssen mit dem ganzen Volk marschieren, überall. Wir dürfen nicht zulassen, dass andere Entwicklungen stattfinden. " 19 Diese Aussagen erläutern, warum die KPD nicht sofort offen ein Sowjetdeutschland etablieren wollte, was aufgrund der Anwesenheit der sowjetischen Besatzungsmacht durchaus möglich gewesen wäre. Durch die Existenz eines Vier-Zonen-Deutschlands sah sich die gesamtdeutsch operierende KPD veranlaßt, zuerst das in Moskau entwickelte "Minimalprogramm" ("Demokratisierung" in Politik und Wirtschaft unter Führung und Vorherrschaft der KPD) auf die politische Tagesordnung zu setzen. Das "Maximalprogramm" (Endziel Sozialismus) sollte daraus dann entwickelt werden. Bemerkenswert und decouvrierend zugleich ist die apodiktische Schärfe, mit der Matern alle anderen Entwicklungen filr illegitim erklärte. Hieraus folgt, daß eine andere politische Ent11 Protokoll der I. Landeskonferenz der KPD Sachsen am 28.7.1945 (SAPMO-BArch, NY 4076, NL Hermann Matern, Nr. 139, BI. 6lf.).
18
Ebd., BI. 33f
19
Ebd., BI. 27.
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wicklung als die Verwirklichung des von der KPD entwickelten Zwei-StufenProgramms zu keinem Zeitpunkt und zumindest in der SBZ nicht vorgesehen war. Was Matern mit den sogenannten "vorbildlichen Beispielen und Anregungen" meinte, liegt auf der Hand: die antifaschistisch drapierte und vor allem der personalpolitischen wie sozialökonomischen Strategie der KPD zugrunde liegende Entnazifizierung der Verwaltungen, die Verstaatlichung aller Banken und Kreditinstitute, die Bodenreform und die Verstaatlichungen im industriellen Sektor. Umzusetzen gedachte er jene "Beispiele und Anregungen" gemeinsam mit den, wie er sagte, "sozial- und bürgerlich-demokratischen Parteien", die neben der KPD in einem Antifa-Block arbeiten müßten; 20 auch dies eine Vorstellung, die bereits in Moskau 1944 erarbeitet worden war. Bis Frühjahr 1946 hatte die sächsische KPD wesentliche Teile des von Matern avisierten "Minimalprogramms" realisieren können. Als Rückschlag mußte dagegen die Tatsache gewertet werden, daß nicht die KPD zur größten ,,nationalen Volkspartei" aufgestiegen war, wie es die Moskauer Planungen vorgesehen hatten, sondern die SPD. Wahlen in der SBZ und damit auch in Sachsen mußten die auf außerparlamentarischem Weg errungene Stellung der KPD gefährden. Der Ausweg aus dem Dilemma hieß Vereinigung mit der SPD, was aus Sicht der KPD und Materns die Einschmelzung der SPD bedeutete. Auf diesem Wege konnte zum einen der stärkste Konkurrent beseitigt werden und zum anderen die KPD doch noch zur größten Volkspartei aufsteigen. Vor dem Hintergrund der sowjetischen Präsenz und Unterstützung war sich Matern absolut sicher, daß die neue Partei eine Fortsetzung der alten kommunistischen sein würde. Wenige Wochen vor der Fusion mit der SPD erklärte Matern den kommunistischen Kreissekretären am 14. Februar 1946, daß sich die Einheitspartei am Parteimodell Lenins orientieren werde. Das Luxemburg'sche Parteimodell wurde von ihm ebenso kategorisch abgelehnt wie das sozialdemokratische Prinzip der innerparteilichen Demokratie. Für den KPD-Spitzenfunktionär zielte die Vereinigung mit der SPD darauf ab, den "reformistischen, opportunistischen und Paktierereinfluß in der Arbeiterklasse" auszuschalten. 21 Auf dem KPD-Landesparteitag Anfang April 1946 erklärte Matern den Delegierten sogar in aller Öffentlichkeit: "Wir werden die Geschichte unserer Partei, ihre Arbeit und Politik, die wir bisher getrieben haben, fortsetzen." 22 Ähnlich markant hieß es auch in dem im März 1946 von der sächsischen Agitprop-Abteilung entwickelten "Leitfaden fi1r den Grundkursus fi1r alle Parteimitglieder zum Thema: Grundzüge und Wesen der Partei": "Die Partei der Arbeiterklasse, wie sie uns als kommunistische Partei entgegentritt, und wie wir die kommende sozialistische Einheitspartei aufgebaut 20
Ebd., BI. 33.
21 Referat des Genossen Hermann Matern auf der Sekretar-Konferenz am 14.2.1946 in Dresden (SAPMO-Barch, NY 4139, NL Ernst Wabra, Nr. 12, BI. 2 ff.). 22 Rede Matems auf dem Landesparteitag der KPD Sachsen am 6.4.1946 (SAPMO-BArch, NY 4076, NL Hermann Matern, Nr. 140, BI. 4).
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sehen wollen, muß eine Partei werden, wie sie in Rußland von Lenin geschaffen wurde, und heute von Stalin weitergefilhrt wird."23 Die marxistisch-leninistische Partei als Instrument zur weiteren Transformation der Gesellschaft sollte erhalten bleiben. Wie sich Matern eine weiterführende Umgestaltung vorstellte, erläuterte er sowohl auf der Konferenz mit den Kreissekretären als auch auf dem letzten Landesparteitag der KPD am 6. April 1946. Anders als in der Sowjetunion, in der die bolschewistische Partei die Diktatur des Proletariats errichtet habe, müsse in Sachsen und in der SBZ der "Weg zum Sozialismus" über eine "Übergangs- und Veränderungsperiode", in der die Arbeiterklasse die "politische Herrschaft" ausübe, beschritten werden. Die "Übergangs- und Veränderungsperiode" sah Matern Anfang 1946 mit den bislang vollzogenen Umgestaltungen wie der Enteignung des Großgrundbesitzes und der Liquidierung aller privaten Bank- und Kreditanstalten sowie der Beherrschung des Staatsapparates durch die KPD bereits erreicht. Man könne deshalb als KPD/SED in der "Durchsetzung notwendiger Maßnahmen der Entwicklung und Sicherung der Demokratie zur Brechung des Widerstandes imperialistisch-reaktionärer Kreise, zur Einengung und letzten Endes zur Liquidierung ihrer wirtschaftlichen Machtpositionen die Gesetzgebung und den Staatsapparat einsetzen". Diese vorgebliche Demokratisierungsperspektive bedeutete nichts anderes als die geplante Zerschlagung privatwirtschaftlicher Strukturen und deren politischer Träger. Daß Matern auch in dieser Phase auf die formale "Mithilfe" der bürgerlichen Parteien nicht gänzlich verzichten wollte, stand wohl mit dem immer noch existierenden gesamtdeutschen Anspruch der KPD und Moskaus in Verbindung. Durch die Blockpolitik, bei der sich CDU und LDP der Führung der Kommunisten unterordnen müßten, seien diese Parteien gezwungen, weitere Umwälzungen mit durchzufilhren. Anders als bei der Weimarer Koalitionspolitik, wo die Arbeiterklasse den Interessen der Bourgeoisie untergeordnet gewesen sei, würden hier nun die Maßnahmen "im Interesse der Arbeiterklasse" gemeinsam im Block getroffen. Die derart gefestigte "politische Herrschaft der Arbeiterklasse" könne nunmehr auch "über die parlamentarische Republik" einen legitimatorischen Rahmen erhalten. Dabei rechneten Matern und die Führung der KPD damit, daß die neu entstehende Einheitspartei als "gewaltiger Magnet" die Massen gewinnen und ein künftiges sächsisches Parlament beherrschen würde, um so die bereits erfolgten wie die noch ausstehenden Umwälzungen "demokratisch" sanktionieren zu können. An eine parlamentarische Demokratie westlichen Zuschnitts war bei dieser Einrichtung nicht gedacht; die bisherige Blockpolitik unter Führung der Korn23 Leitfaden fur den Grundkursus ftir alle Parteimitglieder zum Thema: Grundzüge und Wesen der Partei. I. Teil (SachsHStAD, SED-BPA Dresden, VA/036, unpaginiert).
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munisten sollte hier ihre Fortsetzung finden, eine Koalitionspolitik von vornherein ausgeschlossen werden. 24 Man wolle, so Matern unmißverständlich, "vor allen Dingen ... keine demokratische Arbeiten a la Weimar". 25 Das mit dem kommunistischen "Maximalprogramm" verbundene strategische Ziel eröffuete Matern den Delegierten des KPD-Landesparteitages mit der prägnanten Formulierung, daß die Partei "alle Aufgaben erfassen und alle Arten des Lebens umfassen" müsse. Diese Zielstellung bedeutete nichts geringeres als den totalen Verfiigungsanspruch über Staat und Gesellschaft; ein Anspruch, der :filr kommunistische Parteienaufgrund ihrer marxistisch-leninistischen Weltanschauung nur folgerichtig ist. Auf derselben Veranstaltung stellte Matern sogar ein noch über Sachsen hinausgehendes Ziel in Aussicht: Wenn sich die künftige Einheitspartei "ungehemmt entfalten" könne, würde es möglich sein, "dass wir gestützt auf die Veränderungen in der Gesellschaft die Mehrheit und die Macht in ganz Deutschland erobern werden". Die kommunistischen Funktionäre sollten eines immer vor Augen halten: "Wir marschieren unaufhaltsam zu einem wirklichen sozialistischen Deutschland, aber: Nicht so viel von Sozialismus reden, sondern immer danach handeln!" 26 IV. Die Praxis der Diktaturdurchsetzung Auf der Grundlage der bisherigen Forschungsergebnisse und den bereits skizzierten Äußerungen Materns und weiterer kommunistischer Funktionäre soll im folgenden die Praxis der Diktaturdurchsetzung etwas näher beleuchtet werden. Zur Systematisierung mögen dabei zehn Eckpunkte dienen: Voraussetzung und Grundlage der Diktaturdurchsetzung bildete die sowjetische Besatzungsmacht, die SMAS und ihre Abteilungen. Eine besondere Rolle nahm hier vor allem die Propaganda-Abteilung ein. Die im Juli 1947 in Informations-Abteilung umbenannte Propaganda-Abteilung27 wurde per Befehl im November 1945 gegründet, nachdem seit August des Jahres die Kontrolle der politischen Parteien und der Verwaltungsbehörden sowie die Pressezensur vom politischen Sektor der SMAS ausgeübt worden war. Anders als beim politischen Sektor agierte die neu geschaffene PropagandaAbteilung nicht nur auf Landesebene, sondern auch auf der Ebene der Be-
I.
24 Referat des Genossen Hennann Matern auf der Sekretär-Konferenz am 14.2.1946 in Dresden (SAPMO-BArch, NY 4139, NL Ernst Wabra, Nr. 12, BI. 6 ff.). 23 Rede Materns auf dem Landesparteitag der KPD Sachsen am 6.4.1946 (SAPMO-BArch, NY 4076, NL Hennann Matern, Nr. 140, BI. 5). 26
27
Ebd. Im Folgenden wird die Bezeichnung "Propaganda·Abteilung" beibehalten.
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zirks-, Kreis- und Stadtkommandanturen. Im März 1946 existierten innerhalb der Landes-Propaganda-Abteilung die Abteilungen fiir mündliche, Presse und Radiopropaganda, die Abteilung fiir Zensur, die Abteilung fiir die Arbeit unter den "antifaschistisch-demokratischen" Organisationen, Parteien und Gewerkschaften, die Abteilung fiir Schauspielbetriebe, die Informationsgruppe und die Allgemeine Abteilung. Die Mitarbeiterzahl der Propaganda-Abteilung betrug zu diesem Zeitpunkt 26 (bei einer Gesamtzahl der SMAS von 488), wovon vier fiir die Parteien und anderen Massenorganisationen zuständig waren.28 Bis 1948 erhöhte sich die Gesamtzahl der Mitarbeiter der SMAS auf 790. Die Zahl der Mitarbeiter der sächsischen Propaganda-Abteilung stieg auf28 und erreichte zusammen mit den 25 Mitarbeitern der Propaganda-Abteilungen der drei Stadtkommandanturen in Dresden, Chemnitz und Leipzig sowie den 78 Mitarbeitern der nach den Herbstwahlen von 1946 gebildeten 26 Propaganda-Abteilungen der Kreiskommandanturen eine Gesamtzahl von 129 Mitarbeitern, die auf diesen Ebenen das gesamte politische Leben Sachsens kontrollierten.29 Oberste Priorität hatte fiir die Abteilung von Anfang an die Sicherung der kommunistischen Vorherrschaft in Staat und Gesellschaft. Zwischen 1946 und 1948 sorgte sie konsequent fiir die Ausschaltung und Liquidierung des sozialdemokratischen Elements innerhalb der SED, wobei sie die Partei und ihre einzelnen Gliederungen systematisch anleitete und kontrollierte. 30 Mit dem Apparat der SMAS eng verwoben war der sowjetische Geheimdienst, der "operative Sektor" des NKWD Sachsen. Der Leiter der Abteilung fiir innere Angelegenheiten der SMAS gehörte z.B. dem NKWD/MWD an; darüber hinaus arbeiteten in weiteren wichtigen Abteilungen getarnte Mitarbeiter des NK-WD/MWD, die als stellvertretende Abteilungsleiter agierten.3 1 Analog zur Struktur der SMAS verfUgte auch der sowjetische Geheimdienst über sogenannte operative Gruppen auf Bezirks- und Landkreisebene. Von den ca. 480 Mitarbeitern des "operativen Sektors" Sachsen des sowjetischen Geheimdienstes beschäftigten sich 1946/47 etwa 90 gleichfalls mit Fragen der politischen Kontrolle des Landes. 32 Mit der Einrichtung von "Sowjetischen Militärtribunalen" (SMT) stand der Besatzungsmacht zudem ein Instrument zur Verfilgung, welches nach dem Strafgesetzbuch der UdSSR antikommu28 Vgl. Stefan Donth, Vertriebene und Flochtlinge in Sachsen. Die Politik der Sowjetischen Militäradministration und der SED, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 408. 29
Vgl. ebd., S. 38 ff.
30 Die detaillierte Anleitung und Kontrolle von Gliederungen der SED (wie auch aller anderen Parteien und Organisationen) lassen sich auf der Grundlage der Monatspläne der PropagandaAbteilung der SMAS gut nachvollziehen. Vgl. z.B. Arbeitsplan der Propaganda-Abteilung der SMAS filr Mai 1947 von Oberstleutnant Watnik, ausgefertigt arn 6.5.1947 (GARF Moskau, fond 7212, opis I, delo 192, Iist 115-119).
31
Vgl. Richter!Schmeitzner, S. 81.
32
Vgl. Donth, Vertriebene und Flüchtlinge, S. 41.
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185
nistische Aktivitäten rigoros verfolgte und bestrafte. Die Bandbreite der Urteile, die zwischen 1946 und 1952 z.B. gegen ehemalige SPD-Funktionlire verhängt wurden, reichte von langjährigen Lagerhaftstrafen u.a. im sowjetischen GuLAG bis zur vollstreckten Todesstrafe, die in den Jahren 1947 bis 1950 allerdings nicht verhängt wurde. Nicht wenige der zu Lagerhaft Verurteilten starben infolge der Haftbedingungen oder trugen gesundheitliche Dauerschäden davon. 33 Viele der Verfolgten waren Opfer des Zusammenspiels der sowjetischen Besatzungsorgane und der eigenen Partei, die der SMAS bzw. dem NKWD zuarbeitete. 2.
Die KPD als von der SMAS geförderte Partei zum Zweck der Beherrschung und Durchherrschung der sächsischen Gesellschaft bildete die erste deutsche Instanz der Diktaturdurchsetzung. An dieser Aufgabenstellung orientierte sich auch ihr struktureller Aufbau und ihre personelle Ausstattung. Auf Landes- wie auf Kreisebene wurden neben dem jeweiligen Sekretariat je acht Abteilungen eingerichtet, von denen die Kader-, die Agitprop- und die Wirtschaftsabteilung als die wichtigsten zu gelten hatten. Allein auf Landesebene sah der Geschäftsverteilungsplan 86 hauptamtliche Mitarbeiter vor.34 Als eine der zentralen Aufgaben betrachtete die KPD gemäß ihren Moskauer Planungen die Übernahme von Schlüsselpositionen in den staatlichen Verwaltungen, die sie zunächst mit Moskau-Kadern und den in Sachsen vorgefundenen Funktionären zu besetzen versuchte. 35 Ab Mitte Juli 1945 entwikkelten die Agitprop- und die Kaderabteilung im Zusammenspiel ein umfassendes System der Kaderschulung, welches fUr die zügige "Entwicklung" und den baldigen Einsatz von marxistisch-leninistisch geschulten Kadern innerhalb der Partei, der Verwaltung, der Wirtschaft und der Massenorganisationen vorgesehen war. Nach der vorübergehenden Nutzung einer provisorischen lnternats-Parteischule bei Dresden in den Sommermonaten 1945 kam es im September/Oktober desselben Jahres zur Einrichtung einer sächsischen Bezirksparteischule und kurze Zeit später auch zum Aufbau von sechs Gebietsparteischulen, die gleichzeitig 160 bzw. 400 Funktionlire "entwickeln" konnten. Bis März/April 1946 wurden auf diese Weise über 1.000 kommunistische Funktionäre geschult und in alle gesellschaftlichen Felder "eingebaut". 36
33 Vgl. Manjred Zeidler/Ute Schmidt (Hg.), Gefangene in deutschem und sowjetischem Gewahrsam 1941-1956: Dimensionen und Definitionen, Dresden 1999, S. 48 ff. 34 Vgl. Vorschläge ftir die Zusammensetzung der Bezirksleitung der KPD (SächsHStAD, SEDBPA Dresden, IIN004, unpaginiert).
35 So stellte die KPD schon im Frühherbst 1945 die Mehrzahl aller Landräte und Burgermeister in Sachsen. Vgl. Überblick Ober den Stand der Partei in Sachsen (SächsHStAD, SED-BPA Dresden,!/ NO 18, unpaginiert). 36 Vgl. Informationsbericht ober die Schulungsarbeit nach dem Vereinigungsparteitag am 21. und 22. April 1946 in Berlin (SächsHStAD, SED-BPA Dresden, N529, BI. 29 ff.).
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Mike Schmeit211er
Über diese gezielt und systematisch betriebene Kaderpolitik hinaus bekleidete die KPD seit Sommer 1945 eine von der SMAS abgeleitete Führungsfunktion im Kreise von SPD, CDU und LDP. In dem gemeinsam mit der SPD begründeten Aktionsausschuß vom 3. Juli 1945 gab die KPD ebenso die politischen Richtlinien vor wie in dem am 16. August 1945 konstituierten Antifa-Block gegenüber allen drei demokratischen Parteien. Ob im Falle der von den Kommunisten parteipolitisch instrumentalisierten Säuberung der sächsischen Verwaltung, der Liquidierung aller Banken und Kreditinstitute oder der Bodenreform, immer konnte die KPD ihre Vorstellungen durchsetzen; schließlich stand hinter ihr die Besatzungsmacht, von der sie behaupten konnte, daß nur sie deren Wünsche und Auffassungen umsetze. Eine Realisierung der Block-Beschlüsse durch die Anfang Juli 1945 begründete Landesverwaltung war schließlich nur noch Formsache, hatte hier doch die KPD nach dem Hinauswurf des sozialdemokratischen Wirtschaftsressortchefs Richard Woldt Mitte September 1945 alle Schlüsselpositionen inne, so daß Kurt Fischer auf einer Landestagung der KPD kurz darauf mit Recht behaupten konnte, daß die "Landesverwaltung eine der wichtigsten Positionen zur Durchftlhrung des Programms unserer Partei" sei. 37 3.
Mit der Errichtung des sächsischen Innenressorts als "Parteiministerium" im Rahmen der Anfang Juli 1945 gegründeten Landesverwaltung kam es zur Konstituierung der zweiten deutschen Instanz der Diktaturdurchsetzung. Dem an der Spitze dieses Ressorts stehenden Moskau-Kader Kurt Fischer waren entscheidende Schlüsselreferate und Abteilungen zugeordnet: das Personalamt, von dem aus alle Personalbesetzungen in den Ministerien und im Büro des Ministerpräsidenten erfolgten, die Landes-Polizeiverwaltung, die Post, der Bereich Volksbildung und das Landesnachrichtenamt All diese Schlüsselreferate befanden sich in der Hand von Moskau-Kadem oder zuverlässigen, während der NS-Herrschaft in Sachsen verbliebenen KPDFunktionären, die, wie der Leiter des Nachrichtenamtes, Richard Gladewitz, beispielsweise als Polit-Kommissar am Spanienkrieg teilgenommen hatten. 38 Wie Personalpolitik aus dem Ressort Inneres heraus gesteuert wurde, zeigt ein Blick in die Akten der Kaderabteilung der KPD-Bezirksleitung Sachsen. Soweit erhalten, wird aus ihnen ersichtlich, daß ein Teil der hier plazierten kommunistischen Mitglieder durch das Zusammenspiel des Leiters der KPD-Kaderabteilung und des Chefs des Personalamtes (Egon Dreger) in ihre Ämter gelangten. 39 Bis 1946 dominierte die KPD bzw. die spätere SED
37 Konferenz der Bezirksleitung der KPD Sachsen am 26.11.1945 (SachsHStAD, KPD-BL Sachsen, UN007).
38 Zu Gladewitz" politischer Haltung gegenOber anderen politischen Parteien und den Kirchen vgl. Richard Gladewitz, Der Volksentscheid in Sachsen und die Stellung der Kirchen dazu, undatiert (SAPMO-BArch, NY 4502, NL Richard Gladewitz, Nr. 2, BI. 15 ff.).
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den gesamten Ministerialapparat des lnnern. Ende Mai 1946 gehörten von 645 Beschäftigten 468 (72 %) der Einheitspartei an; als Parteilose zählten 154 (24 %), die restlichen vier Prozent verteilten sich gleichermaßen auf CDU und LDP. Noch gravierender nahm sich das Zahlenverhältnis in den besonders sensiblen Schlüsselreferaten aus: So konnte die KPD/SED im Personalamt auf 15 von 16 Mitarbeitern zurückgreifen und bei der LandesPolizeiverwaltung auf 93 von 108. Nimmt man die Personalbesetzung in allen Ressorts der Landesverwaltung in den Blick, ergibt sich kein prinzipiell anderes Bild: Von insgesamt 1.982 Beschäftigten verfUgten Ende Mai 1946 1.211 (61 %) über das Mitgliedsbuch der SED, 571 (29 %) waren parteilos und 200 (10 %) verteilten sich aufCDU und LDP. 40 Dieses Verhältnis änderte sich in den folgenden Jahren nur marginal- und zwar zugunsten der SED. Neben dieser von der KPD/SED und ihren Moskau-Kadern gesteuerten kaderpolitischen Beherrschung der staatlichen Verwaltung fungierte das Ressort des Innern von Anfang an auch als Zentrale zur Durchsetzung aller entscheidenden gesellschaftspolitischen Weichenstellungen wie der Bodenreform, der Entnazifizierung und der Enteignung eines Teils der privatindustriellen Basis in Sachsen. Die Art und Weise von deren Durchfii.hrung trug die unverkennbare Handschrift der Diktatur-Kader Fischer und Hofmann. Beide hatten maßgeblichen Anteil daran, daß im Zusammenspiel mit der SMAS ein Großteil der im Herbst 1945 entschädigungslos enteigneten Grundbesitzer auf die Insel Rügen deportieren worden war. Hofmann forderte sogar ein härteres Durchgreifen der SMAS bei der Abriegelung des Deportationsgebietes.41 Beide instrumentalisierten die Entnazifizierung wie gesehen - fiir eine kommunistische Kaderpolitik und bedienten sich im Vorfeld des Volksentscheides über die Enteignung von Privatbetrieben Ende Juni 1946 einer massiven Drohpolitik gegenüber den einzelnen Kommunen.42 4.
Die Übernahme von Schlüsselpositionen durch Kommunisten vollzog sich auch jenseits der Landesverwaltung in den Stadt- und Landkreisverwaltungen Sachsens ab Frühsommer 1945 durch Koordinierung der Moskau-Kader der KPD, später der KPD-Bezirksleitung und der SMAS. In dem zuerst von der Roten Armee besetzten Ost- und Mittelsachsen wurden mehrheitlich Kommunisten in Positionen wie Landräte, Kreisräte fUr Inneres und Polizei-
39 Vgl. Schriftwechsel der Kaderabteilung der KPD-Bezirksleitung mit der Landesverwaltung 1945 (SächsHStAD, SED-BPA Dresden, UA/031, unpaginiert).
40 Vgl. Personalbesetzung der Landesverwaltung Sachsen nach dem Stand vom 28.5.1946 (SächsHStAD, LRS, Mdl, 145, BI. 30 tT.).
41 Schriftverkehr zwischen dem Chef der Landespolizei, Artbur Hofinann, und der SMAS Ende 1945 (GARF Moskau, fond 7212, opis 2, delo I, Iist 192 ff.).
42
Vgl. ausfuhrlieh dazu Richter/Schmeitzner, S. 89f.
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Mike Schmeitzner
präsidenten lanciert. Die mehrheitlich sozialdemokratischen Inhaber dieser Ämter im bis Anfang Juli 1945 amerikanisch besetzten Westsachsen wurden nach der sowjetischen Restbesetzung des Landes schrittweise durch Kommunisten ausgetauscht. Als Beispiele jenes Vorgehens sei die Auswechselung des Leipziger Landrates Dr. Thierbach (SPD) gegen Walter Jurich (KPD) und der Austausch des Leipziger Polizeipräsidenten Heinrich Fleißner (SPD) gegen Kurt Wagner (KPD) genannt. Diese Revirements erfolgten per Berufung durch die SMAS in Absprache mit der KPD. Wie kommunistische Personalpolitik seit Mai/Juni 1945 in den Kreisverwaltungen umgesetzt wurde, zeigt ein Blick auf die Zusammensetzung der Landkreisverwaltung Pirna vom Februar 1946, die zu diesem Zeitpunkt als Sachsen-typisch gelten kann. KPD-Mitglieder beherrschten hier allein elf Spitzenpositionen, darunter die Schlüsselpositionen des Landrats, des stellvertretenden Landrats, des Kreispolizeichefs, seines Stellvertreters, des Chefs des Amtes für Betriebsneuordnung und des Chefs des Kreisnachrichtenamtes. Den Posten des Landrates nahm im übrigen ein aus der Sowjetunion eingeflogener und geschulter Kader des NKFD ein, der inzwischen Mitglied der KPD geworden war.43 5.
Die Erkenntnis, daß man bis Herbst 1945 zwar zur fuhrenden Kader- und Organisationspartei aufgestiegen war, aber den Kampf mit der SPD um die Mitgliederzahlen und die Sympathien unter der Bevölkerung verloren hatte, bewog die KPD und die SMAS zur Vereinigungskampagne gegenüber den Sozialdemokraten. Letztlich folgten beide Institutionen in dieser Frage zentralen Vorgaben Stalins, der angesichts des schlechten Abschneidens von kommunistischen Parteien bei Wahlen in Österreich und Ungarn und einer für die KPD zu erwartenden Wahlkatastrophe in der SBZ im November 1945 den Startschuß für eine schnelle Vereinigung gegeben hatte. 44 Teil der nun entfesselten Vereinigungskampagne war die Ende November 1945 von Hermann Matern im inneren Zirkel der KPD verkündete innergewerkschaftliche Eroberung des FDGB durch die KPD. Nach Auffassung Materns habe sich die KPD bislang zwar in der Verwaltung des Landes Sachsen stark engagiert, dadurch aber den "alten Gewerkschaftsleuten den Aufbau der Gewerkschaften" überlassen. Man müsse jetzt einen "Teil der Aktivität der Partei auf die Gewerkschaften übertragen", damit eine "entschlossene Wendung" vollziehen und die begangenen "Versäumnisse" in einem "sehr schnellen Tempo" korrigieren. Die seit Frühsommer 1945 wieder hervorgetretenen alten ADGB-Funktionäre müßten "verschwinden", wie sich Matern
43 Vgl. Schreiben der KPD-Kreisleitung Pima, Sekretariat, an die Bezirksleitung der KPD Sachsen vom 26.2.1946 (SachsHStAD, SED-BPA Dresden, VN028 , unpaginiert). 44
79.
Vgl. Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946-1953, Paderbom 2000, S.
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189
gegenüber seinen Funktionären unmißverständlich ausdrückte. 45 Ziel dieser kommunistischen Eroberungsstrategie war in erster Linie die Zerschlagung der sozialdemokratisch-christlichen Mehrheit im FOGB-Landesausschuß Sachsen wie auch die massive Zurückdrängung der sozialdemokratischen Dominanz unter den Funktionären der Einzelgewerkschaften. Den Kommunisten kam es mit ihrem anvisierten Vorgehen gegen den Landesausschuß auch darauf an, dort vertretene Auffassungen, wie z.B. die Absicht, Unternehmerorganisationen wieder als Tarifpartner zuzulassen, zurückzudrängen und schließlich im Keime zu ersticken. 46 Die Liquidierung dieser sozialdemokratischen Dominanz innerhalb des FDGB erfolgte im Zusammenspiel von KPD und SMAS in nur wenigen Wochen und durch die Anwendung von mindestens drei Vorgehensweisen: Erstens wurden Spitzenfunktionäre wie der FOGB-Landesvorsitzende Otto Seiffert (SPD) unter Einsatz sowjetischen und kommunistischen Drucks zur Übernahme von staatlichen Positionen veranlaßt. 47 Zweitens wurden noch im November 1945 sozialdemokratische Gewerkschaftsfunktionäre wie der Leipziger FDGB-Vorsitzende Erich Schilling ihrer Posten einfach enthoben48 ; drittens eine Reihe von Sozialdemokraten durch massive Wahlftilschungen auf den im Januar 1946 eilig einberufenen Kreis- und Landeskonferenzen "abgewählt". 49 Zum neuen Vorsitzenden des FDGB avancierte mit Paul Gruner folgerichtig ein Kommunist; von den Sozialdemokraten erhielten nur diejenigen eine Funktion im neu geschaffenen FDGB-Landesvorstand, die nach Gruners Erläuterung "zur Einheit stehen". 50 Beschwerden des SPD-Landesvorstandes gegen diese Gewaltmaßnahmen wurden von der SMAS brüsk zurückgewiesen und süffisanterweise mit "außenpolitischen Gründen" erklärt. 51 Die in dieser Atmosphäre angepeilte Vereinigung mit der SPD wurde gegen eine Mehrheit im 4s Rede Hermann Matems auf der Konferenz der KPD-Bezirksleitung am 26.11.1945 (SAPMOBArch, NY 4076, NL Hermann Matern, Nr. 139, BI. 195 ff.). 46 Vgl. Rede des Genossen Matern auf der erweiterten BL-Sitzung am 25.9.1945 (SachsHStAD, SED-BPA Dresden, 1/A/005, BI. 6). 47 Vgl. Schreiben Otto Seifertsan die Landesleitung der SPD Sachsen vom 16.1.1946 (SachsHStAD, LRS, MP, Nr. 505, BI. 110 ff.).
48 Vgl. Thomas Adam, Erich Schilling (1882-1962). "Es kommt nicht auf ... den Wortschwall von Einheit und Broderlichkeit an ...", in: Michael Rudloff!Mike Schmeitzner (Hg.), "Solche Schadlinge gibt es auch in Leipzig" Sozialdemokraten und die SED, Frankfurt am Main 1997, S. 194 f. 49 Niederschrift der Sitzung des erweiterten Landesvorstandes am 4.2.1946 (SachsHStAD, SEDBPA Dresden, 11/A/1.001 , BI. 30).
so Mitteilungen des Kollegen Gruner Ober gefllhrte Besprechungen am 25.2.1946 vor der offiziellen LV-Sitzung bei Hollack-Dresden-N. (SachsHStAD, FOGB-Landesvorstand Sachsen, Nr. 12, BI.
2).
sJ Niederschrift der Sitzung des erweiterten Landesvorstandes am 4.2.1946 (SachsHStAD, SEDBPA Dresden, 11/A/1.001, BI. 31).
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sozialdemokratischen Landesvorstand, unter Androhung der Auflösung politisch besonders renitenter SPD-Bezirksverbände (Leipzig) durch die SMAS sowie durch Einschüchterungen und kurzzeitige Inhaftierungen von SPD-Funktionären erzwungen. 52 Der Gegenspieler des einheitswilligen SPD-Landesvorsitzenden Buchwitz, der Freitaler Oberbürgermeister Arno Hennig, analysierte diese Art der Vereinigung auf einer der letzten Landesvorstandssitzungen der SPD vorausschauend als "Eintritt der SPD in die
KPD".s3
6.
Wie treffend Hennigs Analyse war, zeigte bereits die Konstituierung der Einheitspartei in Sachsen und ihre weitere Entwicklung bis 1947. Denntrotz vereinbarter Parität bei der Besetzung von Parteiämtern, der angeblichen programmatischen Ausrichtung auf einen "besonderen deutschen Weg zum Sozialismus", des getrennten Fortbestehens der beiden sächsischen Parteischulsysteme und der Übernahme von nahezu allen ehemaligen 232.000 SPD-Mitgliedern handelte es sich bei der SED Sachsen um keine wirkliche Neugründung mit entsprechenden Gestaltungsspielräumen auch für frühere Sozialdemokraten. Entscheidend war, daß sich die KPD in der Frage der Beibehaltung ihres Apparatsystems mit mehreren hundert hauptamtlichen Mitarbeitern gegen das von der SPD verfochtene Ehrenamtprinzip vollständig durchsetzen konnte. Damit blieben die wesentlichen Funktionen der Partei als Instrument der Diktaturdurchsetzung seit ihrer Gründung intakt: Hierzu zählten vor allem die bereits im Februar 1946 von Agitprop- in Abteilung "Werbung und Schulung" umbenannte Schulungsabteilung und die in Personal-Politische Abteilung (PPA) umbenannte Kaderabteilung. Beide Abteilungen waren bis zur Vereinigung für die Organisation und Steuerung des gesamten Systems der Kaderschulung auf marxistisch-leninistischer Grundlage verantwortlich gewesen. Diese Funktion wurde im Verein mit der Landesparteischule in Ortendorf als Kernstück der höheren Kaderschulung und den sechs Gebietsparteischulen fast unverändert fortgeschrieben. Hinzu trat jetzt eine von entsprechenden Referaten der PPA systematisch betriebene Kaderpolitik filr Partei, Verwaltung, Wirtschaft und Massenorganisationen. 54 Im Gegensatz dazu wurde das Kuratorium der früheren Arbeiterakademie der SPD, der noch im April 1946 ein hohes Maß an Autonomie zugesichert worden war, bereits im Herbst desselben Jahres filr aufgelöst erklärt und der bisherige Vorsitzende Arno Hennig zur Flucht in den Westen ver-
52 Vgl. z.B. die kurzzeitige Verhaftung des Leipziger Bezirkssekretärs Heinrich Bretthorst Anfang 1946. Vgl. Naimark, Die Russen, S. 487. 53 Niederschrift der Sitzung des erweiterten Landesvorstandes arn 4.2.1946 (SachsHStAD, SEDBPA Dresden, 11/NI.OOI, BI. 31). 54 Zur Problematik der sachsischen Kaderschulung der KPD/SED erscheint vorn Autor dernnachst eine Studie in der hauseigenen Reihe des Hannah-Arendt-lnstitutes "Berichte und Studien" unter dem Titel "Schulen der Diktatur".
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191
anlaßt. 55 Der Apparat der Einheitspartei, der auf Landesebene 16 statt der früheren acht kommunistischen Abteilungen umfaßte, wuchs bis Herbst 1947 zusammen mit den Abteilungen der 30 Kreisverbände auf mehr als 2.100 hauptamtliche Mitarbeiter an. 56 Mit diesem tief gestaffelten Instrumentarium wurden zunehmend alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt und immer tiefgreifender durchherrscht Wer sich dieser Konzeption einer kaum verbrämten kommunistischen Kader- und Massenpartei mit staatstragender Rolle und ihrer Praxis verweigerte oder entgegenstellte, geriet von der SEDGründung an in ein Räderwerk von Diffamierungen, Ausschaltungen und "Säuberungen". Auch in dieser Hinsicht existierte seit April 1946 eine Kooperation zwischen Altkommunisten, SMAS und sächsischem "OperSektor" des NKWD. So wurde schon im Mai 1946 mit Hans Sammler einer der wenigen aus der SPD stammenden Landräte verhaftet, von einem SMT wegen "Sabotage" zum Tode verurteilt und im November desselben Jahres hingerichtet. 57 Bei dieser Aktion wie bei den nachfolgenden "Säuberungen" der Partei von Sozialdemokraten hatte zumeist Innenminister Fischer (KPD/SED) seine Hände im Spiel. 58 Fischer war es auch, der ab Winter 1946/47 gezielt gegen den auf rechtsstaatliche Normen bedachten Ministerpräsidenten Rudolf Friedrichs (SPD/SED) intrigierte und diesen bei der SMAS denunzierte. 59 Nachdem Mitte Juni 1947 Friedrichs in den Tod getrieben worden war, installierte die Berliner SED-Führung mit Max Seydewitz ein parteiergebenes früheres KPD-Mitglied als Ministerpräsidenten. Endgültig ausgeschaltet wurden grundsatztreue Sozialdemokraten im Zuge der ersten SED-Parteiwahlen im Sommer 1947, in deren Ergebnis bis zu 80 % der Vorstandsmitglieder in den einzelnen Kreisen ausgewechselt wurden.60 Auch hier hatte es zuvor ein intensives und Monate währendes Engagement der SMAS zugunsten der Altkommunisten gegeben. 61 ss Vgl. Niederschrift der Besprechung zwischen Gen. Buchwitz und General Klepow am 14.10.1946, Dresden, den 15.10.1946, Koslow (SachsHStAD, SED-BPA Dresden, A/2007, unpaginiert). 56 Vgl. Zusammenstellung der besoldeten Kratte der Kreisvorstande und des Landesvorstandes der SED Ende 1947 (SachsHStAD, SED-BPA Dresden, A/1404, unpaginiert).
57 Vgl. Rehabilitierungsbescheinigung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation, Militarhauptstaatsanwaltschaft, zu Hans Sammler, vom 11.1.1999, L.P. Kopalin. For die Einsichtnahme in dieses Dokument danke ich Frau Dr. Christi Wiekerl Berlin/Hamburg.
58 59
Vgl. Richter/Schmeitzner, S. 88. Vgl. ebd., S. 149.
60 Vgl. Aufstellung der stattgefundenen Kreisvorstandswahlen auf den Kreisdelegiertenkonferenzen und ihre Zusammensetzung, Dresden, den 10.9.1947 (SAPMO-BArch, DY 30 IV 2/5, Nr. 1627, BI. 10). 61 Befehl des Chefs der SMA-Verwaltung des Landes Sachsen "Über einige Mangel bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahlberichtskampagne der SED im Lande Sachsen" (Auszug). Zit.
192 7.
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Nach der Einschmelzung der Sozialdemokratie konnte sich die von den Altkommunisten geprägte und von der Propaganda-Abteilung der SMAS angeleitete und kontrollierte Einheitspartei am 1. September und 20. Oktober 1946 den Wahlen auf Gemeinde-, Kreis- und Landesebene stellen. Die zur Scheinlegitimation ihrer gesellschaftspolitischen Transformationsstrategie abgehaltenen Wahlen entsprachen zwar aufgrundder Existenz von mehreren miteinander konkurrierenden Listen formal dem Anspruch von "freien und demokratischen" Wahlen. Doch die Praxis der Wahlvorbereitungen bestätigte diese Sicht nicht. Hier wurden hunderte Ortsgruppen von CDU und LDP von der SMAS einfach nicht registriert, was als Voraussetzung fUr ihr Antreten in den entsprechenden Gemeinden galt; vorgeschlagene Kandidaten der bürgerlichen Parteien wurden von den Listen gestrichen und Funktionäre kurzzeitig inhaftiert. 62 Trotz dieser Eingriffe der SMAS und deren flächendeckender Unterstützung fUr die Einheitspartei erreichte die SED weder bei den Gemeinde- noch bei den Landtagswahlen absolute Mehrheiten. Während sie in den Kommunen auf 48 % der Stimmen kam, erhielt sei im Land einen Stimmenanteil von ca. 49 %. Im sächsischen Parlament verfUgte sie lediglich mit Unterstützung der sogenannten Hilfslisten (VdgB und Frauen) über eine knappe absolute Mehrheit. Diese nutzte sie allerdings wie in allen anderen Landesparlamenten der SBZ zur Implementierung einer Verfassung, dietrotzaller Proteste von CDU und LDP keine klassische Gewaltenteilung vorsah. DafUr wurden in der neuen Verfassung die bisherigen gesellschaftlichen Umwälzungen ebenso fest geschrieben wie die künftige Wirtschaftsplanung, was die Perspektive einer sozialistischen Transformation der Gesellschaft in den Rang eines Verfassungsgebotes erhob. Als Vorbild dieser Landesverfassung galt im übrigen die "Stalinsche Verfassung" der Sowjetunion von 1936, die Innenminister Fischer höchstselbst als Sonderlektion auf der Landesparteischule der SED ab Juni 1946 unterrichtet hatte. 63 In der Folgezeit bemühten sich CDU und LDP im Landtag ergebnislos um eine westlich-demokratischen Maßstäben entsprechende Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit Symptomatisch war in dieser entscheidenden Rechtsfrage die Tatsache, daß zwar formal ein Gesetz zur Verwaltungsgerichtsbarkeit verabschiedet wurde, das darin vorgesehene Lan-
nach Bemd Bonwetsch/Gennadij Bordjugow/Norman M. Naimark (Hg.), Sowjetische Politik in der SBZ 1945-1949. Dokumente zur Tatigkeit der Propagandaverwaltung (lnformationsverwaltung) der SMAD unter Sergej Tjul' panow, Bonn 1998, S. 117 f. 62 Vgl. Schwierigkeiten zur Kreis- und Landtagswahl, undatiert (ACDP, III-035, Nr. 7, unpaginiert).
63 Vgl. Schema des Lehrplans filr den 7. Lehrgang (undatiert, wahrscheinlich Ende 1946) und Kurze Informationen über die Auswahl der Schüler filr den 8. Lehrgang der Landesparteischule "Fritz Hecker!", 8.4.1947 (SachsHStAD, SED-BPA Dresden, N529, BI. 90 f. und 96 f.).
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desgericht aber nie seine Arbeit aufnahm. 64 Umgekehrt gelang es der SED im Verein mit den Abgeordneten des VdgB und der Frauenliste, gesellschaftspolitisch einschneidende Gesetze durchzusetzen; so z.B. zur Wiedereinfiihrung der Todesstrafe, zur Verabschiedung von Wirtschaftsplänen, zur Verstaatlichung von Bergwerken und Lichtspielhäusern. Auch der Landtag fungierte von Anfang an als ein Instrument in der Transformationsstrategie der SED. Kritische Abgeordnete von CDU oder LDP konnten den Landtag in eingeschränktem Maße als Plattform zur Verkilndung sozialismuskritischer Meinungen nutzen; doch auch dies war bereits 1948 mit derartigen persönlichen Gefährdungen verbunden, daß sich Abgeordnete wie Rudolf Bohlmann (CDU) zur Flucht in die Westzonen veranlaßt sahen. 65 8.
Die polizeistaatliche Absicherung der kommunistischen Diktaturdurchsetzung erfolgte in keinem anderen Land der SBZ so früh wie in Sachsen. Bereits im Frühherbst 1945 entstand mit der Überwachungsabteilung des Personalamtes der Stadtverwaltung Dresden ein Vorläufer des im Jahre 1946 auf Landesebene etablierten Dezernates K 5 der Kriminalpolizei. Dem insbesondere auf Initiative von Innenminister Fischer errichteten Dezernat gelang es bis 1947, sich strukturell in jeder Kreisdienststelle der sächsischen Kriminalpolizei zu verankern. 66 Die Gesamtzahl der Mitarbeiter stieg in diesem Zeitraum von 163 auf 640, was eine Vervierfachung der Kräfte bedeutete. 67 Das derart ausgebaute Instrument wirkte schon 1947 als Vorbild fiir die anderen Länder der SBZ. So hieß es in dem Jahresbericht der K 5 Sachsen 1947, daß die "wichtigsten technischen Voraussetzungen der K 5 (Kartei, Berichterstattung usw.) nach dem sächsischen Muster fUr die gesamte Sowjetzone eingefilhrt werden". 68 Ihre Aktivitäten richtete die sächsische K 5 zu diesem Zeitpunkt auf Verstöße gegen SMA-Befehle und Anordnungen des Alliierten Kontrollrates, auf Sabotage und die "Bekämpfung antidemokratischer Tätigkeit", worunter man alles mögliche verstehen konnte. So "bearbeitete" die K 5 vom Sommer bis Herbst 1947 vor allem sozialdemokratische Flugblattaktionen und die Verbreitung illegaler sozialdemokratischer Zeitungen.69 Anfang 1948 wurde das Dezernat K 5 neu gegliedert. Die
64 Vgl. Georg Brunner, Verwaltungsgerichtsbarkeit in Sachsen während des Dritten Reiches und des SED-Regimes, in: Das Sachsische Oberverwaltungsgericht Verwaltungsgerichtsbarkeit in Sachsen 190 I bis 1993, Schriftenreihe Justizgeschichte des Sachsischen Staatsministeriums der Justiz, Bd. I, Dresden 1994, S. 43.
65
Vgl. Erinnerungsbericht RudolfBohlmann (ACDP, III-035, Nr. 177, BI. 452 ff.).
66 Vgl. Jahresbericht des Dezernates K 5 im Lande Sachsen 1947 (BStU, MfS-AS, 229/66, Bd. 3, BI. 364).
67
Ebd., BI. 369f.
68
Ebd., BI. 365.
69
Ebd., BI. 372f.
13 Timmermann
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jetzt ins Leben gerufene Arbeitsgruppe C 3 k-s richtete sich gegen alle nichtkommunistischen politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen, wobei spezielle Referate zur Bekämpfung u.a. von Schumacher-Tätigkeiten (C 3 k), "linke Abweichung" (C 3 I), CDU (C 3 m), LDP (C 3 n), "alle anderen Organisationen" (C 3 o), "Sekten, Religionsgesellschaften" (C 3 p) geschaffen wurden. 70 Die unter direkter Kuratel der SMAS bzw. des NKWD arbeitende K 5 gab den sowjetischen "Kollegen" nicht nur Jahr filr Jahr Tausende Fälle zur "Weiterbearbeitung" ab, sondern fertigte filr diese auch Tausende von Charakteristiken über deutsche Staatsangehörige. 71 Über diese seit 1946/47 hauptamtlich betriebene Tätigkeit hinaus baute das Dezernat K 5 ab 1947 ein Spitzel-System auf, welches Ende August 1948 insgesamt 952 "Freiwillige Mitarbeiter" (FM) umfaßte. Mindestens 136 "Freiwillige Mitarbeiter" waren der Arbeitsgruppe C 3 k-s zugeordnet, in derem Auftrag sie politische Gegner ausspähten und "zersetzten". 72 Nachdem Ende 1948 in Moskau der Beschluß gefallen war, in der SBZ eine eigenständige Geheimpolizei aufzubauen, erhielt Mitte 1949 der von Fischer zwei Jahre zuvor zum Präsidenten des Landeskriminalamtes Sachsen berufene Moskau-Kader Josef Gutsehe den Auftrag, mit der Errichtung eines solchen Landesapparates zu beginnen. Dieses neue Instrument firmierte unter dem auf Verschleierung bedachten Titel "Landesverwaltung zum Schutze der Volkswirtschaft". Im Februar 1950 bekam es mit dem Ministerium filr Staatssicherheit (MfS) ein zonenübergreifendes Dach. Gutsehe selbst avancierte zum Chefmspekteur des MfS Sachsen, bevor er dann als stellvertretender Minister des zentralen Staatssicherheitsdienstes nach Berlin berufen wurde. 9.
Die Liquidierung der verbliebenen beiden Demokratiepotentiale CDU und LDP vollzog sich Ende der 40er Jahre in einem Prozeß der Zersetzung und schrittweisen Gleichschaltung durch die Organe der SMAS, der K 5 und der SED. Die Methoden, die hierbei angewandt wurden, umfaßten das bereits genannte repressive Vorgehen, öffentliche Kampagnen gegen einzelne Parteiführer und die Korrumpierung von Funktionären bzw. eine Förderung sogenannter "fortschrittlicher Kräfte" in beiden Parteien. Nachhaltigen Erfolg konnten SED, SMAS und K 5 dabei insbesondere beim LDP-Landesverband erzielen, dessen Führung (Hermann Kastner, Johannes Dieckrnann, Walther Thünner) die Führungsrolle der SED letztlich freiwillig akzeptierte. Allerdings ist festzuhalten, daß im Vorfeld dieser Zustimmung regionale Führungsgarnituren der LDP (wie in Leipzig) fast komplett verhaftet worden
70 Vgl. Jahresbericht des Dezernates K 5 im Lande Sachsen 1948/49 (BStU, MfS-AS, 229/66, Bd. 4, BI. 627 ff. und 642).
71
Ebd., BI. 597.
72 Bericht des Landeskriminalamtes Sachsen, Dezernat K 5, Setzepfand, Betr.: Zahlenmaßige Aufstellung der FM nach Arbeitsgruppen, Kriminaldienst- und Kriminalaußenstellen aufgegliedert, Dresden, den 23.8.1948 (BStU, MfS BV Dresden, AS, 6160, Bd. I, BI. 25 f.).
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waren und so eine Atmosphäre der Angst und Einschüchterung erzeugt wurde. Die Landesspitze der CDU um Hugo Hickmann, Gerhard Rohner und Carl Günther Ruland lehnte dagegen noch im Winter 1949/50 den Marsch in einen de-facto-Einpartei-Staat ab. Dies ftlhrte bis März 1950 zur "Enthauptung" der CDU-Landes- und Fraktionsspitze infolge massiven Drucks des SED-Politbüros und der SED Sachsen. 73 Mit diesem Vorgehen und der nun folgenden, von SED und K 5 gesteuerten Transformation von CDU und LDP in prokommunistische Blockparteien waren auch die letzten Reste der 1945 so hoffnungsvoll begründeten Ansätze eines wirklich pluralistischen Parteiensystems vernichtet worden. Die erpreßte Zustimmung von CDU und LDP zur ersten Landtagswahl nach dem Einheitslistenprinzip am 15. Oktober 1950 kann als E~dpunkt jener Phase der simulierten Demokratie und als eine der entscheidenden Grundlagen der nunmehr gänzlich unverhüllten kommunistischen Diktatur betrachtet werden. 10. Die Zeit bis zur Auflösung des Landes Sachsen und seines Parlamentes im Sommer 1952 war durch einen rasanten Prozeß der Zentralisierung gekennzeichnet, der nahezu alle gesellschaftlich relevanten Bereiche umfaßte. Seinen Ausgang hatte dieser Prozeß im Februar 1948 genommen. Im Zuge der Stärkung der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) war damals ein weitgehender sächsischer Kompetenzverlust auf wirtschaftspolitischem Gebiet eingetreten, der mit der rasch folgenden Abgabe von Verftlgungsrechten über die bislang volkseigenen sächsischen Betriebe an die zentrale Ebene und dem Beginn des Zweijahrplanes im Sommer 1948 beschleunigt wurde. Die Gründung der DDR im Herbst 1949 setzte diesen Trend nicht nur fort, sondern markierte eine entscheidende Zäsur auf dem Weg zur zentralistischen Diktatur. Denn mit der Übernahme der gesamten Steuerhoheit durch den neuen Staat wurde dem föderalistischen System die eigentliche Basis entzogen. Darüber hinaus wurden noch 1950 wesentliche Teile der sächsischen Justizverwaltung an die zentrale Ebene abgegeben und das Justizministerium Sachsens zugunsten des zentralen aufgelöst. Nachdem auch wichtige Bereiche aus den bisherigen Ministerien flir Arbeit und Aufbau sowie Industrie und Verkehr ausgegliedert und auf die zentrale Ebene verlagert worden waren, existierte seit 1950/51 nur noch ein sächsisches Ministerium ftlr Wirtschaft und Arbeit. Im selben Jahr verlor das Land auch die Zuständigkeit beim Sozialversicherungssystem, das in die Kompetenz der zentralen Führung des FDGB gelangte. Die Liquidierung des zur bloßen Gebietskörperschaft degradierten Landes zugunsten kleinerer Bezirksverwaltungen setzte einen Schlußpunkt unter diese Entwicklung. Ein entsprechender Beschluß des SED-Politbüros vom April 1952 wurde Wochen darauf von der II. SED-Parteikonferenz formal bestätigt. Am 25. Juli 1952 löste sich der sächsische Landtag mit der Verabschiedung des "Gesetzes über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe 73 Vgl. z.B. Beschluß-Protokoll des Landessekretariates der SED Sachsen vom 30.1.1950 (SachsHStAD, SED-BPA Dresden, A/788, 81. 93 ff.).
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im Land Sachsen" selbst auf. Damit war auch das Land de facto untergegangen. Die Affinitäten zu einer ganz ähnlichen Entwicklung 1933/34 waren unübersehbar. V. Resümee Die bisherigen Untersuchungen lassen deutlich werden, daß dem Prozeß der Diktaturdurchsetzung ein strategisches Programm zugrunde lag, welches in Moskau formuliert und in Sachsen modifiziert und präzisiert worden war. Materns programmatische Vorstellungen aus dem Zeitraum 1945/46 hatten in prinzipieller Hinsicht bis 1950/52 ihre praktische Umsetzung erfahren. Dagegen kam dem 1946/47 einsetzenden Kalte Krieg im Prozeß der Diktaturdurchsetzung ähnlich wie bei der Stalinisierung der SED - höchstens eine "atmosphärische", aber keine "ursächliche" Bedeutung zu.74 Letztlich gilt für die genannte Praxis er bereits von Kar! Kautsky 1921 beschriebene Grundsatz, wonach eine diktatorisch strukturierte Partei wie die kommunistische Staat und Gesellschaft geradezu naturnotwendig nach ihrem Ebenbild zu prägen versucht. 75 Für den beschriebenen Prozeß der Diktaturdurchsetzung muß die Sowjetische Militäradministration filr Sachsen (SMAS) als "Eiserner Garant" der kommunistischen Herrschaft und Weltanschauung betrachtet werden. Sie war fiir die totalitären Weichenstellungen auf allen Gebieten maßgeblich verantwortlich. Als erster strategischer Hebel formierte, dirigierte und kontrollierte die SMAS die kommunistische Staatspartei, und zwar auf ihrem Weg von der "Ersten unter Gleichen" im scheinpluralistischen ParteiengefUge der SBZ bis zu der Staat und Gesellschaft absolut dominierenden einheitssozialistischen Kaderpartei SED der zweite strategische Hebel. Beide, sowjetische und deutsche Kommunisten, engten von Anfang an die Handlungsspielräume der anderen politischen Kräfte in Sachsen wirkungsvoll ein, domestizierten die 1945 neu entstandenen Demokratiepotentiale wie etwa die demokratischen Parteien SPD, CDU und LDP oder auch den anfangs sozialdemokratisch dominierten FDGB, drängten sie allmählich zurück, entmachteten und transformierten sie oder schmolzen sie ein. Als drittem zentralen Hebel kam dem von den Kommunisten von Beginn an als "Parteiministerium" ursurpierten Innenministerium erhebliche Bedeutung im Prozeß der Diktaturdurchsetzung zu. Diese Stellung resultierte vor allem aus der Funktion dieses Schlüsselressorts als Schaltstelle des Elitenwechsels und eines neuen bürokratischen Apparates sowie der polizeistaatliehen Absicherung der im Entstehen begriffenen deutschen Sowjetmacht Das koordinierte Zusammenwirken dieser drei Instanzen - SMAS, KPD/SED und Innenministerium - filhrte zur "Jan Foitzik, Die Stalinisierung der SED, in: Deutschland-Archiv 112001,34. Jg., S. 165. 75 Vgl. Kar/ Kautsky, Von der Demokratie zur Staatssklaverei, in: Hans-Jürgen Mende (Hg.), Demokratie oder Diktatur?, Bd. 2, Berlin 1990, S. 231 f
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schrittweisen Durchsetzung der kommunistischen Diktatur. Nur durch deren personelle und organisatorische Verzahnung und Kooperation war eine Umprägung der sächsischen Politik und Gesellschaft in diesem Tempo und Ausmaß überhaupt möglich, wobei den sächsischen Moskau-Kadern der KPD/SED (besonders Hermann Matern, Kurt Fischer und Arthur Hofmann) hierbei eine bedeutsame "Scharnierfunktion" zufiel. Als Modell-Land der Diktaturdurchsetzung kann Sachsen allerdings nur fiir den Zeitraum 1945 bis 1948 angesprochen werden. In dieser Zeit spielte es vornehmlich im Bereich der sozialökonomischen Transformation, der polizeistaatliehen Absicherung und der kommunistischen Kaderschulung eine Vorreiterrolle sowohl fiir die anderen ostdeutschen Länder als auch fiir die zentrale Ebene der SBZ. Danach wurde es selbst ein "Opfer" der verstärkt einsetzenden zentralistischen Ausrichtung der Diktatur.
Die Unterlagen der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS (HVA) - Vernichtung, Überlieferung, Rekonstruktion Von Jochen Hecht
Der Staatssicherheitsdienst der DDR gehört natürlich zu dem Problemkreis "Deutsche Fragen - von der Teilung zur Einheit", der diesen Sammelband beistimmt, und im Kapitel "Herrschaft" ist dieser Beitrag richtig und zutreffend angesiedelt, selbst wenn nicht über den Staatssicherheitsdienst in Gänze, sondern "nur" über die Unterlagen der HVA und deren Vernichtung, Überlieferung und Rekonstruktion an dieser Stelle geschrieben wird. Im Zusammenhang mit dieser sehr speziellen archivalischen Hinterlassenschaft werden Ereignisse und Aufgaben benannt, die zur Vergangenheit gehören, die Gegenwart berühren und in die Zukunft weisen. Deshalb - und dies möchte ich vorsorglich bemerken - können die nachfolgenden Aussagen nur einen Zwischenstand im Erkenntnisprozeß festhalten; dies ist auch eine Grundaussage, die nach meiner Auffassung gegenwärtig noch filr viele Beiträge zur Geschichte des Wirkens und Werdens des Staatssicherheitsdienstes gilt, vor allem wenn man berücksichtigt, daß große Teile der vorhandenen Archivalien noch nicht genutzt werden können. Die Besonderheit der Überlieferung, besser Nichtüberlieferung von Unterlagen der HV A, hat auch etwas mit der Stellung dieser Struktureinheit im MfS und vielleicht noch mehr mit deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu tun. Im Abschlußbericht zur Auflösung der HV A vom 31. Mai 1990 1 werden nach meiner Auffassung in Kurzform die strukturbestimmenden Aufgaben der HVA in den 80-er Jahren zutreffend genannt: Mittels zwanzig politisch-operativen und sicherstellenden Diensteinheiten, der Schule der HVA, des Stabs und nachgeordneter operativ-technischer Kräfte wurden im Operationsgebiet (vor-
1 Hauptverwaltung Aufklärung - in Auflösung -, Infonnation zur Hauptverwaltung Aufklärung vom 31.5.1990 in: Gi/I/Schröter: Das Ministerium fur Staatssicherheit, Berlin 1991. Dazu auch: interne Arbeitsakte Komitee zur Auflösung des MfS/AfNS im Referat AR 6 der Abteilung Archivbestande des BStU.
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wiegend Bundesrepublik Deutschland, NATO-Staaten, ausgewählte Staaten der Dritten Welt) folgende Hauptrichtungen bearbeitet: Rüstungspolitik der BRD, Streitkräfteplanung, Manövertätigkeit, Kriegsfallplanung; Politik, Struktur der NATO, militärische Planungen, Übungstätigkeit; Innen- und Außenpolitik der BRD; Lage in Westberlin; Wissenschafts- und Technikpolitik der BRD, Konzern- und Industriezweiganalysen; Wirtschaftspolitik von NATO-Staaten und Konzernen; politische Entwicklungen in Europa, Sicherheits- und Abrüstungspolitik, KSZE-Prozeß, westliche Beurteilung der Lage in den sozialistischen Staaten; Innen- und Außenpolitik der USA und anderer westlicher Staaten; Bewertung internationaler Ereignisse, insbesondere Prozesse in Krisengebieten mit Spannungsherden, Beurteilung der wichtigsten Entwicklungsländer, der Entwicklungshilfepolitik der westlichen Staaten und der sogenannten Nord-Süd-Problematik; äußere Abwehr/Bearbeitung westlicher Geheimdienste und Sicherungsaufgaben in Auslandsvertretungen der DDR; Embargo-Maßnahmen der westlichen Staaten/COCOM, Beschaffung von Informationen und Mustern; Zusammenarbeit/Unterstützung von Sicherheitsorganen in einigen Ländern der Dritten Welt. In einem Thesaurus "Zielobjekte der HV A", der vermutlich Mitte der 80-er Jahre entstand, wurden ca. 1100 Organisationen, Parteien, Konzerne, Universitäten, Medienanstalten genannt, die sich der Aufmerksamkeit der HV A sicher sein konnten. 2 Schon diese Zahl allein vermittelt einen Eindruck des monströsen Informationsbedarfs, die der Staatssicherheitsdienst der in ihren Ressourcen und Wirkungsmöglichkeiten doch beschränkten DDR nicht nur im eigenen Land, sondern auch in anderen Staaten, insbesondere der BRD, zu verwirklichen trachtete. Unter diesen Zielobjekten sind bezeichnenderweise auch Sekretärinnenschulen in Mannheim, Oberbayern und Stuttgart genannt. Dies verdeutlicht, welche hohe Wertschätzung Sekretärinnen im Spionageprozeß besaßen: Der Einsatz der sogenannten "Romeos" konnte im günstigsten Falle schon am Beginn des 2
Thesaurus ,,Zielobjekte der HV A- alphabetische Liste; BStU, Ast Gera; MfS BV Gera, Abt. XV
Nr. 187, BI. 21-39.
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Berufslebens dieser künftigen Opfer der HVA zielstrebig und effektiv erfolgen. Für die genannten Aufgaben standen der HVA im Stellenplan des Jahres 1989 3.819 Mitarbeiter zur Verfilgung. Davon waren vorgesehen 2.394 Planstellen filr Berufsunteroffiziere, Fähnriche und Berufsoffiziere, 669 filr Offiziere im besonderen Einsatz, 700 Hauptamtliche Inoffizielle Mitarbeiter, 46 Unter-offiziere auf Zeit und immerhin 5 Zivilbeschäftigte. 3 Die HVA wurde bis zur Auflösung des MfS vom Stellvertreter des Ministers und Leiter der HV A, Generaloberst Großmann, dem Nachfolger des weitaus bekannteren Markus Wolf, geleitet. Sie war in Stellvertreterbereiche und Abteilungen untergliedert und im Rahmen des sogenannten Liniensystems auch mittels der Abt. XV in allen 15 Bezirksverwaltungen des MfS und damit flächendeckend in der gesam-ten DDR präsent. Die HVA hatte vielleicht den wichtigsten, nachweisbar aber nicht den alleinigen Anteil an der Westarbeit des Mts. Dies wird in vielen Dokumenten deutlich, so beispielsweise in einer Weisung des Ministers aus dem Jahre 1985 zur Bekämpfung feindlicher Stellen und Kräfte im Operationsgebiet, die nach Auffassung des Staatssicherheitsdienstes subversiv gegen die DDR und andere sozialistische Staaten tätig waren. 4 In einer dazugehörigen Anlage werden 153 feindliche Stellen und Kräfte genannt, die aufgeklärt, kontrolliert bzw. bearbeitet werden sollten. Von diesen 153 Stellen (von A wie Action Directe; Aktion Sühnezeichen bis Z wie Zeugen Jehova und Zirndorf- Sammellager filr auslän-dische Flüchtlinge) wurden der HV A 80 Stellen, der Hauptabteilung (HA) XX (Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund) 24, der HA XXII (Terror-abwehr) 23, der HA II (Spionageabwehr) 17 Stellen zugewiesen. Mit Einzelfllllen waren noch die HA XVIII (Sicherung der Volkswirtschaft), die HA VI (Paß-Kontrolle, Tourismus), VIII (Beobachtung, Ennittlung) und sogar die HA I (Abwehrarbeit in der NVA und Grenztruppen) betraut. Die Lösung dieser Aufgaben erforderte ein enges Zusammenspiel all dieser Arbeitsbereiche. In der zentralen Planvorgabe filr das MfS von 1986 bis 1990 wird zwischen den Aufgaben der "Aufklärung" und der "Abwehr" nicht mehr unterschieden; es werden vielmehr filr diese beiden Richtungen alle Diensteinheiten des MfS verantwortlich gemacht. 5 Die Methoden dieser Arbeit unter-
3 MfS-Handbuch Anatomie der Staatssicherheit, Die Organisationsstrukturen des Ministeriums ftlr Staatssicherheit 1989, BStU, Abteilung Bildung und Forschung, Berlin 1995. 4
BStU, ZA, GVS 0008 MfS Nr. 4/85, 104. Ausfertigung BI. 1-12.
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Zentrale Planvorgabe fur 1986 und den Zeitraum bis 1990; BStU, ZA, DSt 103287.
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schieden sich grundsätzlich in Ost und West nicht; die HV A hatte ebenso ihren Anteil an der Bespitzelung, Bearbeitung von Bürgern der DDR wie die anderen operativen Diensteinheiten des MfS an Bürgern der BRD oder anderer Staaten. Die Besonderheiten der HV A waren m.E. mehr atmosphärischer Natur. Mitarbeiter der HVA hatten vielleicht großzügigere Möglichkeiten bei ihrer geheim-dienstlichen Arbeit; ihre Erfolge waren spektakulärer, selbst wenn ihre Kundschafter enttarnt wurden (siehe Guillaurne). Eine besondere Rolle spielte sicher auch Markus Wolf, der - im Gegensatz zu seinen Generalskollegen durch seine Herkunft aus einem humanistischen Schriftstellerhaus Weitgewandtheit und "bürgerliche" Umfangsformen mitbrachte. Diese subjektiv empfundene, aber organisatorisch, strukturell nicht fundierte Sonderrolle, die mit dem Mythos vom "sauberen Tschekisten" korrespondierte, kam auch bei der Götterdämmerung des Staatssicherheitsdienstes zur Sprache. Der Bezirkschef des Staatssicherheitsdienstes in Kari-Marx-Stadt, Gebiert, sah sich gezwungen, den Ansätzen zu einem Sonderbewußtsein der "Aufklärer" entgegenzutreten, als er am 27. Oktober 1989 einen neuen Abteilungsleiter filr Auslandsspionage, also der Linie HV A - Abt. XV der Bezirksverwaltungen des Staatssicher heitsdienstes (BV), einfiihrte. 6 Die Abt. XV sei "wie jede andere Diensteinheit Bestandteil des MfS und nicht eine Elite oder die sogenannte Creme ...Alle müssen begreifen, was gegenwärtig in der DDR auf dem Spiel steht - es geht um die Frage der Macht, und die wird in der DDR entschieden". Man kann es auch drastisch sagen: Keine Fisimatenten. Wir sitzen alle in einem Boot. Die Bemühungen um die Legitimation der HV A im Rahmen einer allgemein geltenden Staatsräson spielte in den Monaten um den Jahreswechsel 1989/90 immer wieder eine große Rolle, und Markus Wolf hat sich dabei in äußerst geschickter und medienwirksamer Weise eingebracht. Betrachtet man das Ergebnis, so ermöglichte sie dieser Diensteinheit zwar nicht das Überleben, aber eine Sonderregelung zur Auflösung des Apparates in eigener Regie wurde dabei immerhin erreicht. Man kann heute nur noch spekulieren, warum der HV A durch den "Runden Tisch" zugestanden wurde, sich weitgehend eigenständig und ohne ausdrücklichen Auftrag, geschweige denn einer Kontrolle zu Aktenvernichtungen, aufzulösen.Nach meiner Auffassung könnten filr diesen Entschluß folgende Gründe mit berücksichtigt worden sein: 1. Die Leitung der HV A - und sicher auch die Mitglieder und Mitarbeiter des Runden Tisches mit verdeckten Beziehungen zum MfS - haben den Entscheidungsbefugten die Auffassung nahegebracht, daß die Linie Aufklärung wenig oder nichts mit dem damals bekanntgewordenen Ausmaß der nach innen gerichteten Repression und des monströsen Spitzelunwesens des MfS zu tun hatte. Diese Argumentation wird in einem Vermerk deutlich, der fiir das Handeln 6 Jens Giesecke, Die Hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, Personalstruktur und Lebenslauf 1950- 1989/90. Berlin 2000, S. 507-508.
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der Mitarbeiter des Mts und insbesondere fiir die der HV A Normalität einfordert: "... Die Befehle und dienstlichen Bestimmungen standen in der Verfassung und mit dem geltenden Recht der DDR in Übereinstimmung. Die Tätigkeit des Mts war eine staatliche im Wehrdienstverhältnis. Eine inoffizielle Tätigkeit war demzufolge auch eine staatliche Aufgabe. Diese Praxis ist der Verfassungsschutzgebung der BRD analog. Speziell die Aufklärungsorgane des Mts/AfNS stützen sich dabei zugleich auf das Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UNO-Charta ... " 7 2. Dieser letzte Satz weist auf eine weitere Argumentationslinie hin. Mehr oder weniger offen wurde damit gedroht, daß der Ehrenkodex es gebiete, Quel-len, also Personen und Unterlagen dazu nicht preiszugeben; sie seien unter Umständen auch mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Diese erschreckende Aussicht in der sonst so friedlichen Revolution veranlaßte sicher auch einige noch Zweifelnde, fiir die möglichst unspektakuläre Auflösung der HV A zu stimmen. Ein Untersuchungsausschuß des Bundestages befaßte sich auch mit diesen Fragen und kommt zu folgenden Aussagen: "Grundlage fiir diese umfassende Möglichkeit zur Spurenbeseitigung war, daß der Runde Tisch der HV A zugestanden hatte, sich weitgehend eigenmächtig und ohne hinreichende Kontrolle aufzulösen. Im Ergebnis begnügte man sich mit dem Postulat eines Abschlußberichtes nach vollzogener Demontage. Der Untersuchungsausschuß hat dieses Geschehen nur mit der rasanten Entwicklung der Gespräche am Runden Tisch erklären können. Ein weiterer Grund mag gewesen sein, daß sich das Augenmerk der aufgebrachten Bürgerrechtler im wesentlichen auf die Innenaktivitäten des MfS richtete und die HV A als Nachrichtendienst mit dem Auftrag zur Auslandsspionage allenfalls von sekundärem Öffentlichkeitsinteresse war. Auch die damalige DDR-Regierung mit ihrem Beauftragten zur Auflösung der HV A war einerseits wegen mangelnden Einblicks in die HV A-Aktenstruktur, andererseits aufgrund möglicher Interessenkollisionen dieser Verantwortlichen durch eine Verbindung zur HV A bzw. zum MfS nach den Erkenntnissen des Unter-suchungsausschusses keine ausreichende Kontrollinstanz." 8 Zur Verdeutlichung dieser subtilen Personenkonstellation sei erwähnt, daß der filr die Auflösung der HV A verantwortliche Oberst Bemd Fischer, Leiter der Abteilung A I -Aufklärung des Staatsapparates der BRD, insbesondere des
7 Ausarbeitung: Zur rechtspolitischen Bewertung der Tatigkeit des ehemaligen MfS/AfNS, o.D. Interne Arbeitsakte "Komitee zur Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS" BStU, Abt. AR, AR 6. 8
Drucksache 13110900, S. 195 Deutscher Bundestag- 13. Wahlperiode.
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Bundeskanzleramtes, der Ministerien und deren Bundesbehörden sowie Aufklärung der Regimeverhältnisse im Großraum Bonn - war9 und als Leiter des Komitees zur Auflösung des ehemaligen Amtes filr Nationale Sicherheit ein Günther Eichhorn wirksam wurde, der einmal als Abteilungsleiter im Finanzministerium der DDR wirkte, aber gleichzeitig auch als Inoffizieller Mitarbeiter dem MfS zu Diensten gewesen war. Die Auflösung der HV A vollzog sich vom Februar 1990 bis Ende Juni 1990. Ausgangspunkt war das Festlegungsprotokoll der Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tisches vom 23.2.1990. 10 Der Beauftragte des Ministerpräsidenten filr die Auflösung des ehemaligen AfNS, Generaloberst Peters- nach einer Karriere in der NV A seit 1976 Chef der Zivilverteidigung der DDR - unterbreitete auf dieser Tagung einen Vorschlag zur weiteren Auflösung der HVA, der mehrheitlich von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe Sicherheit bestätigt wurde. In diesem Beschluß heißt es u.a.: "Zur kontinuierlichen Weiterfilhrung des Auflösungsprozesses des ehemaligen Amtes filr Nationale Sicherheit wird in Berücksichtigung der spezifischen Bedingungen filr die planmäßige und ersatzlose Auflösung der HV A beschlossen: 1. Die Anzahl der Mitarbeiter wird bis zum I 5.3.1990 auf ca. 250 reduziert. 2. Die die Auflösung der HV A abschließenden Mitarbeiter werden verlegt in der Zeit vom 1. - 10.3.1990 in das Objekt Rödernstraße 30. Dabei werden folgende Materialien mitgefilhrt: das zur Auflösung notwendige Schriftgut zum Quellenschutz, persönliche Arbeitsunterlagen und Bürotechnik 3. Die noch in der Zentralkartei der Abt. XII befindlichen Zweitkarten F 16 der Hauptverwaltung Aufklärung werden heraussortiert und unverzüglich in der Abt. XII vernichtet. Konkrete Aussagen, Berichte über Auflösungsarbeiten des Restunternehmens HVA sind offenbar nur sporadisch erfolgt. Im Abschlußbericht der HV A - in Auflösung - vom 19. Juni 1990 11 wird allerdings zugegeben, daß neben der Reduzierung des Personalbestandes ... bereits von Ende Oktober 1989 bis Mitte Februar 1990 ...",die Arbeit der HV A " ...durch eine radikale Reduzierung: der fmanziellen Mittel, der genutzten KO (konspirative Objekte) und KW (konspirative Wohnungen), der sicherstellenden Kräfte und der Akten und des Karteibestandes"
9
MfS-Handbuch ... Die Organisationsstruktur des Ministeriums ftlr Staatssicherheit 1989, S. 368.
1°Festlegungsprotokoll der Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tisches vom 23.2.1990. In: Arbeitsakte 12 BStU, Abt. AR, Referat AR I. 11
BStU, ZA; MfS, HV A Nr. 804, S. 3 ff.
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bestimmt wurde. Über Art und Umfang dieser Schriftgutvernichtungen, die vor dem Auflösungsbeschluß der AG Sicherheit des Runden Tisches erfolgten, sind mir keine verläßlichen Aussagen und Größenordnungen bekannt. Im Abschlußbericht wird auch kurz über die Auflösung und Aktenvernichtung der territorialen Organe der HVA, den Abteilungen XV der Bezirksverwaltungen des Staatssicherheitsdienstes, berichtet. Es heißt dort 12 : "Der Aktenbestand wurde mit Zustimmung bzw. durch Auflagen der filr die Auflösung der Bezirksämter zuständigen Gremien vor Ort vernichtet bzw. im Fall Halle und Potsdam nach Berlin zur Vernichtung transportiert." Der Aktenbestand der Abt. XV des Bezirksamtes Leipzig lagert noch am Ort. In Rostock und Chemnitz befmdet sich ein Restbestand in Verwahrung der VP. In Magdeburg sind ca. 20 Säcke im allgemeinen Archivbestand des Bezirksamtes eingelagert". Unbedingt muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden, daß der Aktenbestand der Abt. XV der BV Leipzig nicht einfach so vor Ort lagerte, sondern daß sich die Bürgerrechtler, die die BV besetzt hatten, sich konsequent weigerten, die Akten nach Berlin transportieren zu lassen, obwohl der damalige Innenminister Diestel eine Überfilhrungsanordnung vom 18. April 1990 des Komitees zur Auflösung des Amtes filr Nationale Sicherheit an den Bezirksarbeitsstab Leipzig handschriftlich bestätigte. Im Abschlußbericht vom 19. Juni 1990 wird lapidar festgehalten, daß ein Archivbestand von 45 lfm Akten sowie Karteien am 22.6. eingelagert wurde. Bei diesem Material handele es sich überwiegend um filr die Sicherheit der DDR, ihrer Verbündeten, aber auch anderer Staaten relevantes Material, u.a. Informationen über voll identifizierte, weltweit operierende Agenturen anderer Geheimdienste, deren Auftragsstrukturen und Arbeitsrichtungen, über hauptamtliche Geheimdienstmitarbeiter und Agenten. 13 Nicht unerwähnentswert darf ein Satz aus diesem Bericht bleiben, der folgendermaßen lautet: 14 "Die Auflösung der HV A erfolgte filr alle Beteiligten unter komplizierten Bedingungen. Nicht nur, daß die Materie an sich genügend Probleme bereitete, hinzu kam, daß sich bestimmte Prozesse in einem Rahmen vollzogen, in dem die Gesetzlichkeit den politischen Veränderungen von äußerster Dynamik Rechnung tragen mußte." Die HV AalsHüterinder Gesetzlichkeit - eine merkwürdige Aussage von Leuten, die doch die Dialektik revolutionärer Prozesse im Schlaf interpretieren konnten.
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Ebenda: S. 7.
13
Ebenda: S. 8.
14
Ebenda: S 15.
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Oberst Klaus Eichner, leitender Mitarbeiter in der Abteilung IX, äußere Spionageabwehr (Gegenspionage)- sie beschäftigte sich mit der Aufklärung und Bearbeitung von gegnerischen Diensten, insbesondere der BRD (BND, MAD, Verfassungsschutzorgane, Polizei, Einrichtungen der USA) berichtete in seinem Buch "Headquarters Germany: die amerikanischen Geheimdienste in Deutschland"15 über Interna der Auflösungsaktivitäten. Er bestätigt, daß die operativen Bereiche der HV A bereits bis zum 15. Januar 1990 eine sehr gute Vorbereitung geleistet, d. h. die wesentlichen Unterlagen zu Betroffenen und inoffiziellen Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes schon vernichtet hatten. Allerdings war man auch gewillt, die Nachwelt zu beeindrucken, indem "ein gewisser Bestand an Unterlagen, der fiir eine spätere historische Bewertung der Arbeit der HV A von Nutzen sein könnte - und nach unserer Vorstellung auch die Wirksamkeit unserer Arbeit unvoreingenommenen Betrachtern demonstrieren müßte fiir eine Archivierung bereitgestellt werden sollte." Im Juni 1990 gelangten diese Unterlagen in die frühere Zentrale des MfS, Normannenstraße. In einem Archivmagazin wurden die Unterlagen in Panzerschränken verwahrt und Klaus Eichner stellte mit einer gewissen, auch verständlichen Wehmut fest: "Ein letztes Mal hatte ich körperliche Berührung mit Unterlagen, die einmal der ganze Inhalt meiner langjährigen Arbeit waren". Auch über die Vernichtung von magnetischen Datenträgem zu personengebundenen EDV-Projekten des MfS existiert ein Protokoll, das vom 19.3.1990 stammt. 16 Hierin wurde vermerkt, daß 10.611 Magnetbänder, 5.267 Disketten, 544 Wechselplattenspeicher und 80 Säcke loses Magnetbandmaterial geschreddert wurden. Davon stammten aus der HVA 378 Magnetbänder und 1.200 Disketten; die Datenprojekte der HVA wurden im Gegensatz zu denen anderer Diensteinheiten (so HA XVIII, Fahndungsvergleichsarbeit, oder HA VI, Zählkarten Diplomaten) nicht genannt. Aber was wollte die HV A den unvoreingenommenen Betrachtern als Hinterlassenschaft präsentieren? Natürlich mußten es Unterlagen sein, die die Erfolge der HVA bei der Ausspähung gegnerischer Geheimdienste dokumentieren konnten, und so wurde detailliert in zwei Komplexen aufgefiihrt: 17 Komplex 1: Schriftgut fremder Geheimdienste, u.a. Kopien der bedeutendsten Zentralen Direktiven des Direktors der NSA, die weltweite Aufgabenstellung der USA-Geheimdienste zur Fernmelde-/-elektronischen Informationsbeschaffung über alle Länder der Erde, eine Übersicht über die weltweite Organisation der 15 Klaus Eichner: Headquarters Germany: die amerikanischen Geheimdienste in Deutschland, Berlin 1997, S. 275 ff
16 Komitee zur Auflösung des AfNS, Abschlußbericht vom 19.3.1990 Ober die Vernichtung der magnetischen Datenträger zu personengebundenen EDV-Projekten der ehemaligen AfNS. BStU, Abt. AR, Referat AR 6, Interne Arbeitsakte "Auflösung des AfNS" . 17
BStU, ZA; MfS, HVA Nr. 821 .
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Spionagetätigkeit der USA-Geheimdienste auf den Ebenen der strategischen Aufklärung, der taktischen Aufklärung und der Aufklärung vor Ort (eingesetzte Mittel und Strukturen, Technik, Doktrinen). Weiterhin wurde archiviert eine Kartei mit den kompletten Angaben über die Dienststellen und Objekte der USA-Geheimdienste auf dem Territorium der BRD und Westberlins, mehrere Ordner mit Dossiersangaben über Mitarbeiter der USA-Geheimdienste, von den CIA-Direktoren bis zu operativen Mitarbeitern der Residenturen im deutschsprachigen Raum. Ähnliche Unterlagen wurden zu den englischen und französischen Geheimdiensten überliefert und natürlich auch - und dies sicher mit besonderer Befriedigung- Unterlagen zum Militärischen Abschirmdienst, zum Bundesnachrichtendienst und zum Bundeskriminalamt Besonders erwähnenswert ist dabei eine komplette Kartei über alle hauptamtlichen Mitarbeiter des BND und Dossiers über eine größere Anzahl von Mitarbeitern des BND. Natürlich dürfen ähnliche Unterlagen zum Verfassungsschutz nicht fehlen. Dieser Teilkomplex umfaßt 123 Ordner und 2 Karteischränke A 7. Dazu gehören weiterhin auf der Linie politische und politisch-militärische Aufklärung 262 Ordner aus dem Zeitraum 1959 - 1989 mit Analyse- und Informationsmaterialien zu folgend genannten Themen: Rüstungspolitik der BRD, Streitkräfteplanung, Politik, Struktur der NATO, Innen- und Außenpolitik der BRD und Politik der wichtigsten Parteien sowie politischer Organisationen, Beziehungen BRD- DDR, Wissenschafts- und Technikpolitik der BRD, Konzern- und Industriezweiganalysen, politische Entwicklung in Europa, Sicherheits- und Abrüstungspolitik, Innen- und Außenpolitik der USA und anderer westlicher Staaten, Bewertung internationaler Ereignisse, Beurteilung der wichtigsten Entwicklungsländer und der sogenannten Nord-Süd-Problematik. In einem zweiten Komplex der Linie wissenschaftlich-technische Aufklärung wurden 7 Ordner und RegistrierbUcher, ordentlich mit DIN A 4 gekennzeichnet, fiir die Nachwelt archiviert. Dabei handelt es sich um: Aufträge/Vereinbarungen der Industrie oder anderer Institutionen zur Beschaffung von Embargotechnik, Software, Dokumenten u.a. aus den Jahren 1986- 1990 (Aufgabenstellungen), realisierte Embargobeschaffungen aus Mitteln des Ministeriums fiir Elektrotechnik und Elektronik (Aufgabenstellungen, Finanzierung, Abrechnungen), Aufstellung aller Aufgabenstellungen mit Mittelbindung seit 1977 sowie
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Kassenbücher über die Verwendung der Mittel des Ministeriums für Wissenschaft und Technik. Schon bei dieser groben Inhaltsangabe läßt nicht nur von fern Herr SchalckGolodkowsky grüßen, und es wird deutlich, wie weit das MfS auch in wirtschaftliche Bereiche eingedrungen war und die sozialistische Industriepolitik konspirativ unterstützte. Mit diesem Abschlußbericht enden die amtlichen Äußerungen der HV A in Auflösung; nunmehr kann berichtet werden, wie im Archivbereich der Behörde der Bundesbeauftragten mit diesen Unterlagen umgegangen wurde und welche erfreulichen Überraschungen es gerade mit HVAUnterlagen in den letzten Jahren gab. Bis zum Jahre 1994 spielten diese Materialien keine Rolle in der archivischen Arbeit. Die Tatsache der Vernichtung war bekannt und der Schwerpunkt der Arbeit war gesetzt durch die aufwendigen Ordnungs- und Verzeichnungsarbeiten an dem massenhaft vorhandenen personenbezogenen Schriftgut und den Karteien. Wir waren bestrebt, baldmöglichst und vollständig den Bürgern die Unterlagen zur Akteneinsicht vorlegen zu können, auf die sie gemäß den Festlegungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes Anspruch hatten. Die Arbeit der Abteilung Archivbestände in der Behörde des Bundesbeauftragten wird ausfUhrlieh dokumentiert in den Tätigkeitsberichten der Behörde, die alle zwei Jahre dem Bundestag vorzulegen sind. Gegenwärtig liegen Nm. l bis 4 vor. In einem Übergabeprotokoll vom 13. Dezember 1990, also lange vor Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, wurde außerdem bestätigt, daß Un-terlagen des HVA-Demonstrationsbestandes im Rahmen der damals geltenden Regeln der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe übergeben worden sind. Offenbar gelangten weitere Unterlagen auch an andere Stellen, ohne daß dies im einzelnen noch nachzuvollziehen ist. Ersichtlich wird dies aus Rückfilhrungen, die ab 1993 beginnen und bis jetzt noch nicht abgeschlossen sind. Inzwischen hat eine Revision des HVA-Teilbestandes stattgefunden- es kann grundsätzlich bestätigt werden, daß sich die in den Anlagen des Abschlußberichtes grob beschriebenen Unterlagen wieder in Verwahrung der Bundesbeauftragten befmden. Ein Teil dieser Überlieferung befindet sich in der VS-Stelle, da sie gemäß den Festlegungen des § 37 StUG gesondert zu verwahren sind. Geschützt werden damit Unterlagen über Mitarbeiter von Nachrichtendiensten des Bundes, der Länder und der Verbündeten sowie Unterlagen zur Spionage, Spionageabwehr oder des Terrorismus, die die öffentliche Sicherheit geilihrden oder dem Wohl des Bundes oder eines anderen Landes Nachteile bereiten würden. Allerdings gibt es einen besonderen Fall, der schon am 31. Januar 1990 dokumentiert ist. An diesem Tag wurden dem damaligen Ministerium des Innem eine nicht bekannte Anzahl von Unterlagen der Arbeitsgruppe Rechtsextremismus/Neofaschismus der HV A, darunter auch eine Handkartei neofaschistisches Umfeld BRD/Westeuropa übergeben. Über den weiteren Verbleib dieser Unterlagen ist nichts weiter bekannt; die damalige Außenstelle Berlin des
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BMI erklärte aufunsere Nachfrage am 26. November 1992, sie seien nicht mehr auffindbar. Zu vermuten ist, daß diese Materialien in Untersuchungs- und Verfahrensakten anderer Behörden eingingen, eine Verfahrensweise, die sich auch bei anderen Akten feststellen läßt, die vor lnkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes an Behörden der noch existierenden DDR und danach an Behörden der Bundesrepublik herausgegeben wurden. Für die Abteilung Archivbestände wurde um den Jahreswechsel 1993/1994 die Überlieferung der HV A erstmalig interessant. Die nachfolgenden AusfUhrungen beruhen auf internen Arbeits- und Bestandsakten zur HVA, die in den Referaten AR I, AR 6 und AR 7 der Abteilung Archivbestände der Bundesbeauftragten geführt werden. Bei Or Malycha
Seit 1948 begann eine stärkere Betonung des Marxismus nicht nur als Erziehungsund Bildungsideal, sondern auch als ein ideologisches Fundament beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Diese Akzentverschiebung wirkte sich unmittelbar auf das Verhältnis zu den Gesellschaftswissenschaften aus. Auf der SED-Kulturtagung im Mai 1948 erklärte Otto Grotewohl, die bürgerliche Philosophie der Gegenwart würde alljene Elemente im klassischen bürgerlichen Humanismus negieren, die auf die praktischen Lebensverhältnisse und die Gleichheit der Menschen hinlenken. 34 Nach Meinung Grotewohls käme es aber in den philosophischen Betrachtungen nunmehr gerade auf jene Fragen an, die der praktischen Lebensbewältigung und dem "Aufbau der neuen Gesellschaft'' dienlich sein könnten. Gesellschaftswissenschaftler hätten sich stärker als zuvor auf die Veränderungen der "Umstände filr das Werden des Menschen" zu orientieren. In diesem Kontext stand nicht nur die sich radikalisierende Polemik gegen die "Irrlehren" Nietzsches, Hegels, Schopenhauers, Spenglers und Treitschkes, sondern auch die 1948 initiierte Kampagne gegen den Existentialismus als "alte, reaktionäre Philosophie", über den es Ende 1946 noch einen philosophischen Diskurs gegeben hatte. Ackermann definierte den Existentialismus als eine Philosophie, die "die bürgerliche Intelligenz verlocken soll, auf dem untergehenden Schiff zu bleiben und mit ihm in die Tiefe zu sinken".35 Damit erhielten zunächst die Gesellschaftswissenschaften einen höheren politischen Stellenwert, der durch bildungspolitische Offensiven noch verstärkt wurde. Die politischen Abwertungen philosophischer Anschauungen, die den bürgerlichen Individualismus betonen, wirkten sich unmittelbar auf die Hochschulpolitik, insbesondere auf die Personalpolitik aus. Im Zuge dieser auch stets ideologisch motivierten kulturpolitischen Kampagnen mehrten sich seit 1947 die bewußt inszenierte Verdrängungsaktionen gegen bürgerliche Professoren in den Geisteswissenschaften, die zu administrativen Entlassungen und politisch gesteuerten Emiritierungen filhrten. 36 Die von den Volksbildungsministerien der Länder verfilgten Entlassungen schränkten die Arbeitsvertragshoheit der Universitäten ein und stellten somit einen gravierenden Akt in der Beschneidung der Hochschulautonomie dar. Die perso-
34
Vgl. Gerd Dietrich, Politik und Kultur in der SBZ 1945-1949, Bem 1993, S. 118.
3s Anton Ackerrnann, Die existentialistischen Fliegen von Jean-Paul Satre, in: Neues Deutschland, 4. Januar 1948. 36 Vgl. Marianne MüllerlEgon Erwin Müller, " ... stürmt die Festung Wissenschaft!". Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitaten seit 1945, hrsg. v. Amt filr gesamtdeutsche Studentenfragen des Verbandes Deutscher Studentenschaft und 'colloquium - Zeitschrift der freien Studenten Berlins', Colloquium Verlag, (1954), Reprint Berlin 1994.
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nellen Verdrängungsprozesse hatten darilber hinaus Auswirkungen auf Form und Inhalt des Lehrbetriebes, insbesondere eine Reduzierung der Lehrfreiheit zur Folge. Die von Ackermann im Februar 1949 verkündete wissenschaftspolitische Linie entsprach den politischen Prämissen der damals geltenden Bündnispolitik, die politische Loyalität einforderte und honorierte: "Wir fordern keine Totalität des Marxismus an den Universitäten, sondern fordern Zusammenarbeit mit allen Wissenschaftlern, die zur Zusammenarbeit bereit sind. Wir sind filr die Zusammenarbeit mit allen Fachkräften, die selbst filr diese Zusammenarbeit von sich aus bereit sind. Noch wichtiger ist die Politik der Differenzierung und der Unterscheidung der Strömungen an der Universität. Eine Überzeugung der Unverbesserlichen ist vergebens, sie müssen isoliert werden. Das tun wir in der Regel nicht. Diese Isolierung erfordert, daß wir die Schwankenden zu uns herüberziehen und um jeden Einzelnen systematisch kämpfen, aber eine plumpe Parteipolitik können wir nicht brauchen, sondern eine ehrliche Blockpolitik mit allen demokratischen Kräften. ,.n Die hochschulpolitischen Zielsetzungen der SED konnten nur realisiert werden, wenn es gelang, die tradierte Funktionsweise des Hochschulwesens als Mechanismus der Selbstreproduktion des Bildungsbürgertums aufzubrechen. Der 1948/49 proklamierte "Sturm auf die Festung Wissenschaft'' setzte allerdings äußerst zögernd ein, denn dem Aufbau einer marxistischen Wissenschaft fehlte das dafür notwendige Personal. Die geringe Zahl von Wissenschaftlern mit Hochschullehrerqualifikation, die der SED angehörten oder ihr nahe standen, machte es kaum möglich, eine personelle Erneuerung des Lehrkörpers in kurzer Frist herbeizufilhren. Deshalb wurde der W e~ über die soziale und politische Regulierung des Studienzugangs gewählt. 3 Ackermann erklärte auf einer Arbeitstagung im Mai 1949, "daß ohne die Schaffung einer neuen Intelligenz keine der grundlegenden Aufgaben unseres demokratischen Neuaufbaus gelöst werden kann". 39 Seit 1948 betrieb die SED-Führung ihr Ziel zur Schaffung einer ,,neuen Intelligenz", in der sich ein gewandeltes Verhältnis zu Partei und Staat manifestieren sollte, weitaus intensiver. Hierzu diente in erster Linie die Umwandlung der
37
SAPMO BArch, NY 4109/25.
38 Vgl. John Connel/y, Stalinistische Vielfalt: Hochschulpolitik im östlichen Mitteleuropa 1945-1955, in: Ho.ffmann/Macrakis, Naturwissenschaft und Technik in der DDR, S. 89-104.; Hans-Joachim Meyer, Hochschulpolitik in der DDR, in: Deutschland Archiv, Heft 9/1993, S. 111 6-1120. 39
SAPMO BArch, IV 2/101/111.
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Vorstudienanstalten in die Arbeiter- Wld Bauemfakultäten.40 Die Arbeiter- Wld Bauernfakultäten stellten nicht nur eine bildm1gspolitische Institution dar, die bewußt die tradierten Strukturen des BildWlgssystems durchbrachen. 41 Sie wurden von der Parteiftlhnmg vornehmlich als ein machtpolitischer Faktor gehandhabt, der zur Heranbildm1g einer neuen, eng mit der SED verbm1denen Führungselite fUhren sollte.42 Zugleich wurden mit der filr alle Hochschulen obligatorischen Vorlesm1gsreihe "Politische Wld soziale Probleme der Gegenwart" (1948/49) bzw. des "Gesellschaftswissenschaftlichen Minimalprogramms" ( 194911950) erste Versuche Wlternommen, allen Studenten das damals schon stalinistisch geprägte Lehrgebäude des Marxismus-Leninismus zu vermitteln. Mit der EinfilhrWlg des obligatorischen gesellschaftswissenschaftliehen GTWldstudiums im Rahmen der Hochschulreform von 1951 begann eine "ideologische Offensive" vorwiegend in geisteswissenschaftlichen Bereichen, die auf die nachwachsende ,,neue Intelligenz'' zielte. Neben der Fachkompetenz spielten zunehmend politische Wld weltanschauliche OrientieTWlgen Wld soziale Herkunft eine entscheidende Rolle. Langfristig hatte die Durchsetzung politischer Wld sozialer Kriterien Wld Regeln filr die RekrutieTWlg im Hochschulbereich eine DistanzieTWlg vom bürgerlichen Ethos der Wissenschaft zur Folge. Seit Anfang der 50er Jahre änderte sich der gesellschaftliche Stellenwert von Wissenschaft, die nWl nicht mehr lediglich als Bestandteil der Bildm1gs- Wld Kulturpolitik betrachtet wurde. Geisteswissenschaftliche Forschm1gen sollten in zunehmendem Maße an der HerausbildWlg eines ,,neuen sozialistischen Bewußtseins" mitwirken.43 Dem entsprach auf der kognitiven Ebene, daß die systemischen Kategorien des Marxismus-Leninismus (Macht, Klassenkampf, Produktivkräfte etc.) nicht nur in der Parteipropaganda Anwendm1g fanden, sondern auch in die wissenschaftliche Debatte eingefilhrt wurden. Von den Naturwissenschaften erwartete die Partei40 Vgl. Michael C. &hneider, Bildung ftlr neue Eliten. Die Gründung der Arbeiter- und Bauernfakultäten in der SBZJDDR, hrsg. v. Hannah-Arendt-Institut ftlr Totalitarisrnusforschung, Dresden 1997. 41 Vgl. die Richtlinien fllr die Arbeiter- und Bauernfakultäten an den Universitäten und Hochschulen der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Dokumente zur Bildungspolitik in der Sowjetischen Besatzungszone. Hrsg. v. Bundesministerium ftlr gesamtdeutsche Fragen Bonn und Berlin. Ausgewählt und erläutert v. Siegfried Baske u. Martha Enge/bert, Berlin 1966, S. 38f.
42 Vgl. Ri:J/ph Jessen, Professoren im Sozialismus. Aspekte des Strukturwandels der Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, in: Hartmut Kaelble!Jürgen Kocko!Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 217-253. 43 Das forderte Kurt Hager Anfang 1953: Unsere Wissenschaft im Dienste des Aufbaus des Sozialismus, in: Einheit, Heft I, 1953, S. 84ff.
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filhrung anders als bislang zuvor wissenschaftliche Beratungsleistungen in den drängenden Fragen der Wirtschaftspolitik und -planung. Zugleich fragte sie technisch relevantes Wissen fiir den Binnen- und Außenmarkt ab. 44 Auf der institutionellen Ebene wurden die wissenschaftspolitischen Apparate immer mehr ausdifferenziert und neue Lenkungseinrichtungen installiert, um die Wissenschaft steuerbar zu machen. Es zeichneten sich gravierende Änderungen und Wandlungen im Wissenschaftsverständnis der Politik ab. Jetzt trat die Ansicht stärker hervor- ohne jedoch das Fremdverständnis von Wissenschaft gänzlich zu dominieren - daß wissenschaftliche Tätigkeit im eigentlichen Sinne überhaupt nur auf dem Boden des Marxismus-Leninismus denkbar sei. So erklärte Fred Oelßner vor den Dozenten und Hörern der Friedrich-SchillerUniversität Jena am 5. Oktober 1950: "Es kann ja auf keinem Wissensgebiet eine fruchtbringende Arbeit geben, weder in der Forschung noch in der Lehre, wenn der Wissenschaftler nicht auf dem Boden einer festbegründeten Weltanschauung steht... Das Unglück der althergebrachten bürger-lichen Wissenschaftler besteht darin, daß es ihnen bisher nicht gelungen ist, die den neuesten Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung entsprechende Weltanschauung zu finden. Diese erste und einzige wissenschaftlich begründete Weltanschauung ist der dialektische Materialismus."45 Noch deutlicher brachte Oelßner das sich wandelnde Wissenschaftsverständnis in einem Vortrag auf einer theoretischen Konferenz im Juni 1951 zum Ausdruck, der unter dem bezeichnenden Thema stand: ,,Die Bedeutung der Arbeiten des Genossen Stalin über den Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft fiir die Entwicklung der Wissenschaften". 46 Dort erklärte er apodiktisch: "Der dialektische Materialismus, der von Marx und Engels begründet, von Lenin und Stalin weiterentwickelt wurde, ist die erste und einzige wissenschaftlich begründete Weltanschauung... Darum kann wirkliche Wissenschaft nur auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus gedeihen. Je gründlicher die Wissenschaftler dies verstehen, um so besser werden sie die Wissenschaft vorwärts bringen."47
44
Vgl. Förtsch, Wissenschafts- Wld Technologiepolitik in der DDR, S. 21.
4'
SAPMO BArch, NY 4215/37.
46 Das redigierte Protokoll der Konferenz, die aus Anlaß des ersten Jahrestages des Erscheinens von Stalins Arbeit "Über den Marxismus in der Sprachwissenschaft" stattfand, wurde abgedruckt in: Einheit, Heft 12, 1951, S. 753ff. 47
SAPMO BArch, NY 4215/42.
24 nmmermann
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Das richtete sich insbesondere gegen die bür§erlichen Intellektuellen mit nonkonformen Lehrmeinungen an den Hochschulen4 , die im Rahmen der bislang betriebenen Intelligenzpolitik mit ihren Fachkenntnissen in den gesellschaftlichen Aufbau integriert werden sollten. Unter Autkilndigung bisher geltender bündnis-politischer Arrangements sollte das gesellschaftskritische und alternative Potential der bürgerlichen Wissenschaftler jetzt nicht nur begrenzt und beschränkt, sondern weitgehend ausgeschaltet werden. Zum Kriterium fi1r die Beurteilung der Intellektuellen machte die SED zwar schon von Anfang an vorrangig die politische Gesinnung, nunmehr aber nicht nur politische Loyalität, sondern politisches Bekenntnis. Mit der zwischen 1949 und 1951 inszenierte Kampagne gegen den "bürgerlichen Objektivismus und Kosmopolitismus" an den Universitäten verstärkten sich die Bemühungen, weltanschauliche Fragen zur Grundlage der Berufungspolitik in geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu machen. 49 Nach der zweiten Parteikonferenz vom Juni 1952 wurde von den Geistes- und Sozialwissenschaften offen "Parteilichkeit" im Dienste des Aufbaus des Sozialismus verlangt. Auch auf die Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Fakultäten erhöhte sich der politische Druck.5° Die Folge verstärkter politischer Indoktrination war die Abwanderung zahlreicher Wissenschaftler, die durch Maßnahmen zur materiellen Besserstellung eingedämmt werden sollte. Das Jahr 1952 markierte insgesamt eine Wende zur Politisierung und Funktionalisierung der Wissenschaft. IV. Neue Formen der Forschungsförderung und -entwick.lung Im Zuge des "planmäßigen Aufbaus des Sozialismus" setzte seit 1952 eine organisierte Politisierung der Wissenschaften ein, das heißt deren Steuerung entsprechend politischer Zielsetzungen mit den Mitteln DDR-spezifischer Steuerungsmedien (verbindliche Ideologie, Autorität, politische Kampagnen und Kontrolle). Mit der beschleunigten Umsetzung des seit 1945 intendierten sowjetischen Sozialismusmodells begannen sich zunehmend die Mechanismen der Herrschaftssicherung auf die zentrale Wissenschaftssteuerung und -planung auszudehnen. 48 Diese Bezeichnung wurde Ubemommen von: Hans-Uwe Feige, Zwischen Duldung und Verbot: Nonkonforme Lehrmeinungen von Hochschullehrern in der DDR (1949-1961 ), in: Wissenschaft und Politik- Genetik und Humangenetik in der DDR, S. 155-166.
•• Vgl. ders., Die SED und der "bUrgerliche Objektivismus" 1949/50, in: Deutschland Archiv, Heft 10, 1995, s. 1074ff. 50 Vgl. K/aus-Dieter Müller, Konservative Bastion an den Hochschulen? Die SED und die medizinischen Fakultaten/Medizinischen Akademien in der DDR, in: Wissenschaft und Politik - Genetik und Humangenetik in der DDR, S. 133-156.
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Wissenschaftspolitik erhielt jetzt im politischen Kalkül der SED neben der Machtpolitik einen höheren, wenn auch vorerst noch nicht klar definierten Stellenwert. Der erste Fünfjahrplan filr die Jahre von 1951 bis 1955 sollte den Nachweis erbringen, daß Partei und Regierung in der Lage sind, filr die Wissenschaft Probleme zu definieren und Lösungsstrategien zu planen. Das betraf in erster Linie die Naturwissenschaften. Hinsichtlich der Gesellschaftswissenschaften wurde am Beginn der 50er Jahre das kollektive, gesellschaftliche Orientierungswissen als Basis einer gesellschaftlichen Identität durch partei-offizielle Interpretationen der Theorie des Marxismus-Leninismus verbindlich vorgegeben.51 Zwar machte die Politik seit dieser Zeit die Produktion von neuem Wissen zur Forschungsaufgabe, es handelte sich dabei allerdings ausschließlich um die horizontale Theorieproduktion, bei der kein eigener theoretischer Beitrag zur Weiterentwicklung der marxistischen Wissenschaftstheorie geleistet wurde. Die SED stand am Anfang der 50er Jahre also vor einem Kurswechsel, bei dem die Instrurnentalisierung der Wissenschaft die Form einer technokratischen Machtund Ordnungspolitik annahm. Die Institutionalisierung wissenschaftspolitischer Apparate sollte helfen, in den wissenschaftlichen Arbeitsprozeß einzudringen und der Wissensverwertung politische Filter vorzuschalten. 52 Dieser Prozeß war gekennzeichnet durch allmähliche Veränderungen und Übergangserscheinungen und verhinderte auf längere Zeit eine paradigmatische Weiterentwicklung der Theorie (horizontale Theorieproduktion), zu der es erste Ansätze in Gestalt der von Gesellsehaftswissenschaftlern angeregten "Widerspruchs"-Diskussion gegeben hatte. Mit dem Beginn der 50er Jahre rückte zunehmend die überragende Bedeutung der Wissenschaft als Ressource filr die wirtschaftliche Entwicklung der DDR in den Mittelpunkt der Wissenschaftspolitik. Für das Jahr 1950 wurde erstmals ein Forschungs- und Entwicklungsplan aufgestellt, der alle Forschungsthemen der Institute der Akademien und der Universitäten mit ihrem entsprechenden finanziellen Aufwand auflistete. Mit dem ersten Fünfjahrplan fiir die Jahre von 1951 bis 1955 begannen Experimente zur längerfristigen Planung wissenschaftlicher Forschungen nach ökonomischen Erfordernissen. Über Wirtschaftspläne wurden die wissenschaftsrelevanten Probleme bestimmt. Forschungspläne legten Themenfelder, Prioritäten und Relevanzkriterien fest. Damit dominierte nunmehr ein eindeutig dirigistisches Wissenschaftsverständnis in der Politik.
51 Vgl. Clemens Burrichter (Hrsg.}, Ein kurzer Frllhling der Philosophie. DDR-Philosophie in der ,,Aufbaupahse", Paderbom 1984, S. 18. 52
24•
Vgl. Förtsch, Wissenschafts- und Technologiepolitik in der DDR, S. 20.
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Die Neugründung von Forschungsinstituten bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DA W) wurde unmittelbar an die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wiederaufbaus gekoppelt. 53 Symptomatisch fiir den zunehmend dominierenden Praxisbezug der Wissenschaftspolitik war eine Zusammenkunft von Walter Ulbricht, Paul Wandel, Robert Rompe5 und JosefNaas55 im Februar 1948. Ulbricht legte eine Prioritätenliste vor, die folgende Bereiche umfaßte: Landwirtschaft; Energieerzeugung; Stahlindustrie; Textilindustrie; Bauwesen. Da der Parteispitze die Ernährung der Bevölkerung nach wie vor erhebliche Probleme bereitete, stand die Landwirtschaft an erster Stelle. Hierzu hieß es: "Der Ausgangspunkt fiir den Ausbau der Forschung und ihre intensive Anteilnahme soll ganz besonders auf dem Gebiet der Landwirtschaft erfolgen, deren Ziel darin besteht, in wenigen Jahren das Kartensystem abzuschaffen. Zu diesem Zweck werden Institute mit kurzfristigen Fragestellungen eingerichtet werden müssen und es sind auch durch die Deutsche Verwaltung fiir Land- und Forstwirtschaft derartige Einrichtungen bereits gebildet worden. Die Forschung im Bauwesen hat die gleiche Dringlichkeit wie die der Landwirtschaft. Es gilt Entsprechendes." 56 Ulbricht ließ die Beratungsteilnehmer ferner wissen, daß daran gedacht werde, Forschungseinrichtungen, die in das Gebiet von Kohle und Stahl fallen, vorerst weitgehend dezentralisiert und im engen Zusammenhang mit den industriellen Grundlagen aufzubauen. Die wissenschaftspolitischen Vorsätze litten in den ersten Jahren allerdings an der fehlenden ökonomischen Fundierung. Dies betraf insbesondere das materielltechnische Potential filr wissenschaftliche Forschungen. Schon der im Juni 1948 vom Parteivorstand beschlossene Zweijahrplan fiir die Jahre 1949/50 sollte dem einerseits entgegenwirken, der wissenschaftlichen Forschung andererseits zugleich einen ökonomischen Bezug verleihen. Ackermann bezeichnete in den von ihm im Januar 1949 vorgelegten "Maßnahmen zur Durchfilhrung der kulturellen Aufgaben im Rahmen des Zweijahrplanes" die Einheit von Wissenschaft und Wirtschaft als
53 Vgl. Peter Nötzoldt, Der Weg zur "sozialistischen Forschungsakademie". Zum Wandel des Akademiegedankens in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1968, in: Naturwissenschaft und Teclmik in der DDR, S. 125-146; Werner Sehe/er, Von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Akademie der Wissenschaften der DDR. Abriß zur Genese und Transformation der Akademie, Berlin 2000.
~ Robert Rompe war seit 1946 Leiter der Abteilung Hochschulen und Wissenschaft der DVV. 55
JosefNaas amtierte seit 1946 als Direktor der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.
56 Besprechung "ober die Einrichtung von Forschungsinstituten, die ftlr den Wiederaufbau der Wirtschaft von Wichtigkeit sind" vom 14. Februar 1948, in: Akademiearchiv, AKL 662.
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einen der grundsätzlichen Gesichtspunkte der gesamten Forschung im Rahmen des Zweijahrplanes.
"Im Zusammenhang mit der systematischen Entfaltung der Friedenswirtschaft auf der Basis des Zweijahrplanes ist eine systematische Entwicklung der Forschungsarbeit und Forschungseinrichtungen zu garantieren. Zur Förderung und Unterstützung der wissenschaftlichen Arbeit werden von der Akademie der Wissenschaften Forschungsstipendien und von der DWK Forschungsaufträge vergeben."57 Die Hochschulen sollten möglichst fakultätsweise Patenschaften über wichtige Großbetriebe übernehmen. Schon mit dem Zweijahrplan setzten Versuche ein, durch auftragsbezogene Forschung den Anwendungsbezug bestimmter Forschungsprojekte einzufordern. Ackermann sah bereits Mitte 1948 enge Zusammenhänge zwischen Politik und geplanter Forschung: "Zum erste Male werden unsere Wissenschaftler nicht mehr von der Laune eines blinden Zufalls abhängig, sondern in der beruhigen Gewißheit arbeiten können, daß ihre Tätigkeit auf einem unerschütterlichen Fundament ruht. So werden sich auf dieser Grundlage auch Aktivisten der Forschung entwickeln."58 Nicht nur wissenschaftliche Institutionen, sondern auch Industrie und Wirtschaft sollten ein Mitspracherecht bei der Finanzierung von Wissenschaft erhalten. Freilich fehlte dafiir noch der institutionelle Rahmen, den zunächst die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK), später das Ministerium filr Planung bzw. die Staatliche Plankommission abstecken sollten. Das erklärte Ziel, das Wachstum der Wirtschaft mit wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zu unterstützen, bedingte den materiellen und personellen Ausbau des Wissenschaftssektors. Das betraf zum einen die akademischen Einrich-tungen, was sich in dem vom Kleinen Sekretariar9 am 28. März 1949 behandelten ,,Richtlinien über die Aufgaben der Forschung bei der Akademie der Wissenschaften, die Schaffung entsprechender Organe und ihre Zusammenarbeit mit der Abteilung Wissenschaft und Technik bei der Deutschen Wirtschaftskommission" niederschlug.60
Im Ergebnis dessen etablierten sich bei der DAW viele neue Forschungsinstitute und es wurden wissenschaftliche Kommissionen und Laboratorien neu eingerichtet. Ferner gab es akademische Neugründungen nach sowjetischem Vorbild, so beis1 SAPMO BArch, NY 4109125. ss Ebenda.
s9 Das Kleine Sekretariat ersetzte seit Januar 1949 faktisch das Zentralsekretariat als engeres Führungsorgan. 60
SAPMO BArch, DY 30 J IV 2/3/015.
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spielsweise die Bauakademie 1950 und die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften 1951 . Zum anderen kam es im Hochschulsektor zu zahlreichen Neugründungen, insbesondere von Technischen Hochschulen, von Hochschulen der Wirt-schaftsressorts und von Pädagogischen Instituten. Die Abkehr vom herkömmlichen Universitätsmodell mit seinem breiten Spektrum naturwissenschaftlicher Fächer und die Hinwendung zur technischen Spezialisierung sollte eine zügige Ausbildung wissenschaftlich-technischer Fachkräfte bewirken. In der Folge eines Ministerratsbeschlusses vom August 1953 setzte eine Gründungswelle ein, in deren Verlauf innerhalb weniger Jahre 7 Technische Hochschulen, 7 Pädagogische Institute mit Hochschulcharakter, 3 Medizinische Akademien, 3 Künstlerische Hochschulen, 2 Landwirtschaftliche Hochschulen und eine Wirtschaftshochschule entstanden.61 Hinzu kam die Installierung staatlicher Hochschulen, die vorwiegend der Aus- und Fortbildung von Verwaltungsfunktionären dienten. Die 1948 gegründete ,,Deutsche Verwaltungsakademie" in Forst Zinna und die 1952 in Potsdam-Babelsberg eröffnete ,,Deutsche Hochschule filr Justiz'' wurden 1953 zur "Deutschen Akademie filr Staats- und Rechtswissenschaft Walter Ulbricht" zusammengelegt. Auf diese Weise entstanden in den Herrschaftsdisziplinen der Rechts- und Staatswissenschaf;ten spezielle Ausbildungsstätten, die unabhängig von den alten Universitätsfakultäten unter straffer politischer Kontrolle standen. Diese systemspezifische lnstitutionalisierung spiegelte nicht nur die neue Stellung der Justiz, sondern auch das gewandelte Wissenschaftsverständnis der SED-Führung wider. Für den deutlichen Gesellschaftsbezug der Wissenschafts- und Hochschulpolitik stellte die von der DWK am 31. März 1949 beschlossene "Verordnung über die Erhaltung und die Entwicklung der deutschen Wissenschaft und Kultur, die weitere Verbesserung der Lage der Intelligenz und Steigerun§ ihrer Rolle in der Produktion und im öffentlichen Leben" eine deutliche Zäsur dar.6 Erklärte Absicht war es, "die Lage der führenden deutschen Intelligenz zu verbessern, mit allen Mitteln die dem demokratischen Aufbau Deutschlands dienenden Errungenschaften der Wissenschaft, der Kultur und der Kunst zu festigen und zu ilirdern und den Wissenschaftlern und Technikern günstigere Bedingungen zum freien schöpferischen Schaffen zum Wohle des Volkes zu geben". 63 Als gra61
Vgl. Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur, S. 149.
62 Diese Verordnung ging auf eine am 29. März 1949 im Politbüro beftlrwortete Vorlage Ober ,,Maßnahmen zur Förderung der Wissenschaft und zur Hilfe der Intellektuellen" zurück. Vgl. SAPMO BArch, DY 30/IV 2t2/13.
61
Vollstandig abgedruckt in: Dietrich, Politik und Kultur in der SBZ, S. 369-377.
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vierende Neuerung filr die Planung und Leitung wissenschaftlicher Forschungsarbeit und wissenschaftlicher Forschungsorganisation wurde die GrUßdung einer Hauptverwaltung filr Wissenschaft und Technik bei der DWK beschlossen, um die Forschungsergebnisse fiir Industrie, Transport und Landwirtschaft im Hinblick auf die Grundaufgaben des Wirtschaftsplanes nutzbar zu machen. Der Ankündigung zur Förderung von Angehörigen der Intelligenz folgte ein ganzer Katalog konkreter Maßnahmen zu ihrer materiellen Privilegierung, die zugleich auch als eine Art Vorbildfunktion den gesamtdeutschen Anspruch der SED-Wissenschaftspolitik unterstreichen sollte. Dazu gehörten u.a. Sonderzuweisungen filr die zusätzliche Versorgung der Professoren, Ingenieure, Wissenschaftler und KUnstler, die Schaffung eines Fonds in Höhe von 10 Millionen DM filr die bevorzugte Finanzierung des Baus von Eigenheimen, die Einfilhrung einer neuen Ordnung der Einkommensteuerveranlagung, ein Investitionsprogramm zur Wiederherstellung von Lehrgebäuden der Hochschulen sowie die Bereitstellung von zwei Erholungsheimen filr Wissenschaftler, Kilnstier und Kulturschaffende. Investitionen und Sonderzuweisungen erfolgten ohne strikte Auflagen. Wissenschaftspolitik handelte hier demnach als Förderpolitik, mit dem die Abwanderung verhindert und Akzeptanz geschaffen werden sollten. Gleichzeitig stellten die lukrativen Angebote an die Intellektuellen einen deutlichen Verstoß gegen die proklamierte Politik der SED als Interessenvertreterin der Arbeiterschaft dar, aus dem sich über Jahrzehnte hinweg ein gravierendes Konfliktpotential sowohl innerhalb der Partei als auch zwischen der SED-Filhrung und Teilen der Bevölkerung ergab. Die DWK-Verordnung setzte ferner neue politische Akzente in der lntelligenzpolitik. Zwar wurde postuliert, daß der Aufschwung der deutschen Wirtschaft ohne die großzügige Heranziehung der "bürgerlichen Intelligenz'' nicht zu bewerkstelligen sei. Gleichzeitig sollten aber die "zur ehrlichen Mitarbeit'' bereiten "alten Gruppen der bürgerlichen Intelligenz'' einer "Umformung" und "Umerziehung" unterworfen werden. Das konnte nur bedeuten, daß die Politisierung der Hochschule eine neue Dimension annehmen würde. Das sah auch Ackermann so, der die Kulturverordnung im Parteivorstand der SED am 4. Mai 1949 als politisches Kampfmittel bezeichnete, um "die reaktionären Elemente innerhalb der Intelligenz'' zu isolieren, und die, "die uns noch schwankend und zögernd gegenüberstehen, aufunsere Seite zu ziehen".64
64
Protokoll Uber die 18. (32.) Tagung des Parteivorstandes der SED am 4./5. Mai 1949, in: SAPMO
BArch, DY 30/IV 2/1163.
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In der ersten Hälfte der 50er Jahre schloß sich eine ganze Reihe von Maßnahmen an, mit denen die materielle Situation von Wissenschaftlern verbessert werden sollte. Dazu zählte in erster Linie die Verordnung über den Abschluß von Einzelverträgen vom 12. Juli 1951. Eine Verordnung vom 28. Juni 1952 gewährte "besonders hervorragenden Spezialisten" ein Höchstgehalt bis zu 15.000 DM monatlich. 65 Neben der individuellen Einkommensvereinbarung wurden in den Einzelverträgen weitere Vergünstigungen festgeschrieben, so beispielsweise die gesonderte Ausstattung eines Instituts, die Beschaffung wissenschaftlicher Literatur, Reisemöglichkeiten bzw. der Besuch von internationalen Kongressen sowie die Beschaffung angemessenen Wohnraumes. Anfangs kam allerdings nur eine Minderheit in den Genuß eines Einzelvertrages. Bis Anfang des Jahres 1952 waren mit 350 Hochschullehrern Einzelverträge abgeschlossen worden. Das entsprach etwa 20 Prozent der Hochschullehrerschaft. Mit Technikern und Ingenieuren waren 14.780 Verträge (= etwa 10 bis 15 Prozent) vereinbart worden.66 1955 konnten schon 42 Prozent aller Hochschulprofessoren und Dozenten einen Einzelvertrag mit dem Staatssekretariat fiir Hochschulwesen vorweisen, 1961 verfUgten mehr als 58 Prozent der Professoren über einen Einzelvertrag.67 Aber auch ohne den Abschluß von Einzelverträgen befanden sich Wissenschaftler und Hochschullehrer nicht nur auf Grund ihrer im Vergleich zu anderen sozialen Schichten überdurchschnittlichen Einkünfte, sondern auch durch zahlreiche Sonderregelungen in einer herausgehobenen Stellung. Der weitaus höhere Stellenwert von Wissenschaft innerhalb der Politik widerspiegelte sich in der Institutionalisierung wissenschaftspolitischer Apparate. Die Kompetenzen und Aufgabenbereiche der ZK-Abteilung Wissenschaft und Hochschulen wurden wesentlich erweitert. Thre Aufgabe war es jetzt nicht nur, wissenschaftspolitische Entscheidungen vorzubereiten, sondern das wissenschaftliche Management an den Universitäten und Akademien anzuleiten sowie darüber hinaus die Außenwissenschaftsbeziehungen zu verantworten. Auf der anderen Seite wurden fiir die Forschungsplanung der Natur- und Technikwissenschaften und der Industrieforschung staatliche Steuerungseinrichtungen geschaffen. Damit wuchs zugleich die Mehrgleisigkeit bilrokratischer Zuordnungen und Zuständigkeiten. Nicht nur unterschiedliche Ressorts des 65 Die Verordnung folgte einem Beschluß des PolitbOros "Ober Maßnahmen zur weiteren Förderung der qualifizierten Facharbeiter, der Meister, der technischen und wissenschaftlichen Intelligenz" vom 24. Juni 1952, in: SAPMO BArch, DY 30 IV/2/21217. 66 Vgl. den Bericht "Ober den jetzigen Stand der abgeschlossenen Einzelvertrage und zusatzlicher Altersversorgung nach Wirtschaftszweigen" vom 16. Januar 1952, in: ebenda, NY 4182/934. 67
Vgl. Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur, S. 208ff.
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Parteiapparates, sondern auch verschiedene staatliche Behörden stellten hinsichtlich der erhofften wirtschaftspolitischen Effekte zum Teil gegensätzliche Forderungen an die Wissenschaftler. Das Kompetenzgerangel innerhalb administrativer Leitungsstrukturen - wissenschaftliche Institutionen hatten es in der Regel mit verschiedenen ZK-Sekretären und Staatssekretären zu tun- fiihrte in nicht wenigen Fällen zu gegenteiligen Effekten, indem wichtige Investitionen auf Grund von Zuständigkeitsstreitereien blockiert wurden. Mit dem 1952 verkündeten Konzept des sozialistischen Aufbaus wurde die Wissenschaft erklärtes Objekt der Politik. Die in diesem Kontext artikulierte Absicht, Wissenschaft steuerbar zu machen und auf politische und ökonomische Aufgaben auszurichten, stellte eine neue Qualität in der Politik dar. Wissenschaft war nunmehr in die Systemauseinandersetzung integriert, was zugleich den Verlust der gesamtdeutschen Dimension der Wissenschaft mit sich brachte. Dem folgte in den 50er Jahren der Versuch, mit dem Argument, Wissenschaft in den Prozeß der politischen und sozialen Umgestaltung einzubeziehen, das Wissenschaftsverständnis der Politik in wissenschaftliches Selbstverständnis zu transferieren. Resümierend sei also noch einmal betont, daß sich in den Jahren von 1945 bis 1952 im Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft ein stark verändertes Selbstund Rollenverständnis herausbildete, das sich jetzt deutlicher vom traditionellen bürgerlichen Wissenschaftsverständnis abhob. Insbesondere seit Anfang der 50er Jahre umfaßte das Wissenschaftsverständnis der SED den Anspruch, sowohl zu weltanschaulich-strategischen Fragen als auch zu spezifischen Aufgaben einzelner Disziplinen normative Festlegungen zu treffen. Speziell fiir die Gesellschaftswissenschaften beanspruchte die SED-Führungselite die Hoheit über Theorie- und Methodenstandards, definierte politische als wissenschaftliche Zwecke, gab Forschungsgegenstände und Ergebnisse vor und traf weitreichende organisatorisch-strukturelle Regelungen. In diesem Kontext wurde erstmals ein marxistischer Wissenschaftsbegriff verwandt. Das politische Monopol über Ausbildung, Rekrutierung und Einsatz des wissenschaftlichen Personals wurde unter dem Slogan "stürmt die Festung Wissenschaft" zur Durchsetzung der marxistischen Ideologie benutzt. In den Naturwissenschaften setzte ein Prozeß ein, in dessen Ergebnis die Dominanz wirtschaftspolitischer Interessen schließlich auch deren fachliches Profil bestimmte, wobei es in nicht wenigen Fällen offenbar eine gewisse Korrespondenz zwischen wissenschaftlichem Forschungsinteresse und dem von der SED postulierten Erkenntnisauftrag gab. Bis Ende der 50er Jahre begann sich ein Problemlösungsdenken durchzusetzen, das sich stärker an den DDR-internen gesellschaftlichen Herausforderungen ausrichtete (komplementäre Theorieproduktion). Die Politik versuchte nunmehr, mit weitreichenden totalitären Ansprüchen Wissenschaft auch auf der kognitiven Ebene umfassend zu steuern - allerdings noch immer in unterschiedlicher Ausprägung in den Gesellschaftswissenschaften
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und in den Naturwissenschaften. Das ging mit Vorgängen einher, wissenschaftliche Erkenntnisprozesse direkt und indirekt zu beeinflussen. Damit ergab sich aber auch eine permanente Handlungsüberlastung der Politik, die bis zum Ende der DDR andauerte. Auf der anderen Seite veränderten sich im Laufe der 50er Jahre auch als Konsequenz wissenschaftspolitischer Steuerungsprozesse das Selbstverständnis und die soziale Organisation der Wissenschaft.
Die gesellschaftliche und lebensgeschichtliche Bedeutung weiblicher Industriearbeit in der DDReine Fallstudie aus der Textilindustrie Von Annegret Schüle
Mit einem Anteil von 41 % wurde weibliche Industriearbeit in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR zu einem wesentlichen Faktor der ostdeutschen Industriegesellschaft. Frauen sicherten damit in nahezu gleichem Maße wie die Männer die industrielle Produktion. Die Erweiterung industrieller Kapazitäten sowie die Kompensation von in den Westen abgewanderten Arbeitskräften wurden vor allem von ihnen ermöglicht. 1 Insgesamt waren rund 90 % der Frauen erwerbstätig.2 Industrien mit einem traditionell hohen Frauenanteil wie zum Beispiel die Textilindustrie wurden zu reinen Frauendomänen, in der klassischen Männerindustrie wie etwa die Metallindustrie wurden Arbeiterinnen zu einer bedeuten-den Minderheit. Daß die hohe Frauenerwerbsquote eine strukturelle Geschlechterhierarchie im Berufsleben der DDR nicht aufhob, ist schon vielfach gezeigt worden. Frauen waren in leitenden Positionen unterrepräsentiert, verdienten 25 bis 30 Prozent weniger als Männer3 und wurden - seit Ende der
1 Peter Hübner, Die Zukunft war gestern: Soziale und mentale Trends in der DDR-Industriearbeiterschaft, in: Hartmut Kae/ble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 171-187, S. 173. 2 87,6% aller DDR-Frauen im erwerbstätigen Alter waren Anfang der 80er Jahre berufstätig oder befanden sich in einer Ausbildung. 49,9% aller ostdeutschen Berufstätigen waren weiblich. Siegfried Scholze und Hans-Jürgen Arendt (Hg.), Zur Rolle der Frau in der Geschichte der DDR (1945-1981). Eine Chronik, Leipzig 1987, S. 363. Nachwendeforschungen ergaben für die Quote berufstätiger Frauen (einschließlich Lehrlinge und Studentinnen) 1989 sogar 91,2 %. Hildegard Maria Nickel, "Mitgestalterinnen des Sozialismus" - Frauenarbeit in der DDR, in: Gisela Helwig und Hildegard Maria Nickel (Hg.), Frauen in Deutschland 1945-1992, Bonn 1993, S. 233-256, S. 237. Berechnungen, die die Studentinnen herausnehmen und damit eine Vergleichbarkeit mit BRD-Zahlen herstellen, kommen auf eine Quote von 80 %. Vera Dahms, Tendenzen der Erwerbstätigkeit von Frauen in den neuen Bundesländern seit 1989, in: Brigitte Stieler (Hg.), Der Wandel von Arbeit, Arbeitspolitik und Erwerbstätigkeit in den neuen Bundesländern, Bonn 1993, S. 137-141, S. 137. 3 Juliane Ro/off und Marianne Assenmacher, Einkommensunterschiede zwischen Mä.nnem und Frauen- Ein deutsch-deutscher Vergleich-, in: Marianne Assenmacher (Hg.), Probleme der Einheit. Band 4. Frauen am Arbeitsmarkt, Marburg 1991, S. 35-51, S. 35, 38.
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60er Jahre zunehmend- in Berufe gedrängt, die als traditionell weiblich galten. 4 Der Vergleich von traditionell männlichen und traditionell weiblichen Industriebranchen bringt weitere geschlechterhierarchische Strukturen ans Licht. Frauen waren eher in den staatspolitisch vernachlässigten Industriezweigen tätig. Der Ausbau der sogenannten Schwerindustrie, unter der man die Energie- und Brennstoffmdustrie, die chemische Industrie, die Metallurgie und den Maschinen- und Fahrzeugbau zusammenfaßt, genoß in den ersten Jahrzehnten der DDR Priorität. Die Folge waren hohe Investitionen und hoher Status, wovon die überwiegend männlichen Arbeitskräfte wie auch die Frauenminderheit profitierten. Frauentypische Industriezweige wie etwa die Textil- und Bekleidungsindustrie wurden bei der Vergabe von Investitionsmitteln dagegen benachteiligt. 5 Stand den Frauen in den traditionellen Frauenindustrien der DDR erstmals der Aufstieg innerhalb der Betriebshierarchie offen - sie wurden Meisterinnen, Abteilungsleiterinnen und Produktionsstättenleiterinnen - so galt das mitnichten in den traditionellen Männerindustrien. Dort trafen sie auf Aufstiegsbarrieren vor allem im Produktionsbereich. Insgesamt waren in der DDR Frauen in den Meisterpositionen deutlich unterrepräsentiert. Im Oktober 1989 verfUgten nur I ,2 % der berufstätigen Frauen in der DDR über einen Meisterabschluß, dagegen 7 % der berufstätigen Männer. 6 An einem Beispiel aus der metallverarbeitenden Industrie, dem Büromaschinenwerk Sömmerda in Thüringen, zeigt sich, daß auch bei einem hohen Anteil an Arbeiterinnen der Meisterbereich eine Männerdomäne blieb. Dieser Großbetrieb hatte aufgrund seines hohen Arbeitskräftebedarfs einen überdurchschnittlichen Frauenanteil von 40 %. Unter den fast 14.000 Beschäftigten im Jahre 1989 fanden sich allerdings nur 66 Meisterinnen (das entspricht 14,6 %), wobei sich damit die Anzahl der Meisterinnen dank intensiver Frauenförderungskampagnen in 20 Jahren immerhin vervierfacht hatte. 7
Offensichtlich spiegelt sich hier der Widerstand von Männem und vermutlich auch Frauen gegen die Vorstellung, eine Frau sollte Männer in einer Tätigkeit • Nickel, Mitgestalterinnen des Sozialismus, passim. 5 Michael Breitenacher, Die Textil- und Bekleidungsindustrie der neuen Bundeslander im Umbruch, in: ifo Studien zur Industriewirtschaft 41 , hg. vom Institut filr Wirtschaftsforschung (ifo), München 1991, S. 32ff. 6
Gunnar Wink/er (Hg.), Frauenreport '90, Berlin 1990, S. 38.
7 Annegret Schüle, Industriearbeit als Emanzipationschance? Arbeiterinnen im Büromaschinenwerk Sömmerda und in der Baumwollspinnerei Leipzig, in: Gunilla-Friederike Budde (Hg.), Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997, S. 104f. und: Annegret Schüle, BWS Sömmerda. Die wechselvolle Geschichte eines Industriestandortes in Thüringen 1816- I 995. Dreyse & Collenbusch. RheinmetalL Büromaschinenwerk, Erfurt 1995, S. 301 u. 385.
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anweisen, die als traditionelle Männerarbeit gilt. Geschlechtsspezifische Diskriminierung von Frauen zeigt auch meine Fallstudie über den VEB Leipziger Baumwollspinnerei auf. So lassen sich die Spinnerinnen in ihrer Qualifikation mit den Betriebshandwerkem, fast ausschließlich Männer, vergleichen. Doch jene wurden besser bezahlt, verfUgten über eine erhebliche Zeitsouveränität und hatten die abwechslungsreichere Arbeit. Zudem waren die Spinnerinnen von ihnen abhängig. Wurden die kaputten Maschinen nicht umgehend von den Betriebshandwerkern repariert, war die Normerfiillung der Spinnerinnen gefährdet. Waren Mann und Frau voll berufstätig, so trug dennoch die Frau die größere Last bei der Familienarbeit, nach Berechnungen aus DDR-Zeiten 75-80 %.8 Das gilt nach meinen Befunden vor allem fiir Arbeiterinnen, weniger fiir aufge-stiegene Frauen. Frauen dachten in ihrer beruflichen Planung immer ihre Verantwortung fiir die Familie mit, was ab einer gewissen Ebene zur Aufstiegsbarriere wurde. Das war ein Grund dafiir, daß die Betriebsleitung der Leipziger Baumwollspinnerei immer männlich dominiert blieb. Der schlechte Ruf der Baumwollspinnerei schließlich betraf nur die dort beschäftigten Frauen und hat seine historischen Wurzeln in der Ablehnung weiblicher Industriearbeit im 19. Jahrhundert. Diesen Punkt kann ich hier leider nicht ausfUhren und verweise deshalb auf mein Buch, in dem die Frage des schlechten Leumundes der Spinnerinnen detailliert beleuchtet und historisch hergeleitet wird. 9 Trotz staatspolitischer Hintansetzung hatte die Textil- und Bekleidungsindustrie ein beträchtliches ökonomisches Gewicht. Die historisch begrün-dete Bedeutung des Textilsektors gerade in Sachsen fiihrte dazu, daß sich 1945 in dieser Region 45 % aller deutschen Textilbetriebe befanden, in denen 30 % aller Beschäftigten arbeiteten. 10 Nach der Teilung wurde die ostdeutsche Textilindus8 Bei einer Durchschnittsfamilie wurde in der DDR nach Nickel ein Aufwand von 40 Stunden filr Hausarbeit errechnet. "Drei Viertel der Hausarbeit werden von meist vollberufsUitigen, d.h. 40 bis 43 3/4 Stunden pro Woche außer Haus beschäftigten MUttern erledigt. Frauen sind auch ftlr das in Zeiteinheiten nicht zu messende Familienklima zuständig." Hildegard Maria Nickel, Zur sozialen Lage von DDR-Frauen, in: Gert-Joachim Glaeßner (Hg.}, Eine deutsche Revolution. Der Umbruch in der DDR, seine Ursachen und Folgen, Frankfurt a.M. 1992, S. 128-140, S. 135. Noch deutlicher sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im häuslichen Arbeitseinsatz nach einer Zeitbudgetuntersuchung des Leipziger Instituts filr Marktforschung aus dem Jahre 1970. ln den 1.900 befragten Haushalte fielen durchschnittlich 47,1 Stunden an, davon erledigte die Frau 79 %, der Mann 13 % und sonstige Personen (vermutlich auch eher Frauen) 8 %. Mitteilungen des Instituts ftlr Marktforschung Leipzig, 1971, Nr. I, S. 7, zitiert nach: Christoph Kleßmann und Georg Wagner (Hg.), Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte, Monehen 1993, S. 446. 9 Die Monographie des Forschungsprojekts, aus dem hier nur ein kleiner Ausschnitt vorgestellt werden kann, erschien 2001 im Universitätsverlag Leipzig unter dem Titel "Die Spinne". Eine Erfahrungsgeschichte weiblicher Industriearbeit in der DDR.
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trie im Gegensatz zur Entwicklung in der BRD noch ausgebaut. Der Textil- und Bekleidungssektor war mit einem Anteil von 12 % der wichtigste Exporteur der DDR nach dem Maschinenbau. An den Gesamtlieferungen der DDR in die BRD war die Textil- und Bekleidungsindustrie mit immerhin 14 % beteiligt. 11 Sie spielte damit eine große Rolle in der Versorgung der Bevölkerung und in der Devisenerwirtschaftung durch Exportproduktion. Was den gesellschaftlichen Status der Textilarbeiterinnen betrifft, bemühte man sich, diese Industriearbeiterinnen zu Gewinnerinnen des Sozialismus zu erklären. "Solange die Aufsichtsräte und Aktionäre zu bestimmen hatten, ( ...) solange waren die Textilarbeiterinnen Menschen zweiter Klasse. ( ...) Schon von weitem erkannte man die Spinnerinnen an ihrer ärmlichen Kleidung," heißt es in einem Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 22. Juni 1956 über die Leipziger Baumwollspinnerinnen. Und weiter: "Wer heute bei Schichtwechsel unsere nett angezogenen Arbeiter auf der Straße sieht, erkennt schon rein äußerlich: Sie sind Herrinnen ihres Betriebes geworden, und die Zeiten sind endgültig vorbei; da die Leipziger Baumwollspinnerei als "die Spinne" verschrien war." 12 Die von mir geftlhrten Erinnerungsinterviews mit Spinnerinnen aus diesem Betrieb widersprechen dieser Erfolgsstory deutlich. 13 Nicht nur, daß diese Arbeiterinnen das Geftlhl hatten, in der DDR auf betriebliche Entscheidungen keinen Einfluß nehmen zu können, auch ihr schlechter Ruf hielt sich hartnäckig. Sie seien "gottabftUliges Volk", "Abschaum", ihr Betrieb sei ein "verrufenes Nest" und sie gingen "gleich hier an der nächsten Ecke mit jedem ins Bett", so eine Auswahl von Zitaten aus von mir geftlhrten Interviews, mit denen Spinnerinnen die öffentliche Meinung über ihren Beruf wiedergaben. Meine Ergebnisse wie auch andere Forschungen, etwa die Arbeiten von Petra Clemens über die Forster Tuchfabriken 14 bestätigen, daß die Textilindustrie als Symbol weiblicher Industriearbeit auch in der DDR ein diskriminierter Frauenraum blieb. 10 Amold Lassotta, Die Textilstädte Crimmitschau, Plauen und Forst, in: Am Ende einer Zeit. Die Textilstädte Crimmitschau, Plauen, Forst. Fotografien von Martin Holtappeis und Annette Hudemann, Essen 1997, S. 9-34, S. 10.
11
Breitenacher, Textil- und Bekleidungsindustrie, S. 5f, 16f., 90ff., 96.
12 Entnommen der Sammlung "Leipziger Baumwollspinnerei im Spiegel der Presse", Betriebsarchiv der Leipziger Baumwollspinnerei GmbH.
u An einem Punkt hat der Artikel allerdings recht. Durch eine deutliche Erhöhung der Löhne in der Textilindustrie nach 1945 gehörte die Armut der Spinnerinnen der Vergangenheit an. Vgl. dazu die Monographie des Forschungsprojektes (Anm. 9). 14 Petra Clemens, Die "Letzten". Arbeits- und Berufserfahrung Niederlausitzer Textilarbeiterinnen, in: Jürgen Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsatze und Studien, Berlin 1993, S. 245261; Dies., Die aus der Tuchbude. Alltag und Lebensgeschichten Forster Textilarbeiterinnen, Münster/New York!München!Berlin 1998.
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Was nun konnten Frauen durch ihre Erwerbsarbeit in der Industrie gewinnen? Diese Frage will ich anband von Erinnerungsinterviews aus der Leipziger Baumwollspinnerei beantworten. Auf die Frage, was ftlr sie das Schönste bei ihrer Arbeit gewesen sei, antwortet eine 1937 geborene Spinnerin, die 41 Jahre im Betrieb gearbeitet hat: "Mir hat meine Arbeit Spaß gemacht, das war praktisch mein Hobby. Ich hatte mich so eingearbeitet, daß es mir nirgends [Probleme bereitete, A.S.j. Und dann hab ich auch Fehler leicht erkannt, wenn ein Material nicht so in Ordnung war. Im Laufe der Zeit geht das einem im Fleisch und Blut über. Wenn eine Maschine kaputt war, das kannte ich bei manchen schon von weitem hören. Da haben sie mich immer den Flyerdoktor genannt, weil der Flyer15 meine Lieblingsmaschine war. "16
Diese Frau redet über eine harte und monotone Arbeit. Die meisten Frauen arbeiteten im Dreischichtsystem. Sie waren den größten Teil des Arbeitstages auf den Beinen und standen oder liefen meist in einer leicht gebückten und damit sehr ungesunden Haltung um ihre Maschinen. Die Temperatur in den Hallen war sehr hoch, im Sommer bis zu 45° Celsius. Dazu kam der Lärm der Maschinen und der Dreck der Baumwollflusen, die durch die Luft flogen und sich überall, auf der Kleidung, in der Wäsche und auf der Haut festsetzten. Erschwert wurde die Arbeit, weil das Material oft schlecht und die Maschinen veraltet waren, eine Entwicklung mit steigender Tendenz zum Ende der DDR hin. Im Grunde beschreibt diese Arbeiterin ihren Sieg über schlechtes Material und veraltete Maschinen, den sie auch im Wettlauf mit der Zeit bis zuletzt gewann und ftlr den sie gut bezahlt wurde. Für die 80er Jahre berichtet sie von einem Spitzenverdienst von 1.300 bis 1.400,- Mark im Monat. Als ihre Ehe zerbrach, konnte sie finanziell ohne Probleme mit ihren zwei Töchtern alleine klarkommen. Doch der Gewinn war nicht nur ein monetärer, auch wenn dieser Aspekt filr alle Frauen wesentlich war. Ebenfalls wichtig waren Anerkennung ihrer Arbeitsleistung durch die Kolleginnen- als "bestes Pferd im Stall" 17 hatte diese Spinnerin einen besonders guten Stand - und die sozialen Kontakte durch die Arbeit, vom Schwätzchen bei der Maschinenübergabe bis zu den Brigadeunternehmungen. Frauen gewannen im Erwerbsbereich ökonomische Unabhän1s Eine Baumwollspinnerei verarbeitet Rohbaumwolle zum fertigen Baumwollgam. Zunächst wird die Rohbaumwolle an Karden gereinigt. Diese Maschinen lösen die Faserflocken in einzelne Fasern auf, reinigen sie von Schmutz und Fremdkörpern und richten sie aus. Damit entsteht das Karderieband. An der Strecke, der nächsten Maschine, wird dieses Band Uber unterschiedlich schnell laufende Walzen oder Nadelfelder verzogen und gleichzeitig gedoppelt Das Ergebnis ist die Streckenlunte. Die nächste Vorfertigungsmaschine, der Flyer, verdreht die Streckenlunte zu einem dicken Faden und rollt ihn erstmals auf Spulen auf. Die Spinnmaschinen verarbeiten diesen Faden zur gewUnschten Gamstarke. Je nach Automatisierungsgrad war eine Spinnerin ftlr bis zu acht Spinnmaschinen zuständig. 16 Interview mit Sylvia Rothe, 19.08.1996, Transkript Ia, S. Sf. Die Eigennamen aller Interviewpartnerinnen wurden anonymisiert. 17
Interview mit Hilde Kirchner, Transkript I a, S. 27.
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gigkeit, berufliche Anerkennung und soziale Integration, wie meine Untersuchung zeigt. Doch sie gewannen, im eigentümlichen Widerspruch zu ihrer Ohnmacht hinsichtlich betrieblicher Entscheidungen, auch Macht. Frauen wie diese Spinnerin stellen die ideale Verkörperung des weiblich-proletarischen Tüchtigkeitsideals dar, das, so Dorothee Wierling, in der DDR zum Ideal eines ganzen Gemeinwesens wurde. 18 Wierling beschreibt, wie sich Frauen in der DDR durch ihre weiblich-proletarische Tüchtigkeit "eine informelle Machtstellung erarbeiteten, die in völligem Widerspruch zu ihrer im Staatswesen der DDR formalisierten Macht stand. " 19 Bei den Arbeiterinnen in der Baumwollspinnerei konnte dies verschiedene Formen annehmen, die passive Stärke gegenüber Vorgesetzten, insbesondere, wenn diese jünger als sie selbst waren, die fiirsorgliche Bevormundung der Lehrlinge und jungen Arbeiterinnen und die Möglichkeit, die ausländischen Vertragsarbeiterlnnen, ohne die in den 80er Jahren die Produktion nicht hätte aufrechterhalten werden können, in ihre Gruppenaktivität aufzunehmen oder auszugrenzen. 20 Diese Art informeller Macht durch proletarischweibliche Tüchtigkeit scheint mir - und hier widerspreche ich Wierling - an eine bestimmte Generation gebunden, diejenigen, die ihre Kindheit oder Jugend im Krieg verlebten, oder anders gesagt die proletarische Frauenautbaugeneration. Aus den Interviews mit Frauen, die zwischen 1929 und 1940 geboren wurden, ergeben sich als Gemeinsamkeiten dieser Generation der Verlust des Vaters und eine frühzeitige Verantwortung fiir die Herkunftsfamilie, eine ungenügende Schulbildung und eine sehr begrenzte Berufswahl. "Wir sind eben so unglücklich geboren", bringt es die oben zitierte Bestarbeiterin, Jahrgang 1937, auf den Punkt.21 Nach der "unglücklichen" Geburt Ende der 30er und der Kindheit im Krieg kam das kleine Glück des Lebens in der DDR, eine gut bezahlte und sichere Arbeit, eine innere Bindung an den Betrieb und die Gewißheit, daß sie und ihresgleichen den Laden am Laufen halten. Eine 1956 geborene Spinnerin beschreibt ihre älteren Kolleginnen folgendermaßen: "Die haben ihr Ding gemacht, aufjeden Fall. Und die wußten eben auch, was sie wert sind. Die haben ja eigentlich auch die Arbeit gemacht, und da mußte kein Meister unbedingt da sein. Die wußten genau, was sie machen, die Maschinen liefen die acht Stunden, und die haben das gebracht, da braucht man keinen Meister, da braucht man
18 Dorothee Wierling, Das weiblich-proletarische Tüchtigskeitsideal der DDR, in: Peter Hübner/IOaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter in der SBZ- DDR, Essen 1999, S. 831-848. 19
Ebd., S. 844f.
20 Zum Verhaltnis zwischen deutschen und auslandischen BelegschaftsangehOrigen vgl. die Monographie zum Forschungsprojekt, siehe Anm. 9. 21
Interview mit Sylvia Rothe, 19.08. 1996, Transkript I b, S. 14.
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keine ProdukJionsstättenleiterin. Man braucht die Maschinen, Baumwolle dazu, und das war 's. Und das wußten die, und deshalb haben die sich auch nichts sagen lassen. "22
Pointiert kann man die DDR mit dem Begriffspaar Männerherrschaft und Frauengesellschaft beschreiben. In der DDR lebten immer mehr Frauen als Männer, im ersten Jahrzehnt zwei Millionen mehr und im letzten Jahrzehnt noch 0,7 Millionen.23 Diese Frauenmehrheit war fast vollständig im Erwerbsleben anwesend. Lutz Niethammer nennt die DDR "die weiblichste Gesellschaft Europas mit der ( ...) wohl männlichsten politischen Führung eines Industriestaates. (... ) dieser fundamentale Widerspruch", so Niethammer weiter, "war eine wesentliche Bedingung filr das lange Funktionieren der DDR". 24 Deshalb soll zuletzt gefragt werden, ob und wie Frauen als Akteurinnen im DDR-Patriarchat25 sichtbar werden, ob und wie sie dabei eigensinnig herrschaftliche Anforderungen umdeuteten und welchen Einfluß ihr Handeln hatte. Die Kombination von beruflicher und familiärer Frauenarbeit, die bereits im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit in hohem Maße weiblich-proletarische Tüchtigkeit forderte, wurde in der DDR auf Dauer gestellt und dabei von den Frauen zu ihrer eigenen biographischen Konzeption gemacht. Mag der Zwang zur Erwerbsarbeit in der frühen Nachkriegszeit und auch später immer eine Rolle gespielt haben, 26 so verblüfft es doch, wie bedeutend eine kontinuierliche Erwerbsbiogra.phie filr die Identität ostdeutscher Frauen in 40 Jahren DDR geworden ist. 2 22
Interview mit Veronika Brendel und Nicole Dahnert, 15.04.1997, Transkript 2a, S. 24.
23
Entnommen aus dem Statistischen Jahrbuch der DDR. Vgl. auch: Wink/er, Frauenreport '90, S.
16f.
24 Lutz Niethammer, Erfahrungen und Strukturen. Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 95-115, S. 102. 23 Irene Dölling spricht filr die DDR von einem "patriarchal-paternalistischen Prinzip der politischen Reprasentation". Irene Dölling, Über den Patriarchalismus staatssozialistischer Gesellschaften und die Geschlechterfrage im gesellschaftlichen Wandel, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt aM./New York 1990, S. 407-417, S. 411. 26 Daniela Weber hat ftlr Leipzig aufgezeigt, wie ab 1946 Frauen durch Einschrankung der Fürsorgeberechtigung zur Erwerbsarbeit gezwungen wurden. Daniela Weber, Zwischen Fürsorge und Erwerbsarbeit Alleinstehende Leipzigerinnen nach dem zweiten Weltkrieg, in: Susanne Schötz (Hg.), Frauenalltag in Leipzig. Weibliche Lebenszusammenhänge im 19. und 20. Jahrhundert, Weimar/Köln/Wien 1997, S. 295-318, S. 302ff.
27 Das zeigen alle Nachwende-Untersuchungen. So zieht die Infas-Studie vom Februar 1991 aus einer Reprasentativumfrage unter den Frauen in den neuen Bundeslandern den Schluß, "daß ftlr die obergroße Mehrheit der befragten Frauen die Erwerbstätigkeit ein selbstverständliches und obendrein unverzichtbares Element ihrer Lebensplanung ist". Bundesministerium ftlr Frauen und Jugend (Hg.), Frauen in den neuen Bundeslandern im Prozeß der deutschen Einigung. Ergebnisse einer
25 Timmermann
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Auch die Chancen zur Qualifikation wurden von vielen Frauen genutzt, so daß es am Ende der DDR bei den unter 40jährigen kaum noch Unterschiede in der formalen beruflichen Qualifikation von Männern und Frauen bestanden.28 Im VEB Baumwollspinnerei Leipzig zum Beispiel wurde die bisher un- und angelernte Tätigkeit ab 1950 zum Lehrberuf mit 2 112jähriger Lehrausbildung. 29 Für viele änderte sich damit die betriebliche Praxis nicht, doch ihr Selbstwertgefilhl und ihre Entlohnung verbesserten sich. Für einige wurde die Facharbeiterinnenausbildung das Tor zum weiteren Aufstieg zur Meisterin, Abteilungsleiterin und Produktionsstättenleiterin. Spiegeln Interviews mit westdeutschen Arbeitermüttern das Dilemma und den Zerreißprozeß wieder, in dem sie aufgrund ihrer Erwerbsarbeit und Familienverantwortung stecken/0 so zeigt sich in Interviews mit ostdeutschen erwerbstätigen Müttern eher eine harmonische Verbindung beider Bereiche. Eine Abteilungsleiterin, selbst alleinerziehende Mutter, sagt über ihre Arbeiterinnen in der Baumwollspinnerei: ,,Die waren mit ihrer Arbeit verwachsen und mit ihrer Familie verwachsen und weiter nichts. "31 Am Ende des Interviews faßt sie noch einmal zusammen: ,. Die Spinnerei war ein Teil von unserem Leben, die gehörte, genauso wie die Familie und wie die Wohnung und alles, mit zu unserem Leben. Weil das eben in der DDR so gang und gäbe war, daß jeder fast gearbeitet hat, so. Und daß man auch nicht die Betriebe gewechselt hat, wie 's Hemd. Ich meine, wer nachher einmal Fuß gejaßt hatte, der blieb dann in dem Betrieb, wo er eben war. "32
repräsentativen Umfrage des Instituts ftlr angewandte Sozialforschung Bad Godesberg, Bonn 1991, S. 12. Vgl. dazu auch: Lisa Böckmann-Schewe!Christifl2 Kulke/Ann2 Röhrig, Wandel und Bruche in LebensentwOrfen von Frauen in den neuen Bundesländern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 6/94, S. 33-44, S. 41; Barbara Bertram, Zur Entwicklung der sozialen Geschlechterverhaltnisse in den neuen Bundesländern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6/93, S. 27-38, S. 28f. 28 Hildegard Maria N1cke/, Geschlechtertrennung durch Arbeitsteilung. Berufs- und Familienleben in der DDR, in: Feministische Studien 8 (1990) I, S. 10-19, S. 10.
29 In der Textilindustrie der DDR hatten 1989 69 % aller Arbeitskrafte einen Abschluß als Facharbeiterln, 4, 8 % hatten nur eine Teilausbildung und 13,5 % waren ohne abgeschlossene Ausbildung. Fur den Bereich Spinnereien und Zwirnereien sind die Zahlen nahezu identisch. Breitenacher, Textil- und Bekleidungsindustrie, S. 25. 30 Siehe dazu vor allem das große Projekt zu Industriearbeiterinnen und Arbeiterhausfrauen, Ober das Becker-Schmidt, Knapp u.a. in den 80er Jahren publizierten. Regma Becker-Schmidt u.a, Nicht wir haben die Minuten, die Minuten haben uns: Zeitprobleme und Zeiterfahrungen von Arbeitermuttern in Fabrik und Familie, Bann 1982; Regma Becker-Schmidt u.a, Arbeitsleben - Lebensarbeit, Bann 1983. Regma Becker-Schm1dt und Gudrun-Axell Knapp, Arbeiterkinder gestern - Arbeiterkinder heute, Bann 1985.
31
Interview mit lngrid Rudolph, Transkript 3a, S. 12.
32
Ebd., Transkript 3b, S. 6f.
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Damit soll keinesfalls gesagt werden, die Vereinbarung von Mutterschaft und Beruf in der DDR sei konfliktfrei verlaufen und die Belastung ft1r die Frauen sei geringer als in Westdeutschland gewesen. Doch schon das grundsätzlich andere Frauenleit-bild schuf andere Voraussetzungen. Zudem zeigt die soziale Praxis in der Umsetzung dieses Leitbildes der berufstätigen Frau und Mutter eine unerwartete Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten durch die Frauen. Das betraf den Arbeitsplatz selbst, die Arbeitszeit,33 den Arbeitsbeginn, das Schichtsystem, die Arbeitsdisziplin, Aufstiegsvarianten sowie die Betreuung der Kinder. Das möchte ich an einigen Beispielen aus meiner Untersuchung zeigen. So machte eine Frau, die ft1r den Aufstieg zur Produktionsstättenleiterin vorgesehen war, 1967 eine dreijährige unbezahlte Babypause34 und handelte aus, danach eine Stunde verkürzt arbeiten zu können und erst um 7.30 zu beginnen. Spielraum gab ihr, daß der Betrieb sie unbedingt in einer Leitungsposition haben wollte. Eine andere zunächst ungelernte Arbeiterin holte den Abschluß als Facharbeiterin nach und strebte eigentlich eine Meisterfunktion an. Beide Tätigkeiten waren mit Schichtarbeit verbunden. Sie wurde ungeplant schwanger, war alleinerziehend und wollte aus diesem Grund das Dreischichtsystem verlassen. Deshalb übersprang sie die Meisterebene, holte den 10-Klassen-Abschluß nach, begann gleich ein berufsbegleitendes Studium als Ingenieurökonomin und wurde noch während des Studiums Abteilungsleiterin, eine Tätigkeit in der Tagschicht. Eine dritte Frau, ebenfalls alleinerziehend mit einem Kind, arbeitete zunächst filnf Stunden am Abend als Abfallspulerin, eine besonders schmutzige Arbeit, bis sie dann ihr Kind in der betrieblichen Wochenkrippe unterbringen und wunschgemäß eine Arbeit im Drei-Schicht-System mit Nachqualifizierung zur Facharbeiterin aufuehmen konnte, "um mir erstmal eine Existenz zu schaffen und alles, ft1r mein Kind und mich," wie sie sagt.35 Eine vierte, die keine andere Lehrstelle als in der Baumwollspinnerei gefunden hatte, dort jedoch keinesfalls bleiben wollte, ließ ihr kleines Kind von ihrer Ärztin krippenuntauglich schreiben, bezog dafiir Krankengeld und machte in dieser Zeit heimlich den Sekretärinnenabschluß an der Volkshochschule. Wurden die nachgezeichneten 33 Vgl. dazu Almut Rietzsche/, Teilzeitarbeit in der Industrie: ein "Störfaktor" auf dem Weg zur "Verwirklichung" der Gleichberechtigung? in: Peter Hübner/Klaus Tenfe/de (Hg.), Arbeiter in der SBZ- DDR, Essen 1999, S. 169-184. 34 In der DDR konnten die Mütter erst ab 1976 bei Geburt ihres zweiten Kindes ein Jahr bezahlte Babypause machen, ab 1986 konnte das bezahlte Babyjahr bereits nach der Geburt des ersten Kindes in Anspruch genommen werden. Wink/er, Frauenreport '90, S. 240 u. 244. Das bezahlte Babyjahr war in § 246 Arbeitsgesetzbuch (AGB) geregelt. In dieser Zeit erhielten die Frauen eine "Mütterunterstützung", die bei einem Kind i.d.R. 70% , mit zwei Kindem 75 %und mit drei Kindem 80% des Nettodurchschnittsverdienstes betrug. Sabine Berghahn und Andrea Fritzsche, Frauenrecht in Ost und Westdeutschand. Bilanz. Ausblick, Berlin 1991, S. 83. 35
25*
Interview mit Nadja Franke, 23.08.1996, Transkript Ia, S.l.
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Karriereverläufe den familiären Bedürfnissen in Kooperation mit der Betriebsleitung angepaßt, so wurde, wie man sich denken kann, eigenmächtiges Handeln wie Krankfeiern, Fehlschichten und Fluktuation von der Betriebsleitung bekämpft, allerdings mit mäßigem Erfolg. Auch in anderen Fragen deuteten die Frauen herrschaftliche Vorgaben eigensinnig aus und um, um fur sich eine lebbare Version von Mutterschaft und Beruf zu finden. Sie brachten die häuslichen Anforderungen mit an den Arbeitsplatz, verlangten eine bessere Ausstattung des Betriebskonsums und mehr betriebliche Kinderbetreuung, organisierten das Einkaufen während der Arbeitszeit, unterstützten sich bei privaten Problemen, gaben Lebenshilfe und tätigten Tauschgeschäfte. Wie ich in meiner Untersuchung anband der Brigadetagebücher aus den 70er und 80er Jahren zeige, nutzten die Frauen die Anforderungen des sozialistischen Wettbewerbs zunehmend, um ihr gemeinschaftliches Freizeitvergnügen zu organisieren.36 Sie praktizierten die Verzahnung von Arbeits- und Lebenswelt und nur so konnten sie familiäre, betriebliche und persönliche Interessen angesichts ihrer Vierfachbelastung aus Beruf, Familie, Bildung und gesellschaftlich-politischer Aktivität unter einen Hut bekommen. Kohli's These vom Betrieb als "vielleicht wichtigstem Vergesellschaftungskern" in der "Arbeitsgesellschaft" DDR37 gilt damit filr Frauen verstärkt und in besonderer Weise. Kombiniert mit den traditionellen Auffangmechanismen, die vor allem in familiären und freundschaftlichen Netzen bestanden, wurden neue Auffangmechanismen im Betrieb verlangt und versprochen, gestellt und praktiziert. Für die proletarische weibliche Aufbaugeneration würde ich allerdings in Abrede stellen, daß diese Familiarisierung der Betriebe die Produktivität verringerte, wie es Dorothee Wierling vermutet. Ganz im Gegenteil hatte das von den Frauen hergestellte gute Betriebsklima eine wichtige kompensatorische Funktion und unterstützte das hohe Arbeitsethos und die emotionale Betriebsbindung. Der These von Wierling, daß die Tüchtigkeit ihren zentralen Ort nicht notwendig in der Erwerbsarbeit hatte, sondern seit den 70er Jahren immer mehr in Richtung Schattenwirtschaft und Privatsphäre, also ins Informelle verschoben wurde, kann ich deshalb auch nur bedingt zustimmen. Sie schreibt: "An der gesellschaftlichen Basis hingegen setzte sich - auch bei Männem - eine Tüchtigkeitsideal durch, daß eher entprofessionalisiert und vielseitig war, in dem soziale Beziehungen eine größere Rolle spielten als sachliche."38 Wie schon angedeutet, sind meiner Beobachtung nach hier wesentliche Generationenunterschiede festzustellen. Die Generation der vor und im Krieg Geborenen behielt ihr hohes Arbeitsethos bis zu Ende bei, auch "wenn man die letzte Zeit(...) schon gesehen [hat, A.S.], daß überall nichts mehr los war bei uns," wie die 1937 geborene Bestarbeiterin 36 In der Monographie des Forschungsprojektes ist das Brigadeleben Thema eines eigenen Kapitels (vgl. Anm. 9). 37 Martin Kohli, Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 31-61, S. 39.
38
Wier/ing, Tüchtigkeitsideal, S. 845 .
Bedeutung weiblicher Industriearbeit
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bedauernd konstatiert. 39 Die jüngeren dagegen, die in die DDR Hineingeborenen, hatten eine höhere Schulbildung, höhere individuelle Ansprüche und eine geringere Bereitschaft, auch unter noch so widrigen Bedingungen die Produktion am Laufen zu halten. Machten die älteren Frauen ihre Arbeit zu ihrem Hobby, so hat meine jüngste Interviewpartnerin, Jahrgang 1965, einen völlig anderen Blick auf diese Tätigkeit: .,Es ist zwar relativ gut bezahlt worden, die Frauen an den Maschinen, die hatten schon ihre 1000 Mark oder so raus, aber erstens war es eine absolute Knochenarbeit, die mit 1000 Mark überhaupt nicht bezahlt werden konnte und zweitens haben wir dann ja immer die Frauen, die dort gearbeitet haben, gesehen und sich vorzustellen, daß man in 15 Jahren genauso ist oder genauso aussieht. Und ich glaube, das wäre automatisch so gekommen. Das ist schon von der ganzen Arbeit her, du kannst ja eigentlich gar nicht anders, du wirst nun mal staubig, brüllen mußt du auch, weil dich sonst keiner versteht, die Arbeit ist dermaßen eintönig, du machst ja den ganzen Tag dasselbe, du knüpfst Fäden, du steckst auf, du wechselst oben das Garn. Dann noch den ganzen Tag diese stickige Luft, die so trocken und staubig gewesen ist, dann noch so komisch, so warm. Irgendwie vertrocknest du da, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich meine jetzt nicht, daß die alle ganz dünne und knibbe/ig geworden sind. Nein, aber du vertrocknest und verdummst. " 40
Auch andere junge Frauen konnten, selbst wenn sie die Arbeit in der Baumwollspinnerei nicht so entschieden ablehnten wie die zitierte Auszubildende, nicht im Betrieb gehalten werden. Die Fluktuation und der Arbeitskräftemangel nahmen in den 80er Jahren so stark zu, daß nur noch durch einen Anteil von 25 % ausländische Vertragsarbeitskräfte aus Mosambik, Angola und Vietnam die Produktion aufrechterhalten werden konnte. 41 Für die ältere Generation waren soziale Sicherheit, betriebliche Integration und begrenzte Aufstiegschancen ein Zugewinn, auch wenn sie dabei Ausbeutung, Bevormundung, Einpassung in starre betrieblich-politische Strukturen und mentale Diskriminierung in Kauf nehmen mußten. Dieses Erbe wollte die jüngere Generation in ihrer Mehrheit nicht antreten. Verändernd Einfluß zu nehmen, wurde ihr verwehrt. Die ältere Generation wurde mit der DDR erwachsen und gehörte zu jenen, die bis zuletzt als Rückgrat dieser Gesellschaft fungierten. Sie besetzten die Plätze mit ihrer weiblich-proletarischen Tüchtigkeit. Die jüngere Generation gewann hingegen keine Machtpositionen für die Verwirklichung eigener Vorstellungen. Politische Ideen und Lebensrealität fielen für sie zunehmend auseinander. Der Sozialismus wurde zu einer realitätsfernen Utopie, der Betriebsalltag perspektivlos und die private Nische zum Refugium, das durch die Abwehr politischer Zugriffe geschützt wurde. Am Beispiel der Baumwollspinnerei läßt sich exemplarisch 39
Interview mit Sylvia Rothe, I 9.08. 1996, Transkript I a, S. 21.
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Interview mit Andrea Eisler, 25.08.1996, Transkript Ia, S. 12f.
41 Diese Angabe bezieht sich auf die Produktionsstätte Spinnerei, die größte der vier Produktionsstätten im VEB Leipziger Baumwollspinnerei und der Schwerpunkt meiner Untersuchung.
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Annegret Schüle
zeigen, auf welche Weise der Generationentransfer in der DDR mißlang. Dieses Mißlingen kann sicher zu den Ursachen des Scheiteros des ostdeutschen Staatssozialismus gerechnet werden.
Das Projekt "Schubladentexte aus der DDR"Motive, Inhalte, derzeitiger Stand Von Dieter Winkler
Erst mit dem Ende der DDR begann ein wirkliches Interesse an ihrer Geschichte. Von diesem neuerwachten Interesse zeugt mittlerweile eine Fülle von Publikationen: D D D D
Dokumenteneditionen die Veröffentlichungen der Eppelmann-Kommissionen Erinnerungsbände, insbesondere ehemaliger Funktionsträger eine zunelunende Zahl von Forschungsmonographien.
Gefördert wurde diese Entwicklung durch die Öffnung aller wichtigen Archive des zweiten deutschen Staates schon kurz nach dessen Untergang. Die Öffnung dieser Archive schien es unkompliziert zu machen, die wirkliche Geschichte der DDR aufzuarbeiten. Da in diesen Archiven aber vor allem zu finden ist, was die Mächtigen des verflossenen Staates wollten, wußten und nach eigenem Urteil erreichten, tendiert eine Geschichtsbetrachtung, die sich vorrangig auf diese Archive stützt, thematisch zu einer auf die Politik der Mächtigen der DDR orientierten Geschichtsschreibung. Obwohl Voraussetzung und Beginn der Nach-DDR-DDR-Historiographie die demokratische Bewegung des Herbstes 1989 war, spielte und spielt m. W. eine Geschichtsbetrachtung "von unten" in der neueren DDR-Geschichtsschreibung nur eine geringe Rolle. (Vermutlich hängt das auch mit den Personen zusammen, die in der heutigen DDR-Forschung tonangebend sind.) Da bis 1994 von niemandem anders eine systematische Publikation von Schubladentexten aus der DDR angegangen worden war, begannen Torsten Hilse und ich ein entsprechendes Projekt zu entwickeln.
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Dieter Winkler
Torsten Hilse war zu DDR-Zeiten Herstellungsleiter in der Evangelischen Verlagsanstalt und einer der Mitbegründer der SDP am 7. Oktober 1989 in Schwante gewesen, ich hatte u. a. 1975 als Mitarbeiter des Kulturbundes durch Äußerungen über den Umgang mit Geschichte in der DDR in der kulturpolitischen Wochenzeitung "Sonntag" ein Rias-Lob provoziert und war später Lektor des einzigen Ostberliner Gesamtberliner historischen Sachbuches zum BerlinJubiläum 1987 "Mühlen und Müller in Berlin" mit einem Ostberliner (katholischen) und einem Westberliner (sozialdemokratischen) Autor geworden. Torsten Hilse wußte, daß in Kirchenkreisen Schubladentexte existierten, ich hatte welche verfaßt Schon auf Grund unserer Biographien interessierte uns weniger der Staat, die Staatsmacht, die Wirkungsmechanismen der Diktatur an der DDR als die in der scheinbar totalitären ostdeutschen Gesellschaft immer wieder neu entstehende Kritik, Ab- und Auflehnung, das Mühen um zumindest geistige Selbstbestimmung, wo politische Selbstbestimmung (noch) nicht möglich war. Ohne dieses spätestens ab Gorbatschows Glasnost und Perestroika auch viele SED-Mitglieder erfassende Streben nach geistiger Selbstbestimmung hätte die Idee der politischen Selbstbestimmung im Herbst 1989 nicht solch eine Aufnahme in den ostdeutschen Volksmassen finden können. Auf Grund der immer noch höchst kontrovers geführten Debatten über die Geschichte des zweiten deutschen Staates und mehr noch über dessen politisches, wirtschaftliches und kulturelles Erbe und die Hineinwirkung dieses Erbes in die ost- und gesamtdeutsche Gegenwart möchten Torsten Hilse und ich mit unserem Projekt Schubladentexte auf bislang wenig erschlossene, aber doch höchst authentische Quellen zur DDR-Geschichte aufmerksam machen. Wir haben das Projekt bewußt in Torsten Hilses kleinen Ostberliner Existenzgründer-Verlag VERBUM angesiedelt, denn der Verlag hatte 1992 bereits einen informativen Bild-Text-Band Ober die demokratische Revolution in der DDR herausgebracht: "Keine Gewalt. Der friedliche Weg zur Demokratie. Eine Chronik in Bildern". Hg. v. Norbert Heber und Johannes Lehmann. Berlin 1992. ISBN 3-928918-03-6. I. Zu den Auswahlkriterien für Texte und Autoren sowie zum Ordnungsprinzip 1. Zu den Texten
Wir sammeln: 0 Texte belletristischen Charakters 0 Texte mit philosophischem oder gesellschaftswissenschaftlichem Inhalt
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0 Schriftwechsel mit Behörden, in dem Bürger um Rechte oder Informationen
kämpften
0 Tagebuchnotizen und Briefe
0 Abbildungen (Fotos wie auch Karikaturen).
Es geht um Texte, die aus unterschiedlichen Gründen zu DDR-Zeiten nicht den Weg in die Öffentlichkeit fanden. Wir reduzieren den Begriff Schubladentexte nicht auf literarische Versuche, sondern subsumieren unter diesem Begriff alle Arten von schriftlichen Äußerungen, die von widerständigem Denken, Fühlen bzw. Verhalten oder einem Engagement fiir eine Verbesserung der Verhältnisse zeugen. Abgedruckt werden vorrangig Texte, die nicht in öffentlichen Archiven vorliegen. Auswahlkriterien sind nicht zuerst die ästhetische oder wissenschaftliche Qualität eines Textes, sondern seine Eigenschaft als Zeitdokument. Aus diesem Grunde drucken wir auch anonyme Satiren, von denen insbesondere in den 70er und 80er Jahren immer wieder leicht unterschiedliche Lesarten in der Bevölkerung kursierten. 2. Zu den Autoren
Die Autoren des ersten Bandes sind durchweg Nichtprominente. Nichtprominente sollen auch in der Zukunft in unserem Projekt einen gewichtigen Platz einnehmen. Korrespondierend mit der thematischen Breite des Projekts wird auch eine soziale Breite bei den Autoren angestrebt. (In Band I geht sie vom einfachen Arbeiter bis zum promovierten Theologen.) Unter den Autoren befmden sich Menschen, die der DDR irgendwann den Rücken kehrten, wie Personen, die bewußt im Lande blieben, sind Einwohner des Landes, die von klein auf an ein distanziertes Verhältnis zum Kommunismus hatten, wie andere, die sich erst später von ihm abwandten. Zu den Autoren gehören aber auch Menschen, die die DDR in Richtung Demokratie und Rechtsstaat umgestalten, aber nicht beseitigen wollten. Wir unterscheiden also nicht, ob unsere Autoren "systemloyal" oder "systemfeindlich" kritisch waren; entscheidend ist fiir uns, daß unsere Autoren bewußt kritisch waren. Geistige Opposition in der DDR entstand immer wieder und immer wieder verknappt - aus zwei Ursachen: 0 aus einer grundsätzlichen Ablehnung des Kommunismus, also von außen, 0 aus einem Vergleich von Ideal und Wirklichkeit, also von innen.
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Dieter Winkler
Für letztere Gruppe stehen berühmte Namen wie Wolfgang Leonhard und Wolf Biermann. Beider Biographien zeigen zudem, wie eine anfangs noch begrenzte Kritik zu einer immer ablehnenderen Haltung auswachsen konnte. Gefunden wurden von uns Schubladentexte bislang vor allem 0 bei aktiven Mitgliedern evangelischer Kirchengemeinden 0 bei Angehörigen von Intelligenzberufen mit demokratisch-sozialistischer Orientierung. Vorhanden sind interessante Texte noch bei DDR-engagierten, aber reformwilligen (Gesellschafts-) Wissenschaftlern. 3. Zum Ordnungsprinzip
Die Texte werden vor der Publikation nicht nach thematischen Merkmalen zusammengestellt: etwa ein Band literarische Versuche, ein Band Briefe an Behörden usw. Die o. g. programmatische und personelle Breite soll u. E. auch in jedem einzelnen Band sichtbar werden. Geordnet werden die Texte darum nurund dazu grob - chronologisch. Gemäß ihrem Charakter als Zeitzeugen sollen sie - in Thema und Tonfall - die unterschiedlichen "Epochen" der DDR spiegeln. (Man vergleiche nur die Stimmlage der Briefe an die Behörden von HansGünter Bahr und DetlefFechner in Band 1.) Im Prozeß unserer Arbeit stellte sich heraus, daß offensichtlich weitaus mehr Schubladentexte die Honecker-Ära als die Ulbricht-Zeit überdauert haben. (Dies ist m. E. nicht allein der größeren zeitlichen Nähe zur Gegenwart geschuldet, sondern sicher auch einer geringeren Furcht, kritische Texte aufzubewahren, und mehr noch wohl der rapide zunehmenden Erosion des geistigen Einflusses des Kommunismus ab der Unterdrückung des Prager Frühling 1968 und in der DDR speziell nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann und dem Auszug weiterer links-demokratischer Intellektueller ab 1976.)
II. Zum Stand des Projektes 1999 konnte mit der Unterstützung der Stiftung Berliner Klassenlotterie ein erster Band: "Die Fragen und die Freiheit. Schubladentexte aus der DDR", Hg. v. Torsten Hilse und Dieter Winkler, ISBN 3-928918-65-6 erscheinen. Der Band beinhaltet: Gedichte, Erzählungen, Satiren, ein Theaterstück für eine Studentenbühne, Briefwechsel mit Behörden, einen Aufsatz über einen in der DDR gemaßregelten Philosophen, eine Predigt, einen Privatvorgang mit MfSKommentierung. Ein zweiter Band, gefördert durch einen Druckkostenzuschuß
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der Bosch-Stiftung "Unterdrückte Wahrheit", ... , ... , ISBN 3-928918-68-0 wird noch im Jahre 2000 fertig und ab Anfang 2001 ausgeliefert. Sein Inhalt sind wieder vorrangig literarische Versuche, auch die Dokumentation eines Beispiels von oppositioneller Theaterarbeit in einem Arbeitertheater. Dazu kommen erstmals Texte zweier prominenter DDR-Gesellschaftswissenschaftler.Für einen dritten Band existieren erste Planungen; es sind erste Texte bereits zugesagt.
111. Nachbemerkung Die filr unser Projekt bislang ausgewählten Texte fanden zu keiner Zeit Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs. In ihrer Entstehungszeit erreichten die literarischen und gesellschaftswissenschaftliehen Texte, von den anonymen Satiren abgesehen, nur einen kleinen Leserkreis, weil sich in der DDR eine organisierte Gegenöffentlichkeit wie in Polen, der CSSR und Ungarn lange Zeit nicht ausgebildet hatte bzw. nicht hatte ausbilden können, obwohl Themen und Ergebnisse von Diskussionen in den Gegenöffentlichkeiten o. g. Länder in der DDR immer wieder rezipiert wurden, (So lasse ich den Prof. Boger in meinem Studentenstück "Die Fragen und die Freiheit" aus den 60ern einige Sätze äußern, die ich zuvor bei Leszek Kolakowski entdeckt hatte.) Während des Herbstes 1989 suchten Schubladentexte m. W. kaum den Weg in die neue, von allen bisherigen Einzwängungen befreite Öffentlichkeit. Sie waren durch die reale geschichtliche Bewegung großenteils überholt worden. Andere Autoren mit anderen Themen und einer neuen Sprache prägten das öffentliche und insbesondere mediale Bild in der DDR. Und heute? Die Forschung destilliert widerständiges Verhalten vor allem aus den Aktenhinterlassenschaften des MfS. Weiß die heutige Gesellschaft damit wirklich mehr als die ehemalige Staatsmacht über das Streben nach geistiger Unabhängigkeit unter uns früheren DDR-Bürgern? Wie Christoph Dieckmann einmal in der "Zeit" schrieb, ist eine selbstbewußte Demokratie nicht aus importierten Identitäten herzustellen. Unser Projekt möchte nachweisen, daß geistige Unabhängigkeit und das Streben nach kultureller Selbstbestimmung nicht nur in den kleinen Gruppen organisierter Opposition in der DDR existierten, und es möchte ein ostdeutsches Selbstbewußtsein befördern helfen, das auf eigenen, unverwechselbaren Ansätzen zu zivilgesellschaftlichem Verhalten aufbaut.
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Schubladentexte aus der DDR (Auswahl) Band I Wilfried Flach
Halle an der Saale
Wenn du in die Stadt kommst, sieh sie dir genau an! Von Süden aus machen sich die Fabriken in ihrer grauen Buna- und Leunakluft immer breiter und breiter. Ihre giftigen Rauchfahnen schreien schwarz, rot und gelb unüberhörbar zum Himmel! Auf allen Plakaten liest du: Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit. Du amüsierst dich darüber. Der Fluß, in dem die letzten Fische verwesen, fließt träge in die Landschaft hinein. Die Sonnenglut drückt auf die Häuser. Die Hitze verschlägt dir den Atem. Widerwillig tauchst du in den Strom der Menschen, der sich in die Straßen ergießt. Auf den Gesichtern der Leute liegt Gleichmut. Stumpfsinnig warten sie nach Arbeitsschluß auf die Straßenbahn, automatisch drängen sie sich in die überalterten und überfüllten Wagen. Die Älteren sind müde. Froh, wenn ihnen ein Platz angeboten wird, setzen sie sich hin und starren durch die dreckigen Scheiben. Erinnerungen tauchen auf. Oft wurde gesagt, daß eine neue Zeit angebrochen sei. Sie aber haben Propaganda über Propaganda erlebt, sind skeptisch, hoffnungslos und verbittert geworden. Manche denken unverbesserlich an einen Mann zurück, dessen abscheuliche Verbrechen sie noch immer nicht durchschauen. Die mittlere Generation sieht forscher aus. Sie ist bereit, sich in diesem Leben einzurichten, in diesem Leben, das durch den Betrieb, die Partei und den Verein geprägt ist. Sie bejaht die qualmenden Schornsteine, den Chlor- und Estergeruch, ja den gesamten Chemiegestank, aber auch die Pressefeste der "Freiheit" an der Saale. Zwar ist das keine begeisterte Zustimmung, aber eben auch keine Ablehnung. Man hat sich recht und schlecht eingerichtet und macht aus den Zuständen, was sich machen läßt. Großartige Konzeptionen werden belächelt, und der Praktiker des Alltags gilt immer noch als der Beste. Menschlich ist man und allzu menschlich, ein wenig moralisch, aber auch hin und wieder amoralisch, das Vergnügen wird gesucht, wo es zu finden ist, wer private Unterhaltung anbietet, ist ein gern gesehener Mann. Ganz anders die Jugend. Langhaarig stehen sie, Jungen und Mädchen, an den Straßenecken, sich belauernd, sich beobachtend, sich begehrend. Sie wissen: Dies sind die besten Jahre ihres Lebens, die müssen sie ausnutzen. Hinter ihnen versinkt ihre efdejothemdblaue Vergangenheit mit ihren nie ganz ernstgenommenen Kampfparolen. Die sozialistische Zukunft ist ungewiß. Kann die Partei, die doch immer Recht haben will, ihre vollmundigen Versprechen erfüllen? Der
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Kommunismus ist unvermeidbar. Aber was er im einzelnen bescheren wird, das ist doch völlig offen. So gehen die Leute über die Bürgersteige, fahren mit den Bussen und quälen sich durch die Straßenbahnen. Sie starren auf die Häuser und Plätze, die sich mit ihnen verändern, unfähig, ihr Geschick in den eigenen Griff zu bekommen. Abseits von den Hauptverkehrsstraßen jedoch, in den Kirchen, hängt der gekreuzigte Christus. Er möchte zu den Leuten sprechen, sie aufwecken, sie ermutigen, in die Freiheit fUhren. Aber die Sprache, die man ihn lehrte, versteht keiner. Er möchte sein, was er tatsächlich ist: Vater, Bruder und Freund! Aber die Menschen nehmen ihn nicht aufl (1966) Autor unbekannt Arbeitsplan
Wir ändern morgen, wir ändern heut! Wir ändern wütend und erfreut. Wir ändern ohne zu verzagen an Arbeits-, Sonn- und Feiertagen. Wir ändern teils aus purer Lust, mit Vorsatz teils, teils unbewußt. Wir ändern gut und auch bedingt, weil ändern immer Arbeit bringt. Wir ändern resigniert und still, wie jeder es so haben will. Die Alten ändern wie die Jungen. Wir ändern selbst die Änderungen. Wir ändern, was man ändern kann, und stehen dabei unser'n Mann. Und ist der Plan auch gut gelungen, bestimmt verträgt der Änderungen. Wir ändern deshalb früh und spät alles, was nur zu ändern geht. Wir ändern heut' und jederzeit, zum Denken bleibt da keine Zeit. Autor unbekannt
Änderungen vorbehalten!
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Einstellung der Bettenproduktion Die Bettenproduktion wird demnächst in der DDR eingestellt, denn: D die Diplomaten schlafen im Ausland,
D D D D D D D D D
die Ingenieure sind auf Dienstreise, die Intelligenz wird auf Rosen gebettet, die Künstler ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus, die Arbeiter und Bauern arbeiten Tag und Nacht, die Partei schläft nie, die Rentner fahren in den Westen, die Gammler schlafen unter den Brücken, die NV A steht auf Friedenswacht, die Direktoren schlafen im Zug (mit der Sekretärin)
Barbara Adler
und der Rest sitzt.
Große Köpfe Ihr denkt? Wozu ihr? Wer denkt, das sind wir! Seid keine Toren, schließt Aug' und Ohren und schluckt es nieder und kaut es wieder, was wir Gescheiten euch zubereiten mit Marx im Brevier! Wer denkt, das sind wir! Ihr macht euch Sorgen ums Übermorgen, um Tier und Pflanze, ums Lebensganze? Mit Gift und Chemie, so werden wie sie, die Erde, schützen und weiter nützen. Wir ändern die Welt, wie es uns gefallt. Das steht zu Papier. Wer denkt, das sind wir.
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Wer wagt zu zweifeln, uns zu verteufeln? Wir haben die Macht (vom Bruder bewacht). Den roten Zeichen muß alles weichen. Wir werden rüsten und noch mehr rüsten und Frieden schaffen mit scharfen Waffen.Eßt, raucht und trinkt Bier! Wer denkt, das sind wir! (März 1983) Band II
Aus: Zittauer Friedensgruppe der ev.-luth. Kirchgemeinde INFORMATIONSBLATT FÜR BAUSOLDATEN
Der Einsatz filr den Frieden ist in letzter Zeit dringlicher denn je geworden. Als Christen unseres Landes sind wir in zunehmenden Maße filr die Erhaltung des Friedens mitverantwortlich. Aus diesem Grund gilt zu überprüfen, welche Möglichkeiten des Engagements filr den Frieden heute notwendig werden, inwiefern sie wirkungsvoll Vertrauen bilden und eine tatsächliche Abrüstung in Gang zu bringen. Und filr welche Möglichkeit ich mich persönlich entscheiden kann, weil ich bereit bin die Konsequenzen dieser Entscheidung zu tragen. Der Dienst in den Baueinheiten der Nationalen Volksarmee gewinnt in diesem Zusammenhang als Zeichen eines vertrauensbildenden Friedensengagement besonders unter Christen an Bedeutung. Aber die Erfahrungen Wehrpflichtiger zeigen, daß dieser Weg oft vor überraschenden Fragen, Forderungen und Konflikte stellt. Die folgenden Informationen wollen ein wenig zur Klärung und Findung von Motiven helfen, mit der Gesetzgebung vertraut machen und Folgen des Dienstes andeuten, die ihn heute zu einem glaubwürdigen Friedenszeichen machen. Vielleicht ERMUTIGEN wir dadurch Wehrpflichtige, die Friedensarbeit in unserem Lande ernster zu nehmen, keinesfalls aber wollen diese Informationen Eigenverantwortung abnehmen.
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Zur Gesetzgebung
Am 24. Januar 1962 wurde das Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht durch die Volkskammer der DDR beschlossen. Bereits 1956 hatte die Volkskammer das Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums ftlr Nationale Verteidigung verabschiedet. Damit war eine gesetzliche Grundlage ftlr den Aufbau einer nationalen Armee vorhanden. Als Begründung galt die damalige Situation des sogenannten "Kalten Krieges" und der bereits formierten Armee im anderen Teil Deutschlands. In der Folge der Hinfilhrung der allgemeinen Wehrpflicht weigerten sich ca. 8000 junge Männer, den Dienst mit der Waffe zu leisten. Sie gaben vor allem Gewissens- und Glaubensgründe an. Der Nationale Verteidigungsrat der DDR ordnete deshalb am 7.9.1964 die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums ftlr Nationale Verteidigung an (GBI. I Nr. 2, S. 129: ANORDNUNG des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums ftlr Nationale Verteidigung - im folgenden nur als Anordnung bezeichnet). Nach § 1 Abs. 2 dieser Anordnung wird dieser Dienst als "Wehrersatzdienst gemäß $ 25 des Wehrpflichtgesetzes vom 24. Januar 1962" defmiert. Er ist ftlr Wehrpflichtige gedacht, "die aus religiösen Anschauungen oder ähnlichen Gründen den Wehrdienst mit der Waffe ablehnen" (§ 4 Abs. 1). "Die Angehörigen der Baueinheiten tragen den Dienstgrad ,Bausoldat'" ($ 4 Abs. 2). Diese Anordnung gilt noch heute. In seiner Rede am 25. März 1982 vor der Volkskammer der DDR begründete der Minister ftlr Nationale Verteidigung, Armeegeneral Heinz Hoffmann den Entwurf eines neuen Wehrdienstgesetzes durch die "in den vergangenen 20 Jahren eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen" und "den wachsenden Anforderungen an die sozialistischen Streitkräfte in den 80er Jahren" (Zitiert nach dem Wehrdienstgesetz und angrenzende Bestimmungen, Textausgabe mit Anmerkungen und Sachregister, Erg. vom Ministerium ftir Nationale Verteidigung, Brl. 1983, S. 7). Dieses neue Wehrdienstgesetz (i. F. Wdg abgekürzt) basiert auf den Artikeln 7 und 23 unserer Verfassung vom 6. April 1968 (Landesverteidigung und allg. Wehrpflicht). Das Wdg berücksichtigt auch den Artikel 20 Abs. I, in dem jedem Bürger "Gewissens- und Glaubensfreiheit" zugesichert ist. Allerdings nimmt das Wdg nicht ausdrücklich auf Art. 20 der Verfassung und auch nicht auf die Anordnung von 1964 Bezug, sondern nur indirekt. Im § 2 Abs. 3 des Wdg heißt es: "Der Ableistung des Wehrdienstes nach Abs. 1 entspricht der Dienst in anderen Organen (v. Verf. unterstrichen: meint unter anderem den "Wehrersatzdienst"), in denen auf Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates der Deutsche Demokratische Republik die Bürger ihr verfassungsmäßig festgelegtes Recht (v. Verf. unterstrichen: meint u. a. Art. 20 Abs. I) und die Ehrenpflicht ftlr die Landesverteidigung erfilllen können." Nach der "Bekanntmachung über den Dienst, der
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der Ableistung des Wehrdienstes entspricht" (vom 25. März 1982 GBI. I Nr. 12, S. 268) versteht das Wdg darunter den Dienstag " a) im Ministerium filr Staatssicherheit, b) in den kasernierten Einheiten des Ministerium des Innern, c) in der Zivilverteidigung (soweit die Dienstlaufbahnordnung ZV gilt), d) in den Baueinheiten im Bereich des Ministeriums fllr Nationale Verteidigung (unleserlich) § 2 Abs. 5 des Wehrdienstgesetzes vom25.3.1982 (GBl. INr. 12, S. 221)" Diese Dienste "entsprechen" der Ableistung des Wehrdienstes. Diese Formulierung "Dienst, der der Ableistung des Wehrdienstes entspricht" muß man kennen, denn weder das Stichwort "Baueinheiten" (geschweige denn "Bausoldat") noch der Begriff "Wehrersatzdienst" werden in dem Sachregister zum Wdg aufgefiihrt, und sie sind auch nicht aus dem Inhaltsverzeichnis zu entnehmen. Außerdem verzichtet das Wdg auf die GBl.-Angabe der ANORDNUNG über die Aufstellung von Baueinheiten, wie das o. g. Zitat zeigt. Hin und wieder wird dem Wehrpflichtigen von der Musterungskommission entgegengehalten, daß es ja gar kein Gesetz fiir Bausoldaten gäbe bzw. es im Wdg nicht zu finden sei. Das ist richtig, denn formal heißt es ja "Anordnung" und nicht "Gesetz". Ein "Gesetz" müßte von der Volkskammer verabschiedet werden. Eine Anordnung kann der Nationale Verteidigungsrat erlassen, ohne es vor die Volkskammer bringen zu müssen. Übrigens kann ebenso diese "Anordnung" jederzeit vom Nationalen Verteidigungsrat zurückgenommen werden, ohne einen Einwand der Volkskammer. Diese Art der Gestaltung des Gesetzes läßt einen Grundtenor des Wdg erkennen, wie ihn Armeegeneral Heinz Hoffmann in der o. zitierten Rede klar beschreibt: "Unsere Soldaten tragen ihre Waffen filr den Frieden, und je besser sie ihre Waffen beherrschen, um so zuverlässiger ist der Frieden gesichert! So gerne wir unsere Waffen dereinst verschrotten werden- noch braucht der Sozialismus, braucht der Frieden unsere Pflugschare u n d (i. d. Rede fett gedruckt) unsere Schwerter!" (Wdg, S. 9). Also noch einmal: Die Formulierungen "verfassungsmäßig garantiertes Recht" (Wdg § 2 Abs. 3) oder "verfassungsmäßig garantiertes Recht" (§ 7 Abs. 1 Musterung) "gestehen jedem Bürger auch in Sachen Wehrpflicht durchaus Gewissens- und Glaubensfreiheit" zu. Deutlicher sagt das § 4 der Anordnung mit der Formulierung "aus religiösen Anschauungen oder ähnlichen Gründen", beispielsweise aus humanitären. Voran stehenjedenfalls "religiöse Gründe" und der derzeitige Trend der Musterung läuft in die Richtung, nur Christen bzw. religiös gebundene Bürger der DDR filr den Dienst in den Baueinheiten heranzuziehen. Für einen Nichtchristen ist es heute viel schwieriger, seine Entscheidung zu behaupten. 26 nmmennann
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Weitere Erfahrungen zeigen, daß möglichst bei der ersten Musterung dem WKK der Wunsch, zu den Baueinheiten gezogen zu werden, mitgeteilt wird. Die Entscheidung kann aber im Prinzip bis zur Vereidigung gefiillt werden (vgl. Wdg § 19- zu Fahneneid Abs. 3), denn erst die Vereidigung oder eine ihr entsprechende Verpflichtung gilt fiir die ganze Zeit der Wehrpflicht und kann nicht mehr revidiert werden. Der Wechsel von den bewaffneten Einheiten zum Reservistendienst in den Baueinheiten ist demnach nicht möglich, wenn auch über dieses Problem keine besondere Bestimmung vorliegt. Hingegen können gediente Bausoldaten ,.zur Ausbildung oder zu Übungen" in den Baueinheiten gezogen werden (vgl. Anordnung§ 8). Übrigens sollte man wissen, daß der Wehrersatzdienst innerhalb der Warschauer Vertragsstaaten nur in der DDR möglich ist. Zur Sache zum Schluß noch ein Zitat aus einem Brief Erich Honeckers an Frau Prof. Dr. Faßbinder (Bonn), das in der Zeitschrift ,.sourage" der Deutschen Friedensgesellschaft im September 1971 veröffentlicht wurde: " ... Den Dienst als Bausoldat anerkennen wir als eine Entscheidung fllr den Frieden und Sozialismus. Die Wehrersatzdienst leistenden Bürger der DDR nehmen unabhängig von ihrer Weltanschauung und Bildung einen geachteten Platz in unserer Gesellschaft ein. Dementsprechend hat bei uns auch jeder Bausoldat die Möglichkeit, die verschiedensten Bildungswege der DDR zu nutzen. Davon zeugt u. a. auch die Tatsache, daß sich unter den Bausoldaten auch Abiturienten und Studenten befmden ..." Friedrich P.fefferkom Unterdrückte Wahrheit Wahrheit lang' zu unterdrücken, das wird auch bei uns nicht glücken. Wer sie ständig nicht will sehen, der wird scheitern, untergehen. Doch auf zeitlich kurze Spannen kann man Wahres schon verbannen, (wodurch wir es dann verpassen, uns're Chancen ganz zu fassen). Eitle können sich's nicht leisten, wenn wir ihnen Wahres sagen. Nichts sie haben beizutragen. Einsam bleiben heut' die meisten, die der Wahrheit sich geweiht.
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Später kommt dann ihre Zeit. Soziologensonett Fahnden können wir nicht nur auf des Lebens heißer Spur, um die Gründe zu erfassen, warum viele es verpassen. Fragen müssen wir vielmehr, was davon der Funktionär wissen will. Wir dürfen sagen nur, was Mächtige uns fragen. Diese fragen uns nicht viel. Ach, wie traurig ist das Spiel, halbe Auskunft nur zu geben über das erforschte Leben. Ganz zu sagen, was wir sehen, kann nur im Exil geschehen. Jürgen Nagel Keine Lösung In Beantwortung der Eingabe an das Zentralkomitee, deren erstes Zwischenergebnis dieser plötzliche Hausbesuch sei, schlägt die Genossin der Parteikreisleitung die Beine übereinander. Nach gründlicher Anhörung der Problematik und Besichtigung der örtlichen Verhältnisse sichert sie, zwischen zwei Tassen Kaffee, die Prüfung von Möglichkeiten seitens der Partei zur Einflußnahme in diesem speziellen Fall zu. Auf den letzten Satz der Eingabe geht die Genossin von sich aus nicht ein. Ausdrücklich darauf angesprochen, wechselt sie die Beine und kann diesen Punkt nur als Drohung bezeichnen. Gemeint ist die Ankündigung eines Transparents, das jedem möglichen Passanten vor diesem Fenster das hier erörterte Problem vor Augen und Sinne fUhren und Verantwortliche fi1r jahrelange Schlamperei benennen würde. Und während der einer so ungewöhnlichen Absicht fllhige Gastgeber überlegt, wo er wohl den gelben Fahnenstoff fi1r sein Vorhaben bekommen würde- denn gelb muß er schon sein, gelb ist die optisch hellste Farbe, unter dem wäre die beabsichtigte Wirkung nicht sicher -, während dieser Überlegung setzt die Genossin die Kaffeetasse ab und -sagt betont: 26•
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Das ist doch keine Lösung! Und will das Warum gleich näher erklären: Wenn jeder seine Unzufriedenheit auf diese Weise ausdrücken würde- es liefen ja alle Bürger des Landes nur noch mit Transparenten herum! Und diese Vorstellung scheint sie zu belustigen. (1981)
Zur Geschichte und Entwicklung der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED Von Lotbar Mertens I. Historischer Abriß Die Akademie fiir Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (AfG) war nicht nur eine wichtige wissenschaftliche Ausbildungsstätte fiir die Parteikader, die in mehrjährigen Kursen ausgebildet wurden. Die AfG war darüberhinaus eine zentrale gesellschaftswissenschaftliche Forschungsinstitution, welcher in den Bereichen Philosophie, Soziologie und Wissenschaftlicher Kommunismus eine Richtlinienkompetenz zukam. Die langjährige personelle Kontinuität der Führungskader im Rektorat (Otto Reinhold seit 1961) und unter den Institutsdirektoren, die z.T. auch Mitglieder des SED-Zentralkomitees waren (Hahn, Koch), weisen auf die hohe politisch-ideologische Bedeutung einer Institution hin, die in der breiteren Öffentlichkeit erst durch ihre zentrale Rolle bei den Verhandlungen des SPD-SED-Papiers wahrgenommen wurde. Da die Akademie ftlr Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED eine der weniger bekannten Institutionen im Wissenschaftssystem der DDR war, sei ein kurzer geschichtlicher Überblick zu ihrer Entwicklung vorangestellt. Im Mai 1951 wurde Lene Berg1 vom SED-Zentralkomitee "mit der Leitung der Vorbereitungsarbeiten fiir ein künftiges Institut ftlr Gesellschaftswissenschaften" betraut. 2 So nüchtern liest sich in der "Chronik der Akademie ftlr Ge-
1 Helene (Lene) Berg, 1906 in Mannheim geboren, ab 1927 KPD-Mitglied, 1929-31 Besuch der Internationalen Lenin-Schule in Moskau, 1931/32 Mitarbeiterin im KPD-ZK, 1935-46 Emigration in die UdSSR, 1951-58 Direktorin des lfG, 1954-58 Kandidatin und 1958-89 Mitglied des SED-ZK, ab Jan. 1990 Mitglied des Rates der Alten der SED/PDS; Wer war Wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon. Hg.: Helmut Müller-Enbergs!Jan Wielgohs/Dieter Ho.ffmann. Berlin 2000, S. 62 f. 2 Kurze Chronik der Akademie filr Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin (Ost) 1986, S. 13.
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Seilschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands« die Entstehungsphase der Institution, welche zu den wichtigsten Parteihochschulen in der DDR gehörte. Über die zentralen Aufgaben des neuen Instituts gab der Beschluß "Die Ergebnisse des ersten Parteilehrjahres und die Aufgaben der Parteiorganisation und Propagandisten im zweiten Parteilehrjahr 1951152" des SED-Politbüros vom 7. Aug. 1951 Auskunft. Darin heißt es u.a.: "Zur Ausbildung leitender propagandistischer und theoretischer Kader, ... wird ab 1. Oktober beim Zentralkomitee der SED ein Institut für Gesellschaftswissenschaften eröffnet. In diesem Institut werden in Drei- und Einjahrlehrgängen Dozenten für Grundlagen des Marxismus-Leninismus, für dialektischen und historischen Materialismus, Politökonomie, Geschichte der KPdSU (B) ausgebildet. Dieses Institut muß gemeinsam mit dem Marx-Engels-Lenin-Institut [dem späteren Institut für MarxismusLeninismus; L.M.] und der Parteihochschule 'Kar/ Marx' die Behandlung theoretischer Probleme, die sich aus dem Friedenskampf und dem demokratischen Aufbau ergeben, in ..3 Angriffnehmen und wissenschaftlich-theoretische Diskussionen durchführen
Wie sehr diese Kaderschulung drängte, belegt die auf der 7. Tagung des SEDZentralkomitees am 20. Oktober 1951 verabschiedete Entschließung »Die wichtigsten ideologischen Aufgaben der Partei«: " Die Entwicklung neuer propagandistischer Kader.... Die Schiller und Lehrer fiir das Institut fiir Gesellschaftswissenschaften müssen sofort ausgewählt und bestätigt werden, damit das Institut am 1. Dezember 1951 seine Arbeit beginnen kann."4 Da diese Forderung terminemäß umgesetzt wurde, konnten am 1. Dez. 1951 49 Aspiranten den ersten Lehrgang am Institut beginnen. Erste Direktorin wurde die oben bereits erwähnte Lene Berg, eine bewährte Altkommunistin, die bereits vor 1933 in Moskau geschult worden war. Ministerpräsident Otto Grotewohl nannte in seinem Grundsatzreferat anläßlich der feierlichen Eröffuung am 21. Dez. 1951 die weiteren Aufgaben: "Das Institut für Gesellschaftswissenschaften gehört zum System der Parteischulung und untersteht unmittelbar dem Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Seine Aufgabe ist es, hochqualifizierte theoretische und propagandistische Kräfte auszubilden, die die marxistisch-leninistische Wissenschaft meistern urd imstande sind, auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften selbständige Forschungsarbeit zu 5 leisten."
Diese Aufgabe wurde ab Dezember 1964 um Weiterbildungslehrgänge filr leitende SED-Kader in der ideologischen und theoretischen Parteiarbeit erweitert. Bis 1981 wurden insgesamt 100 solcher Weiterbildungslehrgangs fiir leitende
3
Ebd., S. 13 f.
4
Ebd., S. 15.
5
Ebd., S. 21 f.
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7
Kader durchgefiihrt. Das Institut bestand zunächst aus fiinf Lehrstühlen, die formell keinem Ordinarius, sondern im Sinne der kollektiven Führung nur einem Leiter unterstanden: - Lehrstuhl fiir Politische Ökonomie (Leiter: Fred Oelßner); - Lehrstuhl fiir Deutsche Geschichte (Leiter: Hermann Matern); -Lehrstuhl fiir Philosophie (Leiter: Kurt Hager); -Lehrstuhl fiir Geschichte der KPdSU (Leiter: Paul Wandel); -Lehrstuhl fiir Literatur und Kunst (Leiter: Wilhelm Gimus). Die damalige (und spätere) Prominenz der Lehrstuhlleiter belegte die Wichtigkeit des Instituts fiir die Partei und ihre Kaderausbildung. Bereits im Januar 1952 nahm auch eine Gruppe sowjetischer Gastprofessoren, "die auf Wunsch des ZK der SED von der KPdSU entsandt wurde", ihre Arbeit am Institut auf. 8 Die Intensivität der Beziehungen zur Hegemonialmacht UdSSR und der sowjetischen Schwesterinstitution belegt auch der im Herbst 1954 begonnene Studentenaus-tausch, der es einer ersten Gruppe von DDR-Aspiranten ermöglichte, als Gast-studenten an der Akademie fiir Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU ihr Studium fortzusetzen. An den Lehraufgaben des Instituts waren auch alle Richtungsänderungen in der SED-Politik deutlich konstatierbar, wie etwa im Beschluß »Für einen Aufschwung in der Propaganda des Marxismus-Leninismus« der 11. Tagung des SED-Zentralkomitees, in dem es hieß: "Am Institut für Gesellschaftswissenschaften ... ist die Moskauer Erklärung der kommunistischen und Arbeiterparteien gründlich durchzuarbeiten, die Vorlesungen sind zu überarbeiten oder neu zu gestalten, und das Niveau der Lehr- und Forschungstätigkeit ist weiter zu heben. Für die anschauliche und lebendige Gestaltung der Massenpropaganda werden unter Leitung der Abteilung Agitation und Propaganda des Zentralkomitees von ... dem Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ..9 Zentralkomitee ... Anschauungsmaterialien herausgegeben 6
Ebd., S. 146.
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Ebd., S. 22.
8
Kurze Chronik, S. 23.
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Damit wurde das Institut aktiv in die Propagandaarbeit der Partei eingebunden, wie beispielsweise bei der Erarbeitung und Herausgabe von Lehrmaterialien fUr das Fach "Staatsbürgerkunde" der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen in der DDR. 10 Die Kursänderungen der SED zeigten sich auch in den Parteidekreten hinsichtlich des Instituts fUr Gesellschaftswissenschaften. So hieß es im Beschluß "Für eine neue Qualität der politisch-ideologischen Arbeit mit den Menschen" des SED-PolitbUros vom 23. Feb. 1965: "Um den höheren Anforderungen an die Ausbildung der Kader der Partei gerecht zu werden, ist eine grundlegende Verbesserung der Arbeit an den Parteischulen erforderlich.... Die systematische Qualifizierung der Lehrer und die Verstärkung der Lehrerkollektive durch Hochschulkader und Absolventen des Instituts fUr Gesellschaftswissenschaften sind durch die Bezirksleitungen der Partei und durch die Abteilungen Propaganda und Wissenschaften des ZK zu sichem." 11 Doch auch knapp zehn Jahre später schien es diesbezüglich noch immer einer Qualitätskontrolle, wie etwa im Beschluß "Über die Verbesserung der Auswahl und Ausbildung von Parteikadern am Institut filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED" des SED-ZK-Sekretariats vom 27. Nov. 1974: "Ausbildung und Parteierziehung sind darauf gerichtet, der Partei treu ergebene, wissenschaftlich befähigte, qualifizierte Kader für den Einsatz in den Bereichen der ideologisch-theoretischen Arbeit und der gese/lschaftswissenschaftlichen Forschung, 12 Lehre und Propaganda zur Verfügung zu stellen. "
Im Mai 1979 erließ Otto Reinhold per Weisung die "Ordnung über die Durchfilhrung der Forschungsplanung an der Akademie fUr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (Planungsordnung)". Darin waren die kommenden Arbeitsziele und Aufgaben der AfG defmiert: "Die Aufgaben der Gesellschaftswissenschaftler bestehen darin, die gesellschaftlichen Prozesse und die ihnen zugrunde liegenden objektiven Gesetzmäßigkeilen gründlich zu analysie-ren, theoretisch zu verallgemeinern und zur Lösung der herangereiften Probleme bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft beizutragen sowie aktiv bei der Propagierung des Marxismus-Leninismus und der Entwicklung 13 des sozialistischen Bewußtseins der Werktätigen mitzuwirken. " 9
Ebd., S. 31 f.
10 Ebd.,
11
S. 35.
Kurze Chronik, S. 43.
12 Ebd.,
S. 84.
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Neben diesen innen- und gesellschaftspolitischen Zielen, gab es aber auch außenpolitische und ideologische Aufgaben zu bewältigen: "Zugleich ist die offensive Auseinandersetzung mit der Politik, Ökonomie und Ideologie des Imperialismus, mit den vorherrschenden reaktionären bürgerlichen Auffassungen, mit der reformistischen Ideologie, dem rechten und 'linken' Opportunismus und der Politik und Ideologie des Maoismus zu filhren." 14 Aus Anlaß des 25jährigen Bestehens war das Institut am 21. Dez. 1976 zur "Akademie" erhoben worden. In der Grußadresse des SED-Zentralkomitees heißt es: "Das Institut filr Gesellschaftswissenschaften hat einen wichtigen Beitrag zur Theorie und Praxis des Sozialismus, zur wissenschaftlichen Leitung der sozialistischen Gesellschaft, zum geistig-kulturellen Leben und zur Auseinandersetzung mit dem Imperialismus und der bürgerlichen Ideologie geleistet. Entsprechend den großen Leistungen in der Forschung, der Ausbildung und bei der Propaganda des Marxismus-Leninismus hat das Politbüro des Zentralkomitees der SED beschlossen, das Institut ftlr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED in 'Akademie filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED' umzubenennen.'' 15 Anfang 1977 wurden im Zusammenhang der Umstrukturierung des Instituts in eine "Akademie" aus den bisherigen Lehrstühlen "Institute" gebildet. 16 Im Frühjahr 1984 begannen die wissenschaftlichen Diskussionsveranstaltungen von AfG-Mitg1iedern mit der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD zu aktuellen theoretischen Fragen, 17 die schließlich zum SED-SPD-Papier ftlhrten. II. Institutsausbau
Im Frühjahr 1962 wurde Otto Reinhold zum Direktor des Instituts berufen und behielt diese Position 37 Jahre lang bis zum November 1989 inne. Reinhold war
13 SAPMO-BA, DY 30, vorl. SED/37782; Weisung des Rektors 4/1979: »Ordnung Uber die Durchfilhrung der Forschungsplanung an der Akademie filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (Planungsordnung)«, Mai 1979, S. I. 14
15
16
17
Ebd. Kurze Chronik, S. 99 f. Ebd., S. 105.
Ebd., S. 167.
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ebenso (1967-89) wie die Institutsdirektoren Erich Hahn18 (1976-89) und Hans Koch 19 (1976-86) langjähriges Mitglied des SED-Zentralkomitees. Diese Präsenz war auch ein Zeichen der politischen Wertschätzung der Akademie. Die wachsenden Bedürfnisse der SED nach empirischen Herrschaftswissen filhrte Ende 1963 zur Bildung einer selbständigen Abteilung fiir soziologische Forschung. 20 Zugleich fiihrten die wachsenden ideologischen Aufgaben zu einer Differenzierung fast aller Lehrstuhleinheiten. Am Lehrstuhl Geschichte der Arbeiterbewegung, wurden mehrere neue Forschungsgruppen gebildet: "Geschichte der Bündnispolitik der SED", "Geschichte der ökonomischen Politik der SED", "Marx-Engels-Forschung und Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert" und "Historiographiegeschichte und geschichtsideologische Auseinandersetzung". Im Jahre 1964 wurde am Lehrstuhl Politische Ökonomie die Fachrichtung "Landwirtschaft« eingerichtet. Es folgten die Fachrichtungen: "Wissenschaft", "Wissenschaftlichtechnische Revolution", "Außenwirtschaft" und "Sozialistische Produktionsverhältnisse" bis Ende der 1960er Jahre 21 Im Mai 1967 wurde durch die Gründung des Lehrstuhls fiir Imperialismusforschung ein neues und ideologisch sehr ergiebiges Forschungsfeld erschlossen.22 Im Jahre 1968 erfolgte dann die Bildung des Lehrstuhls ftlr Ge-
18
Erich Hahn, geb. 1930 in Mannheim, Vorsitzender des Wiss. Rats filr marx.-lenin. Philosophie, 1966-71 Ltr. des Lehrstuhls marx.-lenin. Soziologie(!) am 11G, 1971-90 Dir. des Inst. filr marx.lenin. Philosophie an der Aro. In den 60er Jahren war H. in wissenschaftspolit. leitender Stellung beteiligt an der Etablierung der soziolog. Forschung in der DDR. Als Vorsitzender des Wiss. Rats ftlr Philosophie war H. in den 70er u. 80er Jahren verantwortlich filr die Koordinierung u. zentrale Planung sowie die ideolog. Kontrolle der philosoph. Forschung in der DDR, ab 1976 Kandidat, 1981-89 Mitglied des ZK der SED; Wer war Wer in der DDR, S. 304. 19
Hans Koch, geb. 1927 in Liebschwitz (Kr. Gera), 1986 Suizid, 1945 in KPD, 1946 in SED, 1950 1. Einjahreslehrgang der PHS; 1951 Instrukteur filr kulturelle Massenarbeit in der ZK-Abt. Kultur; 1951-56 Aspirant am IIG, 1956 dort Promotion, 1956-63 stellv., dann Lehrstuhlleiter filr marx.-lenin. Kultur- u. Kunstwiss. am IIG; 1959 Ernennung zum Dozenten, 1961 Habilitation, 1961 Prof., ab 1963 Abgeordneter der Volkskammer in der Kulturbund-Fraktion, 1969 Lehrstuhlltr. am IIG, ab 1977 Dir. des Inst. filr Kultur- u. Kunstwiss. der Atti; ab 1976 Kandidat, 1981-86 Mitglied des ZK der SED, im Herbst 1986 Freitod- erstmalig in der DDR-Geschichte wird der Selbstmord eines Spitzenfunktionars in den Medien erwahnt; Wer war Wer in der DDR, S. 445 f.
°Kurze Chronik, S. 37.
2
21
Ebd., S. 41 u. S. 62.
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Ebd., S. 49.
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schichte der internationalen Arbeiterbewegung,23 dem das weite Feld des proletarischen Internationalismus und der weltweiten Befreiungsbewegungen zufiel. Im Frühsommer 1974 verfUgte Reinhold die Bildung einer Arbeitsgruppe »Wissenschaftlicher Kommunismus«, die zum I. Sep. 1974 ihre Tätigkeit beginnen sollte. 24 Mitte März 1975 erfolgte durch Rektorenweisung25 die Aufwertung der im Spätsommer 1974 gebildeten Arbeitsgruppe "Wissenschaftlicher Kommunismus" zu einem Lehrstuhl. Zu den Hauptaufgaben des neuen Lehrstuhls gehörten u.a.: - Durchftlhrung von Forschungen zu speziellen Fragen der Strategie und Taktik des revolutionären Weltprozesses, zu Grundprozessen der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, zur fUhrenden Rolle der marxistischleninistischen Partei in der sozialistischen Gesellschaft, Zur Rolle der Arbeiterklasse, ihrer Entwicklung und Struktur in der sozialistischen Gesellschaft sowie zu Fragen der Leitung der Gesellschaft durch die Partei; - die Ausbildung des Nachwuchses, hier filr wurden ab dem Jahre 1986 acht planmäßige Aspiranturen filr die Promotion A eingerichtet; doch auch Promotion B sollten erfolgen. Ziel der Ausbildung war es, daß Parteifunktionäre erzogen werden, die in der Lage sind, wissenschaftlich selbständig zu arbeiten, die Politik der Partei wissenschaftlich begründet zu propagieren und erfolgreich die Werktätigen im Kampf um die Verwirklichung der Politik der Partei zu • • 26 orgamsieren· - die Herstellung und Pflege wissenschaftlicher Kontakte mit den Institutionen in den sozialistischen Bruderländern, insbesondere der UdSSR27 Die Forschungsergebnisse des Lehrstuhls sollten "in Form von theoretischen Verallgemeinerungen und prognostischen Aussagen der Parteiftlhrung zur Verfil28 gung gestellt werden." 23 Ebd.,
S. 53.
24 SAPMO-BA, DY 30, vor!. SED/37782; Weisung 211974: »Ober die Bildung, Aufgaben und Arbeitsweise der Arbeitsgruppe "Wissenschaftlicher Kommunismus" am Institut ftlr Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED«, 13. Juni 1974, S. 2. 25 SAPMO-BA, DY 30, vor!. SED/37782; Weisung 2/1975: »zur Bildung des Lehrstuhls Wissenschaftlicher Kommunismus am Institut ftlr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED«, 17. Mllrz 1975.
26 SAPMO-BA, DY 30, vor!. SED/37782; Weisung 2/1975: »zur Bildung des Lehrstuhls Wissenschaftlicher Kommunismus am Institut filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED«, 17. Marz 1975, S. 4. 27 Ebd.,
S. I.
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Der Lehrstuhl untergliederte sich in vier Fachbereiche: Entwickelte sozialistische Gesellschaft; Marxistisch-leninistische Partei und Arbeiterklasse; Politische Organisation, sozialistische Demokratie und Leitung der Gesellschaft; Auseinandersetzung und Geschichte der Theorie des wissenschaftlichen Korn• 29 mun1smus. Mit der Weisung 3175 des Rektors wurde dann am gleichen Tage, am 17. März 1975, in Umsetzung eines Politbüro-Beschlusses30 am IfG der »Wissenschaftliche Rat Wissenschaftlicher Kommunismus« gebildet, der "das zentrale beratende Organ der Wissenschaftsdisziplin" war. 31 Damit wurde die Richtlinienkompetenz und die forschungspolitische Kontrolle fil.r den Bereich "Wissenschaftlicher Kommunismus" am IfG angesiedelt. Diese Zuweisung erklärt auch die Aufwertung der Arbeitsgruppe zu einem Lehrstuhl. Bereits im Dez. 1972 waren aufgrund eines Beschlusses des SED-ZK-Sekretariats die Wissenschaftlichen Räte der DDR gebildet worden. Dem IfG war die Leitung von filnf Wissenschaftlichen Räten übertragen worden: Wiss. Rat fiir marx.-lenin. Philosophie; fiir politische Ökonomie des Sozialismus; fil.r marx.lenin. Kultur- und Kunstwissenschaften; fil.r soziologische Forschung und fiir Internationale Arbeiterbewegung. 32 Hinsichtlich der forschungspolitischen Steuerungsfunktion, welche das Institut/Akademie in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen wie Philosophie hatte, war die Schaffung einer Zentralstelle fil.r philosophische Information und Dokumentation im November 1964 ebenso von Bedeutung,33 wie die Gründung des "Wissenschaftlichen Rates fil.r soziologische Forschung der DDR" bei der Abteilung fil.r soziologische Forschung des Instituts im gleichen Jahre. 1965 erfolgte dann die Gründung der Zentralstelle fil.r soziologische Information und Dokumentation bei der Abteilung fil.r soziologische Forschung als
28
Ebd., S. 3.
29 Ebd.,
S. 2.
30 »Grundrichtungen zur Ausarbeitung des zentralen Planes der gesellschaftswissenschaftliehen Forschung filr den Zeitraum 1976-1980« vom 22. Okt. 1974. 31 SAPMO-BA, DY 30, vorl. SED/37782; Weisung 3/1975: »zur Bildung des Wissenschaftlichen Rates Wissenschaftlicher Kommunismus am Institut fllr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED«, 17. Mllrz 1975, S. I. 32
Kurze Chronik, S. 72.
33 Ebd.,
S. 40.
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Informationsorgan filr die gesamte Disziplin;34 (erst im Jahre 1969 folgte dann die Errichtung des Lehrstuhls filr Marx.-Lenin. Soziologie>·35 Im Mai 1978 kam es zu einer größeren Modifikation, als der Forschungsbereich "Sozialistische ökonomische Integration" auf Beschluß des Sekretariats des SED-Zentralkomitees aus dem "Institut fiir Politische Ökonomie des Sozialismus" herausgelöst und zu einem eigenständigen "Institut filr die Ökonomik des sozialistischen Weltsystems" umgebildet und aufgewertet wurde. An dem neuen Institut wurden drei Forschungsbereiche (FB) aufgebaut: 36 "Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des sozialistischen Weltsystems"; "Politökonomische Grundlagen der Zusammenarbeit und der sozialistischen ökonomischen Integration der Mitgliedsländer des RGW"; "Analyse der Beziehungen zwischen den RGW-Ländern und den kapitalistischen Industriestaaten sowie den Entwicklungsländern«. Im November 1982 wurde der Institutsname in »Institut fiir Ökonomie und Politik sozialistischer Länder" umgeändert und somit der bisherige globale Anspruch fallen gelassen.37 Angesichts der wachsenden volkswirtschaftlichen Probleme in der DDR wird zu deren wissenschaftlicher Lösung im Sep. 1981 im Institut filr Politische Ökonomie des Sozialismus der Forschungsbereich Planung und ökonomische Stimulierung gebildet, 38 ohne zu deren Lösung entscheidend beitragen zu können. Erst relativ spät, am 14. Okt. 1966, kam es zur Unterzeichnung einer Vereinbarung über die Zusammenarbeit mit der sowjetischen Schwesterinstitution und die Herausgabe gemeinsamer Publikationen.39 Insgesamt scheint das Verhältnis zur Akademie ftlr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU in Moskau eher gespannt gewesen zu sein. Die Spannungen rührten zum einen von wissenschaftlichen Rivalitäten, zum individuellen Mentalitätsunterschieden der leitenden Forscher her. 40 Insbesondere seit Gorbatschows Machtantritt Mitte der 34
Ebd., S. 44.
35
Ebd., S. 57.
36 SAPMO-BA, DY 30, vorl. SED/37782; Weisung des Rektors 1/78: »Zur Bildung des "Instituts fur die Ökonomik des sozialistischen Weltsystems" an der Akademie ftlr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED«, 24. April 1978, S. I.
37
Kurze Chronik, S. 119.
38 Ebd.,
39
S. 142.
Ebd., S. 47.
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achtziger Jahre und den damit verbundenen gesellschaftspolitischen Klimaveränderungen gab es in den bilateralen Wissenschaftskontakten zwischen beiden Institutionen erhebliche Spannungen. Bei den Beratungen mit den sowjetischen Kollegen über die geplante gemeinsame Untersuchung über die "Einfiihrung von Schlüsseltechnologien soziale und weltanschauliche Probleme der Persönlichkeitsentwicklung" 41 im Mai 1987 zeigten sich die Einflüsse der Perestroika auf die Sichtweise der KPdSU deutlich. So bezeichnete der Rektor der Schwesterinstitution, Janowski, die Vorbereitungen der bilateralen Forschungsgruppe bereits "als ,Umgestaltung' in der Forschung und internationalen Kooperation."42 Eine Bewertung, die in den Ohren der reformunwilligen DDR-Hardliner wie eine Drohung klingen mußte. Im Jahre 1968 kam es zur Aufnahme von offiziellen Arbeitsbeziehungen zum »Institut ftl.r Marxistische Studien und Forschungen (IMSF)« in Frankfurt!M. und zum Beginn der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit dieser DKP-nahen Einrichtung,43 die auch eine regelmäßige Teilnahme westdeutscher DKP-Vertreter an Veranstaltungen der Akademie miteinschloß.
111. Publikationstätigkeit Die Dokumentation der Arbeitsergebnisse der AfG erfolgte in unterschiedlichen Formen, wobei die wichtigsten nachfolgend kurz charakterisiert werden: als "Information": "kurze zusammenfassende Darlegung der Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit zur Information der Parteiftihrung, der Abteilungen des Zentralkomitees, zentraler Gewerkschaftsleitungen sowie staatlicher Organe." 44 Der entsprechende Verteilerschlüssel war jeweils nach dem Inhalt festzulegen. 40 SAPMO-BA, DY 30, vorl. SED/42285; Siehe den »Bericht über die Dienstreise der Gen. R. Weidig, A. Kretzschmar, J. Schmollack, R. Millerund u. Schroter vom 4. Mai bis 14. Mai 1987 zur Akademie filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU in Moskau«. 41 SAPMO-BA, DY 30, vorl. SED/42285; dieser differenzierte Titel wird in einem, dem Bericht beigeftlgten Protokoll, S. I genannt.
42
SAPMO-BA, DY 30, vorl. SED/42285; Bericht ... , S. 3.
43 Kurze
Chronik, S. 53.
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als "Thematische Information/Dokumentation (TID)", die maximal 80 Seiten umfassen sollten und "zur Information der Parteifilhrung, der Nomenklaturkader des ZK und eines breiten Kreises von Gesellschaftswissenschaftlern der DDR und des sozialistischen Auslands" dienen sollte45 "Entsprechend dem unterschiedlichen Charakter und Verdichtungsgrad der Materialien" gab es drei Reihen: Reihe A: Analytisch-synthetische Informationen, Reihe B: Konferenzen und Tagungen und Reihe C: Dokumentationen; Darüber hinaus konnten Forschungsergebnisse als "Wissenschaftliche Studie" oder "Wissenschaftliche Analyse" verfaßt werden. Während Studien die theoretischen Auffassungen zu einem Problemkreis zusammenfassen ("Problemstudie") und dabei vor allem auch die Literatur der sozialistischen Bruderstaaten gebührend berücksichtigen und auswerten sollten ("Literaturstudie"),46 hatten Analysen die Aufgabe, konkrete "Prozesse der gesellschaftlichen Praxis"47 zu untersuchen und "Aussagen über das Wesen der ihnen zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten sowie künftig mögliche Entwicklungen" zu treffen. Die höherrangige Bedeutung gegenüber den Studien ergab sich daraus, dass durch die Analysen "Schlußfolgerungen fiir die Führungstätigkeit der Partei und die Weiterfiihrung der Forschungsarbeit" gezogen werden sollten; -als "Forschungsbericht", wenn "ein Teilproblem in relativ kurzer Zeit gesondert zu untersuchen und als selbständiges Zwischenergebnis" vorgelegt werden sollte. Forschungsberichte waren daher häufig Kollektivarbeiten mehrerer Autoren, die "ein fiir die Verwirklichung der Politik der Partei wichtiges gesellschaftliches Problem" behandelten48 - als Dissertation. Die an der AfG entstehenden Promotionsschriften hatten gleichfalls ein fiir die Realisierung der SED-Politik relevantes Gesellschaftsproblem zu behandeln, doch mußten sie darüberhinaus noch einen Beitrag zur
44 SAPMO-BA, DY 30, vor!. SED/37782; Weisung des Rektors 4/1979: »Ordnung Ober die Durchfilhrung der Forschungsplanung an der Akademie filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (Planungsordnung)«, Mai 1979, Anlage 2, S. I.
45
Ebd., S. 2.
46 SAPMO-BA, DY 30, vor!. SED/3 7782; Weisung des Rektors 4/1979: »Ordnung Ober die Durchfllhrung der Forschungsplanung an der Akademie fllr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (Planungsordnung)«, Mai 1979, Anlage 2, S. 2.
47
Ebd., S. 3.
48
Ebd.
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Theorie des Marxismus-Leninismus leisten und waren im Forschungsplan der 49 AfG festgelegt· . Schließlich wurde auch die Publikation der Arbeitsergebnisse in Form von Monographien, Broschüren und Zeitschriften- und Zeitungsartikeln behandelt. Hierbei war zu beachten, dass die Publikationen sich durch "Parteilichkeit, eine dem Leserkreis angemessene sprachliche Darstellung" befleißigten·50• Die Akademie filr Gesellschaftswissenschaften b. ZK d. SED erfilllte ihren Parteiauftrag der ideologischen Erziehung der werktätigen Massen auch durch die Herausgabe zahlreicher Publikationen. So erschienen in den Jahren 1967-88 insgesamt 53 Taschenbuchbände in der populärwissenschaftlich51 gehaltenen Schriftenreihe "Soziologie". Doch auch Kongreßberichte, 52 Probleme der sozialistischen Arbeitswele3 und schwer verdauliche ideologische Kost wurden der Leserschaft präsentiert.
49
Ebd., S. 4.
50 Ebd.,
S. 3.
51 Symptomatisch waren u.a. die Bande: Autorenkollektiv (Ltr.: Kurt Krambach): Wie lebt man auf dem Dorf. Soziologische Aspekte der Entwicklung des Dorfes in der DDR. Berlin (Ost) 1985; Autorenkollektiv (Ltr. : Fred Gras): Jugend und Sport. Berlin (Ost) 1987; Grundmann, Siegfriedl Schmidt, Ines: WohnortwechseL Volkswirtschaftliche und soziale Aspekte der Migration. Berlin (Ost) 1988; Autorenkollektiv (Ltr.: Manfred Lötsch): Ingenieure in der DDR. Soziologische Studien. Berlin (Ost) 1988.
52 Die Berichtsbande der drei soziologischen Fachkongresse: Lebensweise, Kultur, Persönlichkeit. Materialien vom II. Kongreß der Marxistisch-Leninistischen Soziologie in der DDR, 15. bis 17. Mai 1974. Berlin (Ost) 1975; Soziologische Probleme der Klassenentwicklung in der DDR. Materialien vom II. Kongreß der Marxistisch-Leninistischen Soziologie in der DDR, 15. bis 17. Mai 1974. Berlin (Ost) 1975; Lebensweise und Sozialstruktur. Materialien des 3. Kongresses der MarxistischLeninistischen Soziologie in der DDR, 25. bis 27. Marz 1980. Berlin (Ost) 1981 ; Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums. Materialien des 4. Kongresses der Marxistisch-Leninistischen Soziologie in der DDR, 26. bis 28. Marz 1985. Berlin (Ost) 1986. 53 Kretzschmar, Ute: Theorien des sozialen Handeins im Dienste der Monopole. Berlin (Ost) 1978; Glodde, Klaus!Henning, lngeborg: Der Einzelne und sein Arbeitskollektiv. Berlin (Ost) 1980; Schellenberger, Gerhard: Technische Neuerungen - sozialer Fortschritt. Berlin (Ost) 1980; Gerth, Werner/Ronneberg, Heinz: Jugend und Betriebsverbundenheit Berlin (Ost) 1981; Bohring, Günter!Ladensack, Klaus: Wie Leiter den wissenschaftlich-technischen Fortschritt bewältigen. Berlin (Ost) 1986; Autorenkollektiv (Ltr.: Gerhard Schellenberger): Technisch rationell, sozial effektiv. Soziale Komponenten technischer Entwicklung. Berlin (Ost) 1986; Autorenkollektiv (Ltr.: Toni Hahn!Rudolf Welskopj): Innovation und Motivation in Forschung, Entwicklung und Überleitung. Berlin (Ost) 1988.
54 Autorenkollektiv (Ltr.: Manfred Lötsch): Motiv zum Handeln. Gedanken zur soziologischen Motivationsanalyse. Berlin (Ost) 1980; Ma'lfred Lötsch): Die Intelligenz in der sozialistischen
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Als propagandistisches Schulungsmaterial fi1r die breite Masse der DDRBevölkerung waren die 67 Heftehen ,,ABC des Marxismus-Leninismus" konzipiert, von den Rektor Otto Reinhold 11 Ausgaben persönlich verfaßte. 55 Zahlreiche ABC-Nummern ließen bereits im Titel56 die plumpe ideologische Ausrichtung deutlich erkennen. Um ein enger eingegrenztes, stärker intellektuell ausgerichtetes Zielpublikum bemühte sich die zwölf Bände57 umfassende »Studienbibliothek der marxistischleninistischen Kultur- und Kunstwissenschaften«. Doch auch in dieser anspruchsGesellschaft. Berlin (Ost) 1980; Speigner, Wulfram: Vom Wittich, Dietmar: Über soziale Erfahrung. Zur Rolle der sozialen Erfahrung bei der Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit. Berlin (Ost) 1983; Kretzschmar, Albrecht: Soziale Unterschiede, unterschiedliche Persönlichkeiten? Zum Einfluß der Sozialstruktur auf die Persönlichkeitsentwicklung. Berlin (Ost) 1985; Autorenkollektiv (Ltr.: Dietmar Wittich): Konservative Gesellschaftsstrategie soziologisch begründet. Berlin (Ost) 1985. 55 Internationalisierung und Widersprüche im Imperialismus. Berlin (Ost) 1974; Entwickelte sozialistische Gesellschaft und Arbeiterklasse. Berlin (Ost) 1975; Partei und Sozialismus. Berlin (Ost) 1976; Proletarischer Internationalismus heute. Berlin (Ost) 1977; Oktober 1917. Berlin (Ost) 1977; Kann man ohne Arbeit glücklich leben? Berlin (Ost) 1979; Die Zukunft der Menschheit, Schicksal oder Aufgabe? Berlin (Ost) 1981; Die Wirtschaftsstrategie der SED. Berlin (Ost) 1982; Marx heute. Berlin (Ost) 1983; Gesellschaftsstrategien auf dem Prüfstand. Berlin (Ost) 1984; Die Gesellschaftsstrategie der SED und der Kampf um den Frieden. Berlin (Ost) 1987. 56 Fromm, Eberhard: Geistige Freiheit im Sozialismus. Berlin (Ost) 1975; Schwank, Karl-Heinz: Imperialistische Widersprüche in der Welt von heute. Berlin (Ost) 1976; Naumann, Gerhard: Kampfende Jugend der Welt, Kuba 1978. Berlin (Ost) 1978; Powitz, Gerhard: Was hat Frieden mit Kampf zu tun? Berlin (Ost) 1978; Wrona, Vera: Kann ich denken, was ich will? Berlin (Ost) 1979; Weichelt, Wo/fgang: Freiheit und Verantwortung in der sozialistischen Demokratie. Berlin (Ost) 1980; Neubert, Harald: Wer bedroht und wer verteidigt den Weltfrieden? Berlin (Ost) 1983; Kosing, Alfred: Wozu lebe ich? Vom Sinn des Lebens im Sozialismus. Berlin (Ost) 1983; Franke, Klaus: Für den Frieden aktiv, aber wie? Aktuelle Fragen eines persönlichen Engagements ftlr die Friedenssicherung. Berlin (Ost) 1984; Luft, Hans: Mein, dein, unser. Eigentum im Sozialismus. Berlin (Ost) 1984; Radtke, Gerd-Rainer: Kann ich forschen, wie ich will? Berlin (Ost) 1986; Schwank, Kar/-Heinz: Das Geheimnis der Lebenskraft des Marxismus-Leninismus. Berlin (Ost) 1986. 57 Fox, Ralph: Der Roman und das Volk. Hrsg. von Georg Seehase. Berlin (Ost) 1975; Plechanov, Georgij: Kunst und gesellschaftliches Leben. Hrsg. von Alexander Uschakow!Pjotr Niko/ajew. Berlin (Ost) 1975; Stol/, Ladislav: Kunst und ideologischer Kampf. Hrsg. von I/se Seehase. Berlin (Ost) 1975; Pavlov, Todor: Aufsatze zur Ästhetik. Hrsg. von Erhard John. Berlin (Ost) 1975; Zetkin, C/ara: Kunst und Proletariat. Hrsg. von Hans Koch. Berlin (Ost) 1977 (2. Aufl. 1979); Kultur in sozialistischen Ländern. Materialien der wissenschaftlichen Konferenz aus Anlaß der Gründung der Multilateralen Kommission ftlr Probleme der Kulturtheorie, der Literatur- und Kunstwissenschaften vom 22. bis 24. September 1976 in Berlin. Berlin (Ost) 1977; Blagoev, Dimityr: Das Leben und die Literatur. Kritische Aufsatze zur bulgarischen Literatur. Hrsg. von Eduard Bayer. Berlin (Ost) 1979; Lunacarskij, Anatolij V.: Vom Proletkult zum sozialistischen Realismus. Aufsatze zur Kunst der Zeit. Hrsg. von A. Jermakowa. Berlin (Ost) 1981; Kurel/a, A(fred: Das Eigene und das Fremde. Beitrage zum sozialistischen Humanismus. Hrsg. von Hans Koch. Berlin (Ost) 1981; Vorovskij, Vaclav: Literaturkritik im politischen Kampf. Hrsg. von Rosemarie Lenzer. Berlin (Ost) 1984.
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vollen Reihe kam es zu üblichen ideologischen Platitüden, die sich hier auf den kulturpolitischen "Weisheiten" Erich Honeckerss und des filr Kultur zuständigen S9 ZK-Sekretärs Kurt Hager gründeten. Wichtige "Grundfragen der marxistisch-leninistischen Philosophie" behandelte die gleichnamige Schriftenreihe, in der seit Anfang der 1970er Jahre über 40 Bände erschienen, in denen philosophische60 und historische61 Fragestellungen und Probleme aus ideologisch korrekter philosophischer Sicht behandelt wurden. Doch offensichtlich gab es seit Mitte der achtziger Jahre noch weitere spezielle "Philosophische Positionen", die es lohnte, in einer gesonderten Edition in 15 Bänden zu erörtem- 62• Zur forschungspolitischen Anleitung der Philosophie bzw. der Soziologie im Parteisinne sowie der zentralen wissenschaftlichen Dokumentation der erzielten Arbeitsergebnisse im jeweiligen Fach dienten die beiden im Jahre 1965 eingerichteten Arbeitsstellen: "Informationen aus dem philosophischen Leben der ss Die Kulturpolitik unserer Partei wird erfolgreich verwirklicht. Berlin (Ost) 1982. s9 Beitrage zur Kulturpolitik. Reden und Aufsatze 1972 bis 198 I. Berlin (Ost) 1981 (2. Aufl. 1982). 60 U.a.: Bartsch, Gerhard!Kiimaszewsky, GUnter: Materialistische Dialektik- ihre Grundgesetze und Kategorien. Berlin (Ost) 1973; Eichhorn, Wolfgang!Bauer, Adolf!Koch, Gisela: Die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Berlin (Ost) 1975; Eichhorn, Wolfgang: Dialektischer und historischer Materialismus, ein Bestandteil des Marxismus-Leninismus. Berlin (Ost) 1976; Hocke, Erich/Scheler, Wolfgang: Die Einheit von Sozialismus und Frieden. Zu philosophischen Problemen von Krieg und Frieden in der Gegenwart. Berlin (Ost) 1977; Dialektik des Geschichtsprozesses in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. 5. Philosophie-Kongreß der DDR, 21. bis 23. Nov. 1979 in Berlin. Berlin (Ost) 1980; Korch, Helmut: Die Materieauffassung der marxistisch-leninistischen Philosophie. Berlin (Ost) 1980; Wittich, Dieter: Warum und wie Lenins philosophisches Hauptwerk entstand. Entstehung, Methodik und Rezeption von ,,Materialismus und Empiriokritizismus". Berlin (Ost) 1985. 61 U.a.: Richter, Friedrich!Wrona, Vera: Arbeiterklasse, Weltanschauung, Partei. Eine philosophiehistorische Betrachtung zur Einheit der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse. Berlin (Ost) 1973 (2. Aufl. 1974); Kosing, Alfred: Nation in Geschichte und Gegenwart. Studie zur historisch-materialistischen Theorie der Nation. Berlin (Ost) 1976. 62 U.a.: Großmann, Horst: Frieden, Freiheit und Verteidigung. Berlin (Ost) 1985; Löther, Rolf: Mit der Natur in die Zukunft. Die naturliehen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens. Berlin (Ost) 1985; Philosophen im Friedenskampf Hrsg. von Wolfgang Eichhorn. Berlin (Ost) 1986; Hörz, Herbert: Was kann Philosophie? Gedanken zu ihrer Wirksamkeit. Berlin (Ost) 1986; Körner, Uwe: Vom Sinn und Wert menschlichen Lebens. Überlegungen eines Medizin-Ethikers. Berlin (Ost) 1986; Striebing, Lothar: Mit Kopf und Computer. Weltanschauliche Fragen der Computerentwicklung. Berlin (Ost) 1987; Hager, Nina: Der Traum vom Kosmos. Philosophische Überlegungen zur Raumfahrt. Berlin (Ost) 1988; Sozialistische Gesellschaft und Natur. Berlin (Ost) 1989; Liebscher, Heinz: Geist aus der Maschine? Philosophische Überlegungen zur kUnstliehen Intelligenz. Berlin (Ost) 1989.
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Deutschen Demokratischen Republik". Ab dem 12. Jg. (1986) unter dem Titel »Aus dem philosophischen Leben der DDR« fortgesetzt. Herausgegeben von der die "Zentralstelle filr Philosophische Information und Dokumentation an der Akademie filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED". "Informationen zur soziologischen Forschung in der Deutschen Demokratischen Republik" (ab dem 23. Jg. [1987] unter dem Titel "Soziologie" bis 26. Jg. [1990], H. 6) fortgesetzt. Herausgegeben von der "Zentralstelle filr Soziologische Information und Dokumentation an der Akademie filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED". In der Schriftenreihe "Wissenschaftlicher Kommunismus. Theorie und Praxis" erschienen seit dem Jahre 1980 insgesamt 13 Publikationen, die sich mit dem internationalen Situation63 und dem Entwicklungsstand der sozialistischen Gesellschaft beschäftigten.64
Am 5. Sep. 1955 erfolgte die Verteidigung der ersten Dissertation am Institut.65 In den dreißig Jahren bis 1985 folgten weitere 1.700 Doktorarbeiten, darunter auch 673 geheimgehaltene Dissertationen·66 • Zwischen 1951-1986 wurden 16 Wissenschaftler der AfG mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Sechs Wissenschaftler wurden zu Mitgliedern einer anderen Akademie in der DDR oder UdSSR ernannt. 67 Dies alles Zahlen, welche die forschungspolitische Bedeutung der AfG unterstreichen. 63 U.a.: Der Internationalismus der Arbeiterklasse. Berlin (Ost) 1981; Winter, Lothar: Das Proletariat in der Welt von heute. Wesen, Umfang, Strukturveranderungen. Berlin (Ost) 1982; Schafer, Monika: Nationalitätenpolitik der K.PdSU in Geschichte und Gegenwart. Berlin (Ost) 1982; Die sozialistische Gemeinschaft. Interessen, Zusammenarbeit, Wirtschaftswachstum. Berlin (Ost) 1985; Langer, Emil: Revolutionäre Vorhutparteien in Asien und Afrika. Berlin (Ost) 1986. 64 U.a.: Autorenkollektiv (Ltr.: Günther Hoppe): Die entwickelte sozialistische Gesellschaft, Ergebnis und Aufgabe des Kampfes der Arbeiterklasse. Berlin (Ost) 1980; Neubert, Harald: Die Lebensfrage der Menschheit. Historische, theoretische und strategische Überlegungen zur Friedenspolitik der marxistisch-leninistischen Parteien und sozialistischen Staaten. Berlin (Ost) 1980; Wissenschaftlich-technischer, ökonomischer und sozialer Fortschritt im Sozialismus. Berlin (Ost) 1981; Großer, Günther: Der Gegenstand des wissenschaftlichen Kommunismus. Methodologische Probleme seiner Bestimmung. Berlin (Ost) 1981 ; Reißig, Rolti'Berg, Frank: Arbeiterbewegung und demokratische Alternative. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven. Berlin (Ost) 1986. 65 Hemmerling, Joachim: Das allgemeine Vertragssystem - ein Mittel zur Aufstellung und Erfilllung des Volkswirtschaftsplanes bei der Leitung der volkseigenen Industriebetriebe in der Deutschen Demokratischen Republik. Diss. 1955.
66 Bibliographie der geheimen DDR-Dissertationen!Bibliography of Secret Dissertations in the German Democratic Republic. Hrsg. u. eingeleitet von Wilhelm Bleek/Lothar Mertens. Monehen u.a. 1994, S. 54-105.
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Kurze Chronik, S. 193.
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Anhang Struktur der Akademie für Gesellschaftswissenschaften b. ZK d. SED68
Rektorat Rektor; Prorektor fUr Forschung; Prorektor fiir Aus- und Weiterbildung; Institute (und Forschungsbereiche) Institut für Marx.-Lenin. Philosophie (6 Fb): Dialektischer Materialismus; Historischer Materialismus; Marx.-Lenin. Ethik; Geschichte der Philosophie; Wissenschaftlicher Atheismus; Kritik der bürgerlichen Ideologie. Institut für Politische Ökonomie des Sozialismus (4 Fb ): Sozialistische Produktionsverhältnisse und ökonomische Gesetze; Wissenschaftlich-technischer Fortschritt; Landwirtschaft; Planung und ökonomische Stimulierung. Institut für Wissenschaftlichen Kommunismus (5 Fb): Politisches System; Sozialistische Demokratie; Sozialistische Lebensweise; Jugendpolitik der SED; Sozialismus und Systemauseinandersetzung. Institutfür Marx.-Lenin. Kultur- und Kunstwissenschaften (4 Fb): Kulturelles Erbe; Sozialistischer Realismus; Marx.-Lenin. Kulturtheorie; Imperialismusforschung. Institut für Marx.-Lenin. Soziologie (3 Fb): Sozialstruktur in der sozialistischen Gesellschaft; Sozialistische Persönlichkeit und wissenschaftlich-technischer Fortschritt; Klasse der Genossenschaftsbauern und sozialistische Lebensweise auf dem Lande. Institut für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (5 Fb): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von 1917 bis 1945; Sozialistische Nation und Geschichtsbewußtsein; Geschichte der Wirtschaftspolitik der SED; Geschichte der Bündnispolitik der SED; Bürgerliche Historiographie und geschichtsideologische Auseinandersetzung. Institut für Internationale Arbeiterbewegung (5 Fb): Grundfragen der kommunistischen Weltbewegung; Kommunistische Parteien sozialistischer Länder; Kommunistische und Arbeiterparteien kapitalistischer Länder; Kommunistische und Arbeiterparteien der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas; Sozialistische Länder Süd- und Südostasiens. Institutfür Ökonomie und Politik sozialistischer Länder (3 Fb): Ökonomische Grundfragen der Entwicklung des sozialistischen Weltsystems und der sozialistischen Länder; Politökonomische Grundlagen der sozialistischen öko68
Ebd., S. 194 ff.
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nomischen Integration; Ökonomische Beziehungen der Mitgliedsländer des RGW zu kapitalistischen Industrieländern und Entwicklungsländern.
Institut für Imperialismusforschung (3 Fb): Reproduktionsbedingungen der Arbeiterklasse und der Kampf der Gewerkschaften; Bewußtheit und politische Organisiertheit der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Industrieländern; Politische Ökonomie des Kapitalismus. Außerdem bestand ein eigenständiger Forschungsbereich "Arbeiterbewegung und Jugend".
V. Einigungsaspekte
Wege des Bemühens um die nationale Einheit in der Zeit des Kalten Krieges Von Gerhard Wettig
Spätestens seit dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges Mitte 1947 war die Systemfrage das Kernproblem der deutschen Einheit. Für die sowjetische Führung und ihre Gefolgschaft in der SBZ/DDR war allein ein "demokratisches und friedliebendes Deutschland", d.h. ein Staat mit sozialistischer Ordnung und unter kommunistischem Regime, akzeptabel. Die Westdeutschen forderten demgegenüber mit Unterstützung der Westmächte eine "Wiedervereinigung durch freie Wahlen", d.h. ein auf demokratische Selbstbestimmung gegründetes Gesamtdeutschland, dessen Ordnung vorhersehbarerweise westlich-demokratisch sein würde. Angesichts dieses grundlegenden Gegensatzes stellte sich die Frage, wie die nationale Einheit dann noch zu erreichen sein sollte. In der Bundesrepublik wurden dazu verschiedene Vorstellungen und Konzepte entwickelt. I. Die Vorstellung eines einheitlichen Deutschlands zwischen den Blöcken
Anders als Kurt Schumacher an der Spitze der SPD und Konrad Aderrauer im bürgerlichen Lager hofften viele Deutsche während der frühen Nachkriegszeit, daß die nationale Einheit gewahrt werden könne, wenn man einen zwar wesentlich westlich-demokratischen, aber außerhalb der Blöcke stehenden Staat aufbaue. Ein markanter Verfechter dieses Konzepts war der Berliner CDUPolitiker Jakob Kaiser, der noch lange nach seiner Absetzung durch die Sowjetische Militäradministration im Dezember 1947 an die Schaffung einer "Brücke zwischen Ost und West" dachte. Ende der vierziger Jahre machte der "Nauheimer Kreis" um Ulrich Noack von sich reden, der filr ein außen- und sicherheitspolitisch neutrales Deutschland eintrat. Führende Kreise in den westlichen Ländern und - noch weit schärfer - die Regierung der UdSSR lehnten dies freilich von vornherein ab. Der Gedanke, die Teilung durch Distanz zu den beiden Blöcken zu überwinden, wurde zum Kristallisationspunkt der innenpolitischen Ausein-
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andersetzung in der Bundesrepublik, als Gustav Heinemann Anfang Oktober 1950 Adenauer vorwarf, er habe den Westmächten die Wiederbewaffnung angeboten und damit der Sache der deutschen Einheit schweren Schaden zugefUgt, und eine nationale Opposition gegen die Regierungskoalition zu organisieren suchte. Der Kreml, so meinte er, könne und müsse durch den Verzicht Bonns auf Militär und Westbündnis dazu bewogen werden, eine Wiedervereinigung zu demokratischen Bedingungen zuzulassen und demgemäß die DDR preiszugeben. 1 Zusammen mit seinen Mitstreitern Martin Niemöller und Helene Wessei sah er in der sowjetischen Deutschland-Note vom 10. März 1952 die Bestätigung dafilr, daß sich die Einheit auf diese Weise erreichen lasse. Auch der "Kaiser-Flügel" in der CDU plädierte filr Verhandlungen des Westens mit Moskau. Adenauer dagegen sah in der sowjetischen Initiative einen gefii.hrlichen Versuch, die Bundesrepublik von den Westmächten zu trennen. Manche von denen, die- wie insbesondere Thomas Dehler - später dem Bundeskanzler seine ablehnende Haltung vorwarfen, teilten damals noch seine Auffassung, daß sich Deutschland nicht aus dem Ost-West-Konflikt ausklinken könne. 2 Als die Vier Mächte Anfang 1954 zu Verhandlungen über die deutsche Frage zusammentraten, zeigte sich keine Seite an einer einvernehmlichen Lösung des Problems interessiert.3 Damit verlor der Neutralitätsgedanke seine politische Relevanz.
1 Zur östlichen Sicht des Vorgangs vgl. Michael Lemke, Die infiltrierte Sammlung. Ziele, Methoden und Instrumente der SED in der Bundesrepublik 1949-1957, in: Ti/man Mayer (Hrsg.), ,,Macht das Tor auf." Jakob-Kaiser-Studien, Berlin 1996, S. 182-185.
2 Hans-Erich Volkmann, Das innenpolitische Ringen um die EVG, in: Anfllnge westdeutscher Sicherheitspolitik, hrsg. vom Militargeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 2: Die EVG-Phase, München 1990, S. 310-330; Hennann Gram!, Nationalstaat oder westdeutscher Teilstaat? Die sowjetischen Noten vom Jahre 1952 und die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte ftlr Zeitgeschichte, 1977, S. 821-864; Hermann Gram/, Die Legende von der verpaßten Gelegenheit. Zur sowjetischen Notenkampagne des Jahres I 952, in: Vierteljahrshefte ftlr Zeitgeschichte, 1981, S. 307-341; Peter März, Die Bundesrepublik zwischen Westintegration und Stalin-Noten. Zur deutschlandpolitischen Diskussion 1952 in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der westlichen und der sowjetischen Deutschlandpolitik, Frankfurt!Main 1982; Manfred Kittel, Zur Genesis einer Legende. Die Diskussion um die Stalin-Noten in der Bundesrepublik 1952-1958, in: Vierteljahrshefte ftlr Zeitgeschichte, 1993, S. 355-390; Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Berlin 1994, S. 690-693.
3 Nikolaus Katzer, "Eine Übung im Kalten Krieg". Die Berliner Außenministerkonferenz von 1954, Köln 1994; Hermann-Josef Rupieper, Die Berliner Außenministerkonferenz von 1954. Ein Höhepunkt der Ost-West-Propaganda oder letzte Möglichkeit zur Schaffung der deutschen Einheit? in: Vierteljahrshefte filr Zeitgeschichte, 34 (1986), S. 427-453 (mit hinzugefugten Dokumenten aus dem Archiv des State Departrnent in Washington).
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II. Adenauers "Politik der Stärke" Adenauer vertrat nachdrücklich die Ansicht, eine Wiedervereinigung auf der Grundlage freier Wahlen sei nur an der Seite der Westinächte zu erreichen. Mehr noch: Eine ebenso enge wie dauerhafte Integration der Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft einschließlich ihres Bündnisses erschien ihm unerläßlich, um die deutsche "Einheit in Freiheit" zu erlangen. Nur so könne man den Rückhalt fmden, der zunächst zur bloßen Selbstbehauptung und später zur Durchsetzung des Vereinigungswillens gegenüber der UdSSR notwendig sei. Damit hatte der Bundeskanzler nicht nur die "Politik der Stärke" im Auge, die darin bestand, durch das Zusammengehen mit den westlichen Staaten jenes Gewicht zu gewinnen, das die sowjetische Besatzungsmacht künftig zur Freigabe der DDR veranlassen könne. Ebenso wichtig war der Gesichtspunkt, daß die auswärtigen Mächte nur darm ein durch Vereinigung größer werdendes Deutschland akzeptieren könnten, .wenn dieses international verflochten und damit jeder gefiilirlich erscheinenden Unberechenbarkeit entkleidet sei. Wie Adenauers Kritiker zu recht geltend machten, war die sowjetische Führung gewiß noch weniger geneigt, einem westlich integrierten als einem militärisch neutralisierten einheitlichen Deutschland zuzustimmen. Zum einen schien das jedoch bedeutungslos, weil vorerst ohnehin nicht mit einem Ja des Kreml zur deutschen Einheit zu rechnen war. Zum anderen war der Bundeskanzler davon überzeugt, die UdSSR werde, wenn der Westen einig und stark sei, in absehbarer Zukunft wegen kritischer innerer und/oder äußerer Entwicklungen genötigt sein, eine Verständigung mit den Westmächten und der Bundesrepublik zu suchen. Das werde der Augenblick sein, an dem sie zur Preisgabe der DDR und zum Einverständnis mit einer demokratischen Wiedervereinigung Deutschlands veranlaßt werden könne.4 Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 nahm Bundesregierung und Öffentlichkeit die Zuversicht, daß es dazu kommen werde. 111. Das Konzept der "Neuen Ostpolitik" In West-Berlin wurden die Folgen der verschärften östlichen Abriegelungspolitik am frühesten und deutlichsten spürbar: Das in der deutschen Bevölkerung weiterbestehende Bewußtsein der nationalen Einheit, das bis 1961 durch vielfliltige persönliche Kontakte und Verbindungen aufrechterhalten 4 Hans-Peter Schwarz, Die deutschlandpolitischen Vorstellungen Konrad Adenauers 1955 - 1958, in: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Entspannung und Wiedervereinigung. Deutschlandpolitische Vorstellungen Konrad Adenauers 1955- 1958, Rhöndorfer Gesprache Bd. 2, Stuttgart- ZUrich 1979, S. 7-40 (insbes. 17-22).
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worden war, drohte durch deren weitgehenden Wegfall verlorenzugehen. Der Kreis um den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt machte sich am frühesten und intensivsten Gedanken darüber, wie man der Gefahr begegnen könne. Egon Bahr entwickelte im Laufe der sechziger Jahre unter dem Motto "Wandel durch Annäherung" ein schlüssiges Konzept. Wenn man nicht gegen die UdSSR Deutschland-Politik machen konnte, dann mußte man es mit ihr versuchen - ohne freilich auf die enge Verbindung mit den Westmächten, vor allem mit den USA, zu verzichten. An ein Tauschgeschäft demokratische Vereinigung gegen militärische Neutralität, wie es die bürgerlichen Widersacher Adenauers in den ftlnfziger Jahren gewollt hatten, war ohnehin nicht zu denken, seitdem das Bestreben des Kreml offen auf die Vollendung des Teilungszustandes abzielte. Daher konnte es bis aufweiteres nur darum gehen, die Ost-West-Lage im Blick auf die inner-deutschen Verhältnisse zu entspannen, auf eine Milderung der Teilungsfolgen hinzuarbeiten und schließlich einen Modus vivendi in den strittigen Fragen herbeizufilhren. Als Weg dazu faßte Bahr eine Annäherung an die östliche Seite und ein gewisses Eingehen auf ihre Wünsche ins Auge. Den "Schlüssel", der die verschlossene Tür der wechselseitigen Verständigung öffnen sollte, suchte er in Moskau. Von dort aus sollte vor allem die Widerstandshaltung der DDR aufgebrochen werden. Der Chefplaner der ,,neuen Ostpolitik", die seit Herbst 1969 in die Praxis umgesetzt wurde, verband damit weitergehende Hoffnungen. Auf lange Sicht sollte die Politik der Annäherung allmählich einen Wandel der östlichen Haltung in der deutschen Frage bewirken, der zuletzt in ein Einvernehmen über die demokratische Vereinigung Deutschlands einmünden werde. Wie bei Reinemann und seinen Mitstreitern lag dem die Überzeugung zugrunde, daß das Interesse des Kreml an militärischer Sicherheit dabei eine entscheidende Rolle spielen werde. Der Wille, an der DDR und deren sozialistischem System festzuhalten, werde dahinter zurücktreten. Bahr war demzufolge der Ansicht, daß dann die NATO als antisowjetisches Bündnis einem System der europäischen Sicherheit Platz machen müsse, das den Bedürfuissen aller Länder des Kontinents entspreche und so die Blockgrenzen überwinde. 5 IV. Bahrs Variante der "militärischen Entspannung"
Das Aktionsprogramm wurde von 1970 bis 1972 erfolgreich bis zur Vereinbarung eines Modus vivendi vorangetrieben. Die geringen Fortschritte der folgenden Jahre ließen sich mit dem Hinweis erklären, daß mit dem 5 Egon Bahr, Zu meiner Zeit, MUnchen 1996, S. 152-159, 226-247; Andreas Voglmeier, Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996, S. 59-117.
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Durchschreiten der ersten Etappe die vorerst wichtigsten Ziele erst einmal erreicht worden seien. Außerdem habe man nach den Anstrengungen eine Pause erwarten können. Am Ende des Jahrzehnts kam es jedoch zu einer Entwicklung, welche die weitere Perspektive in Frage stellte. Die NATO sah sich durch den sowjetischen SS-20-Aufwuchs veranlaßt, eine "Nachrüstung" mit amerikanischen Raketen in Westeuropa vorzusehen, falls die UdSSR nicht Abstand von ihrem Raketenprogramm nehme. Bahr hatte kein Verständnis fUr die Sorge Helmut Schmidts und anderer westeuropäischer Führer, der Kreml könnte durch einseitig aufgebaute "euro-strategische" Kapazitäten eine politisch ausnutzbare Überlegenheit gewinnen. Er sah nur die "militärische Entspannung" gefährdet, von der er sich eine fortschreitende Konvergenz der Politik von Ost und West und im Endergebnis die Wiederherstellung der deutschen Einheit versprach. Das durfte man nach seiner Auffassung aufkeinen Fall zulassen. 6 Daraus zog Bahr nicht nur die Konsequenz, gegenüber der westlichen Politik das Erfordernis einer "gemeinsamen Sicherheit'' fUr beide Blöcke zu betonen, obwohl dagegen auch in Moskau Vorbehalte geltend gemacht wurden. 7 Er spielte auch eine ftlhrende Rolle bei der Abwendung der SPD von Bundeskanzler Schmidt, vom Kurs der NATO und von deren Führungsmacht und wirkte an antiatlantisch ausgerichteten Sicherheitskonzepten mit, welche die westdeutschen Sozialdemokraten zusammen mit der SED, der KPdSU und anderen kommunistischen Parteien des Warschauer Pakts vereinbarten. 8 Weil die Amerikaner, wie Bahr meinte, gegen das Gebot der "militärischen Entspannung" verstießen, wurde er seiner ursprünglichen Absicht untreu, in der Deutschland-Politik stets den Schulterschluß mit den USA zu suchen, und wandte sich der Sicherheitspolitik des sowjetischen Gegners zu. Hinzu kam das Gefiihl, in der deutschen Frage auf Moskau und dessen Verbündete angewiesen zu sein. Dissidenten und Oppositionelle im Imperium der UdSSR galten weithin als Störenfriede, welche die- als Vorbedingung der Verständigung zwischen Ost und West angeseheneStabilität bedrohten. Damit wandte man sich aber genau gegen jene Kräfte, die
6 Analyse des sicherheitspolitischen Hintergrunds bei Gerhard Wellig, Die lnstrumentalisierung von Bedrohungsvorstellungen und Streitkräftedaten im INF-Bereich [in den Auseinandersetzungen um die Nachrüstung der NATO 1980-1983), in: Eberhard Fomdran/Gert Krell (Hrsg.), Kernwaffen im Ost-West-Vergleich, Baden-Baden 1984, S. 339-414. 7 Der Palme-Bericht. Bericht der Unabhängigen Kommission ftlr Abrüstung und Sicherheit. "Common Security", (West-]Berlin 1982. 8 Wilfried von Bredow!Rudolf Horst Brocke, Das deutschlandpolitische Konzept der SPD, Erlanger Beiträge zur Deutschlandpolitik Bd. 2, Erlangen 1986; Ronald D. Asmus, Die Zweite Ostpolitik der SPD, in: Außenpolitik, 1/1987, S. 42-57; Dietrich Dowe (Hrsg.), Die Ost- und Deutschlandpolitik der SPD in der Opposition 1982 - 1989. Papiere eines Kongresses der Friedrich-Ebert-Stiftung arn 14. und 15. September 1993 in Bonn, Reihe Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert Stiftung Heft4,Bonn 1993.
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1989/90 den Wandel in Osteuropa vorantrieben und der deutschen Einheit positiv gegenüberstanden. V. Fazit vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung 1989/90 Die deutsche Wiedervereinigung nahm einen anderen Verlauf, als in irgendeinem der Konzepte vorgesehen war. Alle - Heinemann, Adenauerund Bahrwaren davon ausgegangen, daß es zu einer Übereinkunft über die Einheit Deutschlands mit einem weiter an der Macht bleibenden kommunistischen Regime kommen werde. Mit den grundlegenden Erschütterungen von System und Imperium, die der Zustimmung des Kreml 1990 vorausgingen, hatte in den filnfziger und sechziger Jahren noch niemand gerechnet. Daher war jeder davon ausgegangen, daß nur ein Verhaltenswechsel des Regimes - und nicht ein von innen oder unten kommender Wandel- die Vereinigung nach sich ziehen könne. Davon abgesehen, traf Adenauers Voraussage zu: Die Bereitschaft des Kreml, den gesamtdeutschen Staat auf demokratischer Grundlage zuzulassen, ergab sich nicht als Lohn langdauernden, bemühten Verhandelns, sondern aufgrund einer Situation, in der die Sowjetunion mit besonderen Herausforderungen konfrontiert war und sich daher auf ein kooperatives Verhalten der Westmächte und der Bundesrepublik angewiesen sah. Der Bundeskanzler lag auch mit der Ansicht richtig, das vereinigte Deutschland werde weder als Resultat eines Austauschs wesentlicher Zugeständnisse zwischen Ost und West noch durch sicherheitspolitische Abmachungen zustande kommen. Vielmehr werde das politische und wirtschaftliche Übergewicht des Westens die entscheidende Voraussetzung sein. Damit verband sich die zutreffende Einschätzung, daß sich der Schlüssel für die deutsche Einheit letztlich nicht bei der UdSSR, sondern bei der westlichen Hauptmacht, den USA, befand. Das zog die praktische Folge nach sich, daß, wie es A.denauer immer für notwendig und durchsetzbar gehalten hatte, die Westintegration einschließlich der Mitgliedschaft im Bündnis bestehen blieb. Als richtig erwies sich dabei die These, das vereinigte Deutschland mit seinem vergrößerten politischen Gewicht werde nur in dieser Einbindung für die anderen europäischen Staaten akzeptabel sein. Aufgrund dieses Befundes läßt sich ohne Übertreibung sagen, daß die westpolitische Orientierung, unter der die Bundesrepublik in den filnfziger Jahren angetreten ist, bei der Verwirklichung des Ziels der nationalen Einheit der bestimmende Faktor geblieben ist. Die große, in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende historische Leistung Bahrs und seines Mentors Brandt besteht darin, dem geteilten Deutschland durch die "neue Ostpolitik" bestmöglich über jene schwierige Zeit hinweggeholfen zu haben, in der es darum ging, die östlichen Abriegelungstendenzen zu begrenzen, ein gewisses Maß an innerdeutschen Kontaktmöglichkeiten zu gewährleisten und die politische Lage durch einen tragbaren Modus vivendi zu stabilisieren.
Identifikation und Distanz Ostdeutsche Meinungsbilder zur DDR-Gesellschaft und zum Einigungsprozen im Spiegel der Untersuchungsreihe "ident" 1990 bis 1999
Von Jürgen Hofmann
Im Sommer 1999 gaben 42 Prozent der befragten Ostdeutschen bei einer Forsa-Umfrage an, sie hätten sich "im Gesellschaftssystem der DDR alles in allem wohler gefilhlt als heute"; 31 Prozent verneinten dies und 18 Prozent vermochten keinen Unterschied auszumachen. 1 Mit der Demokratie zeigten sich im September 2000 laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest Dimap nur 46 Prozent der Ostdeutschen zufrieden, während unter den Westdeutschen die Zufriedenheitsrate 70 Prozent erreichte. Auch das wirtschaftliche System und der Rechtsstaat wurden bei dieser Befragung mit nur 38 bzw. 28 Prozent Zufriedenheit in den ostdeutschen Ländern vorwiegend kritisch reflektiert. Resümee der Meinungsforscher: "Viele Ostdeutsche sind weitaus unzufriedener mit den Lebensbedingungen im geeinten Deutschland als ihre Mitbürger im Westen." 2 Solche und ähnliche Umfragedaten nähren regelmäßig Befürchtungen, in den neuen Bundesländern bilde sich eine Tendenz der Verklärung der DDR-Gesellschaft heraus, die mit einer anhaltenden Distanz zur gesamt-deutschen Gesellschaft korrespondiere.3 Vereinzelt werden sogar "Symptome einer gewachsenen Entfremdung, einer Gegenidentifikation zum öffentlich proklamierten Wertekonsens" der Bundesrepublik ausgemacht. 4 Die Untersuchungsreihe "ident", deren Ergebnisse hier vorgestellt werden sollen, erfaßt seit einem Jahrzehnt Meinungsbilder der Ostdeutschen zum Einigungsprozeß, Rückblicke auf die DDR-Gesellschaft und DDR-Geschichte 1
2
Siehe "Die Woche" vom 27. August 1999, S. 6.
"Berliner Zeitung" vom 2. Oktober 2000, S. 2.
3 Siehe z. B. Thomas Rausch: Zwischen Freiheitssuche und DDR-Nostalgie. Lebensentwürfe und Gesellschaftsbilder ostdeutscher Jugendlicher, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/1999, S. 32 ff. 4 Hans-Jürgen Misse/witz: Annäherung durch Wandel. For eine neue Sicht auf die "innere Einheit" und die Rolle der politischen Bildung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 7-8/1999, S. 26.
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Jürgen Hofmann
als wesentliche Komponenten erfahrener Sozialisation sowie Urteile über die Gesellschaft der Bundesrepublik, die zunächst einen Erwartungs- und später einen spezifischen Erfahrungshorizont widerspiegeln. Ihr Anliegen ist es, die Zuordnung der ostdeutschen Bevölkerung zu Identitätsmustern und deren Veränderungen zu erfassen. Die Untersuchungsreihe ist ein Eigenprojekt der beteiligten Wissenschaftler. Die erste Erhebung sondierte im Juli 1990 die Situation der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion; die letzte das Meinungsbild im vierten Quartal 1999.s Die Untersuchungsreihe war von Anbeginn als Brietbefragung konzipiert und auf die neuen Bundesländer sowie die Berliner Ostbezirke ausgerichtet. Die angeschriebenen Personen wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Zum Einsatz kamen standardisierte Fragebögen mit wiederkehrenden Untersuchungskomplexen und einem Anteil variabler Fragen, die sich aus der jeweils aktuellen Situation ergab. Angesichts der Dynamik des gesellschaftlichen Umbruchs und des Einigungsprozesses ließ sich das Prinzip unveränderter Fragestellungen, wie es filr Langzeituntersuchungen eigentlich üblich ist, ohnehin nicht vollständig durchsetzen. Die Einbußen an Vergleichbarkeit mußten im Interesse der besseren Anpassung an völlig veränderte Situationen in Kauf genommen werden. Die Datensätze von insgesamt sechs Befragungen im Gesamtzeitraum erlauben, Entwicklungstrends im ostdeutschen Meinungsbild nachzuzeichnen. 6 In einem Interview beklagte der ehemalige Bundesbeauftragte filr die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Joachim Gauck, "daß viele Ostdeutsche das alte System heute auf eine merkwürdig pubertäre Art glorifizieren, daß sie ihre Erinnerung nicht benutzen, um der politischen Wirklichkeit ihres vergangeneo Lebens näher zu kommen, sondern um den Abschied von dem, was sie ja eigentlich ohnmächtig gemacht hat, hinaus-
5 Erhebungszeitraume und erfaßte Fragebogen: Juli 1990 = 11058; Dezember 1990 = 860; Man 1992 = 586; Oktober 1993 = 923; November/Dezember 1995 = 849; November/Dezember 1999 = 606. Die Datensatze sind unter dem Kennwort "ident" im Zentralarchiv fllr Empirische Sozialforschung an der Universitat zu Köln hinterlegt.
6 Zu bisherigen Auswertungen siehe u. a Jürgen Hofmann u. a.: Identitatskonflikte, Reaktionen und Neuorientierungen der ostdeutschen Bevölkerung beim Übergang in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Forschungsbericht fllr die Kommission zur Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundeslandern e. V., Projektnummer AG 5/38, Berlin 1992 (unveröffentlichtes Ms.); ders.: Zeitgeschichtliche Erfahrungen und Konflikte der Ostdeutschen beim Übergang in die Gesellschaft der Bundesrepublik. In: Heiner Meulemann!Agnes Elting-Camus (Hg.): 26. Deutscher Soziologentag. Lebensverhaltnisse und soziale Konflikte im neuen Europa. Sektionen, Arbeits- und Ad-hoc-Gruppen, Tagungsband II, Opladen 1993, S. 676 ff.; Helmut Meier!Erhard Weckesser (Hg.): Ost-Identitat- konjunkturelle Erscheinung oder langemistige Bewußtseinslage? Berlin 1996 (Gesellschaft-Geschichte-Gegenwart. 9); Jürgen Hofmann: Ostdeutsches WirBewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt? In: Heiner Timmermann (Hg.): Die DDR- Politik und Ideologie als Instrument, Berlin 1999 (Dokumente und Schriften der Buropaischen Akademie Otzenhausen. 86).
Identifikation und Distanz
433
zuzögern" 7 • In der Tat hat die demonstrative Abgrenzung von der DDRGesellschaft unter den Ostdeutschen in den letzten Jahren eher ab- als zugenommen. Die situationsbedingte und durch Bottäuschungseffekte potenzierte Kritik der Jahre 1989/1990 wich mit wachsendem zeitlichen Abstand einem stärker abwägenden Urteil. Ob dies als "nostalgische Beschönigung" oder vielmehr als Normalisierung des historischen Rückblicks zu bewerten ist, muß wohl filr einige Zeit noch strittig bleiben. Diagramm 1
Rückblick auf Leben in der DDR (Angaben in Prozent) Frage: Wie beurteilen Sie Ihr Leben in der DDR im Rückblick? oo r
---·--···························································-----···················································----
OO i---------------------~L---------------------~
m +------------------00 +-------------------00 +-------------------~ +-------~~~------
30 +--------+ 20 +--------; 10 +------'-."----;
0 Das sioo für mich die Habe aus dieser Zeit das beste!Vgute Jahre gey.esen Beste zu machen versucht
Ist für mich eine verlorene Zeit
Datenbasis: ident Die Sicht auf die DDR ist filr die meisten Ostdeutschen nach wie vor nicht vorrangig von politikwissenschaftlichen bzw. demokratietheoretischen Erwägungen geleitet und sie wird erst recht nicht ausschließlich vom jeweiligen Standpunkt zum politischen System bestimmt. Sie berührt vielmehr die eigene Lebensleistung und den Sinn persönlicher Biographien. Die jüngere Generation ist über ihre Eltern und Großeltern mittelbar ebenfalls von dieser Sinnfrage tangiert. Deshalb ist es auch 69,6 Prozent der Befragten nicht gleichgültig, wie die DDR heute bewertet wird. Nur 7,1 Prozent filhlen sich davon nicht berührt. 8 Daraus läßt sich aber kein genereller oder gar moralisierender Vorwurf "pubertärer" Unmündigkeit ableiten. 7
"Berliner Zeitung" vom 16./17. September 2000, Magazin-Beilage, S. 6.
8
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die Daten auf die ident-Erhebung von 1999.
28 nmmennann
434
Jürgen Hofinann
Das Meinungsforschungsinstitut Infratest Dimap ermittelte im Juli 1999 fi1r die Konrad-Adenauer-Stiftung, daß man nach Auffassung von 82 Prozent der Ostdeutschen auch zu DDR-Zeiten sein Leben mit Anstand und Würde meistern konnte. "Ganz offensichtlich unterscheiden die Bürger in den neuen Bundesländern sehr genau zwischen der staatlichen Ebene der DDR, die massiv kritisiert wird, und der individuellen, privaten Ebene, auf der trotz Unfreiheiten und Repressionen ein erfillltes Leben möglich war", 9 schlußfolgert der Autor der Studie. Eine Ostalgie-Gefahr bestehe nicht, da über 70 Prozent der Befragten eine Rückkehr zu alten Zeiten nicht wünschen und den Herrschaftspraktiken der SED kritisch gegenüberstehen. Ein Abflauen der Phase tiefer Enttäuschung und zugespitzter Kritik deutete sich bereits in der ersten Hälfte der 90er Jahre an. So war die Zahl derer, die ihr Verhältnis zum politischen System als "Anpassung ohne Überzeugung" beschrieben zwischen 1990 und 1993 von 52 auf 37 Prozent zurückgegangen. Zu einer Parteinahme fi1r das DDR-System bzw. zu einer positiven Einstellung bei partieller Kritik bekannten sich 1993 irnrnerhin 43 Prozent (1990 weniger als 30 Prozent).10 Stigmatisierende Pauschalurteile, wie die vom "Unrechtsstaat DDR" sind nach wie vor nicht mehrheitsfllhig. Dennoch ist die Sicht auf die DDR keineswegs unkritisch. Kritische Wertungen erfahren eine beachtlichen Zustimmung und werden nur von einer Minderheit völlig in Frage gestellt. Die Probanden, die kritischen Wertungen teilweise zustimmen, signalisieren ebenfalls eher Distanz zu den Mängeln und Verwerfungen der DDR-Gesellschaft als einen Hang zur "Beschönigung". Gleichzeitig artikuliert sich in dieser Reaktion jedoch eine Kritik an der DDR-Kritik, die den Befragten offensichtlich zwar nicht grundsätzlich falsch aber in ihrer Zuspitzung unangemessen erscheint. Über die Nuancen und Motivationen dieser großen Gruppe, geben die Untersuchungen leider nur bedingt Aufschluß. Den größten Zuspruch erflihrt eine Sichtweise, die Positives wie Negatives nicht ausblendet und die DDR-Gesellschaft in ihren Widersprüchen reflektiert. Hier ist sicher auch der Schlüssel fiir die teilweise Zustimmung zu den kritischen Urteilen über die DDR zu suchen, filr die sich deutlich mehr Probanden entschieden als ftir die jeweils polarisierenden Standpunkte. Die hohe Zustimmung, die das Deutungsmuster "gescheiterter Versuch einer gerechten Gesellschaft" erflihrt, ist in ihrer Aussage ambivalent, da sie sich sowohl auf den Versuch als auch auf das Scheitern beziehen kann. Die positive Bewertung, die die sozialistische Idee bei den Befragten nach wie vor erflihrt, 9 Wolfram Brunner: 10 Jahre nach dem Mauerfall: Die Bewertung der deutschen Einheit und der PDS in Ostdeutschland, Konrad-Adenauer-Stiftung. Analysen und Positionen, Sankt Augustin 1999, S. 5 f. 10
Siehe Infratest Kommunikationsforschung 10/1993-23.
435
Identifikation und Distanz
läßt jedoch den Schluß zu, daß mit der Zustimmung vor allem der Anspruch der DDR-Gesellschaft gewürdigt werden soll. Darauf deutet auch die kritische Bewertung hin, die die Gesellschaft der Bundesrepublik in Sachen Gerechtigkeit bei den Ostdeutschen erfährt. So bemängeln nach Angaben des Wohlfahrtssurvey 1998 immerhin 92 Prozent der Ostdeutschen die gerechte Verteilung des Wohlstandes und 77 Prozent die Chancengleichheit in der Bundesrepublik 11 Einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zufolge bezeichnen in den ostdeutschen Ländern zwei Drittel die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik als "eher ungerecht". 12 Im Gegensatz zur politischen Herrschaftspraxis der SED traf der Anspruch des sozialistischen Gesellschaftsprojektes und daraus resultierende Maßnahmen, wie die Sozialpolitik, auf recht breite Zustimmung und zeitigte "politische Loyalitätseffekte", ohne die die relative Stabilität der DDR über längere Zeiträume nicht zu erklären wäre. 13 Tabelle 1
Bewertung der DDR ( Angaben in Prozent)
Frage: Wie bewerten Sie heute die DDR? Sie war der Versuch eine zu gerechtere Gesellschaft errichten, der gescheitert ist.
Jahr
1990 1992 1993 1995 1999 In ihrer Entwicklung überwogen 1990 Fehler und Mißerfolge. 1992 1993 1995 1999 Sie war vor allem em 1993 Unrechtsstaat 1995 1999 Sie hatte, wie alle Staaten, 1993 positive und negative Seiten. 1995 1999 Datenbas1s: 1dent
Ja
Teilweise
Nein
63,4 59,5 65,3 74,8 72,9 40,2 25,2 19,7 29,9 39,8 18,7 18,2 23,4 78,0 78,7 71,6
19,3 27,5 18,5 14,9 17,3 38,5 39,8 36,7 44,2 45,9 29,9 33,9 40,6 15,2 15,4 22,4
12,2 9,0 9,4 6,6 7,1 15,9 29,9 35,6 19,6 9,9 42,6 42,8 32,7 3, I 2,2 2,8
11 Siehe Statistisches Bundesamt (Hg.): Datenreport 1999. Zahlen und Fakten Ober die Bundesrepubik Deutschland, Bonn 2000, S. 608. 12 Wolfram Brunner/Viola Neu: Freiheit oder Gleichheit? Ansichten Ober zenirale Werte in Ostdeutschland, St. Augustin 1999, S. 5. 13 Siehe Christoph Kleßmann: Arbeiter im ,,Arbeiterstaat". Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell und westdeutsches Magnetfeld, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/2000, S. 20- 28.
28•
436
Jürgen Hofmann
Um ein genaueres Bild von der retrospektiven Reflexion der DDR-Gesellschaft zu erhalten, müssen neben den unbestrittenen Demokratiedefiziten und Verletzungen der Freiheits- und Menschenrechte weitere Stichworte sowie Stereotype abgefragt werden, an denen sich Erinnerung polarisieren bzw. differenzieren kann. Die Untersuchungsreihe .,ident" hat 1990 und 1995 nach Charakteristika der DDR gefragt. Deutlich zu erkennen ist, wie sich die kritische Distanz zu tatsächlichen oder vermeintlichen Stärken der DDR ebenso relativiert wie die Kritik an Mängeln und Schwächen der DDR-Gesellschaft. Resignation, Bevormundung und Gängelei erschienen nach den ersten Erfahrungen mit der Bundesrepublik nicht mehr allein filr die DDR typisch. Zugleich erfahren tatsächliche oder vermutete Leistungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, des Wohnungsbaus und des Sports eine sichtliche Aufwertung. Aus der rückläufige Zustimmung zum Tatbestand der totalen Überwachung läßt sich auf keinen Fall auf die nachträgliche Akzeptanz dieser repressiven Praxis schließen. Hier ist eher eine Abwehrreaktion auf andauernde Medienkampagnen zu vermuten. Tabelle 2
Charakterisierung der DDR-Gesellschaft (Angaben in Prozent)
Frage: Was war Ihrer Meinung nach typisch fürdie DDR? Antwortvorgaben (Auswahl): Soziale Sicherheit Kinderfreundlichkeit Sportnation Verfall der Altbauten Zusammenhalt der Arbeitskollektive Wohnungsbau Wirtschaftliche Stagnation Totale Überwachung Gängelei und Bevormundung Gleichmacherei Resignation Datenbasis: 1dent
Dezember 1990
November 1995
Ja
Teilw.
Nein
Ja
Teilw.
Nein
61,9
30,2
3,6
74,4 81,6
19,0 12,6
2,2 1,9
87,9 88,5 83,5 74,6
9,1 7,9 11,3 16,8
0,6 0,8 1,6 2,7
24,0
55,1
16,3
73,2 46,7
20,8 40,8
1,9 8,4
61,6 72,6
31,0 19,4
2,0 5,0
46,6 42,0
39,9 36,2
6,5 17,3
73,4 44,8 46,7
20,5 32,7 40,5
3,4 7,3 7,3
40,4 30,8 18,4
42,9 43,8 50,7
12,5 18,1 24,4
Die Vermutung, die Altersgruppe der 45- bis 60jährigen, die beruflich und biographisch besonders eng mit dem DDR-System verbunden und von den Nachteilen der deutschen Einheit stärker betroffen war, neige überdurch-
Identifikation und Distanz
437
schnittlieh zu einer verklärenden Sicht der DDR-Vergangenheit und zur Rechtfertigung bestätigte sich in diesen Befragungen nicht. Die Reaktionen dieser Altersgruppe wichen kaum vom allgemeinen Durchschnitt ab. Im Gegenteil, bei ihr ist die Kritik an totaler Überwachung, Gängelei und Bevormundung etwas deutlicher ausgebildet als im Durchschnitt der Befragten und die Wertschätzung sozialer Sicherheit und des Wohnungsbauprogramms etwas geringer. In diesem Zusammenhang muß auf ein generelles Problem des gegenwärtigen öffentlichen Diskurses zur DDR-Geschichte verwiesen werden. Der Versuch, durch zugespitzte Kritik einer Verklärung der DDR entgegenzuwirken, fUhrt dazu, die Diskrepanz zwischen individuellen vielschichtigen Erfahrungen und den angebotenen teilweise vereinfachenden Deutungsmustern zu verschärfen, was die Glaubwürdigkeit der Kritik nicht erhöht. Dieser Konflikt fUhrt in der Regel zu einer Aufwertung und Stabilisierung individueller Erfahrung und zur verminderten Bereitschaft, diese im Kontext mit anderen, auch gegensätzlichen Wahrnehmungen kritisch zu prüfen. Anliegen eines aufklärenden Diskurses sollte es jedoch sein, individuelle Erfahrungen und Bewertungen sowie gesellschaftliche Deutungsmuster in ein produktives Spannungsverhältnis zu setzen, aus dem neue Einsichten wachsen können. Blockaden können vermieden bzw. abgebaut werden, "wenn historische Aufklärung auf Verständnis zielt und Verständigung bewirkt. 14 Selbstverständlich kann Geschichte, die von tiefgreifenden politischen Kontroversen geprägt war, nicht im Nachhinein harmonisiert werden. Dennoch sollten Bilder und Bewertungen von Zeitgeschichte wenigstens die Erfahrungswelt der Masse der Beteiligten in Rechnung stellen, ohne sich ihr unbedingt anzupassen. Offizielle Deutungsmacht kann zwar Individualerfahrung zeitweise in den Hintergrund drängen und stark überfonnen, aber letztlich nicht aufheben. Neben der offiziellen politischen Bildung ist ein Memory-Effekt in Rechnung zu stellen 15, der über vielfaltige private, familiäre und gesellschaftliche Mechanismen der Tradierung vermittelt wird und ebenfalls die Folgegenerationen beeinflußt 16, die keine DDR-Sozialisation erfuhren.
14
Hans-Jürgen Misse/witz: Annaherung durch Wandel, a a 0 ., S. 29.
15 Einen Versuch, Struktur und Inhalte ostdeutscher Erinnerungskultur aus alltagsgeschichtlichem Blickwinkel zu analysieren unternimmt Dietrich Mühlberg. Siehe ders.: "Leben in der DDR" warum untersuchen und wie darstellen? In: Evemarie Badstübner (Hg.): Befremdlich anders. Leben in der DDR, Berlin 2000, S. 648 ff.
16 Siehe Peter Förster: Die 25jahrigen auf dem langen Weg in das vereinte Deutschland. Ergebnisse einer seit 1987laufenden Langsschnittstudie beijungen Ostdeutschen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 43-44/99; Thomas Rausch: Zwischen Freiheitssuche und DDR-Nostalgie. Lebensentwürfe und Gesellschaftsbilder ostdeutscher Jugendlicher, in: ebenda B 45/99.
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Im Zusammenhang mit dem Historikerstreit der 80er Jahre verwies Jürgen Habermas darauf, daß unsere heutige Lebensform ,.mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden" ist "durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familiären, örtlichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen durch ein geschichtliches Milieu", aus dem sich niemand herausstehlen könne. 17 Für das vereinigte Deutschland muß in diesem Kontext jedoch die Spezifik veranschlagt werden, die sich aus der gerade ein Jahrzehnt zurückliegenden Teilungsgeschichte ergibt. Diese spaltete nicht nur die Erinnerung an die Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit; sie inaugurierte auch unterschiedliche Blickwinkel im Verhältnis zu Ereignissen und Prozessen zurückliegender Zeiträume, die immer noch nachwirken. 18 Das von Medien und Politikern angebotene offizielle Bild der DDRGesellschaft19 deckt sich nicht mit der Erinnerungswelt ostdeutscher Mehrheiten. Auf die Frage, wie sie den vorherrschenden Umgang mit der Geschichte der DDR bewerten, bescheinigen 46,9 Prozent der Ende 1999 befragten Ostdeutschen, daß er der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Nur 5, I Prozent sehen darin eine angemessene Widerspiegelung des tatsächlichen Geschehens. Über 28 Prozent empfmden den Umgang mit DDR-Geschichte als verletzend und nahezu jeder Zweite (44,4 Prozent) als teilweise verletzend. Ein Großteil der Befragten kennzeichnet das angebotene Bild über die DDR als einseitig negativ (39,3 Prozent) bzw. als teilweise zu negativ (38,4 Prozent). Ein ähnliches Meinungsbild erbrachte bereits die Erhebung 1995. Damals waren sogar 57, I Prozent der Befragten der Meinung, das vorherrschende offizielle Bild der DDR würde der Wirklichkeit nicht voll gerecht. Fast 45 Prozent charakterisierten es als ,.einseitig negativ" und weitere 32,5 Prozent "als verletzend". Berücksichtigt man die teilweisen Zustimmungen so ftlhlten sich zu diesem Zeitpunkt über 73 (verletzend) bzw. 84 (einseitig negativ) Prozent der Probanden vom verbreiteten DDR-Bild mehr oder weniger diskriminiert. Bevor jedoch mangelnde Lernbereitschaft unterstellt wird, wäre es
17 Jürgen Haberrmas: Über den öffentlichen Gebrauch der Historie. Das offizielle Selbstverstandnis der Bundesrepublik bricht auf, in: "Historikerstreit". Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvemichtung, Monehen 1988, S. 247.
18 Siehe Fe/ix Phi/ipp Ludz: Das Geschichtsbewußtsein der Deutschen. Grundlagen der politischen Kultur in Ost und West, Köln/Weimar/Wien 2000. 19 Den Orientierungsrahmen ftlr Öffentlichkeitsarbeit und politische Bildung geben die Materialien der Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages vor. Siehe Materialien der Enquetekommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages (Hg.), 9 Bande in 18 Teilbanden, Baden-Baden/Frankfurt a. M. 1995; Materialien der Enquetekommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages (Hg.), 8 Bande in 14 Teilbanden, Baden-Baden 1999.
Identifikation und Distanz
439
an der Zeit, das angebotene Bild einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. 20 Wenn es die ostdeutschen Adressaten nicht erreicht, geht er offensichtlich an deren mehrheitlichen Lebenserfahrungen vorbei und wird Aufklärungseffekte eher behindern als befördern. Auf die Frage, was das Zusammenwachsen von Ost und West gegenwärtig erschwere, nannten 1995 über 49 und 1999 über 55 Prozent der befragten Ostdeutschen "die ständige Abwertung der DDR durch Medien und Politik". Weitere 31 bzw. 29 Prozent stimmten dem teilweise zu. Die Beschönigung der DDR-Vergangenheit wird hingegen erst in jüngster Zeit als potentielles Hindernis im deutsch-deutschen Annäherungsprozeß stärker wahrgenommen. Während 1995 nur jeder zehnte dieses Problem sah, war es 1999 bereits jeder fünfte. Nach wie vor geteilt ist die Meinung dazu, welchen Anteil die Verurteilung von DDR-Funktionsträgern am Zusammenwachsen haben könne. Ablehnung und Befil.rwortung halten sich hier die Waage. In einer "unzulänglichen Verfolgung von DDR-Unrecht" sehen die meisten Probanden keine Belastung fUr das Zusammenwachsen. Solche Befunde, dies sei hervorgehoben, sagen nichts über den tatsächlichen Wahrheitsgehalt des kritisierten Geschichtsbildes aus. Sie machen lediglich darauf aufmerksam, daß es von großen Teilen der Bevölkerung nicht angenommen bzw. in Zweifel gezogen wird. Ist die Kluft zwischen offiziell verbreitetem Bild und Erinnerungswelt der Adressaten so groß wie in unserem Falle, besteht die Gefahr, daß sie sich vor allem schmerzlichen Wahrheiten und notwendigen Einsichten verweigern. Aufklärung über Tatsachen, Zusammenhänge und Hintergründe der Geschichte der DDR ist ohne Zweifel weiter von Nöten. In mancher holzschnittartigen und ausschließlich auf Herrschaftspraxis und Repression abgestellten Darstellung scheint jedoch die Praxis des Kalten Krieges fortzuleben, als sich beide Seiten über das "Feindbild" des anderen definierten und profilierten. Angesichts der getrennten Vergangenheit ist eine identitätsstiftende gemeinsame Erinnerung nicht a priori gegeben. Sie kann aber in einem Diskurs erarbeitet werden, an dem ostdeutsche Erinnerung angemessen beteiligt sein müßte. Kontroverse Urteile, die aus Betroffenheit und politischem Standort resultieren, sind damit nicht einzuebnen. Sie verlieren vor dem Hintergrund mehrheitlich getragener Bilanzen an Brisanz. 20 Siehe dazu u. a. Monika Gibas: "Die DDR- das sozialistische Vaterland der Werktatigen!". Anmerkungen zur Identitatspolitik der SED und ihrem sozialhistorischen Erbe, in: Aus politik und Zeitgeschichte, B 39-40/199, S. 21 ff. ; Christoph Kleßmann/Hans-Jürgen Misselwitz/Günter Wiehert (Hg.): Deutsche Vergangenheit- eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999; Jürgen Kocka: Geteilte Erinnerung. Zweierlei Geschichtsbewußtsein im vereinten Deutschland, in: Blatter filr internationale Politik, 43 (1998) I.
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Jorgen Hofmann
Die Distanz vieler Ostdeutscher zum gegenwärtig in Medien und Politik vorherrschenden DDR-Bild stellt die mehrheitlich kritische Grundsatzposition zur DDR-Gesellschaft nicht in Frage. Dies zeigt sich besonders deutlich in der retrospektiven Bewertung der Ereignisse der Jahre 1989/1990. Dieses letzte Jahr der DDR wird häufig ausgeblendet, gehört aber zu den prägenden Erinnerungen der Ostdeutschen. Im Rahmen der Untersuchungsreihe "ident" wurden zum Komplex der "Wendeereignisse" erstmals 1999 Daten erhoben, so daß sich Trends nicht ableiten lassen. Da jedoch in den ersten Erhebungen 1990 bereits Meinungen zu aktuellen Vorgängen erfragt wurden, sind partiell indirekte Rückgriffe auf die Ausgangssituation möglich. Tabelle 3
Bewertung von Ereignissen der Jahre 1989/1990 (Erhebung Okt. bis Dez. 1999; Angaben in Prozent)
Frage: Wie bewerten Sie die folgenden Erei nisse?
- Die Massenflucht von DDR-Bürgern im Sommer 1989 - Den Sturz Erich Honeckers im Oktober 1989 - Die Kundgebung auf dem Berliner Alex am 4. Nov. 1989 - Den Fall der Berliner Mauer am 9. Nov. 1989 - Die Demonstrationen unter der Losung: Wir sind ein Volk - Die Bildung der "Runden Tische" und deren Tätigkeit - Die Besetzung der Stasi-Zentrale am 15. Jan. 1990 - Die Volkskammerwahl im März 1990 -Den Umtausch der DDR-Mark in DM am 1. Juli 1990 -Die Zwei-plus-Vier-Gespräche von Mai bis September 1990 -Den Tag der deutschen Einheit am 3. Okt. 1990 Datenbasis: ident
Positiv
Teils/teils
Ne ativ
33,8
39,9
23,3
87,3
10,2
0,8
60,2
31,8
2,1
79,4
14,0
3,8
61 ,2
26,1
I 1,4
58,7
32,0
6,9
60,6 34,7
27,1 45,7
9,6 15,0
57,6
31,7
9,9
43,9
42,2
5,4
55,1
31,4
12,4
AuffiUlig an der Bewertung wichtiger Ereignisse 1989/1990 ist die Diskrepanz, die zur Gewichtung dieser Ereignisse anläßlich der Zehn-Jahres-Rückschau in den Medien besteht. Der Massenflucht vom Sommer I 989 wird auch nach zehn Jahren nur wenig Sympathie entgegengebracht. Auf sie konzentrieren sich die meisten Negativurteile und die wenigsten positiven Bewertungen. Die ersten
Identifikation und Distanz
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freien Volkskammerwahlen vom März 1990 haben in der Erinnerung ebenfalls nicht die herausragende Bedeutung, die ihnen die Zeitgeschichtsschreibung zuordnet. Dafilr werden alle Ereignisse, die filr den Umbruch der politischen Verhältnisse, den Sturz der SED-Herrschaft und filr die Wiedergewinnung politischer Mündigkeit stehen, mehrheitlich positiv bewertet. Die außerordentlich kleine Zahl von Negativurteilen bekräftigt diesen Befund. Tendenzen der Nostalgie lassen sich jedenfalls in diesen Befragungsergebnissen kaum ausmachen. Zwischen den Probanden, die ihre DDR-Bindung bekennen, und denen, die sich bereits als "BUrger(innen) der Bundesrepublik" sehen, gibt es zwar deutliche Bewertungsunterschiede, die Tendenz des Gesamtergebnisses bleibt aber erhalten. Der Geldumtausch und die Wiederherstellung der staatlichen Einheit werden positiv bewertet, rangieren aber nicht unter den Favoriten der zeitgeschichtlichen Positivliste. Hier könnten die Erfahrungen mit den Nebenwirkungen der deutschen Einheit zu Buche schlagen. Vor dem Hintergrund der großen Zustimmung zur Einheit - wir ermittelten im Juli 1990 fast 90 Prozent - sind die Bedenken meist nicht zur Kenntnis genommen worden. In diesen Bedenken sahen sich aber 1992 bereits über 63 Prozent und 1993 fast 75 Prozent bestätigt. 21 Tabelle 4
Bewertung des Staats- bzw. Einigungsvertrages in Ostdeutschland (Angaben in %)
Frage: Was halten Sie vom Staats- bzw. Einigungsvertrag zwischen der DDR und derBRD? Er kommt den Interessen der DDRBUrger weit entgegen Er berücksichtigt die Interessen der Bürger beider Teile ausgewogen Er vernachlässigt die Interessen der DDR-BUr er Datenbasis: ident und ISDA-Report
Juli 199(!2
Oktober 199(f3
Dezember J99(J4
6,9
12,6
20,6
52,6
32,6
22,3
39,3
51,3
55,3
Entgegen vielen Erwartungen wuchs die Zuordnung der Befragten zu Identitätsmustem, die eine ostdeutsche Herkunft oder Verortung zum Ausdruck 21 Siehe ident 92 und ident 93. Eine zusammenfassende Auswahl der Datensatze von 1990 bis 1995 in: Helmut Meier/Erhard Weckesser (Hg.): Ostidentitat- konjunkturelle Erscheinung oder Iangerfristige Bewußtseinslage? a. a. 0., S. 127 ff. (ftlr obigen SachverhaltS 131.) 22
Ergebnisse beziehen sich auf den Vertrag zur Wirtschafts-, Wahrungs-und Sozialunion.
23
Ergebnisse beziehen sich auf den Einigungsvertrag.
24
Ergebnisse beziehen sich ebenfalls auf den Einigungsvertrag.
442
Jürgen Hofmann
bringen, in den ersten filnf Jahren der staatlichen Einheit zunächst stark an. Diese Tendenz hat sich in der jüngsten Erhebung nicht fortgesetzt. Im Gegenteil: die Inanspruchnahme von ostdeutschen Identitätsmustern ist rückläufig. Gleichzeitig werden das nationale Identifikationsmuster und die Charakteristik als "Bürger(in) der Bundesrepublik" stärker als bisher in Anspruch genommen. Dies deutet darauf hin, daß sich die Ostdeutschen allmählich in der Gesellschaft der Bundesrepublik einrichten und ihr zuordnen. Dies findet auch seine Bestätigung, wenn nach dem individuellen Bezug für das Vaterland gefragt wird. Für 44,1 Prozent ist das vereinigte Deutschland die entscheidende Bezugsgröße. Die ehemalige DDR, auf die noch im Herbst 1993 jeder filnften Befragte (21,9 Prozent) seinen Vaterlandsbegriff bezog, ist inzwischen nur noch fiir 12,7 Prozent Ausgangsgröße des Vaterlandsverständnisses. Der Bezug auf die ostdeutschen Länder als Orientierungsrahmen für den individuellen Vaterlandsbegriff ist inzwischen gleichfalls rückläufig. Dennoch ist der Zuspruch zu ostdeutschen Identitätsmustern noch relativ groß. Ob er sich weiter verringert oder ob er sich auf etwas niedrigerem Niveau stabilisiert, kann gegenwärtig nicht mit Sicherheit prognostiziert werden. Ostidentität muß wohl inzwischen trotzdem als langfristiges Phänomen akzeptiert werden, auch wenn sie ihre Dominanz für die Selbstcharakteristik der Ostdeutschen verlieren sollte. Tabelle 5 Bevorzugte Identitltsmuster (Angaben in Prozent)25
Ich fühle mich vor allem als ...
Europäer( in) Deutsche(r) Bürger(in) der Bundesrepublik Ostdeutsche(r )26 ehemalige(r) DDR-Bürger(in/7 Berliner in , Thürin Datenbasis: ident
Juli
1990
Dez.
1990
47,9
45,8
32,5 18,8
19,3 34,2
März Okt.
Nov.
Dez.
24,8 48,2 13,2 34,7 40,0 43,1
19,2 53,4 17,8 41,2 35,1 41 ,8
21,6 62,4 23,6 31,7 33,7 40,3
1992 1993
21,7 46,4 19,5 42,4 44,7 41,3
1995
1999
Für die Interpretation dieser und anderer Meinungsumfragen zum Problemkreis der Identitätsbildung ist festzuhalten, daß Identität nicht mit absoluter Identifizierung gleichgesetzt werden kann. Die Zuordnung zu gängigen Identitätsmustern speist sich aus vielen, teilweise durchaus widersprüchlichen 2' Ursprünglich wurde eine Alternativentscheidung abgefragt. Ab 1992 wurden die Antwortvorgaben erweitert und den Probanden wurde eine Dreifachoption eingeräumt.
26 Diese Option ersetzte 1992 die Vorgabe .,Deutsche(r) aus der DDR". Die eindeutige Differenzierung zwischen verschiedenen ostdeutschen ldentitatsmustem war notwendig geworden, da die Probanden 1990 zwischen den Vorgaben wechselten, die Summe der Präferenzen filr ostdeutsche Jdentitatsmuster jedoch fast gleich blieb. 27
Die Vorgabe .,DDR-BUrger(in)" wurde 1990 dem veränderten Sachverhalt angepaßt.
Identifikation und Distanz
443
Quellen und ist letztlich die Resultante individueller und gruppenspezifischer Auseinandersetzung mit erfahrenen Prägungen und dem jeweiligen aktuellen Umfeld?8 Außerdem ist Identität vielschichtig und in der Regel nicht eindimensional. Zuordnungen zur nationalen Identität, zur DDR-Herkunft und zum jeweiligen Bundesland überlagern sich beispielsweise. Der hohe und über viele Jahre stabile Anteil der Verbundenheit mit dem eigenen Bundesland am ostdeutschen Identitätsbekenntnis wird häufig übersehen. Ostdeutsche Identität sollte nicht als Verweigerungshaltung interpretiert werden. So schließt beispielsweise die Option, vor allem Bürger(in) der Bundesrepublik zu sein, das gleichzeitige Bekenntnis zu ostdeutschen Identitätsmustern keineswegs aus. Immerhin betrachtet sich jeder dritte Proband, der sich als Bürger(in) der Bundesrepublik sieht, zugleich als Ostdeutscher bzw. ehemaliger DDR-Bürger. Obwohl Selbstbilder mit Fremdbildern einhergehen (z. B. Ossi-Wessi-Klischee) und deshalb stets ein Element der Abgrenzung enthalten, deuten die Befragungsergebnisse eher darauf hin, daß im Verhältnis zwischen Ostidentität und gesamtdeutscher Identität die Grenzen fließend sind. Ostdeutsches Selbstbewußtsein ist mit der Zuordnung zum Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland folglich durchaus vereinbar. Die Verflechtung und Überlagerung von Identitätsbezügen wird u. a. aus Tabelle 2 deutlich. Tabelle 6
Verhältnis der Identifikationsgruppen zu anderen Identifikationsmöglichkeiten 1999 (Angaben in Prozent)
Europäer /in
Europäer/in Deutsche/r Bürger/in der Bundesrepublik Ostdeutsche/r ehern. DDRBürger/in Berliner/in, Thürin er/in Datenbasis: ident
28,8
Deutschelr
54,2
Bürger/in der Bundesre ublik 31,3 22,0
Ostdeutschelr
19,8 23,3
28,7 13,5
58,0 45,8
8,9
11,9
15,2
57,4
14,7
28,9
20,1
61,5
23,8
28,7
Ehern. Berliner/in Thüringer DDRBürger/ !in etc. in 37,4 23,7 31,0 39,7
21,0 30,7
40,6 36,5 35,3
29,5
28 Siehe dazu auch Gunnar Wink/er: Ostidentität - ein Sichfinden im Gestern und Heute? In: Sozialreport I/I997. Neue Bundesländer; Thomas Koch: Renaissance Ostdeutschen Wir- und Selbstbewußtseins nach der Vereinigung. In: Die realexistierende postsozialistische Gesellschaft. Chancen und Hindernisse für eine demokratische Kultur. Wissenschaftliche Konferenz der Brandenburger Landeszentrale für politische Bildung, Berlin 1994.
444
Jürgen Hofmann
Die Einordnung als "Deutsche/r'' (68,3 Prozent) oder "Bürger/in der Bundesrepublik" (27,4 Prozent) wird vor allem von den über 60jährigen bevorzugt. In dieser Altersgruppe dokumentiert sich erwartungsgemäß zugleich die DDR-Prägung besonders stark (37,4 Prozent). Die jüngeren Probanden (18 bis 34 Jahre) hingegen favorisieren die Zuordnung zu Europa (32,9 Prozent) und zum Status "Ostdeutsche/r"(41,7 Prozent). Die Präferenz fiir Europa unter Jugendlichen bedarf jedoch einiger Einschränkungen. Die 13. Shell Jugendstudie, belegt, daß die Relevanz der Europaidee unter Jugendlichen mit geringerer Bildung und geringeren Entwicklungschancen deutlich abnimmt. Insgesamt würden sich die Jugendlichen in Deutschland zu Europa eher "distanziert und skeptisch", jedenfalls "nicht enthusiastisch" verhalten. 29 Nahezu ausgeglichen zwischen den Altersgruppen ist die landsmannschaftliehe Identifikation mit dem eigenen Bundesland, in die Elemente von allgemeiner Heimatverbundenheit einfließen. Erhalten hat sich seit 1990 der deutlich stärkere Nachhall der DDR-Prägung und DDR-Bindung bei Frauen. Von ihnen definieren sich 36,2 Prozent als ehemalige DDR-Bürgerinnen und 32,3 Prozent als Ostdeutsche. Bei der Annahme des Identitätsmusters "Bürger(in) der Bundesrepublik" klaffen Frauen (17 ,3 Prozent) und Männer (30,6 Prozent) weit auseinander. Die Bedenken gegenüber dem vereinigten Deutschland wegen "mangelnder Lebensart und Wärme" und "Verschlossenheit gegenüber Fremden" sind laut Shell Jugendstudie unter weiblichen Jugendlichen in Ostdeutschland sichtlich deutlicher ausgebildet als unter ihren Altersgeflihrten in West und Ost. 30 Der Platz der Ostdeutschen in der Bundesrepublik wird wesentlich davon mitbestimmt, wie sie sich zu den prinzipiellen Grundlagen dieses Gemeinwesens positionieren. Die bereits erwähnte Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, die auf einer Umfrage vom Juli 1999 basiert, arbeitet dazu heraus: "Alle abgefragten Prinzipien der Demokratie und des Sozialstaates werden von der großen Mehrheit der Ostdeutschen bejaht. An erster Stelle stehen Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und Eigentumsfreiheit Jeweils mehr als zwei Drittel der Ostdeutschen empfinden diese Prinzipien als besonders wichtige Bestandteile unserer Gesellschaft. Die Ostdeutschen bejahen somit den gesamten Wertekanon der bundesrepublikanischen Verfassung. " 31 Diese generellen Einschätzung kann aus der Sicht unserer Untersuchungsreihe bestätigt werden. Dennoch darf der dramatische Vertrauensverlust nicht verschwiegen werden, den nach einer zunächst hohen Erwartungshaltung Verfassungswerte und Strukturen der Bundesrepublik bei den
29
Siehe Jugend 2000. 13. Shell Jugendstudie, Bd. I, Opladen 2000, S. 341.
30
Siehe ebenda, S. 314 f.
3 1 Wolfram Brunner/ Viola Neu: Freiheit oder Gleichheit? Ansichten Ober zentrale Werte in Ostdeutschland. Konrad-Adenauer-Stiftung. Analysen und Positionen, Sankt Augustin 1999, S. 6 f.
445
Identifikation und Distanz
Ostdeutschen erlitten. Inzwischen scheint die Talsohle der Ernüchterung durchschritten und eine erneute Vertrauensbildung in Gang gekommen zu sein. Tabelle 7
Vertrauensbasis (Angaben in Prozent, Antwortausfalle nicht ausgewiesen)
Vorgabe: Ich vertraue für Antdie Zukunft vor allem auf... wart die soziale Marktwirtschaft Ja Teilw Nein die Leistungskraft der Ja Deutschen Wirtschaft Teilw. Nein Ja Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Teilw. Nein die gewählten Politiker32 Ja Teilw. Nein Ja die Gewerkschaften Teilw. Nein Ja Gott Teilw. Nein Ja meine Familie Teilw. Nein mich selbst Ja Teilw. Nein nichts mehr Ja Teilw. Nein Datenbasis: ident
Dez.
März
Okt.
Nov.
Dez.
64,1 27,9 4,0
28,4 39,1 29,9
16,5 40,4 34,3
62,6 31,3 3,0 52,3 33,0 10,8 33,0 48,1 13,0
26,6 40,5 26,8 16,5 32,6 42,8 14,4 35,9 36,3
21,2 36,8 33,8 11,3 29,8 48,9 9,2 40,7 37,4
92,0 3,5 0,8 91,2 4,3 1,0 3,4 8,5 82,6
86,1 8,3 1,2 79,4 11,6 0,9 4,0 16,0 61,6
84,6 6,4 2,3 80,7 9,5 1,6 6,4 19,2 58,3
20,4 42,6 7,4 33,3 44,0 14,2 24,2 38,0 27,8 4,1 26,9 59,6 10,2 42,4 35,7 12,8 8,0 67,4 77,9 10,2 3,8 74,8 11,9 2,4 4,5 12,6 60,0
32,8 40,8 19,6 49,3 37,0 8,4 29,5 35,6 28,1 3,5 31,4 56,9 13,9 38,8 38,3 16,8 8,4 65,0 85,6 7,4 1,7 78,9 10,7 1,3 4,8 12,4 61,1
90
92
93
95
99
Der seit Jahren nachweisbare stärkere systemkritische Akzent in den neuen Bundesländem33 , der sich nicht zuletzt im Wahlverhalten manifestiert, signa32 Bis 1993 wurde das Vertrauen in die Politiker meiner Wahl erfragt. Die Ergebnisse 1999 wurden vor dem Skandal um die CDU-Parteifinanzen erhoben. 33 Die Materialien der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 1992, 1994 und 1998 enthalten mehrfache Belege ftlr diesen Sachverhalt. Siehe auch Elmar
JUrgen Hofmann
446
lisiert selbst in seinen verzerrten Äußerungen potentielle Konfliktfelder und dringenden Reformbedarf. Ilse Spittmann hatte bereits vor Jahren zu einem sachlichen Umgang mit diesem Phänomen geraten. "Warum muß ihnen (den Ostdeutschen, d. A.) alles gefallen, was unter anderen Bedingungen in der alten Bundesrepublik gewachsen ist? Vieles davon ist inzwischen reformbedürftig"34, mahnte sie. In einem Material des Statistischen Bundesamtes heißt es dennoch, von einer Kritik am "Modell Bundesrepublik" könne keine Rede sein, auch wenn das Urteil der Ostdeutschen etwas schlechter ausfalle. 35 Tatsächlich wird, wenn auch mit Einschränkungen, von 79 Prozent der Ostdeutschen bestätigt, in einem Land wie der Bundesrepublik gut leben zu können (Westdeutschland: 93 Prozent). Die Daten des Wohlfahrtssurvey 1998 zeigen jedoch, daß viele Bereiche und Sachverhalte der Gesellschaft der Bundesrepublik von den Ostdeutschen deutlich kritischer reflektiert werden als von den Westdeutschen. So sehen 68 Prozent die freie Berufswahl, 67 Prozent die soziale Sicherheit, 48 Prozent die Gleichstellung von Mann und Frau und 77 Prozent die Chancengleichheit nicht realisiert. In den alten Bundesländern werden mit Ausnahme der Chancengleichheit (nur 45 Prozent sehen sie verwirklicht) alle genannten Probleme positiv bewertet. 36 Auch im zehnten Jahr der deutschen Einheit bleibt die Zufriedenheit der Ostdeutschen mit der Demokratie, dem wirtschaftlichen System, dem Rechtsstaat und den Zukunftsperspektiven der Kinder und Jugendlichen sichtlich hinter den Werten in den alten Bundesländern zurück. Eigentlich muß bei den genannten Themen von vorherrschender Unzufriedenheit gesprochen werden. 37 Während sich die noch nachwirkenden Prägungen durch die DDR-Gesellschaft in der Folge der Generationen schrittweise abbauen werden, sind gerade die gegenwärtigen Erfahrungen und Existenzbedingungen sowie die beeinträchtigte Chancengleichheit geeignet, ostdeutsches Sonderbewußtsein zu reproduzieren. Ob und inwieweit dies in Richtung eines kritisch-konstruktiven Selbstbewußtseins oder nostalgischer Blockaden tendiert, entscheidet sich in erster Linie an den Möglichkeiten, Gegenwart und Zukunft der Bundesrepublik mitzubestimmen und mitzugestalten. Brähler/Horst-Eberhard Richter: Deutsche - zehn Jahre nach der Wende. Ergebnisse einer vergleichenden Ost-West-Untersuchung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/99, S. 24 ff. 34 Jlse Spitlmann: Fünf Jahre danach - Wieviel Einheit brauchen wir? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/95, S. 7.
35
Siehe Statistisches Bundesamt (Hg.): Dateureport 1999, Bonn 2000, S. 609.
36
Siehe ebenda, S. 602 ff.
37 Siehe Umfrage von Infratest Dimap vom September 2000 in: Berliner Zeitung vom 2. Oktober 2000, S. 2.
447
Identifikation und Distanz
Hier scheint eines der entscheidenden Probleme der weiteren Gestaltung der deutschen Einheit zu liegen. Ein Großteil der Befragten sieht sich auch am Ende des ersten Jahrzehnts staatlicher Einheit in der Beobachterposition bzw. weiterhin von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen. Die Ergebnisreihe verweist auf ein in den grundsätzlichen Relationen verfestigtes Meinungsbild hin. Obwohl es sich hier auch um eine subjektive Wahrnehmung handelt, deren Wahrheitsgehalt nicht vom Grad der Zustimmung abhängt, müssen die Langzeitwirkungen solcher zeitgeschichtlicher Erfahrungswerte dennoch ernst genommen werden und Anlaß zur Nachdenklichkeit sein. Es flUlt auf, daß die Zahl derer, die sich als aktive Mitgestalter definieren, nur zwei Mal deutlich ansteigt: zum einen anläßlich der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl Ende 1990 und zum anderen im Nachhall der Wahlen, die den Kanzlerwechsel bewirkten. Beide Ereignisse schlagen sich als positive Erfahrung nieder. Tabelle 8 Einfluß auf den Einigungsprozeß und auf die EntwickJung im vereinten Deutschland Angaben in%
Frage: Wie bewerten Sie Ihren Okt. Einfluß auf die Vereinigung bzw. 90 auf die Entwicklung im vereini ten Deutschland? Ich ftlhle mich als aktive/r Mitgestalter/in. 9,8 Ich bin (lediglich) interessierte/r 48,6 Beobachter/in. Ich sehe mich von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen bzw. überrollt. 36,1 Datenbasis: ident
Dez.
März
Okt.
Nov.
Dez.
18,3
9,3
6,3
7,8
12,9
36,7
35,7
34,6
36,0
39,8
42,4
50,9
58,4
55,3
46,2
90
92
93
95
99
Bei der Frage, wodurch das Zusammenwachsen von Ost und West gellirdert werden könne, rangieren in der ident-Befragung von 1999 gemeinsame Ziele mit 83,8 Prozent und der Abbau von Vorurteilen mit 90,3 Prozent an der Spitze. Das Bedürfnis nach gemeinsamer öffentlicher Debatte zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen (73,9 Prozent), die verstärkte Einbeziehung von Ostdeutschen in Verantwortung (66,5 Prozent) sowie die Berücksichtigung positiver DDRErfahrungen (80,2 Prozent) werden noch vor der Beschleunigung des Aufbaus Ost (60,4 Prozent) genannt. Unabhängig davon, wie realistisch die Vorstellung ist, positive DDR-Erfahrungen fur die Gestaltung der deutschen Einheit zu nutzen, verweist die hohe Zustimmung auf den ausgeprägten Wunsch nach einem eigenständigen ostdeutschen Anteil. Ein Urteil über die DDR-Gesellschaft als Ganzes läßt sich daraus nicht ableiten. Hier bleibt es bei der kritischen Distanz, wie sie sich in anderen Fragestellungen manifestiert.
448
Jürgen Hofmann
Tabelle 9 Wie beurteilen Sie heute das Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands? Angaben in%
Die Einheit ist im wesentlichen vollendet. Bis zur Vollendung der Einheit wird noch viel Zeit vergehen. Wir sind heute von der Einheit weiter entfernt als 1990. Datenbasis: ident
November 1995 6,0
Dezember 1999 9,4
75,1
74,6
17,8
15,2
In den Kontext der sogenannten inneren Einheit gehört gleichfalls, daß die Folgen der deutschen Einheit in Ost und West sehr unterschiedlich und teilweise sogar konträr beurteilt werden. So sehen 83,6 Prozent der Westdeutschen mehr Vor- als Nachteile filr den Osten, während sich dieser Meinung nur 36,1 Prozent der Ostdeutschen anschließen. Umgekehrt sprechen 75,7 Prozent der Ostdeutschen den Westdeutschen den größeren Nutzen aus der deutschen Einheit zu, was aber lediglich von 25,8 Prozent der Altbundesbürger geteilt wird. Dementsprechend fallen auch die Urteile über die notwendige Opferbereitschaft der Westdeutschen (West/Ost: 29,4 zu 67,7 Prozent)und die erforderliche Geduld im Osten (West/Ost: 87,2 zu 39,1 Prozent) ausgesprochen kontrovers aus. 38 Diagramm2 Wahrnehmung von Konflikten zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen Angaben in% Aussage: Die Konflikte sind "stark" bzw. "sehr stark"
70
.---------------~~--------------------.
60
+---------------~--~~--------~------~
50 +----:-----~ 40 40 +-"""T----r----------1
D Ost
30
• West
20 10 0
+-~--~------.-~---
1990
1993
Datenbasis: Wohlfahrtssurvey 38
Siehe ALLBUS 1998, ZA-Nr. 3000, S. 113.
1998
Identifikation und Distanz
449
Der unbefriedigende Stand des Zusammenwachsens, der von den Ostdeutschen sensibler wahrgenommen wird, ist als Gegenstand politischer Schadenfreude und Rechthaberei denkbar ungeeignet. Der daraus resultierende Handlungsbedarf verlangt zwingend nach einem gesamtdeutschen Diskurs. Dabei geht es weniger darum, daß Ostdeutsche im Westen ankommen müssen. Inzwischen geht es längst um den Weg einer gemeinsamen sich verändernden Bundesrepublik, die nicht mehr die von 1990 ist. 39 Ein gesellschaftlicher Diskurs wird jedoch nur dann produktiv sein, wenn er neben der Kenntnis und der Akzeptanz unterschiedlicher historischer, sozialer und politischer Erfahrungen auch Fragen der gemeinsamen Gegenwart und Zukunft einschließt. Da:ftir sind die Ostdeutschen nicht schlecht gerüstet. Bedingt durch Werdegang und Existenzbedingungen bringen sie "in die politische Kultur der Bundesrepublik einen gebeutelten, geläuterten Realismus ein, der zu den künftigen gesellschaftlichen Belastungen im sich einigenden Europa wahrscheinlich besser paßt als die Wahrnehmungsmuster einer breiten westdeutschen Bevölkerungsgruppe, die sich in der historischen Ausnahmeperiode der Wohlstandsbundesrepublik herausgebildet hatten". 40
39 Siebe u. a. Ro/f Reißig: Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft Bilanz und Perspektiven der Transformation Ostdeutschlands und der deutschen Vereinigung, Berlin 2000.
..., Thomas Ahbe/Monika Giebas: Der Osten der Berliner Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-212001, S. 22. 29 Timmermann
Vom Verschwinden der Zukunft. Stadthistorische Überlegungen zum Utopieverlust in der sozialistischen Stadt Schwedt Von Philipp Springer "Und was werden die Geschichtsschreiber im Jahre 2000 zu berichten haben?"1 Kawn eine andere Frage war in der Öffentlichkeit der "dritten sozialistischen Stadt" Schwedt an der Oder in den l960er Jahren stärker präsent als diese, die in einer Jubiläumsfestschrift im Jahr 1965 gestellt wurde. Die Vorstellung von der Zukunft der Stadt und damit auch vom zukünftigen Leben ihrer Bewohner gehörte zu den entscheidenden Themen im ersten Jahrzehnt des Aufbaus der Stadt. In Reportagen, Romanen, Gedichten und in der bildenden Kunst, in Reden, Zeitungsartikeln, Diskussionsforen und Ausstellungen wurde den Schwedtem eine glückliche kommende Zeit versprochen. Die Euphorie über das Morgen läßt sich jedoch seit Anfang der 1970er Jahre nicht mehr in der Stadt aufspüren. Die Darstellungen des Kommenden beschränken sich nun allenfalls auf die Beschreibung eines Punkthochhauses, das demnächst errichtet werden soll, oder einer Grünanlage, die in Kürze anzulegen ist. Die Zukunft als demnächst realisierte Utopie war verschwunden, die Bewohner in der real existierenden sozialistischen Stadtgesellschaft angekommen. Die Analyse dieses Wandels in der Zukunftsdarstellung und Zukunftswahmehmung, der ein wichtiges Kapitel in der Schwedter Stadtgeschichte darstellt, ist allerdings nicht nur ftlr die Geschichte dieser einzelnen Stadt und ihrer Bevölkerung von Bedeutung. Der Versuch, das Herrschaftssystem durch euphorische Zukunftsvisionen, deren Realisierung unmittelbar bevorzustehen schien, die notwendige Legitimation zu verschaffen, ist typisch filr diese Periode der DDR-Geschichte2 • Doch zudem läßt sich über den begrenzten lokalen Rahmen hinaus das Thema "Zukunft" als Beispiel dafiir heranziehen, daß der Ansatz einer gesellschaftsgeschichtlich orientierten Stadtgeschichte Impulse filr die Untersuchung von Politik-, Sozial- und Alltagsgeschichte der DDR liefern kann. 1 Rat der Stadt Schwedt- Arbeitsgruppe Festschrift 700-Jahrfeier (Hg.), Festschrift Schwedt 12651965, [Schwedt]1965, S.94. 2 Zur Zukunftsdarstellung und -wahmehmung in der DDR vgl. Rainer Gries, Die runden "Geburtstage", in: Monika Gibas/Rainer Grief/Barbara Jakoby/Doris Müller (Hg.), Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage der DDR, Leipzig 1999, S. 285-304.
29•
452
Philipp Springer
Bisher standen vor allem zwei Bezugsebenen in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der DDR-Geschichte im Vordergrund: Zunächst konzentrierten sich die Arbeiten auf die Herrschaftszentralen von Partei und Staat und auf die sozialen Prozesse und Strukturen. Daneben stand analog zu allgemeinen wissenschaftlichen Trends die mikrohistorische Beschäftigung mit einzelnen Individuen und mit kleinräumigen sozialen Einheiten (wie zum Beispiel den Brigaden) im Mittelpunkt. Das dazwischen liegende Untersuchungsfeld "Stadt" bietet sich aus verschiedenen Gründen an als eine notwendige Ergänzung zu diesen beiden dominierenden Analyseebenen, ist doch die Stadt nicht nur ein Ort, an dem Geschichte stattfmdet, sondern auch eine eigenständige gesellschaftliche Größe3 • Begreift man also die Stadt als Ausschnitt aus der Gesellschaft und zugleich auch als relativ selbständige Einheit, so können an ihr verschiedene Bereiche der Geschichte konkret untersucht und miteinander verknüpft werden: die Methoden der Herrschaftssicherung an der Basis etwa, die Auswirkungen der von oben erfolgenden "Durchherrschung", aber auch die Grenzen dieses Prozesses und die Widerständigkeit der Realität gegen die zentral gefaßten Beschlüsse. Es lassen sich traditionelle oder neu entstehende Sozialmilieus, der Alltag oder auch die Kontinuitäten aus früheren Herrschaftssystemen und die Erfahrungen der Menschen mit ihrem Staat und ihrer Gesellschaft "vor Ort" untersuchen. Auf der Ebene der Stadt lassen sich Struktur- und Erfahrungsgeschichte besonders gut verknüpfen. Wenn auch die Kommunen im System der DDR, so die weit verbreitete Meinung, keine besondere politische Relevanz besaßen, so bedarf es doch einer Untersuchung der Realität. Denn gerade hier, wo es um die Umsetzung der sozialistischen Utopie ging, trafen Anspruch und Wirklichkeit der DDRGesellschaft aufeinander, hier spielte sich der alltägliche Kontakt zwischen Partei- und Staatsgewalt und der Bevölkerung ab, und hier wurde auch, folgt man dem Urteil eines Raumplaners, der den katastrophalen Zustand der DDR-Städte untersucht hat, "einer der wesentlichsten Zündfunken" 4 fiir die Protestaktionen 3 Zur Stadtgeschichtsforschung in Deutschland vgl. u.a. Adelheid von Saldern, Die Stadt in der Zeitgeschichte. Überlegungen zur neueren Lokalgeschichtsforschung, in: Die alte Stadt 18 (1991) Nr.2, S.l27-153; Jürgen Reulecke, Fragestellungen und Methoden der Urbanisierungsgeschichtsforschung in Deutschland, in: Fritz Mayrhofer (Hg.), Stadtgeschichtsforschung. Aspekte, Tendenzen, Perspektiven, Linz 1993, S.55-68; Horst Matzerath, Stand und Leistung der modernen Stadtgeschichtsforschung, in: Joachim Jens Hesse (Hg.), Kommunalwissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1989, S.23-49; Christian Enge/i/Horst Matzerath (Hg.), Modeme Stadtgeschichtsforschung in Europa, USA und Japan. Ein Handbuch, Stungart!Berlin!Köln!Mainz 1989; Lutz Niethammer, Stadtgeschichte in einer urbanisierten Gesellschaft, in: Wolfgang Schieder/Volker Sei/in (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd.ll: Handlungsraume des Menschen in der Geschichte, Göttingen 1986, S.ll3136; Clemens Wischermann, Germany, in: Richard Rodger (Hg.), European urban history. Prospect and Retrospect, Leicester/London 1993, S.l51-169.
4
Bernd Hunger, Stadtverfall und Stadtentwicklung - Stand und Vorschlage, in: Peter Mar-
Vom Verschwinden der Zukunft
453
am Ende der DDR gelegt. Und nicht umsonst waren die Auseinandersetzungen um die Kommunalwahlen 1989 ein entscheidender Meilenstein für die Protestbewegung. Die Stadt - so hat es den Anschein - wird als identitätsstiftender oder als die Lebenswelt strukturierender Bezugspunkt in der DDR-Forschung noch erheblich unterschätzt. Zwar ist durchaus nachvollziehbar, daß vor allem der Institution "Betrieb" (wie auch der SED oder einigen Massenorganisationen) eine solche Rolle zugeschrieben wird, doch darf darüber die "Stadt" nicht vergessen werden. Ansonsten läuft man Gefahr, die nach 1945 politisch intendierte Rollenverteilung weiterzuverfolgen, nach der das Kommunale und Lokale zugunsten des Betriebes eher in den Hintergrund gerückt worden waren. Auch in der DDR sahen sich die Menschen als Bewohner ihrer Stadt und nicht nur als Beschäftigte eines bestimmten Betriebes oder als Mitglieder einer bestimmten Organisation. Zugleich besitzt die geschichtswissenschaftliehe Beschäftigung mit der Stadt auch eine wichtige ideologiekritische Aufgabe. Thomas Lindenherger hat darauf hingewiesen, daß in der DDR die Einflußmöglichkeiten der "kleinen Leute" strikt auf den lebensweltlichen Bereich, also auf das Arbeitskollektiv, die Familie und Verwandtschaft, auf das Dorf und das Wohngebiet begrenzt gewesen seien. Gerade diese Bereiche werden jedoch, so Lindenberger, in der gegenwärtigen DDR-Nostalgie positiv erinnert5 • Für die Stadt, die Lindenherger nicht erwähnt, gilt letzteres jedoch in besonderem Maße. Es ist schon aus früheren historischen Perioden bekannt, daß gerade in Zeiten heftigen Wandels und für die Zeitgenossen nur schwer verkraftbarer Umbrüche der Glaube an ihre Stadt als Rettungsanker gesehen wird6 . Dies läßt sich auch in Schwedt finden. So heißt es beispielsweise in der 1995 von der Stadtverwaltung herausgegebenen Schrift "Historische Plaudereien", daß ,jeder, der hier wohnt", auf die "glanzvolle und rühmliche Vergangenheit" der Stadt "zu Recht stolz sein kann" 7. "Das lustige Städtchen an cuse!Fred Staufenbiet (Hg.), Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch. Perspektiven der Stadterneuerung nach 40 Jahren DDR, Berlin 1991, S.32-48, hier S.32. 5 Vgl. Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: ders. (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999, S.IJ-44, hier S.3lf. 6 Jürgen Reutecke konstatiert dies im übrigen auch fllr die stadtgeschichtliche Forschung, die in Perioden der Krisen immer besonders aktiv war: "Fast scheint es so, als ob in Zeiten, in denen unüberschaubare gesellschaftliche Umbrüche stattfinden und die Zeitgenossen ein verstarktes Krisengefllhl empfinden, die Besinnung auf die Geschichte und gerade auch die historischen Qualitäten und Wurzeln der näheren Umgebung - und das heißt im bürgerlichen Zeitalter vor allem die Stadt starker ausgeprägt sei als in Zeiten allgemeinen Aufschwungs und positiver Zukunftserwartungen." Jürgen Reutecke, Modeme Stadtgeschichtsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Engeli/Matzerath (Hg.), Modeme Stadtgeschichtsforschung, 8.21-36, hier S.22. 7 Stadt Schwedt/Oder-Der Bürgermeister-Öffentlichkeitsarbeit (Hg.), Historische Plaudereien, Red. Uta Zenk, Schwedt [1995], S.3
454
Philipp Springer
der Oder ist gerade wieder mitten im Aufblühen begriffen. Selbstbewußt und frei von allen Zwängen besinnt es sich aufseine Tradition."8 Eine solche Besinnung auf Tradition, die an Eric Hobsbawms "Erfindung von Traditionen"9 erinnert, mutet im Fall von Schwedt merkwürdig an, gehört die Stadt doch neben Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda und Halle-Neustadt zu den vier sozialistischen Städten, denen die DDR mehr als allen anderen Städten ihren Stempel aufgedrückt hat. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die massive Bautätigkeit, sondern auch im Hinblick auf die Marginalisierung der ursprünglichen Bevölkerung durch umfangreichen Zuzug von Menschen aus anderen Regionen. Die Berufung auf eine sogenannte "Tradition" in den Jahren nach 1989/90 stellt den Versuch dar, direkt an die Zeit vor dem Aufbau der Stadt anzuknüpfen. Die eigentlich prägenden Jahre in der DDR werden so verdrängt - wie etwa im Museum der Stadt, in dem man nichts über diese Jahre erflihrt, oder wie auf der Hornegage der Stadt, deren Kapitel "Aus der Stadtgeschichte" im Jahr 1945 endet 1 • Offensichtlich möchte man auf diese Weise nicht zuletzt das negative Image als graue Plattenbaustadt vergessen machen, das sich Schwedt schon zu DDR-Zeiten "erworben" hatte. Die über 730 Jahre alte, etwa 80 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegene Stadt war in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs fast völlig zerstört worden. Sie erlebte seit 1958 ein geradezu explosionsartiges Wachstum, nicht zuletzt auf Kosten der noch erhaltenen historischen Substanz. In diesem Jahr wurde die Errichtung eines Erdölverarbeitungswerkes (später VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt) und einer Papierfabrik (später VEB Papier- und Kartonwerke Schwedt) beschlossen. Der Entscheidungsprozeß, der zur Standortwahl filhrte, war von chaotischer Vorgehensweise und enormem Zeitdruck geprägt 11 • Fragen der Stadtplanung oder des Alltags der ansässigen und der zukünftigen Bevölkerung spielten in diesem Prozeß so gut wie keine Rolle. Die Vernachlässigung solcher Fragen wirkte sich in den folgenden Jahrzehnten in Form von gravierenden Belastungen fllr die städtische Gesellschaft aus 12 •
8 Ebd., S.49 9 Vgl. Eric Hobsbawm, Das Erfinden von Traditionen, in: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S.97-118. 10 Vgl. http://www.schwedt.de/stadt/geschich.htm vom 16.10.2000. Nur in der ebenfalls auf der Hornepage der Stadt zu findenden Chronik sind einige wenige zentrale Ereignisse der Stadtgeschichte zu DDR-Zeiten verzeichnet. 11 Vgl. den (allerdings nicht ganz vollstandigen) Überblick Uber den Entscheidungsprozeß bei Axel Gayko, Investitions- und Standortpolitik der DDR an der Oder-Neiße-Grenze 1950-1970, Frankfurt a.M. 2000, S.l49-159.
Vom Verschwinden der Zukunft
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In wenigen Jahren veränderte sich nun die Stadt, die 1958 noch rund 6.200 Einwohner hatte, erheblich - insbesondere durch den Bau großer Wohnkomplexe. 1962 wohnten bereits über 12.000 Menschen, ftinf Jahre später über 28.000 Menschen in Schwedt, der "kleinen Stadt mit großer Zukunft" 13 , wie sie von Oberbürgermeister Klaus-Dieter Hahn in Anlehnung an eine Fernsehsendung bezeichnet wurde. In den folgenden Jahren setzte sich der Anstieg weiter fort: 1972 waren es über 40.000, 1977 über 50.000. Im Jahr 1980 erreichte die Entwicklung mit 54.809 Menschen den Höchststand. Danach sank die Einwohnerzahl wieder, um in den Jahren bis 1989 zwischen 51.000 und 52.000 zu stagnieren. Nach der Wende folgte eine massenhafte Abwanderung, die unter anderem zu den bundesweit bekannt gewordenen Folgen, nämlich umfangreichen Abrißmaßnahmen in den Plattenbaugebieten, geftihrt hat 14 • In der öffentlichen Wahrnehmung (und in der Forschung 15) blieb die Stadt immer im Schatten von Eisenhüttenstadt und Hoyerswerda, deren Aufbau Anfang bzw. Mitte der 1950er Jahre begonnen worden war. Neben den Großbetrieben prägte vor allem die Militärstrafanstalt, deren Namen wohl zumindest jeder NVA-Soldat kannte, das überregionale Bild von Schwedt. Der enorme Anstieg der Bevölkerungszahl vollzog sich vor dem Hintergrund eines massiven Wohnungsbaus. Zunächst errichtete man den Wohnkomplex II und ein neues Zentrum am Rande der Altstadt. Der Aufbau war allerdings durch mehrere Brüche gekennzeichnet. Entscheidend blieb dabei, daß einerseits politisch motivierte Eingriffe die Stadtplanung und den Stadtaufbau belasteten. So wurde etwa der Chefarchitekt Seiman Selmanagic Ende 1962 abgelöst, da er nicht den "sozialistischen Prinzipien" entsprechend gebaut habe. Kritisiert wurden seine Entwürfe vor allem aus ökonomischen Gründen, doch paßte Selmana12 Vgl. dazu auch Philipp Springer, Leben im Unfertigen. Die "dritte sozialistische Stadt" Schwedt, in: Holger Barth (Hg.), Grammatik sozialistischer Architekturen. Lesarten historischer Städtebauforschung zur DDR (ersch. vorauss. Berlin 2001). 13 Klaus-Dieter Hahn, Schwedt. Kleine Stadt mit gtoßer Zukunft, in: Stadt und Gemeinde 6 (1962) Nr.l, S.15-20, hier S.19. 14 Vgl. zum Beispiel Maria Reinhardt, "Mit dem Möbelwagen abgestimmt". Jede ftlnfte Schwedter Plattenbauwohnung soll abgerissen werden -Junge Familien verlassen die Stadt, in: Der Tagesspiegel vom 14.10.1998, S.l9; Krislian Kähler!Stefan Pannen, Die Platte wird plattgemacht, TVDokumentation (ARD) am 2.2.2000.
15 Vgl. e~a die umfangteiche Forschungsliteratur zu Eisenhüttenstadt Rosemarie Beier (Hg.), aufbau west, aufbau ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenbuttenstadt in der Nachkriegszeit, Ostfildem-Ruit 1997; Jenny Richter!Heilre F6rster!Uirich Lakemann, Stalinstadt - Eisenhüttenstadt Von der Utopie zur Gegenwart, Wandel industrieller, regionaler und sozialer Strukturen in EisenhUttenstadt, Marburg 1997; Arbeitsgruppe Stadtgeschichte (Hg.), Eisenhüttenstadt - ,,Erste sozialistische Stadt Deutschlands", Berlin 1999; Ruth May, Planstadt Stalinstadt. Ein Grundriß der frühen DDRaufgesucht in EisenhUttenstadt, Dortmund 1999. Andreas Ludwig, Eisenhüttenstadt Wandel einer industriellen Gründungsstadt in ftlnfzig Jahren, Potsdam 2000.
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gic auch politisch nicht mehr ins Konzept. Wichtig war in diesem Zusammenhang der Besuch von Walter Ulbricht im Juli 1962, bei dem der Staatsratsvorsitzende weitreichende "Anregungen" fiir die Stadtplanung gab und - nicht zuletzt den Abriß der Ruine des barocken Schlosses anordnete. Eine andere Belastung ftlr den Stadtautbau war, daß ständig die Prognosen ftlr die Beschäftigtenzahl des Erdölwerks geändert wurden. Dies zog ebenso häufig Änderungen in der veranschlagten Einwohnerzahl und damit der notwendigen Wohnungen nach sich. Eine geordnete Stadtplanung war so kaum möglich. Die Erhöhung der prognostizierten Einwohnerzahlen fi.lhrte schließlich zum zweiten großen Bauabschnitt, der die sogenannte obere Talsandterrasse betraf. Diese war durch einen etwa einen Kilometer breiten, nicht bebaubaren Geländestreifen von der eigentlichen Stadt getrennt. Auf der Terrasse entstand dann ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bis zum Ende der DDR eine riesige Trabantensiedlung. Die fehlende Verbindung der beiden städtischen Teilgebiete ist bis heute ein gravierendes Problem ftlr den Alltag der Bewohner. Die Errichtung der großen Zahl von Wohnungen sorgte dafilr, daß Schwedt schon bald zu den Orten mit dem niedrigsten Altersdurchschnitt in der DDR gehörte (was nicht zuletzt an den Kinderwagen abzulesen ist, die auf vielen Fotos der Stadt aus den 1960er Jahren präsent sind). Vor allem junge Menschen und Familien kamen in die Stadt, da sie anderswo nur schwer eine Neubauwohnung gefunden hätten. Die Gruppe der nach Schwedt Kommenden sah jedoch anders aus als die, welche die "erste sozialistische Stadt" Eisenhüttenstadt aufgebaut und dann als Einwohnerschaft bevölkert hatte. Hauptproblem war, daß es nun, 15 Jahre nach Kriegsende, nicht mehr die Entwurzelten und Heimatlosen gab, die noch den Aufbau von Eisenhüttenstadt geprägt hatten. Lange Zeit war man deshalb in Schwedt vor allem auf Delegierungen angewiesen, also auf Bauarbeiter, die ftlr eine relativ kurze Zeitspanne von ihren Heimatbetrieben in die "Taiga", wie die Stadt an der Oder genannt wurde, entsandt wurden. Ein weiterer Versuch, Arbeitskräfte zu gewinnen, war der Aufruf der FDJ an ihre Mitglieder und an andere junge Menschen, beim Bau des Erdölverarbeitungswerkes mitzuwirken 16, doch auch dieser Weg gestaltete sich wenig erfolgreich- oft blieben die Jugendlichen, frustriert durch die Lebens- und Arbeitsbedingungen, nur kurze Zeit. Der Alltag auf den Baustellen war somit von einer hohen Fluktuation unter den Arbeitskräften geprägt - die Entstehung einer Stadtgesellschaft gestaltete sich vor diesem Hintergrund sehr problematisch. Wer also in den 1960er Jahren dauerhaft nach Schwedt kam, etwa um in den großen Werken zu arbeiten, hatte nicht unbedingt mit Hand angelegt beim Aufbau der Stadt. Diese Menschen gehörten in 16 Vgl. Das große Werk beginnt, in: Junge Welt v. 3.4.1959, S.3. Vgl. dazu auch Horst Sieber, Zur Rolle der Arbeiterjugend beim Aufbau der zentralen Jugendobjekte der FDJ Erdölverarbeitungswerk Schwedt und Kernkraftwerk Nord, in: Beitrage zur Geschichte der FDJ, H.2, Rostock 1979, S.45-52.
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der Regel auch einer anderen Generation an als die Erbauer von Eisenhüttenstadt - einer Generation, deren Angehörige während des Krieges oder kurz danach geboren worden waren. Gerade diese Menschen waren mit der Entwicklung und Konsolidierung der DDR in besonderer Weise verbunden, häufig verdankten sie dem System ihren sozialen Aufstieg und eine Verbesserung der Lebenslage. Die neuen Einwohner kamen nach Schwedt mit optimistischen Zukunftsperspektiven, die sie durch die öffentliche Darstellung der Stadt bestätigt fanden. So werden etwa in einem Faltblatt mit dem Titel "Schwedt - Stadt der jungen Erbauer, Schwedt- Stadt des Papiers, Schwedt- Stadt der Zukunft" 17 einige wichtige Punkte formuliert, die nicht unwesentlich fitr die optimistischen Perspektiven gewesen sein dürften. Genannt sind u.a. 1. der niedrige Altersdurchschnitt in der Stadt, 2. die mit Fernheizung, Warmwasser und Einbauküche ausgestatteten Neubauwohnungen, von denen ein Teil bereits errichtet war, 3. die hohe Zahl an Kindergarten- und Kinderkrippenplätzen, 4. die Möglichkeiten zur Mitbestimmung bei der Gestaltung des zukünftigen Stadtzentrums, 5. der geplante Aufbau verschiedener gesellschaftlicher Einrichtungen wie Jugend- und Sportpark, Krankenhaus, Kulturhaus, Grünflächen und Kunstwerke, 6. die geplante Erhöhung des Anteils weiblicher Beschäftigter und 7. die geplante Ausweitung der Forschungsabteilungen insbesondere im Erdölverarbeitungswerk, ein Faktor, der die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten symbolisierte. "Die Werktätigen aller Schwedter Betriebe, sie können sicher sein: Schwedt ist gut Freund mit der Zukunft!" heißt es zum Schluß des Textes. Deutlich wird hier, was Sigrid Meuschel als den fur die Politik der SED dieser Zeit kennzeichnenden Versuch beschrieben hat, "den Sozialismus selbst mitsamt seiner mittelfristig erhofften Vorteile ins Zentrum der Legitimationsstrategie" 18 zu rücken. Die beabsic;htigten Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft werden hier- und dieses Faltblatt ist nur ein Beispiel - auf die Ebene der städtischen Lebenswelt "übersetzt" und erst so ftlr die Bevölkerung tatsächlich greifbar. Insbesondere an Fragen der Stadtplanung zeigte sich, wie die Realisierung der sozialistischen Utopie aussehen sollte - bzw. wie die Hoffnungen darauf dann später enttäuscht wurden. Ob Kulturwesen oder Konsurnmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung oder Wohnungsfragen, Arbeitsplätze oder Freizeitgestaltung ftlr den Alltag und die Zufriedenheit der Bewohner wichtige Themen wurden in diesem Zusammenhang behandelt. Dies geschah etwa mit Hilfe von Einwohner17 Schwedt - Stadt der jungen Erbauer, Schwedt - Stadt des Papiers, Schwedt - Stadt der Zukunft (BLHA Bez. FFO. Rep.731/42 SED-KL Schwedt, Protokoll der Sekretariatssitzung vom 22.1.1970). Das Faltblatt enthalt neben einer Textseite auch eine Seite mit dem Stadtplan. Offenbar richtete es sich vor allem an zukünftige oder neue Bewohner der Stadt. 18 Sigrid Meuschel, Legitimationsstrategien in der DDR und in der Bundesrepublik, in: Christoph Kleßmann!Hans Misselwitz!Günter Wiehert (Hg.), Deutsche Vergangenheiten - eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999, S.l15-127, hier S. 126.
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versammlungen, Ausstellungen und Informationsbroschüren. Ausdrücklich wurden die Einwohner der Stadt dazu aufgerufen, "in Betrieben, Einrichtungen, Hausgemeinschaften und Familien" die Planungen etwa fiir das neue Stadtzentrum "gründlich zu prüfen": "Ihre Hinweise und Meinungen werden helfen unser Stadtzentrum so zu gestalten, daß das Leben und Wohnen in Schwedt immer angenehmer wird." 19 Die tatsächlichen Einflußmöglichkeiten der Bewohner auf die Stadtgestaltung blieben freilich gering. Zur Darstellung der Zukunft waren die in den örtlichen Zeitungen veröffentlichten fiktiven Reportagen besonders anschaulich und möglicherweise auch besonders überzeugend. In ihnen - und es lassen sich eine ganze Reihe solcher Texte nachweisen - beschreiben die Autoren meist einen Rundgang durch das zukünftige Schwedt. Ein besonders im Hinblick auf die Rolle der Frau interessantes derartiges Beispiel ist die Reportage "Bummel in die Zukunft", die 1962 in der Kreiszeitung "Unser Uckermärker" veröffentlicht wurde20• Beschrieben wird der Besuch von Verwandten bei einer jungen Familie Walter in Schwedt. Alle 1962 noch nicht annähernd realisierten Planungen sind in dieser Fiktion bereits Wirklichkeit: Frau Walter kann geschälte Kartoffeln im Zellophanbeutel aus dem Kühlregal kaufen, beim abendlichen Stadtbummel sind die Straßen hell erleuchtet, fUr die Damen stehen der Kosmetiksalon "Charme", die Damenkonfektion "Eleganz" und der Friseursalon "Figaro" zur Verfügung, viermal in der Woche spielt im neuen Kulturhaus eine Jugend-Combo zum Tanz auf, morgens stehen frische Brötchen und Milch vor der Wohnungstür- und auch das Wetter scheint immer gut zu sein in dieser Stadt, "wie sie nur im Sozialismus entstehen kann"21 • Vor allem die Hoffnung auf ausreichende Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und auf Erleichterungen des Alltags spiegeln sich in diesen Reportagen wider, auch findet sich ein großes Maß an Technikgläubigkeit Der Bereich der Arbeit wird eher selten thematisiert - die Stadt und deren zukünftige Gestaltung wurde offensichtlich vor allem unter dem Gesichtspunkt derjenigen Lebensbereiche gesehen, die außerhalb der Betriebe lagen. Die Realität stand in Schwedt in den 1960er Jahren zu diesem Zukunftsbild in krassem Gegensatz. So minderten beispielsweise der zum Teil beträchtlich verzögerte Bau von Kindergärten, Schulen, Kaufhäusern, dem Theater und anderen öffentlichen Gebäuden, aber auch ungünstige Verkehrsverbindungen die Lebensqualität in erheblichem Maße. Oft verhinderten diese Mängel eine berufliche Tätigkeit der Frauen. Viel diskutiertes Thema war daneben auch die - insbesondere bei Jugendlichen - hohe Kriminalitätsrate, fUr die intern neben dem westli19 So OberbUrgermeister K/aus-Dieter Hahn im Vorwort zu der BroschUre "Zielstellung zur Gestaltung des Zentrums der Stadt Schwedt/Oder" (vermutlich aus dem Jahr 1968), S.l. 20
S.3 21
Susanne Jahnel, Bummel in die Zukunft, in: Unser Ockermarker 3 (1962) Nr.21 (27.5.1962),
Ebd.
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chen Einfluß vor allem die ungenügende kulturelle Betreuung verantwortlich gemacht wurde22 • Doch trotz dieser Verhältnisse scheint der Zukunftsoptimismus in dieser Zeit durchaus verbreitet gewesen zu sein. Die Darstellungen, die den neuen Bewohnern Schwedts eine glückliche kommende Zeit in einer "lebensprühenden, zukunftsfrohen - einer sozialistischen Stadt"23 , wie es in einer Zeitschriftenreportage hieß, versprachen, sollten keineswegs nur als Propaganda abgetan werden. Tatsächlich dürften die Vorstellungen von der Zukunft in der Bevölkerung Anklang gefunden haben - eine Frage, die bei den bisherigen Untersuchungen zur Zukunftserwartung in der DDR kaum thematisiert worden ise4 . Nicht ganz ohne Grund konnte die SED-Kreiszeitung schreiben: ;,Junge Menschen träumen gern (und mit Recht). Um wieviel mehr verlockt der Ausblick auf ein farbenprächtiges, freudvolles Leben in einer selbst miterschaffenen Chemiestadt zum Träumen."25 Dieses Träumen von einer besseren Zukunft in der neuen Stadt muß im Zusammenhang mit Entwicklungen gesehen werden, die zahlreiche Bereiche in der DDR in den l960er Jahren erfaßten. Neben verbesserten Konsummöglichkeiten und Aufstiegschancen sorgten wohl auch partielle Liberalisierungserscheinungen dafiir, daß die 1960er Jahre in der Erinnerung der DDR-Bevölkerung als die am positivsten erfahrene Zeitspanne beschrieben werden26 . Die euphorische Zukunftserwartung in Schwedt war dabei Teil der zuversichtlichen Vorstellungen, die man durch die Verkündung des Chemieprogramms hegte: "'Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit' lautete die in ihrem optimistischen Gehalt zu 22 Vgl. zum Beispiel die Vorlage des Sektors Rechtsfragen der SED-KL Angermünde zur Arbeit auf dem Gebiet der Sicherheit und Ordnung im Stadtkreis Schwedt und Angermünde vom 3.4.1965 (BLHA Bez. FFO. Rep. 731/488 SED-KL AngermUnde, Protokoll der Sekretariatssitzung vom 8.4.1965). 23 H[erbert] W Brumm, Schwedt neue Heimat, in: Natur und Heimat 11 (1962) Nr. 4, S.207-210, hier S.210.
24 So beruhen die Analysen von Rainer Gries vor allem auf der Auswertung von Publikationen, aus denen die Perspektive der Bevölkerung kaum ermittelt werden kann. Im Rahmen meines Dissertationsprojektes werden in den nächsten Monaten Interviews und weitere Untersuchungen durchgeftlhrt, die sich u.a mit dieser Thematik eingehend beschäftigen werden.
25 Harry Jahnel, Gedanken in einem Forum der jungen Chemiewerker und Bauleute - über das Gestern - Ober das Heute - über das Morgen von Schwedt. Unser Glück fllllt nicht vom Himmel, in: Der Ockermärker 5 (1964) Nr.28 (I 1.7.1964), S.4f. 26 Vgl. zum Beispiel Dorothee Wierling, Is there an East German Identity? Aspects of a Social History of the Soviel Zone/German Democratic Republic, in: Tel Aviver Jahrbuch ftlr deutsche Geschichte 19 (1990), S.l93-207, hier S.201; Neue Gesellschaft ftlr Bildende Kunst (Hg.), Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren, Köln/Weimar/Wien 1996.
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DDR-Zeiten nicht mehr übertroffene Losung.'m In zahlreichen Broschüren, Büchern und sogar Comics28 zeigte man, in welchem Tempo der Alltag durch die neuen Herstellungstechniken verändert wurde und wie "Verfahren und Produkte der chemischen Industrie alle Bereiche des Lebens"29 durchdrangen - die Schöpfung galt von nun an als grenzenlos 30• Auch zahlreiche literarische Werke - von Autoren und Amateurdichtem - trugen dazu bei, daß die DDR-Gesellschaft in den 1960er Jahren "einem technologischen Geschwindigkeitsrausch erlag"31 • Ein wichtiges Beispiel dafür ist der weit verbreitete Roman "Beschreibung eines Sommers" von Kari-Heinz Jakobs 32 Dieses Buch, das nur ein Jahr nach Erscheinen u.a. mit Manfred Krug verfilmt wurde, entstand direkt in Auseinandersetzung mit dem Aufbau von Schwedt: Jakobs hatte eine Zeitlang in einer Bauarbeiterbrigade in Schwedt gearbeitet, um die Atmosphäre dieser Ereignisse zu recherchieren33 • Utopische Zukunftsperspektiven sind auch hier ein wichtiger Bestandteil der Handlung - etwa bei der Darstellung einer Debatte darüber, wie die Welt im Jahre 1985 aussehen werde34•
27 Silvia Rückert, SpUrbare Modeme- gehemmter Fortschritt. Plaste in der Waren- und Lebenswelt der DDR, in: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR e.V. (Hg.), Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Berlin 1999, S.53-71, hier S.65.
28 Vgl. Thomas Kramer, Die DDR der fünfziger Jahre im Comic MOSAIK: Einschienenbahn, Agenten, Chemieprogramm, in: Alf Lüdtke/Peter Becker (Hg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte, Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997, S.l67-188, hier S.l80185. 29
S.3.
Chemie ist Trumpf. Über die Entwicklung der chemischen Industrie der DDR, Dresden 1965,
30 Vgl. Helmut Hanke, Schöpfung ohne Grenzen. Das Chemieprogramm revolutioniert unser Leben, Berlin 1959.
31 Carl Wege, Schkona, Schwedt und Schwarze Pumpe. Zur DDR-Literatur im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution (1955-1971), Bremen o.J., S.8. 32 Karl-Heinz Jakobs, Beschreibung eines Sommers, Berlin 1961 . Im Roman heißt die beschriebene Stadt "Wartha", die bis ins Detail Schwedt gleicht.
33
Vgl. Ein Buch Uber uns? In: Junger Erbauer 2 (1962) Nr.8 (16.5.1962), S.4.
34 Vgl. Jakobs, Beschreibung, S.73-81 . Der Ich-Erzähler resUmiert am Ende: "Es war viel angelesenes Populärwissen bei dem, was sie erzählten. Es war viel Phantasie dabei, wie sie die wissenschaftlichen Fakten ausschmUeklen oder - mißverstanden - auslegten. Es war viel Ernst dabei und viel unbekUmmerte Heiterkeit, wenn einer einen unfreiwilligen Witz riß. Aber am meisten war Romantik dabei, so was, was man mit sozialistischer Romantik bezeichnen könnte. In der Zeitung hane ich mal die Formulierung: Träumen nach vom - gelesen, die mich amUsiert hatte. Genauso ein Träumen nach vom war's an jenem Abend am Lagerfeuer." S.80f.
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Wie sehr der Aufbau Schwedts mit dem Chemieprogramm verbunden war und diese Verbindung durch den beschriebenen Zukunftsoptimismus bestimmt wurde, dokumentiert besonders anschaulich das Gedicht "Seht her!" des Justitiars und "Laienschaffenden" Wolfgang Rodewald, das 1965 in der Zeitung der SEDBetriebsparteiorganisation des Erdölverarbeitungswerkes erschien und sich auf eine Leuchtschrift auf dem Arbeiterwohnheim bezieht: "Die Nacht steigt aus dem Oderlauf, I Die Stadt umdunkelt sich. I Am Hochhaus leuchtet Neon auf: I 'Chemie filr uns- fiir dich!' II Hier grün, dort rot, zehn Kilowatt-, I Seht her! Das schufen wir: I Das neue Werk, die neue Stadt. I Der neue Mensch wuchs hier! II Hell leuchtet der Wörter Band. I Es ist der Fahnen Rot, I Die Freiheit brachten unserm Land. I Und Frieden, Glück und Brot! II Grün strahlt das Werkemblem weithin: I Sieh, freie Landwirtschaft, I Für grüner Saaten Neubeginn I Gibt die Chemie dir Kraft! II Chemie filr uns, filr mich und dich! I Sie fUhrt ins Zukunftsland; I Zum Riesenzaub'rer reckt sie sich, I Liegt sie in Volkes Hand."35 Dieser grenzenlose Optimismus blieb jedoch auf die 1960er Jahre beschränkt. In den 1970er Jahren, als "die Erneuerun~senergie der SED-Politik - auch ihr utopischer Gehalt - merklich" nachließen3 , verschwanden die Träume und Zukunftsbeschreibungen aus den Zeitungen, Büchern und Reden, auch wenn das "Zukunftsland" noch keineswegs erreicht worden war. Was filr die zentrale Ebene von RainerGries als Erich Honeckers "Entdeckung der Langsamkeit"37 bzw. von Dietrich Staritz als Verzicht auf "alles Visionäre", auf ein "terminiertes Etappenziel" und auf "eine Skizze künftiger politisch-sozialer Strukturen" 38 im SED-Parteiprogramm von 1976 beschrieben worden ist, findet sich auch im städtischen Alltag der Stadt Schwedt. Obwohl der Aufbau der Stadt bis zum Ende der DDR nicht abgeschlossen war, die Menschen also sich weiter "im Unfertigen" einrichten mußten, verschwanden die konkreten Beschreibungen der zukünftigen Entwicklung aus der Presse und aus anderen öffentlichen Stellungnahmen. Städtebaulicher Ausdruck dieses Verschwindens der Zukunft war die nicht erfolgte Realisierung des Stadtzentrums. Mit erheblichem Aufwand hatte man Ende der 1960er Jahre dieses Zentrum nicht nur geplant, sondern auch der Bevölkerung als Inkarnation der Wirklichkeitswerdung der sozialistischen Utopie vermittelt. Anders als in anderen Städten waren die geplanten Bauten wie Kulturhaus, Hauptpost, Bahnhof, Kino oder die Dominanten "Haus der Parteien und 35 Junger Erbauer 5 (1965) Nr.42 (10.11.1965), S. IO. 36 Jürgen Kocka, Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR, in: ders., Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, S.I02-121, hier S. 114.
37 Rainer Gries, Zum "Geburtstag der Republik", in: Universitas 54 (1999), S.307-311, hier S.310. Vgl. auch ders., "Geburtstage", S.296; ders., Zukunft, S.326. 38
Dietrich Staritz, Geschichte der DDR; Frankfurt a.M. 1996, S.281.
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Organisationen" und "Haus des Bau- und Montagekombinates" nicht nur Prestigeobjekte. Man benötigte sie dringend, um Schwedt zur vollständigen Stadt zu machen und um die Ansprüche der Bevölkerung zu befriedigen, denn bisher hatte die neue Stadt außer Arbeitsplätzen und modernen Wohnungen nicht viel mehr zu bieten. Während in den 1960er Jahren die Hoffnung auf die Zukunft nicht selten zunächst die alltäglichen Probleme weniger gravierend erscheinen ließ, so änderte sich dies seit den 1970er Jahren. Zu Beginn dieses Jahrzehnts waren die Planungen und Bauarbeiten am Stadtzentrum aus ökonomischen Gründen erheblich eingeschränkt worden und der Aufbau des Stadtzentrums somit praktisch zum Erliegen gekommen. Dies trug zum wachsenden Unmut in der Bevölkerung bei: "Oft entstand die Meinung, daß mit dem bisherigen Bautempo die bedeutend größeren Aufgaben zur wesentlichen Fertigstellung des Stadtzentrums bis zum 25. Jahrestag der DDR nicht realisiert werden können. Diese Meinung entstand dadurch, daß in den zurückliegenden 10 Jahren der Plan fiir den komplexen Aufbau der Stadt nicht einmal erftillt wurde. Wir setzten uns mit diesen Auffassungen prinzipiell auseinander, indem wir erklärten, daß man das Morgen nicht mit dem Bautempo von heute messen kann. Wir konnten anhand der beschlossenen Konzeption auch erfolgreich die Auseinandersetzung mit solchen Auffassungen filhren, daß man in Schwedt nur wohnen, aber nicht leben kann. Bezogen waren diese Argumente auf fehlende gesellschaftliche Einrichtungen"39 heißt es etwa in einem Bericht ftlr die SED-Kreisleitung. Mit dem Eingeständnis, daß die vorhandenen Disproportionen zwischen Wohnungs- und Gesellschaftsbau [... ] weiter verschärft würden" 40 , standen die Stadtverordnetenversammlung und der Rat "in ihrer politischen Öffentlichkeitsarbeit" vor einem Problem, denn sie und der betreffende Politbürobeschluß hatten eine Realisierung bis 1974 versprochen. Die Haltung der Bevölkerung zur Entwicklung der Stadt zeigt sich auch bei einem Frauenforum, das im Petrolchemischen Kombinat abgehalten wurde. Viele weibliche Beschäftigte übten dabei erhebliche Kritik an den Zuständen in Schwedt. Die Diskrepanz zwischen der verlautbarten Zukunft und der tatsächlichen Realität war zu groß geworden. "Zum Ende des Diskussion stand eine Genossin [... ] auf', schildert ein interner Bericht die Ereignisse, "und sagte etwa sinngemäß, daß in den Aufbaujahren des Werkes und der Stadt ftlr vieles Verständnis vorhanden war, daß aber Schwedt heute nicht mehr lebenswert sei." 41 39 Vorlage von Oberbürgermeister Klaus-Dieter Hahn ftlr das Sekretariat der SED-KL betr. "Bericht Uber den Stand der Realisierung des Politbürobeschlusses vom 10.12.1968 Uber die Gestaltung des Stadtzentrums" vom 2.9.1969 (BLHA Bez. FFO. Rep.731133 SED-KL Schwedt, Protokoll der Sekretariatssitzung vom 18.9.1969). 40
Ebd.
41 B[arbel] Schiller, Vorsitzende des Frauenausschusses der BGL des VEB PCK-Stammbetrieb Schwedt, Protokoll des am 19.8.1971 durchgeftlhrten Frauenforums im PCK-Stammbetrieb vom 10.9.1971 (BLHA Bez. FFO. Rep.731/126 SED-KL Schwedt, Material der Frauenkommission).
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Die Situation in Schwedt war somit äußerst problematisch. Während im allgemeinen Ende der 1960er Jahre meist verkündet wurde, daß "die Ideale zu einem Gutteil bereits Wirklichkeit geworden seien"42, stand der Schwedter Aufbau dazu im sichtbaren Gegensatz. Noch zu unvollständig war Schwedt, zu sehr bedurfte es weiterhin der utopischen Zukunftsperspektiven- und vor allem deren Realisierung. Daß dieser Bedarf nicht befriedigt wurde, dürfte zu den Schwierigkeiten der Stadt in den folgenden beiden Jahrzehnten beigetragen haben. Nicht zuletzt deshalb, weil es nicht gelang, das Bild von der glanzvollen Zukunft aufrechtzuerhalten und die Stadt den ursprtlnglichen Vorstellungen entsprechend zu komplettieren, und Schwedt außerdem, ähnlich wie die anderen Industrieplanstädte43 , zunehmend aus dem Blickfeld der Zentrale geriet, kam es zu einer verstärkten Fluktuation der Bevölkerung. Zwar nahm die Einwohnerzahl nur geringfilgig ab, da es immer noch Geburtenüberschüsse gab44 und nach wie vor Menschen wegen der modernen Wohnungen nach Schwedt zogen. Doch trotzdem zeigt diese steigende Fluktuation eine sinkende Bereitschaft zur Identifikation mit der Stadt. Auch filr die verbliebenen Menschen dürfte der häufige Wechsel nicht einfach zu bewältigen gewesen sein. Anders als in den 1960er Jahren, gerieten die Bewohner nun in die Defensive gegenüber denjenigen, die die Stadt verließen. Auch in der Literatur erhielt Schwedt ein anderes Gesicht: "In letzter Zeit war's wie im Taubenschlag"45 , berichtet eine Frau in Wolfgang Noas Erzählung "Wieviel Stunden hat ein Tag" von der erhöhten Fluktuation. Und weiter: "Wenn man hier aus 'm Fenster guckt, was sieht man? Beton, kein Einfamilienhaus mal dazwischen, nichts Aufgelockertes, nur diese Blöcke, einförmig lang hin, da wird man ja irre." 46 Vor allem die Probleme des Alltags in der nicht mehr so neuen sozialistischen Stadt werden in dem Text thematisiert. Gleichzeitig versichert sich die Erzählerin aber auch immer wieder des Erreichten (wie zum Beispiel der komfortablen Wohnungen und der kurzen Wege zu den Arbeitsstellen). Ein-
42
Gries, Zukunft, S.322.
43
Zu Eisenhottenstadt vgl. dazu zum Beispiel May, Planstadt, S. 319.
44 Vgl. dazu auch Siegfried Grundmann, Der Einfluß der Standortwahl des Wohnungsbaus auf die räumliche Umverteilung der Bevölkerung in der DDR, in: Comparativ 6 (1996) H.3: Wohnungsbau im internationalen Vergleich. Planung und gesellschaftliche Steuerung in den beiden deutschen Staaten und in Schweden 1945-1980, hg. v. Hannes Siegrist und Bo Strath, S.I48-175, hier S.I69. 45
Wolfgang Noa, Wieviel Stunden hat ein Tag. Eine Erzählung, Berlin/Weimar 1987, S.8.
46
Ebd., S.63 .
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dringlich zeigt sich so die Ambivalenz der Wahrnehmung der Stadt in den letzten Jahren der DDR - optimistische (oder utopische) Perspektiven spielen dabei allerdings keine Rolle mehr. Von den Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, die viele Jahre hindurch das Bild der Stadt und die Vorstellungen der Bewohner geprägt hatten, war am Ende der DDR nicht mehr viel übrig. Die sozialistische Stadt war, wie der Kritiker Bruno Flierl es ausgedrückt hat, "als gesellschaftspolitische und städtebaulicharchitektonische Aufgabe, erst recht als mobilisierende Zielsetzung oder gar Utopie"47 verschwunden - und dies galt nicht nur im Hinblick auf architekturtheoretische Debatten. Einst galt Schwedt als Inbegriff besserer, kommender Zeiten, doch nun sahen diejenigen, die die Stadt verließen, ihre Zukunft hinter dem Schwedter "Erwartungshorizont"48 25 Jahre nach der Festschrift zum 700jährigen Jubiläum, in der die Frage nach den Geschichtsschreibern des Jahres 2000 gestellt worden war, erschien 1990 zum 725jährigen Jubiläum erneut eine Festschrift49 • Von dem Optimismus und der Utopiegläubigkeit der 1960er Jahre ist darin nichts mehr zu finden. Zwar trägt das Schlußwort den Titel "Auch Schwedt hat seine Zukunft", doch ist darunter vor aliem eine Vergewisserung zu finden Uber das, was während der Jahre in der DDR geschaffen worden ist- moderne Wohnungen, Kindergärten, kurze Wege zum Arbeitsplatz, viel Grün und ein reges Kulturleben. "Dennoch", heißt es in dem Text allerdings, "hat sich längst nicht bei allen, die in den ftlnfziger und sechziger Jahren aus Sachsen, Mecklenburg, Anhalt oder aus dem Thüringischen zu§ereist waren, eine echte Zufriedenheit mit dem neuen Wohnsitz entwickelt''5 . Und so klingt der Satz "Auch Schwedt hat seine Zukunft" nicht wie ein optimistischer Schlachtruf, eher wohl wie ein Pfeifen im Keller. Die Zukunftserwartungen der 1960er Jahre waren schon lange vor 1989/90 verschwunden.
47 Bruno Flierl, Statement, in: Holger Barth (Hg.), Planen filr das .Kollektiv. Handlungs- und Gestaltungsspielräume von Architekten und Stadtplanem in der DDR, Erkner (bei Berlin) 1999, S.85-88, hier S.87. 48
Gries, Zukunft, S.332.
49 Stadtverwaltung Schwedt (Oder) (Hg.), 725 Jahre Schwedt. 1265-1990. Geschichte und Geschichten zum Jubi1aum, [Schwedt 1990].
so Auch Schwedt hat seine Zukunft, in: Ebd., S.48.
Gesellschaftlicher Wandel in zwei sächsischen Städten in den letzten Jahrzehnten
Von Anton Sterbling
Die folgenden Ausfilhrungen beziehen sich vornehmlich auf die beiden im Osten des Freistaates Sachsen gelegenen Städte Görlitz und Hoyerswerda. Zunächst sollen einige Befunde zur demographischen, beschäftigungsbezogenen und sozialen Entwicklung in diesen Städten dargelegt werden. Anschließend werden ausgewählte Ergebnisse zur subjektiven Wahrnehmung und Bewertung wichtiger lebensqualitätsrelevanter Aspekte angesprochen, die sich auf eigene empirische Untersuchungen stützen. 1 Die eigenen Untersuchungen beruhen auf schriftlichen Bevölkerungsbefragungen, die im Juni 1998 in Hoyerswerda und im Januar/Februar 1999 in Görlitz durchgefilhrt wurden. Für die Befragungen wurden Zufallsstichproben von jeweils 2.000 Personen der Wohnbevölkerung beider Städte ab dem 14 Lebensjahr gezogen. Die Rücklaufquoten betrugen rund 36 Prozent in Hoyerswerda und 48 Prozent in Görlitz. Die Überprüfung der Repräsentativität der Stichproben ergab in beiden Fällen im Hinblick auf die meisten sozialdemographischen Variablen hinreichende Übereinstimmungen. Bei den Befragungen wurden weitgehend standardisierte Erhebungsinstrumente verwendet, die im Falle beider Untersuchungen nahezu identisch waren. 2 Die Fragebogen umfaßten jeweils 5 1 Siehe dazu ausftlhrlicher: Burgheim, Joachim/Sterbling, Anion: Hoyerswerda: Modell kommunaler Kriminalpravention in Sachsen. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, Konstanz 1999; Burgheim, Joachim/Sterbling, Anton: Kriminalitatswahmehmung und Lebenszufriedenheit Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hoyerswerda, Rothenburger Beitrage. Schriftenreihe der Fachhochschule ftlr Polizei Sachsen (Band 1), Rothenburg/Oberlausitz 1999; Burgheim, Joachim/Sterbling, Anton: Subjektive Sicherheit und LebensqualiUil in Görlitz, Rothenburger Beitrage. Schriftenreihe der Fachhochschule ftlr Polizei Sachsen (Band 4}, Rothenburg/Oberlausitz 2000. 2 In den Fragebogen von Görlitz wurden zusatzlieh Fragen zur Bewertung der Arbeit der Stadtverwaltung und zur Görlitzer Sicherheitswacht aufgenommen. Daftlr wurde auf Fragen nach der Zufriedenheit mit dem eigenen Gesundheitszustand und der Staatsangehörigkeit verzichtet.
30 nmmennann
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Anton Sterbling
offene Fragen und 61 (in Hoyerswerda) bzw. 63 (Görlitz) geschlossene Fragen. Ganz grob zusammengefaßt, bezogen sich die Einzelfragen auf folgende Problemkomplexe: Soziale Probleme und die Problematik der inneren Sicherheit in der Sicht der Befragten; Zufriedenheit mit einzelnen Lebensbereichen und mit der inneren Sicherheit; Subjektive Angst vor Kriminalität; eigene und indirekte Kriminalitätserfahrungen; Kontakte zur Polizei und Bewertung des Polizeiverhaltens; Wahrnehmung und Bewertung der Kriminalität und anderer kommunaler Probleme; Zufriedenheit mit sicherheitsrelevanten staatlichen Institutionen; Sozialdemographische Gegebenheiten und ihre Einflüsse; Wohndauer, Wohngegend und soziale Integration und ihre Einflüsse; Anregungen und Vorschläge der befragten Bürger. Neben diesen eigenen Befragungsergebnissen stützen sich die weiteren Ausfilhrungen auf Daten der kommunalen und amtlichen Statistik. 1 Darüber hinaus werden vergleichbare Ergebnisse anderer Untersuchungen herangezogen. 2
I. Sozialdemographische, beschäftigungsbezogene und soziale Entwicklungen Hoyerswerda und Görlitz sind heute zwei ostsächsische Städte ähnlicher Größenordnung, mit vielen ähnlichen sozialdemographischen und wirtschaftsstrukturellen Problemen, aber auch - in einer längerfristigen und mittelfristigen Perspektive betrachtet- mit beachtlichen Unterschieden und Besonderheiten. Wenn die durch massive Abwanderungsprozesse und die Überalterung der Bevölkerung herbeigefilhrten sozialdemographischen Veränderungen in beiden Städten gegenwärtig auch sehr ähnlich erscheinen, geschieht dies doch vor einem 1 Siehe: Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht bzw. Statistischer Bericht (monatlich), Hoyerswerda 1996 ff; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistische Berichte, Hoyerswerda 1999; Stadtverwaltung Gorlitz (Hrsg.): Statistischer Jahresbericht 2000. Kreisfreie Stadt Gorlitz, GOrlitz 2000; Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch Sachsen 1999, Kamenz 1999. 2 Siehe: Glatzer, Wolfgang!Noll. Heinz-Herbert (Hrsg.): Getrennt- Vereint. Lebensverhaltnisse in Deutschland seit der Wiedervereinigung, Frankfurt a. M.-New York 1995; Bulmahn, Thomas: Das vereinte Deutschland - Eine lebenswerte Gesellschaft? Zur Bewertung von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit in Ost und West, in: Kötner Zeitschrift ftlr Soziologie und Sozialpsychologie, 52. Jg., Opladen 2000 (S. 405-427) : Wink/er. Gunnar (Hrsg.): Sozialbericht 1999. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundeslandem, Berlin 1999; Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Datenreport 1999. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000; Felles, lhomas (Hrsg.): Kommunale Kriminalpravention in Baden-Württemberg. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung von drei Pilotprojekten, Holzkirchen/Obb. 1995.
467
Gesellschaftlicher Wandel in zwei sachsischen Stadten
recht unterschiedlichen entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund, wie nicht zuletzt ein Blick auf die längerfristige Bevölkerungsentwicklung zeigt (Tabelle 1).3 Während Görlitz in der unmittelbaren Nachkriegszeit nahezu 100.000 und Mitte der fünfzigerJahrerund 94.000 Einwohner hatte, wies Hoyerswerda Mitte der filnfziger Jahre erst knapp 8.000 Einwohner auf. Die Bevölkerungszahl Hoyerswerdas wuchs seit Ende der filnfziger und vor allem in den sechziger Jahren mit der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung stark an und verneunfachte sich im Zeitraum 1955 bis 1980 von knapp 8000 auf über 70.000 Einwohner. Zwischen 1980 und 1990 ging die Bevölkerungszahl dann allerdings schon um rund 6.000 Personen zurück. In Görlitz hingegen nahm die Bevölkerung bereits zwischen 1955 und 1980 um rund 12.000 und zwischen 1980 und 1990 dann nochmals um rund 9.000 Personen ab. In den neunziger Jahren hat sich der Bevölkerungsrückgang sodann nochmals in beiden Städten beschleunigt. Tabelle 1
Bevölkerungsentwicklung in Hoyerswerda und Görlitz 1955/56 - 1999
Zeitpunkt
Hoyerswerda
Görlitz
1955/1956
7.755
93.759
1980
70.705
81.399
31.12.1990
64.888
72.237
31.12.1995
58.667
66.118
31.11.1999 bzw. 3 1.12.1999
51.792
62.067
Zwischen 1990 und 1999 sankt die Bevölkerungszahl in Hoyerswerda von knapp 65.000 auf knapp 52.000, was- auf das Ausgangsjahr 1990 bezogeneinem prozentualen Rückgang von 20 Prozent entspricht. In Görlitz ging die Wohnbevölkerung im gleichen Zeitraum von rund 72.000 auf rund 62.000 zurück, wobei dies einen prozentualen Rückgang von etwa 14 Prozent bedeutet. Die Bevölkerungsverluste gehen sowohl auf die natürliche
3 Siehe dazu: Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistische Berichte, Hoyerswerda 1999, vgl. S. 12; Stadtverwaltung Görlitz (Hrsg.): Statistischer Jahresbericht 2000. Kreisfreie Stadt Görlitz, Görlitz 2000, vgl. S. 16 f.
lO•
468
Anton Sterbling
Bevölkerungsbewegung4 wie auch und vor allem auf Wanderungsverluste zurück. Die Abwanderung filhrte insbesondere bei der Altersgruppe der 20 bis 30Jährigen zur deutlichen Schrumpfung einzelner Jahrgänge mit entsprechenden Auswirkungen auf die Altersstruktur, die eine zunehmende Überalterung der Bevölkerung erkennen läßt. s Die Bevölkerungsverluste in beiden ostsächsischen Städten durch kontinuierliche Abwanderungen sind nicht zuletzt durch ungünstige wirtschaftsstrukturelle Entwicklungen und insbesondere durch eine hohe Arbeitslosigkeit bewirkt. Im September 2000 lag die Arbeitslosenquote in Hoyerswerda bei 23,8 Prozent und in Görlitz bei 21,3 Prozent, also jede vierte bzw. mehr als jede filnfte Erwerbsperson war in diesen Städten arbeitslos. 6 Die Entwicklung der Arbeitslosenquote im Altkreis Hoyerswerda7 in den letzten Jahren stellt sich folgendermaßen dar: Tabelle 2
Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Altkreis Hoyerswerda 1995 bis 2000
Arbeitslose Zeitpunkt
Arbeitslosenquote
Anteil Jugendliehe
Anteil Frauen
Anteil Alleinerziehende
Januar 1995
14,3%
13,06%
73,2%
11,23%
Januar 1996
21,2%
9,47%
58,5%
9,05%
Januar 1997
23,6%
10,03%
54,5%
8,38%
• So lagen in Hoyerswerda noch 1986 bis 1988 die jahrliehen Geburtenzahlen etwa doppelt so hoch wie die Zahl der Gestorbenen, wahrend seit 1991 die Zahl der Gestorbenen deutlich höher als die der Geburten liegt. In Görlitz hingegen ist schon seit I 956 durchgangig ein Geburtendefizit zu verzeichnen. Siehe: Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht Dezember 1986, Hoyerswerda 1996, vgl. S. 5; Stadtverwaltung Görlitz (Hrsg.): Statistischer Jahresbericht 2000. Kreisfreie Stadt Görlitz, Görlitz 2000, vgl. S. 39. 5 Siehe: Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistische Berichte, Hoyerswerda 1999, insb. S. 18 ff; Stadtverwaltung Görlitz (Hrsg.): Statistischer Jahresbericht 2000. Kreisfreie Stadt Görlitz, Görlitz 2000, insb. S. 18 ff. 6 Siehe: "Negativ-Rekord filr September", in: Sachsische Zeitung, vom 6. Oktober 2000, S. 9, nach aktuellen Daten des Arbeitsamtes Bautzen. 1 Siehe: Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht Januar 1995, Hoyerswerda 1995, vgl. S. 3; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht, Januar 1996, Hoyerswerda 1996, vgl. S. 3; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht, Januar 1997, Hoyerswerda 1997, vgl. S. 2; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht, Juni 1997, Hoyerswerda 1997, vgl. S. 2; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Bericht- Monat Juni 1998, Hoyerswerda 1998, vgl. S. 2; "Negativ-Rekord filr September", in: Sachsische Zeitung, vom 6. Oktober 2000, S. 9.
469
Gesellschaftlicher Wandel in zwei sächsischen Städten
Juni 1997
22,5%
8,98%
58,2%
9,10%
Juni 1998
24,2%
8,12%
56,7%
9,34%
Sept. 2000
23,8%
Wie zu erkennen ist, stieg die Arbeitslosenquote im Altkreis Hoyerswerda zwischen Januar 1995 bis Juni 1998 von 14,3 auf24,2 Prozent, wobei die Arbeitslosenquote insbesondere am Ende des Jahres 1995 einen starken Anstieg von 16,5 Prozent im Dezember 1995 auf 21,2 Prozent im Januar 1996 erfuhr. Der Anteil der Jugendlichen bis 25 Jahren an den Arbeitslosen ging - auch auf Grund individueller Mobilitätsbereitschaft und entsprechender staatlicher Förderungsmaßnahmen - von 13 Prozent auf 8 Prozent zurück. Ebenso verringerte sich der Anteil der Frauen an den Arbeitslosen - nicht zuletzt durch Rückzugs- und Verdrängungsprozesse aus dem Erwerbsleben - von 73,3 Prozent im Januar 1995 auf 56,7 Prozent im Juni 1998. Der Anteil der Alleinerziehenden an den Arbeitslosen betrug - bei gewissen Schwankungen - zwischen 9 und 11 Prozent, der der Schwerbehinderten rund 2 Prozent. Die Arbeitslosigkeit in Görlitz hatte - auf einem etwas niedrigeren Niveau einen ähnlichen Verlaufwie in Hoyerswerda: 8 Tabelle 3
Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Bereich der Arbeitsamt-Geschäftsstelle Görlitz 1995 bis 2000
Arbeitslose Zeitpunkt
Arbeitslosenquote
Anteil Jugendliehe
Anteil Frauen
Anteil Alleinerziehende
Juni 1995
15,3%
11,31%
65,72%
11,49%
Juni 1996
17,5%
9,11%
62,06%
11,69%
Juni 1997
19,2%
8,95%
59,86%
11,23%
Juni 1998
21,5%
8,82%
54,90%
11,25%
Juni 1999
22,1%
7,99%
54,50%
11,53%
Sept. 2000
21,3%
8 Siehe: Stadtverwaltung Görlitz (Hrsg.): Statistischer Jahresbericht 2000. Kreisfreie Stadt Görlitz, Görlitz 2000, vgl. S. 70 f; ,,Negativ-Rekord fur September", in: Sachsische Zeitung, vom 6. Oktober 2000, S. 9, nach aktuellen Daten des Arbeitsamtes Bautzen.
470
Anton Sterbling
Zwischen Juni 1995 und Juni 1998 stieg die Arbeitslosenquote von 15,3 auf 21,5 Prozent. Im Juni 1999 betrug die Arbeitslosenquote 22,1 Prozent und im September 2000 sodann 21 ,3 Prozent. Der Anteil der Jugendlichen bis 25 Jahren an den Arbeitslosen ging indes zwischen 1995 und 1999 von 11,3 Prozent auf 8 Prozent zurück. Der Anteil der Frauen an den Arbeitslosen verringerte sich im gleichen Zeitraum ebenfalls von 65,7 Prozent auf 54,5 Prozent. Der Anteil der Alleinerziehenden an den Arbeitslosen betrug im Zeitraum 1995 bis 1999 - bei relativ geringen Schwankungen - rund 11 ,5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit in Hoyerswerda und in Görlitz ist vor allem das Ergebnis schwieriger wirtschaftlicher Strukturanpassungen und sozioökonomischer Transformationsprozesse nach dem Niedergang der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa und der deutschen Wiedervereinigung. 9 Auf lokale Einzelheiten und Besonderheiten dieser wirtschaftsstrukturellen Anpassungen soll an dieser Stelle allerdings nicht näher eingegangen werden. 10 Die nächste Frage wäre, hat der aufgezeigte Anstieg der Arbeitslosigkeit zu wachsenden sozialen Problemen und um sich greifenden Verarmungstendenzen geführt? Dazu sei im Folgenden (Tabelle 4) 11 zunächst ein Überblick zur Entwicklung der Zahl der Sozialhilfeempflinger in Hoyerswerda gegeben, wobei nur die Personen berücksichtigt werden, die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten.
9 Siehe auch: Slerbling, Anion: Der soziale Umbau in den osteuropäischen Transfonnationslandem und seine Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland, in: Eckart, KarVParaskewopoulos, Spiridon (Hrsg.): Der Wirtschaftsstandort Deutschland, Berlin 1997 (S. 137-158). 10 Nahere Einzelbetrachtungen zum Wirtschafts- und beschäftigungsstrukturellen Wandel in Hoyerswerda finden sich in: Sterbling, Anion: Beschaftigungssituation, Sicherheitsbedarfnisse und Lebenszufriedenheit. Teilergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hoyerswerda, in: Sterbling, Anton: Modemisierungsprobleme und Ungleichzeitigkeilen des Denkens in Ost und West, Rotbenburger Beitrage. Schriftenreihe der Fachhochschule filr Polizei Sachsen (Band 3), Rothenburg!Oberlausitz 1999 (S. 303-323).
11 Siehe dazu: Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht Januar 1995, 1995, vgl. S. 4; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht, Januar 1996, 1996, vgl. S. 4; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht, Januar 1997, 1997, vgl. S. 2; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht, Juni 1997, 1997, vgl. S. 2; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Bericht- Monat Juni 1998, 1998, vgl. S. 2.
Hoyerswerda Hoyerswerda Hoyerswerda Hoyerswerda Hoyerswerda
471
Gesellschaftlicher Wandel in zwei sachsischen Stadten
Tabelle 4 Entwicklung der Zahl der Sozialhilfeempfanger (Hilfe zum Lebensunterhalt) in Hoyerswerda 1995 bis 1998
Sozialhilfeempfänger Zeitpunkt
Betroffene insgesamt
Betroffene Frauen
Anteil der Frauen
Januar 1995
347
200
57,64%
Januar 1996
438
247
56,39%
Januar 1997
553
324
58,59%
Juni 1997
543
321
59,12%
Juni 1998
607
383
63,10%
In dem Betrachtungszeitraum Januar 1995 bis Juni 1998 stieg die Zahl der Personen, die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten haben, nahezu kontinuierlich von 34 7 auf 607 Personen an, wobei gleichzeitig der RUckgang der Wohnbevölkerung um rund 10 Prozent im gleichen Zeitraum zu berücksichtigen ist. Nahezu kontinuierlich stieg auch der Anteil der Frauen unter den Personen, die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt bekamen, von rund 57 Prozent auf 63 Prozent. Die Zahl der Obdachlosen hat sich von Januar 1996 bis Juni 1998 von 96 auf 209 Personen erhöht. 12 Die Zahl der Wohngeldempfiinger belief sich im Januar 1995 auf insgesamt 2.922, im Januar 1996 (einschließlich der Empfllnger von pauschaliertem Wohngeld) auf2.330, im Januar 1997 auf2.101 und im Juni 1998 auf 2. 715 Fälle. 13 Eine ähnliche Entwicklungstendenz läßt sich auch in Görlitz erkennen (Tabelle 5). 14 Die Zahl der Sozialhilfeempfänger - hier ebenfalls nur die Empfiinger laufender Hilfe zum Lebensunterhalt- stieg zwischen 1995 und 1998 von 1.302 auf 2.533 Personen und lag im Juni 1999 bei 2.312 Betroffenen. Im Vergleich zu Hoyerswerda liegt der Anteil der Sozialhilfeempfllnger an der Wohnbevölkenmg in Görlitz deutlich höher. 12 Siehe: Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht, Februar 1996, Hoyerswerda 1996, vgl. S. 4; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Bericht - Monat Juni 1998, Hoyerswerda 1998, vgl. S. 3. 13
vgl. vgl. vgl. vgl.
Siehe: Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht Januar 1995, Hoyerswerda S. 4; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht, Januar 1996, Hoyerswerda S. 4; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht, Januar 1997, Hoyerswerda S. 3; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Bericht- Monat Juni 1998, Hoyerswerda S. 3.
1995, 1996, 1997, 1998,
14 Siehe: Stadtverwaltung Görlitz (Hrsg.): Statistischer Jahresbericht 2000. Kreisfreie Stadt Görlitz, Görlitz 2000, vgl. S. 123.
472
Anton Sterbling
Tabelle 5
Entwicklung der Zahl der Sozialhilfeempfänger (Hilfe zum Lebensunterhalt) in Görlitz 1995 bis 1999
Sozialhilfeempfänger Zeitpunkt
Betroffene insgesamt
31.12.1995
1.302
31.12.1996
1.390
31.12.1997
2.108
31.12.1998
2.533
30.6.1999
2.312
Die in den zurückliegenden Jahren zunehmend ungünstigere Beschäftigungssituation und die Zunahme der Arbeitslosigkeit filhrten zweifellos zu einer wachsenden Zahl von Menschen in einer unbefriedigenden oder problematischen materiellen Lebenssituation, wenngleich die diesbezüglichen Befunde im Vergleich zur gesamten Bundesrepublik Deutschland keineswegs dramatisch erscheinen. 15 Auf der anderen Seite sollte natürlich nicht übersehen werden, daß die deutsche Wiedervereinigung filr die Menschen in Hoyerswerda und Görlitz wie überhaupt filr die Menschen in Ostdeutschland vielfach eine deutliche Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen und der materiellen Wohlstandssituation gebracht hat. Zwischen 1990 und 1999 haben sich die Haushaltsnettoeinkommen in den neuen Bundesländern nahezu verdoppelt. Das relative kaufkraftbereinigte Einkommen in Ostdeutschland stieg von rund 63 Prozent des westdeutschen Einkommensniveaus im Jahre 1992 aufrund 85 Prozent im Jahre 1997. 16 Wie wird all dies subjektiv wahrgenommen und bewertet? •~ Zum Jahresende 1997 waren in der Bundesrepublik Deutschland 2.893.178 Personen im Rahmen der Sozialhilfe Empfilnger laufender Hilfe zum Lebensunterhalt. Dies entspricht bei einer Wohnbevölkerung von rund 82.057.000 einem Bevölkerungsanteil von 3,5 Prozent. Zum gleichen Zeitpunkt lag der Anteil der Empfilnger laufender Hilfe zum Lebensunterhalt in Görlitz bei 3,7 Prozent und in Hoyerswerda sogar nur bei knapp I Prozent. Siehe: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Datenreport 1999. Zahlen und Fakten Ober die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000, vgl. S. 27 und S. 214; Stadtverwaltung Görlitz (Hrsg.): Statistischer Jahresbericht 2000. Kreisfreie Stadt Görlitz, Görlitz 2000, vgl. S. 123; Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht, Juni 1997, Hoyerswerda 1997, vgl. S. 2. 16 Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen in Ostdeutschland stieg von 1.624 Mark/DM im Jahre 1990 Ober 2.592 DM im Jahre 1993 auf3.021 DM im Jahre 1999. Dies entspricht einem prozentualen Anstieg von 86 Prozent. Insbesondere Anfang der neunziger Jahre waren die Realeinkommenszuwachse in Ostdeutschland sehr hoch. Der relative Einkommensabstand zwischen Ostund Westdeutschland verringerte sich bei Mitberücksichtigung der Kaufkraftunterschiede von 62,8 Prozent im Jahre 1992 auf 84,7 Prozent im Jahre 1997. Das monatliche Nettoeinkommen Pro-Kopf lag in Hoyerswerda 1995 etwas höher als in Sachsen insgesamt, wobei das Einkommensniveau im
Gesellschaftlicher Wandel in zwei sächsischen Städten
473
II. Subjektive Lebenszufriedenheit in ausgewählten Lebensbereichen Vor dem grob umrissenen Hintergrund einiger wichtiger "objektiver" sozialdemographischer, beschäftigungsbezogener und sozialer Gegebenheiten und Entwicklungen in Hoyerswerda und Görlitz soll es nun im Folgenden um einige ausgewählte Befunde der "subjektiven" Wahrnehmung und Bewertung gehen. Vor dem Hintergrund der dargestellten sozialdemographischen Entwicklungen und Wanderungsprozessen in beiden ostsächsischen Städten stellt sich die Frage nach Aus- und Rückwirkungen auf die sozialen Beziehungen und die soziale Integration. 17 Tabelle 6
Verwandtschafts-, Freundschafts- und Bekanntschaftsbeziehungen vor Ort und Zufriedenheit mit der sozialen Integration in Hoyerswerda Ausmaß Beziehungen
sehr viele
Verwandte, Freunde
154 (21,4 %)
Zufriedenheit
sehr zufrieden
Soziale Integration
69 (9,6 %)
viele
wenige
sehr wenige
k.A.
42 (5,8 %)
6 (0,8 %)
eher eher zufrieden unzufr.
sehr unzufr.
k.A.
470 (65,4 %)
17 (2,4 %)
27 (3,8 %)
328 189 (45,6 %) (26,3 %)
136 (18,9 %)
Dabei stellte sich in unserer Erhebung heraus (Tabelle 6), daß selbst in Hoyerswerda, einer Stadt mit einer sehr hohen Wanderungsdynamik in den letzten vier bis filnf Jahrzehnten, ftlr die meisten Bürger eine dichtes Netzwerk sozialer Einbindungen gegeben zu sein scheint. Rund 21 Prozent der Befragten berichten von sehr vielen und weitere 46 Prozent von vielen sozialen Beziehungen vor Ort.
Freistaat Sachsen - z.B. bezogen auf den durchschnittlichen Bruttomomitsverdienst - allerdings nur bei etwa 73 Prozent (73,2 im Jahre 1998) des durchschnittlichen Bruttomonatsverdienstes in der Bundesrepublik Deutschland angesiedelt ist und auch im Vergleich zu den anderen ostdeutschen Bundesländern eher niedriger liegt. Siehe: Siehe: Dathe, Dietmar: Einkommensentwicklung und unterschiede, in: Winkler, Gunnar (Hrsg.): Sozialbericht 1999. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 1999 (S. 170-200), vgl. S. 185 bzw. S. 175 f; Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Datenreport 1999. Zahlen und Fakten Uber die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000, vgl. S. 585 bzw. S. 484. Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Bericht- Monat November 1997, Hoyerswerda 1997, vgl. S. 4; Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch Sachsen 1999, Kamenz 1999, insb. S. 587 ff. 17 Allgemein zur Problematik der sozialen Integration siehe: Friedrichs, Jürgen/Jagodzinski, Wolfgang (Hrsg.): Soziale Integration, Kolner Zeitschrift ftlr Soziologie und Sozialpsychologie. Sonder-
band 39, Opladen 1999.
474
Anton Sterbling
Dies hängt wohl damit zusammen, daß der Schwerpunkt der Zuwanderungen in den sechziger und siebziger Jahren lag, so daß sich die sozialen Beziehungen in der Zwischenzeit längst entwickelt und gefestigt haben; und daß soziale Netzwerke durch Abwanderungsprozesse zwar auch verändert, aber zumeist nicht völlig aufgelöst werden Auch die Zufriedenheit mit der sozialen Integration ist bei den in Hoyerswerda befragten Bürgern relativ hoch: Rund 10 Prozent sind mit ihrer sozialen Integration sehr zufrieden und weitere 65 Prozent sind damit eher zufrieden, während nur 19 Prozent eher unzufrieden und lediglich 2 Prozent diesbezüglich sehr unzufrieden sind. Tabelle 7
Verwandtschafts-, Freundschafts- und Bekanntschaftsbeziehungen vor Ort und Zufriedenheit mit der sozialen Integration in Görlitz
Ausmaß Beziehungen
sehr viele
viele
Verwandte, Freunde
202 (21,1 %)
Zufriedenheit
sehr eher zufrieden zufrieden
eher unzufr.
Soziale Integration
121 (12,6 %)
149 20 (15,5 %) (2,1 %)
wenige
512 189 (53,4 %) (19,2 %)
647 (67,5 %)
sehr wenige
k.A.
47 (4,9%)
9 (0,9%)
sehr unzufr.
k.A. 22 (2,3 %)
Während in Hoyerswerda nur rund ein Drittel (33 Prozent) der Befragten Personen in diesem Ort geboren wurden, waren in Görlitz mehr als die Hälfte der Befragten (54 Prozent) gebürtige Görlitzer. Daher war auch zu vermuten, daß sich das Netzwerk sozialer Beziehungen und die Zufriedenheit mit der sozialen Integration in dieser Stadt noch positiver als in Hoyerswerda darstellt (Tabelle 7). Tatsächlich verfUgen hier 21 Prozent über sehr viele und weitere 53 Prozent über viele soziale Bindungen. 13 Prozent sind mit ihrer sozialen Integration sehr zufrieden und weitere 67 eher zufrieden, während der Anteil der eher Unzufriedenen bei 16 Prozent und der sehr Unzufriedenen bei 2 Prozent liegt. Insgesamt betrachtet, bilden die bestehenden sozialen Netzwerke und das Ausmaß an sozialer Integration filr die Menschen in Hoyerswerda und in Görlitz eine
475
Gesellschaftlicher Wandel in zwei sachsischen Stadten
wichtige Handlungsressource in der Bewältigung alltäglicher Lebensprobleme ein beachtliches "soziales Kapital" 18 - dessen Wert nicht gering zu schätzen ist. Vor dem Hintergrund der vorausgegangenen Ausftl.hrungen ist auch zu fragen, wie sich die subjektive Zufriedenheit der Befragten Bürger insgesamt und wie sich die Zufriedenheit mit den gegenwärtigen materiellen Lebensbedingungen 19 darstellt: Tabelle 8 Zufriedenheit mit materiellen Lebensbedingungen und mit der Lebenssituation insgesamt
Zufriedenheit Bereich
sehr zufrieden
eher zufrieden
eher unzufr.
materielle Lebens- (18,5 %) bedingngen (13,1 %)
(55,8 %) (56,8 %)
(20,3 %) (5,1 %) (23,5 %) (5,4 %)
(0,1%) (1,2 %)
Lebenssituation insgesamt
(61,3 %) (64,3 %)
(19,0 %) (3,6 %) (21,1 %) (2,9 %)
(0,4 %) (1,4 %)
(15,6 %) (10,3 %)
sehr unzufr.
k.A.
Die jeweils erste Zeile (normal) bezieht sich auf Görlitz die zweite (kursiv) auf Hoyerswerda. Was die Zufriedenheit mit den materiellen Lebensbedingungen betrifft, so sind in Görlitz damit 18 Prozent sehr zufrieden und weitere 56 Prozent eher zufrieden. In Hoyerswerda stehen 13 Prozent sehr zufriedenen und 57 Prozent eher zufriedenen Bürgern 23 Prozent eher unzufriedene und 5 Prozent sehr unzufriedene gegenüber. Wie ersichtlich ist, sind in Görlitz rund 16 Prozent der Befragten mit ihrer Lebenssituation insgesamt sehr zufrieden und weitere 61 Prozent eher zufrieden. Also rund 77 Prozent sind überwiegend zufrieden, während lediglich 19 Prozent eher unzufrieden und knapp 4 Prozent sehr unzufrieden sind. In Hoyerswerda stellen sich die Verhältnisse ähnlich dar, drei Viertel der Befragten (75 Prozent) erklären sich mit ihrer Lebenssituation vorwiegend 18 Siehe auch: Sterbling, Anion: Zur Wirkung unsichtbarer Hebel. Überlegungen zur Rolle des "sozialen Kapitals" in fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften, in: Berger, Peter A.Nester, Michael (Hrsg.): Alte Ungleichheiten- Neue Spaltungen, Opladen 1998 (S. 189-209). 19 Diese allgemeinen Zufriedenheitswerte werden in vielen Untersuchungen erhoben und bieten daher gute Vergleichsmöglichkeiten. Siehe dazu auch: Glatzer, Wolfgang/Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Lebensqualitat in der Bundesrepublik. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, Frankfurt a. M.-New York 1984, insb. S. 177 ff.
Anton Sterbling
476
zufrieden, während 21 Prozent damit eher unzufrieden und 3 Prozent sehr unzufrieden sind. Auch im Hinblick auf die materiellen Lebensbedingungen dominieren also in beiden Städten die vorwiegend zufriedenen Bürger. Dies drückt sich auch in der subjektiven Zufriedenheit mit einzelnen, ftlr die Lebensqualität wichtig erscheinenden Infrastruktur- und Lebensbereichen aus: Tabelle 9
Zufriedenheit mit Infrastruktureinrichtungen
Zufriedenheit Bereich
sehr zufrieden
eher zufrieden
eher unzufr.
sehr unzufr.
Verkehrsmittell Straßen
(4,0 %) (4,9 %)
(58,6 %) (57,6 %)
(33,9 %) (3,2 %) (30,9 %) (4,2 %)
(0,3 %) (2,5 %)
soziale Einrichtungen
(5,2 %) (8,9 %)
(66,0 %) (67,7 %)
(23,5 %) (2,1 %) (19,2 %) (1, 7 %)
(3,2 %) (2,5 %)
kulturelle Einrichtungen
(6,3 %) (16,0 %)
(45,4%) (41,6 %)
(36,9 %) (10,7 %) (0,7%) (30,5 %) (10,1 %) (1,8 %)
Medizinische Versorgung
(29,1 %) (36,2 %)
(62,6 %) (52,3 %)
(7,0 %) (8,9 %)
(1,0 %) (1,1 %)
k.A.
(0,3 %) (1,2 %)
Die jeweils erste Zeile (normal) bezieht sich auf Görlitz die zweite (kursiv) auf Hoyerswerda. Zunächst ist auf die sehr hohe Zufriedenheit mit der medizinischen Versorgung hinzuweisen. In Görlitz sind damit 29 Prozent der Befragten sehr zufrieden und weitere 63 Prozent eher zufrieden, in Hoyerswerda sind mit der vor Ort vorhandenen medizinischen Versorgung sogar 36 Prozent sehr zufrieden und weitere 53 eher zufrieden. Wenn die Zufriedenheitswerte bei der sozialen und kulturellen Einrichtungen und der Verkehrsinfrastruktur auch niedriger liegen, so überwiegen auch diesbezüglich die vorwiegend zufriedenen Bürger. Für einen auswärtigen Betrachter zumindest im Hinblick auf Hoyerswerda überraschend hoch stellt sich auch die Zufriedenheit mit der Wohnungslage (Tabelle 10) dar. 33 Prozent der Befragten sind hier mit ihrer Wohnungssituation sehr zufrieden und weitere 42 Prozent eher zufrieden.
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Zu dieser hohen Zufriedenheit trägt wahrscheinlich der durch die Abwanderungen sehr entspannte Wohnungsmarkt wie vermutlich auch die Erinnerung an die ungünstige Wohnungssituation in der DDR-Zeit bei. In Görlitz kommt zu dem entspannten und preisgünstigen Wohnungsmarkt wohl noch das beachtliche Angebot an modernisierten und architektonisch eindrucksvollen Altbauwohnungen hinzu, so daß sich erklärt, daß hier sogar 44 Prozent der Befragten mit ihrer Wohnungslage sehr zufrieden und weitere 41 Prozent eher zufrieden sind. Die relativ hohen Zufriedenheitswerte mit der familialen und partnerschaftlichen Situation entsprechen den Befunden anderer Untersuchungen und sind angesichts der Neigung von Befragten, mit Lebensbereichen zufriedener zu sein, filr die sie selbst die Hauptverantwortung tragen, eigentlich erwartbar. Die nahezu gleichen Verteilungsmuster in beiden Städten von rund 59 Prozent sehr Zufriedenen, 29 Prozent eher Zufriedenen, 6 Prozent eher Unzufriedenen und 3 Prozent sehr Unzufriedenen machen zudem deutlich, daß der Wohnort hierbei keine Rolle spielt. 20 Tabelle 10
Zufriedenheit mit der Wohnungslage und Familiensituation
Zufriedenheit Bereich
sehr zufrieden
eher zufrieden
eher unzufr.
Wohnungslage
(43,9 %) (33,4 %)
(41,3 %) (42,0 %)
(12,0 %) (2,4 %) (15,4 %) (7,9 %)
(0,4 %) (1,4 %)
Familie/ Partnerschaft
(59,1 %) (58,3 %)
(29,7 %) (29,5 %)
(5,6 %) (5,8 %)
(3,2 %) (2,9 %)
sehr unzufr.
(2,3 %) (3,5 %)
k.A.
Die jeweils erste Zeile (normal) bezieht sich auf Görlitz die zweite (kursiv) auf Hoyerswerda. Deutlich niedriger als im Hinblick auf die bisherigen Lebensbereiche liegen die auf die Beschäftigungs- und Arbeitssituation, die Einkommenslage und die politischen Mitwirkungsmöglichkeiten bezogenen Zufriedenheitswerte (Tabelle 11). Was die Beschäftigungs- und Arbeitssituation betrifft, so stehen in Görlitz 43 Prozent vorwiegend Zufriedenen rund 37 Prozent vorwiegend Unzufriedene ge-
20 Wie nähere Analysen zeigten, haben Familienstand und Alter hierbei aber einen signifikanten Einfluß.
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genüber. In Hoyerswerda ist das entsprechende Verhältnis zwischen vorwiegend Zufriedenen und vorwiegend Unzufriedenen 43 Prozent zu 38 Prozent, wobei festzustellen ist, daß bei dieser Frage ein erheblicher Teil der Befragten keine Angaben machten, da sie nicht mehr oder noch nicht in einem Beschäftigungsverhältnis standen. Mit ihrer Einkommenslage sind in Görlitz 11 Prozent der Befragten sehr zufrieden und weitere 43 Prozent eher zufrieden, während 29 Prozent eher unzufrieden und 16 Prozent sehr unzufrieden sind. In Hoyerswerda ist die Einkommenszufriedenheit noch etwas geringer: 8 Prozent sind hier sehr zufrieden und 43 eher zufrieden, wohingegen 29 Prozent eher unzufrieden und knapp 18 Prozent sehr unzufrieden erscheinen. Wie nähere Analysen ergaben, erklärten sich vor allem Arbeitslose erwartungsgemäß recht unzufrieden mit ihrer Einkommens- wie auch mit ihrer Beschäftigungs- und Arbeitssituation. Tabelle 11
Zufriedenheit mit Beschäftigung und Arbeit, Einkommen und Partizipation
Zufriedenheit Bereich
sehr zufrieden
eher zufrieden
eher unzufr.
Beschäftigung/ Arbeitsbed.
(14,8 %) (12,4 %)
(28,5 %) (31,4 %)
(18,3 %) (19,4 %) (19,0 %) (16,7 %) (21,6 %) (17,9 %)
Einkommenslage
(11,5 %) (8,1 %)
(43,1 %) (42,6 %)
(28,7 %) (15,6 %) (29,2 %) (17,5 %)
(1,1 %) (2,6 %)
politische Beteiligung
(4,1 %) (2,6 %)
(43,4 %) (36,3 %)
(38,8 %) (10,9 %) (39,4 %) (16,0 %)
(2,8 %) (5,7 %)
sehr unzufr.
k.A.
Die jeweils erste Zeile (normal) bezieht sich auf Görlitz die zweite (kursiv) auf Hoyerswerda. Vor allem in Hoyerswerda - übrigens eine der ganz wenigen Städte dieser Größenordnung mit einem der PDS angehörenden Oberbürgermeister - ist die Zufriedenheit mit den politischen und gesellschaftlichen Mitwirkungsmöglichkeiten bedenklich gering. Nur 39 Prozent der Befragten erklärten sich diesbezüglich vorwiegend zufrieden, während 55 Prozent vorwiegend unzufrieden erscheinen. Auch in Görlitz stehen 47 vorwiegend zufriedenen rund 50 Prozent mit ihren Partizipationsmöglichkeiten vorwiegend unzufriedene Bürger gegenüber. Dies signalisiert im Hinblick auf die Frage der "inneren Einheit" doch bestimmte Probleme des Demokratieverständnisses und der politischen Kultur im östlichen Teil Deutschlands.
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Einen weiteren Problemkomplex, der in der Sicht der Bürger nicht nur große Beachtung findet, sondern der im Hinblick auf die erlebte Lebensqualität auch von großer Bedeutung sein dürfte, stellt die innere Sicherheit dar. 21 Dabei geht es nicht nur um die tatsächliche Kriminalitätsbelastung, sondern auch um die subjektiven Wahrnehmung der gegebenen Sicherheitslage und um entsprechende Gefährdungs- und Bedrohungsängste der Menschen, denn Sicherheit zählt zu den fundamentalen menschlichen Bedürfnisse und ist daher fUr die subjektive Lebensqualität von erheblicher Relevanz. Es läßt sich erkennen (Tabelle 12), daß in Görlitz und Hoyerswerda rund 6 Prozent der Befragten "sehr stark" und rund ein Drittel- 33 Prozent in Görlitz und 35 Prozent in Hoyerswerda- "stark" über die gegenwärtigen Probleme der persönlichen und öffentlichen Sicherheit beunruhigt sind. 58 Prozent der Befragten in Görlitz und 55 Prozent in Hoyerswerda zeigen sich diesbezüglich "etwas" beunruhigt, während der Anteil derjenigen, die sich "gar nicht" beunruhigt erklären in beiden Fällen lediglich bei rund 3 Prozent liegt. 22 Tabelle 12
Beunruhigung über gegenwärtige Probleme der persönlichen und öffentlichen Sicherheit (in Prozent)
Beunruhigung
sehr stark (5,5 %) (6,7 %)
stark
etwas
(32,5 %) ( 57,9 %) (34,6 %) (54,8 %)
gar nicht (3,3 %) (3,2 %)
k.A. (0,7 %) (0,7 %)
Die jeweils erste Zeile (normal) bezieht sich aufGörlitz die zweite (kursiv) auf Hoyerswerda.
21 Siehe dazu auch: No/1, Heinz-Herbert: Zustand der öffentlichen Sicherheit beeinträchtigt Wohlbefinden der Bürger. Befunde zur subjektiven Wahrnehmung und Bewertung der öffentlichen Sicherheit, in: Informationsdienst Soziale Indikatoren, Nr. 12, Mannheim 1994 (S. 5-8); Sterb/ing, Anton: Wohlfahrtsforschung, Lebensqualität und Sicherheit, in: Sterbling, Anton: Modemisierungsprobleme und Ungleichzeitigkeilen des Denkens in Ost und West, Rothenburger Beitrage. Schriftenreihe der Fachhochschule fllr Polizei Sachsen (Band 3), Rothenburg/Oberlausitz 1999 (S. 289-302). 22 Siehe dazu austllhrlicher: Burgheim, Joachim/Sterb/ing, Anton: Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur subjektiven Sicherheit und Lebensqualität in Hoyerswerda, in: Die Kriminalpravention. Europäische Beitrage zur Kriminalität und Prävention, 3. Jg., Heft 4, Steinfurt 1999 (S. 140143); Burgheim, Joachim!Sterb/ing, Anton: Subjektive Sicherheit und Lebensqualitat. Eine empirische Untersuchung in Hoyerswerda, in: Die Kriminalpolizei. Vierteljahreszeitschrift der Gewerkschaft der Polizei, 17. Jg., Nr. 3, Worrns 1999 (S. 153-157); Burgheim, Joachim!Sterbling, Anton: Kriminalitätsfurcht in Sachsen. Ergebnisse empirischer Untersuchungen in Görlitz und Hoyerswerda, in: Kriminalistik. Unabhängige Zeitschrift tllr die kriminalistische Wissenschaft und Praxis, Heidelberg 2000 (S. 447-451).
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Dabei ist die tatsächliche Kriminalitätsbelastung weder in Görlitz noch in Hoyerswerda besonders hoch. Es ist daher zu vermuten - und läßt sich in näheren Analysen auch aufzeigen -, daß in dieser hohen Besorgnis auch anders motivierte Unsicherheiten und Orientierungsprobleme in einer als tiefer Umbruch erlebten sozialen Situation zum Ausdruck kommen.
111. Abschließende Bemerkung Diese ausgewählten Befunde der in Hoyerswerda und Görlitz durchgeftlhrten Untersuchungen lassen sich durchaus mit anderen Untersuchungserjebnissen in Ostdeutschland und in der Bundesrepublik Deutschland vergleichen 3 und stimmen mit diesen - wenn man hinreichend berücksichtigt, daß mit unterschiedlichen Erhebungsinstrwnenten, Einzelfragen und Skalen gearbeitet wurde - weitgehend überein. Wie in Ostdeutschland insgesamt stellt die hohe Arbeitslosigkeit in Hoyerswerda und Görlitz ein großes Problem dar. Hinzu kommt die Problematik der anhaltenden Abwanderung. Nach dem Niedergang der kommunistischen Herrschaft und seit der deutschen Wiedervereinigung haben die Menschen in Görlitz und Hoyerswerda - ebenso wie die Ostdeutschen insgesamt - aber zugleich ein hohes Maß an persönlicher Freiheit errungen und eine deutliche Einkommens- und Wohlstandssteigerung erlebt. Daher ist es nicht erstaunlich, daß die subjektive Zufriedenheit mit der Lebenssituation insgesamt, mit den materiellen Lebensbedingungen sowie mit einzelnen Infrastruktur- und Lebensbereichen relativ hoch ist. Niedriger sind indes die Zufriedenheitswerte mit der Arbeits-, Beschäftigungs- und Einkommenslage und - vor allem in Hoyerswerda, aber auch in Görlitz - mit den politischen und gesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten. Noch geringer ist die Zufriedenheit mit der inneren Sicherheit. Probleme der Sicherheit und Ordnung werden neben der Arbeitslosigkeit als die größten Herausforderungen und Belastungen empfunden. Es bleibt daher auch weiterhin eine wichtige Aufgabe, nach den besonderen Ursachen dieser Sachlage zu for-
23 Siehe zum Beispiel: Wink/er, Gunnar (Hrsg.): Sozialbericht 1999. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 1999; .,10 Jahre Deutsche Einheit", Sonderbeilage der Sachsischen Zeitung, vom 2. Oktober 2000; Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Datenreport 1999. Zahlen und Fakten Ober die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000; Bulmahn, Thomas: Das vereinte Deutschland - Eine lebenswerte Gesellschaft? Zur Bewertung von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit in Ost und West, in: Kötner Zeitschrift filr Soziologie und Sozialpsychologie, 52. Jg., Opladen 2000 (S. 405-427).
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sehen. Ebenso ist diesem Befund natürlich auch in der gesellschaftlichen Praxis hinreichend Rechnung zu tragen.
Literatur Eu/mahn, Thomas: Das vereinte Deutschland - Eine lebenswerte Gesellschaft? Zur Bewertung von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit in Ost und West, in: Kölner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie, 52. Jg., Opladen 2000 (S. 405-427) Burgheim, Joachim!Sterbling, Anton: Kriminalitätswahrnehmung und Lebenszufriedenheit Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hoyerswerda, Rothenburger Beiträge. Schriftenreihe der Fachhochschule fiir Polizei Sachsen (Band 1), Rothenburg!Oberlausitz 1999
Hoyerswerda: Modell kommunaler Kriminalprävention in Sachsen. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, Konstanz 1999 Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur subjektiven Sicherheit und Lebensqualität in Hoyerswerda, in: Die Kriminalprävention. Europäische Beiträge zur Kriminalität und Prävention, 3. Jg., Heft 4, Steinfurt 1999 (S. 140-143) Subjektive Sicherheit und Lebensqualität Eine empirische Untersuchung in Hoyerswerda, in: Die Kriminalpolizei. Vierteljahreszeitschrift der Gewerkschaft der Polizei, 17. Jg., Nr. 3, Worms 1999 (S. 153-157) Subjektive Sicherheit und Lebensqualität in Görlitz, Rothenburger Beiträge. Schriftenreihe der Fachhochschule ftlr Polizei Sachsen (Band 4), Rothenburg!Oberlausitz 2000 Kriminalitätsfurcht in Sachsen. Ergebnisse empirischer Untersuchungen in Görlitz und Hoyerswerda, in: Kriminalistik. Unabhängige Zeitschrift ftlr die kriminalistische Wissenschaft und Praxis, Heidelberg 2000 (S. 447-451) Dathe, Dietmar: Einkommensentwicklung und -unterschiede, in: Winkler, Gunnar (Hrsg.): Sozialbericht 1999. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 1999 (S. 170-200) Feltes, Thomas (Hrsg.): Kommunale Kriminalprävention in Baden-Württemberg. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung von drei Pilotprojekten, Holzkirchen/Obb. 1995 Friedrichs, Jürgen!Jagodzinski, Wolfgang (Hrsg.) : Soziale Integration, Kölner Zeitschrift filr Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderband 39, Opladen 1999 31 nmmermann
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G/atzer, Wolfgang!Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Lebensqualität in der Bundesrepublik. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, Frankfurt a. M.-New York 1984 G/atzer, Wolfgang!No//, Heinz-Herbert (Hrsg.) : Getrennt- Vereint. Lebensverhältnisse in Deutschland seit der Wiedervereinigung, Frankfurt a. M.-New York 1995 "Negativ-Rekord fiir September", in: Sächsische Zeitung, vom 6. Oktober 2000, S. 9, nach aktuellen Daten des Arbeitsamtes Bautzen
Noll, Heinz-Herbert: Zustand der öffentlichen Sicherheit beeinträchtigt Wohlbe-
finden der Bürger. Befunde zur subjektiven Wahrnehmung und Bewertung der öffentlichen Sicherheit, in: Informationsdienst Soziale Indikatoren, Nr. 12, Mannheim 1994 (S. 5-8)
Stadt Hoyerswerda (Hrsg.): Statistischer Monatsbericht bzw. Statistischer Bericht (monatlich), Hoyerswerda 1996 ff (Hrsg.): Statistische Berichte, Hoyerswerda 1999
Stadtverwaltung Görfitz (Hrsg.): Statistischer Jahresbericht 2000. Kreisfreie Stadt Görlitz, Görlitz 2000 Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch Sachsen 1999, Kamenz 1999 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Datenreport 1999. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000 Sterbling, Anton: Der soziale Umbau in den osteuropäischen Transformationsländern und seine Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland, in: Eckart, KarVParaskewopoulos, Spiridon (Hrsg.): Der Wirtschaftsstandort Deutschland, Berlin 1997 (S. 13 7-15 8) Zur Wirkung unsichtbarer Hebel. Überlegungen zur Rolle des "sozialen Kapitals" in fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften, in: Berger, Peter A.Nester, Michael (Hrsg.): Alte Ungleichheiten- Neue Spaltungen, Opladen 1998 (S. 189-209) Wohlfahrtsforschung, Lebensqualität und Sicherheit, in: Sterbling, Anton: Modernisierungsprobleme und Ungleichzeitigkeilen des Denkens in Ost und West, Rothenburger Beiträge. Schriftenreihe der Fachhochschule fiir Polizei Sachsen (Band 3), Rothenburg/Oberlausitz 1999 (S. 289-302) Beschäftigungssituation, Sicherheitsbedürfnisse und Lebenszufriedenheit Teilergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hoyerswerda, in: - Modernisierungsprobleme und Ungleichzeitigkeilen des Denkens in Ost und West, Rothenburger Beiträge. Schriftenreihe der Fachhochschule für Polizei Sachsen (Band 3}, Rothenburg/Ober1ausitz 1999 (S. 303-323)
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Wink/er, Gunnar (Hrsg.): Sozialbericht 1999. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 1999
"I 0 Jahre Deutsche Einheit", Sonderbeilage der Sächsischen Zeitung, vom 2. Oktober 2000
31*
Die Rehabilitierung von Opfern der SED-Unrechtsjustiz Von Sven Korzilius
Während die Prozesse gegen die Polit-Prominenz der ehemaligen DDR oder die sogenannten "Mauerschützen-Prozesse" große öffentliche Aufmerksamkeit genossen, wurde über den opferbezogenen Teil der Aufarbeitung des SED-Unrechts, wie Lemke in seiner "Zwischenbilanz" richtig bemerkt, weit weniger berichtet 1. Nach den (nicht vollständigen) Gefangenenstatistiken wurden in der DDR über 700.000 Personen zu Freiheitsstrafen verurteilt, davon nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 150.000 und 400.000 aus politischer Motivation2. Schwerpunkte bilden (neben dem gesonderten Komplex der Verurteilungen durch die Sowjets, insbesondere durch die Militärtribunale (SMTi und 1 Lemke, Michael: Die strafrechtliche Rehabilitierung von Opfern des SED Unrechts. Eine Zwischenbilanz, in: Neue Justiz (NJ) 1996, S. 399-401 (399). Siehe aber z. B. die Meldungen in der Süddeutschen Zeitung vom September/Oktober 1995 zu diesem Thema. Über die Gründe hierfilr spekulieren Kaschkat, Hannes!Schlip, Harry: Zur Entschädigung der Opfer des SED-Unrechtsregimes. Rehabilitierungsgesetz, Kassation und Haftlingshilfegesetz, in: Deutsch-land Archiv (DA) 1991 I, S. 238-246, hier S. 238, dies habe unter anderem daran gelegen, daß die "Heterogenität des betroffenen Personenkreises eine effektive Organisation und wirksame Artikulation nach außen" verhindert habe. Die Lage ist insofern ahnlieh der Situation der NS-Opfer nach 1945. Inzwischen ist mit Widmaier, Christian: Haftlingshilfegesetz, DDR-Rehabilitierungsgesetz, SEDUnrechtsbereinigungsgesetze: Rehabilitierung und Wiedergutmachung von SBZ/DDR-Unrecht?, Frankfurt!Main u. a. 1999 (zugl. Berlin FU Diss. 1998) die erste wissenschaftliche Monographie zu dem Themenkomplex erschienen. 2 Lochen, Hans-Hermann/Meyer-Seitz, Christian: Leitfaden zur strafrechtlichen Rehabilitierung und Entschädigung. Wiedergutmachung von Justizunrecht in der ehemaligen SBZ/DDR, Herne/Berlin 1994, S. I. Eine Zusammenstellung der unterschiedlichen Schätzungen bei Widmaier, S. 66-68. Die große Diskrepanz resultiert teilweise daraus, daß die unterschiedlichen Schätzungen unterschiedliche Personengruppen erfaßten. Teilweise wurden nur die nach dem politischen Strafrecht i. e. S. Verurteilten erfaßt, teilweise auch die mißbrauchlieh nach Tatbestanden der allgemeinen Kriminalität Verurteilten, bei den großzügigsten Schätzungen dUrften auch diejenigen erfaßt sein, die "nur" wegen eines Verstoßes des DDR-Rechts gegen das Verhaltnismaßigkeitsprinzip o. a. rehabilitiert wurden. 3 Widmaier (wie Fn. I) beziffert die durch die Sowjets in sog. Speziallagern Internierten mit 140.000 bis 150.000, die SMT-Verurteilten mit 40.000 bis 50.000 (S. 32).
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dem Sonderfall der "Waldheimer Prozesse" 4) politisch motivierte Strafurteile aus den fünfziger und sechziger Jahren, aber auch Verurteilungen aufgrund des 2. und 8. Kapitels des DDR-StGB von 1968, wobei insgesamt über die rund fünfundvierzig Jahre hinweg eine abnehmende Tendenz der politischen Strafjustiz festzustellen ist5 • Hinzu kommen - vor allem im Rahmen der in diesem Aufsatz nicht behandelten verwaltungsrechtlichen und beruflichen Rehabilitierung6 - die Fälle von Bürgern, die zu Unrecht zwangsweise in psychiatrische Anstalten eingewiesen wurden, die Fälle derjenigen, die von der innerdeutschen Grenze in andere Teile der DDR zwangsumgesiedelt wurden 7, und derjenigen, die "an Ausbildung und Fortkommen gehindert" wurden 8 • Für die Rehabilitierung in der DDR zu Unrecht strafrechtlich Verurteilter durch Bundesrepublik "alt" und "neu" sind - nach den jeweiligen Rechtsgrundlagen drei Phasen zu unterscheiden: Die erste Phase, in der das Häftlingshilfegesetz (HHGl und das "Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen" vom 2. Mai 1953 (RHG) galten, eine (kurze) zweite Phase, in welcher das Rehabilitierungsgesetz der DDR galt und schließlich seit 1992 die Rehabilitierung nach dem Gesetz Uber die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (kurz: Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz - StrRehaG). Stets bedeutete Rehabilitierung dabei die Befreiung vom Makel der Verurteilung, die Anerkennung als Regimeopfer, die, wie es die Präambel des DDR-Rehabilitierungsgesetzes ausdrUckte, "politisch-moralische Genugtuung ftlr den Betroffenen" einerseits, andererseits zugleich aber auch - mehr oder weniger - materielle Leistungen unter den Aspekten Entschädigung und soziale Hilfe 10 • 4
Dazu Widmaier (wie Fn. 1), S. 42-44.
5 Lehmann, Hans-Dietrich: Rehabilitierung - Beginn einer Aufarbeitung 40jahriger DDR-Justiz, in: Kritische Justiz 1990, S. 185-192, hier S. 186 am Beispiel des Bezirks Neubrandenburg: 250 Verfahren wegen Staatsverbrechen 19 58 stünden 17 solcher Verfahren 197 8 gegenüber. 6
Seit 1994 geregelt im 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz.
7
Dazu Widmaier (wie Fn. 1), S. 52-54 m. w. N.
8 Busse, Volker: Herausforderungen fllr den Rechtsstaat nach Schaffung der deutschen Einheit. Erwartungen, Möglichkeiten, Grenzen anband ausgewählter Beispiele, in: Zeitschrift fllr Rechtspolitik 1991, S. 332-336, hier S. 334. 9 Gesetz Ober Hilfsmaßnahmen fllr Personen, die aus politischen Gründen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in Gewahrsam genommen wurden, hier in der Fassung vom 4. Februar 1987 (BGBI. 19871, S. 512-518).
10 Ziel dieses kurzen Beitrages kann es lediglich sein, die Entwicklung dieser komplexen Rechtsmaterie in ganz groben ZOgen nachzuzeichnen und einige Anmerkungen zu problematischen Punkten zu geben. Dabei wurde versucht, möglichst viel der bis jetzt hierzu erschienenen Literatur einzubauen, um dem Leser damit den Zugang zu einer weiteren Beschäftigung mit der Thematik zu erleichtern.
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Aber sollte man überhaupt von Rehabilitierung sprechen 11 ? 199011991 meldeten einige der mit diesem Rechtsgebiet Befaßten Bedenken an: KernperlLehneT meinen, der Begriff stamme "aus dem Politjargon der kommunistischen Diktaturen" 12 und sollte demnach nicht verwendet werden 13 • Andere Autoren haben dagegen darauf hingewiesen, der Begriff Rehabilitierung!Rehabilitation sei auch dem bundesdeutschen Recht nie unbekannt gewesen. Tatsächlich lassen sich einige Fundstellen nachweisen 14 • Die Bedenken gegen diesen Begriffkönnen damit wohl als hyperkritisch zurückgewiesen werden 15 • I. Das Rechts- und Amtshilfegesetz (RHG) vom 2.5. 1953 und das Häftlingshilfegesetz (HHG) von 1955 16
Angesichts der Flüchtlingswelle aus der SBZ/DDR in den Westen standen bundesdeutsche Gerichte vor der Frage, wie eventuelle (Vor-)Strafen von Flüchtlingen zu behandeln seien. Hierbei waren zwei Positionen zum Ausgleich zu bringen: Einerseits war, ausgehend von der "Lehre vom Fortbestand des Deutschen Reichs", nach der herrschenden bundesrepublikanischen Auffassung der 50er Jahre "Deutschland noch immer ein gemeinsames Rechtspflegegebiet", d. h., daß die DDR-Gerichte nicht als ausländische, sondern als deutsche Gerichte angesehen wurden, mit der Konsequenz, daß die Verbindlichkeit eines rechtskräftigen DDR-Urteils prozessual vor einem bundesrepublikanischen Gericht genauso weit wirkte wie die eines in der Bundesrepublik geflillten Strafurteils, so daß z. B. auch die Überlieferung eines in der Bundesrepublik ergriffenen Deutschen an die Strafverfolgungsbehörden der DDR keine durch Art. 16 II GG verbotene Auslieferung eines Deutschen an das Ausland
Zum Sprachgebrauch Widmaier, wie Fn. I, S. 13 f.
11
12 Überprüfung rechtskräftiger Strafurteile der DDR, in: Neue Juristische Wochenschrift 1991, S. 329 (330 Fn. 9).
13 Gegen die Begriffsverwendung auch Friedrich-Christian Schroeder, in: Zeitschrift ftlr Rechtspolitik (ZRP) 1992, S. 41. 14 So z. B. Pfister. Wolfgang: Rehabilitierung - eine Zwischenbilanz, in: Deutsche Richterzeitung (DRiZ) 1991, S. 389-394, hier S. 389 f. (Hinweis auf§ 113 Abs. I Satz 4 VwGO, §§ 23, 28 EGGVG, § 97 JGG, und, in direktem Zusammenhang mit unserer Thematik: auf die Bezeichnung des Verfahrens nach dem Rechtshilfegesetz (RHG), schließlich auf den allgemeinen Sprachgebrauch). Ders. : Zur .,Rehabilitierung" von Opfern der DDR-Justiz, in: NJ 1992, S. 196-198.
15
Eine kurze Wiedergabe des Streits um den Begriffbei Lochen!Meyer-Seilz, wie Fn. 2, S. 16 f.
16
Zu dieser Phase Widmaier, S. 69-85.
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darstellte 11• Andererseits zeichnete sich aber zur Entstehungszeit des RHG immer deutlicher ab, daß sich die Rechtswirklichkeit der DDR, "namentlich in politischen und Wirtschaftsstrafsachen, [... ] von den rechtsstaatliehen Vorstellungen der Bundesrepublik entfernte." 18 Daher mußte die Rechts- und Amtshilfe eingeschränkt werden. Dem RHG kam demnach die Aufgabe zu, dem Grundgedanken von der Rechtseinheit Deutschlands Rechnung zu tragen, also weiterhin die Leistung von Amts- und Rechtshilfe zu gewähren, aber nur, solange sie dem ordre public der Bundesrepublik nicht widersprach. § 2 RHG bildete dazu Fallgruppen: entweder mußte die Vollstreckung des DDR-Urteils dem Zweck eines Bundesgesetzes widersprechen, dem Betroffenen mußten im Widerspruch zu rechtsstaatliehen Grundsätzen erhebliche Nachteile erwachsen sein, oder die Strafe mußte nach Art und Höhe unangemessen sein. § 15 RHG gab einem in der DDR Verurteilten ein eigenes Antragsrecht, die Unzulässigkeit der Vollstreckung festzustellen, "ohne Rücksicht darauf, ob die Strafe bereits vollstreckt ist oder ein Vollstreckungsersuchen gestellt wird". Durch den Einigungsvertrag ist das RHG (weitgehend) aufgehoben worden19•
§ 15 RHG diente allerdings nur der moralischen Rehabilitierung eines Betroffenen, eine materielle Verbesserung seiner Lage resultierte daraus nicht. Materielle Hilfen regelte erst das Häftlingshilfegesetz, welches, wie es in der propagandistisch anmutenden BegrUndung des Regierungsentwurfs vom 7.7.1955 hieß, erlassen werden sollte, um "die Opfer des Kalten Krieges nicht schlechter zu stellen alsjene des Zweiten Weltkrieges". Konkrete Anlässe ftlr den Erlaß des HHG boten zum einen die Begnadigung und Übersiedlung mehrerer hundert Waldheim-Verurteilter, zum anderen die Verhaftungswelle nach dem 17. Juni 1953, die dazu filhrte, daß sowohl die Regierungskoalition als auch die Opposition entsprechende Gesetzesanträge in den Bundestag einbrachten20. Das HHG regelt fmanzielle Hilfen fiir Personen, die "in der sowjetischen Besatzungszone" (gemeint ist das Gebiet der DDR) "aus politischen und nach freiheitlich-demokratischer Auffassung von ihnen nicht zu 17 Siehe dazu die Kommentierung von Kar/ Schäfer in Löwe-Rosenberg: Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 5. Band, 23. Auflage Berlin!New York 1979, Vorbemerkungen Rdnr. 1-2. 18 Wie Fn. 17, Rdnr. 3; außerdem Morgenstern, Ulrich: Vereinbarkeit von Strafgesetzen der DDR mit rechtsstaatliehen Grundsatzen und dem ordre public der Bundesrepublik Deutschland. Zur Problematik der Schranken des § 2 Abs. 1 des Gesetzes Uber die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen, Berlin 1983, S. 16 f.
19 Anl.
I Kap. 111 Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 5 Einigungsvertrag (BGBI. 1990 II, S. 957)
20 Eine
etwas ausftlhrlichere Darstellung m. w. N. bei Kaschkat/Schlip, wie Fn. I, S. 243 f.
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vertretenden Gründen in Gewahrsam genommen wurden" (§ 1 Nr. l HHG). "Aus politischen Gründen" wurde in der Anwendung des Gesetzes im Lichte der Formulierung ,,nach freiheitlich-demokratischer Auffassung" von der Rechtsprechung weit interpretiert: Schon ein grober Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip genügte, um auch wegen (rein) krimineller Delikte Verurteilte hierunter zu subsumieren21 • Diese Personen konnten (unter bestimmten Umständen) Eingliederungshilfen erhalten, und zwar "für jeden Gewahrsams· monat, frühestens vom 1. Januar 1947 an, 30 Deutsche Mark, vom dritten Gewahrsamsjahr, frühestens vom 1. Januar 1949 an, 60 Deutsche Mark"(§ 9 a). Bereits im Bundeshaushalt 1955 wurde ein Fonds von 10 Millionen DM für diese Leistungen veranschla~2 . Das Gesetz wollte - mangels Verantwortung der Bundesrepublik - bewußt keine Entschädigung (für einen echten Ersatz der erlittenen Schäden wären die Beträge auch zu niedrig angesetzt), sondern nur "soziale und wirtschaftliche Eingliederung" gewähren23 • Anders stellte sich die Situation dann nach der Wiedervereinigung dar: nun war die Buridesrepublik als Rechtsnachfolgerirr der DDR dazu verpflichtet, wirkliche Entschädigung zu leisten (dazu unten unter III.). Das HHG ist nicht zuletzt deshalb hier noch einmal erläutert worden, weil es sowohl für das RehaG als auch für das StrRehaG von Bedeutung ist. II. Kassation und Rehabilitation 24 nach dem DDR-Recht der "Wende"-Zeit 25 Im Herbst 1989 gehörte es zu den zentralen Forderungen der Träger des Demokratisierungsprozesses in der DDR, die Opfer des SED-Regimes juristisch 21
Lochen!Meyer-Seitz, wie Fn. 2, S. 7, mit Beispiel.
22 Bis Ende 1989 haben knapp 148.000 ehemalige Häftlinge und Internierte (in den achtziger Jahren vor allem Aussiedler) Hilfe nach dem HHG erhalten (Quelle: Ammer, Thomas: Rehabilitierung der Justizopfer des SED-Regimes, in: DA 1991 II, S. 900-904, hier S. 900 rn. w. N.). 23 So auch der Standpunkt der Bundesregierung, als im Sommer 1959 die SPD-Fraktion beantragte, die politischen Haftlinge aus der ,,Zone" mit den Opfern des NS-Regimes gleichzustellen (nach dem Bundesentschadigungsgesetz). 24 Für einen schnellen Überblick über beide Institute siehe Schulze, Wo/fgang: Die Aufhebung strafgerichtlicher Verurteilungen in der flilheren DDR im Wege der Rehabilitierung und der Kassation, in: Deutsch-Deutsche Rechtszeitschrift (DtZ) 1991, S. 55-56.
25 Eine Einbettung der opferbezogenen Aufarbeitung von SED-Unrecht in die Gesamtsituation der DDR-Justiz 1989/1990 liefert Weinke, Annette: Die DDR-Justiz im Jahr der "Wende". Zur Transformation der DDR-Juristen von "Tatern" zu "Opfern", in: DA 1997, S. 41-62; dies.: Die DDR-Justiz in der Wende 1989/90, in: Heydemann, Günther/Mai, Gunther/Müller, Werner (Hrsg.): Revolution und Transformation in der DDR 1989/90 (=Schriftenreihe der Gesellschaft filr Deutschlandforschung, Band 73), Berlin 1999, S. 571-593; dies.: Die DDR-Justiz im Umbruch 1989/90, in: Enge/mann, Roger/Vollnhals, Clemens (Hrsg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999, S. 411-431.
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und moralisch zu rehabilitieren26• Der Partei- und Staatsfilhrung gelang es, diese Forderung aufzugreifen27 • Bereitsam 15. November 1989 legte das Ministerium der Justiz der DDR einen Entwurf fl1r die Rehabilitation von Justiz-Opfern vor, welcher "zwischen der Rehabilitierung, mit der die strafrechtliche Unterdrückung friedlicher Opposition wiedergutgemacht werden sollte, und der Kassation, die zur Beseitigung sonstigen Justizunrechts diente", unterschied28• Dieser Entwurf wurde so nicht realisiert. Zunächst gab es als Rechtsgrundlage fl1r eine Rehabilitierung nur das aus dem DDR-Strafrecht stammende Institut der Kassation, dessen Entwicklung im folgenden nachgezeichnet werden soll. 1. Kassation 29
Das aus der DDR-StP030 stammende Rechtsinstitut der Kassation wurde bereits in seiner noch aus der Zeit vor der "Wende" stammenden Fassung in den ersten Monaten des Jahres 1990 zur Aufhebung politischer Strafurteile angewandt, ambekanntesten sind aus dieser Zeit u. a. die Fälle Janka, Just, Wolfund Zöger31 , später Harich, Wollenberger32, Bahro33 und Loese4 • In der Anwendung bereitete Probleme, daߧ 311 DDR-StPO sehr eng war: Ein Urteil war demnach nur aufzuheben, wenn es auf der Verletzung eines Gesetzes beruhte oder im Strafausspruch bzw. in der Begründung unrichtig war. 26
Weinke, DA 1997, wie Fn. 25, S. 54.
27 Anstoß dazu mag, folgt man Weinlee (ebenda, S. 55), nicht zuletzt der am 25. Oktober 1989 in ,,Kennzeichen D" ausgestrahlte Bericht über den Janka!Harich-Prozeß von 1957 gegeben haben. Am 27. Oktober war eine entsprechende Eingabe eines Bürgers beim Obersten Gericht der DDR eingegangen, dieses Urteil aufZuheben. Eine ausfuhrliehe Darstellung der Genese des RehaG bietet nun Widmaier (wie Fn. 1), S. 96-143. 28
Lochen!Meyer-Seitz, wie Fn. 2, S. 8.
29 Daneben besteht selbstverständlich auch die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines Verfahrens nach §§ 359 ff. StPO, die ftlr Betroffene interessant ist, deren Verurteilung aufgrund von falschen Urkunden- oder Zeugenbeweisen erfolgte. 30 §§ 311 ff. DDR-StPO vom 12.1 .1968 in der Neufassung vom 19.12.1974, DDR-GBI. 1975 I S. 62, geändert durch § 2 des 4. Strafrechtsänderungsgesetzes von 1987 sowie durch § 2 des Gesetzes vom 18.12.1987). 31
Kassation durch das Oberste Gericht der DDR am 4.1.1990; siehe dazu NJ 1990, S. SOff.
32 NJ
1990, s. 289.
33
NJ 1990, 287 ff. oder DtZ 1990, S. 281 ff.
34
DtZ 1990, 285 ff.
Die Rehabilitierung von Opfern der SED-Unrechtsjustiz
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Begründet wurden Kassationen in der Praxis daher etwa mit einer extensiven Auslegung einer Strafuorm durch die Gerichte oder mit eklatanten Widersprochen zur DDR-Verfassung35 . Teilweise, so Lehmann, wurden in dieser Phase die Gerichte der DDR von sich aus tätig, indem sie Urteilssammlungen überprüften und Kassationsverfahren einleiteten36• Mit dem 6. Strafrechtsänderungsgesetz vom 29.6.1990 wurde die Kassation dahingehend verändert, daß sie nur noch zugunsten des Verurteilten möglich sein sollte. Nach wie vor waren die Betroffenen jedoch selbst nicht antragsberechtigt37, nur "anregungsberechtigt". In dieser Fassung war eine Kassation möglich, wenn "die Entscheidung auf einer schwerwiegenden Verletzung des Gesetzes" beruhte (Nr. I) oder wenn "die Entscheidung im Strafausspruch gröblich unrichtig" war (Nr. 2). Durch den Einigungsvertrag vom 31.8.199038 wurde die Funktion der Kassation als "Instrument zur Beseitigung von Justizunrecht'' verstärkt: die Betroffenen erhielten nun ein eigenes Antragsrecht (Art. 18 Abs. 2), das Verfahren sollte den StPO-Vorschriften über das (bundesdeutsche) Revisionsverfahren (§§ 333 ff.) folgen. Gegenstand der Kassation konnten demnach in der DDR ergangene Urteile, Strafbefehle und bestimmte Beschlüsse sein, z. B. der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung oder die im Strafverfahren ergangene gerichtliche Einweisung in eine psychiatrische Klinik. In den wegen des RehaG (s. u.) notwendig gewordenen Nachverhandlungen zum Einigungsvertrag wurde das Kassationsrecht nochmals modifiziert, die Antragsfrist (ursprünglich 31.12.1991) wurde an die des RehaG angepaßt (zwei Jahre nach lokrafttreten des RehaG, also bis zum 18.9.1992), der Kassationsgrund unter Nr. 2 neu formuliert. Eine Kassation kam nach dem neuen Wortlaut in Frage, wenn "die Entscheidung im Strafausspruch oder im Ausspruch über die sonstigen Folgen der Tat gröblich unrichtig oder nicht mit rechtsstaatliehen Maßstäben vereinbar'' war. Die ,,rechtsstaatlichen Maßstäbe" dieses Übergangs-Kassationsrechts seien, so Kemper!Lehner, weitgehend bedeutungsgleich mit den "rechtsstaatlichen
35
Lehmann, Kritische Justiz 1990, wie Fn. 5, S. 190.
36 Ebenda, S. 191. Bis Juni 1990 sollen ca. 400 bis 600 Kassationsantrage beantragt worden sein, von denen das Oberste Gericht bis zu diesem Zeitpunkt 51 zugelassen hatte, wovon acht durchgefuhrt worden waren (Ammer, wie Fn. 22).
37 Antragsberechtigt waren der Präsident des Obersten Gerichts der DDR und der Generalstaatsanwalt der DDR. 38
Anl. I Kap. III Sachgeb. A Abschn. III Nr. 141it. h.
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Grundsätzen" des § 2 RHG39 (es sollte also eine Überprüfung am Wertesystem des Grundgesetzes stattfmden). Während die ursprüngliche Regelung klar gewesen sei (die Kassation betraf "Unrecht auf der Ebene der Rechtsanwendung'', die Rehabilitierung betraf eher "Unrecht auf der Ebene des Gesetzgebers"), kritisiert Pfistel0 an der im Zuge der Einigungsverhandlungen so gefaßten Regelung, daß damit "ein Bruch der Systematik verbunden" sei, denn nunmehr erfolgte die Kassation, wie die Rehabilitierung, nicht mehr nur aufgrund einer Überprüfung des geltenden DDR-Strafrechts, die Grenzen zwischen beiden Instituten waren damit nicht mehr so eindeutig. Der Wortlaut war auch darin mißglückt, daß er die Überprüfung an rechtsstaatliehen Grundsätzen auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte, während der Schuldspruch streng genommen weiterhin nur nach dem jeweils geltenden DDR-Strafrecht zu überprüfen war. Stimmen aus der Rechtsprechung forderten daher - gegen den Wortlaut - eine Ausdehnung des neuen Prüfungsmaßstabs auch auf den Schuldspruch41 • Die Rechtsfolgen, insbesondere die materielle Entschädigung, im Falle einer Kassation waren in den §§ 369 ff. DDR-StPO in der Fassung des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes geregelt. Danach erhielt der zu Entschädigende insbesondere entgangenes Einkommen ersetzt42 • Vor allem aus Angst vor den aus dieser umfassenden Entschädigung möglicherweise resultierenden Kosten, so Kaschkat und Schlip, fugte der bundesdeutsche Gesetzgeber in das StrEG einen § 16 a ein, welcher eine an die minderen HHG-Leistungen gekoppelte Kappungsgrenze enthielt. Diese Kürzung der nach DDR-Recht gewährten Leistungen halten Kaschkat und Schlip filr so gravierend, daß sie sogar an einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Schadensersatz filr widerrechtlichen Freiheitsentzug) denken43 • Für die erste Phase der "Unrechtsbereinigung" mittels Kassation (Herbst 1989 bis Frühsommer 1990) ist kritisch zu fragen, ob es sich hier vordringlich um das ernsthafte Bemühen um Selbstreinigung gehandelt hat oder ob als Motiv innerhalb der Parteiftlhrung der SED und 39 Kemper, Kurt!Lehner, Robert: Überprüfung rechtskraftiger Urteile der DDR, in: NJW 1991, S. 329-334, hier S. 331 . 40 Das Rehabilitierungsgesetz, in: NSIZ 1991, S. 165-171 (Teil I} und S. 264-268 (Teil 2), hier S. 168. 41
Kemper/Lehner, NJW 1991, wie Fn. 39, S. 331.
42 In einem der noch vor dem 6. Strafrechtsanderungsgesetz entschiedenen Falle wurden ftlr zwei Jahre Haft 60.000 DDR-Mark, also 30.000 DM ausgezahlt (Ammer, DA 1991 II, wie Fn. 22).
43 Kaschkat/Schlip wie Fn. I, S. 240 und 245. Denselben Vorwurferheben sie auch gegenüber dem StrRehaG, siehe dazu unten Fn. 131.
Die Rehabilitierung von Opfern der SED-Unrechtsjustiz
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der Spitze der DDR-Justiz nicht der Gedanke überwog, die Kassationen als Mittel des Machterhalts instrumentalisieren zu können44 • Für letzteres spricht jedenfalls die Tatsache, daß nur einige wenige Urteile gegen prominente Opfer der DDR-Justiz überhaupt kassiert wurden: bis Juni 1990 waren es - bei 600 gestellten Anträgen- lediglich 51 Fälle45 • 2. Rehabilitierungsgesetz vom 6.9.1990 (RehaG)
Obwohl Art. 17 Einigungsvertrag darauf hindeutete, daß von einem künftigen gesamtdeutschen Gesetzgeber ein Gesetz zur Bereinigung von Justizunrecht geschaffen werden sollte, verabschiedete noch am 6.9.1990 die Volkskammer der DDR ein Rehabilitierungsgesetz, welches die Grundlage für eine umfassende Bereinigung des DDR-Unrechts auf der Opferseite sein sollte. Am 10.1 .1990 wurde eine erste Konzeption für den Entwurf dieses Gesetzes vorgelegt, es folgten mehrere Entwürfe. Am 20.7.1990 wurde ein Gesetzesantrag des Ministerrats der DDR vom 18.7.1990 in der Volkskammer in 1. Lesung diskutiert und an den Rechtsausschuß überwiesen, der zwischen dem 23. und dem 31. August 1990 in drei Sitzungen darüber beriet46.
Dieses umfangreiche Gesetz sollte außer der strafrechtlichen Rehabilitierung auch die Rehabilitierung alliierten, verwaltungsrechtlichen und beruflichen Unrechts ermöglichen. In diesem Umfang trat das RehaG zwar am 18.9.1990 noch in Kraft, allerdings nur bis zum 3.10.1990. Bei den im September stattfmdenden Nachverhandlungen mit der Bundesregierung zum Einigungsvertrag47 vertraten beide Seiten gegensätzliche Positionen: die DDR-Vertreter wollten das RehaG möglichst vollständig erhalten, die bundesrepublikanische Seite wollte es möglichst sogleich schon wieder "auslaufen" lassen48 • Als Kompromißlösung (die am Tag des Inkrafttretens des RehaG, am 18.9. deutschdeutscher Vertrag wurde) blieb ab dem 3.10.1990 "ein Torso aus strafrechtlicher
44
Zu dieser Frage siehe die drei Aufsatze von Weinke, wie Fn. 25.
45
Weinke, DA 1997, wie Fn. 25, S. 57.
46 Diese - knappen - Hinweise auf den Gang des Gesetzgebungsverfahrens verdanke ich Pfister, NStZ 1991, wie Fn. 40, hier S. 166. 47
Neben der Übernahme von Kassation und eines Teils des RehaG führte der Einigungsvertrag in
Anl. I Kap. lli Sachgeb. A Abschn. 111 Nr. 14 Maßg. lit d den Rechtsbehelf der Feststellung der
Unzulassigkeit der Vollstreckung ein, quasi eine Übernahme des§ 15 RHG (Pfister, NStZ 1991, wie Fn. 40, hier S. 167). 48 Bruns, Michae/!Schröder, Michae//Tappert, Wilhelm: Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz. Kommentar (zit.: 8/Sff), Heidelberg 1993, Einleitung Rn. 7.
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Rehabilitierung und Rehabilitierung von Psychiatrie-Opfem"49 in Kraftso. Damit sah der Einigungsvertrag also grundsätzlich (Art. 18 Abs. I) die Fortgeltung aller Gerichtsentscheidungen der DDR vor, die Rehabilitierung sollte weiterhin nur in Einzelfiillen nach deren Überprüfung stattfmden. Diese Lösung stieß zum Teil auf Ablehnung. Fritjof Haft etwa hätte sich eine generelle Lösung gewünscht: ,;Allen staatlichen Akten der ehemaligen DDR, die gemessen am Wertmaßstab des Grundgesetzes eindeutig Unrecht gewesen waren, hätte im Einigungsvertrag die Wirksamkeit abgesprochen werden müssen"s 1• Eine solche Lösung dürfte jedoch nur sehr schwer praktikabel gewesen sein, nur ein gewisser "Kern" des Unrechts, bestimmte Strafrechtsnormen (etwa die, welche Eingang in den Regelbeispielskatalog des StrRehaG gefunden haben) hätten ohnehin auf diesem pauschalen Weg als Unrecht "notifziert" (Haft) werden können. Mit dem grundsätzlichen Fortgelten von Strafurteilen ist lediglich "die Anerkennung verbunden, daß es in der DDR normale Kriminalität gegeben hat, die in einer mit rechtsstaatliehen Grundsätzen zu vereinbarenden Weise verfolgt und abgeurteilt worden ist''s 2 • Damit ist der Einigungsvertrag in diesem Punkt weniger skandalös als von Haft dargestellt, vielmehr stellt er sich in die Kontinuität des RHG, welches ja auch grundsätzlich von der Gültigkeit von DDR-Strafurteilen ausgegangen war. Ziel des RehaG war es, den Betroffenen eine politisch-moralische Genugtuung zuteil werden zu lassen (§ 2 1). Ein Rehabilitierter sollte "die Bestätigung erhalten, daß ihm aus politischen Gründen staatliches Unrecht widerfahren ist, was auch im Tenor der Entscheidung zum Ausdruck kommen sollte"s3 . Das RehaG enthält in § 3 zwei Rehabilitierungstatbestände: einen besonderen ("Republikflucht") und einen allgemeinen. Bezüglich der Republikflucht (§ 3 III RehaG) sind einige Bemerkungen zur Gesetzgebungsgeschichte angebrachts 4 • 49
Wie Fn. 2, S. 9.
50 Als Anl. II Kap. liJ Sachgeb. C Abschn. 111 Nr. 2 Einigungsvertrag. Siehe zur Geltung von Kassation (§ 311 DDR-StPO) und RehaG ab Oktober 1990 auch das Merkblatt des Bundesministeriums der Justiz vom 25 .10.1990.
51
Die "Bereinigung" des SED-Unrechts, in: DtZI994, S. 258-261.
52
Pfister, NJ 1992, wie Fn. 14, hier S. 197.
53
Kemper/Lehner, NJW 1991 , wie Fn. 39, hier S. 332.
54 Die folgenden Ausfilhrungen stUtzen sich auf Pfister, in: NStZ 1991, wie Fn. 40, S. 168 f. m. w. N. (Fn. 40-48).
Die Rehabilitierung von Opfern der SED-Unrechtsjustiz
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Das Ministerium der Justiz wollte diese Fallgruppe in seiner Konzeption ganz von der Rehabilitierung ausschließen. Im zweiten Entwurf des Gesetzes war § 213 DDR-StGB in der Liste der besonders fi1r eine Rehabilitierung in Betracht kommenden Straftatbestände nicht enthalten. Der Entwurf enthielt jedoch eine Klausel (§ 2 III), nach der diejenigen Personen (auch bezüglich ihrer Republikflucht) rehabilitiert werden sollten, welche "wegen der Wahrnehmung verfassungsmäßiger Grundrechte verfolgt wurden und deswegen die DDR entgegen den gesetzlichen Bestimmungen verlassen haben oder verlassen wollten, wenn sie aus diesen GrUnden verurteilt wurden". Diesen Standpunkt nahm auch noch der Gesetzesantrag des Ministerrats an die Volkskammer vom 18.7.1990 ein. In der ersten Lesung erfuhr diese Auffassung dann erste Kritik aus den Reihen der Abgeordneten. Im Rechtsausschuß wurde dann vorgeschlagen, jede "Republikflucht" "ohne Ansehung der Motive" zu rehabilitieren. Nach dem allgemeinen Rehabilitierungstatbestand sollten Personen rehabilitiert werden55, die "wegen einer Handlung strafrechtlich verurteilt wurden, mit der sie verfassungsmäßige politische Grundrechte wahrgenommen haben".
§ 3 II enthält Regelbeispiele hierzu. Danach waren insbesondere Personen zu rehabilitieren, "die nach den Strafbestimmungen des 2. und 8. Kapitels des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches oder entsprechenden frUheren Strafgesetzen verurteilt wurden, weil sie I. politischen Widerspruch in Wort und Schrift, durch friedliche Demonstrationen oder ZusammenschlUsse erhoben haben, 2. gewaltlosen Widerstand geleistet haben, 3. mit friedlichen Mitteln Einfluß auf die Genehmigung einer Ausreise aus der DDR genommen haben oder 4. Kontakt zu Dienststellen, Organisationen und Personen außerhalb des Gebietes der DDR aufgenommen haben, ohne im Sinne des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes Spionage- oder Agententätigkeit auszuUben." Die Abgeordneten der Volkskammer dachten bei diesem Katalog vor allem an Handlungen wie die "Verteilung von Flugblättern, Plakataktionen, Offene Briefe 55
Zuständig waren bei den Bezirksgerichten einzurichtende Rehabilitierungssenate.
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und Versammlungen", an "das Zeigen eines weißen Fähnchens an der Autoantenne als Symbol des Ausreisewunsches", an den "Briefverkehr mit Institutionen in der Bundesrepublik" oder "den Besuch in der Ständigen Vertretung in Berlin (Ost) zur Beschleunigung einer Ausreise"56• Die hier mit "insbesondere" eingeleiteten Kriterien dienten Teilen der Praxis allerdings nicht als bloße "Regelbeispiele", sondern als abschließende Regelung, d. h., daß die Anträge derjenigen, welche die genannten Tatbestände nicht erfiHlten, strikt abgelehnt wurden. Diese Regelung hatte zwar den Vorteil der Klarheit, ließ aber viele Schutzlücken offen57. Da das Gesetz auf ein tatsächliches politisch motiviertes Handeln des Betroffenen abstellte, kamen etwa Personen, die zu Unrecht politischer Aktionen verdächtigt und deshalb verurteilt worden waren, oder Personen, die wegen der Weitergabe nicht-politischer Informationen bestraft worden waren, nicht in den Genuß der Rehabilitierung58 • Von der Praxis teilweise ebenfalls sehr eng ausgelegt wurden die Kriterien "gewaltlos" bzw. "mit friedlichen Mitteln", so daß etwa an den Ereignissen des 17. Juni 1953 Beteiligte, schon wenn sie sich nur geringer Gewalt bedient hatten (etwa, um Zugang zu einem Betrieb oder einem öffentlichen Gebäude zu erhalten), nicht in den Genuß der Rehabilitierung kamen. Ebenso absurd war die Ablehnung der Rehabilitierung eines Republikflüchtigen, weil er bei seiner Flucht gleichzeitig eine Sachbeschädigung an Grenzanlagen mitverwirklicht hatte59• Fraglich war, welche Verfassung den Prüfungsmaßstab fUr die Frage bilden sollte, ob eine strafrechtliche Verfolgung im Widerspruch zu den dort garantierten politischen Grundrechten erfolgt war. Anfangs tendierten die Gerichte eher dazu, auf das Grundgesetz abzustellen, gingen dann jedoch einhellig zu einer Prüfung nach den Grundrechten der jeweils geltenden DDRVerfassungen über60• Zu einem fUr die Verurteilten befriedigenden Ergebnis konnte dieser Weg allerdings nur filhren, wenn man die einzelnen Grundrechte 56 Pfister,
DRiZ 1991, wie Fn. 14, S. 391.
57 Herzler!Ladner/Pfeifer!Schwarze/ Wende : Rehabilitierung, 2. Aufl. Stuttgart, Berlin, Köln 1997, StrRehaG § I, Rn. I (an dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, daß dieser Kommentar im Gegensatz zu B/Sff auch auf das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz eingeht) (zit: H/UP/S/W
58
Pfister, DRiZ 1991, wie Fn. 14, S. 391 f.
59 Die
beiden Fallgruppen bei Schröder, in: 8/Sff, wie Fn. 48, Einl. Rn. 9 und 10.
60 Diese waren auch der vom Gesetzgeber intendierte sowie dem Zweck des RehaG entsprechende Prüfungsmaßstab (ausfilhrlicher dazu Pfister, NStZ 1991, wie Fn. 40, S. 169).
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eng nach dem Wortlaut auslegte und etwaige einschränkende Fonnulierungen weginterpretierte. Es kam teilweise zu einer stillschweigenden Übernahme der Schrankensystematik des Grundgesetzes bei der Interpretation der jeweiligen DDR-Verfassung, ein zwar juristisch nicht zufriedenstellendes (Pfister61 ), aber um die Interessen der Betroffenen angemessen zu wahren wohl alternativloses Verfahren. Die Höhe der sozialen Ausgleichsleistungen, die sich entsprechend eines Verweises in § 7 RehaG nach dem HHG richtete, wird von Lochen und MeyerSeitz als völlig unbefriedigend kritisiert62. Ein großer fmanzieller Nachteil gegenüber der entsprechenden Regelung bei der Kassation lag insbesondere darin, daß nach dem RehaG/HHG Verdienstaustlilie nicht entschädigt wurden63 (siehe bezüglich des HHG schon oben unter II.). Schon gar nicht wurden die sich aus der Haft und der auf die Haft häufig folgenden Diskriminierung ergebenden beruflichen Fortkommensschäden berücksichtigt64• In diesem Zusammenhang erwies sich als weiterer Mangel filr die Betroffenen, daß die Entscheidungen der Rehabilitierungsgerichte filr die Behörden, welche filr die Gewährung von Hilfen nach dem HHG zuständig waren, nicht bindend waren, so daß die Betroffenen zwei Verfahren durchlaufen mußten6s. Bis am 4.11.1992 das StrRehaG in Kraft trat, war die Situation von dem "Nebeneinander von Kassation und Rehabilitierung mit unterschiedlichen Spruchkörpern und unterschiedlichen Verfahren" geprägt. Die Abgrenzung zwischen Rehabilitierung und Kassation war nicht nur filr die Betroffenen selbst kaum durchschaubar, sondern auch filr die entsprechenden Gerichte häufig zweifelhaft66; zeitraubende Zuständigkeitsstreitigkeiten drohten, weshalb § 15 61
Pfister, DRiZ, wie Fn. 14, S. 391.
62 Wie Fn. 2, S. 11. In die gleiche Richtung geht die Kritik von Kaschkat und Schlip, welche bezoglieh dieser Lösung von einer "Nivellierung der Leistungen auf dem niedrigsten Niveau" sprechen (wie Fn. 1, S. 240). 63
Siehe dazu die Ausftlhrungen von Kaschkat!Schlip, DA 1991, wie Fn. I, S. 241.
64Ebenda, 65
S. 243.
Sehröder in: B/Sff, wie Fn. 48, Einleitung Rn. 8.
66 Eine Reihe derjenigen Praktiker, die sich mit der Kassation und dem RehaG befassen mußten, verteidigen die Zweiteilung jedoch, z. B. Arnold, Jörg: ,,Rehabilitierung und Kassation- Beseitigung von Justizunrecht in der DDR". Gedanken zu einer von der Deutschen Anwaltsakademie herausgegebenen gleichnamigen Schrift unter gleichzeitiger Berücksichtigung eines Entwurfs des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes, in: Strafverteidiger 1992, S. 92-94. Amold ist der Ansicht, die Ablehnung basiere lediglich .,auf theoretischen Unklarheiten" seitens der Kritiker. Der Unterschied sei aber eigentlich deutlich: Die Kassation diene ,,zur Korrektur von rechtskrllftigen
32 Timmermann
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Abs. 3 RehaG die bindende Wirkung von Verweisungsbeschlüssen in beide Richtungen vorsah. Aufgrund der oben dargestellten ungleichen Entschädigungsregelungen filhrte diese Unklarheit in der Praxis allerdings teilweise dazu, "daß sich aus der Zufiilligkeit der Verfahrenswahl filr parallele Fälle unterschiedliche Leistungshöhen" ergaben67 • Bis Ende März 1991 waren bei den zuständigen Gerichten und Staatsanwaltschaften 36.246 Anträge auf Rehabilitierung eingegangen68 , wenige Monate später war die Zahl schon auf über 60.000 gestiegen69. Die Bearbeitung war zeitaufwendig, da jeder einzelne Fall geprüft werden mußte70 • Schnell bemühten sich die Justizpraktiker darum, in die neue Materie einzusteigen, was wegen mangelnder Literatur zu der Problematik anfangs sehr schwierig war71 • So gab es z. B. auf dem 15. Strafverteidigertag in Berlin (26.-28. April 1991) eine Arbeitsgruppe "DDR-Strafgerichtsbarkeit - Rehabilitierung der Opfer?" mit Wolfgang Pfister und Jörg Arnold als Referenten72 •
111. Das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) Vor dem Hintergrund der ab Oktober 1990 bestehenden verworrenen, vor allem filr die Betroffenen unbefriedigenden Situation mußte die "AbsichtsbekräftiFehlurteilen, die in schwerwiegender Weise aufunrichtiger Anwendung des damals geltenden Strafbzw. Stra!prozeßrechts beruhen", die Rehabilitierung sei dagegen "eine besondere Maßnahme zur Beseitigung von politischen Unrechtsurteilen". 67
Kaschkat/Sch/ip, DA 1991, wie Fn. I, S. 245.
68
Arnold, wie Fn. 66, hier S. 92, Fn. 7, m. w. N.
69 Per 31.12.1991 lagen nach einer internen Umfrage des Bundesministeriums der Justiz 65. 133 Rehabilitierungs- und 7.912 Kassationsantrage vor (Schröder in: B/Sff, wie Fn. 48, Einleitung Rn. II ).
70 Die Alternative ware ein Rehabilitierungsgesetz gewesen, das eine "pauschale Aufhebung aller Urteile, die von bestimmten Gerichten oder unter Anwendung bestimmter Strafrechtsvorschriften gesprochen worden waren", vorsah. Ein Grund, der dagegen sprach, war, daß man von der Einzelfallprüfung "eine größere rehabilitierende Wirkung filr den einzelnen" erwartete (Pfister, DRiZ 1991, wie Fn. 14, S. 393). 71 Anfangs gab es nur Veröffentlichungen von Entscheidungen (z. T. mit Anmerkungen) in den Fachzeitschriften, Anmerkungen zur Kassation fanden sich schon bald in den StPO-Kommentaren Kleinknecht/Meyer sowie Löwe-Rosenberg. Im August 1991 erschien dann - als erster "kleiner Kommentar" (Amold) speziell zu der Materie Amelung, M./Brüssow, R./Keck, L.-W./Kemper, K./Mehle, V. : Rehabilitierung und Kassation - Beseitigung von Justizunrecht in der DDR Gesetzliche Bestimmungen mit Erlauterungen im Beck-Verlag München.
72
Siehe dazu den kurzen Bericht von Ade/haid Brandt in: NJ 1991 , S. 264 f.
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gung" des Art. 17 Satz 2 Einigungsvertrag, eine neue Regelung zu schaffen, bald in die Tat umgesetzt werden. Möglicherweise hätte es zu diesem Zweck schon genügt, wie die SPD-Fraktion vorschlug, die Leistungen nach dem HHG der Höhe nach an die Lebensverhältnisse der neunziger Jahre anzupassen und die Mängel an Übersichtlichkeit und Systematik in den vorhandenen Regelungen im Rehabilitierungsgesetz zu beseitigen73 ; die Bundesregierung favorisierte jedoch ein ganz neues Gesetz. Im April 1991 wurde im Bundesministerium der Justiz eine Abteilung V "Bereinigung von DDR-Unrecht" gegründee4 • Am 25.6.1991 legte das Bundesministerium der Justiz einen entsprechenden Referentenentwurf vor, auf dessen Grundlage das Bundeskabinett ab dem 18. Juli diskutierte, um ihn am 14.8.1991 als Regierungsentwurf des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes zu beschliessen75 • Dieser Entwurf wurde vom Bundestag - zusammen mit dem Antrag von Dr. Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN76 - in seiner Sitzung vom 5.12.1991 diskutiert und an den Rechtsaus-schuß zur Beratung77 verwiesen.
Am 19. März 1992 fand in Halle eine vom Bundestags-RechtsausschuB veranstaltete, zeitweise turbulent verlaufende Anhörung von 24 Opferverbänden und 14 Sachverständigen78 statt. Zu keiner Einigung kam es u. a. in den folgenden Punkten: Die am häufigsten von den Verbänden kritisierte Regelung war § 17 Abs. 3 des Gesetzentwurfs, welcher die Vererblichkeit der Ansprüche stark einschränkte, gefolgt von der sog. Stichtagsrege1ung, welche denjenigen, die bis zur Maueröffnung (9.11.1989) in der DDR geblieben waren, eine höhere Kapitalentschädigung zubilligte, und der Höhe der Kapitalentschädigung selbst (300 DM pro Haftmonae9 wurde von den Betroffenenverbänden durchweg als zu gering abgelehnt). 73
BI-Drucksache 12/570.
74
Sehröder in: B/S/T, wie Fn. 48, Einleitung Rn. 14.
75
BI-Drucksache 1211608.
76
BI-Drucksache 12/1439.
77 Unter Mitwirkung des Innenausschusses, des Ausschusses ftlr Arbeit und Sozialordnung und des Haushaltsausschusses. Zum Beratungsverfahren in den Ausschossen siehe den Bericht der Abgeordneten Dr. Herta Daubler-Gmelin, Jörg van Essen, Hans-Joachim Hacker, Dr. Michael Luther und Dr. Bertold Reinartz, BI-Drucksache 12/2820.
78 Aufgelistet finden sich die teilnehmenden Verbande und Personen in BI-Drucks. 12/2820, S. 25 f. Einzelheiten zu dieser Anhörung bei Widmaier (wie Fn. 1), S. 210-219. 79 So der Vorschlag der Bundesregierung, vgl. Widmaier (wie Fn. 1), S. 202. Vertreter der Betroffenenverbande forderten demgegenober bis zu I 000 DM pro Haftmonat.
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Kritisiert wurde auch der Regelbeispielskatalog des § I, welcher die DDRStrafnormen enthielt, welche eine politische Verfolgung indizierten, als zu eng, teilweise bemängelten die Verbände schließlich die Tatsache, daß auch ,,kriminelle" Täter rehabilitiert werden sollten, deren Verurteilung rechtsstaatswidrig war80• Auf diese Anhörung folgten ausfiihrliche Beratungen im Bundestags-Rechtsausschuß, die am 16.6. ihren Abschluß fanden, aber keine wesentlichen Änderungen brachten. Schon am nächsten Tag, am 17 .6.1992, wurde das Gesetz schließlich im Bundestag verabschiedet, ohne auf die weitergehenden Forderungen der Betroffenenverbände einzugehen. Den Bundesrat passierte das Gesetz jedoch zunächst nicht. Dieser rief den Vermittlungsausschuß an, weil die Länder es nicht ftlr zurnutbar hielten, die Hälfte der Kosten zu tragen. Erst als der Bundestag am 24.9.1992 die Empfehlung des Vermittlungsausschusses annahm, der Bund solle 65 % der Kosten tragen, konnte (nach Zustimmung des Bundesrats am 25.9.) das Gesetz am 3.ll.l992 im Bundesgesetzblatt verkilndet werden 81 • Es trat am 4.ll.l992 in Kraft82• Da viele der auf der Anhörung in Halle vorgetragenen Forderungen der Betroffenenverbände nicht erfiillt wurden, kämpften sie auch nach Verabschiedung des Gesetztes weiter um eine Verbesserung ihrer Situation, wobei sie von den damaligen Oppostionsparteien unterstUtzt wurden, wie einige Novellierungsversuche dokumentieren 83 • Ziel des StrRehaG sei es, so die Bundesregierung in der Begründung des Entwurfs, "den durch den Entzug ihrer Freiheit am schwersten Betroffenen vorrangig Genugtuung zu geben, ihnen durch vereinfachte Verfahren schneller zu ihrem Recht zu verhelfen sowie ihnen durch eine deutlich verbesserte Entschädigung und durch Versorgungsansprüche einen gewissen Ausgleich filr das erlittene Unrecht anzubieten"84 • Bezüglich der Frage "Rehabilitierung nach Einzelfallprüfung auf Antrag, Rehabilitierung von Amts wegen oder gesetzliche (also ,flächendeckende') Aufhebung früherer Entscheidungen?" blieb das StrRehaG auf der von RehaG und Einigungsvertrag vorgegebenen Linie. Überlegungen in diese Richtung gab es jedoch während des Gesetzgebungsverfahrens durchaus, vgl. dazu etwa die
80
BI-Drucksache 12/2820, S. 27.
81
Gleichzeitig wurde im Verlauf des Vermittlungsverfahrens die Haftentschädigung erhöht.
82
Lochen!Meyer-Seitz, wie Fn. 2, S. 13.
83
Einzelheiten dazu bei Widmaier, wie Fn. I, S. 317-328.
84
BT-Drs. 12/1608, S. 13.
Die Rehabilitierung von Opfern der SED-Unrechtsjustiz
501
Änderungsanträge der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN85, deren Vertreter meinten, im Rehabilitierungsgesetz der CSFR ein Vorbild fiir eine gesetzliche Rehabilitierung zu erblicken. Dieses Gesetz bot indes nur die Möglichkeit einer Rehabilitierung von Amts wegen86• Eine gesetzliche Generalrehabilitierung hätte m. E. auch allenfalls den Vorteil einer gewissen symbolischen Wirkung bedeutet. Eine beschleunigende, Einzelverfahren vereinfachende oder gar ersetzende Wirkung wäre davon jedoch nicht ausgegangen, denn auch eine solche Rehabilitierung per Gesetz hätte fiir die auszuzahlenden Leistungen in der Praxis durch Einzelfallverfahren überprüft werden müssen. Auch die von einigen kritisierte Tatsache, daß nur auf Antrag von Betroffenen ein Rehabilitierungsverfahren eingeleitet wird, darf nicht als Einschränkung angesehen werden; sie dient dem Schutz derjenigen Opfer der Unrechtsjustiz, die fiir sich kein Rehabilitierungsverfahren wünschen, die Rehabilitierung soll niemandem aufgedrängt werden87 • Durch das StrRehaG wurden die bisherigen Rehabilitierungs- und KassationsgrUnde zusarnmengefaßt. § I regelt die Aufhebung strafrechtlicher Entscheidungen (Abs. 1) und Maßnahmen (Abs. 5)88 • Fraglich ist zunächst, welche Akte unter die Defmition "strafrechtliche Entscheidungen" fallen. Hier ist als erstes festzustellen, daß Maßnahmen der sowjetischen Militärbehörden nach Ansicht des Gesetzgebers aus völkerrechtlichen Gründen nicht nach dem StrRehaG aufzuheben sind89. Zwar müssen die Betroffenen (abgesehen durch eine Rehabilitierung durch Moskau, welche
85 BT-Drs. 1211439 S. 3 ff ., unter ll. Unter Nr. 5 wird die Forderung erhoben, alle Straftaten des Kataloges des § 1 I Nr. 1 sollten "durch einen Akt des Gesetzgebers aufgehoben werden mit der Folge einer Löschung der Delikte im Strafregister", unter Nr. 6 sind Tatbestlinde genannt, um die dieser Katalog erweitert werden sollte, unter Nr. 7 erfolgt ein Hinweis darauf, daß ftlr alle nicht im Katalog aufgeftlhrten Fälle die Möglichkeit einer Einzelfallprüfung im vorn bisherigen Entwurf vorgesehenen Verfahren erhalten bleiben sollte; nochmals wurde dieser Vorschlag arn 16. Juni 1992 (BT-Drs. 12/2826 und 12/2827) gemacht.
86 Weitere Einzelheiten mit Nachweisen bei Sehröder in: B/S/T, wie Fn. 48, Vorbemerkungen zu § 1, Rn. 10. 87
Ebenda, Rn. 11-15.
88 Im Zeitraum vorn 8.5.1 945 bis zum 2.10.1990. Aus völkerrechtlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnten Verurteilungen und Maßnahmen durch Stellen der SMAD (Militärtribunale usw.).
89 Schwarze,
in: H/UP/S/W, wie Fn. 57, StrRehaG § I, Rn. 20.
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inzwischen angelaufen ist90) demnach mit dem Makel der Verurteilung weiterleben, ein materieller Nachteil entsteht ihnen jedoch hierdurch nicht: § 25 StrRehaG bietet ihnen einen eigenen Anspruch auf Kapitalentschädigung in gleicher Höhe wie den durch deutsche Gerichte Verurteilten91 . Diese dem Leid der Betroffenen angemessene Lösung wird dadurch eingeschränkt, daß ein Anspruchsteller nachweisen muß, daß seine Freiheitsentziehung (v. a. Internierung in der SBZ, Verschleppung in die UdSSR) im "Zusammenhang mit der Errichtung oder Aufrechterhaltung der kommunistischen Gewaltherrschaft im Beitrittsgebiet" erfolgte. Dieser Nachweis ist aufgrund der überaus dürftigen Aktenüberlieferung aus dieser Zeit häufig kaum zu fUhren, eine gesetzliche Vermutung zugunsten der Betroffenen wäre hier wünschenswert gewesen. Nicht unter das StrRehaG fallen neben dieser Gruppe nach Ansicht der Rehabilitierungsgerichte Entscheidungen aufgrund von Normen des Verwaltungs-, Arbeits-, Zivil- und Ordnungswidrigkeitenrechts, also etwa auch Einziehungsbescheide der Zollbehörden (solche Fälle regelt die im 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz enthaltene verwaltungsrechtliche Rehabilitierung). Umstritten war in der Praxis die Einordnung von Entscheidungen der Gesell-schaftlichen Gerichte (Schieds- und Konfliktkommissionen). Ich selbst neige hier der Auffassung Schwarzes zu, der darauf abstellt, daß dieses "Rechtsgebiet im Bereich des formellen und materiellen Strafrechts der DDR angesiedelt und geregelt war'm und die hier zu Unrecht Verurteilten somit rechtlich rehabilitierungsflihig sind Außerordentlich schwierig ist die Einordnung der Unter-bringung in einem Jugendwerkhof durch den Rat des Kreises aufgrund der §§ 50 FGB/DDR, 23 JugendhilfeVO/DDR. Schwarze sieht diese Maßnahme nicht als strafrechtlich an, auch wenn z. B. der Versuch eines ungesetzlichen Grenzüber-tritts zugrunde liegt93 (seit es die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung gibt, ist diese Frage filr die Opfer nicht mehr so bedeutsam). Eindeutig strafrechtlichen Charakter haben hingegen Maßnahmen auf der Grundlage der Verordnung über Aufenthaltsbeschränkungen vom 24.8.1961. Eine Entscheidung ist nach dem StrRehaG aufzuheben, soweit sie "mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatliehen Ordnung unver90 Zuständige
91
Die Anspruchsteller müssen sich dazu eine Bescheinigung nach§ \0 Abs. 4 HHG besorgen.
92 Schwarze 93
Stelle ist die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation.
in: WUP/S/W, wie Fn. 57,§ I, Rn. 13.
Ebenda, Rn. 14.
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einbar ist" (Generalklausel), "insbesondere" wenn die strafrechtliche Entscheidung der politischen Verfolgung diente (§ 1 I Nr. 1, Regelungskatalog Lit. a bis i94) oder eine grob unverhältnismäßige strafrechtliche Sanktion vorlag (§ 1 I Nr. 2). § 1 Abs. 2 bietet eine gesonderte Regelung filr die Opfer der Waldheirner Prozesse. Der Hinweis auf rechtsstaatliche Grundsätze erinnert sehr stark an § 2 RHG. Dennoch, so Keck!Schröder/Tappert, verbiete sich eine "unbesehene Übernahme" der von der Rechtsprechung dazu entwickelten Kriterien, denn von bundesdeutschen Gerichten seien - zu Zeiten des Kalten Krieges - weite Teile des DDR-Strafrechts fi1r mit rechtsstaatliehen Grundsätzen unvereinbar erklärt worden. Allein schon "wegen mangelnder Unparteilichkeit und Unabhängigkeit' der Gerichte" seien alle DDR-Strafurteile unter rechtsstaatliehen Gesichtspunkten anzweifelbar. Bei der Anwendung des StrRehaG käme es daher darauf an, daß die Rechtsprechung zur Abgrenzung der rehabilitierungswürdigen von anderen Fällen das Tatbestandsmerkmal "grob" sinnvoll ausgestalte. Nach der Intention des Gesetzgebers sollte nicht jedes nicht ganz einwandfreie Urteil der DDRStrafjustiz aufgehoben werden, "sondern nur diejenigen, die totalitäres Staatsunrecht beinhalten, insbesondere in denen das Strafrecht zur politisch-ideologisch motivierten Verfolgung Andersdenkender mißbraucht worden ist'', also die Entscheidungen und Maßnahmen, die als "Systemunrecht" anzusehen sind, im einzelnen solche, "die eindeutig politisch motiviert waren, die schlicht der Reglementierung und Einschüchterung dienten, in denen durch die Verfassung der DDR auf dem Papier gewährte Grundrechte versagt wurden, die jede kritische Einstellung gegenüber Staatsform und Staatsfilhrung unterdrückten, die den Betroffenen zum Objekt staatlicher lnteressendurchsetzung machten und/oder grob unverhältnismäßig sind"95 .
94 Im einzelnen: Landesverräterische Nachrichtenübermittlung (§ 99 StGB/DDR), Staatsfeindlicher Menschenhandel (§ 105 StGB/DDR), Staatsfeindliche Hetze (§ 106 StGB/DDR), Ungesetzliche Verbindungsaufuahme (§ 219 StGB/DDR), Ungesetzlicher Grenzübertritt (§ 213 StGB/DDR), Boykotthetze (Art. 6 Abs. 2 Verf. vom 7.10.1949), Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung (§ 256 StGB/DDR), Hochverrat, Spionage, Anwerbenlassen zum Zwecke der Spionage, Landesverräterische Agententätigkeit, Staatsverbrechen, die gegen einen verbündeten Staat gerichtet sind, Unterlassung der Anzeige einer dieser Straftaten, Geheimnisverrat(§§ 96 bis 98, 100, 108, 225 Abs. I Nr. 2 in Verbindung mit diesen Vorschriften, §§ 245 oder 246 StGB/DDR). Die beiden letztgenannten Fallgruppen (eingeftlgt als Lit. g und Lit. i) waren im Entwurf der Bundesregierung noch nicht enthalten, sie wurden erst durch den Rechtsausschuß des Bundestages eingefllgt, vgl. BT-Drucksache 12/2820, S. 6), bezUglieh der Wehrdienstdelikte gab es auch einen entsprechenden Vorschlag des lnnenausschusses, vgl. ebendaS. 24 unter Nr. 8. 95
Schwarze, in: HIUP/S/W, wie Fn. 57,§ I, Rn. 24.
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Verbände politisch Verfolgter kritisierten§ 1 StrRehaG, weil er die Aufhebung von unverhältnismäßigen Verurteilungen Krimineller mit der Rehabilitation von "Politischen" in einem Atemzug regelte96 • Grundlage der Überprüfung sind zum einen Verfassung, Strafgesetze und Strafprozeßordnung der DDR selbst, daneben "allgemeine Prinzipien einer freiheitlich demokratischen Grundordnung", wie sie sich etwa aus dem Grundgesetz und den Verfassungen vergleichbarer Demokratien, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte u. a. Konventionen ergeben97 • Zu Nr. 1: Die Praxis bejaht- neben den Regelbeispielen (bei deren Vorliegen eine widerlegbare gesetzliche Vermutung98 fiir die Authebbarkeit einer Entscheidung besteht) - ein politisch motiviertes Strafurteil z. B., wenn es "langatmige politische Ausfilhrungen propagandistischen Charakters enthält und der Betroffene dabei auf die Seite des zu bekämpfenden Klassenfeindes gestellt wird und wenn zwischen dem Tatvorwurf und den politischen Ausfilhrungen kein nachvollziehbarer vernünftiger Zusammenhang besteht"99, auch den Verurteilten beschimpfende Äußerungen im Urteil deuten hierauf hin. Bezüglich grober Beschimpfungen dürfte es auch keinen Zweifel an der Rechtsstaatswidrigkeit geben, bezüglich bloßer propagandistischer Verbrämungen eines Urteils sind allerdings massive Zweifel angebracht, ob diese allein eine Rehabilitierung bereits nahelegen. Zwar gehen Lochen!Meyer-Seitz m. E. etwas zu weit, wenn sie solche Äußerungen als "bloße Äußerlichkeiten" und damit als "unter Rehabilitierungsgesichtspunkten irrelevant" abtun 100• Ihr Hinweis geht grundsätzlich
96 Dazu erging eine Kurzstellungnahme des Verbandes der Opfer des Stalinismus (VOS), des KurtSchumacher-Kreises und weiterer Verbande vom 14.2.1992 (erwahnt von Pfister, NJ 1992, wie Fn. 14, S. 197, Fn. 23). Ablehnend auch Amold, Strafverteidiger 1992, wie Fn. 66. Aufgrund der im Verlauf der Jahre 1990/1991 entschiedenen Falle habe sich gezeigt, daß "auch filr die Strafjustiz der DDR eine Unterscheidung zwischen politischen und allgemeinen Strafsachen vorgenommen werden" könne. Die Rehabilitierung sollte den Opfern der ersten Fallgruppe vorbehalten bleiben. ln die gleiche Richtung zielte der Antrag der SPD-Fraktion im Rechtsausschuß, das sich auf die politische Verfolgung beziehende Wort "insbesondere" zu streichen, da sonst der Eindruck entstehe, "der Aufhebungstatbestand erfasse auch Falle ,gewöhnlicher' Kriminalität" (BT-Drucks. 12/2820, S. 28. Lochen!Meyer-Seitz (wie Fn. 2, S. 3 f.) rechtfertigen hingegen die Lösung des Gesetzes, da beide Gruppen "gleichermaßen Verletzungen ihrer MenschenwUrde und ihrer Persönlichkeitsrechte sowie physische und materielle Schäden erlitten haben". 97 Schwarze,
in: H/UP/S/W, wie Fn. 57,§ I, Rn. 26.
91 D. h., daß eine eingehendere Fallprüfung nur erfolgen muß, wenn "zureichende entgegenstehende Anhaltspunkte" vorliegen.
99 Schwarze,
in: H/UP/S/W, wie Fn. 57,§ I, Rn. 34.
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allerdings in die richtige Richtung, denn teilweise wurde ein solcher "Propaganda-Vorspann" (Lochen!Meyer-Seitz) von Richtern (und übrigens in der Fachliteratur auch von Rechtswissenschaftlern) genutzt, um dahinter zu verbergen, daß man sich in der Sache bemühte, an traditionellen rechtsstaatliehen Auffassungen festzuhalten- eine Taktik, die von (wenigen) besonnenen Juristen auch schon in der NS-Zeit angewandt worden war. Das StrRehaG enthält eine entscheidende Änderung zum RehaG: Dort setzte die Rehabilitierung ein friedliches, gewaltloses Handeln voraus, nach dem StrRehaG kann auch rehabilitiert werden, wenn Straftatbestände wie Diebstahl, Betrug, Körperverletzung usw. erfilllt sind, soweit diese "in einem vertretbaren Verhältnis zu den verfolgten politischen Zielen" standen 101 • Aufbauend auf die Rechtsprechung zum RHG und zum RehaG, sowie gestützt auf eigene Erfahrungen in den ersten Jahren, stellte sich bei den Gerichten bald heraus, daß auch auf im Regelbeispielskatalog nicht erfaßte Strafnormen gestützte Verurteilungen in einigen Fällen regelmäßig aufgehoben wurden. Umstritten war, ob diese Fälle von der Rechtsprechung quasi in richterlicher Rechtsfortbildung "stillschweigend" dem Regelkatalog hinzugefUgt werden konnten, ob diese Fälle also auch wie eine gesetzliche Vermutung behandelt werden sollten. Schwarze hält diese Frage allerdings fiir eine "Scheinproblematik": es ginge nicht um richterliche Rechtsfortbildung, sondern lediglich um das Einfließenlassen eigener Erfahrungen in die Rechtsprechung: die Richter könnten in diesen Fällen zwar nicht von einer gesetzlichen, aber von einer tatsächlichen widerlegbaren Vermutung zugunsten des Antragstellers ausgehen 102 • Zu Nr. 2: Ein "grobes Mißverhältnis", so Schwarze, könne ,,nicht schon deshalb bejaht werden, weil ein Urteil bei Zugrundelegung der Strafzumessungspraxis westdeutscher Gerichte als zu hart erscheint''. Sehr strittig sind die Konsequenzen der Feststellung dieser Unverhältnismäßigkeit: ist die 100
Lochen/Meyer-Seitz, S. 32 f.
101
Schwarze, in: Hfl/P/S/W, wie Fn. 57,§ I, Rn. 43.
102 Ebenda, Rn. 70-73; Rn. 74 bis 128 einzelne Bestimmungen (u. a.: SMAD-Befehle Nr. 124 und 160, Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II Art. ll1 A lll, Wirtschaftsstrafverordnung vom 23.9.1948 (und in der Neufassung von 1953), Spekulationsverordnung vom 22.6.1949, das Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handels, das Gesetz zur Regelung des innerdeutschen Zahlungsverkehrs, das Gesetz zum Schutze des Volkseigentums, die Verordnung Ober Aufenthaltsbeschränkung vom 24.8.1961, § 220 DDR-StGB (öffentliche Herabwürdigung), § 222 DDR-StGB (Mißachtung staatlicher und gesellschaftlicher Symbole, § 18 des DDR-Militarstrafgesetzes, welcher die Verletzung der Vorschriften Ober den Grenzdienst unter Strafe stellt; keine tatsächliche Vermutung ftlr politische Verfolgung liegt nach der Rechtsprechung bei folgenden Normen vor: Fahnenflucht (§§ 254 DDR-StGB, 4 MStG), §§ 212, 214 StGB (Widerstand gegen staatliche Maßnahmen und Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit), bei § 215 (Rowdytum) liege die Vermutung politischer Verfolgung nahe, wenn im Urteil die "westliche" Orientierung Jugendlicher betont werde, wenn drakonische Strafen aufgrund der Haartracht, des Konsums von Westmedien, Gruppenbildungen etc. verhängt worden waren).
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Entscheidung vollständig aufzuheben oder ist das Urteil bloß zu mildem? Im Gesetzgebungsverfahren wurde von letzterer Alternative ausgegangen. Schwarze hält unter Berufung auf den Wortlaut jedoch nur eine vollständige Aufhebung filr zulässig. Als Argumente ftlhrt er an, die Unverhältnismäßigkeit der Strafe indiziere "die Rechtsstaatswidrigkeit des gesamten Urteils". Problematisch sei auch, daß das Rehabilitierungsgericht eigentlich nicht nur "kürze", sondern eigene Strafzumessungserwägungen anstelle. Dies sei mit der StPO nicht vereinbar(§ 460 StPO). Bei inzwischen aufgehobenen Gesetzen gerate man auch in Konflikt mit dem Grundsatz nulla poena sine lege. Diese Auffassung entspricht derjenigen des Besonderen Senats filr Rehabilitierungsverfahren des Bezirksgerichts Potsdam, in der übrigen Rechtsprechung wird jedoch einhellig die Gegenansicht praktiziert, also unverhältnismäßige Strafen auf ein erträgliches Maß gemindert. Eine sehr restriktive Auffassung dazu vertritt Brüchert: das Gericht dürfe die Strafe nicht einmal auf eine billige und angemessene Höhe herabsetzen: "das grob unbillige Strafmaß soll lediglich auf die Höhe gesenkt werden, bei der man zwar noch von einem Mißverhältnis zwischen [... ] Tat und [... ] Rechtsfolge sprechen kann, jedoch nicht mehr von einem groben Mißverhältnis'" 03 • Neben den Urteilen, die politischer Verfolgung dienten und Urteilen, die unverhältnismäßig waren, können sich Rehabilitierungsanträge auf die Generalklausel stützen, also eine "Unvereinbarkeit mit rechtsstaatliehen Grundsätzen" im übrigen geltend machen. Hierunter fallen etwa grob unzureichende Feststellungen des Sachverhalts, die fehlende Wiedergabe der bestreitenden Einlassung des Betroffenen oder die fehlende Beweiswürdigung, "Beschimpfungen im Stile des Volksgerichtshofs", unzulässige Vemehmungsmethoden, Verstöße gegen das Rückwirkungsverbot oder das Bestimmtheitsgebot. Mit der besonderen Fallgruppe der Verurteilungen nach den Wirtschafts-, Steuer- und Devisengesetzen hatte sich das Bundesverfassungsgericht bereits in der Phase der Geltung des RHG beschäftigt 104 • Sämtliche genannten Verurteilungen waren demnach aufzuheben. BezOglieh der Frage, ob dies Entscheidungen nach dem StrRehaG präjudiziere, weist Rudolf Brüchert darauf hin, daß dies nicht der Fall sei, da der Prüfungsrahmen des RHG enger gewesen sei: damals sei eine strenge Überprüfung an bundesdeutschem Recht erfolgt, beim StrRehaG hingegen erfolge nur eine Überprüfung anhand allgemeiner rechtsstaatlicher Grundsätze 105 • Die fraglichen Rechtsnormen sind nicht in den Regelbeispiels103 Brüchert, Rudolf. Zur Rehabilitierung bei Verurteilungen wegen Wirtschafts-, Steuer- und Devisendelikten in der DDR, in: NJ 1993, S. 401-404 (404). 104 Zum Steuer- und Devisenrecht der DDR BVerfGE 12, 99 ff.; zur Wirtschaftsstrafverordnung und zum Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handels BVerfGE II, ISO ff. 105
Brüchert, wie Fn. I 03, in: NJ 1993, S. 40 I.
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katalog aufgenommen worden. Im folgenden sei kurz auf einzelne gesetzliche Regelwerke eingegangen. Zur Wirtschaftsstrafverordnung vom 23 .9.1948 war das BVerfG der Ansicht, diese sei mit bundesdeutschem Recht nicht vereinbar, da sie als Instrument der Etablierung des kommunistischen Wirtschaftssystems, also zur Konfiskation von Eigentum aus politischen Gründen und schließlich zur Eliminierung von "Staatsfeinden" gedient habe. Eine Übernahme dieser von der Diktion des Kalten Krieges geprägten Begründung filr die Prüfung nach dem StrRehaG lehnt Brüchert ab, seines Erachtens genüge sie nicht, um einen Verstoß gegen wesentliche Grundsätze einer freiheitlichen rechtsstaatliehen Ordnung zu bejahen (!). Brüchert selbst möchte - ebenso wie das Bezirksgericht Cottbus in seiner ständigen Rehabilitierungsrechtsprechung - eine Ablehnung lieber auf den formalen Gesichtspunkt stützen, die Deutsche Wirtschaftskommission, welche die WStVO erlassen habe, habe keine Kompetenz zum Erlaß von Strafuormen besessen- mit der Folge, daß aufgrunddieser Unwirksamkeit alle entsprechenden Urteile aufzuheben seien 106• Dies erweist sich - nach einem Blick in die Kommentare - allerdings als Mindermeinung. Die Mehrzahl der Gerichte tendiert zwar auch dazu, daß die Über-prüfung am bundesdeutschen Maßstab (damals wegen des ordre-public-Vorbehalts notwendig) sich als zu eng erweise, sieht die WStVO aber nicht als formnichtig an. Schwarze filhrt als Argument gegen die Praxis an, sich auf die Formnichtigkeit zu stützen, dies filhre zu einer "ausufernden Aufhebungspraxis" und verstoße damit gegen Art. 18 Einigungsvertrag107• Vorsichtig wird etwa formuliert, daß die Verurteilungen nach der Wirtschaftsstrafverordnung "nicht immer in vollem Umfang aufhebbar'' seien 108; Sehröder bringt Verständnis fiir ein strenges Wirtschaftsstrafrecht in der Nachkriegszeit auf, sieht grobe Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeil vor allem da, wo die WStVO als Mittel zur Einziehung gesamter Vermögen herhalten mußte 109• Schwarze bemerkt, in der Praxis gebe es jedoch kaum eine ,,Handvoll der zahlreichen Fälle aus dem Bereich der WStVO", in denen der auf der Hand liegende Zweck der politischen Verfolgung verneint worden wäre. Häufig lagen in den Sachverhalten weder die objektiven noch die subjektiven Voraussetzungen vor, nicht selten war es auch der Fall, daß nach der Variante "Nichterfilllung des Plansolls" gestraft worden war, obwohl das vorgegebene Plansoll gar nicht erfilllbar war.
106
Ebenda, S. 402.
107
Schwarze, in: H/UP/S/W, wie Fn. 57,§ I, Rn. 96.
108
Lochen/Meyer-Seitz, wie Fn. 2, S. 27.
109
In: 8/Sff, wie Fn. 48, § I, Rn. 130.
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Das Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handels (HSchG) war in der Fassung von 1950 wegen seiner Unbestimmtheit und unverhältnismäßig hoher Mindeststrafen (§ 2 Abs. I: drei Jahre Geflingnis) nicht mit rechtsstaatliehen Grundsätzen vereinbar, die abgemilderte Fassung vom 11.12.1957 hingegen schon. Das Gesetz zur Regelung innerdeutschen Zahlungsverkehrs wird vor allem deswegen als mit rechtsstaatliehen Grundsätzen unvereinbar angesehen, weil es der Verhinderung der Übersiedelung in den Westen diente 110• Keine wesentlichen Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze enthielten nach herrschender Auffassung i. d. Rechtsprechung das Devisengesetz (8.2.1956, geändert 19.12.1973), das Zollgesetz (28.3.1962), das Edelmetallgesetz (12.7.1973) sowie das Steuerstrafrecht der DDR111 • Das StrRehaG regelt nicht nur die Rehabilitierung strafrechtlich Verurteilter im engeren Sinne. § 2 erweitert die Antragsberechtigung auf Fälle gerichtlicher oder behördlicher Entscheidungen, mit denen "eine Freiheitsentziehung angeordnet worden ist''. In der ursprünglichen Fassung galt dies nur fi1r Einweisungen in psychiatrische Anstalten, diese sind jetzt nur noch als Regelfall ("insbesondere") in Satz 2 erwähnt. Rehabilitiert werden Personen, die zur politischen Verfolgung in eine Anstalt eingewiesen wurden, sowie Personen, bei denen die Einweisung aus sachfremden Erwägungen heraus erfolgte. Die zweite Alternative ist sehr problematisch. Hierunter fallen Personen, "die wegen von der Norm abwei· ehenden sozialen Verhaltens • Arbeitsscheu, asoziale Lebensweise, Alkohol· mißbrauch, Verletzung von Unterhaltspflichten, Querulanz usw. • als gesell· schaftlieh lästig empfunden und nur deshalb in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wurden, ohne im medizinisch faßbaren Sinne geistig oder psychisch krank zu sein." 112 Als Beweis filr eine solche sachfremde Einweisung werden psychiatrische Gutachten und Diagnosen aus der DDR·Zeit herangezogen. Wird in diesen "dem mißliebigen Verhalten des Betroffenen, das nur sununarisch charakterisiert wird, kurzerhand und nicht nachvollziehbar Krankheitswert beigemessen", so sei die Entscheidung aufzuheben 113 • Berechtigt, einen Antrag auf Rehabilitierung zu stellen, sind nach dem StrRehaG der Betroffene, nach dessen Tod sein Ehegatte und seine Verwandten in gerader Linie und Geschwister, aber auch sonstige Personen, die ein berechtigtes Interesse an der Rehabilitierung des Betroffenen haben 114, schließ· 110 Brüchert,
wie Fn. 105, S. 402 f.
111 Überblick bei Brüchert, wie Fn. 105, S. 403 f. Zum Zoll- und Devisenrecht sowie zum Steuerstrafrecht ebenso Schwarze, in: H/UP/S/W, wie Fn. 57, § I Rn. 104 und 105.
112 Schwarze, 113
in: H/UP/S/W, wie Fn. 57, § 2, Rn. 6.
Ebenda, Rn. 10.
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lieh die Staatsanwaltschaftll 5 . Nachdem die Frist, innerhalb welcher Rehabilitierungsanträge zu stellen waren, nach der ursprünglichen Fassung viel zu kurz war, wurde sie - auf Anregung der neuen Bundesländer - durch Gesetz vom 23.11.1995 zunächst bis zum 31. Dezember 1997 verlängert 116• Diese Antragsfrist wurde mit dem Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften fiir Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR vom 1. Juli 1997 117 bis zum 31.12.1999 und nochmals mit dem Zweiten Gesetz zur Verbessserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften vom 17. Dezember 1999 118 bis zum 31. Dezember 2001 verlängert. Das StrRehaG behielt die Regelung bei, daß besondere Rehabilitierungssenate (bei Bezirksgerichten) bzw. Rehabilitierungskammern (bei an der Stelle von Bezirksgerichten inzwischen errichteten Landgerichten) fiir das Verfahren zuständig sein sollten (§ 9), und zwar jeweils bei dem Gericht, in dessen Bezirk das Ermittlungs- oder das erstinstanzliehe Strafverfahren stattgefunden hatte (§ 8). Im Regelfall sollte das Rehabilitierungsverfahren ohne eine mündliche Erörterung auskommen(§ 11 Nr. 3). Dies wurde von einigen mit dem Argument bedauert, daß einer mündlichen Verhandlung eine größere rehabilitierende Wirkung innegewohnt hätte, indem durch sie dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben worden wäre, sich öffentlich zu äußern. Letztendlich scheint mir jedoch der Gesetzgeber, indem er vor diesem Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie den Vorrang gab, den richtigen Weg gewählt zu haben. Schließlich sei noch auf die Folgen der Aufhebung einer Entscheidung eingegangen. Zunächst war eine noch laufende Vollstreckung einer Freiheitsstrafe mit Eintritt der Rechtskraft der aufhebenden Entscheidung sofort zu beenden (§ 4), eine Rechtsfolge von geringer praktischer Bedeutung119• Weiter war mit der Aufhebung selbstverständlich die Entfernung der Verurteilung aus dem Bundeszentralregister bzw. die Nichtaufnahme der entsprechenden Eintragung im Strafregister der DDR in das Bundeszentralregister verbunden (§ 5 StrRehaG). 114 Die Bundesregierung hatte hier vor allem Lebensgefllhrten im Sinn (vgl. BT-Drucksache 12/1608 zu § 7 Nr. 5, S. 20), in Frage kommen aber auch Erben, zu denken ist schließlich an juristische Personen, Gewerkschaften und Parteien, Kirchen und Vereine (Herz/er, in: HIUP/S/W, wie Fn. 57, § 7 Rn. II f.). 115 Um eine aufgedrängte Rehabilitierung zu vermeiden, wurde durch den BT-Rechtsausschuß der Zusatz eingeftlgt, daß die Antragstellung durch die Staatsanwalt nicht zulässig ist, wenn der Betroffene widersprochen hat. 116
Widmaier, wie Fn. I, S. 317/318.
117
BGBI. I, S. 1609-1612, hier 1611 (Artikel3).
118
BGBI. I, S. 2662-2663.
119
Schwarze, in: HIUP/S/W, wie Fn. 57,§ 4 Rn. I.
5IO
Sven Korzilius
Geldstrafen, Kosten des Verfahrens und notwendige Auslagen, die der Verurteilte in der DDR bezahlen mußte, wurden "im Verhältnis von zwei Mark der Deutschen Demokratischen Republik zu einer Deutschen Mark" erstattet (§ 6 StrRehaG). Zur Verwirklichung von aufgrund der Aufhebung von Entschei-dungen, welche die Einziehung einzelner Gegenstände oder des gesamten Vermögens angeordnet hatten, entstandenen Ansprüchen auf Rücküber-tragung oder Rückgabe von Vermögenswerten verweist § 3 StrRehaG auf das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz - VermG) und das Investitionsvorranggesetz. Neben diesem Bereich, den ich als "Restitution" bezeichnen möchte, regelt der dritte Abschnitt des StrRehaG einen weiteren Bereich, der vom Gesetz mit "soziale Ausgleichsleistungen" umschrieben wird. Dieser Bereich ist nochmals untergliedert, und zwar in "Kapitalentschädigung und Unterstützung" (§§ I7-I9) sowie "Versorgung"(§§ 2I-24). § I7 Abs. I Satz I billigte in der ursprünglichen Fassung 300 DM 12° Kapitalentschädigung für jeden angefangenen Kalendermonat einer mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatliehen Ordnung unver-einbaren Freiheitsentziehung zu; eine - bezüglich der Ermittlung der Haftzeit - im Vergleich zu § 40 Bundesentschädigungsgesetz, nach dem die tatsächliche Haftzeit noch nach Stunden berechnet worden war, außerordentlich großzügige Lösung, die allerdings in extremen Fällen zu großer Ungleichheit fUhren kann (es erhalten z. B. ein vom I. Juni bis zum 31. Juli des Jahres X und ein vom 30. Juni bis zum I. Juli Inhaftierterbeide 600 Mark!). Zusätzlich erhielten alle diejenigen Rehabilitierten, die bis zum 9. November I989 ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in der DDR hatten, eine Kapitalentschädigung von 250 DM 121 für jeden angefangenen Kalendermonat Haft (Satz 2). Sie wurden privilegiert, weil sie - im Vergleich zu denjenigen, denen schon früher irgendwie die Flucht oder Ausreise gelungen war - besonders lange in der DDR leben mußten, nachdem sie etwa in Schauprozessen gebrandmarkt und danach "wie Aussätzige behandelt" worden waren 122 (sog. "haftbedingte fortwirkende Nachteile" 123). Außerdem genossen Flüchtlinge und Übersiedler aus 120 Dieser Betrag wurde sowohl von der SPD-Fraktion, die 600 DM verlangte, als auch von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (welche 900 DM forderten) als zu niedrig angesehen, BT-Drucks. 12/2820, S. 30 f. 121 Die Höhe dieses Betrages kam Ubrigens erst im Vermittlungsverfahren in das Gesetz. Vorher waren nur !50 DM vorgesehen. 122 Schwarze,
in: HIIJP/S/W, wie Fn. 57, § 17, Rn. 4.
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der DDR u. a. Leistungen nach dem Flüchtlingshilfegesetz und dem Heimkehrergesetz, höhere versorgungsrechtliche Leistungen nach dem BVG, außerdem Vorteile bei den Versorgungs- und Altersrenten 124• Auch diese Regelung war umstritten 125 , weil sie weitere Ungleichheiten schaffte. Man denke nur an den Extremfall, ein grundsätzlich Anspruchsberechtigter ehemaliger DDR-Bürger habe am 8.11 .1989 seinen Hauptwohnsitz in der Bundesrepublik angemeldet! Hierzu muß man allerdings wissen, daß diese Lösung schon ein Entgegenkommen der Bundesregierung gegenüber den Betroffenenverbänden (die im Vorfeld heftig protestiert hatten) darstellte, denn ursprünglich hatte diese die Absicht gehabt, Betroffene, die vor diesem Stichtag in die alte Bundesrepublik übergesiedelt waren und bereits Leistungen nach dem HHG und anderen Gesetzen erhalten hatten, vollkommen von der Kapitalentschädigung auszuschließen126. Außerdem milderte § 19 die Regelung des § 17 ein wenig ab, indem er anordnet, in Härtetallen sei auch den an sich nicht Berechtigten die zusätzliche Kapitalentschädigung zu gewähren. Durch das Zweite Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften 127 wurde diese Zweiteilung inzwischen aufgehoben. Nun erhalten alle Betroffenen einheitlich 600 DM Haftentschädigung pro angefangenen Kalendermonat zu Unrecht erlittener Haft. Alle, die bis Ende 1999 noch nach der alten Regelung Kapitalentschädigung erhalten haben, können nun (nach einem neu in § 17 eingefUgten Abs. 5) eine entsprechende Nachzahlung beantragen. Damit wurde einer der zentralen Kritikpunkte der Betroffenenverbände am StrRehaG inzwischen beseitigt. § 18 StrRehaG billigt Betroffenen, "die in ihrer wirtschaftlichen Lage besonders beeinträchtigt sind", Unterstützungsleistungen zu, die es allerdings selbst nicht regelt. § 18 Abs. 2 delegiert die Ausgestaltung im einzelnen (Anspruchsvoraussetzungen, Höhe der Leistungen etc.) an den Stiftungsrat der Stiftung filr ehemalige politische Häftlinge, der entsprechende Richtlinie aufstellen sollte (welche allerdings durch die Bundesminister der Justiz und der Finanzen zu billigen waren 128). Um zu vermeiden, daß den auf Sozialhilfe angewiesenen Betroffenen vom Sozialamt genommen wurde, was das StrRehaG 123
Tappert, in: B/Sff, wie Fn. 48, § 17, Rn. II .
124
Lochen/Meyer-Seitz, wie Fn. 2, S. 132.
125
Sowohl die SPD als auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnten sie ab, BT-Drucks. 12/2820, S.
30 f. 126
Tappert, in: B/Sff, wie Fn. 57,§ 17, Rn. 12.
121
BGBI. 1999 I, S. 2662 f.
128
Pfe ifer, in: H/UP/S/W, wie Fn. 57,§ 18 Rn. 6.
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ihnen gab, fUgte der Rechtsausschuß in § 16 die Erklärung ein, daß die Leistungen der §§ 17 bis 19 StrRehaG nicht als auf die Sozialhilfe anzurechnendes Einkommen gelten 129• Die Versorgungsleistungen der§§ 21-24 bestehen vor allem in besonderen Leistungen filr Beschädigte Anspruchsberechtigte (§ 21) und filr Hinterbliebene von Anspruchsberechtigten (§ 22). Die Forderung, den im Einzelfall tatsächlich entstandenen materiellen Schaden auszugleichen, z. B. entgangenen Arbeitslohn voll zu ersetzen 130, wurde- wie in den Vorgängerregelungen - also auch im StrRehaG nicht verwirklicht, vor allem aus fiskalischen Erwägungen 131 , aber auch, um die massenhaft zu erwartenden Verfahren nicht mit komplizierten Einzelfallermittlungen zu belasten. Abschließend sei eine kurze Bewertung der Rehabilitierung nach dem StrRehaG versucht. Insgesamt funktionierte die "Bereinigung" der strafrechtlichen Unrechtsjustiz des SED-Regimes wesentlich schneller und umfassender als die Wiedergutmachung des Unrechts der NS-Strafjustiz 132• Auf einer generellen Ebene ist dies darauf zurUckzufilhren, daß nach 1945 in beiden deutschen Staaten große gesellschaftliche Widerstände gegen eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bestanden und auch die Alliierten aufgrund ihrer Uneinigkeit keinen großen Druck auf die Deutschen ausüben konnten, sich diesem Kapitel ihrer Vergangenheit zu stellen, während 1992 der gesamtdeutsche - und damit stark westdeutsch geprägte - Gesetzgeber abgesehen von fiskalischen Erwägungen keine solchen Vorbehalte gegenüber einer umfassenden "Bereinigung" des SED-Unrechts hatte 133 •
129
So auch der Innenausschuß des Bundestages, s. BT-Drucks. 12/2820, S. 25.
130 Diese Forderung wurde wahrend des Gesetzgebungsverfahrens von vielen Seiten erhoben, im Vorfeld aus der Literatur etwa von Kaschkat/Schlip, wie Fn. I, S. 245, im Bundestag von der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN (BT-Drucksache 12/1439). 131 Kritisch zur ihrer Ansicht nach zu geringen Entschadigungshohe Kaschkat/Schlip: Zum Entwurf des I. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes, in: DA 1992 I, S. 123-126, hier S. 123: Um das "politisch vorgegebene Ziel der Kostenminimierung" bei der materiellen Entschadigung der Opfer "in den Hintergrund treten zu lassen", bemühe der Regierungsentwurf "einen fragwürdigen terminologischen Aufwand". Durch die vom StrRehaG gewahrten Betrage sei im Grunde "nur der immaterielle Haftschaden bewaltigt worden", hingegen sei "das Hauptproblem des materiellen Schadensersatzes [...] völlig unter den Tisch gefallen" (ebenda, S. 125). Dies sei nicht nur nahe an einem Verstoß gegen Art. 5 Abs. 5 EMRK (siehe dazu schon Fn. 43), sondern verstoße auch gegen den Einigungsvertrag, denn statt der dort (Art. I 7) vorgesehenen angemessenen Entschtidigung sehe das StrRehaG nur ,,soziale Ausgleichsleistungen" vor. 132 Zu diesem Ergebnis kommt Ralf Vogl: Stockwerk und Verdrangung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Strafjustizunrechts in Deutschland (= Berliner Juristische Universitatsschriften Strafrecht Bd. 4), Berlin/Baden-Baden 1997 in seinen "Schlußbemerkungen", hier S. 314325.
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Die großzügige Einbeziehung auch nicht explizit der politischen Verfolgung dienenden Justizunrechts dürfte zumindest in einem Bereich jedoch vor allem einem entscheidenden Wertewandel in der Bundesrepublik zu verdanken sein, den man nur als (verspätete) Befreiung von einem konservativ-autoritären Weltbild im Strafrecht interpretieren kann: ich spreche von dem sehr kritischen Blick der Rehabilitierungsrechtsprechung auf die übermäßige Bestrafung "asozialen Verhaltens"(§ 249 DDR-StGB). Der nationalsozialistischen Propaganda war es gelungen, dumpfe gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber bestimmten Formen abweichenden Verhaltens zu Haß zu steigern. Es gelang der Gesellschaft nach 1945 nicht, sich durch einen radikalen Bruch in der Mentalität von diesen Auffassungen zu befreien, die Vorurteile gegenüber den im KZ mit "schwarzen Winkeln" (,,Asoziale") Gekennzeichneten bestanden fort, bestärkt von staatlicher Seite dadurch, daß die Strafbarkeit ihres Verhaltens (zunächst in beiden deutschen Staaten über § 3 61 StGB a. F., ab Ende der sechziger Jahre nur noch in der DDR durch § 249 des StGB von 1968) noch Jahrzehnte aufrecht erhalten wurde. Die Träger des "schwarzen Winkels" wurden in beiden deutschen Staaten (bis heute) nicht ihrem tatsächlichen psychischen und physischen Leiden entsprechend als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft anerkannt und demnach weder rechtlich und moralisch rehabilitiert noch materiell entschädigt. Erst der Wegfall der Strafbarkeit "asozialen Verhaltens" in der alten Bundesrepublik im Zuge der Strafrechtsreform - als deutliches Zeichen einer allmählichen Änderung der Werthaltungen wenigstens auf staatlicher Seite- war m. E. Voraussetzung dafilr, im Zuge der strafrechtlichen Rehabilitierung von DDR-Justizopfem den von § 249 DDR-StGB ermöglichten langen Freiheitsentzug in einem Arbeitserziehungslager als rechtsstaatswidrig anzusehen 134, so daß es bei der Aufarbeitung von SED-Unrecht im Gegensatz zur Aufarbeitung des NS-Unrechts diesmal keine "vergessenen Opfer'.I 35 gibt. 133 Aus diesem Grund fiel es Deutschland vermutlich leichter als den - allein auf ihre Selbstreinigungskrafte angewiesenen- (Ubrigen) Staaten des sowjetischen Blocks, die Vergangenheit der kommunistischen Diktatur anzugehen. 134 Zu diesem Problemkomplex vgl. demnächst meine Dissertation: ,,Asoziale" in der DDR, die voraussichtlich im FrUhjahr 2001 abgeschlossen wird, und vermutlich ca. 2002 erscheinen kann. 135
Zum Begriff und zur Problematik speziell in der unmittelbaren Nachkriegszeit siehe Constantin
Goschler: Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945-
1954), MUnchen 1992, hier das Kapitel ,,Abgrenzung und Ausgrenzung von Verfolgten[ .. .]", S. 8790. Gosehier erwähnt hier insbesondere, daß ,,Asoziale" und "Berufsverbrecher" bereits 1946 eine Verfolgtenvereinigung grUndeten, die sich "Die Vergessenen" nannte. Zur (erst) in den achtziger Jahren lauter werdenden Forderung nach der BerUcksichtigung dieser Gruppen (neben ,,Asozialen" und Homosexuellen auch Opfer von Zwangssterilisationen, weitgehend auch Sinti und Roma u. a.) 33 nmmennann
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Bezüglich der materiellen Leistungen gehen Lochen/Meyer-Seitz davon aus, daß eine "wirkliche Wiedergutmachung des zwischen 1945 und 1990 geschehenen Unrechts (... ) schlechterdings ausgeschlossen" ist. Vor dem Hintergrund "fehlender Haushaltsmittel und beschränkter fmanzieller Kapazitäten in den neuen Bundesländern" habe es lediglich darum gehen können, "wenigstens den am schwersten Betroffenen einen gewissen Ausgleich" zu gewähren 136• Das tatsächlich im Rahmen des StrRehaG ausgeschüttete Volumen ist zwar nicht unbeachtlich, insgesamt waren schon bis Ende 1995 625 Millionen DM nach dem StrRehaG und 25 Millionen DM nach dem VwRehaG und dem BerRehaG an Entschädigungsleistungen ausgezahlt worden 137, dennoch wurde aus Betroffenenkreisen auf eine Reihe von Defiziten hingewiesen, die trotz der Nachhesserungen durch das erste 138 und das zweite 139 Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften filr die Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR bestehen bleiben. Insbesondere liege das Rentenniveau ehemals politisch Verfolgter trotz der Anerkennung von Haftzeiten filr die Berechnung von Rentenansprilchen 140 unter dem ostdeutschen Durchschnitt. Entsprechenden weitergehenden Forderungen hat sich jetzt ein maßgeblich von dem ostdeutschen Bundestagsabgeordneten Günter Nooke (CDU) initiierter Gesetzesentwurf angenommen 141 • Neben einer nochmaligen Erhöhung der Kapitalentschädigung (von inzwischen 600 DM auf 1000 DM) im StrRehaG 142 fordert der Vorschlag, eine "Ehrenpension" fUr die politisch Verfolgten einzufUhren 143 • Diese Ehrenpension ist bei der Wiedergutmachung siehe z. B. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Hrsg.): Vergessene Opfer. Kirchliche Stimmen zu den unerledigten Fragen der Wiedergutmachung an Opfern nationalsozialistischer Verfolgung, Hannover (o. J., vermutlich 1987 oder 1988). 136
Lochen/Meyer-Seitz, wie Fn. 2, S. 14.
137
Widmaier, wie Fn. I, S. 332.
138
Vom I. Juli 1997.
139
Vom 17. Dezember 1999 (BGBI. I, S. 2662).
140 Siehe zum ,,Ausgleich von Nachteilen in der Rentenversicherung" §§ I 0 ff. des Gesetzes Ober den Ausgleich beruflicher Benachteiligungen fllr Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet (= Art. 2 des 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes von 1994, BGBI. 1994 I, S. 1311 ff, geandert durch Gesetz vom I 5.12.1995, BGBl. 1995 I, S. 1782). 141 BT-Drucksache 14/3665, Mitunterzeichner: Ulrich Adam, Harrnut Bottner, Kurt-Dieter Grill, Manfred Grund, Josef Hollerith, Rainer Jork, Manfred Kolbe, Hartmut Koschyk, Paul Krtlger, Angela Merke!, Hans Michelbach, Christa Reichard, Katherina Reiche, Rupert Scholz, Margarete Späte, Michael StUbgen, Michael Glos (fur die gesamte CDU/CSU-Bundestagsfraktion). 142
Artikel 2 des Entwurfs.
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ihrem Grundgedanken nach, so läßt der Wortlaut vermuten, stark an die Ehrenpension angelehnt, welche die DDR den Verfolgten des Naziregimes zahlte; entscheidender Unterschied ist allerdings, daß der Vorschlag den weiten Personenkreis der Anspruchsberechtigten der Rehabilitierungsgesetze übernimmt. Mit der "Arbeit der Justiz allein" allerdings, so möchte ich mit einem mahnenden Satz Erich Loests schließen, ist es in der Sache der Rehabilitierung "nicht getan" 144 • Das Hauptaugenmerk sollte nicht auf der rein fmanziellen Seite liegen, sondern auf einer gesellschaftlichen Aufarbeitung. Es gilt hierbei zum einen, in der Gesellschaft der ehemaligen Bundesrepublik die meinem Eindruck nach schwach entwickelte - und nach zehn Jahren deutscher Einheit stark nachlassende - gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das durch die zweite deutsche Diktatur verübte Unrecht und die Schicksale der Opfer zu stärken, zum anderen, innerhalb der Gesellschaft der ehemaligen DDR ein Klima zu schaffen, welches zwischen Tätern und Opfern einen Dialog ermöglicht, welcher nicht von Rachegefilhlen, aber noch weniger von bloßem Vergessen oder gar einseitigem Verzeihen geprägt sein sollte, sondern von einem offenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit.
143 Artikel I des Entwurfs: "Gesetz Ober eine Ehrenpension ftlr die Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet". 144 Loest, Erich: Die Opfer und die leeren Kassen, in: DA 1991 II, S. 905.
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Gedächtnisbildung durch museale Arbeit- Das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR Von Andreas Ludwig Im zehnten Jahr der staatlichen Einheit Deutschlands steht man vor widersprüchlichen Beobachtungen, was das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart angeht: Als Historiker mag man überrascht sein über das Maß an Aufmerksamkeit, das Geschichte, zumal die Zeitgeschichte erregt. Durchlebten die Zeitzeugen die Jahre 1989/90 durchaus in dem Bewußtsein, Teilnehmer oder doch zumindest Beobachter historischer Ereignisse zu sein, so mag dieses anhaltende Interesse- ob aus Neugier über das "Andere", aus Differenzerfahrung oder als Sicherung der jeweils "eigenen" Biographie mag dahin gestellt bleiben an der Geschichte der DDR und des geteilten Deutschland zugleich erstaunen, haben doch andere Probleme inzwischen eine größere alltagspraktische und politische Relevanz bekommen. Zugleich erschreckt die Vehemenz, mit der die jüngere Zeitgeschichte immer noch Anlaß und Gegenstand politischer Meinungsäußerungen und oft auch emotionaler Stellungnahmen ist. Die Geschichte der DDR ist filr viele weiterhin die eigene Geschichte in der DDR und mit der DDR und macht eine nüchterne Betrachtung mitunter insofern schwierig, als anstelle sachlicher Auseinandersetzung auch Bekenntnisse pro und contra abverlangt werden: Kaum eine Ausstellung, die nicht vor der Folie eines Ostalgieverdachts abgeklopft wird. Drittens schließlich wird man mitunter auch mit verblüffenden, ja entwaffnenden Argumenten konfrontiert: so wurde als Bemerkung der politischen Spitze einer ostdeutschen Kulturverwaltung kolportiert, daß die Beschäftigung mit der DDR-Geschichte unnötig sei, man habe ja schließlich die Einheit. Unschwer auch nachvollziehbar, daß, je weiter man geographisch von der ehemaligen DDR entfernt nachfragt, es sie zunehmend weniger im öffentlichen Bewußtsein gab und gibt, vielleicht abgesehen von den ereignisreichen Wochen des Herbstes 1989, die vor allem in ihrer medialen Präsenz wirkungsvoll waren. 1 Aus dieser Gemengelage heraus erscheint es mir sinnvoll, sich die Intentionen, Wege und vorläufigen Ergebnisse historischer Beschäftigung mit der DDR zu 1 Zum Auseinanderfallen von Medienbildern und realen Ereignissen vgl. Eggo Müller: Revised Memories: German Television's Representations of "Ten Years After". Vortrag auf der gleichnamigen Tagung an der University ofMichigan, Ann Arbor, im Dezember 1999.
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vergegenwärtigen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß die DDR-Gesellschaft in einem parallelen Prozeß individueller und institutionalisierter Gedächtnisbildung in ihrer Vielschichtigkeit als historische Epoche dokumentiert wird, und dies nicht (nur) als eine Geschichte der Verlierer in einem globaleren historischen Prozeß, sondern als eigenständige, wenn auch befristete Gesellschaftsformation. Ich möchte dies am Beispiel eines Museums, des "Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR" tun, das seit 1993 in Eisenhüttenstadt aufgebaut wird. I. Intentionen einer Museumsgründung Unmittelbarer Auslöser filr das Projekt, ein Museum zur Alltagsgeschichte und Alltagskultur der DDR aufzubauen, war die in den Jahren nach 1990 einprägsame Beobachtung, die daß Objektwelt der DDR in einem ungeheuren Ausmaß entsorgt wurde. Haufen von Hausrat, periodisch abgefahren und erneut aufgetürmt, entlang den Straßen, Container voller Bücher, Halden von Schriftgut aus Betrieben und Verwaltungen auf Freiflächen ließen den Eindruck entstehen, daß ein ganzes Land entsorgt würde und binnen kurzem ein Austausch seiner materiellen Kultur vonstatten ginge. Dies löste den Impuls der Sicherung und Bewahrung aus, über die verbreitete individuelle Leidenschaft der Sicherung von Erinnerungsstücken aus dieser plötzlich historisch gewordenen Kultur hinaus2 eben auch die einer institutionellen Reaktion. Grundsätzliche Überlegungen gingen von mehreren Voraussetzungen aus: 3 zum einen war ganz offensichtlich zumindest ein Teilbereich der materiellen Kultur einer ganzen Gesellschaft von Verlust bedroht. Deren Sicherung und Bewahrung mußte also gleichfalls eine Aufgabe der Gesellschaft sein, genauer: des Museums als Institution der Sammlung und Bewahrung, Pflege und Erforschung historischer Sachkultur. Zweitens bildete diese so offensichtlich von Verlust bedrohte 2 Waren die Gegenstande aus der DDR schon zuvor aufgrundihrer an das Bauhaus der 20er Jahre erinnernden Warenästhetik in westlichen Intellektuellenhaushalten zu finden, ein Interesse, das sich nach 1990 in der erfolgreichen Publikation von Georg C. Barisch, Ernst Hed/er, Matthias Dietz: SED. Schönes Einheits Design, Köln 1994 manfestierte, so ergab sich unmittelbar mit der Maueröffnung ein neues "Sammelgebiet" ftlr zahlreiche Enthusiasten. Von der Bewahrung eines Stockchens Berliner Mauer bis hin zu umfangreichen Privatsammlungen, deren Aktivitaten bis heute Ober Vereine und das Internet vernetzt sind (einen ersten Einstieg in diese Welt bietet die Adresse www.ddr-suche.de, eine Museumsobersicht www.dhm.de), entwickelte sich ein Stock privater Erinnerungskultur. 3 Die Gründungsimpulse sind ausfuhrlieh dargestellt in: Andreas Ludwig: Alltagskultur der DDR. Konzeptgedanken ftlr ein Museum in Eisenhottenstadt, in: Bauwelt 85 (1994), H.21, S. 1152-1155. Zum Museumskonzept ders.: Alltag, Geschichte und objektbezogene Erinnerung. Bemerkungen zur Konzeption eines Museums der Alltagskultur der DDR, in: Gerd Kuhn, Andreas Ludwig (Hg.): Alltag und soziales Gedachtnis. Die DDR-Objektkultur und ihre Musealisierung, Harnburg 1997, S. 61-81.
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materielle Kultur nur einen Ausschnitt aus einem historischen Gesamtzusammenhang. Es handelte sich um die Gegenstände des Alltags, Objekte zumeist einer industriellen Massenkultur, offenbar ohne im engeren Sinne kunsthistorischen Wert, und, im Vergleich zu staatlichem Archivgut, von geringerer quellenspezifischer Brisanz. Damit fielen diese Zeugnisse jedoch, drittens, durch das Raster konventioneller Bewertungsmuster, so daß ihre Sicherung nicht als vordringlich galt, jedoch zugleich eine Erweiterung und Ergänzung der Quellengrundlage historischer Forschung und Darstellung bedeuten konnte. Vor allem aus diesem letztgenannten Grund erschien es sinnvoll und notwendig, sich mittels eines Museums der Dinge des Alltags anzunehmen. In den achtziger Jahren hatte sich die Alltagsgeschichte als Zweig der Geschichtswissenschaften herausgebildet, weil Defizite in der Erforschung der Lebenspraxis und der Erfahrungen der "Vielen" in der Geschichte deutlich geworden waren. Angestrebt war eine Erweiterung des thematischen Spektrums der akademischen historischen Forschung um den perspektivischen Blick "von unten" auf die Gesellschaft, die Einbeziehung der Erfahrungsdimension historischer Individuen, und in der Folge die Erweiterung der Quellenbasis und der Methoden der Historiographie. Vor 1989 dominierten in der Alltagsgeschichtsschreibung die Lokalgeschichte und die Zeit des Nationalsozialismus, die DDR war nur selten, dann aber fulminant, Gegenstand alltagsgeschichtlicher Zugriffe.4 Nach 1989 änderte sich dieser Zustand schlagartig, jedoch weniger, was die akademische Forschung betraf, als vornehmlich auf dem Gebiet der Publizistik und des Ausstellungswesens. Vor allem auch unter der Perspektive des Alltags war die Geschichte der DDR eine Thema, das Auswirkungen auf die Museen hatte. 5 Einschränkend sei jedoch bemerkt, daß dies im wesentlichen die Initiative 4 Das Oral history-Projekt von Lutz Niethammer, Alexander von Plato, Dorothee Wierling: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archaologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991, bildet eine Ausnahme.
5 Zur Alltagsgeschichte: Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte, Frankfurt/Main 1991; Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivitat und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Monster 1994. Im Museumswesen zeigte sich die Rezeption der Alltagsgeschichte zunachst vor allem bei den Heimatmuseen, vgl. Oliver Batz, Udo Gößwald (Hg.): Experiment Heimatmuseum. Zur Theorie und Praxis regionaler Museumsarbeit, Marburg 1988. Alltag war auch in der DDR Thema von Museumsarbeit, jedoch ebenso peripher, wie in der Bundesrepublik; vgl. hier vor allem die GrUndung des Museums "Berliner Arbeiterleben um 1900" in Berlin, knapp skizziert bei Erika Karasek u.a.: Großstadtproletariat Zur Lebensweise einer Klasse, Berlin 1983 (Ausstellungskatalog, Museum ftlr Volkskunde). Gemeinsamkeiten wurden zu Beginn des Jahres 1989 zwischen Ost und West ausgetauscht. Vgl. Arbeiterkulturgeschichte als Forschungs- und Sammlungsauftrag stadt- und regionalgeschichtlicher Museen. Protokoll der internationalen Fachtagung am 30. Juni und I . Juli 1989 in der Akademie der Kunste Berlin (West), veranstaltet vom EmilFischer-Heimatmuseum in Zusammenarbeit mit dem Markischen Museum, Museum "Berliner Arbeiterleben um 1900". Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 27, Berlin 1990. Um den museumsspezifischen Aspekt der Beschaftigung mit der Sachkultur deutlich zu machen, wird im folgenden der Begriff "Alltagskultur" anstelle von ,,Alltagsgeschichte" gewahlt.
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weniger Museen war. Neben dem Museum der Dinge in Berlin gilt dies filr das Deutsche Historische Museum, das ja bereits durch die Übernahme der Sammlungen des Nationalmuseums der DDR, des Museums filr deutsche Geschichte, eine herausragende DDR-Sammlung erworben hatte, und das Rheinische Freilichtmuseum Kommern. 6 Auch das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, zur damaligen Zeit im Aufbau befmdlich, integrierte die DDR-Geschichte in stärkerem Maße in seine museale Darstellung der Geschichte nach 1945, als ursprünglich geplant, und verantwortete den Aufbau des auf Grundlage eines Bundestagsbeschlusses gegründete Zeitgeschichtliche Forum Leipzig als Institution, die sich vornehmlich der Geschichte von Opposition und Widerstand in der DDR widmen soll. Nicht näher ausgefiihrt werden hier die bereits in der DDR bestehenden Museen und Sammlungen, die sich speziell mit Alltagskultur befaßten, neben den zahlreichen Heimatmuseen auch einschlägige Spezialmuseen wie die Sammlung industrielle Gestaltung in Berlin und das Museum filr angewandte Kunst in Gera. Die Betonung der Alltagsperspektive der DDR erscheint heute notwendig, weil sich die zeitgeschichtliche Forschung in ganz überwiegendem Maße mit der Politikgeschichte der DDR beschäftigte, mit Fragen der Charakterisierung ihres Gesellschaftssystems, der staatlichen UnterdrUckungspraxis. 7 Neben aller notwendigen Aufklärung hatte die intensive "Aufarbeitung"8 der DDR-Geschichte in
6 Bezoglieh ihrer Bemühungen um die Dokurnentierung der DDR-Geschichte vgl. Monika Flacke: Alltagsobjekte der ehemaligen DDR. Zur Sarnrneltätigkeit des Deutschen Historischen Museums, in: Bernd Faulenbach, Franz-Josef Je/ich (Hg.): Problerne der doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte, Essen 1993, S. 57-61; Sabine Thomas-Ziegler: Alltagsleben in der DDR. Eine Ausstellung des Rheinischen Freilichtmuseums und Landesmuseum fur Volkskunde in Kornrnem, in: ebd., S.85-91. 7 Dieser Eindruck wurde frühzeitig dokumentiert in Deutscher Bundestag. Enquete-Kornmission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland": Forschungsprojekte zur DDR-Geschichte. Ergebnisse einer Umfrage des Arbeitsbereiches DDR-Geschichte arn Mannbeimer Zentrum fur Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheirn, o.O. 1993. So auch, trotz umfangreicher Forschungen in den vergangeneo Jahren, der Tenor jüngerer Einschätzungen, u.a. bei Bernd Faulenbach: Acht Jahre deutsch-deutsche Vergangenheitsdebatte -Aspekte einer kritischen Bilanz, in: Christoph Kleßmann, Hans Misse/witz, Günter Wiehert (Hg.): Deutsche Vergangenheiten - eine gerneinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999, S.IS-34; Lutz Niethammer: methodische Überlegun-gen zur deutschen Nachkriegsgeschichte. Doppelgeschichte oder asymmetrisch verfloch-tene Parallelgeschichte?, in: ebd., S. 307-327.
8 Auf die immanente moralische Wertung dieses Begriffs und auf die Folgen in der politischen Debatte weist Mary Fulbrook: Aufarbeitung der DDR. Vergangenheit und "innere Einheit" - ein Widerspruch, in ebd., S.286-298, hin. Die DDR-Bürger, so Fulbrook, fuhlten sich innerhalb eines ,,Helden-Schurken-Schemas" bewertet, das mehrheitlich nicht ihren Erfahrungen entsprach und das von ihnen aufgrund seiner negativen lmplikationen nicht akzeptiert werden konnte. Im Gegensatz dazu steht in diesem Band die von Laurence McFalls auf Grundlage einer Langzeituntersuchung
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dieser thematischen Konzentration und auch der Beteiligung der Medien an der Verbreitung ihrer Ergebnisse im Osten Deutschlands auch die Folge breiter werdender Abwehr vor allzu viel Geschichte. In diesem Zusammenhang hat Alltagsgeschichte mit ihrer Betonung einer lebensweltlich gegründeten Perspektive nicht nur etwas entlastendes, indem zunächst nach den Erfahrungen in der DDR gefragt wird, ohne sie zugleich moralisch zu werten, sondern ermöglicht grundsätzlich auch die Beteiligung tendenziell weiter Bevölkerungskreise an der Diskussion um die DDR-Geschichte. Alltagsgeschichte präsentiert sich also ein Ansatz, Geschichte und Lebenslauf zu integrieren. Zeitgeschichte als "Geschichte der Mitlebenden" (Hans Rothfels) erfordert auch nach dem Konzept des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR eine Partizipation der Beteiligten und die Berücksichtigung des prozessualen Charakters im Umgang mit Zeitgeschichte. II. Sammlung als soziales Gedächtnis Als das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR 1993 in Eisenhüttenstadt seine Arbeit aufnahm, war dem schon eine längere Inkubationsphase vorangegangen. Die Idee, angeregt durch den erwähnten massenhaften Verlust an Alltagsobjekten 1990, ist das eine, die Realisation etwas anderes. So wurde in informellen Gesprächen schnell deutlich, daß sich im Land Berlin die in den 80er Jahren innovative Museumsszene durch das Zusammenwachsen zweier Stadthälften und die damit verbundenen Probleme von Restrukturierung, Zusammenlegung, Umlenkung der Finanzmittel, zudem den tendenziellen Schwenk in Richtung auf das Repräsentative, das offensichtlich als angemessen filr die neue Rolle als Hauptstadt angesehen wurde, in die Defensive gedrängt sah. Das Bundesland Brandenburg dagegen zeigte mehr Interesse und engagierte sich seit dem filr das Museumsprojekt Aufgrund einer Politik der Stärkung dezentraler Standorte und der möglichst weitgehenden Übertragung kultureller Aufgaben an die Gemeinden mußte jedoch eine Stadt gefunden werden, die das Projekt zumin-dest in Teilen zu tragen bereit war. Dies war Eisenhüttenstadt, wo 1993 eine Privatsammlung zur DDR-Alltagsultur untergebracht war und sich Stadtverordnetenversammlung und Kulturverwaltung ftlr ein DDR-Alltagskulturmuseum stark machten. Der Standort Eisenhüttenstadt hängt also ursächlich nicht mit dessen Bedeutung als Symbol filr den Aufbau eines sozialistischen Staates zusammen, den die Stadt seit den 50er Jahren trägt, sondern mit konkreten kulturpolitischen Entscheidungen. Das Museum ftlr Alltagskultur war denn auch zunächst Abteilung der Städtischen
präsentierte These, die DDR-Bürger seien in Lebenspraxis und Alltagsverhalten bereits in der westdeutschen Wirklichkeit angekommen.
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Museen, bevor es 1997 auch formal selbständig wurde und sich heute in Vereinsträgerschaft befmdet.9 Der Grundstock der Sammlungen, resultierend aus Schenkungen aus der Bevölkerung, ist mit gut 50.000 Objekten des Alltags gelegt und wird, neben eigenen Ausstellungen, filr Forschungszwecke und den Leihverkehr intensiv genutzt. Seit 1995 können Ausstellungen im eigenen, schrittweise bezogenen Museumsgebäude gezeigt werden. 10 Für die konzeptionellen Überlegungen mitentscheidend war die Frage nach der Quellengrundlage historischer Forschung: was würde nach Ablauf einiger Jahrzehnte, wenn über die Geschichte der DDR ohne die Beteiligung von Zeitzeugen verhandelt würde, an Quellen zur VerfUgung stehen. Damit ist die Frage nach den institutionellen Gedächtnisträgern, also neben Bibliotheken und Archiven eben auch den Museen, aufgeworfen. Zum einen zeigen sich bei der Beschäftigung mit Sozial- und Alltagsgeschichte die erheblichen Lücken in der Überlieferung besonders schmerzlich; sie sind selbst im quellendichten 19. und 20. Jahrhundert virulent und rufen erhebliche methodische Probleme hervor. Dem sollte durch die Anlage einer alltagskulturellen Sammlung vorgebeugt werden. Zum anderen war die Perspektivität der Quellen zu berücksichtigen: die Frage, wer über die Dokumentationswürdigkeit musealer Objekte entscheidet, ist mitbestimmend filr die späteren Möglichkeiten historischer Forschung und Darstellung. Die methodischen Probleme bei der Rekonstruktion historischer Gesellschaften, die sich aus der Bewertung etwa von Archivgut, seiner Bewahrung oder Kassation, ergeben, sind bekannt und lassen sich ohne weiteres auf den musealen Bereich übertragen. Bestandsbildung, so läßt sich verkürzt formulieren, ist Gegenstand der Entscheidung des wissenschaftlichen Personals, das auf Grundlage seines jeweiligen Wissenschaftsverständnisses und eines daraus resultierenden Sammlungsplans operiert. Sammlung erfolgt demzufolge auf der Basis einer vorformulierten wissenschaftlichen Position, die Interpretation der Geschichte ist der praktischen Bestandsbildung vorgelagert. Die größtmögliche Redlichkeit vorausgesetzt, ist dies dennoch eine top-down-Perspektive, die gerade im Bereich der Zeitgeschichte nicht unangefochten bleiben kann, kollidieren hier doch das Bemühen um wissenschaftliche Distanz und das Prinzip erfahrungsgesättigter 9 Die Finanzierung der Betriebskosten durch einen festgeschriebenen Sockelbetrag teilen sich nach langen Verhandlungen seit 1999 das Land Brandenburg, der Landkreis Oder-Spree und die Stadt Eisenhüttenstadt, die Mittel ftlr die inhaltliche Arbeit müssen projektweise eingeworben werden.
10 Das Museumsgebäude ist eine ehemalige Kinderkrippe, die 1999 mit Mitteln der Europäischen Union und des Landes Brandenburg denkmalgerecht saniert wurde. Erarbeitet wurden die Ausstellungen "Tempolinsen und P 2" (1995/96), "Offenes Depot" (1997/98), "Fortschritt, Norm und Eigensinn" (1999/2000) und zur Zeit "Das Kollektiv bin ich- Utopien und Alltag in der DDR". Zu den Ausstellungen erschienen die gleichnamigen Publikationen. Das aktuelle Programm ist im Internet unter www. alltagskultur-ddr.de einzusehen.
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Kenntnis. In der Konzeption des Dokumentationszentrums Alltagskultur wurde deshalb bewußt ein anderer Weg gewählt: in den Bestand fließt ein, was die Zeitgenossen filr sammlungswürdig erachten. Das Museum tritt in die Öffentlichkeit mit der Bitte um Unterstützung, indem erbeten wird, was die Zeitgenossen filr geeignet erachten, ihre eigene Lebenszeit in der DDR, ihre Alltagsperspektive zu repräsentieren. Dies bedeutet, daß der Akt der Interpretation eines musealen Objekts praktisch vorverlagert und in die Hände desoder derjenigen übertragen wird, der einen Beitrag zur Sammlung des Museums leisten möchte. Die Museumssammlung zeigt daher nicht nur eine erhebliche Breite, sondern auch systematische Verzerrungen; nicht eine Voll-ständigkeit im Sinne von dokumentierenden Belegen ist erstrebt (und kann wohl auch kaum geleistet werden), sondern ein Abbild der kollektiven Bemühungen um Geschichte. Die Folge dieser Entscheidung ist zunächst eine praktische, denn die museale Sammlung baut sich auf den Entscheidungen Einzelner auf. Damit kann es zu erheblichen Ungleichgewichten im Bestand kommen, indem Gegenstände sich häufen oder im Gegenteil fehlen. Der Abgabe an das Museum geht eine Entscheidung voraus: was halte ich filr überlieferungswürdig unter der Perspektive, den Alltag in der DDR zu dokumentieren, und was nicht. Wir können im einzelnen nur erahnen, wie diese Entscheidungen zustande kommen, welche grundlegenden und welche rein alltagspraktischen Faktoren eine Rolle spielen. Da aber eine große Zahl von Schenkungen an das Dokumentationszentrum getätigt wird, ergibt sich doch ein Bild, das über individuelle Entscheidungsmomente hinausgeht. In der Summe erhalten wir ein zumindest empirisches Abbild der Entscheidungen über Museumswürdigkeit Über den Akt der Schenkung ergibt sich eine begleitende, im zeitlichen VerlaufVeränderungen unterworfene Sammlung, die Charakterzüge eines ,,kollektiven Gedächtnisses" im Sinne der Summe individueller Interpretationsleistungen aufweist. 11 Die Bewertung eines alltagskulturellen Gegenstands als eines historisch relevanten und seine Abgabe an das Museum erfordert eine Auseinandersetzung mit ihm. Man kann davon ausgehen, daß der Schenkende sich Gedanken gemacht hat, was er filr bewahrenswert hält und dafilr Gründe geltend machen kann. Diese Gründe können praktischer wie grundlegender Natur sein, sie können einen einzelnen Gegenstand wie auch ein Objektensemble betreffen. Da die Schenkungen zumeist nicht anonym erfolgen, kann auch davon ausgegangen werden, daß 11 Zum Begriff Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt!Main 1985; zu den neueren Gedächtnistheorien vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Die von Aleida Assmann in dies., Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 41 fT eingeftlhrte Definition des "kollektiven Gedächtnisses" als instrumentelles, durch Steuerung, Vereinheitlichung und Reduktionismus geprägte Erinnerungsform ist hier nicht gemeint. Statt funktionaler Tradierung verstehe ich unter dem Kollektiven eine emanzipatorische, von vielen getragene Gedächtnisbildung.
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eine Bereitschaft zur Erläuterung besteht. Daraus ergibt sich, daß der Spender zumindest punktuell, anläßtich des Schenkungsaktes und seiner Vorbe-reitung, ein Verhältnis zur Historizität seines eigenen Lebens entwickelt, sich selbst in Beziehung zur Geschichte setzt. 12 Bei Schenkungen an das Dokumentationszentrum konnten verschiedene Motivationslagen beobachtet werden; einige typische Konstellationen sollen dies erhellen: Die komplexe Schenkung an das Museum zeigt einen deutlich erkennbaren Zusammenhang, der u.a. auf die Berufsbiographie verweist; der Schenker formuliert hier eine Aufforderung, nach seinen Erfahrungen befragt zu werden und bietet sein fachliches Wissen fUr einen Teilbereich des DDR-Alltags an, von dem er befilrchtet" daß dieser vergessen oder unrichtig dargestellt wird. Der Haushalt wird, zum Beispiel im Zuge der Haussanierung, verkleinert und es fiillt die Entscheidung, das Überflüssige dem Museum zu schenken; meist sind solche Aktionen mit einer intensivierten Modemisierung des Geräteparks oder des Mobiliars verbunden, vor Jahren angelegte Sammlungen, die nicht mehr von Interesse sind, werden abgestoßen. Aus diesen dichten, aus einem Lebenszusammenhang stammenden und sowohl Privat- wie Berufsleben integrierenden Schenkungen geht der Anstoß zur lebens(abschnitts)geschichtlichen Bilanz aus. Teilweise gehen die in diesem Zusammenhang gefilhrten Interviews in Richtung eines lebensgeschichtlichen, teils in Richtung auf die Erläuterung einzelner Gegenstände oder Gegenstandgruppen hinaus. 13 Andere wählen einzelne, ftlr besonders wertvoll oder typisch gehaltene Gegenstände aus; die Schenker versetzen sich in die Aufgabenstellung des Museum hinein und versuchen dessen Bedürfnisse gezielt zu unterstützen. VerbrauchsgUter sind, dies weist auf den Wert des alltagskulturellen Objekts ftlr den Schenkenden hin, in der Regel seltener, als hochwertige Konsumgüter, die bereits zum Zeitpunkt ihrer Anschaffung einen hohen materiellen Wert hatten, der sich durch jahre- oder jahrzehntelangen Gebrauch lebensweltlich noch aufläd. Teilweise ist dieser Schenkungstyp auch mit dem impliziten Nachweis eines gehobenen Kulturniveaus verbunden: der Schenker möchte belegen, daß er etwas von der Sache versteht, zur kulturinteressierten Schicht der DDR gehörte usw. Gelegentlich wird die Aufforderung des Museums, es durch Objektabgaben zu unterstützen, auch zu einer kollektiv interpretierten Aufforderung; nicht nur einmal wurden ehemalige Hausgemeinschaften, im Alltagsleben der Nachwendezeit bereits funktionslos geworden, noch einmal fUr den guten Zweck der Sammlung und Bereitstellung von DDR-Hausrat mobilisiert. 12 Zur Verknüpfung von Biographie und Objekt vgl. Karin Haist: Menschen hinter den ObjektenProblematik einer Sammlungspraxis in alltags- und lebensgeschichtlichen Zusammenhängen, in: Museums der Arbeit (Hg.): Geschichte von unten. Europa im Zeitalter des Industrialismus" Harnburg 1993, S.239-246. 13 Frau G. aus Berlin schenkt dem Museum etwas, in: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.): Tempolinsen und P 2. Alltagskultur der DDR, Berlin 1996, S. 103-108.
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Nicht Repräsentativität, doch ein möglichst breites Reaktionsspektrum in der Konfrontation des Lebenslaufs mit der historischen Entwicklung kann das Ergebnis dieser Vorgehensweise bei der Anlage der Museumssammlung sein. So ergeben sich vielfaltige Chancen zur Befragung nach den lebensweltlichen Perspektiven, die die Objekte in sich tragen. Das Dokumentationszentrum Alltagskultur versucht, soweit dies im Rahmen seiner Möglichkeiten liegt, durch ein Interview die Erwerbs- und Nutzungskontexte zu dokumentieren. Sofern der Schenker sich darauf einläßt, kann aus einem solchen sachbezogenen Interview eine erweiterte, lebensgeschichtliche Dimensionen aufweisende Erzählung werden. Die materielle Kultur zeigt Aspekte der Geschichte, die sich in den herkömmlichen Quellen der Geschichtswissenschaft kaum niederschlagen. Konsummuster und Distinktionsnachweise können anband von Schenkungen aufgedeckt werden, die Verwendung des Ehekredit als staatlich alimentierter Grundausstattung junger Familien zeigt die Präferenzen bei der Anschaffung hochwertiger und teurer Konsumgüter der jeweiligen Generation, das Schwanken zwischen Notwendigkeit (Waschmaschine) und Wunsch (Stereoanlage), entdeckt werden können die Felder der Warenknappheit oder Verteilungsprobleme, die sich in privater Lagerhaltung, der zunächst unverständlichen Anhäufung eigentlich banaler Dinge manifestiert. Andererseits können Realsozialismus-spezifische Produkte, Dinge, die vor dem Hintergrund allgemeiner Knappheit und Sparsamkeit nur durch deren symbolischen Wert eingeordnet werden können, verortet werden: so zeigen Urkundenmappen, Geschenkkassetten und Brigade-bücher einen ganzen, handwerklich bestimmten Produktionszweig, einen Buchhindertraum in rot; ein exzessives Formularwesen weist auf die Alltagsmächtigkeit von Verwaltung und Bürokratie hin, Symbol- und Farbverwendung verweisen auf die zeichentheoretisch interpretierbare Seite der Objektkultur. Jenseits der Ebene der Vergleichbarkeit der Produktkultur moderner Industriegesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen sich allein in der Beobachtung von Aufflilligkeiten in der Objektwelt vielfllltige Hinweise auf die Besonderheiten und Funktionsweisen der DDR-Gesellschaft. Museumsarbeit, so läßt sich resümieren, wird als Teil von Gedächtnisbildung interpretiert, der zunächst individuell verläuft, durch den Schenkungsakt öffentlich wirksam wird und Momente der Kommunikation in sich trägt. Die Analyse der Gegenstandswelt und des Zustandeskoromens ihrer auf eine museale Nutzung orientierten kulturellen Wertes kann filr Fragestellungen sensiblisieren, die in schriftlichen Dokumenten nicht oder nur am Rande formuliert werden.
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111. Rezeption- das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart in der museumsbezogenen Öffentlichkeit Seit 1990 hat es eine ganz erhebliche Zahl von Ausstellungen gegeben, die sich auf den Alltag in der DDR bezogen. Das thematische Spektrum dieser Ausstellungen ist breit, es reicht vom Design bis zur Freizeitkultur, regionale wie nationale Bezugsebenen sind feststellbar, Vergleiche zwischen Ost und West werden gezogen, eine Einordnung der DDR-Geschichte in eine breitere historische Perspektive wird vorgenommen; regionale BezUge sind ebenso feststellbar wie strukturgeschichtliche Zugriffe, der Tenor reicht von kritisch dokumentierend bis nostalgisch. 14 Eine Übersicht über die zahlreichen Ausstellungen fehlt bislang, auch eine vergleichende Analyse des Geschichtsbildes, das sie transportieren. In der Mehrzahl wurden diese Ausstellungen - mit Ausnahme des auf eine vergleichende Perspektive Wert legenden Hauses der Geschichte in Bonn - im Osten Deutschlands gezeigt. 15 Was bedeutet die große Zahl von Ausstellungen, die sich mit dem DDR-Alltag beschäftigen, fi1r das Verhältnis der Ostdeutschen zu ihrer und zur deutschen Geschichte? Ganz sicher geht es nicht um eine nachträgliche Rechtfertigung oder gar Glorifizierung der DDR als Staat. Die These von der erst nachträglichen Entstehung eines DDR-Bewußtseins 16 gilt der Erklärung eines, durch den erlebten kulturellen und lebensweltlichen Bruch hervorgerufenen verstärkt historischen Denkens. Nicht nur werden Teile des eigenen Lebens infrage gestellt bzw. bewußt gegen Infragestellungen behauptet, es scheint sich insgesamt um ein gleichsam gegenwärtigeres Verhältnis zur Geschichte, zumindest zur Geschichte der DDR zu handeln. In dem Maße, in dem die DDR und die Ereignisse des Herbstes 1989 zurückliegen, in dem die vereinigte Bundesrepublik auch alltagspraktische Normalität geworden ist, bleibt, bzw. wird die eigene Vergangenheit etwas Besonderes, Unterscheidbares. 17 14 Eine erste Übersicht bietet Andreas Ludwig: Objektkultur und DDR-Gesellschaft. Aspekte einer Wahrnehmung des Alltags, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 28/99, S.3-ll. 15 Inklusive des als Sehninsteile fungierenden Berlin. Auf die möglichen Ursachen des offensichtlich geringen Interesses im Westen der Bundesrepublik soll hier nicht eingegangen werden.
16 Michael Rutschky: Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermische Erzählungen, in: Merkur 49 (1995), H.9/10, S.851-864. 17 Es fehlen auch im Museumswesen nicht demonstrative Akte von Selbstbehauptung, die zwar das Ankommen in der neuen, gesamtdeutschen Gesellschaft akzeptieren, hinsichtlich der DDR aber mit einer stark aufgeladenen Begriffiichkeit operieren, die auf eine zunachst individuelle Aufarbeitung hindeuten. Katharina Flügel: Zum Geleit, in: dies., Wolfgang Ernst (Hg.): Musealisierung der DDR? 40 Jahre als kulturhistorische Herausforderung, Bonn 1992, S. 9, spricht von "lrrtOmem", "Schandflecken", aber auch von "Wahrheiten", die es einzubringen gelte. Das Museumswesen der DDR ist jedoch bislang nur selten Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Zum
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Ausstellungen in Museen rekurrieren auf diesen Hintergrund und sind möglicherweise auch deshalb hinsichtlich ihrer Besucherzahlen und Presseresonanz überraschend erfolgreich. Der Wiedererkennungswert historischer Sachzeugen mag eine der wesentlichen Motivationen zum Besuch der Ausstellungen sein, deren oftmals ironische (hier immer auch als selbstironisch wirkende) Titel gerrau auf diesen gemeinsamen Erfahrungshintergrund anspielen. 18 In Ausstellungen kann man zugleich beobachten, daß es nicht beim bloßen Wiedererkennen bleibt, sondern wie, konfrontiert mit den Objekten des DDRAlltags, ein Kommunikationsprozeß in Gang gebracht wird. Erfahrungen werden ausgetauscht, die Meinungen sind geteilt, es werden Vergleiche gezogen. Die DDR wird dabei aus heutiger Perspektive betrachtet, historisch und in einen lebensweltlichen Kontext eingeordnet, Geschichte und Gegenwart deutlich geschieden. Bei Besuchern aus dem Westen und bei Jüngeren wirkt dieser Selbstbezug naturgemäß nicht, hier überwiegt das Interesse an Information. In der Konfrontation der unterschiedlichen Besuchergruppen, die Rosmarie Beier fiir die Ausstellung des deutschen Historischen Museums "Lebensstationen in Deutschland 1900-1993" untersucht hat, 19 werden nicht nur Vorurteile formuliert, sondern diese zugleich in Gegenüberstellung mit den musealen Objekten wieder zurückgenommen. Geschichte bildet nicht den täglichen Hintergrund unseres Handelns, sie wird anlaßbezogen reflektiert, und sie braucht einen Ort als Anstoß, sich mit ihr zu beschäftigen. Pierre Nora hat diese Orte als Erinnerungsorte ("lieux de memoire") bezeichnet und hervorgehoben, daß sie dann notwendig werden, wenn ein erfahrungsgestütztes Gedächtnis aufgrund der vergangenen Zeit nicht mehr möglich ist und durch ein mediengestütztes Gedächtnis ersetzt wird. 20 Der Ort der Erinnerung rekurriert auf ein Ereignis, das wieder als Rekonstruktion in Erinnerung gerufen werden muß. Beobachtungen in Ausstellungen zur DDRGeschichte zeigen jedoch, daß auch sie als "lieu de memoire" wirken, indem sie Museum fllr deutsche Geschichte vgl. Karen Pfundt: Die Gründung des Museums fur deutsche Geschichte in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 23/99, S.23-30; Stefan Ebenfeld: Geschichte nach Plan? Der Prozeß der Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaft in der DDR am Beispiel des Museums fUr deutsche Geschichte in Berlin ( 1950-1955), Magisterarbeit Universität Bielefeld, 1999. 18 In Halle hieß eine Ausstellung beispielsweise "gebeutelt" und spielte damit sowohl auf das Lebensgefiihl der den Fährnissen des DDR-Alltags ausgelieferten Bevölkerung an, wie auf den unverzichtbaren Beutel als AusrüstungsstUck fUr den vorsorglichen Einkauf gerade angebotener Mangelwaren. Eher erinnernd war zum gleichen Zeitpunkt 1999 die Titelgebung einer Ausstellung in Leipzig, "Es geht seinen Gang", die auf Erich Loests Roman anspielte, der seinerseits die zeitgenössische Begrifflichkeil fUr den bUrokratischen Fortgang der Dinge im real existierenden Sozialismus aufgriff.
19
Bericht zur (mentalen) Lage der Nation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 27/95, S.l 0-18.
20
Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990.
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Anlaß zur Erinnerung und Kommunikation über Geschichte bieten, jedoch als zum großen Teil noch erfahrungsgesättigte Erinnerung. Faktisch befmden sich die Museen, zeigen sie zeitgeschichtliche Ausstellungen, in einem transitorischen Zustand. Sie bilden Orte der Aktualisierung historischer Erfahrung, wie auch deren Korrektur durch das dort ausgestellte Material und die unterschiedlichen Erfahrungen und Wissensstände verschiedener Besucher. Damit spiegeln die Museen und ihre Ausstellungen ein Stück Normalität, eher mehr als das, denn es fmdet statt, was sich politische Bildung eigentlich wünscht, ein Diskurs, der Geschichte und Gegenwart verknüpft. Was auffiillt ist dagegen eine gewisse Asynunetrie, denn die alte Bundesrepublik wird, so scheint es, vergleichsweise seltener zum Gegenstand historischer Diskussion gemacht. Die Sammlung als Objektivation des sozialen Gedächtnisses, das Museum als Ort des Gedächtnisses und der an geschichtlichen Fragen orientierten Kommunikation - dies sind Aspekte, die das Museum gesellschaftlich verorten, in seiner Funktion als institutioneller Wissensspeicher neben Archiv und Bibliothek einerseits, in seiner Funktion als mediales Angebot durch seine Ausstellungen in Konkurrenz zu anderen Medien andererseits. Ausstellungen als mediales Angebot haben seit gut eineinhalb Jahrzehnten Konjunktur, immer noch zur Freude der Besucher, fortdauernd zur Sorge der Museen, die darüber ihre Aufgaben von Sammlung, Pflege und Forschung vernachlässigt sehen. Aus der Perspektive der Erinnerung und des Gedächtnisses bedeutet dies die Notwendigkeit einer klaren analytischen Scheidung zwischen Sammlung und Darstellung, fUr die zeitgeschichtliche Forschung jedoch vielleicht die Anregung, sich mit der musealen Bestandsbildung und dem Bild der durch Museumsausstellungen dargebotenen, medial vermittelten Geschichte intensiver zu befassen.
"Laboratorium Deutsche Einheit" Aufbau Ost: Erfahrungen der Stiftung der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Von Hermann Schäfer Am 4. November 1989 versammelten sich in Ost-Berlin auf dem Alexanderplatz Hunderttausende, um deutlich zu machen, daß ihnen das Leben in der DDR unerträglich geworden war. Sie waren des "real existierenden Sozialismus" überdrüssig und suchten nach Alternativen. Die Menschen forderten grundle-gende Veränderungen. Viele Ostdeutsche hofften zu diesem Zeitpunkt noch auf die Demokratisierung und Reformierung der DDR. Sie sollten ebenso wie viele Westdeutsche von der Dynamik der Entwicklung überrollt werden.
I. Friedliche Revolution Am 4. November 1989 begann auch eine neue Phase in der Arbeit des Aufbaustabes des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Fall der Mauer, kaum fünf Tage nach der erwähnten Demonstration, eröffneten sich deutschlandpolitische Perspektiven, von denen wir wenige Wochen zuvor in der Tat nur geträumt hatten. Die Übergangszeit, welche die Väter und Mütter des Grundgesetzes in dessen Präambel geschrieben hatten, endete. Eine neue Übergangszeit begann, in der Ausstellungen durchaus eine wichtige Rolle spielten. Anfang Dezember 1989 konnten wir endlich die Organisatoren der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz erreichen. Weitsichtig hatten sie nämlich, kaum dass die Demonstration beendet war, Plakate, Spruchbänder und Transparente eingesammelt - nicht ftlr die nächste Demonstration, sondern fiir Ausstellungszwecke. Im Frühjahr 1990 organisierten wir unter dem Titel "TschüSSED" gemeinsam eine Ausstellung, die zuerst im Museum ftlr deutsche Geschichte in Ost-Berlin präsentiert wurde. Am Jahrestag des Mauerbaus, am 13. August 1990, eröffneten wir die Ausstellung "4.11 .89- TschüSSED" auch in Bonn. Die Begleitpublikation, gemeinsam herausgegeben vom Haus der Geschichte und den Initiatoren der Demonstration, war rasch vergriffen. nterdessen hatte ich im Mai 1990 während einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum gelernt, dass die Aufbereitung von DDR-Geschichte in Ausstellungen und Museen in den kommenden Jahren in hohem Maße auch "therapeutische Funktion" haben werde. So der Leipziger Soziologe Bernd 34 1UnJDCrmann
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Lindner, einer der Chronisten der dortigen Montagsdemonstrationen, der inzwischen Mitarbeiter der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig ist. Diese Therapie, so diagnostizierte er damals, habe vielerorts in der DDR bereits mit dem Aufbewahren und den allerersten zaghaften Präsentationsversuchen der Demonstrationsplakate und -transparente begonnen. Selten gab es einen schlagenderen Beweis für Hermann Lübbes These, dass mit beschleunigtem Veränderungstempo der Gegenwart der Wunsch der Menschen zunimmt, sich mit Hilfe aufbewahrungswürdiger Exponate der Vergangenheit zu vergewissern. Die Aufbewahrung geschichtlicher Zeugnisse ist Quellen- und Spurensicherung; sie filhrt zur Reflexion über die Ereignisse, über den Mut derjenigen, die sich 1989 erfolgreich erhoben und seitdem die Geschichte, die sie selbst mitgeschrieben haben, im rasenden Vorbeiflug erleben. Wer damals noch zögerte oder unsicher war, ob diese Überreste der Geschichte "museumsreif' im besten Sinne des Wortes - seien, konnte sich von einer Besucherin unserer Ausstellung "TschüSSED" überzeugen lassen, die 1990 im Besucherbuch anmerkte: Es sei gut, wo soviel über die Entwicklung in der DDR "gemeckert" werde, daran zu erinnern, wie alles losging: "Soll man denn 30 Jahre warten, um alles zu zeigen?" Zukunft liegt nicht am Wegesrand, eher am Horizont. Es ist die Aufgabe der Menschen in Ost und West, den . Weg zur inneren Einheit Deutschlands gemeinsam zu gestalten und zu gehen. Der Blick zurück auf die jüngste Vergangenheit ist die eine Seite, das Verstehen der Geschichte und das gegenseitige Kennenlernen die andere Seite derselben Medaille "Ausstellung". Ausstellungen wenden sich - richtig angepackt und wohlverstanden - an ein breites Publikum, kommen ihm entgegen, ja, stellen sich ihm auch in den Weg. Unter den Medien, die wesentlich zur Auseinandersetzung mit der Geschichte beitragen, kommt Ausstellungen eine besonders wichtige Rolle zu. Wenn die Literatur als "langsames Medium" - anders als Presse, Radio und Fernsehen sich nicht für tagespolitische Schnellschüsse eignet, so sind Ausstellungen im Vergleich gewiss ein schnelleres und zugleich aktuelleres Medium. Darüber hinaus sind sie eine kommunikative Herausforderung: Denn "Ausstellen" hat stets vor allem mit "Herausstellen" zu tun: Zusammenfassungen, Abstraktionen und Zuspitzungen sind unverzichtbar. Besonders in einer ereignisreichen Zeit können sie als Medium dienen, um zu informieren, Anregungen zu geben und Diskussionen anzustoßen. Wohlverstanden werden sie so zu Zwischenstationen der Besinnung. II. Entstehung Die Chance filr die Entstehung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig kam im Jahr 1992. Die Unabhängige Föderalismuskommission wurde auf Beschluss
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des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 gegründet. Als Gremium aller Verfassungsorgane, der Obersten Bundesbehörden und von unabhängigen Persönlichkeiten hatte sie den Auftrag, "Vorschläge zur Verteilung nationaler und internationaler Institutionen zu erarbeiten, die der Stärkung des Föderalismus in Deutschland auch dadurch dienen sollen, dass insbesondere die neuen Bundesländer Berücksichtigung fmden mit dem Ziel, dass in jedem der neuen Bundesländer Institutionen des Bundes ihren Standort finden". Die damalige Parlamentarische Geschäftsführerio der SPD-Bundestagsfraktion, Gerlinde Hämmerle, inzwischen Regierungspräsidentin in Karlsruhe, hatte - angelehnt an die Rastatter Erinnerungsstätte des Bundesarchvis - angeregt, in Leipzig ein "Archiv zur deutschen Einheit" als Außenstelle des Bundesarchivs zu gründen. Diese Idee und ihre Realisierungsmöglichkeiten erörterten die Leiter des Bundesarchivs, des Deutschen Historischen Museums, der Bundeszentrale fiir politische Bildung und des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erstmals am 21. Dezember 1992 im zuständigen Bundesministerium des Innern. Im Verlauf dieser Diskussion schlug ich vor, statt eines Archivs ein Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum zu errichten. Unter Zustimmung aller Anwesenden wurde - so das Protokoll vom 22. Dezember 1992 - festgehalten: "Leiter Haus der Geschichte erarbeitet ein Konzept für die Einrichtung". Die konzeptionellen Überlegungen zur Errichtung eines "Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrums zur deutschen Einheit (Leipzig) (Arbeitstitel)" wurden Ende Januar 1993 vorgelegt. Die darin formulierten Zielsetzungen und Aufgaben haben bis heute Gültigkeit. Das Kuratorium der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nahm erstmals in seiner Sitzung am 24. Mai 1993 diese neue Entwicklung und die Ausweitung des Aufgabenbereiches des Museums zustimmend zur Kenntnis. In Leipzig wurde die Idee für diese Einrichtung mit Vertretern der Bürgerbewegungen am 29. September 1993 diskutiert. Die Anregung zu einer ersten Ausstellung stammt aus dieser Besprechung. Sie trug zunächst den Arbeitstitel "Fünf Jahre danach" und sollte dementsprechend im Herbst 1994 eröffuet werden. Im Januar 1994 konstituierte sich die "Projektgruppe Herbst '89" des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die sodann in den Aufbaustab fiir das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig überging. Haushaltsmittel einschließlich Stellenplan werden seit 1994 im Wirtschaftsplan des Hauses der Geschichte veranschlagt. Die Stadt Leipzig stellte im Grassi-Museum bis zum Einzug in den Zentral-Messepalast im April 1998 kostenlos Büroräume zur Verfügung. Selten wurde eine Ausstellung von dieser Bedeutung wohl in so kurzer Zeit realisiert. Die Projektgruppe stand unter äußerstem Termindruck und nahm die Arbeit mit Unterstützung des Hauses der Geschichte in Bonn beherzt in Angriff. Archive der Bürgerbewegungen, regionale Museen und Einzelpersonen unter34•
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stützten das Ausstellungsprojekt. Unter dem Titel "Zum Herbst '89: Demokratische Bewegung in der DDR" wurde die Ausstellung ein Erfolg, denn in dem Zeitraum vom 25. September bis zum 9. November 1994 sahen rund 15.000 Besucher die Ausstellung in der Leipzig-Information, anschließend ging sie noch nach Berlin und Bremen. Ein wichtiger Anfang filr das größere Projekt war gemacht, der Countdown konnte beginnen. Freilich wurde bereits damals klar, dass trotz der Dichte des präsentierten Materials manches Ereignis und viele der Beteiligten ungenannt bleiben mussten. Alles zeigen zu wollen, würde den gegebenen Rahmen sprengen. In Abwandlung einer Maxime von Max Frisch, mit der er Bezug auf Voltaire nahm, ließe sich sagen: "Wer einem Ausstellungsbesucher alles sagt, sagt ihm nichts. Nur der mittlere Wissenschaftler tut das. Sein Ziel ist nicht das Wesentliche, sondern das Vollständige, und die Langeweile ... hält er bereits fUr ein Zeichen der Wahrheit." Also: Wer Ausstellung konzipiert, muss nach der Wahrheit streben, jedoch Vollständigkeit vermeiden; er muss vielmehr Emotionen wecken, die zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema motivieren. Subjektive Erfahrungen und persönliche Betroffenheit spielen bei der Betrachtung zeithistorischer Ausstellungen eine große Rolle. Jede Präsentation von Ereignissen, die noch so gegenwärtig sind, muss subjektiv bleiben - darin liegt jedoch gerade eine ihrer Stärken. Die im Zeitgeschichtliche Forum Leipzig präsentierten Jahre sind filr die Besucher - entsprechend ihrem Alter - erlebte Zeit. Zeitgeschichte ist die "Epoche der Mitlebenden" (Hans Rothfels). Dies macht uns befangen, auch betroffener und gibt uns zugleich tiefere Verpflichtung und Verantwortung. Ausstellungen sind auch historische Gewissen: "Wir müssen die Generation unserer Kinder und Enkel mit den Wurzeln unserer freiheitlichen Demokratie vertraut machen. Zugleich muss die Erinnerung an Unrecht und Terror in der SED-Diktatur wach gehalten werden. Das Vergessen zu verhindern, ist ein wichtiger Beitrag dieses Museums, um das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit für die Lehren der Geschichte, filr den Wert eines Lebens in Frieden und Freiheit zu schaffen", so Bundeskanzler Helmut Kohl am 14. Juni 1994 aus Anlass der Eröffnung in Bonn zu den Aufgaben des Hauses der Geschichte. Fünf Jahre später eröffneten wir in Leipzig mit Bundeskanzler Schröder: "Zehn Jahre nach dem Herbst 1989 soll nicht nur des Mutes gedacht werden, der die Menschen in der DDR und in den Nachbarstaaten des Warschauer Paktes gegen Diktatur und Alleinherrschaft aufstehen ließ. Im Zeitgeschichtlichen Forum wird auch eindrucksvoll daran erinnert, dass es während der gesamten 40 Jahre SEDDiktatur immer wieder Männer und Frauen gegeben hat, die sich dem allumfassenden Machtanspruch der SED widersetzten. Das Zeitgeschichtliche Forum kann so einen wichtigen Beitrag filr das Geschichtsverständnis der Deutschen leisten," sagte Bundeskanzler Gerhard Sehröder am 9. Oktober 1999 bei der Eröffnung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig.
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111. "Laboratorium Deutsche Einheit" Die Aufbauarbeit in Leipzig profitierte selbstverständlich von den Erfahrungen des Hauses der Geschichte in Bonn. Die Zusammenarbeit innerhalb der Stiftung - zwischen Bonn und Leipzig - war von der gemeinsamen Zielsetzung geprägt, im Osten Deutschlands ein Museum ftlr Zeitgeschichte aufzubauen, das genauso erfolgreich sein würde wie das Haus der Geschichte. Nur unter Anspannung aller Kräfte konnte es gelingen, in derart kurzer Zeit das Museum erfolgreich zu eröffnen. Nicht ohne Stolz spreche ich seitdem von unserem kleinen "Laboratorium Deutsche Einheit" und denke dabei daran, dass die Teams in Leipzig und Bonn eng vernetzt und arbeitsteilig zusammenarbeiten. An dieser Stelle darf ich noch anfügen, daß lediglich fünf von 29 Leipziger Kollegen aus dem Westen stammen- wenn ein solches Kriterium denn heute überhaupt noch gefragt ist. Von immensem Vorteil war auch die eingespielte Kooperation zwischen den Stiftungsgremien: Kuratorium, Wissenschaftlicher Beirat und Arbeitskreis gesellschaftlicher Gruppen. Nur die vertrauensvolle Zusammenarbeit und die Erkenntnis, dass die Stiftung in Bonn bereits ein sehr erfolgreiches Museum ftlr Zeitgeschichte aufgebaut hatte, ermöglichten es überhaupt, das Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum zu errichten. Die gesamte Aufbauphase des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig wurde aktiv von den Stiftungsgremien begleitet. Das Konzept der Dauerausstellung - vor allem im Wissenschaftlichen Beirat intensiv diskutiert - wurde zustimmend zur Kenntnis genommen. Die Wahl des endgültigen Standortes des Museums wurde nach ausführlichen Diskussionen und intensiver Ortsbesichtigung des Kuratoriums in Leipzig zur großen Zufriedenheit der Stiftung getroffen. Mitten im Herzen der Innenstadt und mit Blick auf die Orte der friedlichen Revolution im Herbst '89 ist das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig schon jetzt zu einer attraktiven Einrichtung geworden, die aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben der Stadt, der Region und darüber hinaus nicht mehr wegzudenken ist. IV. Ausstellung Die Flut historischer Informationen und zahlreiche Exponate werden in Ausstellungsszenen gebündelt, die sich auch dem eiligen Besucher erschließen sollen. Die konkrete Umsetzung vollzieht sich in drei Schritten: Strukturierung des Raumes, Gliederung der Ausstellungseinheiten und Zusammenstellung der Objektensembles. Jeder Zeitabschnitt erhält im Rahmen des Gesamtkonzeptes sein eigenständiges architektonisches Gefüge, das in seiner Ausgestaltung - in Formen, Materialien und Farben - ein Grundgefilhl des Themas beziehungsweise der jeweiligen Epoche vermitteln soll.
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Ein Hörtunnel filhrt in die Ausstellung und signalisiert den Beginn einer "Zeitreise". In einem abgedunkelten Gang werden die markantesten Zitate deutscher Geschichte seit 1945 eingespielt, die in Verbindung mit Projektionen berühmter Bilder die Besucher auf ihren Weg durch die Zeitgeschichte einstimmen. Der Rundgang beginnt in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Eine Collage von Fotos aus dem Deutschland des Jahres 1945 lässt die Ausmaße der physischen aber auch moralischen Zerstörungen des durch Adolf Hitler entfesselten Krieges erkennen. Bewusst weisen Beispiele aus den unterschiedlichen Besatzungszonen auf den gesamtdeutschen Aspekt der Katastrophe und auf die ähnlichen Ausgangsbedingungen in Ost und West hin. Drei Informationsebenen gliedern die konzeptionell-narrative Fülle der Dauerausstellung. Diese Dreiteilung spiegelt sich sowohl im Medien- als auch im Textkonzept der Ausstellung wider. Leitobjekte ziehen Besucher in ihren Bann. Mit dem Worten des amerikanischen Evaluationsexperten Harris Shettel gesprochen: Sie ziehen die Aufmerksamkeit der Besucher an, schaffen es, diesen Spannungsbogen über einen gewissen Zeitraum aufrechtzuerhalten, und regen durch das Zusammenwirken dieser Faktoren zur Kommunikation an. Besucher treten auf diese Weise in einen "Dialog" mit den Exponaten der thematischen Szenen. Eine sowjetische Divisionskanone "steht" zum Beispiel als zentrales Objekt im Rahmen der thematischen Szene über den Aufstand des 17. Juni 1953 und die Niederschlagung durch die Rote Armee. Die Besucher werden von diesem bedrohlich wirkenden Objekt in diesen Teil der Ausstellung gleichsam "hineingezogen". Ein Thementext erläutert die Zusammenhänge. Ein Raumton, der sowohl Tumulte als auch das Rumpeln und Knarren sowjetischer Panzerketten auf dem Asphalt aufgreift, wirkt zusätzlich "einstimmend" und wie ein Magnet. Auf einer zweiten Informationsebene vermitteln Exponate und Objekttexte vertiefende Einblicke. Interaktive Elemente (Flipcharts, Dreh- und Blätterelemente sowie Touch-Screens) bieten dem interessierten Besucher auf einer dritten Informationsebene Detailinformationen. Die Konzentration vor allem auf die Geschichte von Widerstand und Diktatur, von persönlichem Mut gegen staatliche Willkür muss biografische und persönliche Schwerpunkte setzen: Das Schicksal des Einzelnen oder einer Gruppe steht pars pro toto. Die Auseinandersetzung mit diesen oft schicksalhaften Lebenszusammenhängen kann zur positiven und negativen Identifizierung filhren. In jedem Fall fordert sie Emotionen heraus und regt die Diskussion über unterschiedliche Lebensentwürfe an. Eine Abfolge von Biografien verleiht dem narrativen Konzept der Dauerausstellung zusätzliche emotionalisierende Dimensionen. Widerstand und Opposition sind in allen Diktaturen mit den Schicksalen von Menschen verbunden, die sich gegen die staatliche Allmacht aufgelehnt haben.
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In allen Diktaturen dieser Welt ist es stets eine geringe Minderheit, die diese Risiken bewußt auf sich nimmt. Als wir die Dauerausstellung erarbeiteten, war uns klar, dass wir im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig die Geschichte einer Minderheit erzählen würden. Die Ausstellung erhebt sich jedoch an keiner Stelle zum Richter über die Mehrzahl der Menschen, die sich in der SBZ/DDR "eingerichtet" haben und ihr so verstandenes "normales Leben" gefiihrt haben. An vielen Stellen wird deutlich, dass der Weg in die Opposition und in den Widerstand sehr unterschiedlich ausfallen konnte, doch eines war allen Oppositionellen und Widerständlern gemein: das persönliche Risiko und die Geflihrdung nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch von Familien und Freunden. Persönliches Leben und Lebensumfeld von Menschen wird nicht dadurch abgewertet, dass sich in einer Diktatur abspielte. Der persönlich-biografische Zugang eignet sich fiir das Medium Ausstellung zusätzlich, weil er den Besuchern ermöglicht, gleichsam in die Rolle unterschiedlicher Personen zu schlüpfen und die Chance eröffnet, Besucher aus ihrer alltäglichen Lebenswelt herauszureißen. Sie werden sensibilisiert und entwickeln ein Gefiihl fiir das persönliche Erleben. Wenn es uns auf diese Weise gelingt, dass Besucher auch die Frage nach Motiven und Beweggründen stellen und sich selbst an der einen oder anderen Stelle danach fragen, wie sie in dieser konkreten Situation gehandelt hätten, dann haben wir viel erreicht. Dies erscheint zur Zeit als ein vielversprechender Weg aus der von Demoskopen diagnostizierten Schweigespirale- zwischen Ost und West, aber auch zwischen den Generationen. Aus einer Vielzahl von Begebenheiten möchte ich nur zwei konkrete Beispiele anfUhren: Wenn bei einem Rundgang durch die Ausstellung ein ehemaliger DDR-Grenzsoldat sinngemäß sagt, "Ach, so schlimm war die Grenze nun auch wieder nicht", dann löst das bei den anderen Besuchern Diskussionen aus, werden doch in der Ausstellung eine Selbstschussanlage oder die abenteuerliche Konstruktion eines Fluchtflugzeugs gezeigt, mit denen Menschen unter Lebensgefahr versuchten, diese Grenze zu überwinden. Ein anderes Beispiel einer Lehrerin aus Grimma belegt dies ebenfalls. Obwohl selbst keine Geschichtslehrerin, schlug sie nach wiederholten Fragen ihrer Schüler zum Leben in der DDR und nachdem sie festgestellt hatte, dass dieses Thema kein Gegenstand im regulären Geschichtsunterricht war, den Besuch der Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum vor. Die Klasse stimmte zu. Und mit den Antworten, die sie in der Ausstellung auf ihre Fragen fanden, sind die Schüler zu ihren Eltern gegangen, die nun ihrerseits begannen, über ihre Erfahrungen in der DDR zu berichten. Die Ergebnisse haben die Schüler in Mappen festgehalten und dem Zeitgeschichtlichen Forum übergeben. Wir wollen sie nun auch anderen Besuchern zugänglich machen, um damit den Gesprächsfaden fortzusetzen.
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V. Besucherecho Wie erleben die Besucher die seit Oktober 1999 eröffuete Ausstellung? Die Hierarchisierung der Informationsebenen und die Integration von Medien in die Ausstellung bewirken eine Erweiterung des historischen Empfindens: Das Museum ftlr Zeitgeschichte bietet sowohl einen "Weg der Bilder'' als auch einen "Weg der Raumtöne"; miteinander werden diese zu einem "Weg der Eindrücke". Die historische Ausstellung ist eine "dreidimensionale Geschichtsdarstellung". Besucher gehen durch die Geschichte der SBZ/DDR, der Diktatur ebenso wiewo vorhanden - des Widerstandes. Sie entdecken deutsch-deutsche BezUge, unterschiedliche Themen und Schwerpunkte, sie schenken je nach persönlicher Perspektive wichtigem und weniger wichtigem Aufmerksamkeit. Die Sichtweisen sind von Besucher zu Besucher unterschiedlich - nach Wissen, Erfahrung, Alter, nach Erlebnisbereitschaft, Konzentration und Temperament, nach Neugier ebenso wie nach verftlgbarer Zeit. Der Vielfalt der historischen und persönlichen Assoziationen ist keine Grenze gesetzt. Vielerlei Sichtweisen und Deutungsmuster bleiben offen, jeder entscheidet individuell über seinen Weg durch die Ausstellung und damit auch über seinen Weg durch die Zeitgeschichte - Einsichten sind zunächst individuell, aber je nach persönlicher Einstellung und Diskussionsbereitschaft können sie verallgemeinert werden. Das Museum ist heute ein Medium der Kommunikation - längst nicht mehr allein auf Sammeln, Bewahren und Ausstellen konzentriert. Das veränderte Kommunikationsverhalten der Menschen fordert geradezu eine Revolutionierung der Museen und ihrer Präsentationen. In vielerlei Beziehungen sind Museen und Ausstellungen anderen Medien ähnlich: Sie unterhalten und informieren, argumentieren und erzählen Geschichten, sie gefallen und mißfallen, sie vermitteln oder kommunizieren - mit oder ohne Erfolg. Zugleich unterscheiden sie sich erheblich von Zeitungen, Radio und Fernsehen: Vor allem beanspruchen sie mit ihren Exponaten Raum, ermutigen zu interaktivem Verhalten, zu Fragen und Antworten, zu Gesprächen und Staunen, zu Freude und Trauer, zu Begeisterung und Abneigung- und zwar bei Menschen unterschiedlichster Herkunft, Bildung und Generationen. Die klassischen Medien werden eher allein vom einzelnen, jedenfalls selten von mehreren Menschen kommunikativ genutzt, während sich Vorträge und Unterricht überwiegend an Gruppen wenden. Ausstellungen und Museen haben darüber hinaus eine größere Dauerhaftigkeit. Sie sind ein kommunikatives Erlebnis zwischen den unterschiedlichen Generationen, sie beziehen viele Sinne ein. Der Besucher bewegt sich durch sie hindurch und geht dabei gleichsam durch die Geschichte. So unterschiedlich die Reaktionen der Besucher auf die verschiedenen Exponate und Themen sind, so einheitlich ist das Echo auf die Ausstellung insgesamt. Erste repräsentative Erhebungen machen deutlich, dass die Dauerausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig sehr positiv von den Besuchern aufgenommen wird. Auf die Frage "Wie hat Ihnen das Museum gefallen?"
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antworteten 97 Prozent der Besucher mit "sehr gut" (55 Prozent) und mit "gut" (42 Prozent); lediglich drei Prozent gaben an, dass ihnen die Ausstellung "weniger'' gefallen habe. Die unterste Kategorie ftlr die Einschätzung des Besuchs ("gar nicht") ist in dieser repräsentativen Umfrage von keinem Besucher des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig gewählt worden. Dies sind überaus erfreuliche Ergebnisse, die durch die Tatsache noch unterstrichen werden, dass sich die hohe Gesamtbeurteilung durch alle Alters-, Berufs- und Bildungsgruppen zieht. Ebenso überragende Werte werden in der Kategorie "Weiterempfehlung" - dem eigentlichen Lackmustest jeder Besucherbefragung erzielt: Nahezu neun von zehn Besucher (87 Prozent) gaben an, dass sie den Besuch im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig "unbedingt" weiterempfehlen werden; nur 12 Prozent wollten dies "mit Einschränkung" tun und lediglich 0,2 Prozent unserer Besucher erklärten, dass sie den Besuch "nicht weiterempfehlen" werden. Damit schneidet das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig noch besser ab als unsere Bonner Dauerausstellung. In Bonn waren es nahezu drei Viertel (74 Prozent) mit "unbedingter" und 25 Prozent mit eingeschränkter Weiterempfehlung, während sich ein Prozent gegenjede Weiterempfehlung aussprach. Auch die anderen bereits evaluierten Aspekte der Museumsarbeit zeigen ein äußerst positives Bild, das den eingeschlagenen Weg eindrucksvoll bestätigt. Unseren Besuchern hat es nicht nur im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig gefallen. Auch der thematische Schwerpunkt der Dauerausstellung - Diktatur und Widerstand in der SBZ/DDR vor dem Hintergrund der deutschen Teilung ist vom überwiegenden Teil der Besucher verstanden worden: Lediglich 3,9 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen diese Schwerpunktsetzung ,,nicht deutlich" geworden sei. Ein großer Erfolg, der klar für die kommunikative Kraft der Dauerausstellung spricht. Selbstverständlich haben wir durch die Besucherbefragung auch Hinweise für die Verbesserung unserer Arbeit erhalten. So flillt es auf, daß nahezu ein Drittel der Besucher (32,5 %) Schwierigkeiten bei der Orientierung innerhalb der Dauerausstellung hatte. Angesichts dieses Ergebnisses, das sicher auch auf die Tatsache zurückzufUhren ist, daß der Zentral-Messepalast ursprünglich nicht als Museumsgebäude geplant war, haben wir bereits Verbesserungen im Besucherleitsystem vorgenommen. Ein weiteres Resultat belegt, daß wir im Bereich der Besucherbetreuung und der Public relations noch viel Arbeit vor uns haben. Während in Bonn knapp ein Drittel unserer Besucher (30,5 %) angeben, daß sie in der Schule vom Haus der Geschichte erfahren haben, sind es in Leipzig nur 5,3 Prozent. Auf diesem Feld müssen wir unsere Anstrengungen deutlich erhöhen. Nichtsdestoweniger - dies belegen unsere Befragungen ebenfalls - sind wir auch in Leipzig auf einem guten Weg. Denn wie in Bonn (3 7,8 %) ist auch in Leipzig (31,8 %) die Mund-zu-Mund-Propaganda die wichtigste Informationsquelle unserer Besucher. In Verknüpfung mit den bereits vorgestellten Empfehlungsabsichten können wir also mit Zuversicht in die Zukunft schauen.
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VI. Ausblick Wer die Gegenwart verstehen will, muß sie aus ihrer Entstehungsgeschichte begreifen. Umstritten ist, ob die Menschen aus ihrer Geschichte lernen. Unumstritten ist, das sie generell aus Erfahrungen lernen, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit unerläßlich ist, um Erfahrungen für die Gegenwart zu sammeln. Der Blick in die Geschichte ist eine wichtige Quelle zur Orientierung in unserer sich stetig beschleunigenden Zeit. Ein Museum für Zeitgeschichte muß in besonderem Maße die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit und mit der unmittelbaren Gegenwart fördern. Es kann schreckliche Augenblicke der Geschichte ebensowenig ausblenden, wie es Erfolge nicht unterschlagen darf. Geschichte lebendig zu vermitteln, ihre grundsätzliche Offenheit aufzuzeigen, historische Fakten, ihre Bedeutung und Verknüpfung zu erläutern und die Zusammenhänge für Gegenwart und Zukunft zu erklären, sind herausragende Zielsetzungen des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Unsere neue Ausstellung für eine neues Land - für das vereinigte Deutschland - will neue Besucher gewinnen: Menschen an die Geschichte heranfuhren und zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart anregen. Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig wirkt dem Verschweigen entgegen und fOrdert somit die Verantwortung für die Zukunft im Handeln der Gegenwart.
Literatur
Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): TschOSSED- 4.11.89. Magazin zur Ausstellung, Bonn 1990. Lindner, Bemd (Hg.): Zum Herbst ,89. Demokratische Bewegung in der DDR, Leipzig 1994. Schäfer, Hennann: Nahes fremdes Land, in: Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED (Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz), Leipzig 1994, S. 17-24.
- Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Museums- und Managementkonzept, in: Handbuch KulturManagement, Dosseidorf 2996, B 2.3, S. 1-22. (Neufassung Mai 199) - Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland - Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, in: Museumskunde, Band 64/2, 1999, S. 90-92. - Beitrag zur Demokratischen Erinnerungskultur, 44. Sitzung, in: Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit". Fonnen der Erinnerung- Archive VI, Berlin 1999, S. 157-162.
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- Zeitgeschichte im Museum - Möglichkeiten und Grenzen, in: Erinnern ftlr die Zukunft. Formen des Gedenkens- Prozess der Aufarbeitung, XI. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, 14. und 15. September 2000, Leipzig, S.27-41. - Erlebnis Geschichte - Eine neue Ausstellung ftlr neue Besucher, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deuschland (Hg.), Erlebnis, Geschichte. Deutschland vom Zweiten Weltkrieg bis heute, Bergisch-Giadbach, 3. Aufl., 2000, S. 8-9. - Eine neue Ausstellung ftlr ein neues Land, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Zeitgeschichtliches Forum Leipzig (hg.), Ein-sichten. Diktatur und Widerstand in der DDR, Leipzig 2001, S. 7-15.
Die Verwandlung: Ostdeutsche politische und Alltagskultur vom realexistierenden Sozialismus zur postmodernen kapitalistischen Konsumkultur Von Laurence McFalls Von außen besehen, wie etwa anläßlich des internationalen Medienspektakels am 10. Jahrestag der folgenschweren Ereignisse von 1989/90, stellen sich die Probleme um die deutsche Einheit wie ein posthumer Racheakt des einstigen Arbeiter- und Bauernstaates dar. Denn die Einheit scheint vollendet zu haben, wovon die Funk-tionäre der begrabenen Republik am Ende nicht einmal mehr träumten: das Schmieden einer felsenfesten Identität in Opposition zu den Westdeutschen, umrahmt vom unverhohlenen Zelebrieren sozialistischer Werte, stetig steigende Wahlsiege der Sozialistischen Einheitspartei im Gewand ihrer Nachfolgeorganisation PDS, die Dankbarkeit der Massen fUr die Teilhabe an den Leistungen des paternalistischen Wohlfahrtsstaates. Selbst die Akzeptanz der Mauer von einer kleinen, obgleich nicht unbedeutenden Minderheit in Ost und West feiert fröhliche Urständ. FUr die ausländische Presse schlagen solche historischen Purzelbäume kräftig zu Papier und zu Buche und verursachen wohl auch so manchem Betrachter ein wenig Schaden-freude über die Schwierigkeiten der Deutschen mit ihrer Einheit. Doch selbst in Deutschland hält sich hartnäckig die Überzeugung, dass jenseits der wirtschaftlichen Kosten die Einheit auch kulturell und im Gefiihlsleben der Menschen auf Widerstand stoße und ein Phänomen sei, dass die Architekten der Einheit wie Helmut Kohl und Willy Brandt kräftig unterschätzt hätten. Tatsächlich läuft der Mythos von der unverwüstlichen Mauer in den Köpfen der Menschen Gefahr, zur self-fulfilling prophecy zu werden. Von wo aus auch immer betrachtet, werden die politischen und kulturellen Widerstände und Brüche, mit denen sich der vereinigte Staat vermeintlich herumplagt, meistens mit der leidigen Vergangenheit und den widersprüchlichen Interessenlagen der Gegenwart erklärt. Wie können wir erwarten, dass sich Menschen politisch und kulturell einander annähern, die 40 Jahre unter völlig verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen geprägt wurden und dann seit mehr als 10 Jahren erleben müssen, wie über die Kosten des Umbaus ihrer sozialen Systeme gestritten wird? Laien und Profis, vom Ottonormalverbraucher
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bis zum Sozialwissenschaftler, sind sich grundsätzlich e1mg, dass sich die einstigen Wertmaßstäbe mit den gegenwärtigen Interessen nicht vertragen und deshalb nachgerade zwangsläufig die Teilung zwischen Ost und West fortgeschrieben wird. Dieses, gewissermaßen als Apriori durch die öffentliche Meinung geistemde Verständnis von der Unvereinbarkeit der Interessenlagen, verdeckt jedoch, wie die Mehrheit der Bevölkerung in Ost und West, vor allem jedoch auf dem Gebiet der Ex-DDR, wo der Anpassungsdruck wesentlich größer ist, den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wandel in Wirklichkeit erflihrt und verdaut. Diese im Alltag gelebte Erfahrung verdient einer näheren Prtlfung. Im folgenden werde ich mich jedoch, entsprechend den Ergebnissen meiner eigenen Forschung, auf die Behauptung konzentrieren, dass die wesentlichen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen nicht aus der geteilten Vergangenheit und der widersprtlchlichen Gegenwart herrtlhren, sondern aus der unterschiedlich strukturierten Anpassungsfliliigkeit an zukünftige Entwicklungen. Genauer gesagt, behaupte ich, wie im ersten Teil noch zu skizzieren und im zweiten Teil detaillierter zu erläutern sein wird, dass die aus der Einheit erwachsenen Ostdeutschen sowohl psychologisch wie auch hinsichtlich ihrer kulturellen Ausgangsbedingungen besser gertlstet sind als ihre westdeutschen Landsleute, um mit den Anforderungen des an Konturen gewinnenden postmodernen, neoliberalen, globalen Kapitalismus fertig zu werden. In ihrer politischen und kulturellen Entwicklung haben die einstigen DDR-Bürger ihre westdeutschen Konkurrenten überholt, ohne sie wirklich eingeholt zu haben und auf diese Weise fUr den posthumen Erfolg des ostdeutschen Wertesystems gesorgt, wie es sich im unerfüllten Versprechen Walter Ulbrichts ausdrtlckte, der in den 60igem vom Überholen ohne Einzuholen sprach. Mit dieser Behauptung wiederhole ich nicht nur das gängige Argument vieler Ostdeutschen, dass sie vom sozialistischen Erbe die hohe Fertigkeit im Umgang mit Mißständen und die Improvisationsfliliigkeit ins vereinigte Land eingebracht hätten. Ganz im Gegenteil verfechte ich die These, dass Ostdeutsche ein ganz neues Repertoire an Fähigkeiten erworben haben, die meisten von ihnen unbewußt. Sie haben gelernt, in einer Gesellschaftsstruktur zu leben, die sich durch hohe geographische und soziale Mobilität auszeichnet; die auf Flexibilisierung und berufliche Unsicherheiten baut und auf das Bewußtsein der globalen Kräfte des Marktes, dem sie sich zunehmend unterordnet; eine Struktur, die erhöhter Individualisierung und sozialer Fragmentierung das Wort redet, deren Kommunikationsnetz sich nahezu ausschließlich aus den kommerzialisierten elektronischen Massenmedien speist, die das wachsende Konsumpotential als vorrangige Größe fUr soziale Legitimation begreift. Obwohl solch eine Gesellschaftsordnung und die mit ihr verbundenen Werte den Mitgliedern hochentwickelter, postindustrieller, westlicher Gesellschaften geläufig sind, stellen diese Anforderungen fllr die Ostdeutschen einen radikalen Bruch mit ihrer bisherigen Lebenserfahrung dar, die sich an einer stagnierenden, wenn nicht gar
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statischen, äußerst kargen sozioökonomischen Gemeinschaftsordnung orientierte. Dank der durch die Einheit induzierten Schocktherapie waren die Ostdeutschen jedoch nicht nur zur raschen Anpassung an irgendein System gezwungen, sondern an eine spätkapitalistische Konsumgesellschaft in Reinform, die sozusagen das Musterbeispiel für einen erbarmungslosen Schlagabtausch im internationalen Wettbewerb abgibt, die das Sozialstaatsprinzip ständig weiter verringert und das Nonplusultra an Lebensqualität durch allgegenwärtige Einkaufszentren, Mobiltelefone und im Autohandel verwirklicht sieht. Natürlich charakterisieren diese Werte auch die westdeutsche Gesellschaft. Dort wurden die Auswirkungen jedoch durch graduelle Gewöhnung, ein größeres Durchschnittseinkommen, Arbeitsmarktsicherung, den Einfluß der Gewerkschaften und die verbliebenen sozialstaatliehen Regularien aufgefangen. Dieser Crashkurs in postmodernem Wirtschaftsgebaren katapultierte die Ossis sozusagen von heute auf morgen auf den gemeinschaftlichen Weg mit den Wessis in die globalisierte neoliberale Gesellschaft, diesen allerdings des raschen Anpassungsdrucks wegen immer eine Nasenlänge voraus. Ich stützte diese Behauptung auf die Ergebnisse einer achtjährigen Feldstudie, der die Befragung von durchschnittlichen Ostdeutschen und ihren Erfahrungen mit der deutschen Einheit zugrunde liegt. Zwischen 1990 und 1991 befragte ich 202 zuflillig ausgewählte frühere DDR-Bürger und -Bürgerinnen sämtlicher Altersgruppen und unterschiedlicher sozio-ökonomischer Vorbedingungen aus vier Regionen (aus dem südlichen Thüringen, dem Dreistädte-Eck Halle-LeipzigJena, aus Ost-Berlin und aus Vorpommern). In ausfUhrliehen und persönlichen Interviews mit jeweils über 200 offenen und geschlossenen Fragen erfuhr ich Einzelheiten aus dem Leben, den Erfahrungen und den politischen Positionen meiner Gesprächspartner um die abrup-ten Ereignisse der sogenannten Wende zwischen 1989 und 1990. Außerdem erhielt ich Einblick in ihre ersten Eindrücke von der Wiedervereinigung. 1 Drei Jahre später wiederholte ich die Befragung bei 40 der ursprünglichen Gesprächspartner, um ihren Erfahrungen mit dem raschen sozialen Umbau seit dem Zusammengehen der beiden Staaten nachzugehen und 1998 konnte ich sogar 80 der Erstbefragten ausfmdig machen und sie über den weiteren Verlauf der Anpassung an die neuen sozialen Verhältnisse befragen. Während ich die Betroffenen in den Jahren 1990-91 noch in vorsichtiger, aber zustimmender Erwartung der dramatischen Lebensveränderungen antraf, waren sie 1994 bereits wieder so weit, sich mit dem alten System auszusöhnen. Ihre intellektuelle Einstellung den neuen Anforderungen gegenüber hatte wieder Raum fiir die emotionale Verbundenheit mit Teilen 1 Vgl. Laurence McFa/Js, Communism's Collapse, Democracy's Demise? The Cultural Context and Consequences ofthe East German Revolution, New York, New York University Press, 1995.
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der alten Ordnwtg geschaffen. 2 1998 schien es mir schließlich offensichtlich, dass meine Gesprächspartner aufgrwtd der frappierenden Ähnlichkeiten ihrer Erlebnisse wtd Einstellwtgen am Ziel "angekommen" wtd sich ihrer neuen Lebenswelt dauerhaft angepaßt hatten.3 Es war klar, dass sie sich wenigstens teilweise mit der DDR-Vergangenheit wtd den Werten des alten Systems identifizierten wtd dass sie von ihren westdeutschen Landsleuten wtterscheidbar waren. Ihr kultureller Bezugsrahmen hatte jedoch gänzlich gewechselt wtd die Formen der postindustriellen, postmodernen gesellschaftlichen Realität mit übernommen. Das Bild vom sogenannten Durchschnittsossi, das meine Interviews zu Tage llirderten, korrespondiert keineswegs mit gängigen Stereotypen, dennoch ist es auffallend vertraut. Die Ossis sind keine nostalgischen Nörgler, widerstrebend jeder Neuerwtg gegenüber wtd gezeichnet vom sozialistischen Unrechtssystem, wie dies die westlichen Medien wtd Wissenschaftler gerne streuen.4 Stattdessen geben sie das typische Bild der gequälten, besorgten, sozial isolierten, politisch desillusionierten, daftlr umso eifriger konsumierenden Bürger einer postindustriellen Gesellschaft um die Jahrtausendwende. Tatsächlich behaupte ich, dass die Ostdeut-schen die Überleitung vom Sozialismus in den Kapitalismus längst persönlich vollzogen haben. Vollzogen, aber nicht nachvollzogen. Mit anderen Worten: der kulturelle Einigwtgsprozess ist zwar de facto abgeschlossen, wird von seinen Trägem jedoch noch nicht entsprechend empfunden und intellektuell umgesetzt. Mit dieser Behauptung stehe ich freilich im Widerspruch zur Meinwtg der Befragten, die alle explizit bestritten, dass der Prozeß der deutschen Einigwtg abgeschlossen sei. Ob jwtg oder alt, arm oder reich, allesamt waren sie der Ansicht, dass sie das Ende des deutsch-deutschen Zusammenwachsens nicht mehr zu Lebzeiten erfahren würden. Denn ihrer Sicht der Dinge zufolge würde eine entsprechende Schließwtg der deutschen Doppelakte die zweifelsohne wtausfilhrbare wtd wahrscheinlich wterwünschte Uniformierwtg wtd Standardisierwtg der Lebensbedingwtgen wtd Mentalitäten der Menschen aus den alten wtd den 2 Vgl. Laurence McFalls, Political Culture, Partisan Strategies, and the POS: Prospects for an Eastem German Party, German Politics and Society, Band 17, Nr.. I (Frühjahr 1995). 3 Obwohl es statistisch gesehen unwahrscheinlich sein mag, daß die Ergebnisse von bei 80 Ostdeutschen durchgefuhrten Befragungen mit all ihren Nuancen fur die Gesamtbevölkerung reprasentativ ist, stimmen die Aussagen der Oberwaltigenden Mehrheit der Befragten hinsichtlich der zentralen Fragen-komplexe dennoch auf bemerkenswerte Weise miteinander oberein. 4 Detlef Pollack, Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung: Der Wandel der Akzeptanz von Demokratie und Marktwirtschaft in Ostdeutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte, Bl3/97 (21 March 1997), widerlegt was er die "Deformationsthese" und ihre ,,Annahme der Persistenz," nennt. Er argumentiert, dass die Ostdeutschen sich nicht stllndig vor ihren DDR-Erfahrungen furchten, sondern sich logischerweise dagegen wehren, dass sie im tagespolitischen Dialog, sobald sie Kritik an deutschen Institutionen oben, kaltgestellt werden.
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neuen Ländern bedeuten.5 Um wieder das Bild Ulbricht's aufzugreifen: sie hatten noch nicht realisiert, dass es ihnen längst gelungen war, den Westen zu überholen, ohne ihn elnzuholen. So gesehen fahren Ostdeutsche fort, gegenüber den Westdeutschen Unterschiede hinsichtlich Lebenserfahrung, Chancen und Interessen zu empfinden, was jedoch nicht bedeutet, dass sie deshalb nicht zur seihen Gesellschaft und zur seihen Kultur gehören. Die beiden Lager unterscheiden sich im sozialen Ansehen, nicht aber in ihrer gesellschaftlichen Bezogenheit. Kultur gründet auf dem Repertoire konkurrierender Werte, Normen und Symbolik, die soziale Kommunikation und normalerweise auch die Reproduktion der sozialen Struktur erlauben. Zusätzlich charakterisieren, wie in Teil II zu zeigen sein wird, fundamentale Widersprüche jede Kultur, Widersprüche, welche die strukturellen Spannungen einer Gesellschaft widerspiegeln, aber auch abschwächen, weil Kultur grundsätzlich in der Lage sein ums, die Differenzen zwischen ihren Trägern auszugleichen: in Bezug auf das historisches Gedächtnis und auf die gegenwärtige Erfahrung des Konfliktpotentials innerhalb der jeweiligen sozialen Struktur. Während meiner Befragung wurde offensichtlich, dass die Gesprächspartner, die 1990/91 praktisch durch ihre Angst vor der neuen Gesellschaft, in die sie hineinkatapultiert wurden, wie gelähmt waren, 1994 darum rangen, die Anhänglichkeit an das alte Wertesystem auf die Erfordernisse der neuen Gesellschaft abzustimmen und 1998 endlich im Hafen der spätmodernen kapitalistischen Konsumgesellschaft und deren Widersprüchen gelandet waren. Dieses Ergebnis möchte ich anband einer qualitativen Beschreibung der allgemeinen Ergebnisse meiner letzten Befragungsrunde belegen. Manches des soeben Skizzierten dürfte bereits bekannt sein, um nicht zu sagen phrasenhaft, was jedoch nicht stören sollte; fiihren doch selbst Banalitäten gelegentlich zu neuen Erkenntnissen.
I. Die Ostdeutschen im Baufieber Wenn man einen ehemaligen Bürger der DDR nach den auffiUligsten Veränderungen in seinem näheren Umfeld seit der Wende befragt, dann bekommt man, unabhängig davon, wo und wie er lebt, immer die gleiche Antwort. Es würde endlich gebaut und saniert, Fassaden und Hinterhöfe renoviert und ungezählte Einkaufsmöglichkeiten auf der grünen Wiese und in alten Hallen errichtet. Man freut sich unzweideutig über die dadurch entstehende Verbesserung der materiellen 5 Nur einer der Befragten gab eine erheiternde und originelle Antwort auf meine Frage: "Wann wird Ihrer Ansicht nach der Prozeß der deutschen Einheit abgeschlossen sein?" (bzw. falls bereits geschehen: "wie und wann ist Ihnen bewußt geworden, dass die Einheit vollzogen wurde?" Ein Elektroingenieur aus Ostberlin antwortete daraufhin: "Sie haben mich nun schon 7 Jahre mit diesen Fragen verfolgt. Wenn Sie nicht mehr hier auftauchen werden, dann endlich weiß ich, dass die Einheit geschaffi ist."
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Lebensqualität, spürt jedoch sofort ein Unbehagen über das Leben in der spätmodernen Konsumgesellschaft, die auch die Ostbürger wie ein Lauffeuer ereilt hat. Denn die materielle Sicherung der Lebensqualität stillt das Bedürfnis nach Veränderung nicht und räumt auch die Sorgen und Ängste über die Zukunft nicht aus. So vermittelten die Befragten ein Gefiihl der Unsicherheit und der Besorgnis über die Entwicklung der Jugend, die hohe Arbeitslosigkeit, und vor allem die wachsende Kriminalität. Das Gefiihl der Unsicherheit rührt vielleicht daher, dass die Entwicklung der Gesellschaft kaum beeinflußbar scheint. Zumindest haben es die wenigsten meiner Befragten versucht, sich durch Teilnahme an der aktiven kommunalen oder überregionalen Politik oder durch entsprechendes Engagement in gemeinnützigen Organisationen gesellschaftlich einzubringen. Jene, die es dennoch versucht haben, gewannen die Erkenntnis, dass die Möglichkeiten der Einflußnahme, wenn auch größer als zu DDR-Zeiten, stark begrenzt sind. Ein Großteil der Befragten schilderte, dass sie diese Erfahrung auch in ihrem Arbeitsleben gemacht hätten. Die meisten von ihnen gehören als Berufstätige zwar einer Gewerkschaft an, vermögen jedoch selbst, wenn sie dort engagiert sind, also selbst als Betriebs- bzw. Personalräte kaum die Interessen der Arbeitnehmer durchzusetzen. Im Einzelfall kann höchstens Rechtsschutz im Falle der Kündigung gewährt werden, so dass viele der Befragten - wie es unter anderem hieß - Gefiihle der "Ohnmacht ohne Angst" beschreiben. Ganz angstfrei geht es im Berufsalltag offenbar nicht zu, denn fast einstimmig berichteten meine Gesprächspartner nicht nur von Angst um ihren Arbeitsplatz, sondern auch von Angst an ihrem Arbeitsplatz. Nur die wenigsten zeigten sich vom Betriebs-klima erbaut. Mißtrauen und Zwistigkeiten bestimmen den Umgang miteinander und Freude zeigten nur jene, die vorzeitig in Rente gingen bzw. "gegangen wurden" und auf diese Weise um die gespannte bis feindliche Arbeitsatmosphäre herumkamen. Meine Befragten bestätigten demnach die verbreitete Ansicht, dass die ehemaligen DDR-Bürger die Suspendierung der Arbeitsstrukturen in den einstigen Kollektiven als Verlust empfmden. Weniger eindeutig ging es bei der Einschätzung der zwischenmenschlichen Beziehungen außerhalb der Arbeitswelt zu, d.h. bei der Bewertung des Zusammenlebens im jeweiligen Wohnviertel und im Familien- und Freundeskreis. Die starke Familienbezogenheit scheint überlebt zu haben, aber die Solidarität zwischen Freunden und Nachbarn ist nicht mehr so ausgeprägt wie früher. Einerseits ist jeder mit sich selbst und der Sicherung seines Arbeitsplatzes beschäftigt, andererseits fiihlen sich fast alle einem ständig wachsenden Zeitdruck ausgeliefert. Nur die Rentner vermittelten Freude über ihre Freiheit, sich den Zwängen der neuen Epoche entziehen zu könne. Obwohl etliche der Befragten angaben, ihre Beziehungen umso intensiver zu pflegen, waren sich alle einig, dass sie seit der Wende wesentlich weniger Zeit filreinander und filr gesellschaftliches Engagement hätten. Diese Entwicklung wurde
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einstimmig als eine Konsolidierung der sogenannten Nischengesellschaft interpretiert. Die retrospektive Umbewertung der Nischengesellschaft der DDR ist in der Tat eines der interessantesten Ergebnisse der Befragung von 1998. Vor sieben Jahren hatte sich die überwiegende Mehrzahl meiner Gesprächspartner als Angehörige einer Nischengesellschaft verstan-den, die sich ganz aus dem öffentlichem Leben verabschiedet hätten. Aus heutiger Perspektive erscheinen die Nischenjedoch nicht als die letzten Refugien einer der staatlichen Kontrolle unterstehenden Privatsphäre, sondern ganz im Gegenteil als gemeinschaftliche Freiräume, um nicht zu sagen als Keimzellen einer florierenden Zivilgesellschaft, die seit der Wende durch immer stärkere Individualisierungszwänge atomisiert wurde. Ob diese Einschätzung stimmt oder nicht, ist weniger wichtig als die Tatsache, dass sich die Ostdeutschen heute gesellschaftlich isolierter fühlen als je zuvor. Die retrospektive Aufwertung der früheren Nischengesellschaft sollte jedoch nicht als nachträgliche Romantisierung des totalitären Staates gesehen werden. Die Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft scheint nicht mit einer Verklärung der DDRVergangenheit verbunden zu sein. Die Befragten wehrten sich zwar gegen den Druck, die jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten, nicht jedoch weil sie einen Schlußstrich ziehen wollten, sondern weil sie meinten, dass dadurch von den Ungerechtigkeitendes gegenwärtigen Systems wie auch von den Verbrechen der gemeinsamen deutschen Geschichte abgelenkt werden würde. Das Unrecht des alten Staates wurde unverhohlen zur Sprache gebracht. Die Befragten vertraten die Ansicht, dass wenigstens ein Teil der Rechtsverletzungen und politischen Verbrechen wie etwa Zwangsenteignungen und die Kriminalisierung der Systemgegner eventuell wiedergutgemacht werden könnte. Insgesamt überwogen in der Erinnerung die Schattenseiten der DDR und kaumjemand gab an, den alten Staat zu vermissen. Diese Kritik beinhaltete jedoch nicht eine generelle Ablehnung aller früheren Werte. Der Bezug auf erhaltenswerte Einrichtungen wie Kinderkrippen und Tagesstätten war jedoch nicht mit der Behauptung verbunden, dass diese sozialen Errungenschaften lediglich ein Kind des Sozialismus seien. Sie wurden also nicht gegen die bundesrepublikanische Gesellschaftsordnung ausgespielt, die ja wie auch in anderen, vor allem linksliberalen Varianten des Kapitalismus auf ausgeprägte sozialstaatliche Strukturen zurückgreifen kann. Die Befragten differenzierten also durchaus und wogen die Vor- und Nachteile der beiden sozialen Systeme gegeneinander auf. Der DDR wird folglich nicht nachgetrauert. Für die meisten ist sie ein abgeschlossenes Kapitel der Lebensgeschichte, wie die Antworten bei einem Wortspiel skizzieren. Am häufigsten wurde "DDR" mit den Wörtern "vorbei" und "Vergangenheit' assoziiert. Dementsprechend bedauert so gut wie keiner die Wiedervereinigung. Obwohl die Mehrzahl behauptet, dass sie im Falle eines Überlebens der DDR halbwegs glücklich weitergelebt hätte, sind fast alle im Großen und Ganzen mit ihrem Leben im vereinten Deutschland zufrieden. Unabhängig davon wie euphorisch oder verhalten
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die Befragten zur Zeit des Mauerfalls waren, stehen sie heute den Tatsachen nüchtern und realistisch gegenüber. Alle schätzten und profitieren von der einst so ersehnten Reisefreiheit Freude herrscht auch darüber, dass niemand mehr am Gängelband einer Partei liegt, allerdings wird beklagt, dass auch der vereinigte Staat kein reiner Dienstleistungsbetrieb ist, sondern seine Bürger bevormundet. Materiell hat sich das Leben fiir die meisten verbessert. Fast jeder hat neue Fenster, eine neue Heizung und einen neuen Wagen. Autos werden mittlerweile als unbedingte Lebensnotwendigkeit gesehen. Die Geldbeutel sind durch Gehalt, Rente oder Arbeitslosenunterstützung in der Regel prall genug, um die größten Konsumbedürfuisse zu stillen - Tendenz steigend. Der neuen Konsumwut wird meistens durch Großeinkäufe in den neuen Warentempeln begegnet, die bei den einen als unterhaltsam und praktisch gelten und bei den andern als Zerstörer des Kleinhandels und als Prototypen fiir ein zunehmend entwürdigendes und in die Anonymität gedrängtes Dasein. Diese geteilte Meinung zu Großeinkaufszentren verweist bei fast jedem auf eine gespaltene Haltung, denn obgleich das Positive - noch - überwiegt, steht der Ostdeutsche der neuen Gesellschaftsordnung widersprüchlich gegenüber. Obwohl fast jeder materiell gut gestellt, zumindest wesentlich besser gestellt ist als je zuvor, wird ein düsteres Bild über die gesamtgesellschaftliche Lage gezeichnet. Dieser Widerspruch, der in allen Umfragen auf dem Gebiet des einstigen Arbeiter- und Bauernstaates auftaucht, ist jedoch genau besehen keiner, denn die horrenden Arbeitslosenzahlen sind kein abstraktes gesellschaftliches Phänomen. Fast jeder meiner Befragten hat die Arbeitslosigkeit persönlich oder zumindest innerhalb der engeren Familie zu spüren bekommen. Zwar sind die meisten durch Überbrückungsprogramme in die Rente gehievt oder durch persönliche Kontakte an neue Stellen vermittelt worden. Aber allzu oft zog ein Wechsel entweder das vorzeitiges Ausscheiden aus dem Dienst nach sich oder eine berufliche Schlechterstellung, verbunden mit einem Status- bzw. Lohnverlust Andere meiner Gesprächspartner sind durch die politischen und wirtschaftlichen Eruptionen an bessere und interessantere Arbeitsstellen gelangt. Aber diese vordergründig erfreulich Entwicklung ist fast immer mit Überstunden, Konkurrenzkampf und erhöhtem Zeit- und Leistungsdruck verbunden. So zeigt sich fast jeder Ostdeutsche verärgert und verständnislos einem Mechanismus gegenüber, der so viel Ungleichheit in der Arbeitsverteilung und Entlohnung produziert. Gerade aus dem Vergleich mit einem System, das fiir die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft den gleichen qualitativen und quantitativen, wenn auch nur bescheidenen Wohlstand garantierte, schneidet die freie Marktwirtschaft wesentlich schlechter ab. Sie wird als ungerecht empfunden, weil den Konkurrenzkampf nur die Rücksichtslosen und Einflußreichen bestehen, jene, die ohnehin schon alles haben, während sie dem ehrlichen und bescheidenen kleine Mann nur "das letzte Hemd ausziehen".
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Ob diese verhaltene Einstellung zur Marktwirtschaft eine Folge der konkreten Erfahrung mit dem Kapitalismus seit der Einigung ist oder noch in der politischen Sozialisierung der DDR wurzelt, ist schwer einzuschätzen. Für die einen gehört die soziale Ungleichheit und der vielfliltige Ausdruck von Ungerechtigkeit zur immanenten Logik des Kapitalismus, fiir die anderen ist diese Misere eher das Ergebnis schlechter Politik und auf die Dominanz bestimmter Interessengruppen zurückzufilhren. Ebenso wird die Zerstörung und der Ausverkauf der noch konkurrenzOOligen Teile der einst planwirtschaftlich gesteuerten Betriebe gewertet. Die einen leiten diese Entwicklung aus den unvermeidbaren Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus ab, fiir die anderen ist sie eine Folge von Korruption und Inkompetenz der Treuhand. Geteilte Meinung herrscht auch über die Frage nach dem ,,Dritten Weg" und ob ein anderes System als die Marktwirtschaft heute noch realisierbar sei bzw. ein System vorstellbar wäre, das den marxistischen Lehren weiterhin Raum ließe. Trotz dieser unterschiedlichen Standpunkte zur gegenwärtigen Bedeutung des marxistischen Erbes herrscht Einigkeit in der Auffassung, der Sozialismus der DDR könne nicht ihren geistigen Urhebern zugeschrieben werden. Die frühen Helden des Sozialismus wie Marx selbst, Rosa Luxemburg und Kar! Liebknecht, aber auch der "kleine Arbeiter-Präsident'' der DDR, Wilhelm Pieck, erreichen demzufolge noch hohe Sympathiewerte bei vielen der Befragten. Man mag darin noch einen Rest an Loyalität der neuen Bundesbürger zur einstigen DDR und dem Sozialismus erkennen, aber diese Treue gegenüber der eigenen Vergangenheit sollte nicht als Störfaktor fiir die Integration der Ostdeutschen in das politische System der Bundesrepublik ausgelegt werden. Die meisten meiner Befragten fiihlen sich heute im vereinten Deutschland zuhause. Nur noch sehr wenige beschreiben ihre Identität als die eines "ehemaligen DDR-Bürgers" und knüpfen damit an die in den Umfragen Anfang und Mitte der 90iger Jahre noch vorrangigen Aussagen an. Mit den Westdeutschen kommt die Mehrheit beim persönlichen Kontakt gut zurecht, manchmal können sogar Vorurteile durch Gespräche abgebaut werden. Im allgemeinen werden die Wessis jedoch immer noch als arrogant und oberlehrerhaft empfunden. Sie seien gute Schauspieler und vor allem gute Selbstdarsteller, wird behauptet. Dagegen hätten die bescheidenen und improvisationsfreudigen Ostdeutschen immer noch Probleme, sich ihren Fähigkeiten entsprechend zu verkaufen. Alle Befragten sind sich jedoch einig, dass die Unterschiede zwischen "Ossis" und "Wessis" im Verschwinden begriffen sind. Bis zur endgültigen Aufhebung, meinen sie, würden sich noch Generationen zusammenraufen müssen. Mit am größten klaffen die Meinungen zwischen Ost- und Westdeutschen in der Frage der Einschätzung des politischen Systems der BRD auseinander. Die wenigsten meiner Gesprächspartner bejahten die Behauptung, dass es sich bei den politischen Institutionen Gesamtdeutschlands um die besten der deutschen Geschichte handle. Diese negative Bewertung des liberaldemokratischen politischen
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Systems der Berliner Republik - eine Einstellung, die im Spiegel der fatalen deutschen Vergangenheit unverständlich erscheint - sollte jedoch nicht, wie in der Meinungsforschung üblich, als antidemokratisches Verhalten ausgelegt werden. Meine Befragten drückten damit eher die Enttäuschung ihrer in der Wendezeit hochgeschraubten und unrealistischen demokratischen Erwartungen aus. Zwar habe man, so hieß es, das Recht erhalten, über Politiker frei von der Leber weg zu schimpfen, aber ändern könne man dadurch auch nichts. Wie bereits skizziert, fiihlen sich meine Gesprächspartner häufig ohnmächtig, links liegen gelassen und als Bürger zweiter Klasse. Dazu, so hieß es weiter, komme noch eine übermächtige und unbekannte Bürokratie, in der man inzwischen jedoch gelernt habe, sich durchzuboxen sowie die Tatsache, dass die fetten Jahre der Bundesrepublik schon vor der Vereinigung passe gewesen seien. Die Markwirtschaft habe ihr soziales Antlitz verloren und hervorragende Persönlichkeiten, vom Bundespräsidenten vielleicht abge-sehen, seien rar. Zur Wahl gehen meine Befragten weniger, weil sie von der Effektivität des Wählens überzeugt sind als aus dem Glauben, dass dies notwendig sei, um sein Recht zu behalten, über die Ergebnisse zu schimpfen. Keine Partei erweckt bei ihnen große Hoffnungen. Die CDU sei unglaubwürdig, die SPD kaum besser, die FDP abscheulich, die Grünen zu weltfremd und die extreme Rechte unwählbar, auch wenn ihre populistischen und ausländerfeindlichen Themen bei meinen Gesprächspartnern ein gewisses Echo fmden. Selbst die PDS, die bei mehreren meiner Befragten, sei es aus Überzeugung, sei es aus Protest, hie und da Stimmen gewann, hat ihren einstigen Glanz verloren. Obwohl sie bei den Befragten in Berlin und Vorpommern noch knapp an erster Stelle steht, sind mehrere ihrer Anhänger ausgetreten oder enttäuscht, weil sich Gysi und seine Truppe einerseits als zu belastet und andererseits in der politischen Ausrichtung als zu vage und zu perspektivlos erwiesen habe. Falls die Aussagen meiner Befragungsgruppe zu verallgemeinem wären, hätte die PDS ihre Rolle als Ostinteressenpartei bereits verfehlt. Damit ließe sich sagen, dass es zwar ein Kollektiv gibt, das ich ostdeutsche Erfahrungsgemeinschaft nennen möchte, dass sich diese, wie die Umfrage gezeigt hat, jedoch nicht parteipolitisch mobilisieren oder instrumentalisieren lässt. Damit stellt sich die Frage, welche politische und gesellschaftliche Bedeutung dieser Erfahrungsgemeinschaft zukommt. Ich möchte behaupten - hier komme ich auf die in der Einleitung aufgestellte These zurück -, dass meine Umfrage ein verblüffendes und als solches bisher nicht diskutiertes Ergebnis zutage förderte: der deutsche Einigungsprozeß ist de facto längst vollzogen, auch wenn dies keiner meiner Befragten so sieht und auch in der Meinungsforschung in Abrede gestellt wird. Dies leite ich aus dem kulturellen Perspektivenwechsel meiner Gesprächspartner ab, der von einem DDR spezifischen in einen gesamtdeutschen mündete. Alle Antworten haben diese Sichtweise bestätigt. Mit anderen Worten: die einst auf die DDR fixierte kulturelle Identität der Ostdeutschen wurde weder beibehalten,
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noch durch die westliche der Bonner Republik ersetzt, sondern in eine neue gesamtdeutsche Identität um- und ausgebaut. Vor allem meine letzte Umfrage erhärtet diese Sichtweise. An ihr läßt sich ablesen, dass die Befragten nicht mehr in DDR-typischen Kategorien denken, sondern die neuen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit all ihren Widersprüchen verinnerlicht haben. Eine Anekdote mag diese Behauptung illustrieren.
In Halle sprach ich mit einem Ehepaar, das typische Nachwendeerfahrungen mit Arbeitslosigkeit, Umschulungen und Vorruhestand gesammelt hatte. Die Frau erzählte, dass sie zu DDR-Zeiten die seelische Belastung, die Arbeitslosigkeit mit sich bringen kann, nie begriffen hätte. "Wir waren damals bestens über die Bundesrepublik durch Westfernsehen und Westbesuch informiert. Wir haben aber nie verstanden, wie die Westdeutschen sich über Arbeitslosigkeit beschweren konnten, denn wir sahen, dass die Arbeitslosen mit dem eigenen Auto zum Arbeitsamt gefahren sind." Nur wenige Minuten nach dieser Erklärung schob ihr Mann den Satz nach: "Heute bekommen wir keinen Parkplatz am Arbeitsamt in Halle." Mit dieser Bemerkung faste er vielleicht am besten die heutige Lage der Ostdeutschen zusammen. Sie sind in der neuen Gesellschaft, und zwar mitten in ihrem Hauptwiderspruch gelandet: existenzielle Unsicherheit bei materiellem Überfluß. Eine weitere Anekdote ergänzt dieses Bild: Eine Befragte in der Nähe von Jena erzählte mir von politischen Enttäuschungen, Arbeitsproblemen und all den seelischen Belastungen, die der Fall der Mauer in ihrer Familie mit sich brachte. Als sie aber eine persönliche Bilanz der Vereinigung zog, fiel diese -wie übrigens bei fast allen Befragten - positiv aus, denn schließlich würde sie sich doch freuen, dass sie nun zum Geburtstag im Januar immer frische Blumen auf den Tisch bekäme. Anders gesagt: die Blumen kommen auch ohne, dass sich die "blühenden Landschaften" des alten Kanzlers realisiert hätten, stets frisch auf den Tisch. Solche Antworten auf meine Fragen untermauem die Behauptung, dass sich die Ostdeutschen in die Widersprüchlichkeiten der spätindustriellen Überflußgesellschaft eingelebt haben. Zu meinem Erstaunen vermochten nur die wenigsten meiner Befragten von größeren Schwierigkeiten bei der Umgestaltung ihres Lebens seit der Wende berichten. Obwohl fast jeder die Vereinigung der beiden Staaten als einen wichtigen Einschnitt in der persönlichen Biographie erlebt hat, blieben die meisten dabei, dass sie fast nahtlos, das heißt. ohne bemerkenswerte Brüche im Lebensgefilhl, in die gesamtdeutsche Gesellschaft gerutscht seien. Aus diesem Grund hatten sie auch Schwierigkeiten, sich eindeutig als Gewinner oder Verlierer einzustufen. Klare Gewinne oder Verluste wären als Bruch empfunden worden. Interessant sind in diesem Zusam-menhang ferner die Antworten auf meine abschließenden Fragen, welche meine Gesprächspartner dazu bewegen sollten, den historischen Prozeß der letzten zehn Jahre zu reflektieren. Darauf gaben sie überwiegend an, dass sie heute ein ganz anderes Verhältnis zu ihren Mitmenschen, zur Zeit, sogar zu ihrem Körper
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hätten und ihre Zukunftserwartungen auch nicht mehr die gleichen wären. Sie seien sozusagen in eine neue Kultur geschlüpft. Die Tatsache, dass ihnen diese radikale Anderssein vorher nicht aufgefallen war, werte ich als Zeichen dafilr, dass ihnen die neue kulturelle Wertigkeit im Alltag schlicht selbstverständlich wurde. Es lohnt sich, einige Details, die zu dieser Schlußfolgerung filhrten, wiederzugeben. Als ich gegen Ende meiner Umfrage wissen wollte, ob sie die DDR vermissen würden, antworteten alle Befragten ausnahmslos mit Nein, fUgten jedoch sofort ungefragt etliche Beispiele fi1r Lebensformen an, die ihnen heute fehlen würden. Erwähnung fand etwa der viel langsamere und stressfreiere Lebens- und Arbeitsrhythmus. Diese Antwort war insofern frappierend, als sie mir zeigte, dass meinen Gesprächspartnern erst durch die von mir provozierten Fragen wieder bewußt wurde, dass sie einst ein anderes Zeitmaß besaßen. Thre Wertigkeit hatte sich also, wenn auch unfreiwillig, geändert. Thre Vorstellungen entsprachen dem Kanon der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und konnten nur durch ungewohnte Abläufe "aufgebrochen" und in der Erinnerung auf das alte Maß zurUckgeschraubt werden. Ein anderes Beispiel ziehe ich aus zwei unabhängig voneinander gefilhrten Interviews. Beide Gesprächspartner gaben an, die weit verbreiteten Nacktbadestrände der DDR zu vermissen. Sie berichteten, dass in den 80iger Jahren jeder Strand eine Option filrs Kleidertragen hatte, die Badenden also völlig frei in ihrer Entscheidung waren. Die Ostdeutschen hätten daraufhin nur sehr wenige Probleme mit Spannern gehabt. Seit der Einigung seien die Strände jedoch wieder strikt unterteilt worden, was dazu fiihrte, dass sich viel weniger Leute fi1rs Nacktbaden entschieden. Die neue Badeordnung, die dem Standard der alten BRD-Etikette entspricht, hatte so gesehen ein anderes Körperbewußtsein zur Folge. Die Leute sehen heute stärker den Warencharakter ihres Körpers und sind insgesamt besorgter um ihr Aussehen. Wie bei der Erinnerung an die alte Langsamkeit zeitigte die Erinnerung an die alten Gewohnheiten der Körpersprache, dass sich die neue Ordnung verfestigt hatte und von den Befragten verinnerlicht worden war. Die neue soziale Struktur sowie die neue Kultur, zu der die Ostdeutschen heute gehören, ist selbstverständlich nahezu identisch mit derjenigen Westdeutschlands, selbst mit derjenigen Nordamerikas. Die Neubundesbürger erfahren jedoch diese Ordnung in einem grelleren Licht und ihre kulturellen WidersprUche viel zugespitzter als die Bürger der Bonner Republik. Einige der Befragten, die viel Gesellschaftskritik an den Tag legten, gaben an, ähnlich extreme Erfahrungen bereits kurz vor dem Zusammenbruch des alten Staates gemacht zu haben. Damals waren es die WidersprUche zwischen den schönen Parolen der sozialistischen Ideologie und dem trüben Alltag; heute filllt ihnen der Widerspruch zwischen den zeitsparenden Annehmlichkeiten einer hochmodernen Gesellschaft und dem immer eklatanteren Zeitmangel oder der Widerspruch zwischen Überstunden und Arbeitslosigkeit auf .
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Auch die Untragbarkeit einer Politik, die auf Kosten des ökologischen Gleichgewichts und der Schwellenländer immer höhere Wachstwnsraten anpeilt, sind ihnen schnell bewußt geworden. Die meisten Befragten äußerten jedoch nur das typische Unbehagen, dass die Postmodeme begleitet, seit mit dem Ende der Modeme auch ihr Fortschrittsglaube erschüttert wurde. Ganz gleich wie der Einzelne den postmodernen Rahmenbedingungen gegenübersteht, ganz gleich ob er sie überhaupt anerkennt, orientiert sich der Ostdeutsche wie seine Landsleute im Westen an ihren ungeschriebenen Gesetzen und mischt in der vordersten Reihe der Trendsetter mit, hilft eine Gesellschaft mitbauen, die zunehmend auf soziale und geographische Beweglichkeit setzt, ein hohes Maß an wirtschaftlicher Dynamik und Flexibilität anpeilt und die damit verbundenen Unwägbarkeiten in Kauf nimmt, eine Gesellschaft, die soziale Desintegration, kulturelle Fragmentierung, Botpolitisierung und den Zerfall traditioneller Parteibindungen produziert. II. Widerspruch als Verwandlungs- und Annäherungsprozess Verkürzt gesagt zeugen meine Interviews zwischen 1990 und 1998 von einer bemerkenswerten Umschichtung der kulturellen Werte auf dem Gebiet der einstigen DDR. Solch ein dramatischer Wechsel verlangt nach Erklärung. Je nach theoretischem Vorverständnis über die Beschaffenheit der menschlichen Natur mag die Begründung fiir diesen atemberaubenden Wechsel subjektiver Ausrichtung entweder als selbstver-ständlich oder als unbegreiflich ausfallen. Gehen wir mit den Annahmen deijenigen Theoretiker, die wie die Vertreter der rational choice theory eine rationale Erklärung liefern und behaupten, dass die Verfolgung von Eigeninteressen von der Vernunft gesteuert ist und den größten Teil des menschlichen Sozialverhaltens bestimmt, dann wäre die rasche ostdeutsche Angleichung an die Anforderungen der postindustriellen kapitalistischen Konsumgesellschaft kein Problem; vor allem weil der unzweideutige ad-hoc-Transfer von westdeutschen Fachkräften und Institutionen in den Osten es offensichtlich machte, worin die "wahren" Interessen der rational handelnden Akteure lagen. Gehen wir jedoch umgekehrt mit der Annahme kultursoziologischer Theoretiker, dass das soziale Individuum in Übereinstimmung mit tief verankerten subjektiven Dispositionen handelt, die das ganze Leben hindurch vermöge wachsender Sozia-lisierungs- und Lernprozesse erworben werden, dann wäre der abrupte Orientie-rungswechsel, wie in meinen Interviews belegt, entweder ein rein oberflächliches oder ein unbegreifbares Verhalten. Andererseits enthält jeder theoretischer Ansatz einen wahren Kern. So läßt sich denn auch aus meinen Interviews ein Verhalten ablesen, das gleichzeitig rational und irrational interpretiert werden kann und von Menschen zeugt, die das rationale Bedürfnis äußern, sich aus diesen und jenen Gründen neuen Normen anpassen zu wollen, geftlhlsmäßig jedoch an den alten Werten hängen bleiben und dabei durchaus bequem mit diesem Widerspruch leben. Wir können
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jedoch andererseits nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und behaupten, dass die sozialen Akteure mal instrumentell handeln und sich den neuen gesellschaftlichen Bedingungen anpassen und ein anderes Mal in ihren sozialen Dispositionen gefangen bleiben, es sei denn es ließe sich eine theoretische Begründung anbieten, weshalb in bestimmten Situationen die einen so handeln, die andern anders oder beides zugleich tun. Bevor nach einer Theorie Ausschau gehalten wird, die brauchbare Erklärungen fiir die Konsolidierung, den Wechsel und die Widersprüche einer Kultur liefern könnte, müssen die bestehenden Ansätze auf ihr Für und Wider untersucht werden. So hätten die rational-choice-theoretiker meines Erachtens kaum Schwierigkeiten mit ihrer Annahme, weil eben nicht nur einzelne Akteure sich den strukturellen Anforderungen einer postindustriellen, vielleicht sogar postmodernen Gesellschaft in relativ kurzer Zeit erfolgreich stellten, sondern ein ganzes Kollektiv den Sprung in eine neue Kultur wagte. Es versteht sich von selbst, dass dieser kulturelle Transformationsprozeß weder einfach noch von heute auf morgen abgewickelt wurde. Dennoch zeugt er von einem überwältigenden Erfolg instrumenteller Vernunft. Aus meiner Sicht ist es jedoch ebenso wenig von der Hand zu weisen, dass die seihen Ostdeutschen, die ihren kulturellen Wandel so rational vollzogen, es an Rationalität fehlen ließen, als sie sich fiir die Massendemonstrationen entschieden, welche den Sturz des kommunistischen Systems 1989 einleiteten. Die quantitative und qualitative Analyse meiner ersten 202 Interviews belegt eindeutig, dass klassische vernunftgesteuerte Motive bei der Frage der Teilnahme an den Montagsdemonstrationen keine Rolle spielten: weder der drohende relative Verlust, noch die Wahrscheinlichkeit eines totalen Entzugs materieller Errungenschaften konnte sie von ihrem Vorhaben abbringen, auf die Straße zu gehen. Meine Gesprächs-partner berichten aus den Jahren unmittelbar vor dem Fall der Mauer von wachsendem Wohlstand und relativer materieller Zufriedenheit. Sie hatten also mehr zu verlieren als nur die Ketten des Systems. Ebenso wenig läßt sich sagen, dass die Teilnahme an den Protestkundgebungen aus der Berechnung geschah, wegen des relativ günstigen Zeitpunkts weniger potentiellen Repressalien ausgesetzt zu sein. Ganz im Gegenteil marschierten die Demonstranten auch dann weiter, als sich die Möglichkeit eines ostdeutschen Tienanmen abzeichnete. Was die DDR-Bürger auf die Straße trieb, war ein häufig unartikulierbares Gefilhl moralischen Herausgefordertseins, das auch diejenigen teilten, die dem System die Stange hielten und ihre Untätigkeit als Verteidigung auslegten. Schließlich komme ich auf einen theoretischen Ansatz zu sprechen, der die relativ stabile Lage der DDR vor 1989, ihren plötzlichen Zusammenbruch und die rasche Anpassung ihrer Bürger an das so gänzlich andere soziale System des Westens verständlich machen könnte. Grob gesprochen vermag dieser Ansatz m.E. drei unterschiedliche, wenn nicht gar sich logischerweise gegenseitig ausschließende empirische Betrachtungen miteinander versöhnen: I) Gesellschaftsstrukturen und
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Kulturen reproduzieren und decken sich wechselseitig. Mit anderen Worten: die subjektive Ausrichtung eines Menschen korrespondiert in der Regel mit den objektiven Bedingungen, denen er ausgesetzt ist. 2) Trotz ihrer Übereinstimmung mit einer bestehenden Gesellschaftsstruktur sind kulturelle Werte, Nonnen und Bedeutungen sowohl individuell als auch kollektiv besehen nicht immer beständig. Sie können miteinander konkurrieren und sich gegenseitig widersprechen. 3) Obwohl sich Kulturen wie auch die sie begleitenden Strukturen normalerweise nur allmählich über lange Zeiträume entwickeln, lassen sich gelegentlich radikale Entwicklungsschübe nachweisen und zwar in viel kilrzerer Zeit, als strukturelle Verändenmgen in der Regel benötigen. Wir haben es also mit einem grundlegenden Widerspruch zu tun: einerseits Stabilität und Kongruenz, andererseits Divergenz und Autonomie von Gesellschaftsstruktur und Kultur. Der Schlüssel zur Erklänmg wie sich diese entgegengesetzten Aussagen miteinander vertragen, liegt in der Tat in den sich widersprechenden Komponenten einer Kultur. Sie stellen die einzige Konstante. Wie bedeutsam sich kulturelle Konflikte fiir meinen theoretischen Ansatz erweisen sollten, wurde mir gleich zu Anfang meiner 1990-1991 durchgefilhrten Untersuchung klar, als ich nämlich die Ergebnisse zu ordnen versuchte. Die Antworten auf die rückblickenden Fragen, die den DDR-Alltag vor dem Fall der Mauer betrafen, zeigten eine Gesellschaft, die ein sehr labiles Gleichgewicht hielt zwischen den positiven Werten wie Bescheidenheit, Solidarität und soziale Gleichheit auf der einen Seite und den negativen Werten wie Konsumfrust, soziale Abhängigkeit und politische Ungleichheit auf der anderen Seite. Mit anderen Worten: es herrschte Zufriedenheit über die mittelmäßigen, allerdings stets vorhersagbaren Annehmlichkeiten des Lebens, die den Frust fiir die unerfiillten KonsumansprUche in einer unrentablen Wirtschaft leidlich kompensieren halfen. Es existierte ein soziales Netz gegenseitiger Hilfe und Geselligkeit in weitgehend geschlossenen Kreisen als Ausgleich fiir das öffentliche Mißtrauen und das Abhängigsein von ungezählten Vetternwirtschaften zur Sichenmg minimalsten Wohlbefindens. Außerdem unterdrUckte die Gleichförmigkeit des Lebensstandards in allen Teilen des Landes und der Gesellschaft nicht nur die Eintönigkeit des Lebens, sondern verschleierte auch den Mißbrauch politischer Privilegien. Tatsächlich läßt sich sagen, dass die soziale Gleichheit vielleicht den bedeutsamsten Wert in der Skala der DDR-Ethik ausmachte, weil sie die sine qua non fiir eine bescheidene und solidarische Lebensfiihrung verkörperte und der einzige weitgehend umgesetzte Wert einer mit sozialistischen Vorzeichen operierenden Partei darstellte, die sich eben dadurch teilweise legitimieren konnte. Im Spiegel dieser Ergebnisse zog ich die Schlußfolgenmg, dass die relative Stabilität der DDR-Gesellschaft bis in die späten 80iger Jahre auf einem labilen Gleichgewicht beruhte, bzw. auf der leicht positiven Bilanz, die sich aus dem Abwägen der erfiillten und versagten Ansprüche ergab. Dieser Zustand änderte sich jedoch Ende der 80iger Jahre zusehends, als sich schleichende und zunächst relativ
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unbedeutsame strukturelle Veränderungen abzeichneten und das nur sehr schwach ausbalancierte Wertesystem von Gleichheit, Solidarität und Bescheidenheit zum Kippen brachte, was dann in kilrzester Zeit zu kulturellen Irritationen und zu Unzufriedenheit filhrte, die wiederum ursächlich fUr den Massenprotest und die Lähmung der Parteifilhrung und ihren ausbleibenden Widerstand war. Um nur einige solcher struktureller Veränderungen zu nennen: wirtschaftliche Stagnation, erleichterte Reisbedingungen, neue Privilegien der Funktionäre, aber auch abweichende Meinungen in der Spitze der Nomenklatura, namentlich eingeleitet und verkörpert durch Gorbatschow. Obwohl es nicht möglich gewesen wäre, die einzelnen Entwicklungen vorherzubestimmen, welche die, aus subjektiver Sicht, als relativ stabil empfundene Lage der DDR untergruben, so muß doch darauf bestanden werden, dass das Entwicklungspotential, letztlich auch die revolutionären Kapazitäten der DDR-Gesellschaft, Bestandteil ihrer Kultur war, genauer gesagt, ihrer miteinander kollidierenden Werte. Damit widerspreche ich ausdrücklich der Behauptung, dass diese Entwicklung durch systemimmanente Schwächen hervorgerufen worden sei., in denen der politische Protest bereits strukturell angelegt gewesen wäre. Ebenso wenig filhrten die strukturellen Ausgangsbedingungen notwendigerweise zu materieller Unzufriedenheit, die dann ursächlich fUr einen entsprechenden Protest hätte sein können. Gleichzeitig spiegelten die konfliktträchtigen Werte der DDRKultur indirekt die strukturelle Belastung wider, die von der diktatorischen Einparteienherrschaft und ihrer Planwirtschaft ausging und milderten ihre Auswirkungen wenigstens bis in die späten 80iger Jahre. Diese durch meine Interviews inspirierte Deutung des Zusammenbruchs der DDR mag empirisch plausibel klingen, doch bleibt die Frage, ob sie, verallgemeinert gesehen, eine brauchbare theoretische Grundlage bietet, um die Kulturevolution zu verstehen, die sich seit 1990 beobachten lässt. Tatsächlich korrespondierte mein Rückgriff auf kulturelle Widersprüche zur Erklärung des Umsturzes, wie ich allerdings erst später entdeckte, mit Antonio Gramscis Gebrauch des Begriffs "widersprüchliches Bewußtsein" in seiner Theorie der kulturellen Hegemonie.7 In Gramscis Überarbeitung des marxistischen Strukturalismus hängt die soziale Stabilität nicht nur von der Fähigkeit einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse ab, andere Klassen strukturell zu beherrschen oder zu unterdrücken, sondern auch daran, ob eine bestimmte Schicht in der Lage ist, andere kulturell zu lenken oder von den beherrschten Teilen der Gesellschaft eine Form des Einvernehmens hinsichtlich der kulturellen Vorreiterrolle zu erhalten. Um diese kulturelle Hegemonie wirksam, das heißt systemstabilisierend zu etablieren, genügt es nicht, die untergeordneten Klas6
Vergleiche McFalls (1995).
7 Die m.E. beste theoretische Einftlhrung in Gramscis Werk bietet Chantal Mou.ffe, Hegemony and Ideology in Gramsci, in diess. (Hrsg.), Gramsei and Marxist Theory, London, 1979.
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sen zu indoktrinieren und ihnen ein falsches Bewußtsein anzuerziehen. Ganz im Gegenteil muß ihnen erlaubt sein, ihre eigenen Interessen zu artikulieren, wenn auch nur auf eine Art und Weise, welche die bestehende sozialpolitische Struktur nur unwesentlich zu diesen in Widerspruch setzt. Das Ennöglichen des Ausdrucks sich widersprechender Interessen legitimiert die bestehende Ordnung und hält sie gleichzeitig offen filr Refonnen. Die Existenz eines Organi-sationsprinzips oder besser, eines Hegemonieprinzips, aus dem sich Werte und Bedeutungen scheinbar unabhängig und offen fonnulieren, bewahrt den kulturellen Zusammenhalt trotz abweichenden und widersprüchlichen Bewußtseins. Letzteres hält die Gesellschaftsstruktur anpassungs- und reaktionsfliliig, liefert jedoch auch den Keim filr bedeutsame hegemoniale Gegenbewegungen bis hin zu Kulturrevolutionen.
Im Falle der DDR bestand das Hegemonieprinzip aus der "filhrenden Rolle der Partei". Die Parteikader gaben nicht nur die sozialpolitische Struktur des Staates vor, sondern hoben auch die spezifischen Widersprüche der ostdeutschen Alltagskultur aus der Taufe. Sie waren die Urheber der oben skizzierten Alltagskultur, indem sie teils direkt, teils indirekt die Maßstäbe filr Werte wie Solidarität, Gleichheit, Bescheidenheit setzten. Selbst da wo sich die Partei enthielt, müssen die sich entsprechend etablierten Werte als anpassungsfliliige Antworten auf die Vorgaben und Anforderungen der kommunistischen Elite gesehen werden; Reaktionen der Bevölkerung, die den vorgeregelten Alltag erträglich machten, selbst als sich in diesen Reaktionen Unzufriedenheit durch Annut, Mißtrauen, Eintönigkeit und Privilegien äußerte. Im zeitgenössischen Kapitalismus ist das Hegemonieprinzip fast ebenso offensichtlich wie in der staatssozialistischen Gesellschaft. Verbraucheschutz oder die wachsende persönliche Befriedigung materieller Bedilrfhisse integriert den Einzelnen in einen ungleichen, ökologisch unhaltbaren Produktionsapparat und in eine Gesellschafts-ordnung, diebeidekritisiert werden dürfen. Wie ich bereits darlegte, partizipieren die Neubundesbürger ohne Abstriche an der postindustriellen kapitalistischen Konsum-gesellschaft mit all ihren impliziten Widersprüchen, seien diese nun stabilisierend oder potentiell revolutionär. Doch ist die Frage, wie es dazu kam, immer noch nicht ganz beantwortet. Gramscis Theorie der kulturellen Hegemonie bietet eine Erklärung filr die Frage wie kultureller Wechsel geschieht. Hegemonie beschreibt ein diskursives, dialogisches Verhältnis, in dem ein dominanter Gesprächspartner keine Meinung aufdrängt, sondern "vorschlägt'. Indem der dominierte Partner seine eigene Position als Antwort auf den Vorschlag fonnuliert, bewegt er sich in dem vorgegebenen Rahmen und beschäftigt sich mit all jenen Zwängen, die der Andere ihm indirekt diktierte. Obwohl ungleich, konkurrenzfördernd und in der Regel mit offenem Ende produziert der Folgedialog dennoch übereinstimmende Meinungen und Werte und macht auf diese Weise den gesellschaftlichen Austausch möglich, während gleichzeitig die dominanten Strukturen legitimiert und gestützt werden. Weil diese relative Übereinstimmung kultureller Werte aus einer Streitkultur entwickelte wurde,
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läßt sich nicht sagen, dass der Konsens aus der Gesellschaftsstruktur herrührt bzw. durch sie determiniert ist. Tatsächlich zeigt geschichtliche Erfahrung, dass eine gegebene Gesellschaftsordnung, sei es ein liberaler Kapitalismus, sei es ein staatssozialistisches Modell, mit kultureller Vielfalt kompatibel ist und verschiedene Entwicklungspotentiale und revolutionäre Keime in sich birgt. In Westeuropa etwa haben signifikante kulturelle Unterschiede Bestand oder verschärfen sich gar trotz struktureller Allgleichung bzw. Austauschbarkeil der ökonomischen und sozialen Gefiige. 8 So gesehen müssen wir den gesellschaftlichen Dialog zwischen dominanten und untergeordneten Gruppen rekonstruieren, um den kulturellen Wechsel und seine verschiedenen Ausdrucksformen zu verstehen, die dieser hervorruft.
Im Falle Ostdeutschlands markierte die Währungsunion vom 1. Juli 1990 jenen Zeitpunkt, der die kulturelle Allgleichung an eine radikal neue Gesellschaftsordnung unvermeidlich machte. Die Einfiihrung westdeutscher Gesellschaftsstrukturen legte jedoch keineswegs fest, wie diese kulturelle Allgleichung im einzelnen aussehen würde. Stattdessen prägten die ziemlich unabhängig gefilhrten kulturellen Auseinandersetzungen, die nahezu schlagartig zwischen Ost- und Westdeutschen ausbrachen, das Procedere der Anpassung an die neue Gesellschaftsordnung. Noch vor dem offiziellen Zusammengehen der beiden Staaten im Jahre 1990 brach in aller Öffentlichkeit ein regelrechter Kulturkrieg aus, als Schriftsteller aus dem Westen sich gegen Christa Wolf wandten, die sie früher als Dissidentin mit Laudationes überschüttet hatten, sie nun aber plötzlich anklagten, die Staatsdichterio des Stasistaates zu sein.9 Auf privatem Sektor filhrte die Entdeckung der Ossis zu Aufgeregtheiten, dass die viel geschätzten Westpakete, die sie von ihren scheinbar so großzügigen Verwandten in der alten Bundesrepublik erhielten, meist nichts anderes als Billigware und Flitterkram transportierten. Umgekehrt beschwerten sich die Wessis darüber, dass sie fiir den alten und neuen Material.- und Kapitaltransfer, mit dem sie ihren Landsleuten ausgeholfen hatten, nichts als Undank ernten würden. Mithilfe der Interviews wurde mir jedoch sehr schnell klar, dass ironischerweise gerade die kulturellen Konflikte und die Mißverständnisse, welche die Freude über die Einheit zu verderben schienen, filr den dialektischen Mechanismus sorgten, der die rasche kulturelle Integration der Ossis in den deutschen Konsumkapitalismus betrieb. In jeder der drei Befragungsrunden schürfte ich nach dem Verhältnis der Ossis zu den Wessis und interessierte ich mich dafilr, mit welchen Augen die einstigen DDRBürger ihre Landsleute links der Eibe sahen. Überall förderten meine Fragen 8 Geburtenraten etwa bilden eine deutliche Meßlatte filr kulturelle Unterschiede. Wahrend Deutschlands und Italiens Geburtenraten stark sanken und ein negatives Bevölkerungswachstum erzeugen, bleibt dasjenige Frankreichs positiv. 9 Vgl. C/audia Mayer-Iswandy, Between Resistance and Affirmation: Christa Wolf and German Unification, in Canadian Journal ofComparative Literature. Band 22, Nr. 3-4, 1995.
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Stereotypen zutage, die auch umfangreichere Studien bestätigten: die Westdeutschen wurden als arrogant und besserwissefisch (Besserwessis) geschildert, es wurde behauptet, sie verkörperten mehr Schein als Sein, während die Ostdeutschen sich selbst als anpassungsfähig und improvisationsfreudig darstellten und vorgaben, dass es ihnen nur an den nötigen Selbstdarstellungstechniken mangelte. Konsekutive Fragen erlaubten mir jedoch einen Blick hinter die Kulissen. So banal es klingen mag, aber die Antagonismen zwischen Ossis und Wessis, die meine Gesprächspartner beschrieben, schienen den Bausatz einer posthumen DDR-Identität gestiftet zu haben. Diese Konstruktion von Identität verlangt immer die Konfrontation mit dem Andern und die Abgrenzung vom Andern. So gesehen konnte nur die deutsche Einheit vollenden, was vorher stets erfolgreich vermieden worden war: das Schmieden einer selbständigen und selbstbewußten DDR-Identität. Denn das plötzliche und uneingeschränkte Zumuten einer neuen Gesellschaftsordnung schuf in vorher nicht gekanntem Ausmaß allgegenwärtige und unzweideutige Kontakte und rief bei den Betroffenen ebenso eindeutige Konflikte zwischen den Werten, Normen und Deutungsebenen der ehedem getrennte Wege gehenden Kulturen hervor. Diese Konflikte, so berichteten meine Interviewpartner, nahmen gelegentlich persönliche und sehr konkrete Formen an, wenn etwa ein Firmenchef oder Beamter aus dem Westen importiert wurde. Die Befragten gaben jedoch im Großen und Ganzen zu, dass sich ihre Beschwerden nicht auf die Wessis bezogen, die sie persönlich kennengelernt hatten. Vielmehr half das vermenschlichte Konstrukt eines verachtenswerten Wessis dem Neubundesbilrger, seine Frustrationen darüber zu artikulieren, dass ihm ein Gesellschaftssystem von einer privilegierten Gruppe, wenn nicht gar gesellschaftlichen Klasse zu Herrschaftszwecken übergestülpt wurde. Mit anderen Worten: der Wessi dient dem Ossi als konkretes, buchstäblich greifbares Symbol fiir Hegemoniestreben, das letzterem umso mehr erlaubt, den Status des offensichtlichen Beherrschtseins nur mit Widerspruch und Gegenwehr zu akzeptieren. Gramscis Theorie zufolge stellt diese Initialzündung einer selbständigen, unabhängigen Identität in Opposition zur Dominanz des Westens einen notwendigen Schritt dar, damit der Einzelne sich in den neuen Gesellschaftsstrukturen aufgehoben fiihlt. Er erleichtert sich dadurch die Akzeptanz einer hierarchischen Struktur, in der er primär schlechter abschneidet als sein Konkurrent im Westen. Dieses Paradox wird noch klarer, wenn wir uns die typischen Stellungnahmen auf meine Fragen näher an-schauen, in denen Animositäten gegen!iber dem Wessi geäußert wurden. "Wir mußten die Kosten des Krieges ganz alleine tragen", hieß es, und "wir mußten auch die ganze Zeit harte Arbeit leisten, allerdings unter viel schlechteren Bedingungen" und weiter "warum sollten wir fur dieselbe Arbeit schlechter bezahlt werden?" Ein anderer Gesprächsteilnehmer faste die ganze Identitätsfrage in folgendem Widerspruch zusam-men: "Klar doch sind die Westdeutschen anders als wir, trotzdem sind wir Deutsche wie sie." All diese Aussagen reklamieren Anerkennung, gleiche Rechte und Respekt. Durch solches Streiten filr Gleichbehandlung
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setzen Ostdeutsche ihre untergeordnete Bedeutung voraus und akzeptieren gleichzeitig die Werte und Nonnen der dominanten Gesellschaft. Sie meinen, sie seien genötigt, länger und härter zu arbeiten, flexibler zu sein und verlangen deshalb im Austausch ebenso deutlich, wenn nicht gar in exzessiverer Ausprägung die Befriedigung ihrer Konsumbedilrfuisse. Verkürzt gesagt haben gerade das Konkurrenzgebaren und die dialogischen Spannungen zwischen Ost und West fiir die Ausweitung der hegemonialen westdeutschen Kultur gesorgt und zwar, wie ich teilweise zu skizzieren versuchte, dergestalt, dass der Osten heute möglicherweise die unverflilschtere Variante dieser Kultur darstellt. Unabhängig davon wie die nonnative Bewertung deutscher Kultur in ihrer westund ostdeutschen Spielart ausfallen mag, bleibt, wie ich meine, die Tatsache bestehen, dass der Einigungsprozeß das Rennen bereits machte. Die politischen Niederungen kultureller Konvergenz haben den selben bemerkenswerten Erfolg erzielt wie die Höhen geopolitischer Einigungsprozesse. Während die Veränderungen auf der weltpolitischen BUhne jedoch stets filr Schlagzeilen sorgen, bleiben die kulturspezifischen EinflUsse auf das politische Tagesgeschehen in der Dunkelkammer der Geschichte. Dabei schlagen sie politisch mindestens ebenso nachhaltig zu Buche. Nur sind sie eben weniger spektakulär. Die Behauptung, Deutschland durchlebe zehn Jahre nach der Einheit eine Kulturkrise, ist nichts weiter als ein Windei. In Wirklichkeit wird der vereinigte Staat von seiner alten romantischen Illusion eingeholt, dass kulturelle und nationale Einheit übereinstimmen mUssen, um sie als erfolgreich anpreisen zu können.
Widersprüchliche Erinnerungen: Internationale Protagonisten der Wiedervereinigung und nationale Vereinigungsmythen Von Alexanderv. Plato
I. Vorbemerkung
Deutschland am Ende des alten Jahrhunderts und am Beginn des neuen ist der Schauplatz, und wir sind Zeugen der Herausbildung eines kollektiven Mythos. Noch ehe die Akten der meisten Staatskanzleien, der Außenministerien und der Geheimdienste der beteiligten Staaten geöffnet sind, haben die Fernsehanstalten, die Hörfunksender und die Zeitungen, manchmal auch Zeithistoriker in Deutschland in einem medialen overkill ein Bild von der Wiedervereinigung und der Beendigung des Kalten Krieges in Europa gemalt, das wie die frühe Fixierung eines nationalen Mythos erscheint: Das Volk der DDR hat auf Initiative der Bürgerrechtsbewegung, geftlhrt von einem weitsichtigen westdeutschen Bundeskanzler, unter dem Beistand des "Meistertaktikers" Gorbatschow, unter Bedrohung sowjetischer Generale, unter Nutzung eines nur schmalen Zeitraums seine Befreiung erkämpft und sich zu einer gemeinsamen, zukunftsträchtigen Bundesrepublik vereint. Dieses Bild ist natürlich nicht (ganz) falsch, erscheint jedoch bei näherem Hinsehen als eine tendenziöse Karikatur aus beschränkter Perspektive, die es zu überprüfen gelte, wenn man sich nicht zum Teil dieser Mythenbildung machen will- und Zeitgeschichte ist fast immer in einer solchen Gefahr. Es gibt auch genügend Quellen, die ein näheres Hinschauen erlauben: Autobiographische Schriften, Interviews mit Beteiligten, wissenschaftliche Dokumentationen und Untersuchungen zählen Legion. Außerdem sind Akten (Bundeskanzleramt, Staatliche Organe der DDR) geöffnet worden, obwohl die eigentlich übliche "Sperrfrist" von mindestens 30 Jahren noch längst nicht verstrichen ist. Neben
1 Das ist der Extrakt aus Ankündigungen und Texten verschiedener ,,Anmoderationen" und Femsehprogramm-Zeitschriften anlasslieh der Jahrestage des Mauerfalls und der Vereinigung.
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einer Fülle anderer Sendungen hat auch das ZDF im Zuge der Vorbereitung für das zweiteilige "Dokudrama" zur Wiedervereinigung mit dem Titel "Deutschlandspiel" ca. 60 Interviews mit Hauptbeteiligten dieses Prozesses durchführen lassen, an denen ich beteiligt war. 2 Alle diese Quellen werden- in diesem Aufsatz nur in knapper Form- berücksichtigt, um einige der wissenschaftlichen und der medialen Imaginationen über die Wiedervereinigungen zu unterzusuchen. II. Bilder und Mythen
Fast alle Beteiligten erliegen der Versuchung, den Zeitpunkt ihrer Erkenntnis über die baldige Wiedervereinigung und ihre Aktivität für diesen Prozess sehr früh anzusiedeln bei allgemeiner Betonung, dass es eine kaum abschätzbare Beschleunigung der Dynamik in der Politik hin zur Wiedervereinigung gegeben habe. Das ist verstehbar und soll hier auch nicht besonders glossiert werden. Wichtiger erscheint mir, was denn eigentlich vorausgesehen wurde: der Zusammenbruch der DDR und der Fall der Mauer, die Entmachtung der SED, die Vereinigung oder sogar die NATO-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland? Hier, in dem Inhalt der im Nachhinein erinnerten Prophetien, gibt es große Unterschiede zum Beispiel zwischen den US-amerikanischen Politikern, den französischen, den englischen, den sowjetischen sowie den deutschen; und unter den deutschen in West wie in Ost sind natürlich wiederum erhebliche Differenzen auszumachen. Besonders groß sind die Unterschiede und auch die Erinnerungen in der weitestgehenden politischen Frage, nämlich der Voraussicht der Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland in der NATO. Dies, so könnte man meinen, habe niemand im Frühjahr 1989 vorausgesehen, geschweige denn zu diesem frühen Zeitpunkt in die Politik gebracht, was - wie wir gleich sehen werden - bei näherem Hinsehen nicht ganz stimmt. In allen diesen Fragen gehören nachträgliche Vorverlegungen der eigenen Erkenntnisse und Aktivitäten zur Selbstverständlichkeit und Selbstverständigung. Denn die Antworten auf diese Fragen vereinigen Gruppen, auch solche mit unterschiedlichen Interessen bis heute, schaffen auch Mythengemeinschaften, die für die spätere Politik nicht unwichtig werden. Abgesehen davon geht es den politischen Repräsentanten auch um die Überlieferung ihrer eigenen Leistungen als Interessenvertreter ihrer nationalen Politik. Und es ist nicht nur ftlr Joumali2 Das "Deutschlandspiel wurde produziert von Ulrich Lenze, Regisseur war Hans-Christoph Blumenberg. Den größten Teil der Interviews hat Blumenberg, einen kleineren Teil habe ich ftlr das Institut ftlr Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen geftlhrt, darunter die mit amerikanischen Protagonisten, wie Ex-Präsident Bush, seinem Außenminister Baker, den Beratern Condoleezza Rice und General Scowcraft oder dem Sekretar der englischen Premierministerin Margret Thaieher, Charles Powell, oder den russischen Beratern und Gegnern Gorbatschows. Außerdem schrieb ich das Treatment und machte eine wissenschaftliche Beratung.
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sten schwer, sich nicht zum Instrument dieser Überlieferungsinteressen zu machen, sondern auch filr Zeithistoriker. 1. Initialzündungen
Es gab viele Voraussetzungen filr die Wiedervereinigung: die Unabhängigkeitsbewegungen in Polen, im Baltikum und dann in ganz Osteuropa; der wirtschaftliche Niedergang des "Realsozialismus"; die Perestroika unter Gorbatschow und seine Nichteinmischungspolitik im sowjetischen Hegemonialbereich; die Bürgerbewegung in der DDR, die Flüchtlingsströme dort und last not least die Staatskanzleien und Außenministerien der beteiligten Staaten. Ich beginne mit der letzten. Die Akten zur Wiedervereinigung, die vom Bundeskanzleramt herausgegeben wurden3 , die Einleitung des Bearbeiters dieser Edition, Hanns-Jürgen Küsters, damalige Reaktionen in Westeuropa und auch die Interviews, die ich im Herbst 1999 mit Bushund seinem Stab führte, legen nahe, dass man in Washingtonund nicht in Bonn, Paris oder London - bereits im März 1989 eine neue Europaund Deutschlandpolitik initiieren wollte, in der die Wiedervereinigung Deutschlands eine zentrale Rolle spielen sollte. Robert D. Blackwill4, Philip Zelikow5 und Brent Scowcraft6 meinten bereits zu jener Zeit in Kritik eines Papiers mit dem Namen "NSR-5", das der Ausschuss zur Koordinierung der Europapolitik erarbeitet hatte, dass die Wiedervereinigung Deutschlands als politische Aufgabe aufgegriffen werden müsse. Der Nationale Sicherheitsrat erklärte jedoch am 20. März 1989, die amerikanische Politik solle in dieser Frage nicht die Initiative übernehmen. Aber, so meinen Zelikow und Rice 7, das Weiße Haus wurde ungeduldig, weil für das Frühjahr und den Frühsommer 1989 zwei große Reisen von Bush nach West- und nach Osteuropa geplant waren, auf denen auch über die 3 Hanns Jürgen Küsters war Leiter der Editionsgruppe, die Akten des Bundeskanzlerarntes zur Wiedervereinigung herausgab: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, herausgegeben vom Bundesministerium des Innem unter Mitwirkung des Bundesarchivs, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann. Wissenschaftliche Leitung: Klaus Hildebrand, Hans-Peter Schwarz, Bundesarchiv: Friedrich P. Kahlenberg, München) 1998. (in Zukunft zitiert als ,,Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90"). Küsters kannte offensichtlich mehr Akten, als sie in der Edition veroffentlieht wurden. Das geht insbesondere aus einigen Bemerkungen zur amerikanischen Politik in seiner Einleitung hervor, die ich im Text benenne.
4 Von 1989 an Leitender Direktor filr europäische und sowjetische Angelegenheiten des Nationalen Sicherheitsrates der USA
s Politikwissenschaftler, Mitarbeiter im Nationalen Sicherheitsrat.
General Scowcroft war schon unter Prasident Ford Sicherheitsberater gewesen, von I 989 bis 1993 Nationaler Sicherheitsberater bei George Bush. 6
7 Zwei damalige wissenschaftliche Berater im Stab des Weißen Hauses. Condoleezza Rice wurde später von Bush jun. zur Chefin des Nationalen Sicherheitsrates berufen.
36*
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Zukunft der NATO anlässlich des 40. Jubiläums der Gründung (am 4. April 1949) dieses Bündnisses nachgedacht werden sollte - und dieser NATO"Jubiläums-Gipfel" sollte am 29. und 30. Mai 1989 stattfmden. In der überarbeiteten Fassung des genannten Papiers NSR-5 hieß es dennoch weiterhin, wohl in Wiedergabe der Ansichten der Ausschussvorsitzenden Rozanne Ridgway, dass die Frage der deutschen Wiedervereinigung "stets unter der Oberfläche" gäre, doch wollten "die Deutschen selbst das Thema zu diesem Zeitpunkt nicht weiter in den Vordergrund rücken. Die anderen Europäer wollten dies ebenso wenig,( ... ) und es dient keinem OSInteresse, wenn wir die Initiative ergreifen und es aufwerfen." 8 Darüber soll Scowcroft so "frustriert" gewesen sein, dass er Blackwill und Rice9 zu sich rief und sie aufforderte, etwas zustande zu bringen, "das mehr Biss hat". Blackwill und Zelikow hatten in der vorherigen Debatte ein Memorandum verfasst, das Scowcroft am 20. März an Bush weiterleitete und das als Scowcrofts Memorandum gilt. Scowcrofts Devise - so Küsters - sei gewesen, dass eine Vision eines neuen Europas die Wiedervereinigung Deutschlands mit einbeziehen müsse. 10 Es sei - so heißt es wörtlich nach Rice und Zelikow- ,. keine Vision des künftigen Europa denkbar, die nicht auch eine Stellungnahme zur , deutschen Frage' enthält. " 11 Damit sollte die deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden, meinen die beiden Autoren. Teil dieses Konzepts war eine gehörige Portion Misstrauen gegenüber den Bestrebungen der sowjetischen Politik unter Gorbatschow, ein "neues europäisches Haus" zu bauen und damit eventuell den amerikanischen Einfluss aus Europa zurückzudrängen; und Teil war eine Neugewichtung der Rolle (West-) Deutschlands, nämlich die Bundesregierung stärker als zuvor als "partner in leadership" 12 zu begreifen - eine Rolle, die jahrzehntelang Großbritannien eingenommen hatte. Die Reaktion aus London, wo man eine Verschiebung der Bedeutung der filhrenden Partnerschaft der USA hin zu Deutschland und weg von London vermutete, war auch so deutlich ablehnend, dass die amerikanische Vorsicht erklärbar ist. 13 8
Ze/ikov!Rice, S. 55 f.
Condoleezza Rice, Politikwissenschaftlerin in Stanford, wurde von Scowcoft ins Weiße Haus geholt, war als Protokollantin bei den Gesprächen Bushs mit Gorbatschow dabei, Mitglied der amerikanischen Verhandlungsdelegation bei den 2+4-Verhandlungen. 9
10
Siehe dazu Akten des Bundeskanzleramtes, Hanns Jürgen Küsters ' Einfilhrung, S. 35.
11
Zelikow/Rice, S.58.
12
Übersetzt bei Zelikow/Rice mit "Partner in der Führungsrolle", S. 63.
Siehe hierzu die Memoiren von Margret 7hatcher: Downing Street No 10, S. 1092 ff. Küsters (S. 35) zitiert als Beleg dafilr auch Geoffrey Howe: Conflict in Loyalty, London-Basingstoke 1994, S. 560. 13
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Die CDU, behaupten Zelikow und Rice, hätte noch im Frühjahr 1989 konträr zu dieserneuen Bush-Linie die Wiedervereinigung als Tagesaufgabe aus ihrem Programm streichen wollen. Dies wiederum bestreitet der damalige Kanzlerberater Horst Teltschik, der erklärt, dies seien nur Teile oder gar Einzelne der CDU gewesen, die bei Kohl keine Chance gehabt hätten. 14 Aber Zelikow und Rice zitieren niemand anderen als den damaligen Kanzleramtschef Schäuble und Teltschik selbst. Schäuble habe die Wiedervereinigung nicht auf die Frage der territorialen Wiedervereinigung reduzieren wollen, sondern die kulturelle Auseinanderentwicklung von DDR und BRD oder Menschenrechtsfragen zentral gesehen. 15 Demgegenüber habe Bush unmittelbar nach dem NATO-Gipfel Ende Mai 1989 während seines Deutschlandbesuchs in der Rheingold-Halle in Mainz eine öffentliche Rede gehalten, die die Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands forderte. Ziel des Westens sei es (,jetzt"- fUgen Rice und Zelikow hinzu), ein "ungeteiltes und freies Europa" zu schaffen:
Für die Gründerväter des Bündnisses war diese Hoffnung ein ferner Traum. Jetzt ist diese Hoffnung die neue Aufgabe der NATO. (..)Der Kalte Krieg begann mit der Teilung Europas. Er kann nur beende! werden, wenn die Teilung Europas aufgehoben ist. (. ..) Es könne kein europäisches Haus (a Ia Gorbatschow) geben, wenn sich nicht alle seine Bewohner von Raum zu Raum frei bewegen können. (. ..) Wir streben die Selbstbestimmung für ganz Deutschland und alle Länder Osteuropas an. (. ..) Ber/in muss die nächste Station sein. 16 Erstaunlicherweise ist diese Rede nicht in den Akten des Bundeskanzleramtes abgedruckt, sondern nur das Protokoll des diplomatischen Gesprächs zwischen Kohl und Bush im erweiterten Kreis in Bonn vom 30.5.89, das solche deutlichen Worte nicht enthält. Zelikow und Rice gehen sogar noch weiter und behaupten, dass Scowcroft die ,,radikaleren Formulierungen" der Redenschreiber gestrichen hätte, "weil er beftlrchtete, dass Bush damit weiter(!) gehen könnte als Kohl in seinen Äußerungen zur deutschen Frage." 14 Horst Teltschik am 27. September 2000 im Gesprach mit mir. (Aufzeichnung im Institut ftlr Geschichte und Biographie der Femuniversitat Hagen, wie alle der im folgenden zitierten Gesprache.) 1' Zelikow/Rice a.a.O., S. 67. Sie beziehen sich auf die Rede Schauble vor der Evangelischen Akademie in Bad Boll v. 25.2.89, in: Texte zur Deutschlandpolitik, 1989, S. 47, auf die Rede von Dorothee Wilms vor dem deutschlandpolitischen Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn vom 24.1.89, in: ebendaS. 28, auf ein Interview mit Horst Teltschik im Bonner Generalanzeiger vom 6.7.89, S. 13. Kanzlerberater Horst Teltschik soll - so die beiden Amerikaner - spater anerkannt haben, dass die USA in dieser Frage der deutschen Regierung weit voraus gewesen waren (in einem Interview mit ihm, das sie selbst geftlhrt hatten, Gütersloh, Junil992). 16
Bush's Rede in der Rheingold-Hallenach Zelikov und Rice, S. 62.
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Offiziell ging es mit dieser neuen Deutschland- und Buropapolitik um eine Integration der Sowjetunion, aber diese Politik sollte natürlich den sowjetischen Einfluss in Europa verringern und den der USA verstärken.
Scowcroft: I think, fundamenta/ly it was Gorbatschow, who was speaking some wonderful words. But thus far in early '89 the words were not matched by actions and the structures of the Cold War in Centra/ and Eastern Europe were still in place. So, what we wanted to see, were actions which would start to dismantle those structures. And, of course, crucial to it a/l was Berlin and German reunification. That would be a clear signal that the cold war was over. 17 Zelikow und Rice fassen zusammen, dass .. die Bundesregierung nicht darauf vorbereitet (war), Bush beim Wort zu nehmen und die amerikanische Unterstützung für die Vereinigun~, die der Präsident im Mai angedeutet hatte, in vollem Umfang einzufordern. " 1 Teltschik weist dies zurück:
Ich bin mir nicht so sicher, ob das so richtig ist. Ich meine, das mag jetzt im Nachhinein so (von Zelikow und Rice - AvP) erläutert werden, aber wir haben es nicht so verspürt. Brent Scowcroft habe ihm gegenüber jüngst erklärt, dass die Deutschen weiter und mutiger gewesen seien als die Amerikaner. Nur in einem Punkt gibt Teltschik den beiden amerikanischen Kollegen bzw. mir, der deren Kritik wiederholte, recht:
Wo Sie Recht haben ist, dass wir auch bedauern, dass wir nicht stärker eingestiegen sind in die Aussage " partner in leadership ". Das war eine sehr weitgehende Aussage, die angesichts von so starken Partnern wie Mitterrand und Margret Thaieher natürlich Wirkungen hatte. 19 Schon diese wenigen Ausftlhrungen lassen erahnen, welche Bedeutung die Frage hat, wer damals als erster die Anstöße zu einer neuen Wiedervereinigungspolitik gegeben hat, wie wesentlich diese Reklamationen des Erstgeburtsrechtes im nachhinein werden fiir die Politiker, ihre Bilder und Selbstbilder, wie
17
Interview mit mir am 14. 9. 1999
13
Ebenda
19
Horst Te1tschik im Gespräch mit mir am 27.9.2000.
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sehr sich die jeweiligen Politiker in den verschiedenen Staaten zu Tradierungsgemeinschaften zusammenfinden, geeint von dem Wunsch, sich als würdige Interessenvertreter der nationalen Politik der Nachwelt zu überliefern und ihre persönliche Rolle gebührend gewürdigt zu sehen. Die wenigen Akten, die wir heute dazu besitzen, und die Selbstdarstellungen Beteiligter sprechen dafilr - und ich hoffe, dass zukünftig veröffentlichte Dokumente nicht zeigen, dass ich einer amerikanischen Mythenbildung aufsitze -, dass die amerikanische Regierung unter Bush früher als andere ihre Interessen in eine neue Europastrategie mit einem vereinigten Deutschland in der NATO als Kern goss, vermutlich aus Sorge, dass Gorbatschows Politik die USA aus Europa drängen könnte. Diese Strategie stieß offensichtlich aufpassende Entwicklungen in Ost- und Mitteleuropa. 2. Der "liebenswürdige Onkel George" als der eigentliche Stratege des vereinten Deutschland als Mitglied in der NATO
Sicher ist, dass die Bush-Administration ein großes Interesse daran hatte, die NATO als ihr eigentliches Instrument in Europa zu erhalten. Die enge Verknüpfung der Wiedervereinigung mit der Erweiterung der NATO dürfte jedoch erst etwas später erfolgt sein, wenn auch Zelikow und Rice die NATO-Frühjahrskonferenz von 1989 in einer Weise ins Spiel bringen, die die Vermutung nahe legen soll, als ob es diese Verknüpfung von Beginn der neuen Bush-Strategie an gegeben hätte. Condoleezza Rice ließ in einem Interview Ende September 1999 keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Stärkung der NATO immer Ziel der amerikanischen Politik gewesen sei, wobei sie die Verbindung der Wiedervereinigung mit der NATC-Erweiterung nicht nur sehr früh ansiedelt, sondern - und das scheint mir das eigentlich Interessante - gar nicht als Problem sah, da die USA in keinem Fall der Entwicklung in Europa die NATO, ihren "Anker in Europa", aufgegeben hätten:
Rice: It is true that the United States had rea//y only one concern - and that was that German unification not destroy NATO. Because NATO was the force for peace in Germany, it was America 's anchor in Europe. And so the one concern was that German unification not destroy NATO. But there was absolutely no concern that somehow, by al/owing Germany to unify - and the Americans by the way insisted that it unify with no new constraints on its power- that somehow this was going to be a bad thing for Europe, this simply wasn 't in the American psyche. 20
°Condoleezza Rice im Gespräch mit mir am 17. September 1999 in der Stanford University.
2
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Demnach war es außerhalb der Möglichkeiten des US-Interesses, sich die Wiedervereinigung oder die Einheit Europas ohne eine NATC-Erweiterung auch nur vorzustellen. Unter diesem Blickwinkel bekommen auch die noch allgemeinen Äußerungen Bushs in der Mainzer Rheingold-Halle ("Jetzt ist diese Hoffnung die neue Aufgabe der NATO") einen Sinn, der auf Kontinuität der amerikanischen Politik mit der NATO hindeutet. In jedem Fall stärkte Bush, indem er die NATO-Erweiterung als Teil der Wiedervereinigung deutlich formulierte, im Laufe der weiteren Entwicklung Kohl den Rücken gegen die Kritik aus Westeuropa im Herbst 1989. Denn wie sollte eine Margret Thatcher die Wiedervereinigungspolitik torpedieren, wenn sie dafil.r die NATO-Erweiterung erhielt? Bush: I don 't want to overp/ay it - that we had to steamroller right over England or France. It wasn 't that offensive a division. ( .. .) As I told you, I think we had a, we made it very c/ear that we wanted Germany and that - and Kohl made c/ear, they wanted Germany to stay in NATO. (. ..)General Scowcroft and I and Jim Baker feit that really the sooner the better. Provided Germany be willing to, you know, recognize the Oder-Neiße line and borders, provided Germany was not going to get out of NATO. So we had assurances on those points and thus could be very enthusiastic about Germany being reunited 21 George Bushund sein Außenminister Baker betonen 10 Jahre später, dass sie niemals Zweifeldarangehabt hätten, dass sich Kohl in der Alternative Vereinigung oder Westbindung fil.r die Westbindung entschieden hätte. Sie hätten daher Kohl in seiner Wiedervereinigungspolitik "aggressiv" (Baker) unterstützt, eben unter der Voraussetzung, dass die NATO-Frage klar und die Oder-Neiße als Grenze gegenüber Polen anerkannt sei. Ein weiteres Problem hatten sie nicht: AvP: There were some politicians who saw the German division as a consequence ofNational Socia/ism in World War II, or even as a punishmentfor the crimes ofGerman politics. You did not? Bush: Not me. I didn 't. But I think you 're right. I think some people feit that Germany, having brutally invaded the low/ands and gone to war with most of the free world, was properly punished (. ..) But my view is: Germany earned, the 21 Im Gesprach mit mir am 25. September 1999 in Washington. Über die zOgerliche Haltung Kohls zu einer erneuten Erklllrung zur Anerkennung der Oder/Neiße-Grenze vor der Vereinigung gab es die einzige ernstzunehmende Differenz zu den Amerikanern, die diese Haltung als "mittlere PRKatastrophe" bezeichnet haben sollen.
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Federal Repub/ic of Germany earned its place by its adherence to democratic principles, free elections, democracy, freedom. And I saw that bringing that to the GDR would be a good positive thing for peace. This was an unnatural division. And unnatural divisions are not catalysts for peace. Das Hauptproblem fi1r die Amerikaner war jedoch, dass die Sowjetunion eine Ausweitung der NATO als gegen ihr Interesse gerichtet begriff und begreifen mußte: AvP: The critical point, I think, was the membership of a united Germany in theNATO. Scowcraft: Yes, yes, that was it. Then, after March22, he (Gorbatschow) agreed to German reunijication. But then he said, it has to be a neutral Germany. 23 Aber darauf ließ sich die Bush-Regierung nicht ein. Baker soll bereits im Februar 1990 die sowjetische Führung schließlich davon überzeugt haben, dass ein neutrales Deutschland gefährlicher sei, als ein in die NATO eingebundenes. Baker drückt dies im Interview etwas weniger schroff aus: AvP: How did you convince Gorbachev in this short time (dass das vereinte Deutschland Mitglied der NATO sein solle)? Baker: Weil, our argument against a neutral Germany was that a neutral Germany wou/d create greater instability in the heart of Europe than if Germany was anchored to the West through membership in the North Atlantic Treaty Organisation. 24 Jegor Ligatschow, der Hauptgegner Gorbatschows im Politbüro des ZK der KPdSU, betont einen weiteren, wahrscheinlich mindestens so wesentlichen Punkt: Baker habe "die Versicherungen seitens der Vereinigten Staaten von Amerika, seitens Deutschland, darüber abgegeben, dass keine NATOErweiterung in der östlichen Richtungfolgen wird, erfolgen würde. "25 Dieses Argument Ligatschows wird jedoch weder von Bush noch von Baker wiederholt, auch nicht in Bakers Memoiren. 26
22
Vermutlich meint Scowcraft den Februar 1990.
23
Im Interview mit mir arn 25.9.99.
24
Jarnes A. Baker interviewte ich arn 26.9.99 in Houston
s Im Gesprach mit mir arn 5. November 1999 in Moskau
2
26
James A. Baker: Drei Jahre, die die Welt veranderten. Erinnerungen, Berlin 1996.
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Auf den Jubiläumsveranstaltungen sitzt Bush, zurückhaltend und höflich, immer als die "Nr. 3 der Wiedervereinigung" nach Kohl und Gorbatschow, obwohl er der eigentliche Stratege gewesen sein dürfte. 27 Helmut Kohl jedenfalls, der in gewisser Weise zu Recht als der "oberste Wiedervereiniger'' gilt, kannwie es heute scheint- diese Rolle erst filr die Zeit nach dem Herbst 1989 filr sich reklamieren, und dies auch nur unter dem Schild der Regierung Bush. 3. Die Bürgerbewegung und ihre Wirkung auf professionelle Diplomaten
In den Darstellungen, besonders den journalistischen über die Wiedervereinigung spielt "die" Bürgerbewegung, die sich zu Beginn dieses Prozesses noch nicht so nannte und sehr heterogen war, eine ganz entscheidende Rolle. Sie habe die Herrschenden in Ost-Berlin zum Straucheln gebracht, einmal jene, die in die Bundesrepublik auswandern wollten und die DDR-Führung unter Druck setzten, aber auch jene, die sich zeitweilig als "Hierbleiber" bezeichneten und die DDR reformieren wollten. Ganz sicher haben die Proteste und oppositionellen Bewegungen insbesondere zuvor in Polen, in Ungarn und schließlich auch in der DDR die jeweiligen Machthaber in Berlin und Moskau tief beeindruckt. Als die Ausreiseanträge und Fluchtbewegungen stark anstiegen, beeinflusste dies in Ost wie West die Politiker fundamental. Wegen totaler Überftlllung schlossen die Missionen der Bundesrepublik in Ostberlin (am 8.8.89), in Budapest (14.8.), in Prag (23.8.) und später in Warschau (19.9.). Am 30. September 1989 verkündete Bundesaußenminister Genscher in der Prager Botschaft den Flüchtlingen die bevorstehende Ausreise in den Westen- der Jubel darüber gehört heute zu den medialen Wiedererkennungszeichen und häufig zitierten Symbolen der Ablehnung des Honecker-Regimes wie kaum ein anderes. Mit Sonderzügen der DDR-Reichsbahn fuhren rund 5.500 DDR-Bürger aus Prag und etwa 800 aus Warschau durch DDR-Gebiet in die Bundesrepublik in mehr oder minder verschlossenen Zügen. Genscher fragt sich in seinen Erinnerungen und fiktiv die damalige DDRFührung: Wie konnte die Führung in Ost-Berlin unterschätzen, welchen psychologischen Effekt der Transport lausender Flüchtlinge durch die DDR haben würde? Die Wirkung war unübersehbar. Bei einer direkten Ausreise wie der von Ungarn über Österreich wären die Konsequenzen kaum so schwerwiegend gewesen; nun aber hatte der politische Urstrom sich in Bewegung gesetzt und schob sich ungehindert durch die DDR. 28 27 Condoleezza Rice betonte im Interview, dass es Bush selbst gewesen sei, der seinen Stab von dieser neuen Strategie Oberzeugt hätte.
28
Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 24.
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Honecker schrieb im "Neuen Deutschland" seinen berühmten Satz: Er weine den Menschen, die aus der DDR fahren, "keine Träne" nach. Diesen Satz soll er selbst in das "Neue Deutschland" hineinredigiert haben. 29 Gorbatschow soll nach eigener Auskunft wie auch seiner Gegner und Berater geradezu erschüttert worden sein, als er am 6. Oktober 1989 anlässtich des 40. Jubiläums der Staatsgründung der DDR auf dem Weg vom Flughafen Schönefeld nur einen einzigen Demonstranten mit einem "Pro-Honecker-Schild" gesehen hatte, nämlich "Mach weiter so, Erich!" Alle anderen skandierten "Gorbi, Gorbi" und trugen entsprechende Transparente. 3° Für einen Regierungschef, der vor allem erzwungene oder wirkliche Zustimmung "seiner" Bevölkerung kannte, musste dies zu jener Zeit einen Einbruch signalisieren. Gorbatschow selbst sagt in einem ZDF-Interview dazu:
Die Menschen sahen, wie ihr Regime zu einem System wurde, das immer öfter seinen starren Konservatismus und seine Unfähigkeit, auf die Herausforderungen des Lebens zu reagieren, offenbarte. Das führte dazu, dass die Kluft zwischen der Bevölkerung und dem politischen Regime immer tiefer wurde. (...) Ich sah ein: Das war das Ende des Regimes. Beim Fackelzug der Jugendaktivisten- 70.000 FDJler defilierten auf der Straße "Unter den Linden" am Abend vor der versammelten realsozialistischen Elite vorbei- geschah Unerwartetes. Sogar aus den Reihen dieser DDR-Elite, geprüft und untermischt von der Stasi, ertönten laute, nicht abreißende "Gorbi, Gorbi"Rufe.
Gorbatschow: Junge Menschen, angereist aus ganz Deutschland, gingen in Kolonnen - sie wurden wahrscheinlich als beste ausgesucht - und riefen Gorbatschow auf, ihnen zu helfen, Perestroika in die Wirklichkeit umzusetzen und die Reformen in der DDR zustande zu bringen. 31 Als die Massen vorbeizogen und "Perestroika" und "Gorbi, hilf" riefen, soll sich- so Gorbatschow- Mieczyslaw Rakowski, der mit Jaruzelsky ebenfalls auf der Tribüne stand, zu Gorbatschow hinübergebeugt haben: ,"Michail Sergejewitsch, verstehen Sie, was für Losungen sie da schreien?' Und dann übersetzte er: ,Sie fordern: Gorbatschow, rette uns!"' Gorbatschow filgt in seinen Erinne-
29
Gerhard Schürer: Gewagt und gewonnen, Berlin 1998, S. 160.
Das berichtet Falin sowohl in seinen "Politischen Erinnerungen" (S. 484) wie im Interview ftlr den Film "Deutschlandspiel". 30
31
Gorbatschow im Interview mit Guido Knopp, o.J., S. 46.
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rungen hinzu: "Das ist doch das Aktiv der Partei. Das ist das Ende. "32 Und: "Es war ,fünfMinuten vor zwölf'. "33 Es ist heute schwer zu sagen, ob diese Erfahrungen nachträglich hochstilisiert werden im Sinne der Endzeiterwartung des ,,realen Sozialismus" zumindest in der DDR oder ob sich damals nicht auch bei Gorbatschow eine klammheimliche Freude darüber einschlich, das sein verknöcherter Intimfeind Honecker mit den Parolen Gorbatschows geschlagen wurde. Gorbatschow im Interview: 34 Honecker warf Krenz (später) sogar vor, er hätte solche Demonstranten extra ausgesucht, die sich direkt gegen Honecker einsetzten. Das zeugte von seinem Unverständnis. Sein Bewusstsein war benebelt, und er konnte nicht verstehen, was innerhalb der DDR und um sie herum geschah. Das zeugte von Boneckers Ende als Politiker. 35
Und Valentin Falin beschreibt in seinen politischen Erinnerungen, dass Gorbatschow danach mit seinen Beratern im Park in Niederschönhausen spazieren gegangen sei und gefragt habe: Gorbatschow nach Fa/in: Was sollen wir tun? Wir können die Leute doch nicht zum Schweigen zwingen. Honecker ist außer sich. Wenn er mit seinen eigenen Parteiaktiven nicht zurechtkommt, kann man sich leicht vorstellen, welche Stimmung unter den Massen herrscht. Irgendetwas haben wir nicht mitbekommen. 36
Am 7. Oktober wurde- so Gorbatschow, Falin, Krenz und viele andere- die Stimmung in den Gesprächen zwischen Gorbatschow und Honecker bzw. dem Politbüro eisig, insbesondere als Honecker auf die miserable Versorgungslage in der Sowjetunion anspielte und seinerseits Gorbatschow Hilfe anbot und zugleich erklärte: "Und jene, die das eigene Land ins Elend gefilhrt haben, wollen uns belehren. " 37 Dort hat Gorbatschow auch jenen Satz gesagt, der zum deutschen Sprichwort werden sollte: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben". Dieser Satz soll 32
Nach Gorbatschow: Erinnerungen, S. 934.
33
Ebenda, S. 935.
34
Interview mit Guido Knopp, S. 46 ff.
35
Ebenda, S. 936.
36
Fa/in: Politische Erinnerungen, S. 485.
37 Nach
Fa/in: Politische Erinnerungen, S. 486 f
Widersprüchliche Erinnerungen
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übrigens- so Nikolai Portugalow38 - eine kreative Schöpfung eines kongenialen Dolmetschers gewesen sein. Das russische Sprichwort, das Gorbatschow meinte, soll lauten: "Wer zu spät zum Essen kommt, muss mit dem vorlieb nehmen, was übrig geblieben ist." Während Gorbatschow und Falin, Schabowski und Krenz ihre Pläne schmiedeten, ließen Honecker und Mielke am Abend mit Härte und ohne Einsicht auf Demonstranten einprügeln - ein Meilenstein in der Entwicklung der Opposition. 39 Aber auch für Krenz und Schabowski war alles, was mit dem Besuch Gorbatschows in Erscheinung trat, ein Fanal, ein Aufruf für den Sturz Honeckersebenso wie für Gorbatschow selbst und seine Mannschaft. Kurz nach den Berliner Feierlichkeiten und den Polizeieinsätzen gegen Demonstranten sammelten sich in Leipzig am 9. Oktober, an dem "Tag der Entscheidung", in den Kirchen, auf den Straßen, in privaten Wohnungen Tausende von Menschen, um in der Innenstadt zu demonstrieren. Das stürzte die Leipziger SED- und Einsatzleitung in große Schwierigkeiten. Diese und andere MontagsDemonstrationen in Leipzig sowie die Haltung der SED-Bezirks- und Einsatzleitung sind in gewisser Weise symptomatisch für den Niedergang der DDR. Die Leipziger Ereignisse, häufig als entscheidend tituliert, sollen daher beispielhaftwenn auch hier in viel zu kurzer Form- dargestellt und untersucht werden. 40 Die Demonstranten hatten Angst, es könnte in Leipzig zu einer "chinesischen Lösung" kommen - entsprechend der Ereignisse auf dem Tienanmen-Platz, wo Sicherheitskräfte ein Blutbad angerichtet hatten. Die Einsatzleitung ihrerseits, bestehend aus dem zweiten SED-Bezirkschef Helmut Hackenberg4 \ dem Leipziger Stasi-Chef Manfred Hurnmitzsch und dem Chef der Bezirksdirektion der Volkspolizei Generalmajor Gerhard Straßenburg, fürchtete sich ebenfalls vor diesem Tag und hatte sich vorbereitet. Unter den Demonstranten war man der 38
Im Gesprach mit mir am 1.10.99 in LUdenscheid.
Vgl. hierzu die Interviews: Hans Christoph Blumenbergs mit Ulrike Poppe und anderen Oppositionellen, die im Archiv des Institut ftlr Geschichte und Biographie der Fernuniversitat Hagen einsehbar sind. 39
°
4 Fußend aufverschiedenen Quellen, auf Akten des Mdl bzw. der Volkspolizei und Interviews mit Beteiligten und Verantwortlichen wie mit Egon Krenz, dem kommissarischen SED-Bezirkschef Hackenberg, mit Unterzeichnern des Aufrufs der "Leipziger Sechs" und mit Aktivisten und Teilnehmern der Demonstrationen sowie auf Ausarbeitungen vor allem von Tobias Hollitzer und Uwe Schwabe. Hollitzer, Tobias: Der friedliche Verlauf des 9. Oktober 1989 in Leipzig- Kapitulation oder Reformbereitschaft? Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkung. Ein Beitrag zur Geschichte der Entwicklung 1989/90 in Leipzig, in:. "Revolution und Transformation in der DDR 19989/90", hg. von Günther Heydemann, Gunther Mai und Werner Müller (Leipzig 1999); Dietrich, Christian und Schwabe, Uwe (Hg.): Freunde und Feinde. Friedensgebete in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989, Leipzig 1994. Vgl. auch. Tobias Hol/itzer (Hg.): Heute vor 10 Jahren. Leipzig auf dem Weg zur friedlichen Revolution, Bonn, Dover, Fribourg, Leipzig; New York; Ostrava, 2000; 41
Der erste Sekretar war krank.
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Meinung, dass man sich in der Führung auf eine blutige Auseinandersetzung vorbereitet hatte. Innerhalb der Einsatzleitung gab es in der Tat Vorbereitungen, "bei Provokationen" mit der geballten Kraft mindestens der Polizei zuzuschlagen, wenn nicht mehr. 42 Zu der befilrchteten Schlacht kam es bekanntermaßen nicht. Je nach Standort heften sich im Nachhinein verschiedene Gruppen und Personen das Verdienst dafilr an die eigene Brust. Sicher ist, dass der Aufmarsch von zigtausend Demonstranten - auch die Zahl wird unterschiedlich gesehen die Einsatzleitung erschreckte und ihr klarmachte, dass jeder kleinste Funke eine Explosion auslösen könnte und dass ihre geplanten Maßnahmen angesichts der verstopften Innenstadt und ihrer Zuwege bei irgendwelchen "Provokationen" nur mit einem Blutbad durchsetzbar gewesen wären. Tatsache ist, dass sich die Demonstranten nicht demoralisieren ließen, dass verschiedene Gruppen - unter ihnen die "Leipziger Sechs"43 - Mäßigungsaufrufe verbreiteten, und "Fakt ist" auch, dass es die Einsatzleitung selbst war, aus der der Befehl zum Rückzug kam. Helmut Hackenberg, damals also kommissarischer Bezirkschef der SED, berichtete, dass der Jugendforscher Walter Friedrich44 noch am Morgen des 9. Oktober in der Berliner SED-Zentrale gewesen sei und gewarnt hätte, die Lage sei so, dass "am Abend Blut fließen würde". Dennoch habe Krenz, der selbst "allein gestanden" hätte, sich nicht bei ihm, Hackenberg, der die Befehlsgewalt in Leipzig hatte, gemeldet.
Hackenberg: Ich kann nur so viel sagen: Dass an diesem Tage, und das ist das, was ich persönlich nicht für gut finde, nicht einer des Zentralkomitees oder besser gesagt: des Politbüros oder Sekretariat des ZK versucht hat, mit mir zu sprechen. Nicht einer. 45 42 Allerdings bestreitet Helmut Hackenberg in dem erwähnten Interview vor seinem Tode mit einem Studenten ganz energisch, dass es einen "Befehl gegeben hat, sondern dass grundsatzlieh der Befehl bestand, ohne Munition auszurücken. Ich verweise darauf, dass die Kampfgruppen, die zur Absicherung der ganzen Demonstration eingesetzt wurden, keine Waffen hatten." (S. 3) Hingegen hatten Offiziere Waffen getragen. Auf Vorhaltungen des Interviewers, Hackenberg selbst sei entscheidend an den polizeilichen und militarischen Vorbereitungen beteiligt gewesen, bestreitet Hakkenberg auch nicht, dass an Wachmannschaften Waffen und Munition ausgegeben worden seien- 90 Schuss meinte der Interviewer. Das sei üblich gewesen und hatte nichts mit der Demonstration zu tun gehabt, antwortete Hackenberg. (ebenda) 43 Die "Leipziger Sechs" hatten unter Initiative des Gewandhaus-Kapellmeisters Kurt Masur und unter Beteiligung der Sekretare der SED-Bezirksleitung Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel sowie des Kabarettisten Bemd-Lutz Lange und des Theologen Peter Zimmermann ebenfalls einen Aufrufzur Maßigung verfasst, der ober das Radio und Ober Flugblatter verbreitet worden war. Über die Wirkung des Aufrufs gibt es unterschiedliche Meinung: Demonstranten berichteten, dass er kaum wahrgenommen worden war; aber sicherlich hatte es große Bedeutung, dass so namhafte Personen, besonders Mitglieder der SED-Bezirksleitung sich in dieser Weise außerten. Der wohl vorher nicht davon informierte Hackenberg soll besonders erbost gewesen sein.
44 Egon Krenz bestatigt dies in: Wenn Mauem fallen. Die friedliche Revolution: Vorgeschichte, Ablauf, Auswirkungen, Wien 1990
•~ Das Interview führte ein junger Student kurz vor dem Tod Hackenbergs.
WidersprUchliehe Erinnerungen
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Diese Enttäuschung wiederholt er mehrfach und setzt fort:
Egon Krenz hat in dem Prozess des Tages bis 19hl5 nicht eingegriffen und auch kein anderer, sondern ich war allein auf meine Befehlsgewalt angewiesen, gemeinsam mit meinen Genossen der Bezirkseinsatzleitung. Alles das, was geschah, ist also mit unserer Befehlsgewalt ermöglicht worden. Hackenberg hat dann den Befehl zum Rückzug gegeben und um 19 Uhr 15 h, also nachträglich, Krenz angerufen, um ihn zu informieren. Der habe gesagt, er könne das nur entgegennehmen und mit anderen fUhrenden Genossen besprechen.
Hackenberg: Und er hat mich dann also, sagen wir mal, nach 20 Uhr angerufen und hat mir gesagt, sie bestätigen mir meine Entscheidung. Und dabei ist noch der Satz gefallen, den will ich auch aussprechen: "Ob wir beide morgen früh noch in Funktion sitzen, weiß ich nicht, Helmut. Warten wir ab." Der informierte Interviewer rechnet und fragt nach:
Interviewer: Um wie viel Uhr haben Sie denn den Befehl gegeben, die Einsatzkräfte zurückzuziehen? Hackenberg: 18 Uhr 30. 46 Das heißt, dass der Anruf bei Krenz nach 19 Uhr keine entscheidende Bedeutung mehr hatte. Das meint in eigener Sache auch Egon Krenz im Interview:
Krenz: Innenminister Dicke/ hatte eine Fernsehstandleitung, also er konnte am Fernsehen verfolgen, wie sich dort die Dinge entwickeln. Also dieser Kontakt war mir wichtiger, um zu wissen, was ist dort los. Ich hab auch ein Telefongespräch mit dem amtierenden Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, meinem Freund Hackenberg, gehabt. Manchmal wird nun so getan, dass ich ihn zu spät angerufen hätte. Aber von diesem Anruf hing überhaupt nichts ab. Sie müssen sich vorstellen, am 9. Oktober waren die staatlichen Strukturen in der DDR noch in Ordnung. Wenn es dort einen Schießbefehl gegeben hätte, wenn es ihn gegeben hätte, hätte ihn niemand anders außer Kraft setzen können als Leute, die in Berlin die Befehlsgewalt hatten. Und alles andere, was da rum sozusagen existiert, sind Legenden. Tatsache ist, dass (es) in Ber/in keinen Befehl zur Gewaltanwendung gegeben hat - ein Glück- nicht gegeben hat.
46
Ebenda.
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Alexander v. Plato
Krenz übersieht - abgesehen von der Frage des Schießbefehls - eines besonders, was aber entscheidend ist: Hackenberg oder die gesamte Bezirkseinsatzleitung ftlhlte sich allein gelassen von Berlin, das spätestens nach dem erwähnten Besuch von Walter Friedrich wissen musste, dass die Gefahrdes Blutvergießens bestand. Ihn, Hackenberg, nicht oder erst zu spät anzurufen bedeutete, dass sich die Einsatzleitung darauf vorbereiten musste, allein zu entscheiden, wenn es zu Auseinandersetzungen gekommen wäre. Wesentlich fiir Hackenberg war, dass er nicht verantwortlich sein wollte filr ein mögliches Blutvergießen47 , das auch nach seiner Ansicht enorme Auswirkungen auf die Weltpolitik hätte haben können. Was hier deutlich wird: Mittlere Kader, eingeschätzt als "Hardliner", stehen in einer weitreichenden politischen Entscheidungssituation allein, deren Tragweite ihnen und besonders Hackenberg durchaus klar wird. Und der Bezirkschef entscheidet schließlich allein - natürlich auf Druck der Demonstranten, der aber bei anderer Konstellation in der Führung durchaus zur Eskalation hätte fUhren können. Hier sollte die Bürgerbewegung ihre Rolle nicht überschätzen. In jedem Fall entscheidet die mittlere Führungsebene vor dem Ende der Gefahr, und zwar ohne Berlin und ruft erst später dort an.48 Das heißt: Wir haben hier eine unsichtbare und kraftlose Führung in Berlin, eine in Entscheidungsnot gezwungene mittlere Ebene vor Ort - und diese mittlere Ebene entscheidet schließlich mehr oder minder hilflos gegen eine mögliche Eskalation.49 Das ist symptomatisch fi1r die ganze Entwicklung in der DDR zu dieser Zeit bis hin zum 9. November, zum Tag des Mauerfalls, als sich Ähnliches wiederholte: Das ZK tagte, bekam offenbar das Brisante der Situation in dieser Nacht nicht mit, so dass mittlere Offiziere an der Grenze entscheiden mussten, ob sie ihren Übergang öffnen oder nicht. Die Leipziger Demonstration vom 9. Oktober 1989 und deren Nachbereitung durch die politische Führung und die leitenden Offiziere der Sicherheitskräfte am 13. Oktober trug schließlich zum Sturz Honeckers bei. Honecker wollte filr den folgenden Montag, den 16. Oktober Panzer durch Leipzig als Demonstration der 47 Hier wie an anderen Stellen betont Hackenberg, dass von ihnen aus Oberhaupt nicht an das "Schießen auf Demonstranten" gedacht worden sei. Sie seien keine Menschenverachter gewesen. 48 Wobei mir nach verschiedenen Berichten nicht klar ist, ob Hackenberg sich nicht auch vorher am Nachmittag um Gesprache mit Krenz bemüht hatte.
49 Diese Version ist hochplausibel und abgesichert durch zahlreiche Gesprache, durch das erwahnte unveröffentlichte Interview mit Hackenberg und Berichte (so durch den "Sachstandsbericht" Straßenburgsan Innenminister Dicke! vom 10.10.89 02.00 Uhr wenig spater, in: Horch und Guck Heft 23 (2/1998), Tobias Hollitzers unveröffentlichtes Manuskript, Leipzig 1999). Zeitweilig betonte Straßenburg seine "entscheidende" Rolle starker (mündliche Aussage von Langener [Bürgerkomitee Leipzig], ebenso mit Zarges [Hauptarchivar, Leipzig]. Und Schabowski legt absichtlich oder auch nicht ein starkeres Gewicht auf die drei Mitglieder der Bezirksleitung, die den Maßigungsaufruf der 'Leipziger 6' unterschrieben; aber sie hatten keine Entscheidungskompetenz. (Schabowski. S. 251 f.).
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Macht rasseln lassen, während Krenz, General Streletz, stellvertretender, damals auch amtierender Verteidigungsminister50 und Chef des Hauptstabes der NVA, sowie andere Politbüromitglieder filr einen Einsatzplan ohne militärische Gewalt waren, bei dem die Soldaten in den Kasernen des weiteren Umfeldes bleiben sollten. Kurz zuvor, am 13. Oktober, hatte es in Leipzig eine Nachbesprechung gegeben, und Krenz hatte die Situation genutzt, mit Streletz und anderen Militärs gesprochen und deren Rückendeckung bei einer Absetzung Honeckers erhalten. Honecker selbst hatte dann diesen Einsatzplan in Gestalt des Befehls 9/89, den ihm Krenz und Streletz vorlegten, unterschrieben. Dabei forderte er Streletz immerhin auf, bei dem Chef der sowjetischen Truppen, Armeegeneral Snetkov, anzurufen und zu bitten, nach Möglichkeit keine Truppenbewegung, keine Übungen in den Räumen Dresden, Leipzig, Potsdam und Berlin durchzufllhren. Armeegeneral Snetkow zeigte, so Streletz, dafilr vollstes Verständnis, versprach Einhaltung, filgte jedoch etwas hinzu, das filr diesen Zusammenhang besonders interessant ist: Snetkow nach Streletz: "Genosse Stre/etz, ich unterstreiche noch mal, wenn die Nationale Volksarmee Hilfe, Unterstützung benötigt, die Gruppe ist bereit, Ihren Waffenbrüdern der NVAjegliche Hilfe zuteil werden zu lassen. "51
Dazu kam es bekanntermaßen nicht, Honecker schaute sich über Monitore bei Innenminister Dickel die nächste Montagsdemonstration zusammen mit anderen fUhrenden Funktonären an. Strelitz musste Honecker die Losungen vorlesen, die dort getragen oder gerufen wurden, und soll während der Demonstration den Einsatz von Fallschirmjägern gefordert haben, was die anderen abbogen. Auf der Politibüro-Sitzung am 17. Oktober 1989 wurde Honecker dann abgesetzt. Auch an diesem Beispiel wird deutlich: Die Massendemonstrationen in Leipzig, Berlin und andernorts haben die Führung, vermutlich mit Ausnahme Honekkers, "weich geklopft", natürlich auf der Grundlage des Wissens um den Niedergang der DDR-Wirtschaft und auf dem Hintergrund der Änderungen in der Sowjetunion. Aber paradox genug- ohne diese "Schwächung" der verhassten Führung inklusive der Armee und ohne die Verabredungen zwischen der Generalität der DDR, ihrer politischen Führung und der Roten-Armee-Gruppe wären die Demonstrationen und die demokratische Entwicklung in der DDR in größerer Gefahr gewesen. Das ist das Mindeste, was man dazu sagen kann. Die Bürgerbewegung wurde im Laufe des Herbstes und des Winters stärker, mindestens aber öffentlichkeitswirksamer, besonders durch die "Runden Tische". Der Niedergang der SED kam ihr ebenso zu Gute wie die mangelnde Basis der Regierung Modrow, der sie selbst in die Regierung mit Ministern ohne 50
weil sich Minister Kessler vom 12. bis zum 18. Oktober in Kuba bzw. Nicaragua befand.
'1
Gespräch Blumenberg mit Streletz.
37 Tlmmermann
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Geschäftsbereich holte und damit an der Macht beteiligte. Modrow war am 13. November 1989 zum Ministerpräsidenten bestimmt und wenige Tage später noch von Krenz vereidigt worden, der selbst am 3 .12. 1989 abgesetzt wurde, während Modrow bis zur Reßierung de Maiziere im April 1990 als "Manager des Übergangs" (de Maiziere 2) blieb. Die Machtbeteiligung der Runden Tische fand also, wenn auch nicht gleichgewichtig, sogar in den fuhrenden Staatsinstitutionen statt. Aber das Verhältnis zur Macht, an der sie nun beteiligt waren, war zwiespältig - dies zeigen Interviews mit Angehörigen der Opposition . ., Wir hatten eine Vorstellung von Demokratie", so beispielsweise Ulrike Poppe, .. dass wir uns nicht in eine Position begeben wollten, in der wir nicht legitimiert waren, Macht auszuüben, und deshalb haben wir es als sinnvoller erachtet, so ein Gremium zu schaffen, was die mangelnde Legitimierung der Volkskammer ausgleicht undfür die Übergangszeit eine Koordinierung übernimmt. "53 Neben der Beziehung zur Macht spielte natürlich das Verhältnis zu den geheimdienstlichen Organen bzw. die Politik Modrows zu denselben eine wesentliche Rolle fiir die Opposition. Diese Frage fiihrte letztlich zum Sturm auf die "Bastion"54 der Staatssicherheit in der Normannenstraße am 15. Januar 1990. Lotbar de Maiziere stimmte meiner Feststellung zu, dass die Minister ohne Geschäftsbereich eine Politik fiir die Beibehaltung der DDR betrieben und fast alle diese Minister ohne Geschäftsbereich gegen die Übernahme des Grundgesetzes fiir die DDR waren, im Gegensatz zur Mehrheit der DDR-Bürger, die am 18. März 1990 fiir eine rasche Wiedervereinigung stimmten. Oe Maiziere fährt dann fort:
Das haben sie (die Bürgerrechtler) im Übrigen durchgehalten. In der Abstimmung in der Volkskammer im August 1990 über das Datum der Herstellung (der Einheit) und über den Einigungsvertrag haben von den gesamten Bürgerrechtlern, die ja in der Fraktion Bündnis 90/Grüne zusammengefasst waren, nur Konrad Weiß und Joachim Gauck für die deutsche Einheit gestimmt, alle anderen haben dagegen gestimmt oder sich enthalten. Und beim Einigungsvertrag hat sich einer enthalten, Herr Mähler, alle anderen haben dagegen Jestimmt. Also dieser Saulus-Paulus-E.ffekt ist erst wesentlich später eingetreten. 5
n So mehrfach, auch im Gespräch mit mir am 1.11.2000.
sJ Ulrike Poppe im Interview mit Blumenberg. s• Das Wort führte dann wohl auch bei einigen zu dem etwas anspruchsvollen Begriff vom "Sturm auf die Bastille", sodeMaiziere im Gespräch mit mir am 1.11.00. ss Ebenda.
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Den meisten von ihnen ging es nach eigener Auffassung um die Eigenständigkeit ihrer Politik auch gegenüber der Bundesrepublik, um eigenständig verantwortete demokratische Veränderungen in der DDR, um eine verfassunggebende Versammlung fUr ein neues Gesamtdeutschland, nicht um die Übernahme des Grundgesetzes. Und ganz besonders wollte damals niemand die NATOErweiterung auf das Staatsgebiet der DDR. Im Gegenteil: Man befiirchtete dadurch eine Gefährdung der Politik Gorbatschows in der Sowjetunion, wie insbesondere der Außenminister der de-Maiziere-Regierung und Mitgründer der SDP, Meckel, formulierte. Nicht nur Meckel, fast alle Vertreter des zentralen Runden Tisches, die Modrow zu Recht scharf wegen seiner Politik gegenüber den Sicherheitsorganen der DDR, insbesondere die Staatssicherheit kritisierten, waren in "Großwetterlagen"-Konzepten mit einer immer noch überschätzten Sowjetunion als Zentrum Ost- und Mitteleuropas und gegen die Bundesrepublik befangen. Und sie waren - verstehbar genug - voller Sorge um die Position Gorbatschows. Modrow war in vielen Fragen der Ökonomie weitergehend als die Bürgerbewegung und hat dies auch gegenüber Kohl formuliert, so zum Beispiel in der Frage der Konföderation bzw. der Vertragsgemeinschaft, der Treuhand, der Wirtschaftspolitik angesichts des ökonomischen Niedergangs der DDR, der Kredite von der BRD, des Abbaus der Subventionierung usw. Im Gespräch mit Kohl am 3. Februar 1990 in Davos soll Modrow nach den Akten des Bundeskanzleramtes gesagt haben: Wenn er solch eine Angelegenheit mit dem Runden Tisch bespreche und sich dann alles hinziehe, sei die DDR "erledigt". "Mit Unterstützung der Bundesrepublik kommen wir vielleicht über den März hinweg bis Anfang Mai". 56 In ökonomischen Fragen erscheinen die Vertreter der Bürgerbewegung eher naiv. Machtpolitik und demokratisches Verhalten klafften in der niedergehenden DDR weit auseinander. Man kann also entgegen vieler nachträglicher Mythen oder Auslassungen in den Medien nicht davon sprechen, dass die Bürgerbewegung eine Avantgarde der wirklichen Entwicklung zur Wiedervereinigung darstellte - so bedeutsam sie fUr den Niedergang des SED-Regimes war und so sympathisch und innovativ ihre Ziele auch heute noch erscheinen. Ziel und Richtung der Wiedervereinigung wurden von den Staatskanzleien der verschiedenen beteiligten Staaten und ihren Außenministerien bestimmt. Die Bürgerbewegung war eine DDR-Opposition und erlebte ihren Niedergang mit dem der DDR, ihre verschiedenen Richtungen mussten sich dann eingliedern in die kritischen Oppositionellen der Bundesrepublik. Aber, um es paradox zu formulieren, diese demokratische Bürgerbewegung, die etwas anderes als jene Staatskanzleien wollte, war dennoch wesentliche Voraussetzung fUr deren Politik.
56
37•
Akten des Bundeskanzleramtes, S. 753 ff.
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4. Die Sowjetische Führung und ihre Gegner
Die Politik der Sowjetunion unter Gorbatschow war - Mythos hin, Mythos her - filr den gesamten Vereinigungsprozess von besonderer Bedeutung, und zwar auf verschiedenen Ebenen: Unter anderem auf der Ebene der Hoffnung und des Vorbildcharakters für viele, nicht nur für Oppositionelle in der DDR sowie auf der politischen Ebene der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten des sowjetischen Hegemonialbereichs. Im Westen wurde die Politik Gorbatschows anfiinglich unterschiedlich beurteilt. Man erinnere sich nur an den Vergleich Gorbatschows mit Goebbels, den Kohl 1988 anstellte, oder daran, wie umgekehrt Margret Thatcher Gorbatschow geradezu als "ihr Kind" fiir den Westen begriff. 57 Aber bald wurde besonders positiv vermerkt, dass die Sowjetunion unter Gorbatschow seit 1988 den Ländern des RGW größere Eigenständigkeiten zugestand, die zuvor kaum denkbar waren, die die Entfaltung einer unabhängig(er)en Politik in Polen, in Ungarn und eben auch in der DDR sowie schließlich in ganz Osteuropa ermöglichten. Besonders wesentlich wurde fiir den Prozess der Umgestaltungen, dass die Regierung unter Gorbatschow das Prinzip der militärischen Nichteinmischung durchhielt. Ansonsten haben die westlichen Diplomaten die Politik Gorbatschows und seines Außenministers als schwankend, widersprüchlich und dilettantisch (also als wenig "meisterlich" im Gegensatz zum "SPIEGEL") gesehen, wobei die meisten der Protagonisten, die wir befragten, diese Schwankungen auf den Kampf zwischen alten Hardlinern und dem Generalsekretär und seiner Mannschaft zurUckftlhren. Diese Widersprüche wurden durch die Politik der USA und der Bundesrepublik zugespitzt mit der Strategie einer NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland. Warum dann die Sowjetunion zunächst die Wiedervereinigung (Anfang Februar 1990), dann die 2+4-Gespräche statt einer Viermächte("Sieger")Konferenz und schließlich diese NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland (am 31. Mai in Washington)58 akzeptierte, wird im Westen eher auf die miserable wirtschaftliche Lage in der DDR und zunehmend auch der Sowjetunion, auf den Zerfallsprozess innerhalb der Sowjetunion selbst (Litauen erklärte schon im Dezember 1989 einseitig die Unabhängigkeit), aber auch auf andere Gründe zurückgeftlhrt.
51 Vgl. das Interview, das ich im September 1999 mit dem persönlichen Sekretar und Berater von Margret Thatcher, Charles Powell, ftlhrte. 58 Vgl. hierzu neben den Interviews Bakers Bericht von dem "dramatischen Moment" (Bush im Interview), als Gorbatschow zustimmte, die Deutschen mUssten auch Ober die Allianzzugehörigkeit selbst bestimmen können. (Baker, Erinnerungen, a.a.O., S. 225)
Widersprüchliche Erinnerungen
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Wie erwähnt betonen Bush und Baker, dass sie den Sowjets klargemacht hätten, dass ein neutrales Deutschland wenig stabilisierend sei filr Europa. 59 Die ebenfalls erwähnte Erklärung des Mitglieds der Politbüros des ZK der KPdSU und Gorbatschow-Gegners, Jegor Ligatschow, Baker habe Anfang Februar in Moskau zugesichert, es würde keine weitere Ost-Erweiterung der NATO geben, findet sich weder in den Memoiren Bakers noch in den Interviews mit ihm, Bush oder Rice. 60 Wesentlich dürfte auch gewesen sein, dass die innere Dynamik in der DDR, aber auch in der BRD, auf die Vereinigung zulief und man diese Entwicklung nur mit einem militärischen Eingreifen hätte korrigieren können. Wie miserabel die wirtschaftliche Lage der Sowjetunion war und welche Bedeutung dies fiir die Politik hatte, stellte sich mit aller Deutlichkeit bei dem Besuch Schewardnadses Anfang Mai 1990 in Deutschland heraus. Er bat Kohl um einen 5 Milliarden-Kredit.61 Teltschik flog unter größter Geheimhaltung am 13. Mai 1990 mit den Bänkem Hilmar Kopper von der Deutschen Bank und Wolfgang Röller von der Dresdner Bank nach Moskau und hatte dort die schwierige Aufgabe, die Gewährung des Kredits an die Zustimmung zur Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO zu koppeln. Genau diese Tatsache erwähnt Teltschik noch nicht in seinem Buch, sondern aufNachfrage in späteren Interviews. 62 Es ist bekannt und auch verständlich, dass die westeuropäischen Partner mit Ausnahme des sozialistischen Gonzales dem raschen Wiedervereinigungsprozess mit Misstrauen begegneten. Insbesondere trifft dies filr Margret Thatcher zu, aber auch filr Francois Mitterrand, beide mit dem Hinweis darauf, dass man durch diese Dynamik die Position Gorbatschows gefährde. Bei einer Zusammenkunft beider am Rande eines EG-Gipfels in Straßburg am 8. Dezember sollso Mitterrand-Berater Jacques Attali- Margret Thatcher zwei Europakarten, eine aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, eine aus der Nachkriegszeit, aus ihrer Handtasche geholt und auf die Pommern-, Ostpreußen-Zeichnungen geklopft und dabei gerufen haben: "All das werden sie sich wieder holen, und die CSSR
s9 So auch in den Gesprächen mit mir Ende September 1999. 60 Vgl. zum Besuch Baicers Anfang Februar in Moskau und in Mittel- und Osteuropa seine Erinnerungen, a.a.O., S. 176 ff. Hier ist nicht einmal die Rede davon, dass nun- nach dem Minister- und Berater-Treffen vom 26. Januar 1990 in Moskau- die Wiedervereinigung zugestanden worden sei, ohne die Neutralitätsbedingung zu stellen. 61 Wie sich später - so Teltschik - herausstellte, wäre die SU kune Zeit danach zahlungsunfllhig gewesen.
62 Darunter auch im Gespräch mit mir. Siehe Teltschik 329 Tage, a.a.O., S. 230 ff. Warum er in seinem Buch nicht die "Gegenleistung" der NATO-Mitgliedschaft erwähnt und warum er die Gelegenheit nicht nutzt, diese Kreditverhandlungen als Durchbruch in der Frage der NATOMitgliedschaft des vereinten Deutschland darzustellen, und zwar zwei Wochen vor den Amerikanern, ist mir nicht bekannt. Teltschik deutet an, dass er diese Gegenleistung nur sehr vorsichtig formuliert hatte.
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dazu. "63 Kohl spricht 1m Interview von einer "feindseligen Atmosphäre" in Strassburg.
Gorbatschow wurde von der französischen Regierung unter Mitterrand und besonders von der britischen unter Thatcher zwiespältig gesehen und genutzt: Zum einen gab es die reale Sorge, dass ein überstürzter Vereinigungsprozess in der Sowjetunion eine Gegenreaktion hervorrufen würde, derer Gorbatschow und seine Mitstreiter nicht mehr Herr werden könnten; darüber hinaus wurde diese Sorge auch instrumentalisiert, um die Wiedervereinigung und damit ein übermäßig starkes Deutschland zu verhindern. 64 In der Sowjetunion wird die Politik Gorbatschows interessengemäß anders gesehen als vom Westen aus. In seine Regierungszeit fallen der ökonomische Niedergang der Sowjetunion, der Austritt zahlreicher Republiken aus der Union sozialistischer Sowjetrepubliken, ihr schließlicher Zerfall und damit der Verlust ihrer bedeutenden Rolle als Supermacht. Die Kritik an seiner Politik bzw. der von Schewardnadse geht von Korruption über Verrat an den kommunistischen Zielen bis hin zum Landesverrat, nur auf Seiten der kleinen demokratischen Parteien wird er als der Pionier der Entwicklung zu Demokratie und Marktwirtschaft gesehen. In der engeren Führung der damaligen Sowjetunion, also im Politbüro, hatte Gorbatschows Politik Gegner gefunden: Insbesondere Jegor Ligatschow wird von ihm selbst genannt, Schewardnadse filgt Valentirr Falin hinzu, später reihen sich auch der KGB-Chef Wladimir Krjutschkow und der Marschall Sergej Achromejew ein. Über diese Auseinandersetzungen gibt es gegenwärtig im wesentlichen nur die Aussagen der Beteiligten selbst - und die sind mehr als widersprüchlich, was auch angesichts der gerade geschilderten späteren extrem widersprüchlichen Sichtweisen erklärbar ist. Denn auch Gorbatschow funktionalisierte seine Gegner, um im Westen den sowjetischen Einsatz und damit westliche Gegenleistungen zu erhöhen. Somit zeigen sich auf seiner Seite nachträgliche Versuche, seine und Schewardnadses Politik stringent aussehen zu lassen, die filr äußere, westliche Augen nur deshalb schwankend erscheine, weil die dort wenig bekannten inneren Gegner dieser Politik hätten im Zaum gehalten werden müssen.
63 Jacques Attali: Verbatim III (1988-1991), Paris 1995. Charles Powell, den ich am 27. September 1999 in London befragte, will diese Szene, an der nur er neben Thatcher und nur Anali neben Minerrand beteiligt waren, nicht explizit bestätigen, stimmt ihr aber indirekt zu und erklärt übrigens, dass die britische Politik zur Wiedervereinigung ein "failure" war. 64 Portugalow spricht von einer "erbarmlichen" Haltung Thatchers, die die sowjetische Führung zu alldem gedrangt habe gegen die Wiedervereinigung, was sie sich selbst als Verbündete nicht traute. (Im Gespräch mit mir, a.a.O.,)
Widersprüchliche Erinnerungen
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Diese Gegner- mit Ausnahme von Marschall Achromejew, der als späterer gescheiterter Putschist Selbstmord beging - haben ihrerseits in ihrer heutigen Kritik und in ihrem heutigen Umfeld ein Interesse daran, ihre Position einerseits diametral entgegengesetzt zu der von Gorbatschow zu beschreiben, andererseits aber müssen sie sich als von ihm Getäuschte und Hintergangene erscheinen lassen, damit erklärbar wird, warum sie nicht schon früher offen Front gegen Gorbatschow gemacht hätten. Bei allen gibt es nach den bisher zugänglichen Quellen Mythen, legitimierende Erklärungen und überzogene Feindbilder. Trotzdem muss die Frage gestellt werden: Wer war von diesen Feinden Gorbatschows eigentlich gegen die Wiedervereinigung? Beginnen wir mit einem produktiven Missverständnis: Am 2 I. November 1989, also nach dem Fall der Mauer, kam Nikolai Portugalow65 nach Bonn. Nach seiner Auskunft wurde er von Valentin Falin geschickt66 , dem Leiter der Internationalen Abteilung beim ZK der KPdSU. Falin selbst hat dies bis 1999 sehr zum Ärger von Portugalow bestritten, vermutlich um seine Rolle in dieser Wiedervereinigungspolitik und bei deren Beschleunigung herunterzuspielen. Erst 1999 hat Falin in den hier angefiihrten Interviews zugegeben, dass Portugalows Angabe richtig war. Portugalow kam aber nicht nur mit einem vorher vermutlich mit Falin schriftlich fixierten Auftrag, sondern er traf bei Horst Teltschik im Bundeskanzleramt zusätzlich mit einem handschriftlichen "Non-Paper" ein, das er im Hotel selbst geschrieben hatte, wie er im Gespräch mit mir berichtete. Nach den Akten des Bundeskanzleramtes stand in dem nichtamtlichen Papier folgendes:
Rein theoretisch gefragt: Wenn die Bundesregierung beabsichtigen würde die Frage der Wiedervereinigung bzw. Neuvereinigung in die praktische Politik einzuführen, dann wäre es vernünftig, öffentlich über die Vorste//ung der zukünftigen A//ianzzugehörigkeit beider deutschen Staaten, also Nato und Warschauer Pakt, und ebenso über die Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft nachzudenken. 67 Das waren nun völlig neue Signale, und es ist kein Wunder, dass Teltschik "elektrisiert" war. 65 Deutschlandspezialist bei der Internationalen Abteilung des ZK der KpdSU, Jg. 1928, zur sog. .,Gennanistenfraktion" gezahlt und sich selbst auch so bezeichnend. 66
Im Gespräch mit mir am I. November 1999 in Ludenscheid.
Zitiert nach Akten des Bundeskanzleramtes, S. 616 ff. Portugalow stimmte in einem Gespräch mit mir dieser Zusammenfassung (mit Ausnahme der Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft) zu. 67
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Von wem Portugalow eigentlich geschickt war, bleibt nicht nur wegen Falins jahrelanger Ablehnung jedweder Verantwortung fiir diesen Besuch unklar. Teltschik selbst hatte in seinem Bericht vom 6. Dezember 1989 an Kohl geschrieben, das amtliche wie das nichtamtliche Dokument seien ihm "auf dem zwischen Ihnen (Kohl) und Generalsekretär Gorbatschow verabredeten vertraulichen Wege übermittelt worden". 68 Demnach hätte dieser Besuch doch zumindest mit dem Wissen Gorbatschows stattgefunden.69 Interessanterweise hat der damalige KGB-Chef Krjutschkow eine etwas andere Theorie. Auf meine Frage, wer seiner Meinung nach Portugalow betraut hätte, antwortete er, es sei Alexander Nikolaiwitsch Jakowlew, ein Mann Gorbatschows im Politbüro, gewesen, der schon seit 1987 filr die Wiedervereinigung intrigiert hätte. Auf meine Frage nach Falin als Auftraggeber Portugalows, antwortet er:
Krjutschkow: Ich denke, dass Fa/in so eine Anweisung nicht geben konnte. Das schließe ich aus. Also Fa/in kann man dessen nicht beschuldigen. Ich habe bloß gesagt, dass Portugalow ein Mann von Jakowlew war. Und dann kann man diese Situation, die ich angedeutet habe, ergänzen, zu Ende denken. 70 Vermutlich meint Krjutschkow nicht, dass Falin aus GrUnden der Hierarchie eine solche Mission nicht durchfUhren konnte, sondern auch deshalb nicht, weil Falin in den Augen von Krjutschkow ein "Gleichgesinnter'' war, der so etwas nicht gemacht hätte. Wiederum ein interessanter Hinweis auf die Gedächtnisleistung im Sinne fraktioneHer Zugehörigkeit. Nur, Falin hat sich eben selbst revidiert. Der Hauptgegner im Politbüro, Jegor Ligatschow, will die Reise Portugalows nicht kommentieren, da er zu wenig davon wisse, fUgt aber dennoch etwas hinzu, das eher Teltschiks ursprUngliebem Protokoll entspricht:
Ligatschow: Das machte Gorbatschow offensichtlich auf eine ganz vertrauliche Weise, und deswegenfällt es mir sehr schwer, diese Episode zu kommentieren. 71
68 Ebenda, wobei in der Fußnote der Herausgeber noch einmal explizit auf Portugalow als Überbringer hingewiesen wird. 69 Diese Protokollnotiz filhrt zu der Frage, warum Portugalow von Kohl "als kleines Licht" und von Teltschik höchstens als "Wetterfahne" ftlr die Moskauer Winde beschrieben wird. Portugalow hat hier ftlr einen Moment Weltpolitik betrieben. 70 Das Gespräch mit Kjrutschkow filhrte ich, bevor Falin seine Position in dieser Frage revidierte, nämlich am 5. November 1999 in Moskau. 71
1m Gespräch mit mir ebenfalls am 5. November 1999 in Moskau.
Widersprüchliche Erinnerungen
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Falin korrigiert sich 1999 nicht nur und steht nun dazu, dass er und nicht Gorbatschow Portugalow geschickt habe, sondern dass Portugalow in seinem Auftrag nur eine begrenzte Mission erftHlen sollte: Eruierung der Bonner Politik, ansonsten sei es nur um Fragen der Gewaltverhinderung und der Akzeptanz der DDR durch die Bundesrepublik gegangen sowie um die Sorge über "unüberschaubare Ereignissen". Das passt nun weder zu dem offiziellen noch zu dem nichtamtlichen Dokument. Interessant fmde ich dies nicht nur wegen Falins Glaubwürdigkeit, sondern weil in allen diesen Selbsterklärungen deutlich wird, wie sich damalige Hoffnungen und spätere Legitimation gegenüber dem eigenen, nämlich Gorbatschow feindlichen Umfeld widersprechen. Man möchte heute nicht der gewesen sein, der man damals war. Das trifft filr Krjutschkow ebenso zu wie filr Falin, aber auch filr den eigentlichen Hardliner Ligatschow, weniger jedoch filr den geschmeidigen Portugalow. Wie auch immer: Der Besuch Portugalows zeigte dem Bundeskanzleramt, dass "man" in Moskau sehr weitgehende strategische Sandkastenspiele betrieb und dass dieses "Man" ganz weit oben angesiedelt sein könnte, da diese Papiere auf dem zwischen Kohl und Gorbatschow "vereinbarten vertraulichen Weg" nach Bonn gekommen sei. Meine These ist nun, dass es auf beiden Seiten ein Missverständnis gab, das den Prozess vorantrieb: In Moskau glaubte "man", die Deutschen und Amerikaner seien schon sehr weit in ihren Plänen über die Wiedervereinigung und über Allianzzugehörigkeiten eines vereinten Deutschlands (was aber filr den damaligen Zeitpunkt nicht zutrifft). Und im Bundeskanzleramt glaubte man Gleiches: In Moskau sei man schon sehr weit in diesen Fragen (was zu jenem Zeitpunkt ebenfalls nicht zutrifft) und ebenso in Ost-Berlin, denn der frisch gekürte Ministerpräsident Modrow sprach bereits von einer "Vertragsgemeinschaft" zwischen den beiden Teilen Deutschlands72• Der durch Portugalow "elektrisierte" Teltschik73 schließt jedenfalls: Jetzt müsse der Bundeskanzler, wenn er nicht in den Hintergrund gedrängt werden wolle, die Initiative ergreifen und die Führung übernehmen. Kohl stimmt zu, Teltschik und seine Mitarbeiter formulieren den "10 Punkte-Plan", den Kohl am Wochenende redigiert und am Montag, den 28. November 1989, vor dem Bundestag in seiner Haushaltsrede vorträgt. All dies geschah höchst konspirativ, also ohne Irrformierung anderer, eben auch nicht Hans-Dietrich Genschers, dem Kohl und noch deutlicher Teltschik misstraute, weil sie befilrchteten, dass der Außenminister sofort Bedenken äußern oder gar
72 Im "Neuen Deutschland" vom 18./19. November 1989, also filnf Tage nach Übernahme der Funktion des Ministerpräsidenten. 73
So in seinen "329 Tagen", aa.O., S. 44.
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am Sonntagabend ein Interview geben würde und sich das Verdienst an die Brust heften würde. 74 Diese Eile ist sicherlich Folge dieses Missverständnisses, das als Katalysator beschleunigend wie kaum ein anderes diplomatisches Ereignis wirkte. 75 Diese äußerst produktive gegenseitige Missdeutung offenbart aber auch, wie unklar man sich in Bonn über die Führung der UdSSR war und wie widersprüchlich die Positionen in Moskau waren - oder von den frühen und späten Gegnern Gorbatschows im Nachhinein gemacht werden, um nicht als dessen Mann oder fast noch schlimmer: als Mann Jakowlews zu erscheinen. Zurück zu der Frage, wie unterschiedlich die Positionen zur Wiedervereinigung von Gegnern wie politischen Freunden Gorbatschows waren oder erinnert werden. Dazu Ligatschow, den ich fragte, welche Position er, der als schärfster Gegner Gorbatschows gelte, damals zu dieser Frage einnahm:
Ligatschow: Erstens will ich sagen, dass ich ein Gegner, und zwar ein unerbittlicher Gegner von Gorbatschow (bin), nicht nur in der deutschen Frage und auch nicht vorwiegend in der deutschen Frage, sondern eher in der Frage der Zerstückelung der Sowjetunion und der Zerstörung des sowjetischen Systems. (...) Wir, als Mitglieder der politischen Führung der Sowjetunion in den achtziger Jahren, meinten, und das ist sehr wichtig, dass die Teilung einer solchen Nation wie die deutsche Nation, nicht ewig bestehen bleiben kann. Früher oder später soll es zur Wiedervereinigung der deutschen Nation kommen. Also gingen wir von einer Selbstbestimmung der deutschen Nation aus, das heißt, wir ~ingen davon aus, dass die deutsche Nation selber das Wahlrecht haben soll. (...) 6 Mit diesen Worten will er wohl deutlich machen, warum er ein Referendum Ende des Jahres 1989 bevorzugt hätte, also zu einer Zeit, da die Mehrheit der DDR-Bevölkerung filr die Beibehaltung der DDR war, angeblich auch filr die Beibehaltung einer sozialistischen DDR. 77 Kohl hätte jedoch aus diesem Grunde ein solches Referendum verhindert. Auf meine Frage, worin er den Unterschied zwischen den Wahlen am 18. März 1990 und einem solchen Referendum sieht, verweist Ligatschow wiederum auf die Haltung der Bevölkerung Ende 1989. Prinzipiell gegen eine Wiedervereinigung war auch er nicht - und wir wissen nicht einmal, ob er nicht im Nachhinein seine Position gegensätzlicher darstellt, 74
So Teltschik im Gespräch mit mir, a.a.O.
15
Beide, Portugalow wie Teltschik, stimmten im übrigen dieser Interpretation zu.
76
Jegor Ligatschow im Gespräch mit mir am 5. November 1999 in Moskau.
77 Ähnliches verlautete von Modrow Ende November I 989 "Niemand wollte die Wiedervereinigung damals, weder in Ost noch West. Auch nicht die Bevölkerung der DDR. Laut Spiegel waren in einer nichtrepräsentativen Umfrage 71% der DDR-Bevölkerung gegen die Wiedervereinigung, nur 27% daftlr. (Erklärung der Regierung der DDR in: Neues Deutschland vom 29. November 1989.)
Widersprüchliche Erinnerungen
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um in seinem Umfeld des heutigen Russland als prinzipieller Gegner Gorbatschows zu erscheinen, der auch offen seine Positionen durchsetzen wollte. Etwas differenzierter scheint der damalige KGB-Minister, Wladimir Krjutschkow, der übrigens der Mann Andropows bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 war: Krjutschkow: Wissen Sie, Sie haben eine sehr komplizierte Frage gestellt. Die Sache ist die, dass es im Jahre I989 so schien, als ob es in der Sowjetführung keine Unterschiede in den Standpunkten zu diesem Problem (der Wiedervereinigung- AvP) gegeben hätte. Alle waren der Meinung, dass es früher oder später zur Vereinigung Deutschlands kommen sollte. Aber natürlich meinten alle, dass es dazu auf eine Art und Weise kommen sollte, so dass es keine negativen Folgen nach sich gezogen hätte, und zwar für alle Seiten. (..) Alle gingen davon aus, dass auch Gorbatschow einen rationalen Standpunkt vertreten sollte. Aber sehr bald, Ende des Jahres I 989, wurde absolut klar, dass die Standpunkte in unserer sowjetischen Führung zu diesem Problem diametral entgegen gesetzt waren. Krjutschkow beruft sich auf Kohl, der zunächst von einer Wiedervereinigung im Jahre 2025 ausgegangen sei. Das hätte allen Zeit gelassen, die Wiedervereinigung vorzubereiten und die Interessen aller Nachbarstaaten zu berücksichtigen. Aber die USA hätten einen anderen Standpunkt eingenommen, überdies seien die Monate vom Oktober bis Dezember 1989 sehr stürmische Monate gewesen. Krjutschkow: Also, zuerst hatte Gorbatschow gar keine Position hierzu, dann aber bildete sich eine Position bei ihm heraus, die auf keine Weise den Interessen der Sowjetunion entsprochen hatte. Alexander Jakowlew ging noch weiter in dieser Richtung. Auch Medwedjew, ein anderes Politbüromitglied, schlug eine falsche Richtung ein. Dabei gab es aber eine ganze Gruppe von Personen, und diese Gruppe bildete die Mehrheit, die die Meinung vertrat, dass die Methode, mit deren Hilfe man Deutschland zu vereinigen beschloss, letztendlich in keiner Hinsicht den Interessen von Moskau, den Interessen von einer Reihe von Ländern und im Endeffekt auch den Interessen der Deutschen selbst entsprochen hat, geschweige denn davon, dass weder Thatcher noch Mitterrand mit dem stürmischen Vereinigungsprozess klar kommen konnten, der sich offensichtlich anbahnte. 78 Auch Krjutschkow scheint demnach allgemein filr die Wiedervereinigung gewesen sein "wie die Mehrheit der sowjetischen Führung", aber eben in einer Form, die die sowjetischen Interessen nicht verletzt und einen längeren Zeitraum 78
Wladimir Krjutschkow im Gesprach mit mir am 5. November 1999 in Moskau.
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bedurft hätte. So fern ist er hier nicht der Haltung Thatchers und Mitterrands. Auch Falin sieht sich- und hier scheint er mir nach seiner Vorgeschichte durchaus glaubwürdig - eine ähnliche Position vertreten zu haben. Falin hatte nach eigener Aussage Gorbatschow 1986 bereits informiert, dass die ökonomische Entwicklung den Warschauer Pakt und die Comecon-Staaten in ein "Loch" fUhren würde mit unabsehbaren Folgen.
Fa/in: Keine Reaktion (von Gorbatschow). 1987 berichtete ich direkt an Gorbatschow allein: Die DDR in ihrer Entwicklung hat die Schwelle überschritten, wo man dieser Republik noch helfen konnte, eine Heilung möglich war. Keine Reaktion. Im März 1988 bekam Gorbatschow von mir zu lesen: In den bevorstehenden drei Monaten kann die Situation in DDR völlig destabilisiert werden. Keine Reaktion. 79 Solche Aussagen Falins wurden von westlichen Korrespondenten bestätigt. 80 Weder K.tjutschkow noch Ligatschow noch Falin stellen sich als Gegner der Wiedervereinigung dar, die sich bereits damals im Sinne einer praktischen Politik oder gar im Sinne des organisierten politischen Widerstandes oder noch weitergehend als Organisierer eines militärischen Widerstandes verhielten, obwohl sie von ihrer heutigen Position durchaus ein Interesse daran haben könnten, sich als "entschiedene Gegner" zu offenbaren. Alle erklären auch warum: Sie glaubten sich anfänglich einig mit Gorbatschow und wären dann, als es um die die Preisgabe sowjetischen Interessen in der Frage der NATO-Erweiterung auf das Gebiet der DDR ging, von der autoritären Politik Gorbatschows und besonders Schewardnadses überrumpelt worden. Ligatschow empörte sich noch zehn Jahre danach im Gespräch mit mir, dass zu jeder anderen internationalen Krise eine Kommission aufhöchster Ebene gebildet worden sei,
Ligatschow: Aber in der deutschen Frage nahmen Gorbatschow mit Schewardnadse und Jakoblew alles in ihre Hände, und es wurde keine Kommission gebildet. Das war ein Zug, der schon zu denken gibt.(...) Hier wurde alles von drei Personen übernommen, die alle Treffen und alle Verhandlungen geführt hatten zu diesem Problem. Jakoblew, Gorbatschow und Schewardnadse. AvP: Aber die mussten sich im Politbüro durchsetzen.
79
Valentin Falim im Gespräch mit Hans-Christoph Blumenberg.
80
Zum Beispiel durch Dirk Sager. Siehe Blumenberg im Falin-Interview.
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Ligatschow: Also gegen diesen Zustand gab es eigentlich keine Widerstände (!), aber es schien trotzdem etwas seltsam zu sein. Ich wollte das, diese Tatsache einfach hier nur mal festhalten. Einer der engsten Berater Gorbatschows filr Fragen der ,,kapitalistischen Länder'', Anatolij Tschemajew, erklärt demgegenüber, dass dies Unsinn sei, alle seien damals informiert worden und niemand von denen habe sich in dieser Frage aus dem Fenster gelehnt, die sich im Nachhinein als Gegner Gorbatschows (und Tschemajews) bezeichnen.
AvP: Und die Ligatschowsche Position, die Wiedervereinigung sei gar nicht diskutiert worden? Tschernajew: Vielleicht war er dagegen. Aber ich, ich persönlich war doch in allen Politbürositzungen Vielleicht hat er sich in diesem Sinne in einem engeren Kreise irgendwie geäußert. Aber auf den Politbürositzungen hat keiner dagegen protestiert. Nicht am Anfang, also nach dem Mauerfal/, und nicht Anfang des Jahres 1990. Erst im April sei der Wind schärfer geworden:
Tschernajew: Aber das gilt schon dem Beitritt Deutschlands zu der NATO. Dort war es wirklich sehr krass, und Gorbatschow selber erklärte auch, dass er auf keinen Fall einer Lösung zustimmen würde, dass das vereinigte Deutschland zum NATO-Mitglied wird Und alle waren damit einverstanden. Das war aber erst so einen Monat später. Im Verlaufe dieser Monate Januar, Februar und März habe ich keine derartigen Außerungen der Politbüromitglieder in Erinnerung, also, dass die dagegen protestiert hätten. 81 Man muss sich in Erinnerung rufen, dass Ligatschow und auch der KGBChef Krjutschkow nicht von Anfang an als Gegner Gorbatschows im Politbüro saßen. Auch Marschall Achromejew war von Gorbatschow (wieder) in die Politik geholt worden. Und der Generalsekretär galt allgemein als unangreifbare "Institution". In der Frage der NATO-Erweiterung dürften die späteren Feinde sicher sehr irritiert gewesen sein, hatten aber noch keinen Widerstand geäußert oder sich fraktioneil organisiert - auch nicht im Politbüro, wie immerhin der bekannteste Gegner, nämlich Ligatschow, selbst zugibt und nicht nur Tschemajew behauptetet. Kleiner Exkurs zum Militär, das Gorbatschow bedrohte:
81
Anatolij Tschemajew im Gespräch mit mir am 5. November 1999 in Moskau.
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Ein Mann wird immer genannt, wenn es um Militärs geht, die Gorbatschow feindlich gesonnen waren: Marschall Sergej Achromejew. Er war alter Leningrad-Kämpfer im Zweiten Weltkrieg, offensichtlich angesehen und beliebt. Und er war der bedeutendste spätere Putschist vom August 1991 neben Krjutschkow. Achromejew war laut Falin auf der nun schon mehrfach erwähnten Beratersitzung am 26. Januar 1990 in Moskau dabei, als die Wiedervereinigung zugelassen wurde. Auch Tschernajew berichtet über den Marschall auf dieser Sitzung: Achromejew habe eine andere Sorge als die außenpolitische gehabt, die Sorge nämlich, die in der DDR stationierten Soldaten und deren Heimkehr würden zu einem innenpolitischen Problem. Auch Falin bestätigt, dass Gorbatschow Achromejew mit der Rückftlhrung der Rotarmisten betraut habe. Die Haltung Achromejews ist deshalb von Bedeutung, weil er vermutlich der Marschall ist, den Gorbatschow meinte, als er 1990 seine bekannten Sätze vom "sowjetischen Marschall" sprach, der am Tage, nachdem er, Gorbatschow, die Verträge zur Wiedervereinigung unterzeichnen würde, auf "seinem Sessel" säße. Am 9. November 1999, also zehn Jahre später, fragte der Historiker Timothy Garton Ash als Moderator der großen Jubiläums-Veranstaltung mit Bush, Gorbatschow und Kohl, die von der ARD ausgestrahlt wurde, Michail Gorbatschow, ob es diese Bedrohung durch das Militär, durch diesen Marschall wirklich gegeben habe. Gorbatschow antwortete ganz im Gegensatz zu früheren Äußerungen mit einem deutlichen "Njet!". Kohl setzte jedoch hinzu, dass es diese Bedrohung sehr wohl gegeben habe. 82 Denn diese Gefahr war die Hauptsorge in dem gesamten hochdynamischen Jahr 1990/1991, eine Sorge, die im Westen nicht nur den Regierungen präsent war und die sogar Condoleezza Rice im Tausende von Kilometern entfernten Washington nach eigener Aussage nicht ruhig schlafen ließ. Und diese Bedrohung war sicherlich die entscheidende Begründung filr das Bild vom "nur kurze Zeit geöffueten Fenster". Horst Teltschik führt diesen Bedrohungsszenarien eine weitere Variante hinzu. Das Treffen zwischen Kohl und Gorbatschow in Moskau, das am I 0. Februar 1990 stattfand, war schon filr den Januar geplant gewesen, und man hatte sich in Bonn gefragt, ob in Moskau irgend etwas mit Gorbatschow geschehen sei. Später habe Teltschik Schewardnadse gefragt, als der nicht mehr im Amt war. Und Schewardnadse habe berichtet, dass sie im Januar 1990 in Moskau wichtige Gespräche gehabt hätten, ob man nicht doch in der DDR (militärisch) eingreifen solle. Te/tschik: Und es gab auch Befürworter einer militärischen Intervention. Er (Schewardnadse) nannte mir auch einen Namen. 82 In einer Fernsehsendung anlasslieh des zehnten Jahrestags des Mauerfalls mit Bush, Gorbatschow und Kohl, moderiert von Timothy A. Ash.
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AvP: Wen? T: Fa/in. Und Fa/in bestreitet das ja entschieden. AvP: Ja, er bestreitet das bis heute. T: Der bestreitet ja alles. Ich, ich habe Ihnen ja schon auch persönlich gesagt, ich halte von Fa/in überhaupt nichtsaufgrundverschiedener Erfahrungen. Aber warum sollte Schewardnadse mich in dieser Situation anlügen? Es gibt keinen Anlass dafür. Und ich habe persönlich immer ein sehr gutes Verhältnis zu Schewardnadse gehabt. 83 Derselbe Teltschik sagt auch: " Wir hatten keinerlei Berichte, wer, wo, was, wie diskutiert, argumentiert und durchzusetzen versucht (in Moskau - AvP). Hatten wir nicht. Weder vom CIA noch von jemand anders. Und wir konnten also nicht feststellen, ob hier neue Unsicherheiten, neue Krisen sich abzeichneten. " Schewardnadse begründete seinen späteren Rücktritt auch mit einer solchen Bedrohung. Das Erstaunliche ist nun, dass ausgerechnet Falin, der sich selbst als Hauptgegner Gorbatschows in dieser Phase stilisiert und auch von anderen, nicht nur von Schewardnadse so gesehen wird, sich selbst 10 Jahre später als Vertrauten in der Frage der Bedrohung Gorbatschows durch sowjetische Militärs in der Westgruppe der Roten Armee in der DDR beschreibt. Es habe nämlich - so Falin Gerüchte darüber gegeben, aber keine ernstzunehmende Verschwörung. In seinen Worten:
Fa/in: Ich habe Gorbatschow im Jahre 1990 eine sehr, sehr vertrauliche Information geliefert: Dass man ihn in die DDR einladen will aufInitiative unserer Truppengruppe dort. Und während dieses Aufenthalts kann er dort verhaftet werden. Seine (Gorbatschows) Reaktion war folgende: "Krjutschkow hat mir darüber nichts gesagt. Ja, es wäre gut, wenn Du nach Ber/in fliegst zum Gespräch mit Deiner Quelle, (finde heraus,) inwieweit das Gerücht realen Boden unter den Füßen hat", wie die Russen sagen. Das habe ich gemacht, ich habe in der DDR diese sogenannte Quelle getroffen. (. ..) Blumenberg: Und diese Gespräche haben stattgefunden? Und wie ernst muss man diese Gespräche nehmen? Fa/in: Ich habe erfahren und später Gorbatschow berichtet: Über vage Gespräche, über Ablastungen zwischen Generälen der DDR und der Sowjetunion ging die Entwicklung nicht hinaus.H4
83
Teltschik im Gesprach mit mir, a.a.O.
84
Gesprach zwischen Falin und Blumenberg, a.a.O.
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Das erscheint alles dunkel, mehr als fragwürdig: Falin nennt auch keine Namen, meint auch nicht Achromejew, der eben erst später geputscht habe, obwohl der vorher schon ebenfalls Kritik hatte. Wirklich alarmiert waren die späteren Putschisten erst, als das Sowjetreich bedroht war, als es begann, auseinander zu fallen und einzelne Republiken gegen die Moskauer Zentrale einen Unabhängigkeitskurs fuhren, wie eben schon Ende 1989/Anfang 1990 in Litauen. Und auch dann brauchte es mehr als ein Jahr, ehe die Putschisten sich organisiert hatten und den Putsch nach allgemeinem Urteil dilettantisch begannen. Zwischenresümee: In der sowjetischen Führung gab es zunächst zwar eine deutliche offizielle Ablehnung der Wiedervereinigung, die aber so prinzipiell nicht gewesen sein dürfte. Es gab schon zuvor andere Signale auch von jenen, die Gorbatschow später kritisieren sollten. Und es gab eine Tradition in der sowjetischen Führung - anders als in der SED - seit den Jahren vor Stalins Tod, die DDR als Spielmaterial in der Politik einzusetzen. Aber die Sowjetunion und ihr Hegemonialbereich waren selbst in einer zu tiefen Krise, um die DDR stützen zu können oder auch nur um günstige Bedingungen filr deren Verlust durchsetzen zu können. Und die Kritiker im Politbüro haben vermutlich selbst keinen organisierten Protest zustande gebracht - sei es, weil sie sich überfahren ftlhlten, sei es, weil sie selbst noch mit der Perestroika verbunden waren. Als dann um die Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der NATO verhandelt wurde, waren die Irritationen schon stärker, vor allem weil in dieser Zeit auch der innere Zusammenhalt der Sowjetunion aufzubrechen begann. Es mag sein, dass alle Beteiligten so in den Zerfallsprozess der Sowjetunion involviert waren, dass die deutsche Frage weniger existenziell filr sie wurde. Daher schwankte auch die sowjetische Politik gegenüber der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland: von der Neutralität über die Mitgliedschaft in beiden Bündnissen oder die Auflösung sowohl der NATO als auch des Warschauer Paktes bis hin zur Zustimmung zur amerikanischen Position. Diese Zustimmung erfolgte bei dem Besuch Gorbatschows in Washington und 14 Tage später bei dem Besuch Kohls in Moskau und im Kaukasus. Valentin Falin behauptete später in seinen Erinnerungen, Gorbatschow wäre im Gegensatz zu Schewardnadse noch bis Mai oder gar Juli I 990 gegen den Beitritt Gesamtdeutschlands zur NATO gewesen. Schewardnadse hätte sich im Alleingang entschieden und hätte dann den wankelmütigeren Gorbatschow nachgezogen. Gorbatschow hätte - so Falin - schließlich als Folge der Entwicklung in Osteuropa, insbesondere der baltischen Staaten, und der DDR sowie als Ergebnis der erfolgreichen Politik Bushs/Bakers und Kohls/Genschers gemeint, der "Zug sei abgefahren". 85 Wiederum seien die Bedingungen nicht geklärt. Aber: Was hätte Gorbatschow mit der bankrotten DDR angesichts eigener wirtschaftlicher Nöte und des beginnen85
Falin, Politische Erinnerungen, S. 492, vgl. auch Falin, Konflikte im Kreml, S. 200 ff.
WidersprUchliehe Erinnerungen
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den Zerfalls der Sowjetunion noch filr Trümpfe in der Hand gehabt? Hätte er Nein gesagt, hätte er die DDR wie einen Mühlstein am Halse gehabt und hätte sie nur über starke Präsenz von Sicherheitskräften halten können. Mindestens der Vorwurf der Gegner bleibt, dass er die DDR zu billig verkauft habe. Die Gegner Gorbatschows (besonders Marschall Achromejew, KGB-Chef Krjutschkow oder Ligatschow) dürften zu jener Zeit in den eigenen Augen selbst noch schwächer gewesen sein, als dies Thatcher, Mitterrand oder Kohl vermuteten, und filhlten sich Gorbatschows Politik zumindest in Teilen noch verbunden - was ihre heutige Selbstdarstellung erschwert. Der Kampf um die Interpretationsmacht der Geschichte des Niedergangs der Sowjetunion ist also noch in vollem Gange. Zum Abschluss dieses Teils möchte ich Anatolij Tschernajew zitieren, der Gorbatschow in seinen zwei Seiten beschreibt: Diese Zweiteilung spiegelte die beiden unterschiedlichen Welten wider, in denen er gleichzeitig agieren musstedie zivilisierte und die unzivilisierte. In ersterer wurde er mehr und mehr akzeptiert, in letzterer abgelehnt. Deshalb fiel es ihm auch immer schwerer, sich dort treu zu bleiben; er musste sich immer häufiger verstellen, um die zwei Welten einander näher zu bringen und um den soeben erst erfolgten Eintritt des Landes in die Zivilisation zu sichern. 86 Auf meine Frage nach dem Scheitern der Gorbatschowschen Politik antwortete Tschernajew ziemlich empört: Tschernajew: Gorbatschow hat eine historische Funktion erfüllt, die er zu erfüllen hatte. Und als er anfing, wusste er noch selber nicht, welche Funktion er umzusetzen hätte. Nur allmählich kam er auf die Idee, dass dieses System unreparierbar ist, dass das System nicht zu verbessern sei und dass diese Partei nicht zu einer Avantgarde der Perestroika gemacht werden kann. Nun, er kam zu diesem Gedanken, und er machte eine historische Sache, und zwar, er liquidierte das totalitäre System in der Sowjetunion. Was kann man mehr von einem Menschen erwarten? 5. Verlierer der Einheit?
Bis heute wird je nach politischem Standort darüber gerätselt, warum Gorbatschow weniger in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands als vielmehr in der Frage der Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO nachgegeben hat, und zwar ohne so fundamentale Bedingungen wie die Neutralität oder wenigstens die stärkere Integration Russlands in Europa durchzusetzen. 86
Tschernajew, Anato/i; Die letzten Jahre einer Weltmacht. Der Kreml von innen, Stuttgart 1993,
S. 299 f.
38 nmmermann
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Was häufig übersehen wird: In den Abrüstungsverhandlungen gab es eine Reihe von Positiva filr die Sowjetunion, aber sie versüßten nur die eigentliche Bitternis der sowjetisch-russischen Niederlage. Die meisten der Befragten geben - wie erwähnt- wirtschaftliche Gründe an, die Krise in der DDR, im RGW und in der Sowjetunion selbst. Darüber hinaus werden die immensen Rüstungskosten erwähnt, auch von der sowjetischen Seite, die die Sowjetunion an den Rand des Ruins gebracht hätten. Aber es werden neben dieser Schwäche auch noch andere genannt, nämlich zum Beispiel die Tatsache, dass er einerseits nicht KSZE-Prinzipien akzeptieren und nicht zugleich das Selbstbestimmungsrecht (auch in der Frage der Allianzen) gewähren könne 87, oder die Hoffuung Gorbatschows auf eine bessere Zusammenarbeit in Europa oder auch und besonders mit Deutschland. 88 Auf die Frage, warum denn wohl Gorbatschow nachgegeben hat, insbesondere in der Frage der Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der NATO, obwohl dies nicht im sowjetischen Interesse lag, antwortete George Bush:
Bush: No, it wasn 't. And it took a big leap offaith by Gorbachev to go along with this. Because they had troops there, but they didn 't, they were finding it dijjicult to sustain troops all araund Eastern Europe. And no - it was a hard sei/. Gorbachev didn 't think it was in their interests at first. But, they needed things from us, and they, I think they had corifidence in Helmut Kohl, who persona//y spent a Iot of time working with Gorbachev on this. And I !hink this will be one of Gorbachev 's real contributions to history. Now some in Russia today will say: 'He cost us the Union. He cost us Soviets our national pride. ' But I think more important than this - their national pride - was the fact that Germany had the right to be brought back tagether again. 89 Hier klingt die Fortsetzung einer alten Politik der Nachkriegszeit gegenüber Deutschland an, nämlich die Deutschen durch die Militärbündnisse nicht nur filr die jeweils andere Seite im Kalten Krieg einzubinden, sondern sie damit auch zugleich zu kontrollieren. Mag sein, dass dies auch bei Gorbatschow ein Gedanke war, besser ein in die NATO eingebundenes als ein neutrales Deutschland, aber es ist doch eher unwahrscheinlich.
17 Baker,
Erinnerungen, S. 226.
Teltschik: "Gorbatschow hat oft zu mir gesagt: ,Horst, was hatten wir Deutsche und Russen zusammen alles machen können.' So - dieser Traum, mit Russen und Deutschen zusammen zu arbeiten." (Im Gesprach mit mir, a.a.O.) 18
89
Interview mit mir, a.a.O.
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Scowcraft: Weil, in one sense (is Gorbachev) tthe great /ooser. But, I think, he had the courage to know that he real/y cou/dn 't stop it and he didn 't have a better idea, a better alternative. I think, he knew inside that a neutral Germany in the center of Europe wou/d be a bad, an unstab/e Europe. And so, he final/y had the wisdom and the statesmanship to say: "Okay, we agree. " Gorbatschow war also der große Verlierer, gerade in der NATO-Frage, obwohl gerade die Amerikaner den sowjetischen Vertretern immer wieder einzureden versucht hatten, dass diese Entwicklung auch in deren Interesse lag, zumindest in einem längerfristigen Sinn. Auf die Frage nach ihrer Sicht auf Gorbatschow am Ende all dieser Verhandlungen antwortet Condoleezza Rice mit ihrer Erinnerung an die Unterzeichnung des 2+4-Vertrages:
Rice: I remember perhaps most intensely the signing ceremony in Moscow in September of 1990, after a/1 of the detai/s had been worked out. I remember thinking how much of an anticlimax it was that somehow the Foreign Ministers were /eft to sign this great document on what had been the centrat issue in European po/itics for fifty years. And as I stood there behind James Baker, watehing him sign away American Jour power rights and responsibilities, I caught a glimpse of Gorbachev, kind of out of the corner of my eye. And he was stepped back behind some aides - he was not in the foreground. And the Iook on his face was a/most blank, there was a/most no emotion there. And I thought to myse/f: 'How must this be for the Ieader of the Soviet Union. For the Ieader of the United States, for France, for Great Britain, even if there were reservations in Great Britain and France, this was affirmation offifty years of Western policy that Germany was now on Western terms, rejoining the community of nations. But for the Soviel Union it was a thorough defeat. ( .. .) AvP:And Genscher, I think, took Gorbachev in this Rice: It was Genscher who first saw Gorbachev standing there, kind of with noone araund him. And Genscher pu//ed him forward and then Gorbachev was sudden/y on and there were smi/es and app/ause and so forth and so on. But underneath you had a very strong sense that it was somehow over, that it was somehow over, not just for Soviet power in Europe but for the Soviel Union itse/f III. Ausblick Diese Beispiele aus verschiedenen Ländern - in diesem Fall aus der Sowjetunion, den USA und Deutschland (Ost und West)- sollen reichen, um zu zeigen, dass es auch und besonders in diesen entscheidenden Fragen der Beendigung des Kalten Krieges und der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands einen Kampf um die Interpretation der Geschichte gibt, die im Rückblick die Geschichte selbst und die Protagonisten dieses Prozesses verändert.
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Es gibt viele weitere Bereiche, in denen die Perspektiven, die früheren und die heutigen Ansichten in Ost und West auseinander klaffen. So zum Beispiel in der Haltung der Westeuropäer zur Wiedervereinigung und zur Mitgliedschaft des neuen Deutschland in der NATO; dasselbe in der SPD oder innerhalb der Bündnis 90/Grünen-Politiker, besonders in ihrem Verhältnis zur Politik des damaligen Bundeskanzlers, oder aber in Kohls merkwürdig zögerlichem Verhalten zur Frage der Grenze zu Polen, die in Polen große Verunsicherung verursachte und von der Bush-Administration als "mittlere PR-Katastrophe" bezeichnet wurde. 90 Ein Thema in diesem Zusammenhang wäre der heute unterschätzte und damals überschätzte Modrow, der sich selbst heute reserviert verhält zu den Initiativen, die auf ihn zurückgehen: die Treuhand, die Freien Wahlen, die Selbstsicht als Übergangsregierung, die "Vertragsgemeinschaft" zwischen der DDR und der BRD usw. Ebenso interessant wäre es, die Hoffnungen über die Investitionsbereitschaft des Kapitals in der DDR oder weitere Zufltlle und Missverständnisse in der politischen Entwicklung dieses Jahres ebenso zu untersuchen, wie ich es beim Besuch Portugalows im Bundeskanzleramt im November 1989 getan habe oder Condoleezza Rice filr Schewardnadses Rede in Brüssel einen Monat später, der glaubte, er habe von einem entscheidenden Durchbruch in der sowjetischen Führung berichtet, während bei den Zuhörern nur ankam, dass die sowjetische Führung in einem Dilemma steckte, aus dem sie nicht wußte, wie sie herauskommen sollte. Ebenso interessant ist es, die Antworten zu interpretieren, die die Protagonisten auf die Frage gaben, wann denn filr sie der "Point of no retum" war und warum, wann also in ihren Augen, wem der entscheidende Durchbruch gelang: Für Kohl und seine Mannschaft war es sein Besuch am I 0. Februar in Moskau, wo er den "Schlüssel zur Einheit" erhalten hatte, den Baker bei seinem Besuch in Moskau kurz zuvor ebenfalls erhalten zu haben glaubte, fiir Modrow war es noch zwei Tage früher91 - und jeder sah sich als den eigentlichen "Schlüsselabholer". Noch deutlicher war dies bei der Frage der Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland. Die Auseinandersetzung um die Interpretation von Geschichte ist, wie kaum anders zu erwarten, in den Ländern sehr unterschiedlich, entsprechend den Interessen des Landes oder der eigenen Fraktion, entsprechend auch der eigenen Selbstdarstellungswünsche. Ein Vergleich der unterschiedlichen Mythisierungen relativiert die eigene Sicht, lässt kritische Blicke auf die Schönrednereien und
90 Vgl alikow/Rice a.a.O. oder auch das Interview mit Rice, a.a.O. Die Bundesregierung vollzog erst mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14.November 1990, also nach der Wiedervereinigung, wie Kohl es gewollt hatte, diesen Schritt, indem sie der polnischen Regierung versicherte, dass die polnischen Westgrenzen "weder jetzt noch in Zukunft" von Deutschland in Frage gestellt würden. 91 Wobei sich Modrow interessanterweise korrigiert: "Heute würde ich sagen, daß ich da eine dumme Bemerkung gemacht habe, indem ich damals da sagte: Helmut Kohl hat den Schlüssel abgeholt, den ich schon gefeilt hatte ... Aber er hat da einen ganz anderen Schlüssel bekommen, als den, an dem ich gefeilt hatte. Aber das habe ich erst später begriffen." (Nach ZDF-lnterview Modrow Band 83/00:13:29 ff.)
Widersprüchliche Erinnerungen
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dahinter liegenden Interessen der eigenen, aber auch der anderen Regierungen zu. Das macht gerade eine der Bedeutungen solcher Gegeneinanderstellungen aus. Dass sie in Russland heute besonders zugespitzt sind, dürfte deutlich geworden sein. Hier sind die Mythen-Gemeinschaften besonders scharf voneinander abgegrenzt, ihr Kampf um das Bild vom Niedergang der Geschichte ist nicht beendet und wird vermutlich noch länger andauern. Denn es gibt dort keinen nationalen Mythos, der allen Fraktionen ihr Recht und ihre Würde lässt. Der Niedergang des Sowjetimperiums und des Lebensstandards großer Teile der Bevölkerung verlief parallel mit dem Aufstieg demokratischer Institutionen. Keine gute Voraussetzung ftlr die letzteren und die Vertreter derer, die diesen Aufstieg zu verantworten haben. Vermutlich wird erst dann, wenn Demokratie und Lebensstandard, demokratische Institutionen und nationaler Niedergang nicht dermaßen konträr gesehen werden können oder müssen wie heute, auch dieser Kampf um die Geschichte eine andere Richtung nehmen. Ganz anders war und ist dies in der Bundesrepublik Hier hat fast jede Fraktion ihren Platz, ihr Recht und ihre Würde in diesem Zerrbild, das ich zu Beginn als Vereinigungsmythos beschrieb, erhalten oder kann ihn behaupten: Die CDU kann ftlr sich in Anspruch nehmen, die hiesige Filhrungsrolle gehabt und ausgefiillt zu haben - die Schrammen, die Kohl seitdem abbekommen hat, werden daran ebenso wenig ändern, wie dies bei Bismarck der Fall war, ohne den Vergleich zu weit treiben zu wollen. Vielleicht wird sich noch herausstellen, dass Kohl mit den Ungarn die weitere Öffnung der Grenzen auch ftlr sein politisches Überleben 1989 einsetzte, indem er mit jenen die Bekanntgabe dieser Öffnungen just ftlr den Tag des Bremer Parteitages der CDU vereinbarte, als die Königsmörder schon in Gestalt von Geißler, Riedenkopf und Späth bereit standen. Aber auch solche Wahrheiten werden das Bild des Taktikers und politischen Fuchses nur differenzierter erscheinen lassen. Die Bürgerinitiativen und damit auch die Bündnis-Grünen, die sich als deren rechtmäßigen Nachfolger behaupten, können ihren Platz in diesem nationalen Vereinigungsmythos finden.92 Sogar die SPD, die in diesem Prozess mit Ausnahme einiger Persönlichkeiten wie Willy Brandt nur eine geringe Rolle spielte, kann nicht nur auf Brandt verweisen, sondern auf die sozialdemokratischen Bürgerrechtler, die die SDP grUndeten und danach im Kabinett Modrows und de Maizieres saßen. In den USA kann sogar großzügig auf die Inanspruchnahme der Führungsrolle verzichtet werden, denn die amerikanischen Interessen haben sich so weitgehend durchgesetzt, dass es eigentlich keiner Steigerung der öffentlichen Bedeutung und des Gewichts der Person Bushs und seiner strategischen Fähigkeiten bedarf. 92 Und dies, obwohl die Grünen der Wiedervereinigung lange skeptisch gegenüberstanden, so insgesamt in ihrer Schrift mit dem Titel .. Kooperation statt Anschluß', wo es beispielsweise in einer Stellungnahme zum I 0-Punkte-Plan von Kohl heißt: .. Die Politik von Kohl, die die DDR einverleiben und kapitalistisch umwandeln will, stellt eine Gefahr für Europa dar. " (Die Grünen - Bundesgeschaftsstelle: Kooperation statt Anschluß, Bonn 1990).
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Aber auch diese Stärke scheint ambivalent, wenn man mögliche Antworten auf die Frage versucht, warum die Rolle der US-amerikanischen Regierung heruntergespielt, manchmal sogar verschwiegen wird. Naheliegend wäre die Antwort: Weil dies die eigenen Meriten der Deutschen und Politiker anderer Staaten reduziert hätte. Aber dahinter steckt vermutlich mehr: Es hätte sich in der deutschen, west- und osteuropäischen Politik nicht besonders gut gemacht, wenn die Wiedervereinigung als Stärkung des "amerikanischen Ankers" in Europa erschienen wäre, als Ausfluss einer Strategie, die von amerikanischer Interessen geleitet war. Und noch weitergehend: Europa ist auf dem Weg, Eigenständigkeit auch gegenüber den USA zu finden - wie würde es sich in diesem Prozess ausnehmen, wenn das neue vereinte Europa als Ergebnis unter anderem auch und besonders der amerikanischen Strategie und amerikanischer Interessen erscheint?93 Und für einen nationalen Wiedervereinigungsmythos in Deutschland eignet sich amerikanische Strategie schon gar nicht - weniger jedenfalls als eine Bürgerbewegung mit den Rufen "Wir sind ein Volk" oder als ein Bundeskanzler, der die britische Scylla ebenso geschickt umschiffte wie die sowjetische Charibdis, und dies nur, weil er allen Sirenen trotzte, die die deutsche Einheit gegen die Westintegration oder die sowjetischen Nöte gegen die westlich dominierte Einheit besangen. Für die Westeuropäer und die Osteuropäer gäbe es noch ganz andere Bilder und Selbstbilder, die keineswegs mit den deutschen oder amerikanischen übereinstimmen. Eine Bemerkung Mitterrands bei seinem Besuch in der DDR im Dezember 1989, die Gregor Gysi berichtet, scheint mir für diesen Zusammenhang bedenkenswert: Es könnten sich, soll der französische Präsident gesagt haben, mit der Wiedervereinigung weniger Bedingungen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, sondern aus der Zeit vor Ersten Weltkrieg wieder herstellen.94 In der Tat: Setzen sich nicht Polen und die baltischen Staaten weiter von Russland ab und verlangen (west)europäische Verbindungen? Gilt ähnliches nicht für Ungarn, Tschechien, die Slowakei oder Kroatien und Slowenien? Russland, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg diese Staaten (Polen und das Baltikum schon zuvor) unter seine Hegemonie brachte, sieht sich jetzt sogar dieses "Cordon sanitaire", der schon vor dem Ersten Weltkrieg die Großmächte Russland, Preußen/Deutschland und Österreich abpufferte, durch eine Osterweiterung der NATO beraubt und - nach vergeblichen Hoffnungen auf ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem - betrogen. Wie stark wird sich dies auf die innere Stimmung und die Politik in Russland auswirken? Waren die Bosnienund Kosovo-Kriege nur erste Anzeichen für tiefere Konflikte zwischen einem reduzierten Ost- und einem erweiterten Westeuropa? Werden sich andere Staaten, die sich durch die NATO bzw. eine Europäische Union bedroht, oft zugleich 93 Nach meinen Vortragen mit ahnlicher Thematik war eine Zuhörer-Reaktion: Antiamerikanismus. Keineswegs: Es ist die Darstellung eines strategischen Denkens in der amerikanischen Politik, das in Europa und besonders an europaischen Universitäten selten ist. 94
Gregor Gysi im Interview mit Blumenberg, (ftlr den Film Deutschlandspiel), a.a.O.
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angezogen fühlen, wie Weißrussland, Bulgarien, Rumänien ebenso wie Restjugoslawien an Russland annähern, wenn sie nicht in die Europäische Union aufgenommen werden? Werden unter diesen Staaten, sofern sie nicht durch (zwei?) europäische Sicherheitssysteme eingebunden sind, alte Regionalkonflikte a Ia Jugoslawien wieder aufbrechen? Für Frankreich könnte es, und vielleicht meinte dies Mitterrand, eine stärkere Bindung u.a. an Polen bedeuten. Wohin also die Geschichte ohne ein (sicherheits)politisches Gesamt-Europa, also ohne die GUS-Staaten, gehen wird, ist nicht abzusehen. Ob beispielsweise Deutschland, falls die Europäische Union nur langsam oder gar nicht vorangeht, seine Westbindungen lockern und die Schwerpunkte wie früher nach Ostmitteleuropa setzen würde, ist nicht endgültig entschieden. Im Resümee heißt dies, dass wir die äußeren Folgen der Wiedervereinigung in ihren Langzeitwirkungen nach diesem bisherigen kurzen Zeitraum nur eingeschränkt beurteilen können. Aber wir können sehen, wie man sich in der Vergangenheit um diese damals zukünftige Geschichte bemüht hat, welche Interessen dabei wirkten und wie man sich darin sehen möchte. Dass in Zukunft die jeweiligen nationalen Mathisierungen Gewicht in Politik und im öffentlichen Bewusstsein haben werden, wrid man in Rechnung stellen müssen - besonders in Russland und den anderen osteuropäischen Staaten, aber auch in Deutschland und in Westeuropa insgesamt.
Interviews und Ausgewählte Literatur (vor allem der beteiligten Politiker und Berater)
Ca. 60 Interviews mit Akteuren der Einheit - gefiihrt von Hans-Christoph Blumenberg, Guido Knopp (Kohl), Alexander v. Plato, Thomas Schuhbauer. Sie sind im Institut fiir Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen archiviert. Einige Videos sind in der Fernuniversität erhältlich so Ausschnitte der Gespräche mit Horst Teltschik, Lotbar de Maiziere, Nikolai Portugalow. Ackermann, Eduard: Mit feinem Gehör. 40 Jahre in der Bonner Politik, Bergisch-Gladbach 1994. Attali, Jacques: Verbatim III (1988-1991), Paris 1995.
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Baker, James A. III with Thomas M. Defrank: The Politics of Diplomacy, Revolution, War and Peace 1989- 1992, New York 1995 (Deutsche Ausgabe: Drei Jahre, die die Welt veränderten. Erinnerungen, Berlin 1996). Bierling, Ernst R.: Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, Scientiae, (Neudr. d. Ausg. 1877-1883) 1965. Blackwi/1, Robert D.: Deutsche Vereinigung und amerikanische Diplomatie, in: Außenpolitik. Zeitschrift internationale Fragen, Harnburg 45. Jg. (1994) Nr. 3, 211 - 225. Dietrich, Christian/ Schwabe, Uwe (Hg.): Freunde und Feinde. Friedensgebete in Leipzig zwsichen 1981 und dem 9. Oktober 1989, Leipzig 1994.
Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, herausgegeben vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann. Wissenschaftliche Leitung: Klaus Hildebrand, Hans-Peter Schwarz, Bundesarchiv: Friedrich P. Kah/enberg, München 1998. · Eibe, Frank! Kiessler, Richard: Ein runder Tisch mit scharfen Ecken. Der diplomatische Weg zur deutschen Einheit, Baden-Baden 1993. Eibe, Frank: Die Lösung der äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung: der Zwei-plus-Vier-Prozeß (Institut filr internationales Recht an der UniversitätKieL Schriftenreihe des Walther-Schücking-Kollegs 14), Bonn 1993. F alin, Valentin: Politische Erinnerungen, München 1993.
Konflqcte im Kreml. Zur Vorgeschichte der deutschen Einheit, München 1999 ( München 1997) Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Berlin 1995. Küchenmeister, Danie1: Honecker - Gorbatschow. Vieraugengespräche, Berlin 1993. Gorbatschow, Michail S.: Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit, Ber1in 1993.
Erinnerungen, Berlin 1995. Wie es war, Berlin 1999.
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Gorodetsky, Gabriel (Hg.): Soviet Foreign Policy, 1917- 1991. A retrospective, London 1994. Guggenberger, Bemd und Stein, Tine (Hg.): Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit. Analysen - Hintergründe - Materialien, München/Wien 1991. Hertle, Hans H. und Elsner, Kathrin: Mein 9. November. Der Tag an dem die Mauer fiel, Berlin 1999. Hollitzer, Tobias: Der friedliche Verlaufdes 9. Oktober 1989 in Leipzig- Kapitulation oder Reformbereitschaft? Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkung. Ein Beitrag zur Geschichte der Entwicklung 1989/90 in Leipzig (unveröffentlichtes Manuskript), Leipzig 1999. Jarausch, Konrad H.: Die eilige Einheit. Ein historischer Versuch, Frankfurt am Main 1994. John, Antonius: Rudolf Seiters. Bonn/Berlin 1991.
Einsichten in Amt, Person und Ereignisse,
Knopp, Guido und Kuhn, Ekkehard: Die Deutsche Einheit. Traum und Wirklichkeit. Mit einem Vorwort von Wjatscheslaw Daschitschew, 1990. Knopp, Guido (Hg.): Der Fall der Mauer. In Zusammenarbeit mit dem ZDF erstellte Dokumentation. (Meilensteine des 20. Jahrhunderts), (Digital Publishing, 1 CD-ROM) 1997. Kohl, Helmut: "Ich wollte Deutschlands Einheit". Dargestellt von Kai Dieckmann und Ralf Georg Reuth, Berlin 1996. Kovcics, Läszlo: Zur Freiheit durch Ungarn. Die Öffnung der ungarischen Grenze in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989. Symposium, 8. September 1994. Haus Ungarn, Berlin. Dokumentation. Hg. von der KonradAdenauer-Stiftung, St. Augustin 1994, 8-15. Küchenmeister, Daniel: Honecker - Gorbatschow. Vieraugengespräche, Berlin 1993. Kuhn, Ekkehard: Gorbatschow und die deutsche Einheit. Aussagen der wichtigsten deutschen und russischen Beteiligten, Bonn 1993. Mitterrand, FranWir< der Stasi. Die Gesprächskreise zwischen Stasi, SED-Funktionaren und Kirchen-Oppositionellen stecken in der Krise" Uber einige Gesprachskreis, die allerdings ihre Arbeit inzwischen eingestellt haben.
12 Vgl. Kurt Zeiseweis: " ... ich soll mich entschuldigen ...", Zwie-Gespräch 27, S. 8f. =Beitrage 1996, S. 115. 13
siehe die vorhergehende Anmerkung.
14 In diesem Sinne außen sich auch Friedrich Schorlemmer nach Matthias Drobinski (Anm. 11). FUr mich ist diese Erwartung theologisch nicht zwingend. Neben dem Schuldeingeständnis und der
Erfahrungen mit einem Gesprachskreis
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Auch verlaufen die Erkenntnisse nicht in dem Sinne linear, daß ich Schritt fiir Schritt zu neuen Ufern geführt werde. Manches Erkannte wird mir morgen wieder unklar, manches Unbegreifliche wird mir schlagartig zugänglich. Außerdem wirken Gespräche nach. Der eine oder andere überdenkt seine Äußerung zu Hause noch einmal. Aber ist es nicht doch schon viel, daß man überhaupt miteinander spricht und Anfragen aushält? Ist es nicht doch schon viel, wenn die Teilnehmer vor und nach dem Abend und in der Pause als Menschen, die sich durch ihre Vergangenheit nicht aus dem Wege gehen können und sich die gegenseitige Zumutung nicht ersparen wollen, zusammenstehen und Erfahrungen austauschen?
Bitte um Vergebung Gott und meinem Nachsten gegenüber, gibt es die bedingungslose Annahme durch Jesus, dem dann allerdings spater ein Schuldeingestandnis folgen kann. Vgl. hierzu U/rich Schröter: "Kumpanei? Herausforderung zu einem Gesprach ober wichtige Aspekte kirchlichen Handelns", Zwie-Gesprach 7, S. 8-23, bes. S. 22f. = Beitrage 1997, S. 41-51, bes. S. 50f.
Das Zusammenwachsen der CDU durch die Meinungsbildung zum ersten gesamtdeutschen Grundsatzprogramm "Freiheit in Verantwortung" Von Ingrid Reichart-Dreyer
Die deutsche Vereinigung forderte von den Parteien, über den materiellen Ausgleich hinaus die staatliche Einheit durch eine gemeinsame Identität zu sichern. Mit dem Vereinigungsparteitag - als dem 1. Parteitag der CDU Deutschlands in Harnburg 1990 - stellte die CDU den Neuanfang symbolisch heraus, doch musste erstens ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Mitgliedergruppen in den neuen Bundesländern gefunden und zweitens eine Brücke zwischen Ost und West geschlagen werden. Im April 2000 signalisierte die CDU mit der Wahl von Dr. Angela Merkel zur Vorsitzenden, dass sie die Einheit in der Spitze personell vollzogen hatte. Ob sie ihren Anspruch, Partei der deutschen Einheit zu sein, auch programmatisch erftlllt, soll am Beispiel von Prozess und Ergebnis der Meinungsbildung zu einem neuen Grundsatzprogramm der CDU von 1990 bis 1994 geprüft werden.
I. Integrationschancen durch programmatische Arbeit Programmarbeit bietet die Chance, mit der Artikulation der Prinzipien und der gemeinsamen Anliegen ein alle Mitglieder umfassendes, einigendes Band herzustellen, denn in der Programmarbeit können Erfahrungen und Erwartungen ausgetauscht, Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkannt und die Trennung zwischen Ost und West aufgehoben werden 1• Wird außerdem Konsens über die Ausgangslage und über die Orientierung und die Prinzipien erarbeitet, kann die zum Handeln notwendige Macht durch Übereinstimmung entstehen. Meine Untersuchung soll klären, ob die CDU einen ausreichenden Konsens über Grundlagen, Werte, Prinzipien und Gestaltungsziele ihrer Politik erreichte. Ich werde meine Frage in drei Schritten beantworten, indem ich erstens die Ausgangslage 1990 beschreibe. Dazu werde ich die Vorstellungen zur Programmarbeit des 1 Die Bedeutung der Programmarbeit fllr die Selbstkonstituierung einer Partei habe ich ausfuhrlieh in meinem Aufsatz: Wozu Parteiprogramme? und in meiner Habilitationsschrift: Macht und Demokratie in der CDU erlautert (Reichart-Dreyer 1997 und 2000).
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Vorsitzenden der CDU, Helmut Kohl, und des ersten Vorsitzenden der Grundsatzprogramm-Kommission, Lotbar de Maiziere, darstellen. Zweitens wird der Meinungsbildungsprozess zum Grundsatzprogramm nachgezeichnet. Es wird gezeigt, wie die Chancen zur Beteiligung und Durchsetzung zwischen Parteispitze und Landesverbänden/Delegierten/Mitgliedern, alten und neuen Bundesländern verteilt waren. Drittens wird untersucht, inwieweit die Programmarbeit und das Programm zur inneren Einheit der Partei beitrugen. Wurde das neue Grundsatzprogramm ein gesamtdeutsches Programm, reichten die inhaltlichen und personalen Identifikationsangebote aus oder signalisieren Mitglieder- und Wählerverlust in den neuen Bundesländern eine westliche Dominanz? Bereits vor dem Einigungsparteitag in Harnburg am 1./2. Oktober 1990 reagierte der Bundesvorstand auf die Proteste und Forderungen der Jungen Union (JU) und der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) und antwortete so auf die desolate Situation der CDU nach fast acht Jahren als Regierungspartei. Mit der Programmarbeit sollten im innerparteilichen Meinungsaustausch die verschiedenen Positionen zusammengefllhrt werden, um die Kampagnefähig-keit der Partei zu erhöhen. Doch die Haltung der Partei war widersprüchlich. Man strebte zwar eine qualitative Mitgliederwerbung an, um im Rahmen der re-präsentativen Demokratie sachgerechte und am Gemeinwohl orientierte politische Lösungen anzubieten, meinte aber - bei dem begrenzten Interesse von Wählern und Mitgliedern an Programmen und Diskussionen -, dass die Grundlagen der CDU mit dem christlichen Menschenbild ausdiskutiert seien. Der Antrag des Bun-desvorstands der CDU, eine Grundsatzprogramm-Kommission einzusetzen, wurde vom Bundesparteitag ohne Aussprache angenommen. Die Kommission sollte das Ludwigshafener Grundsatzprogramm von 1978 überprüfen und gegebenenfalls fortschreiben sowie das Kapitel zur Deutschlandpolitik überarbeiten. Nach dem Antragstext erforderten der tiefgreifende Wandel auf allen Gebieten des internationalen Zusammenlebens, "der Zusammenbruch des Sozialismus/Marxismus, die Überwindung der Ost-West-Konfrontation, die deutsche Einheit und der deutlich zutagetretende Nord-Süd-Gegensatz" eine Neuorientierung. Im Auftrag des Vorstandes waren weder eine Grundsatzdebatte noch Aussagen zum Politik-, Partei- und Staatsverständnis vorgesehen. Dies erstaunt, denn schon die zur Wahl der Volkskammer am 18. März 1990 als Kurzfassung vorgelegten Grundsätze ließen deutliche programmatische Unterschiede zwischen der CDU-West und der CDU-Ost erkennen 2 . Doch in der Freude über die Einheit und den Erhalt der Regierungsmehrheit wurden die Einstellungsunterschiede im Westen nicht wahrgenommen und auch der Umfang der Aufgabe, die CDU über gemeinsame Grundsätze zu einen, von der CDU-West unterschätzt. Mit dem Auftrag, den Herausforderungen des Wan2 Dies wiesen Volkens/Kiingemann schon mit den zur Wahl im Marz 1990 veröffentlichten "Grundsätzen ftlr das Programm der CDU" nach (1992: 203). Doch die CDU-West sprach von historischen Gemeinsamkeiten und schrieb dies mit der Wortwahl "Wiedervereinigung" fest.
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dels in der Beziehung zwischen den Generationen, in der Situation von Frauen und im Umweltproblem zu begegnen, wurde die Zieltindung von den Grundsätzen her deduktiv angegangen. Obwohl die Erwartungen der Jungen Union über den Auftrag des Parteitages hinausging, kam es zu keinem Austausch über die Ziele und dem daraus folgenden Vorgehen in der Programmarbeit Es entstand ein Vakuum, dessen Eckpunkte die im Auftrag des Hamburger Parteitages 1990 formulierten Ziele der Programmdiskussion in der Interpretation durch den Vorsitzenden der CDU, Helmut Kohl, und durch die Vorsitzenden der Grundsatzprogramm-Kommission, Lotbar de Maiziere und Reinhard Göhner, waren. Helmut Kohl hatte 1968 als Vorsitzender der Programmkommission zum Berliner Programm der CDU und als Parteivorsitzender seit 1973 in der Diskussion zum Ludwigshafener Programm 1978 die Programmarbeit der CDU wesentlich mitgetragen. Doch in dem unter der Vereinigungseuphorie des Jahres 1990 stattfindenden Wahlkampf äußerte er sich nicht zur Programmarbeit Der unter seinem Vorsitz formulierte Auftrag beschreibt die formale Grundlage. Da jedoch eine medienöffentliche Auseinandersetzung um die personale Führung die Wahlchancen mit großer Wahrscheinlichkeit verringert hätte, lag es in seinem Interesse, seine Widersacher einzubinden und den Wählern allgemeine Antworten auf die Herausforderungen des Wandels anzubieten. In verständlicher Eigeninteressenorientierung wurde auf diese Weise die Programmarbeit zum Amtserhalt genutzt. Dies fasste der Bundesvorsitzende im mündlichen Auftrag an Lotbar de Maiziere, den ersten Vorsitzenden der Grundsatzprogramm-Kommission, knapp zusammen: "Mach mir ein anständiges Programm, mit dem ich die Wahl gewinnen kann!" (Interview mit de Maiziere im Mai 1996). Der Parteivorsitzende gab aber nur die Zuständigkeit ftlr die Umsetzung ab, die organisatorisch-bürokratischen Entscheidungen behielt er sich vor. Als Lotbar de Maiziere am 30. August 1991 zurücktrat, drohte die Programmarbeit zu scheitern. Dies zwang den Kanzler dazu, selbst einzugreifen. 1992 musste er auf Richard von Weizsäckers Parteienkritik reagieren. Sein Einsatz blieb weiter erforderlich, als sich abzeichnete, dass der Weg zu den "blühenden Landschaften" länger sein würde als ursprünglich angenommen. Die Stimmung erreichte im September 1992 einen TiefPunkt, als der Kanzler und Vorsitzende eingestehen musste: "Wir haben Fehler gemacht- ich auch." Mit Gesprächen, u. a. zum Solidarpakt, versuchte er, Risse und Mängel zu reparieren. Durch äußeren Druck begann vom Bundeskanzleramt aus ein mühsamer Prozess des Nachdenkens, der Konsensbildung und des Bündniszimmerns. Auch die Programmarbeit wurde wieder aufgegriffen. Am 24. Juni 1993 ließ Kohl auf dem von der CDU veranstalteten Grundsatzprogramm-Kongress in Bonn wissen, die Programmarbeit habe eine "elementare Bedeutung filr die gesamte Gesellschaft". Die Wertediskussion der CDU über ein erstes gesamtdeutsches Grundsatzprogramm könne jenen filr die Gesellschaft notwendigen ethischen Grundkonsens aufbauen, den der Staat nur in begrenztem Maße zu garantieren in der Lage sei. Diese Diskussion werde von dem Streben nach Selbstverwirklichung durch Gemeinsinn, Solidarität und die Bereitschaft zur Verantwortung getragen. Mit seiner Politikdefinition schränkte der
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Parteivorsitzende jedoch das Handlungsfeld ein. Politik zu machen bedeutete danach, "die Macht gewinnen, die notwendig ist, um zu gestalten, um politische Entscheidungen nach seinen Überzeugungen durchzusetzen" (Kohl 1993a: 35). Der Hinweis auf Gestaltung blieb jedoch ohne Richtungs- und Inhaltsangabe und verdeckte damit das Eigeninteresse des Politikers kaum. Sein Streben war allgemein auf den Positionserhalt gerichtet und damit auf "politics" beschränkt. Dazu wiederum brauchte der Vorsitzende die CDU als Volks- und Bürgerpartei. Er verglich sie mit einem "schwerflUligen Tanker". Das Bild suggeriert einen fiir gemeinschaftliches Handeln ausreichenden Zusammenhalt. Diese Einheitsbehauptung stützte er durch die Erinnerung an den Widerstand der Gründer gegen den Nationalsozialismus, die Bindung an das ,,c'' und den Unionsgedanken. Damit war fiir Helmut Kohl die von der Basis her erneuerte CDU-Ost in die Verbindung der Konfessionen, Landschaften, Geschlechter und Schichten aufgenommen. Mit der Feststellung, dass "in Parteien manches im Argen" läge und es echte Politik "ohne weltanschauliche Grundsätze" nicht gäbe, warb er um Beteiligung. Er sah zwar keinen Problemstau, aber er erkannte einen gewissen "Handlungsbedarf' an, da die Deutschen in der Vergangenheit über ihre Verhältnisse gelebt hätten und die Beziehung zwischen den Generationen gestört sei. Sorge bereite die wachsende Gewaltbereitschaft. Ohne sich durch eine Rangfolge der tagespolitischen Themen zu binden, forderte er die Interessenvertreter und Experten auf, sich zu einigen. Dabei nutzte er das Erfolgsprinzip in wahlabhängigen Gremien: Vorsitzender bleibt, wer sich nicht festlegt, bevor zu erkennen ist, welche Meinung eine Mehrheit findet. Diesem Prinzip folgte Helmut Kohl auch in seiner Rede auf dem 5. Bundesparteitag in Harnburg 1994, als er die Verabschiedung des "ersten gesamtdeutschen Programms" feierte. Der Vorstand der CDU betraute Lotbarde Maiziere am 23. Februar 1991 mit dem Vorsitz der Grundsatzprogramm-Kommission. De Maiziere hatte als DDRBürger in einer politischen Wirklichkeit mit zahlreichen Grautönen gelebt und im konziliaren Prozess der Kirchen erfahren, wie politisches Bewusstsein über gemeinsame Formulierungen geformt und verändert werden kann. Nach de Maizieres Selbstverständnis sind Menschen in Sozialität und Endlichkeit lern:tahig und zu moralischer Entscheidung aufgefordert. In seiner Regierungserklärung betonte er als Ministerpräsident die Eigenverantwortung der Individuen in der Gesellschaft mit den Sätzen: "Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußt machen" und "Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden" (de Maiziere 1990: 27). Der einzelne Mensch habe die Pflicht, gegen Bevormundung und Passivität "gesellschaftlich erwachsen" zu werden und Verantwortung fiir sich und die Allgemeinheit zu übernehmen. Staat und staatliche Organisation dürften nicht vorausgesetzt, sondern müssten als Aufgabe und Leistung aus der menschlichen Sozialnatur heraus begriffen werden3 . Nur so könne der Mensch 1 Diese Vorstellung entspricht dem Staatsverständnis im Grundsatzprogramm der CDU von 1978 und im Dresdener Manifest von 1991. Sie ist im Grundsatzprogramm von 1994 nicht mehr enthalten. Im RUckblick sieht de Maiziere im Ausklammem von Verfassungsfragen das zentrale Defizit der
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als Gemeinschaftswesen verstanden werden, das ohne Beziehung zu seinen Mitmenschen nicht leben könnte und auch nicht in der Lage wäre, seine Anlagen zu entfalten (16. Programm der CDU-Ost). In dieser Denkungsart ergänzt die Sozialität die Individualität. "Wir und Ich" werden nicht nur als Gegensätze, sondern auch als Bezug gedacht, so dass die Interessen des anderen aus dem Bewusstsein der wechselseitigen Angewiesenheit zu eigenen werden können. Aus dieser Bezogenheit folgert de Maiziere: "Wir erwarten von Ihnen keine Opfer. Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität. Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden" (de Maiziere 1990: 29). Ein weiterer Unterschied zur Position der West-CDU lag darin, dass aus der menschlichen Endlichkeit explizit Konsequenzen filr die gesellschaftliche Organisation abgeleitet wurden. " Weil der Mensch aber schwach ist, Irrtümern unterliegt und an seiner hohen Berufung, sittlich zu handeln, schuldig wird, muß die Gesellschaft so geordnet sein, dass er möglichst daran gehindert wird, seinen Mitmenschen zu schaden. Es gehört zu den wesentlichen Aufgaben politischer Gestaltung, in ausgewogener Weise Vertrauen und realistisches Mißtrauen zum Ausgleich zu bringen" (18. Programm der CDU-Ost). Damit war bereits die Grundlegung einer Verantwortungsgesellschaft angedeutet, auf die auch sein Nachfolger, Reinhard Göhner, hinarbeitete. Die Verantwortung vor den Menschen, die durch die Organisation der Gesellschaft im demo-kratischen Staat und in notwendig offener und kontroverser Parteiarbeit eingelöst werden müsse, ergänzte die im Grundsatzprogramm von 1978 formulierte Verantwortung vor dem Gewissen und vor Gott. Zusätzlich zu den Werten Freiheit und Gerechtigkeit nannte das Programm der CDU-Ost Frieden als die "Fähigkeit der Menschen, miteinander und in Einklang mit sich selbst in der Welt zu leben und Konflikte gewaltfrei auszutragen. Friede ist so die Voraussetzung für die Möglichkeit, Leben zu entfalten und auf seinen höchsten Wert zu bringen. Grundaufgabe der Politik ist es, die Bedingungenfür inneren und äußeren Frieden zu schaffen" (24. Programm der CDU-Ost). Nach diesem Programm ist Solidarität als Form der gegenseitigen Hilfe und Gerechtigkeit eine notwendige Vorstufe ftlr den Frieden. Außerdem hob die CDU-Ost die Bewahrung der Schöpfung in ihrem Programm besonders heraus, da erkannt wurde, dass die Menschheit im Begriff ist, ihre natürlichen Lebensvoraussetzungen zu zerstören. Die Anerkennung gegenseitiger Abhängigkeit wirkte auch auf die Außenpolitik. Der Ausgleich zwischen Nord und Süd, Ost und West wurde höher eingeschätzt als die Interessenvertretung der Deutschen in Einigung (de Maiziere 1996: 208). Er hatte erfahren, wie das Parlament am Parteiensystem und seiner Polarisierung zu ersticken drohte (de Maiziere 1996: 48).
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der Welt, weil es ohne Gerechtigkeit keinen inneren Frieden geben könne, da dieser durch Armutswanderung und Kriminalität gefährdet wäre. In den Einzelforderungen zum § 218, zum Recht auf Arbeit und zum Verhältnis von Besitz und Eigenturn (Entschädigung vor Rückgabe) unterschieden sich die von der CDU-Ost eingenommenen Positionen deutlich von denen der CDU im Westen. De Maizieres Aufforderung an die Gesellschaft, nicht auf Kosten der nachfolgenden Generationen zu leben, ist moralischer Art. Seine Annahme, dass das Sozialsystem der neuen Bundesrepublik nicht fmanzierbar sei, zeigte seine Fähigkeit zur realistischen Bewertung4 . Nach der Vereinigung, der Bundestagswahl und der Regierungsbildung fasste der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Lotbarde Maiziere, als Vorsitzender der Grundsatzprogramm-Kommission deren Aufgaben unter der Überschrift: "Grundsatzprogramm-Kommission will breitangelegte Diskussion" zusammen (UiD 14/1991: 13 ). Seine Interpretation ging über eine FOrtschreibung des Ludwigshafener Grundsatzprogramms hinaus. Er begründete dies mit den Herausforderungen, die die deutsche Einigung und die Vereinigung der CDUWest mit der CDU-Ost mit sich gebracht hätten. Sehr früh schon hatte de Maiziere auf den erheblichen Artikulationsbedarf der CDU-Ost hingewiesen, der bei vier gleichzeitig zu bestehenden Wahlkämpfen 1990 nicht habe befriedigt werden können5 • Im Hinblick auf die Programmarbeit forderte de Maiziere über Toleranz hinaus echtes Interesse an den anderen Menschen, da Gemeinsamkeit einen langen Atem benötige und bei Anerkennung der Unterschiede nur im Dialog erreicht werden könne. Als Volkspartei der Mitte müsse die CDU eine in der aktuellen Gestaltung offene, aber an den humanistischen Werten von Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Verantwortung orientierte, "wertkonservative" Partei sein. In seiner Rede auf dem 1. Bundesparteitag in Harnburg 1990 rief de Maiziere zum Zusammenfinden und zum Zusammenwachsen auf. Er beschrieb die innere Einheit der CDU (und Deutschlands) als eine gemeinsame Aufgabe, die nicht aus einer geborgten Identität erwachsen, sondern nur aus der ernsten Selbstüberprüfung aller Deutschen in Ost und West entstehen könne. De Maizieres Forderung 4 RUckblickend urteilt er, dass die Politiker nicht zur Diagnose bereit seien. For sie ware entscheidend, ob ein Problem vermittelbar sei (de Maiziere 1996: 207). Aus dieser Haltung heraus worden nur "lösbare" Probleme zugelassen. Wer gegen dieses Tabu verstoße, werde abgestraft und aus der Gemeinschaft entlassen. So entstehe Problemdruck, "bis einem der Krempel um die Ohren fliegt" und ein breites Krisenbewusstsein aufkomme (Interview Mai 1996).
s Die CDU-Ost hatte ihre Erneuerung mit "Positionen der CDU zu Gegenwart und Zukunft. Was wir wollen und brauchen: Reformen und Erneuerung- Vertrauen und neue Kraft" im Oktober 1989 begonnen. Auf dem Parteitag am 15. und 16. Februar 1990 gab sie sich ein neues Programm, in dem sie sich als Volkspartei mit christlichem Profil vorstellte. Sie legte zur Wahl der Volkskammer am 18. Marz 1990 "Grundsatze filr das Programm der CDU" vor. Programm und Grundsatze wurden im Sommer 1990 ausgearbeitet, numeriert und auf dem Vereinigungsparteitag in Harnburg verteilt. Diese Fassung wurde fllr die vorliegende Arbeit verwendet.
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nach einer Situationsanalyse als Voraussetzung für die Artikulation der drängenden Fragen und sein Bemühen um Verständigung zwischen Ost und West zeichnen ihn als Generalisten aus. Sein Anspruch sprengte den von Kohl gesetzten Rahmen der Programmarbeit De Maiziere mag in seinem Auftrag eine Chance gesehen haben, ehrlich und glaubwürdig zur politischen Führung beizutragen. Sein weitgestecktes Ziel, die Mitglieder durch breite Partizipation, Standortbestimmung und Wertaussagen zu integrieren und Orientierung anzubieten, erforderte viel Zeit. Doch diese Frage wurde nicht ausdiskutiert, sondern durch die vom Vorsitzenden mit Hilfe der Bundesgeschäftsstelle gesetzten Rahmenbedingungen entschieden. II. Der Entstehungsprozess des Grundsatzprogramms und seine Probleme Die Absichten der CDU in der Grundsatzprogramm-Diskussion lassen sich nur schwer erfassen. Es gibt zwar zahlreiche Erklärungen, doch handelt es sich dabei eher utn unspezifische allgemeine Äußerungen zu den Aufgaben der Partei. Die die Programmarbeit direkt betreffenden Vorstellungen wurden eher aus der Erfahrung nachträglich formuliert. Die vielfliltigen Sichtweisen und Orientierungen wurden erst im Austausch erfahren. Damit erhielten die Entscheidungen über den Zeitrahmen, die organisatorisch-bürotechnische Ausrüstung und die Auswahl der zu beteiligenden Personen außerordentliche Bedeutung. Der Bundesvorstand übertrug den Vorsitz der Grundsatzprogramm-Kommission Lotbar de Maiziere. Die Kommissionen wurden von der Bundesgeschäftsstelle in Absprache mit dem Bundesvorsitzende nach dem Proporz handverlesen besetzt. Die Geschäftsstelle der Grundsatzprogramm-Kommission wurde als Stabsstelle ausgebildet und musste ihre organisatorisch-bürotechnische Ausrüstung und Einbindung in die Bundesgeschäftsstelle erst erkämpfen. Das Grundsatzprogramm entstand im Dialog zwischen Parteispitze und Basis in sechs Phasen. Nach dem Beschluss des Bundesparteitages im Oktober 1990 wurde eine Kommission beauftragt, einen Diskussionsentwurf (EGP) zu formulieren. Der bis Dezember 1992 erarbeitete Entwurf wurde im Januar 1993 vom Vorstand übernommen. Die Mitglieder sollten bis September 1993 zu dieser Vorlage Stellung nehmen. Doch schon ab Juli 1993 beriet eine von der Bundesgeschäftsstelle neu eingesetzte Kommission den Leitantrag filr den Bundesparteitag (AGP), den der Bundesvorstand in seiner Sitzung am 1./2. Oktober 1993 beschloss. Bis zum 17. Januar 1994 konnten die Kreis- und Landesverbände dazu Änderungsanträge einreichen. Die Antragskommission sichtete die Änderungsanträge und erarbeitete die Beschlussvorlage für den Parteitag. In der Diskussion auf dem Bundesparteitag am 22. Februar 1994 hatten die Delegierten eine letzte Chance, Einfluss zu nehmen.
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Die Absicht, mit dem neuen Grundsatzprogramm das Super-Wahljahr 1994 einzuleiten, bestimmte den Zeitrahmen der Programmdiskussion. Die Bundesgeschäftsstelle maß den Zeitbedarf an dem Auftrag, das Ludwigshafener Programm zu aktualisieren und fortzuschreiben. Damit wurde ein Grundkonsens unterstellt, der eine zügige Lösung ermöglichte. Das Problem Zeit war jedoch in allen Phasen gegenwärtig, in den Schwierigkeiten der Termintindung gleich nach der Konstituierung ebenso wie in der wechselnden Anwesenheit der Kommissionsmitglieder. Die kurzen Sitzungen der EGP-Kommission fanden als Randtermine zwischen 8.30 und 10 Uhr statt. Die interne Orientierung begann mit der Konstituierung der Kommission in Bonn am 17. April 1991 und wurde mit der Klausurtagung in Potsdam im November 1991 abgeschlossen. In dieser Zeit wurde über die Gliederung, das arbeitsteilige Vorgehen, die Zuständigkeit ftlr die Formulierung in den Kommissionsgruppen und die bürotechnische Ausrüstung entschieden. Zur Orientierungsphase wurden alle Aktivitäten gezählt, die notwendig waren, um eine handlungsflihige Gruppe zu bilden. Die Kommissionsmitglieder mussten sich gegenseitig kennen lernen und sich über ihre Ziele und die Vorgehensweise verständigen. Die Verfahrensorganisation war der Großgruppe überlassen worden, ohne sie daftlr mit den notwendigen bürotechnischen Mitteln auszurüsten. Lothar de Maiziere konnte zwar auf die Zuarbeit des von Helmut Kohl persönlich eingestellten Sekretärs der Kommission, Thomas Gauly, zurückgreifen, doch mussten selbst die Räume ftlr die Gruppensitzungen erkämpft werden. Erst zum 1. Juli 1991 erhielt die Kommission eine Sekretärin. Als die Programmarbeit mit dem Rücktritt de Maizieres in Zeitverzug geriet und zu scheitern drohte, griff der Bundesvorsitzende, Helmut Kohl, ein. Bereits in der nächsten Sitzung des Bundesvorstands berief er den Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesministerium ftlr Justiz Reinhard Göhner zum neuen Vorsitzenden. Die Bundestagsabgeordnete Maria Böhmer und der Staatsminister der sächsischen Staatskanzlei, Arnold Vaatz, wurden zu Stellvertretern ernannt. Göhner und Vaatz hatten der Kommission bis dahin nicht angehört. Der neue Vorsitzende, Reinhard Göhner, stellte sich die Aufgabe, in einem ersten gesamtdeutschen Programm Orientierung ftlr das politische Handeln zu formulieren. Es sollte das Modell eines wünschenswerten gesellschaftlichen Zusammenlebens entworfen werden, um so Willen zur Veränderung zu entwickeln. Um dieses Ziel zu erreichen, setzte Göhner sowohl eine Verbesserung der bürotechnischen, organisatorischen und personellen Ausstattung als auch eine personale Ergänzung der Kommission durch jüngere Mitglieder und Mitglieder aus den neuen Bundesländern durch. Der Diskussionsentwurf wurde in den Kommissionsgruppen vorbereitet, im Januar 1993 vom Bundesvorstand angenommen und den Gliederungen zur Dis-
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kussion vorgelegt. Die Mitglieder brachten mehr als filnthundert Stellungnahmen ein6 • Die Beteiligung war regional unterschiedlich. Die dritte Phase umfasst die Zeit von der Formulierung des Leitantrages bis zum Beschluss des Bundesvorstandesam 2./3. Oktober 1993. Er wurde bereits vor dem Ende der "Dialogphase" am 15. September 1993 von einer neu gebildeten Kommission formuliert. In diese AGP-Kommission wurden der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Christoph Bergner, und der Kandidat ftlr das Amt des Bundespräsidenten der sächsische Justizminister, Steifen Heitmann, neu berufen. Manfred Kanther, Erwin Teufel und der CDA-Vorsitzende, Werner Schreiber, kamen als - bisher nicht beteiligte - Mitglieder hinzu. Auch diese Kommission war so groß, dass arbeitsteilig vorgegangen werden musste. Die einzelnen Abschnitte wurden durch Arbeitsgruppen vorbereitet. In der vierten Phase wurde den Mitgliedern eine zweite Chance gewährt, ihre Vorstellungen in Form von Änderungsanträgen zum 5. Bundesparteitag einzubringen. Die antragsberechtigten Vereinigungen, die Fachausschüsse auf der Bundesebene sowie die Kreis-, Bezirks- und Landesverbände, waren dabei an die Vorlage gebunden und durch die Form eingeschränkt. Im Leitantrag waren die im Diskussionsentwurf noch vorhandenen einleitenden Situationsbeschreibungen weggefallen. Damit wurde die Sichtweise der exekutiven AGP-Kommission festgeschrieben. Auch die Gliederung war nicht mehr zu verändern. Trotzdem wurden 2352 Anträge zu den 161 Ziffern des Leitantrags eingebrache. Der mit 1388 Anträgen - 59 Prozent - immer noch große Beitrag der Basis geht auf 119 aktive Kreisverbände zurück. Damit hatte lediglich ein Drittel der Kreisverbände die Diskussion in der vorgesehenen Form abgeschlossen. Diese Kreisverbände verteilten sich nicht gleichmäßig auf die Landesverbände. In Nordrhein-Westfalen beteiligten fast 60 Prozent. In Sachsen, in Baden-Württemberg, im Saarland und in Hessen lag die Beteiligung bei etwa 30 Prozent. In Niedersachsen war ein Viertel aktiv. In Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, SachsenAnhalt und Berlin war die Teilnahme auf der Kreisebene gering. Die Beteiligung der neuen Länder blieb, abgesehen von Sachsen, unterdurchschnittlich. Nur 9 der 106 Kreisverbände formulierten Einwände. Aus Mecklenburg-Vorpommern kamen überhaupt keine Anträge. In der filnften Phase wurden die Anträge unter der Leitung von Generalsekretär Peter Hintze in der Bundesgeschäftsstelle gesichtet und mit Empfehlungen versehen den Mitgliedern der Antragskommission zugesandt. Die Antragskommis6 Auskunft: Union in Deutschland 30/93: 4. Meine Bine auf Einsicht in diese Akten wurde mit der Begrundung abgewehrt, dass diese Unterlagen zu umfangreich seien. 7 Nach dieser Ziffervorgabe werden die Textstellen des Grundsatzprogramms von mir zitiert. 6. GP94 bezeichnet den Abschnitt 6 des Programms.
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sion hatte insgesamt 54 Mitglieder (5. BPT: 409 f.). Nach den Prinzipien der Volkspartei waren die Landesverbände und die Vereinigungen jeweils mit mindestens zwei Vertretern beteiligt worden. Die Antragskommission tagte vom 31. Januar 1994 an. Es kann davon ausgegangen werden, dass wegen des Zeitdrucks auch hier arbeitsteilig verfahren wurde. Im Vorteil waren die 17 Mitglieder, die den Leitantrag mit formuliert hatten. Sie waren Entscheider in eigener Sache. Die übrigen Mitglieder mussten sichangesichtsder zahlreichen Vorlagen auf die Empfehlungen aus der Bundesgeschäftsstelle verlassen. Die Zusammenfassung der Anträge durch die Antragskommission war eine monopolisierte Entscheidung von großer Tragweite, denn nach der Geschäftsordnung gilt die Fassung der Antragskommission unabhängig von ihrem Inhalt als der weitestgehende Antrag, über den abgestimmt wird. Die Programmarbeit wurde auf dem in Harnburg vom 21.-23. Februar 1994 stattfmdenden 5. Bundesparteitag (5. BPT) mit der Diskussion und der Abstimmung über das Grundsatzprogramm beendet. In der sechsten Phase war die Meinung der mittleren Funktionsträger gefordert. Die Anträge und Empfehlungen der Antragskommission, insgesamt 641 Seiten, waren den Delegierten etwa eine Woche vor dem Beginn des Parteitages zugestellt worden. Die Aussprache zum Leitantrag fand am zweiten Sitzungstag nach dem Bericht des Generalsekretärs statt. Sie dauerte zwölfeinhalb Stunden und deckte damit die Hälfte der gesamten Sitzungszeit ab. Die Zeitzuteilung spiegelt wider, welche Bedeutung den Aufgaben der Außendarstellung, der Meinungsbildung und den Themen zugemessen wurde. Dabei hatte der Bundesvorstand die Rahmenbedingungen schon vor Beginn des Parteitags korrigiert, indem er die Dauer des Parteitags von vier Tagen auf drei Tage verkürzte. Am Beispiel der Auseinandersetzung zu den Themen Staat, repräsentative Demokratie, Parteien, Gemeinwohl, Pluralismus und Verbände möchte ich zeigen, wie eng verflochten und situationsabhängig die Textentstehung verlief und wie wenig sie auf den Erklärungsbedarf der Neuen Länder Rücksicht nahm. Dazu werde ich auf die Anträge, die Empfehlungen und die Debatte eingehen. Schon der Leitantrag war knapp formuliert. Zu ihm gab es vergleichsweise wenig Anträge. Sie waren Anliegen einer Minderheit, denn das, was alle angeht, hat keine geborenen Vertreter. Mit dem Kollektivgut "staatliche Ordnung" beschäftigen sich auch BUrger nur dann, wenn diese Aufgabe durch einen expliziten Auftrag zur Sache einer Person oder Gruppe gemacht wird. Von den wenigen Anträgen zum Staat wurden lediglich der Hinweis auf die Verfassungsaufgabe und das die Staatsbildung als Aufgabe charakterisierende Adjektiv "fortzuentwickelnde Ordnung" aus dem 78er Programm wieder aufgenommen. Auch der unscheinbare Antrag D46 des KV Rhein-Sieg, nach dem die Aussagen zur Politik filr das Gemeinwohl ihrer Bedeutung gemäß direkt an die Ausfilhrungen über die staatlichen Aufgaben angeschlossen werden sollten, wurde von der Antragskommission verworfen und kam damit nicht zur Abstimmung. Das Kollektiv-
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gutproblem, die gemeinsamen Aufgaben zu artikulieren, wurde nicht erkannt, obwohl es im Antrag D87 des LV Berlin direkt formuliert worden war 8 • Die Debatte zum Kapitel IV "Für einen freiheitlichen Staat'' fand in der zwölften Sitzungsstunde des zweiten Tages statt. Es war etwa ein Viertel der Delegierten im Plenum anwesend. In der Aussprache lassen sich drei Reaktionsmuster nachzeichnen. Rupert Scholz ging in seiner einfUhrenden Rede vom souveränen Staat aus, der auf der Gemeinschaft freier und mündiger Bürger beruht. Mit dem Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat, zur Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Gerichte brachte er ein, was in Anträgen angemahnt wurde, aber so nicht im Text festgehalten war. Danach stellte er heraus, dass sich die CDU von den Sozialdemokraten und Sozialisten darin unterscheide, dass sie ein ausgewogenes Verhältnis von Liberalität und Sozialität anstrebe. Mit dem Hinweis auf das verhängnisvolle Erbe der 68er Generation verteidigte er die parlamentarisch-repräsentative Demokratie. Er beugte Aussagen zur Lage der Parteien mit einer Schuldzuweisung vor: "Wer das Wort von der sogenannten Parteienverdrossenheit gegen die parlamentarische Demokratie wendet, der tut nichts anderes als einen Sargnagel in unsere Demokratie schlagen" (Scholz 5. BPT: 327). Trotz der durch Beifall aufgewiegelten Stimmung wagte es der sächsische Delegierte Fritz Hähle, der grundsätzlichen Ablehnung von Volksentscheiden auf Bundesebene zu widersprechen. Sein Landesverband hatte mit dem Antrag D42 darum gebeten, den Satz "Volksentscheide auf Bundesebene dagegen lehnen wir ab" zu streichen, um Zeit fiir eine gründlichere Diskussion dieser in den neuen Bundesländern wichtigen Frage zu gewinnen. In seiner Entgegnung holte Scholz "fiir die Freunde aus Sachsen" zum Schlag aus. Der Ruf "Wir sind das Volk" könne nur gegen ein totalitäres System akzeptiert werden (Scholz 5. BPT: 331 ). Mit der Unterstellung, die Sachsen folgten den Sozialdemokraten, erhob er den Vorwurf des "Parteiverrats". Dies löste heftige Erregung unter den sächsischen Delegierten aus. Nach einem weiteren Beitrag gegen plebiszitäre Elemente wurde der Vorschlag der Antragskommission angenommen und die Bitte der Sachsen abgelehnt. Immerhin wurden 47 Anträge zur innerparteilichen Situation eingebracht. Sie nahmen die Kritik an den Parteien auf, um die Parteiverdrossenheit zu verringern. Die Auseinandersetzung kann als ein Streit darüber interpretiert werden, wer das Kollektivgut "Partei" herstellen soll. In den Anträgen D52, A 113 und D79 wurde kritisiert, dass die zentralen Aufgaben der Partei nicht genannt würden (D51, D73, D74 und D78). Die Holschuld der Entscheidungsträger (D38) sei nicht eingelöst, wenn die Mitglieder ihre Leistungen nicht wiederfil.nden (D75). In den Anträgen wurden neue Wege der demokratischen Meinungsbildung gefordert. Dies sei ohne eine Begrenzung der Amtszeiten und ein Verbot der Äm8 Mit diesem Antrag waren die Konsequenzen aus dem Entscheid des BVerfG von 1992 gezogen worden. Danach ist es Aufgabe der Parteien, die politischen Ziele der staatlichen Gemeinschaft zu bestimmen und die gemeinsamen Interessen zu artikulieren und durchzusetzen.
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terhäufung nicht erreichbar. Ein Schritt in diese Richtung wäre es schon, wenn eine Mindestzahl an ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedern festgelegt würde (D82). Außerdem sei es nötig, die Partei fiir Seiteneinsteiger und BUrger zu öffnen. Diese Anträge wurden verfahrenstechnisch mit Hilfe der Geschäftsordnung erledigt. Nach dem ftinfminütigem Disput wurde abgestimmt. Da zu den nächsten beiden Ziffern keine Wortmeldungen vorlagen, konnte sofort entschieden werden. Danach wurde der Protest des sächsischen Delegierten Fritz Hähle über den Verlust seiner Wortmeldung abgewiesen: "Ich bedauere, hier liegt keine Wortmeldung zu Ziffer 107 vor. Wir haben inzwischen auch schon 108 und 109 abgestimmt" (5. BPT: 334). Damit war die öffentliche Auseinandersetzung über das die Funktionsträger ins Mark treffende Thema einer Amtszeitbegrenzung (D56) verhindert worden. Dieser kleine Ausschnitt zeigt, wie groß der Einfluss der Antragskommission war und wie stark personale, situative, räumliche und stimmungsmäßige Faktoren auf die Textgestaltung wirkten. Vertrauen und Glauben in das gesprochene Wort wurden zur Grundlage der Abstimmung, denn das beträchtliche Tempo, in dem Reden und Abstimmungen aufeinander folgten, ließ es nicht zu, den Text zu überprüfen. An den Anträgen ist ebenso wie an der emotionalen Abwehr und dem verfahrenstaktischen Einsatz der Funktionsträger zu erkennen, dass eine Parteireform dringend erforderlich ist. Sie ist bei der Wahlabhängigkeit der Entscheidungsträger kein Problem des Wissens, sondern eines des Wollens und Könnens. Die CDU diskutiert aus sich heraus nicht über ihr Selbstverständnis, sondern überlässt es dem Vorsitzenden, die CDU darzustellen. Die Partei sitzt in der Kollektivgutfalle. Die Mitglieder, die innerparteiliche Mängel erkennen, können die notwendigen Meinungsbildungsprozesse nicht einleiten. Die mittleren Funktionsträger, die über die Organisationsmacht verfügen, sind als Spezialisten im Erwerb von Ämtern, bemüht, Diskussionen über ihre Methoden zu verhindern. Diejenigen Politiker, die den demokratischen Ansprüchen auch folgen, schaffen eine Situation, aus der heraus sie Kritik zu Recht abweisen können. Dort, wo sie sind, gibt es Austausch und Dialog. Die neuen Länder wurden in der ersten Phase durch de Maiziere und Ulf Fink (CDA) aus Brandenburg, Johannes Nitsch und Hans-Joachim Meyer aus Sachsen, Claudia Nolte und Christine Lieberknecht aus Thüringen sowie Angela Merke! aus Mecklenburg-Vorpommern vertreten. Nach dem Ausscheiden von de Maiziere versuchte man, die neuen Länder stärker zu beteiligen. Arnold Vaatz wurde noch im September zum stellvertretenden Vorsitzenden berufen. Klaus Zeh, Markus Vette und Anne-Katrin Glase wurden fortan zu Sitzungen der Kommission eingeladen. Ihre Einwirkungschancen wurden durch personale Diskontinuität beeinträchtigt. Sie kamen als Fremde, hatten lange Wege zurückzulegen und waren mit den Verfahren nicht vertraut. An der Formulierung des Diskussionsentwurfs konnten sich elf Mitglieder aus den neuen Bundesländern beteiligen. Von ihnen durften aber nur Merke!, Vaatz, Vogel und Lieberknecht auch an der Formulierung des Leitantrags mitwirken. Der Ministerpräsident von
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Sachsen-Anhalt, Christoph Bergner, und der Kandidat fiir das Amt des Bundespräsidenten und sächsische Justizminister, Steffen Heitmann, kamen als Neulinge hinzu. Die neuen Länder waren somit formal in etwa ihrem Mitgliederanteil entsprechend vertreten9 • Lothar de Maiziere initiierte durch seine Aufgabeninterpretation und Ansprüche eine eigendynamische Entwicklung. In der konstituierenden Sitzung am 17. April 1991 trug er sein Konzept vor. Vom Programmentwurf der CDU-Ost ausgehend, erörterte er seine langfristigen Ziele. Für das erste gesamtdeutsche Programm einer Partei wollte de Maiziere eine Vision entwickeln, die, wie er es im konziliaren Prozess erfahren hatte, über Programmarbeit von unten Einstellungen verändern könnte. Damit sollte der Sozialismus aus den Köpfen und Herzen vertrieben und der Rückzug ins Private gestoppt werden. Aus dieser Aufgabe leitete er seine Gliederungsvorstellung ab. Der Text sollte über die Ausgangslage, die Grundsätze und die Programmsätze Auskunft geben. Als Grundlage wollte er den Standort und die Prinzipien in der Gesamtkommission erarbeiten, um damit Konsistenz und Eindeutigkeit in den von den Kommissionsgruppen formulierten Programmsätzen wenigstens annäherungsweise zu erreichen 10• Die Diskussion der ersten Sitzung wurde in sechs Fragen zur inhaltlichen Arbeit zusammengefasst. Sie waren erstens auf die Vision von einer sozialgerechten Gesellschaft, zweitens auf das Verständnis von Freiheit und drittens auf die Konsequenzen aus dem Anspruch, Volkspartei zu sein, gerichtet. Viertens wurde die Alternative zwischen Außen- und Weltinnenpolitik diskutiert. Schließlich wurde gefragt, wie die Begriffe "Bewahrung der Schöpfung" und "christliches Menschenbild" zu interpretieren seien. Bereits in den ersten Aussprachen wurde erfahren, wie vielfältig die Vorstellungen, Orientierungen und Aufgabeninterpretationen waren. Im Austausch wurde deutlich, dass das gemeinsame christliche Fundament vielfältige Auslegungen zuließ und lange Gespräche notwendig wären, um daraus eine Grundlage filr das Programm abzuleiten. Da jedoch ohne eine solche Basis das Gemeinsame nicht zu erfassen war, kamen erste Zweifel an der Zeitvorgabe auf. Die Dimension der Aufgabe wurde vom Vertreter des Evangelischen Arbeitskreises, Albrecht Martin, formuliert. Nach den Erfahrungen aus dem konziliaren Prozess wies er daraufhin, dass die zentrale Aufgabe nicht in der Auseinandersetzung um Werte läge, sondern darin bestände, den verfahrensmäßigen Gestaltungsauftrag einer politischen Partei aufzunehmen und eine Ordnung zu schaffen, in der Solidarität, 9 Die Landesverbande der neuen Lander waren mit 6+1 von 37 Mitgliedern in der EGPI mit 18,9 Prozent, mit 9+2 von 50 Mitgliedern in der EGPII mit 22 Prozent, mit 4+2 von 26 Mitgliedern in der AGP-Kommission mit 23 Prozent und mit 9 von 54 Mitgliedern in der Antragskommission mit 16,6 Prozent beteiligt.
10 Der Versuch, die Grundsatze, die vor der Klammer stehen sollen, gemeinsam zu erarbeiten und dann einen besonderen Teil anzuschließen, scheiterte an den Gegensatzen zwischen Familien- und Wirtschaftspolitikern (Interview mit de Maiziere im Mai 1996).
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Freiheit und Gerechtigkeit wenigstens in Ansätzen unter menschlichen Verhältnissen praktiziert werden könnten. Das Ziel, zuerst die institutionellen Gemeinsamkeiten mit einem ·Aufriss des Staates und der Einbindung von Gruppen und Verbänden zu erarbeiten, wurde vom Geschäftsfilhrer des Wirtschaftsrats, Rüdiger von Voss, unterstützt. Er sprach sich filr ein deduktives Vorgehen aus, da nur so das Gemeinsame formuliert werden könne. Dies setze allerdings voraus, dass das Denken nicht nur an materiellen Kriterien ausgerichtet werde. Den Zusammenhang zwischen der Ordnungsaufgabe und den Einstellungen stellte auch Maria Böhmer heraus. Sie machte darauf aufmerksam, dass der Erfolg des Programms bei Mitgliedern und Wählern von den Beteiligungsangeboten und damit von Verfahren der Programmarbeit abhängig sei. Eine Gegenposition nahmen Rupert Scholz, Marcel Kaufmann vom RCDS und Matthias Wissmann ein. Sie hielten ein induktives Vorgehen filr ausreichend. Dabei stand der Wunsch im Vordergrund, durch Multiplikatorengespräche werbend in die Öffentlichkeit zu wirken. Die Verfahrensfrage wurde nicht ausdiskutiert, sondern durch Zeitmangel entschieden. Da durch den Umfang der Aufgabe einem arbeitsteiligen Vorgehen nicht ausgewichen werden konnte, wurde beschlossen, im Wechsel von Plenum und Gruppen zu tagen. Es wurden nach der Gliederung des ersten Grundsatzprogramms der CDU von 1978 filnfKommissionsgruppen gebildet. Das Ziel, Selbstverständigung, Orientierung und Koordination des Handeins anzubieten, setzte intern Konsens über die Ausgangslage und über die Prinzipien sowie extern Übersicht über die Wünsche und Vorstellungen der Adressaten, insbesondere Information über Fragen und Problemlagen der jungen Menschen, voraus. Die Informationsbeschaffung gestaltete sich schwierig, denn es stand kein Geld filr Gutachten zur Verfilgung. Damit war die Kommission auf die unentgeltliche Zuarbeit CDU-naher Wissenschaftler und Berater angewiesen und beschränkt. In dieser Situation versuchte die Kommission, über Öffentlichkeitsarbeit Informationen auf Kongressen zu gewinnen. Die geringe Beteiligung der Kommissionsmitglieder, die unzureichende technisch-personelle Ausrüstung und die Verweigerung von Mitteln zur Informationsbeschaffung veranlassten Lothar de Maiziere am 30. August 1991 zurückzutreten. Er hatte bald erkannt, dass seine Vorstellung, Orientierung in einem ersten gesamtdeutschen Programm anzubieten, nicht in der vorgesehenen Zeit einzulösen war. Ohne ausreichende Unterstützung der Kommission konnte er die Zeit filr das zum Vordenken notwendige Nachdenken nicht erkämpfen. Wie unbefriedigend die Informationsgrundlage war, zeigte der Beitrag von Arnold Vaatz auf der Klausurtagung in Potsdam. Er provozierte mit der These, dass der Westen die bestehenden Unterschiede nicht wahrnähme und folglich auch die unterschiedlichen Begriffsausfilllungen in Ost und West ignoriere. Die Deutschen könnten sich nur dann vereinen, wenn diese Situation des Nichtwissens aufgehoben und die "mentale Inkongruenz" überwunden werde. Seine Zweifel bezogen sich auf die Einstellungen wie auf die Verfahren. Er spielte damit auf die ausschließliche Verwendung des Mehrheitsbeschlusses an. Außer-
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dem warnte er davor, das SED-Unrecht zu verdrängen. Vaatz schied aus Empörung über das Honnecker-Urteil aus 11 . Das Mitglied der EGP-Kommission Hans-Joachim Meyer hoffte auf Einheit durch den Dialog. Meyer forderte ein Nebeneinander von öffentlichem Diskurs und Mehrheitsgewinnung, damit aus dem Beitritt kein Anschluss werde. Doch die Bereitschaft zum parteiübergreifenden Gespräch und zur Zusammenarbeit stand im Gegensatz zu den politischen Ritualen der alten Länder. Meyer, der den Diskussionsentwurf mit formuliert hatte, diagnostizierte bereits 1993 "Defizite in der fiir das demokratische Leben zentralen Fähigkeit zum Dialog in beiden Teilen Deutschlands als programmatische Unbedarftheit im Osten und als entleerte politische Routine im Westen" (Meyer 1993: 73). Um den notwendigen Dialog zu filhren, hätte er jedoch Einfluss auf die Verfahren haben müssen. Da ihm dieser verwehrt wurde und er an der Formulierung des Leitantrags nicht mehr beteiligt war, konnte er nicht verhindern, dass seine an die demokratischen Verfahren gestellten Forderungen zum Leistungsnachweis mutierten 12 • Von den neuen Ländern beteiligte sich Sachsen intensiv an der Diskussion des Entwurfs. Die Vertreter der östlichen Bezirke waren in Berlin stark vertreten. Aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen kamen nur vereinzelt Meldungen. Die Diskussion in Sachsen wurde in der Broschüre des Gesprächskreises 2000 zu "13 Grundsätzen christlich-demokratischer Politik im wiedervereinigten Deutschland" zusammengefasst 13 • Dieser Gesprächskreis war aus einem Führungskräfteseminar der Konrad-Adenauer-Stiftung fiir Funktionsträger aller Ebenen hervorgegangen und traf sich regelmäßig, um neue Handlungsperspektiven zu entwickeln. Es gab eine eigenständige Diskussion von beachtlicher Intensität, die sich nicht auf die Thesen des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Siedenkopf beschränkte. Nach einer Beschreibung der Ausgangslage wurden die pro11 Vaatz protestierte damit gegen die westliche Indifferenz. Es sei wichtig zu sagen, was wirklich war und Schuld anzuerkennen, damit Unrecht auch als solches bezeichnet werden könne (Vaatz 1994: 24).
12 So hieß es noch in der Ziffer 304 des Diskussionentwurfs zur Gefahr, dass sich BUrger und Parteien entfremden: "Wir müssen dafilr sorgen, daß der Gewinn von Gremienmehrheiten und die Besetzung von Machtpositionen nicht wichtiger werden als die sachlich und ethisch verantwortete Entscheidung". Diesen Auftrag verwandelte die exekutiv dominierte Kommission im Leitantrag und in Ziffer 108 des Grundsatzprogramms zur Vollzugsmeldung. "Für uns ist die sachlich und ethisch verantwortete Entscheidung wichtiger als der Gewinn von Gremienmehrheiten und Machtpositionen." 13 Die Broschüre wurde auf dem 4. BPT 1993 in Berlin verkauft und hatte ein breites Medienecho (U. Schmidt 1997: 180 f.). Von den Mitgliedern war Amold Vaatz seit September 1991 stellvertretender Vorsitzender der Grundsatzprogramm-Kommission, Christa Reichard war seit 1992 Mitglied im Bundesvorstand der CDU und Steffen Heilmann war an der Formulierung des Leitantrages beteiligt.
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grammatischen Konsequenzen formuliert. In den ersten vier Thesen ging es um das Selbstverständnis als gesamtdeutsche, moderne, offene und wertorientierte CDU. Es folgten Aussagen zu den Politikfeldern soziale und ökologische Marktwirtschaft, Sicherheit des Bürgers, Eigentum, Bildung und Kultur. Mit dem Abschnitt "Wir wollen eine Generationen verbindende und für die Jugend attraktivere CDU" wurde der Partnerschaftsgedanke herausgestellt. Den Abschluss bildeten Thesen zur europäischen CDU. Die Vorsitzende der Grundsatzprogramm-Kommission in Dresden, Christa Reichard, fasste die Kritik an der Programmdiskussion zusammen (Reichard 1994: 6 f.). Sie beschrieb, wie schwierig die Mitarbeit für die ostdeutschen Kommissionsmitglieder gewesen sei. Durch die Problemfillle der Tagespolitik, fehlende politikwissenschaftliche Kenntnisse und gesellschaftspraktische Erfahrung habe es nie genügend Zeit filr intensive Vorbereitung und regelmäßige Teilnahme gegeben. Da auch die Mitarbeiter der Kommission auf Bundesebene ausschließlich westdeutscher Herkunft waren, sei eine "Westlastigkeit der Formulierungen und Denkstrukturen" entstanden. Erst dann, wenn es den Ostdeutschen gelänge, sich hinreichend verständlich zu machen, könnten sich auch junge Menschen und Frauen mit dem vorliegenden Programm identifizieren. Obwohl in der Antragsfassung einige Kritikpunkte berücksichtigt würden, sei es weiter notwendig, die CDU durch Verzicht auf Ämterhäufung und eine zeitliche Begrenzung von Ämtern und Mandaten zu modernisieren. Aus Brandenburg wurde von einigen wenigen Einzelveranstaltungen in Ortsverbänden berichtet 14 • Die Informationsangebote an die Sprecher in der Landtagsfraktion und die Mitglieder auch der Bundesfachausschüsse blieben ohne Resonanz. Die programmatische Diskussion behinderte die aktuelle politische Arbeit und wurde als unnütz abgetan. Man hatte erfahren, dass auch höhere politische Ämter ohne den Nachweis von Kenntnissen erreicht werden konnten. Die Anträge zum Bundesparteitag wurden im kleinen Kreis formuliert. Damit konnte immerhin das Gesicht gewahrt werden. Aussagen zur Entstehung des Leitantrags können auf den Textvergleich und die Berichte des Vorsitzenden Göhner zurückgreifen. Göhner erklärte, dass sich die Kommission auf den Rat der Mitglieder aus den neuen Bundesländern Bergner, Heitmann, Lieberknecht, Merkel und Vaatz- dafür entschieden habe, das Thema "Vollendung der inneren Einheit" nicht separiert in einem Einzelkapitel zu behandeln, sondern die Herausforderungen der Einheit als Chance zu begreifen, auch Fehlentwicklungen in den alten Bundesländern zu korrigieren. Die Überlegungen zum Abschnitt "Die Chancen des Umbruchs nutzen - die Einheit Deutschlands in Freiheit und Verantwortung gestalten" filhrte Angela 14 Brandenburg war in der Anfangsphase durch Lothar de Maiziere und den stellvertretenden Bundesvorsitzenden des DGB, Ulf Fink, in der Formulierungsphase des Entwurfs zusatzlieh durch die Abgeordnete der Volkskammer Anne-Katrin Glase und den Landtagsabgeordneten Markus Vette vertreten. Die Landesvorsitzende Carola Hartfelder war Mitglied in der Antragskommission.
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Merkelauf dem 5. BPT in Harnburg aus. Nach der Freude über die Einheit forderte sie, die Umbrüche so zu gestalten, dass die Menschen an Gerechtigkeit und Solidarität merken, was die Grundwerte wert seien. Sie verlangte Zeit zu Gespräch und Austausch, damit die Lebensgeschichte der Menschen in den neuen Bundesländern Teil der ganzen deutschen Geschichte werde und wies daraufhin, dass der in 40 Jahren kommunistischer Diktatur erworbene scharfe Blick filr Entwicklungen eine Chance zur Erneuerung filr ganz Deutschland enthalte. Der Leistungsbegriff müsse nicht nur überdacht, sondern im Bildungssystem umgesetzt werden. Die Frage, wie Frauen in dieser demokratischen Gesellschaft leben sollen, müsse beantwortet werden. Sie verlangte ein Bekenntnis zur nationalen Identität, denn zur deutschen Geschichte gehörten auch Teile, auf die wir stolz sein können. Dazu wünschte sie sich eine offene Gesellschaft, in der Freiheit nicht als Beliebigkeit missverstanden, sondern in der Verbindung zur Verantwortung gelebt werden könne. Aufgabe der Politiker und der Partei sei es, "die Menschen zu ermuntern, mündige Bürger in dieser Demokratie zu sein" (Merkel 5. BPT: 214). Die Chance dazu wurde in der Diskussion auf dem Bundesparteitag nur bedingt eingelöst. Da nach der Parteitagsregie eine Generaldebatte nicht vorgesehen war, gab es keine Gelegenheit, identitätstiftenden grundsätzlichen Fragen zu diskutieren. Wer trotzdem übergreifende Gedanken anbieten wollte, musste dies, wie Christoph Bergner und Markus Vette in der Diskussion über Werte und Menschenbild tun. Bergner wies darauf hin, dass die Suche nach politischer Orientierung größer sei, als nach den Berichten der Meinungsforschungsinstitute angenommen werde. Vertrauen der Bürger gewinne eine Partei, die sich zu Grundsätzen bekennt, auch wenn diese wie das christliche Menschenbild unselbstverständlich seien. Wichtig sei es, auf die Begrenztheit menschlichen Handeins hinzuweisen, denn nur mit einem nüchternen und sachlichen Blick auf die Möglichkeiten von Politik könne den Heilserwartungen entgegengewirkt werden (Bergner 5. BPT: 191 f.). Der Delegierte Markus Vette nahm diesen Gedanken noch einmal auf, indem er darauf verwies, dass die Vorstellung einer allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit, als falsches Menschenbild letzten Endes das Scheitern des Sozialismus verursacht habe. Sein Appell, diese Fehlentwicklung auch sprachlich aufzunehmen, wurde, von der Antragskommission begrüßt, zur Abstimmungsgrundlage und beschlossen, aber nicht in den Text aufgenommen 15 • Die problematischen Aspekte der Programmarbeit Zeit, Situationsanalyse, Eigeninteressen, Verfahrensentscheidungen, Kollektivgüter wurden im Einigungsprozess erfahren und auch explizit von Vertretern aus den neuen Bundesländern angesprochen, kamen aber nicht zum Tragen. Is Die Senioren-Union hatte beantragt in Ziffer 5. GP94, das Verb in der Fonnulierung "das Bild der Partei prägte" durch "entstellte" zu ersetzen (Antrag A 94, 5. BPT: 206 f).
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Der Meinungsbildungsprozess war vom Vorsitzenden Helmut Kohl auf die Wahl 1994 ausgerichtet worden und damit gegen alle Erfahrungen in der Program.marbeit zeitlich knapp bemessen. Da alle Mitglieder die Wahl gewinnen wollten und Programmarbeit ein Lernprozess ist, dessen Zeitbedarf nur schwer eingeschätzt werden kann, gab es keinen Protest gegen diese Einschränkung. Die Parteiftl.hrung entschied über die Verteilung der Diskussionszeit zu Lasten der unteren Ebenen. Trotz der schlechten Bedingungen der Organisation und Information, gab es am Ende der Diskussionsphase eine Vielzahl von Stellungnahmen aus Kreis- und Landesverbänden sowie den Vereinigungen. Es bleibt offen, ob und wieweit sie überhaupt berücksichtigt wurden. Insgesamt belastete der permante Zeitmangel den Dialog zwischen den Mitgliedern. Auch der Austausch zwischen den verschiedenen Ebenen der Partei litt. Das durch den Zeitmangel notwendige arbeitsteilige Vorgehen verhinderte, das der zur Selbstverständigung der Kommission notwendige Konsens über die Ausgangstage hergestellt werden und gemeinsam die Konsequenzen aus dem christlichen Verständnis von den Aufgaben der Menschen für das Selbstverständnis als Partei und die Organisation der Gesellschaft gezogen werden konnten. Der Zeitbedarf für kollektive Meinungsbildung wurde somit in der sachlichen wie auch in der sozialen Dimension unterschätzt. Es fehlte Zeit sowohl zur gemeinsamen Situationsbeschreibung wie auch zur Organisation des Austausches und zur Werbung ftlr neue Themen, denn erst eine breite Beteiligung und ein offener Dialog schaffen die Voraussetzungen daftlr, dass eine soziale Einheit entstehen kann. Die Mitglieder aus den neuen Bundesländern konnten sich nicht vertreten filhlen, da ihre Situation ohne Beschreibung der Ausgangslage nicht aufgenommen wurde. Ohne ein zutreffendes Bild der Dinge, die man beeinflussen will, fehlt den Handlungsabsichten die Grundlage, denn Programme sind als Orientierungsangebote, Prinzipien und Willenserklärungen Ergebnisse von Denkprozessen, die von einem gegebenen Zustand ausgehen und nach Wegen suchen, ihn in eine gewünschte Ordnung zu überfUhren. Folgen antizipieren kann aber nur, wer Fakten anerkennt und Zusammenhänge berücksichtigt, kurz: wer vorhandenes Wissen einbezieht und notwendiges erzeugen lässt. Die gemeinsame Vergewisserung über die Ausgangslage ist dabei sowohl ftlr den Amtserhalt in Wahlen als auch filr die Problemidentifikation und Formulierung von Visionen unverzichtbar und setzt eine möglichst umfassende Wahrnehmung voraus. Um eine solche Übereinstimmung über die Ausgangslage herzustellen, versuchte de Maizil!re, über einen Auftrag zu ermitteln, was insbesondere Jugendliche bewegt. Er scheiterte daran, dass die Notwendigkeit verneint und Mittel verweigert wurden. Die Bedeutung der Verfahrensentscheidungen ist schwer zu erkennen und wird oft erst nachträglich wahrgenommen. Eigeninteressen werden in der Programmdiskussion nur dann als Problem erkannt, wenn die Partei als kollektiver Akteur begriffen und nicht mehr selbstverständlich angenommen wird, dass die gemein-
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samen Interessen durch den Vorsitzenden vertreten würden. Werden jedoch Initiative und altruistischer Einsatz fi1r die Partei unterstellt, kann die Organisation der Programmarbeit dem Vorsitzenden und der Bundesgeschäftsstelle vertrauensvoll überlassen werden. Ohne Kontrolle kann sich im Prozess der Meinungsbildung sein Eigeninteresse schon in der Personalauswahl und in den Entscheidungen über die Rahmenbedingungen entfalten. Die Parteistrategen beschnitten so die Handlungsmöglichkeiten der Gestalter, ohne dass dies sofort zu erkennen war. Die Auswahl der überlasteten Spitzenpolitiker durch den Bundesvorsitzenden wurde mit dem Fachwissen und dem Willen, die Partei zu einen, begründet. Sie verhinderte aber auch, dass sich jüngere Mitglieder profilierten und als personale Alternative zu den Amtsinhabern auftreten konnten. Das Eigeninteresse der Amtsinhaber wirkte auch in der Abwehr bindender Forderungen z. B. in der Jugend- und Arbeitsmarktpolitik Die eigenen Aufgaben wurden mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des schlanken Staates klein gehalten. Mit allgemeinen Formulierungen wie "Aufgabe der Politik" oder "Aufgabe des Staates" wurden konkrete Zuständigkeitsruschreibungen vermieden. Aus dem gemeinsamen Interesse, geschlossen zu erscheinen, wurde auch eine rigide Auslegung der Geschäftsordnung hingenommen, wenn damit eine Diskussion über strittige Themen verhindert werden konnte. Dies geschah nicht durch äußeren Druck oder Zwang, sondern ergab sich daraus, dass im internen Konflikt zwischen Organisations- und Gemeinschaftsanliegen die Eigenziele der Organisation dominierten. Wer in eine Partei eintritt, muss sich in der Verfolgung seines Zieles den gängigen Regeln filgen. Mitreden kann nur der, der die Praxis kennt. Wer die Verfahren beherrscht, mit ihnen umgehen kann, siegt und nutzt sie fortan zu eigenem Vorteil. Das Interesse, sie zu verändern, schwindet mit dem PositionswechseL Im Ergebnis verändert der Marsch durch die Institutionen die Marschierer stärker als die Institutionen. Im Prozess der Meinungsbildung zum Grundsatzprogramm dominierten asymmetrische Konstellationen, die durch einen Zustand des Nichtwissens von Nichtwissen und damit aus einer Überlegenheitsbehauptung entstanden. In dieser Situation konnten weder die notwendigen Fragen über die deutsch-deutschen Verhältnisse gestellt noch Organisationsentscheidungen beeinflusst werden. Da auch die fUr die Organisation der Programmarbeit entscheidende Frage, ob ein Grundsatz- oder ein Aktionsprogramm erarbeitet werden sollte, offen blieb, entstand durch die einander widerstrebenden Interessen eine Mischform. Wenn der Einsatz filr die Gemeinschaft als selbstverständlich vorausgesetzt wird, besteht keine Notwendigkeit, Aufgaben als konkrete Handlungsaufträge verantwortlich zuzuweisen. Auch die Aussage "Wir sollen unsere Kraft auf die Aufgaben konzentrieren, bei denen wir als politische Partei gefordert sind wurde nicht ausgefilllt (1 08. GP94). Stattdessen verwendete man allgemeine und unverbindliche Formulierungen wie "Aufgabe der Politik" und "Aufgaben des Staates" oder sagte ganz einfach, dass "alle" oder ebenfalls unbestimmt "wir" etwas tun müssen. Doch wenn es Aufgabe der Politik ist, nur ganz allgemein "die politischen Interessen und Ziele des Gemeinwesens zu bestim-
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men", geschieht nichts. Das Interesse der Führenden, ihre Aufgaben klein zu halten, dominierte. Mitglieder, die vom Amtserhalt nur mittelbar profitieren, fragten folgerichtig nach dem Sinn der Programmarbeit In zahlreichen Anträgen forderten sie mit dem Satz aus dem 78er Programm "Die CDU will unterschiedliche Standpunkte durch gemeinsame Werte und Ziele verbinden" die Parteiftlhrung konsequent auf, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten (6. GP94). Auch in den vielen Klagen über die Individualisierung und die mangelnde Dienstbereitschaft klang eine Ahnung des Gemeinschaftsproblems an. Es wurde mit Recht, aber ohne Erfolg gefordert, diesen Missstand als grundsätzliches Problem in Kapitel I zu behandeln. Dass Programme selbst kollektive Güter sind, zeigte sich sowohl in der insgesamt geringen Beteiligung wie auch in der Schwierigkeit, aus dem unverbindlichen Dialog eine Diskussionsgrundlage zu formulieren. Im Meinungsbildungsprozess konnten viele Fragen tabuisiert werden. Dazu gehört die Frage nach den Konsequenzen des christlichen Verständnisses vom Menschen fUr die Organisation der Gesellschaft im Staat. Es sollte zwar eine Vision der zukünftigen Gesellschaft entwickelt werden, doch dies kann nicht erreicht werden, wenn die Aufgaben des Staates aus der gegenwärtigen Leistungsflihigkeit abgeleitet werden. Aussagen über die "eigentlichen Aufgaben" der Partei und die Zuständigkeit fiir die Staatspflege fehlten. Den Ursachen des demographischen Problems wurde nicht nachgegangen, weil die Frauen- und Familienpolitik isoliert behandelt und nicht als Querschnittsaufgabe thematisiert wurde. Da über das "Verständnis von Arbeit" nicht geredet wurde, konnten nur Forderungen nach Veränderung der Bedingungen fUr Frauen und nach Anerkennung von Gemeinschaftsdiensten und ehrenamtlicher Tätigkeit gestellt werden. Die Aussagen zur Bildungs- und Jugendpolitik blieben sektoral und nachrangig. Die Dimension der Aufgabe, auch die innere Einheit in der Partei und in Deutschland zu erreichen, erschien trotz der Diskussion auf dem Dresdener Parteitag 1991, der Erfurter Erklärung und dem Eingeständnis von Irrturn (Kohl) nicht einmal ansatzmäßig. Sie wurde schlichtweg ignoriert. Die Programmarbeit blieb mangelhaft, weil sie auf das kurzfristige Ziel, die Regierungsmehrheit zu erhalten ausgerichtet wurde. Göhners Aufruf "Wir brauchen eine neue Werteund Grundsatzdebatte" im Januar 1994 (Göhner 1994: 20) richtete sich konsequent an die Wähler und die Gesellschaft. Betrachtet man jedoch den Prozess der Meinungsbildung zum Grundsatzprogramm, lässt sich Göhners Appell auch als ein Urteil über einen abgebrochenen Prozess interpretieren. Dieses Urteil korrespondiert mit den Forderungen nach einer Werte-Debatte gerade aus den neuen Bundesländern.
111. Der Beitrag der Programmarbeit zur inneren Einheit der Partei Die CDU in den neuen Bundesländern wies eine außerordentlich heterogene Zusammensetzung auf. Ehemalige Mitglieder der Bauernpartei und Altrnitglieder, die Führungsaufgaben übernommen hatten, standen den kritischen Nischenund Neumitgliedern sowie Vertretern aus der Bürgerbewegung, aus dem Demo-
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kratischen Aufbruch und dem Neuern Forum gegenüber. De Maiziere hatte zwar 1990 sofort eine Programmdiskussion begonnen, doch war es ihm unter dem Aufgabendruck nicht gelungen, ein einigendes Band herzustellen 16 • So entschieden die Mehrheitsverhältnisse in den Orts- und Kreisverbänden über die Kräfteverhältnisse in den einzelnen Gliederungen. Dabei nutzten aus dem Westen zugewanderte Mitglieder ihre Verfahrenskenntnisse und die Tatsache, dass geeignete Kandidaten für öffentliche Ämter fehlten. Dies ist eine Entwicklung, die noch heute anhält 17 • Einigung setzt jedoch Anerkennung von Unterschieden, Bereitschaft zur Gemeinsamkeit und Orte der Begegnung voraus, damit Konsens über Themen und Inhalte erarbeitet werden kann. Zwischen den Landesverbänden der CDU und namentlich zwischen Ost und West gibt es bis heute organisatorisch nur wenige Orte der Begegnung. Die Repräsentanten aus den alten und den neuen Ländern treffen sich im Bundesvorstand, als Abgeordnete in der Fraktion des Bundestages und in den Kommissionen der Partei. In diesen Großgruppen mit ihren formalisierten Abläufen hatten die westlichen Vertreter den Heimvorteil. Die Vertreter aus den neuen Bundesländern, die nur selten Erfahrungen in Gremien sammeln konnten, blieben in der Minderheit Fremde. Dies galt auch filr die Programmkommissionen. Nur selten konnten sie den Zustand des Nichtwissens von Nichtwissen durchbrechen 18 • Die westlichen Vertreter unterstellten im Rausch der Wiedervereinigung gleiche Ansichten und fragten nicht einmal nach Unterschieden. Selbst in Berlin, das sich als ein Ort der Begegnung zwischen Ost und West anbot, blieb der Austausch durch die geringe Beteiligung aus den Westbezirken unbefriedigend. Wieweit Begegnungen zwischen Ost und West in den Programmkommissionen selbst stattfinden konnten, entschied der Parteivorsitzende über die Bundesgeschäftsstelle. Lotbarde Maiziere hatte Hans-Joachim Meyer, Anne-Katrin Glase und Markus Vette vorgeschlagen. Die Bundesgeschäftsstelle berief mit Johannes Nitsch, Christine Lieberknecht, Angela Merke!, Claudia Nolte, Arnold Vaatz sowie mit Christoph Bergner und Steffen Heitmann (AGP-Kommission) Refor16 Es war sein Ziel, Menschen zusammenzufilhren und die politischen Kräfte der Blockparteien CDU und Bauernpartei (DBD) mit denen der Erneuerer in der CDU und im Demokratischen Aufbruch in einer "wertkonservativen Partei" zu vereinen (de Maiziere 1990a). Unter dem Druck der Wahlen, der Regierungsarbeit und des Einigungsprozesses war ihm dies nicht gelungen. Die Vereinigung der CDU wurde durch die jeweiligen Landesverblinde vollzogen. Die Gegensatze zwischen Altund Neumitgliedern wurden nicht ausdiskutiert, sondern Ober Personalpolitik ausgetragen. 17 So spaltete z. 8. die Kandidatur von Angelika Barbe die Berliner CDU-KV Lichtenberg und Friedrichshain. Die Beftlrchtung von Hans-Joachim Meyer, dass aus einer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit ein Steinbruch ftlr Schuldzuweisung werden wurde, ist eingetreten (Meyer 1993). Die Partei bleibt in antagonistische Gruppen gespalten.
18 Da die westlichen Vertreter Einheit unterstellten, nahmen sie unterschiedliche Begriffsinhalte nicht wahr (Vaatz auf der Klausurtagung in Potsdam 1991). Bekanntlich ist das Vorurteil, keine Vorurteile zu haben, am schwersten zu überwinden.
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mer und Neumitglieder. Ob sich die Landesverbände durch diese Personen repräsentiert filhlten, ist schwer einzuschätzen. Die Vertreter des Wechsels und der Erneuerung, de Maiziere und Vaatz, protestierten jedenfalls öffentlich gegen die Bedingungen der Programmarbeit. Um herauszuarbeiten, ob die Programmarbeit dazu beigetragen hat, auch gemeinsame Orientierungen und Ziele zu finden und damit inhaltliche Übereinstimmung herzustellen, greife ich auf 1990/91 im Eichholz-Brief 2/1991 an die CDU formulierte Erfahrungen und Erwartungen zurück. Man wusste damals schon, welche Ursachen das Scheitern der DDR hatte und verband dieses Wissen mit den Erfahrungen des Umbruchs. Insgesamt handelte es sich somit um Wissen über etwas, das nicht wiederholt werden sollte (Ackermann 1991: 114). Wichtig war dabei die Erfahrung über die Art und Form des Umgangs miteinander. Sie wurde an der Anerkennung des Andersdenkenden gemessen. Das Scheitern der DDR wurde am Realitätsverlust der regierenden Greise erfahren, denn die Beschreibung der Wirklichkeit in den offiziellen Verlautbarungen der Regierenden und die eigenen Anschauungen gingen weit auseinander (Eppelmann 1991: 96). In dieser Atmosphäre zunehmender Unglaubwürdigkeit konnte die Tabuisierung bestimmter Themen nicht mehr aufrecht erhalten werden. Der im eigenen Arbeitsbereich wahrgenommene katastrophale Zustand wurde auf die Art und Weise der Personalauswahl zurückgefiihrt. Wo arrogante Alleinherrscher Leitungsfunktionen ausübten, Günstlingswirtschaft kultiviert und Andersdenkende kriminalisiert wurden, konnte es keinen Wohlstand geben. In der Fortsetzung dieser Erfahrung begründete Heinz Eggert 1992 seine erfolgreiche Kandidatur filr das Präsidium der CDU vollmundig damit, dass Wahlen ohne Auswahl Bestätigung seien. Von Verfahren dieser Art, die den Prinzipien des demokratischen Zentralismus ähnelten, wollte man sich gerade befreien. Die Menschen in der DDR hatten unter dem Machtmissbrauch der Regierenden gelitten. Nicht zuletzt beschleunigte der Wahlbetrug der SED im Mai 1989 den AutoritätsverfalL Das aus dieser Erfahrung resultierende Misstrauen äußerte sich im Aufbegehren der Sachsen gegen die endgilltige Ablehnung von Volksabstimmungen auf der Bundesebene. Als Rupert Scholz daraufhin argumentierte, der Ruf "wir sind das Volk" sei nur in totalitären Staaten gerechtfertigt, schloss man im Osten, dass der vormundschaftliche Staat sich unter umgekehrtem Vorzeichen fortsetzen werde (Meyer 1993). Man hatte erlebt, dass auch ein vermeintlich richtiger Weg in die Irre filhren kann, und gesehen, dass lrrtumsflihigkeit keine abstrakt intellektuelle Größe ist, sondern jeden Menschen einschließt. Wird diese Erfahrung konsequent angewendet, muss sich politisches Handeln durch die Zustimmung der Regierten legitimieren, denn weder guter Wille noch ein hehres wie auch immer begrilndetes Ziel rechtfertigen Herrschaft. Es war Steffen Heitmann, der darauf hinwies, dass niemand mehr glauben könne, die WUrde des Menschen sei ein in der Geschichte der Menschheit erkämpfter zivilisatorischer Standard. Er verlangte, diese WUrde als ein kostbares, fragiles Gut zu behandeln, da das Böse auch in der zivilisierten Gesellschaft im Menschen lauere
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(Heitmann 1994). Werte seien kein Besitz, sondern müssten ebenso wie demokratisches Bewusstsein erst erworben werden. Einstellungsveränderungen brauchten Vorbilder und entwickelten sich nur langsam in einer Atmosphäre des Vertrauens in Gerechtigkeit. Dazu müsse jeder Bürger sehen und erleben, dass Unrecht gesühnt wird und den Verantwortlichen des verbrecherischen SED-Regimes nicht Straffreiheit gewährt wird. Das in diesen Aussagen angedeutete menschliche Selbstverständnis begreift das Personwerden als einen Prozess wechselseitiger Beeinflussung. Wenn so wir und ich nicht nur als Gegensätze, sondern auch als Einheit verstanden werden, lässt sich Gemeinschaft in der Anerkennung des anderen auf wohlverstandenen Eigeninteressen aufbauen. Eine wichtige Erfahrung aus den Jahren 1989/90 war der Verlust bisheriger Selbstverständlichkeit. Sie wird durch den Satz, "nichts ist mehr so, wie es vor 1989 war'', ausgedrückt. Die Realität des Scheiteros im Osten erzwang das Eingeständnis, dass man auf Kosten der nachfolgenden Generation gelebt hatte und, wie es der Antrag aus Dresden zeigte, wusste, dass dies auch im Westen der Fall war. Eine weitere wichtige Erfahrung war die, dass auch ein auf Militär und Polizei gestützter Staat gewaltlos verändert werden konnte. Doch die Leistung der Menschen in der DDR, die friedliche Revolution, kann erst ermessen werden, wenn wahrgenommen wird, dass Frieden durch innere und äußere Bedingungen gestiftet werden muss und damit ein Auftrag und Aufgabe, Ergebnis menschlichen Verhaltens ist. In der Diskussion zum Grundsatzprogramm wurden selbst Ansätze ftlr ein solches Bewusstsein durch das idealisierte Menschenbild ausgeschlossen. Aus dem konziliaren Prozess war das Streben auf Frieden, soziale Gerechtigkeit, Verantwortung ftlr das Leben und auf die Bewahrung der Schöpfung gerichtet worden. Hans-Joachim Meyer plädierte dafilr, vom Grundgesetz zu einer gemeinsamen Verfassung zu gelangen und das Arbeitsvertragsrecht zu erneuern. Außerdem sollten die gesellschaftlichen Bedingungen so ausgestaltet werden, dass Familie und Beruf miteinander vereinbar würden, damit die Gleichberechtigung von Mann und Frau auch gelebt werden könne. Weitere wichtige Punkte waren die strafrechtliche Verfolgung von DDR-Unrecht und das Prinzip Entschädigung vor Rückgabe. Man ging davon aus, dass derjenige, der politische Verantwortung übernimmt, auch bereit ist, sich auf die Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen der anderen Menschen einzulassen. In der Suche nach gemeinsamen Zielen wurde an den "Runden Tischen" im öffentlichen Dialog eine eindeutige Sprache gefordert. Man hatte in der DDR eine Sensibilität gegen Doppelbödigkeit, Klischees und Phrasen erworben und die Fallstricke vertraulicher Gespräche unter vier Augen kennen gelernt. Aber auf die perfide Situation, über alles, auch über rechtliche Begriffe, mehrheitlich abzustimmen, waren die Vertreter aus den neuen Ländern
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nicht vorbereitet 19 • Es war daher notwendig, wie von de Maiziere formuliert, sich gegenseitig zu helfen, freie Menschen und Bürger zu werden. Dies setzt jedoch eine politische Praxis voraus, die echte Partizipation ermöglicht und durch vertrauenswürdige Personen Inhalte anbietet, für die ein Einsatz lohnt. Ich werde an fiinf Beispielen zeigen, welche Wünsche vorgetragen wurden und wie die westliche Seite darauf reagierte: De Maizieres Versuch, gemeinsam Prinzipien und Orientierung zu erarbeiten, wurde nicht in der offenen inhaltlichen Auseinandersetzung widerlegt, sondern scheiterte an der finanziellen und organisatorisch-bürotechnischen Ausrüstung, an den Zeitvorgaben und der diskontinuierlichen Beteiligung der Kommissionsmitglieder. Bedenken wurden schon im Vorfeld durch subtile sprachliche Veränderungen getilgt. Aus Aufgaben und Forderungen wurden Vollzugsmeldungen. Ein weiteres Beispiel für die verfahrensmäßig durchgesetzte Bevormundung liefert die Entstehungsgeschichte der Ziffer 5. des Grundsatzprogramms. Die zur Diskussion gestellte Aussage des Leitantrages "Die CDU nimmt die ganze Geschichte Deutschlands und damit auch die der eigenen Partei an und stellt sich dem notwendigen Prozess der Aufarbeitung und Erneuerung." wurde durch den Antrag A97 aus Nordrhein-Westfalen "Wir wollen dabei auch das Erbe der Bürgerbewegung in der ehemaligen DDR aufnehmen und fortfUhren." ergänzt. Die Forderung, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen und daraus Lehren fiir das künftige Handeln zu ziehen, wurde zwar gemeinsam vertreten, aber von der Antragskommission allein auf das Erbe der Bürgerbewegungen gelenkt. Ohne Chance zur Vorbereitung drückte ein westlicher Landesverband damit seine Vorstellungen über die Entwicklung der CDU in den neuen Bundesländern durch. Ähnlich unerfreulich waren die Erfahrungen des Landesverbandes Sachsen in der Debatte "Für einen freiheitlichen Staat". Mit Diskussionsverweigerung, Totschlagargumenten und Mitteln der Geschäftsordnung diskreditiert sich die demokratische Praxis. Erfolgreich hatte der Landesverband Sachsen in einem Punkt 25. GP94 seine Sicht durchgesetzt, indem in den Satz: "Wir dürfen nicht aufKosten unserer Kinder und Kindeskinder leben", listig das kleine Wort "weiter'' eingefUgt wurde. Die Chance zur Integration durch eine argumentative Auseinandersetzung wurde nicht genutzt. Die in der Programmarbeit gewonnenen Erfahrungen waren zwar auf wenige Personen begrenzt, doch muss die Art des Umgangs zwischen Ost und West ebenso wie die Atmosphäre in den neuen Ländern beachtet werden. Im Westen verhinderte die Überlegenheitsbehauptung die Wahrnehmung. 19 P. Schmidt sprach von einer Mehrheitsdiktatur ( 1991 ). Erst nachdem die Abgeordneten aus den neuen Ländern ebenso wie die CSU ihre Sperrminorität ausgespielt hatten, konnten sie die Erfurter BeschlUsse zum Aufbau Ost durchsetzen.
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Da Deutschland wieder vereinigt war, wurden Unterschiede nicht erwartet und nicht nachgefragt. Man verzichtete auf eine Bestandsaufnahme und malte stattdessen am Bild von den blühenden Landschaften. Dieses Phantom schuf die Erwartung, das dies auch ohne eigene Leistung möglich sei. Zu diesem Fehlschluss trug bei, dass das Thema "Arbeit" tabuisiert wurde. Protest gegen staatliche Fürsorge wurde aus der Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit selten erhoben. Die politische Entmündigung holte das Volk wieder ein. Es wurde nur noch zum Wählen gebraucht. Der Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Dr. Demke, fasste diese Situation im Jahre 1996 in den Worten zusammen: "Der Mitgestaltungswille vieler Menschen im Osten ist tief enttäuscht worden, weil man feststellte, man kann sich nur anschließen." Doch auch diese Entwicklung wurde von der CDU-Führung ignoriert. Sie hatte schon 1991 die Einheit Deutschlands nicht zum beherrschenden Thema der Innenpolitik erhoben, sondern trotz des historischen Einschnitts eine rasche Machbarkeit suggeriert. Konsequent wurden 1993 prominente ostdeutsche Parteimitglieder wie Christoph Bergner, Steffen Heitmann, Christine Lieberknecht und Angela Merke! dazu veranlasst, die Forderung zurückzuweisen, sich mit diesem Thema in einem eigenen Kapitel des Leitantrags zu befassen. Sowohl die Hinweise auf inhaltliche Divergenzen als auch die immer wieder aufkommenden Forderungen nach einer Wertediskussion und nach Orientierungsangeboten wurden als Einstellungsproblem und damit als individuelles Defizit bagatellisiert. Denn nach einer Einschätzung der Konrad-Adenauer-Stiftung gab es 1994 "filr die Ausbildung zweier politischer Identitäten in Deutschland, namentlich einer spezifisch ostdeutschen, beim gegenwärtigen Stand der politischen Annäherung keine ernstlichen Anzeichen" (Veen/Zelle 1994: 45). Auch nach 1997 wehrte Veen das Problem der inneren Einheit für die Konrad-Adenauer-Stiftung noch mit dem Argument ab, dass die Kritiker zu hohe Ansprüche hätten. Die innere Einheit sei schon da, wenn drei Viertel der Wähler für westliche Parteien stimmten und damit bekundeten, mit der nach dem Grundgesetz geschaffenen Staatsordnung weitgehend einverstanden zu sein. Mit der Aufforderung, dass die Politik keinem falschen Gemeinschaftsmythos folgen dürfe, unterwarf er sich dem Tabu. Der nicht beherrschte Einigungsprozess wurde weiter beschwiegen. Die Wähler antworteten 1998 auf diese Ignoranz. Obwohl die Programmarbeit durch den begrenzten Zeitraum und die partielle Beteiligung nur marginale Auswirkungen auf die personale Willensbildung haben konnte, sind Spuren vorhanden, die exemplarisch verfolgt werden können20• Im Landesverband Berlin wirkte die Programmarbeit schon deshalb nicht auf die Entscheidungen der Mitglieder bei der Auswahl der Delegierten in den Ortsverbänden, da diese nur auf der Landesverbandsebene stattgefunden hatte und nicht bekannt war, wer sich überhaupt daran beteiligt hatte. Auf der Landesebene 20 Diese Spuren habe ich nach den Protokollen der Wahlparteitage zusammengestellt (I. BPT: 147149; 2. BPT: 245; 3. BPT: 388-391; 6. BPT: 144-146 und 8. BPT: 242-245).
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wurde sie eher als störend empfunden. 1996 wurde die Vorsitzende der Prograrnmkommission gerade noch in den Vorstand gewählt, hatte aber 1998 bei der Kandidatenaufstellung zum Bundestag keine Chance gegen die vom Bundesvorsitzenden favorisierten Bürgerrechtler. Auf der Bundesebene hob die Programmarbeit den Bekanntheitsgrad und das Ansehen der Kommissionsmitglieder. Lothar de Maiziere war schon 1990 ins Präsidium; Hans-Joachim Meyer in den Bundesvorstand gewählt worden. 1991 wurden Angela Merke! und Christine Lieberknecht stellvertretende Vorsitzende, das Vorstandsmitglied Christoph Bergner gehörte der AGP-Kommission an. 1996 schickten die Delegierten Anne-Katrin Glase und Arnold Vaatz in den Vorstand und Claudia Nolte sofort ins Präsidium. Der persönliche Aufstieg war jedoch nicht zwangsläufig mit einem Einsatz in den Kommissionen verbunden. Ausschlaggebend ist das Vorschlagsrecht des Vorsitzenden, der als Kanzler nach Art. 64 GG das Recht hat, Minister zu ernennen und zu entlassen. Damit wird die Übereinstimmung mit dem Kanzler zum karriereentscheidenden Kriterium. Der durch das Ministeramt vermittelte Status sichert innerparteilich die Wahl und Wiederwahl. Auf diese Weise wurden Christine Lieberknecht, Angela Merke!, Johannes Nitsch und Claudia Nolte abgestützt. Gefördert wurden insbesondere Neumitglieder. Angela Merke! erhielt bereits 1990, Claudia Nolte 1994 ihr Ministeramt. Johannes Nitsch gelang 1994 der Aufstieg zum Staatssekretär im Bundesministerium fiir Verkehr. Die Neumitglieder Steffen Heitmann und Amold Vaatz wurden aufgebaut. Hans-Joachim Meyer kandidierte schon 1992 auf dem 3. BPT in DUsseldorf nicht wieder fUr den Vorstand. Als Vorsitzender des Zentralrats der Deutschen Katholiken fand er einen neuen Wirkungskreis. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Christoph Bergner, wurde über die AGPKommission integriert und 1994 in das Präsidium gewählt. Diese Personalpolitik ist erfolgreich aus der Verbindung der Amtsautorität des Kanzlers mit dem Vorschlagsrecht des Vorsitzenden fUr den Bundesvorstand, dessen Zusammensetzung bei einer geringen Anzahl von Vorschlägen durch die Quarenregelung weitgehend berechenbar ist21 • Insgesamt förderte das Zusammenspiel von Vorschlagsrecht und Karriereerwartung die Entwicklung von Fraktionsparteien. In ihnen gibt es ohne Begrenzung der Amtszeit weder einen Abschied in Ehren noch den notwendigen Wechsel. Da durch diese Organisationsform im Prozess der Meinungsbildung zum Grundsatzprogramm auch verhindert werden konnte, dass die Aufgaben der Partei definiert und Zuständigkeiten festgelegt wurden, soll geprüft werden, wie 21 Nach der Verfahrensordnung § 43 im Statut der CDU sind Vorstandswahlen auf Bundesebene Gruppenwahlen, bei denen die Stimmzettel nur gültig sind, wenn filr das Präsidium mindestens die Halfte, filr den Vorstand mindesten drei Viertel der zu wahlenden Kandidaten angekreuzt ist. Je geringer die Anzahl der Bewerber ist, desto häufiger müssen ungewonschte Kandidaten mit gewahlt werden, damit der Stimmzettel gültig bleibt. Diese Quorenregelung wurde erstmals von Helmut Kohl in Rheinland-Pfalz eingefilhrt.
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sich die Programmarbeit auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen der CDU auswirkte. Die Mitgliederentwicklung der CDU in den neuen Bundesländern spiegelt die Erfahrung: "Mit der Demokratie geht es auch nicht!" Die CDU verlor in den neuen Bundesländern von 1990 bis 2000 die Hälfte ihrer Mitglieder22 . Es war ihr weder gelungen, ihre Mitglieder zu binden, noch in ausreichender Zahl neue zu werben, denn es fehlten sowohl Partizipationsangebote und Wirkungsmöglichkeiten als auch über Interessenvertretung hinausgehende Ziele. Die höchsten Verluste verzeichneten Sachsen-Anhalt (55,9 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (54,7 Prozent). Ihnen folgte Brandenburg mit 54,0 Prozent. Nur Sachsen und Thüringen mit dem katholischen Eichsfeld lagen unter dem Durchschnitt der neuen Bundesländer von 53,0 Prozent. Bei dem dort insgesamt geringen Organisationsgrad der CDU wird bei Verlustraten von sechs bis sieben Prozent jährlich jene kritische Grenze erreicht, an der es schwierig wird, überhaupt noch eine ausreichende Anzahl von Bewerbern fi1r die arbeitsaufwendigen kommunalen Mandate zu gewinnen. Innerhalb der Partei sank der Anteil der Mitglieder aus den neuen Bundesländern kontinuierlich von 18 Prozent 1990 über 14 Prozent 1994 auf 9,5 Prozent 2000. Damit sind die Mitglieder aus den neuen Bundesländern und ihre Vertreter in den Gremien auf den Gedankenaustausch angewiesen, denn als strukturelle Minderheit haben sie keine Chance, Mehrheit zu werden. Es gab aber weder Orte der Begegnung noch ausreichend Zeit, um die Westler zu überzeugen. Der Blick auf die Leistungen der CDU, die Partei personell und programmatisch zu integrieren, neue und alte Bundesländer zusammenzufilhren, Führungspersonal auszubilden, Mitglieder zu gewinnen und in einen Dialog mit der Gesellschaft einzutreten, zeigt, dass die Partei den eigenen demokratischen Anspruch nur bedingt erfilllt. Die Entwicklung der CDU in den neuen Bundesländern ist symptomatisch fi1r den Reformbedarf der Parteien und filr ihr Bestreben, Reformen abzuwehren. Im Westen halten alte Bindungen und Gewöhnung die Mitglieder, doch deutet auch hier die geringe Beteiligung junger Menschen in den Parteien und bei Wahlen Legitimationsdefizite an. Schwachstellen der Parteien sind derzeit ihre Lernflihigkeit und ihr Vermögen, aus einer Annäherung an das Gemeinwohl jene Präferenzen zu formulieren, die sowohl zur individuellen Orientierung und Motivation als auch zur Koordination der Entscheidungen und zur Integration von Gruppen und Teilsystemen gebraucht werden. Das Grundsatzprogramm der CDU hat diese Lücke nicht gefilllt, doch konnte in meiner ausführlichen Untersuchung des Meinungsprozesses gezeigt werden, wie Gemeinwohl annäherungsweise durch Aufgabenteilung und Amtsprinzip artikuliert und umgesetzt werden kann.
22 Die Zahlen wurden nach den Berichten des Generalsekretars der CDU 1991, 1994 und 2000 zusammengestellt.
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Zehn Jahre Auseinandersetzung über die doppelte Nachkriegsgeschichte und die Frage der inneren Einheit in Deutschland Von Bemd Faulenbach I. Zur Fragestellung
Mit dem am 3. Oktober 1990 vollzogenen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist der deutsche Vereinigungsprozess nur im staatsrechtlichen Sinne an sein Ziel gekommen. Die innere Vereinigung begann eben erst, das Gleiche gilt ftlr den Transformationsprozess, dem die Gesellschaft der bisherigen DDR unterworfen wurde. Man kann darüber diskutieren, inwieweit dieser Prozess der inneren Vereinigung und der damit verbundene Angleichungsprozess inzwischen vorangeschritten sind. Sprach man Mitte der 90er Jahre häufig von einer "Vereinigungskrise", so gehen heute viele von einem lange dauerndem Vereinigungsprozess aus. 1 Tatsächlich spricht manches daftlr, dass wir erst einen Teil des Weges zurückgelegt haben. Kanzler Gerhard Sehröder meint, etwa die Hälfte des Weges sei zurückgelegtNicht nur die ökonomischen Probleme haben sich als wesentlich schwieriger erwiesen als in der Euphorie 1990 angenommen worden war. Weit unterschätzt wurden auch die kulturellen Probleme: die in jahrzehntelanger Trennung herausgebildeten mentalen Unterschiede, die differierenden Wertorientierungen, die stark abweichenden Erfahrungen und dadurch geprägte politisch-gesellschaftliche Anschauungen. Die Unterschiede sind dabei erst im Laufe der Jahre bewusst geworden, so dass der Eindruck entstehen konnte, die Gräben zwischen Ost und West würden sich weiter vertiefen, ein Eindruck, der besonders auch durch die Probleme in den neuen Ländern und ihre politisch-kulturelle Verarbeitung genährt wur-
1 Zum Begriff "Vereinigungskrise" vgl. Jürgen Kocka: Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart. Göttingen 1995.
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den? Auf diesem Hintergrund soll hier der Fragen nachgegangen werden, welche Rolle die Auseinandersetzung über die Nachkriegsepoche in den letzten Jahren im Hinblick auf das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen, auf die politische Kultur, auf die "innere Einheit" gespielt hat. Ich möchte dabei wie folgt vorgehen: I.
Den Prozess der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur in seinen verschiedenen Phasen beleuchten,
2.
die Frage aufwerfen, inwieweit auch über die alte Bundesrepublik und ihre Geschichte ein neues Bild entstanden ist,
3.
die "Asymmetrie" der Betrachtungsweise der west- und ostdeutschen Entwicklungen untersuchen und fragen, inwieweit darin westdeutsche Dominanz, gleichsam der Wille der Beherrschung des Geschichtsbewusstseins von westdeutscher Seite zum Ausdruck kommt,
4.
Möglichkeiten der Entwicklung eines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins und seine Bedeutung fiir die "innere Einheit" aufwerfen, was u.a. die Frage einschließt: Wie viel "Einheit" brauchen wir in Deutschland?
II. Der Prozess der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und ihrem "Erbe" Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und ihrem Erbe lief in den I 0 Jahren seit der Umwälzung auf verschiedenen Ebenen ab. Ich nenne einige Ebenen: I.
Die strafrechtliche Aufarbeitung, in der Täter zur Rechenschaft gezogen wurden.
2.
Die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der Diktatur.
2 Vgl. Martin Grei.ffenhagen: Politische Legitimität in Deutschland. GOtersloh 1997; Bernd Fau/enbach/Annette Leo/Kiaus Weberskirch: Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland. Essen 2000; Bernd Faulenbach: OstWest-Unterschiede als Herausforderungen politischer Bildungsarbeit im vereinigten Deutschland, in: Jahrbuch Arbeit, Bildung, Kultur, 15/16, 1997/98, S. 89-101; Wolfgang Eng/er: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin, 2. Aufl. 1999.
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3.
Die Offenlegung der Geheimdienstunterlagen und anderer Akten der Diktatur, u.a. mit der Konsequenz, dass Belastete im öffentlichen Dienst nicht weiterhin tätig sein konnten bzw. nicht in diesen eingestellt werden konnten.
4.
Die politische bzw. politisch-wissenschaftliche Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihres Erbes durch zwei Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages.
5.
Die gesellschaftliche Aufarbeitung des SED-Systems durch Initiativen, Vereine und ähnliche Einrichtungen. Die Auseinandersetzung mit dem SED-System in den Medien.
6. 7.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der DDR und des SEDSystems.
Die Gleichzeitigkeit dieser Bemühungen zeigt die Breite des Aufarbeitungsprozesses, die international ohne Beispiel ise, wobei zu fragen ist, ob im Laufe der Entwicklung sich die Gewichte zwischen den Ebenen verschoben haben. Auf jeden Fall lassen sich verschiedene Phasen dieser Auseinandersetzung unterscheiden: die revolutionäre Phase, in der die Auseinandersetzung Teil des "revolutionären Prozesses" war; die Zeit von ca. 1991 - 1995, in der die SEnVergangenheit Gegenstand vielfältiger öffentlicher Debatten war und auf allen Ebenen der Aufarbeitungsprozess lief; die Zeit von 1995 bis zur Jahrhundertwende, in der das Interesse an dieser Vergangenheit deutlich zurücktrat und ein Prozess der Historisierung einsetzte; die Gegenwart, in der die Historisierung eine neue Qualität zu bekommen scheint. Knapp möchte ich die verschiedenen Phasen charakterisieren.4 Charakteristisch ftlr die erste Phase ist, dass die Auseinandersetzung mit dem SED-System, insbesondere mit der Stasi Teil des revolutionären Prozesses war: die Bürgergruppen besetzten nicht nur die Stasi-Zentralen, sondern suchten auch die Stasi-Unterlagen, Sachzeugen des Handeins der Stasi, andere Dokumente zu sichern, sie offenzulegen und über sie aufzuklären. Von diesem Handeln in der Umwälzung leiten bis heute bestimmte Initiativen und Gruppen ihre besondere 3 Zur Aufarbeitung in den verschiedenen Ländern des ehemaligen sozialistischen Lagers vgl. Timothy Garton Ash: Vier Wege zur Wahrheit. eine Zwischenbilanz, in: Die Zeit Nr. 41 v. 3.10.1997, S. 44; Bernd Faulenbach: die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit in vergleichender Perspektive, in: Isabelle de Keghe/!Robert Maier (Hrsg.): Auf dem Kehrichthaufen der Geschichte? Der Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit. Hannover 1999, S. 13-26. 4 Vgl. Bemd Faulenbach: Acht Jahre deutsch-deutsche Vergangenheitsdebatte- Aspekte einer kritischen Bilanz, in: Christoph Kleßmann/Hans Misse/witz/Günter Wiehert (Hrsg.): Deutsche Vergangenheiten -eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte. Berlin 1999, S. 15-34.
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Legitimation zur historischen Arbeit - durch Archive unter ihrer Führung, Gedenkstättenarbeit, Bildungsarbeit etc. -ab (was mit dem Anspruch auf öffentliche Förderung verbunden ist).5 Neben den Gruppen und Initiativen waren es namentlich die Medien - nicht nur die Ost-, sondern zunehmend auch die West-Medien, die ihrerseits über das SED-System und seine Führungsgruppen sowie über die Stasi intensiv berichteten. Auch lange tabuisierte Themen wie die Speziallager in der frühen Nachkriegszeit wurden bald beachtet. Insgesamt gesehen war das Vorgehen der "Aufarbeiter'' in dieser Phase wenig systematisch, im Vordergrund stand die Staatssicherheit und bald schon vorrangig das Handeln von "Inoffiziellen Mitarbeitern", "IM's"; spektakuläre Fälle wie der von Wolfgang Schnur, dem Vorsitzenden des Demokratischen Aufbruchs, oder von lbrahim Böhme, dem SDP-Geschäftsfiihrer und SPD-Spitzenandidaten bei der Volkskammerwahl fanden enormes Medien-Interesse. Zu nennen sind auch die Fälle de Maiziere und Stolpe, die jedoch anders lagen als die vorher genannten. Durch die Aufklärungsarbeit wurde der De-Legitimationsprozess des SEDSystems und seiner Repräsentanten forciert vorangetrieben. Auch das Bild der DDR im Westen- das vorher vielfach etwas vage gewesen war, teilweise auch die Schattenseiten zu wenig einbezogen hatte - dunkelte sich nachhaltig ein. In dieser ersten Phase war die Auseinandersetzung noch weitgehend Sache der Ostdeutschen; doch bildeten die westdeutschen Medien, bildete die westdeutsche Öffentlichkeit schon einen zusätzlichen Resonanzboden filr die Auseinandersetzung mit dem SED-System. 1991/92 begann die zweite Phase, filr die die umfassende Auseinandersetzung mit dem SED-System auf den verschiedenen Ebenen und in der Öffentlichkeit charakteristisch ist. Die Initiative filr die umfassende Auseinandersetzung und dafilr nötige Institutionalisierungen ging dabei durchweg von ostdeutscher Seite aus. Das Stasi-Unterlagengesetz, das in beispielloser Weise die Unterlagen des Geheimdienstes filr die Betroffenen/die Opfer und im weiteren Sinne auch filr die Öffentlichkeit und die Wissenschaft freilegte, wurde vor allem von früheren Bürgerrechtlern, die mediale Unterstützung fanden, durchgesetzt, gegen Bedenken insbesondere bei westdeutschen Politikern bis ins Kanzleramt hinein. Auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages wurde auf Betreiben ost-
5 Siehe dazu Aufarbeitungsinitiativen und Opfergruppen-Beratung und Hilfe bei der Bewältigung der Folgen der SED-Diktatur. Errichtung einer selbständigen Bundesstiftung des öffentlichen Rechtes zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland - Zwischenbericht und Debatten 1998. Die 1998 durch Bundesgesetz gegründete "Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur" hat u.a. den Auftrag, den gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess der SED-Diktatur zu llirdem.
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deutscher Abgeordneter - es war der SPD-Abgeordnete Markus Meckel, der als erster diesen Vorschlag in der Öffentlichkeit machte. 6 Vorher hatten schon Friedrich Schorlemmer und Wolfgang Thierse ein Tribunal gefordert, um die öffentliche Auseinandersetzung von der EngfUhrung auf die "IM's" zu lösen und eine generelle breite Auseinandersetzung zu ermöglichen. Zwar entstanden auf Grund der Initiative von Friedrich Schorlernmer und Wolfgang Thierse Foren, doch wesentlich bedeutsamer wurde die EnqueteKornmission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihrer Folgen, die in zahlreichen Sitzungen, Anhörungen, durch die Vergabe von Expertisen usw. Grundfragen des SED-Systems und der Verantwortlichkeit in diesem zu klären versucht und darüber nach vielen kontroversen Debatten einen Bericht (mit manchen Mehrheits- und Minderheitsvoten) abgefasst hat (Materialien in 18 Bänden nachlesbar, 14 Bände der Zweiten Kornmission). 7 In der zweiten Phase (ca. 1991-1995) fand der Aufarbeitungsprozess, der auf den verschiedenen Ebenen ablief, beträchtliches Interesse. Das SED-System und die Bonner Deutschlandpolitik wurden Gegenstand heftiger Kontroversen. Charakteristisch fUr diese Phase war u.a. •
die Auseinandersetzung mit dem Herrschaftssystem, mit Tätern und Opfern stand im Vordergrund; das DDR-Bild wurde geradezu durch die TäterOpfer-Polarität geprägt;
•
die Auseinandersetzung mit dem SED-System war sehr kritisch; moralischrigoristische Urteilsbildung herrschte teilweise vor - frühere Bürgerrechtler (die freilich keine einheitliche Gruppe waren und sind) gaben - unterstützt von Teilen der Medien - den Ton an. Es ging vielfach offenbar nicht nur um kritische Auseinandersetzung, sondern vielmehr um Abrechnung;
•
die Oe-Legitimation des SED-Systems schritt weiter voran; die Totalitarismus-Theorie fand ein Revival, eine Theorie, die die kommunistischen Systeme und den Nationalsozialismus letztlich dem gleichen Typ zuordnet (allerdings begann mit diesem Revival auch eine Weiterentwicklung der Theorie);8
6 Siehe Bernd Faulenbach: Die Auseinandersetzung mit der doppelten Vergangenheit im Deutschen Bundestag, in: Martin Sabrow (Hrsg.): Grenzen der Vereinigung. Leipzig 1999, S. 35-54. 7 Materialien der Enquete-Kommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland". 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Hrsg. v. Deutschen Bundestag. 18 Bde. Baden-Baden!Frankfurt!M. 1995; Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit". 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Hrsg. v. Deutschen Bundestag. 14 Bde. Baden-Baden/Frankfurt 1999.
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•
in der öffentlichen Diskussion war die PDS, die nicht nur die Nachfolgepartei der SED war, sondern auch als solche stets entsprechend etikettiert wurde, ziemlich isoliert;
•
die Atmosphäre, in der die Auseinandersetzung stattfand, war überpolitisiert. Verbunden mit der Aufarbeitung waren heftige parteipolitische Auseinandersetzungen.
In der Aufarbeitung spielten Ostdeutsche zwar nach wie vor eine bedeutende Rolle, doch mischten sich die Westdeutschen längst ein; die Aufarbeitung war zu einem gesamtdeutschen Projekt geworden, bei dem es indes nicht an ostwestlichen Missverständnissen mangelte. In der dritten Phase (ca. 1994/95 bis ca. 1998) schwächte sich das Interesse an der SED-Vergangenheit deutlich ab, ein Interesse, das übrigens in keiner Phase die NS-Vergangenheit - wie manche zunächst befilrchtet hatten - verdrängte. In den neuen Bundesländern wurde die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von einem wachsenden Teil kritisch gesehen (die Auseinandersetzung wurde von nicht wenigen als Teil jener Vorgänge und Mechanismen betrachtet, durch die man gleichsam zu "Deutschen zweiter Klasse" gemacht wurde). Interessant ist die Erweiterung des Blicks auf die DDR-Vergangenheit, die sich filr diese Phase feststellen lässt. Die Beschäftigung mit dem SED-Herrschaftssystem (mit seinen Strukturen, seinen Funktionären und seinen Opfern) wurde ergänzt durch ein Interesse an der Gesellschaft, am Alltag in der DDR, was methodische Probleme ebenso wie Wertungsprobleme aufwarf ("Durchherrschung" des Alltags; die Frage nach dem "richtigen Leben" unter der Diktatur etc.). 9 Charakteristisch ist die Verlagerung der Themen von der ersten zur zweiten Enquete-Kornmission des Deutschen Bundestages; nun ging es um Fragen der Mangelwirtschaft, des konkreten Lebens fiir die verschiedenen Gruppen, um die Werte-Problematik, auch um das Verhältnis des SED-Systems zur Sowjetunion (inwieweit sie als penetriertes System zur begreifen war, welche Spielräume die SED und ihre Repräsentanten hatte etc.). Partiell kam es auch zu Ansätzen eines Vergleichs mit Westdeutschland, insbesondere hinsichtlich der Gegenwart, in der die politisch-gesellschaftlich-kulturellen Verhältnisse Ost- und Westdeutschlandes verglichen wurden.
8 Vgl. Eckhard Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Bonn 1996; Bemd Faulenbach: Die SED-Diktatur in der DDR, in: Ludger Kühnhard/Alexander Tschubarjan (Hrsg.): Deutschland und Rußland auf dem Weg zum antitotalitaren Konsens. Baden-Baden 1999, S. 127-141. 9 Siehe Jürgen Kocka: Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka!Hartmut Zwahr (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Stungart 1994, S. 547-553.
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Charakteristisch ftir die dritte Phase der Aufarbeitung war auch, dass die Debatten letztlich weniger kontrovers waren, obgleich sich diese Kommission vor allem dem Erbe des SED-Systems, d.h. Gegenwartsfragen zuwenden sollte. Auseinandersetzungen gab es vornehmlich über den Transformationsprozess bzw. politische Entscheidungen, die diesen beeinflussten. Während die damalige Regierung dazu neigte, die Probleme in den neuen Ländern fast ausschließlich als Erbe des SED-Systems zu interpretieren, wollte die Opposition doch auch Entscheidungen der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition kritisch in die Betrachtung mit einbeziehen. In dieser Phase trat die Überpolitisierung nicht nur zurück, sondern es setzte auch eine Tendenz zur Historisierung der DDR ein, filr die Distanzierung und differenzierende Urteilsbildung charakteristisch sind. 10 Der POS gelang es zunehmend, sich aus der Isolierung zu befreien; hier und da wurden apologetische Töne hörbar. Gleichzeitig verloren die Aufarbeitungsinitiativen an Gewicht, sie schrumpften teilweise zu einer Szene zusammen, die in erhebliche Probleme geriet. Der gesellschaftliche Aufarbeitungsprozess wurde erst wieder stabilisiert durch die "Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur", die 1998 ihre Arbeit aufnahm. Schließlich lässt sich sagen, dass die (geschichts-)wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte der DDR, die schon in der zweiten Phase mit enormer Breite eingesetzt hatte, innerhalb des Gesamtprozesses an Bedeutung gewann. In diesem aber machte sich das Übergewicht westdeutscher Zeitgeschichtsforschung bemerkbar. Hatte es schon in der zweiten Phase ostdeutsche Stimmen gegeben, die sich gegen die westdeutsche professionelle Forschung wandten, so verstärkte sich diese Kritik - namentlich in der genannten Szene. Die Professionalisierung der historischen Aufarbeitung erscheint jedoch zwangsläufig, innerhalb dieser wird dauerhaft nicht mehr zwischen ost- und westdeutschen Sichtweisen unterschieden werden können. Vielleicht kann man sagen, dass inzwischen eine vierte Phase eingesetzt hat. Die strafrechtliche Aufarbeitung ist weitgehend abgeschlossen - eine große Zahl von Ermittlungsverfahren filhrte nur zu einer relativ kleinen Zahl von Hauptverfahren und nur zu einer - alles in Allem - sehr kleinen Zahl von Verurteilungen. Der Historisierungsprozess schreitet weiter voran, hat den zur NS-Zeit gleichsam überholt und gegenwärtig scheint es, abgesehen von der Aufgabe der Klärung vieler Einzelfragen, vor allem um die Frage der Einordnung des SEDSystems in die deutsche Geschichte, um den Vergleich mit anderen Diktaturen zu gehen. Eine konsensuale Gesamtinterpretation steht noch aus. Zugleich stellt 10 Zum vor allem im Hinblick auf die NS-Zeit, insbesondere im Kontext des Historikerstreites diskutierten Begriff ""Historisierung" vgl. Bernd Faulenbach: Die Bedeutung der NS-Vergangenheit fllr das deutsche Selbstverständnis. Weitere Beiträge zum "Historikerstreit" und zur Frage der deutschen Identität, in: Archiv fllr Sozialgeschichte XXX, 1990, S. 532-574, hier S. 547 f.
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sich die Frage nach dem Aufbau bzw. der Sicherung einer Erinnerungskultur, die an die Stalinismus-Opfer und die totalitären Erfahrungen erinnert. Aufs Ganze gesehen ist der Aufarbeitungsprozess Konsequenz der Umwälzung in der DDR und der spezifischen Formen, unter denen die Vereinigung sich vollzog. Auf diesem Hintergrund war - überpointiert formuliert - ein auf die Ostdeutschen unter Leitung von früheren Bürgerrechtlern beschränkter Aufarbeitungsprozess ausgeschlossen, der Prozess musste sich zwangsläufig verbreitern. III. Die Diskussion über die Bundesrepublik Im Mittelpunkt der Diskussion über die Nachkriegszeit stand seit 1990 das SED-System bzw. die DDR. Dieses Thema wurde auf vielfaltige Weise kritisch aufgearbeitet. Die Geschichte der alten Bundesrepublik stand nicht in vergleichbarer Weise zur Diskussion und zur Disposition. Schließlich war die DDR der Bundesrepublik beigetreten; diese war nicht durch die Geschichte überholt worden. Im Gegenteil: gerade in der Gegenüberstellung mit der DDR erschien sie nun in neuem hellem Licht. Gleichwohl gab es auch hinsichtlich der alten Bundesrepublik Ansätze einer Diskussion, die durch das Ende der DDR und die Vereinigung induziert wurde. Diese Ansätze müssen erwähnt werden in unserem Versuch, die Geschichtsdebatte seit 1990 über die Nachkriegsepoche zu bilanzieren. Die Diskussion über die Bundesrepublik entzündete sich vor allem an folgenden Fragen: •
Bedurfte das vereinigte Deutschland nicht einer neuen Legitimation (dahinter stand die Vorstellung, die Vereinigung wäre besser auf der Basis von Artikel 146 statt auf der Basis von Artikel 23 des Grundgesetzes vollzogen worden)?
•
Hatte nicht die Vereinigung auch die Bundesrepublik und ihre postnationale Existenz, ihr postnationales Selbstverständnis obsolet werden lassen? War nicht eben auch filr Deutschland der Nationalstaat die adäquate Ordnung? Musste nicht auch die Nachkriegszeit als ein Stück "deutscher Sonderweg" interpretiert werden? 11
•
Hatte die Bundesrepublik nicht unter Sonderbedingungen existiert, die dadurch gekennzeichnet waren, dass andere, zumal die USA filr die Deutschen
11 Vgl. Bernd Faulenbach: "Deutsche Sonderwege". Anmerkungen zur aktuellen Diskussion Ober das deutsche historisch-politische Selbstverstandnis, in: Comparativ. Leipziger Beitrage zur Universalgeschichte und vergleichender Gesellschaftsordnung 1994, H. I, S. 14-30.
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West mitgehandelt hatten? War nicht auch die Bundesrepublik ein Produkt des Kalten Krieges gewesen? •
Hatte die Bundesrepublik nicht geradezu in einem Schonraum gelebt, in dem die existentielle Dimension des Politischen ihre Bürger nicht eigentlich erreicht hatte?
Anlässe fUr diese Diskussion waren u.a. der Golfkrieg, der 1990/91 ausbrach, später der Bosnien- und der Kosovo-Konflikt und die Frage einer deutschen Beteiligung bei den militärischen Pazifizierungsbemühungen auf der einen Seite und die Hauptstadtfrage 1990/91 sowie die Diskussion über die Bonner bzw. die Berliner Republik Ende der 90er Jahre auf der anderen Seite. Es entwickelte sich nicht eigentlich eine neue intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte der Bundesrepublik als vielmehr eine Diskussion über ihre Beurteilung angesichts der Epochenwende 1989/90. Dazu einige Bemerkungen über die Argumentationsmuster: 1. Kritisch gesehen wurde, dass die deutsche Mentalität von der "Machtbesessenheit" zur "Machtvergessenheit" sich in der Bonner Republik gewandelt habe.12 Tatsächlich gab es in den frühen und mittleren 90er Jahren noch vielfaltigen Widerstand gegen eine deutsche Beteiligung an internationalen Militäraktionen außerhalb des NATO-Bereichs ("out-of-area"), die dem Grundgesetz zu widersprechen schien. Mit der deutschen Beteiligung an NATO-Aktionen im Kosovo ist tatsächlich die frühere bundesdeutsche Haltung revidiert worden; insgesamt hat das vereinigte Deutschland, die größer gewordene Bundesrepublik, ungleich mehr internationale Verantwortung zu tragen. Die Diskussion, die eine kritische Komponente gegenüber der alten Bundesrepublik enthielt, ist offenbar inzwischen weitgehend beendet. 2. Verbunden mit der Diskussion über die Hauptstadtfrage war der Vorwurf einer allgemeinen Provinzialität der Bonner Republik, einer Provinzialität, die vor allem an der Bundeshauptstadt Bonn festgemacht wurde. Verteidigt wurde Bonn und die Bonner Republik mit dem Argument, dass in dieser Republik sich eine neue westlich orientierte zivile Gesellschaft entwickelt habe, deren Symbol Bonn sei. 3. In einer ganzen Reihe von publizistischen Beiträgen - von Jürgen Habermas bis zu Jürgen Kocka, d.h. durchweg von Westdeutschen- wurde Anfang der 90er Jahre und auch wieder in der Diskussion über die Berliner Republik Ende des Jahrzehnts gerühmt, dass die Bundesrepublik den traditionellen deutschen Sonderweg und seine Ideologie Uberwunden habe. 13
12 Vgl. Hans-Pe/er Schwarz: Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit. Stungart 1985; Gregor Schäl/gen: Angst vor der Macht. Die Deutschen und ihre Außenpolitik. Frankfurt!M. 1993.
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In diesen Beiträgen wurde gefordert, die westliche politische Kultur nicht nur zu verteidigen, sondern auch im vereinigten Deutschland durchzusetzen. Andere - und dabei wurden auch ostdeutsche Stimmen vernehmbar - betonten, dass im vereinigten Deutschland, durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, symbolisiert durch die Hauptstadt Berlin, doch etwas Neues entstehe (was freilich im Allgemeinen politisch-kulturell kaum benennbar zu sein schien, sieht man von der gewachsenen außenpolitischen Verantwortung und der Wiederkehr einer Brückenfunktion nach Osteuropa ab). 4. In allerneuester Zeit wird verstärkt über "1968" und die Folgen diskutiert. Lässt sich - so wird gefragt - im Hinblick auf die späten 60er und frühen 70er Jahre von einer zweiten Gründungsphase der Bundesrepublik sprechen? Während die eine Seite dies bejaht und gerade das Fehlen eines derartigen Umbruchs als Mangel der DDR-Gesellschaftskultur sieht, artikuliert die andere Seite immer noch Zweifel an dieser "Kulturrevolution" und kann dabei auf vielfältige problematische Erscheinungen von denK-Gruppenbis zum Terrorismus verweisen. Zur Diskussion über die Bundesrepublik lässt sich folgendes feststellen: 1. Diese Diskussion lässt sich nicht vergleichen mit der Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit, die auf dem Hintergrund ihres Endes kritisch durchleuchtet wurde, teilweise in Formen, die der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit entwickelt worden waren. 2. Sie war eine Diskussion des Feuilletons, der Publizistik, nicht aber eine Diskussion, die breite Resonanz hatte und tiefgreifenden Veränderungserfahrungen entsprach. 3. Die Diskussion war ganz überwiegend westdeutsch geprägt. 4. Sie trug nicht wirklich zur Relativierung der alten Bundesrepublik bei, obgleich es mit dem Umzug nach Berlin zur Veränderung der Symbolik kam, deren Bedeutung sich noch nicht abschätzen lässt. Anzufiigen ist an dieser Stelle, dass in der ersten Hälfte der 90er Jahre noch einmal heftig über die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik in ihren verschiedenen Phasen gestritten wurde, eine Auseinandersetzung, in der sich politische und wissenschaftliche Momente durchmischten. Doch diese Auseinandersetzung bewegte sich jenseits der Legitimationsfrage der alten Bundesrepublik, sie war
13 Siehe Jürgen Habermas: eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften VI. Frankfurt a.M. 1987, S. 159 tf. Vgl. Bernd Faulenbach: Überwindung des"deutschen Sonderweges"? Zur politischen Kultur der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1998, B 51, S. 11-23.
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im Wesentlichen ein Streit über die angemessene Strategie bzw. darüber, wer das größte Verdienst an der Überwindung des kommunistischen Systems in Deutschland hatte. IV. Die Asymmetrie des Aufarbeitungsprozesses und ihre Relevanz für Ost- und Westdeutsche Deutlich geworden dürfte sein, dass der Prozess der Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte ein asymmetrischer Prozess war. Zwar haben einige DDRHistoriker und die PDS (u.a. in der ersten Enquete-Kommission) eine prinzipielle Gleichwertigkeit beider Entwicklungen behauptet (beide seien Produkte des Kalten Krieges gewesen), doch sind sie damit nicht durchgedrungen. Allerdings ist die Frage, wie wir beide Entwicklungen - die der Bundesrepublik und der DDR- in einem gemeinsamen Bild zusammenbringen wollen, bis heute offen (worauf gleich noch einmal zurückzukommen sein wird). 14 Keine Frage, dass die Asymmetrie dieses Prozesses - wie sich im Laufe der Entwicklung gezeigt hat - sozialpsychologische Probleme birgt, zumal diese Asymmetrie mit der Asymmetrie des Vereinigungsprozesses (die westdeutschen Institutionen wurden schnell und effizient auf die frühere DDR übertragen) und den Problemen der Transformation (etwa der Massenarbeitslosigkeit, der Abwicklung von Einrichtungen usw.) zusammengesehen wird. Ausdruck der Probleme war eine allmähliche Wiederaufwertung der DDR bzw. einzelner Aspekte, die vielfach als "Nostalgie" oder "Ostalgie" bezeichnet worden ist. Dabei spielte und spielt offenbar der Versuch eine Rolle, sich nicht als "Deutsche zweiter Klasse", sondern als Gruppe mit einem spezifischen Selbstbewusstsein zu begreifen.15 Dies ist der sozialpsychologische Hintergrund daftlr, dass wachsende Teile der DDR-Bevölkerung eine Abwehrhaltung gegenüber der SED-Vergangenheit eingenommen haben. Vielleicht ist die Abwehrhaltung auch getbrdert worden durch den politisch-moralischen Rigorismus, mit dem manche "Aufarbeiter", insbesondere aus dem Umfeld der früheren Bürgerbewegung das SED-System und die Realität in der DDR gesehen haben. Der Zeithistoriker Christoph Kleßmann hat darauf hingewiesen, dass "die Kluft zwischen einer sehr heterogenen individuellen und kollektiven Erfahrungsgeschichte einerseits und einer nüchternen Strukturanalyse" in der Zeitgeschichte 14 Vgl. dazu Christoph Kleßmann, Hans Misse/witz und Günter Wiehert (Hrsg.): Deutsche Vergangenheiten - eine gemeinsame Herausforderung (Anmerkung 4); Arnd Bauerktimper!Martin Sabrow/Bernd Stöver (Hrsg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen. Bonn 1998. 15 Siehe Hans Misse/witz: Nicht langer mit dem Gesicht nach Westen. Das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen. Bonn 1996. 42 Timmcrmann
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besonders ausgeprägt sei. 16 Tatsächlich ist darauf zu achten, dass die Rekonstruktion von objektiven Strukturen und Prozessen an den subjektiven Erfahrungen nicht vorbeigeht, zumal die Subjekte Teile der Strukturen und Prozesse waren. Dahinter steckt das Problem der adäquaten Erfassung der DDR-Realität. Aus der Sicht vieler früherer DDR-Bürger mangelt es an einem geeigneten kategorialen Rahmen (jedenfalls betrachtet man den des Westens eher skeptisch). Der Tatbestand der "Durchherrschung" des Alltags des SED-Systems hat es jedenfalls vielen Ostdeutschen erschwert, zwischen System und Lebensperspektive zu unterscheiden, was bezogen auf die westliche Gesellschaft - mit ihrer relativen Autonomie der Teilsysteme- naheliegend ist (und zu westlichen Missverständnissen über die DDR gefilhrt hat). In der Tat ist festzustellen, dass die DDR-Realität nicht ausschließlich als Ausfluss des SED-Systems begriffen werden kann; vielmehr hatte das Leben der Menschen auch hier seinen "Eigensinn", teilweise im Gegensatz, teilweise verknüpft mit dem System. Zweifellos waren westdeutsche Urteile über die DDR nicht immer angemessen. Dennoch ist es absurd, die Auseinandersetzung mit der SED-Vergangenheit als westdeutsche Erfindung zur geschichtspolitischen Kolonisierung der DDR abzuqualifizieren. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es ostdeutsche Kräfte waren, die wesentlich zur Schaffung der Gauckbehörde und zur Einrichtung von Enquete-Kommissionen gefilhrt haben, allerdings die Realisierung derartiger Institutionen nur durch gesamtdeutsche Ressourcen möglich wurde. Und dass die Westdeutschen sich an der Diskussion beteiligten, war wohl zwangsläufig, hat jedoch auch zu den genannten sozialpsychologischen Problemen gefiihrt. Dennoch bleiben Theodor Adomos Überlegungen zum Aufarbeitungsprozess zur NS-Zeit Anfang der 60er Jahre bedenkenswert: er forderte "die schonungslose Reflexion einer kränkenden Vergangenheit, die uns mit einem anderen selbst konfrontiert als dem, was wir glauben und sein möchten." 17 Diese Reflexion könne jedoch nur heilsam sein, wenn sie nicht als Waffe von außen gegen uns eingesetzt werde, sondern von innen als Reflexion sichtbar werde: "Was propagandistisch geschieht, bleibt zweideutig". 18 Das Problem liegt darin, dass manche Betroffenen den Aufarbeitungsprozess glaubten als von außen kommend betrachten zu können (was eben durch den gesamtdeutschen Zusammenhang erleichtert wurde). 16 Chnstoph Kleßmann: Eine Enquete-Kommission als historisches Gewissen der Nation, in: Das Parlament Nr. 46/47, 6./13.11.1998, S. I. 17 Jürgen Habermas: Bemerkungen einer verworrenen Diskussion. Was bedeutet ,,Aufarbeitung der Vergangenheit" heute?, in: Die Zeit Nr. 15, 3.4.1992, S. 82-84, hier S. 82. 18 Theodor W. Adomo: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?, in: Ders.: Eingriffe. Neue kritische Modelle. Frankfurt a.M. 1993, S. 125-146, ZitatS. 143
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V. Möglichkeiten der Entwicklungeines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins und seine Bedeutung für die "innere Einheit" Deutschlands Nach dem Ausgefilhrten ist klar, dass wir von einem konsensualen Geschichtsbewusstsein noch beträchtlich entfernt sind. Blickt man zurück auf die 10 Jahre der Aufarbeitung wird man wohl sagen müssen: •
dieser Diskussionsprozess musste im Wesentlichen wohl so laufen, weil er eben teilweise eine Funktion des politisch-gesellschaftlichen Gesamtprozesses war,
•
die kritische Auseinandersetzung mit der Diktatur war nötig, auch wenn schon früher Versuche, Vergleichsperspektiven nicht nur mit dem NSSystem sondern einerseits mit den osteuropäischen Diktaturen und andererseits mit der Bundesrepublik sinnvoll gewesen wären,
•
der Prozess zunehmender Historisierung mit dem wachsenden Gewicht von Wissenschaft scheint mir alles in Allem wohl begründet zu sein, so lange die Wertungsmaßstäbe (die ich durch die Verfassung im Westlichen vorgezeichnet sehe) bei allem historischen Verständnis nicht prinzipiell in Frage gestellt werden.
Wir stehen vor der Aufgabe der Entwicklung eines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins. Es gibt vielfältige Hinweise darauf, dass die Kenntnis der jeweiligen anderen Geschichte bei Ost- und Westdeutschen (insbesondere der mittleren Generationen sehr begrenzt ist). Wir brauchen ein Geschichtsbewusstsein, in dem die Erfahrungen der Westdeutschen und der Ostdeutschen vorkommen. Natürlich weiß ich, dass in pluralistischen Gesellschaften ein derartiges Geschichtsbewusstsein nur als Prozess denkbar ist. Wie ein adäquates Geschichtsbild bezogen auf die Nachkriegszeit aussehen sollte, ist bislang mehr oder weniger offen: Lutz Niethammer meint, mehrere Geschichten müssten - jedenfalls vorläufig - nebeneinander gestellt werden, Christoph Kleßmann hat von einer asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte gesprochen. 19 Jedenfalls wird man sowohl beide getrennte Entwicklungen wie gegenseitige Beeinflussungen und Beziehungen wie auch Gemeinsamkeiten zu berücksichtigen haben. 19 Siehe Christoph Kleßmann: Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1993, B 29-30; Arnd Bauerkämper/Martin Sabrow/Bemd Stöver (Hrsg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990. Bonn 1998, insbes. S. 14 f.; Lutz Niethammer: Methodische Überlegungen zur deutschen Nachkriegsgeschichte. Doppelgeschichte, Nationalgeschichte oder asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?, in: Christoph Kleßmann!Hans Misse/witziGUnter Wiehert (Hrsg.): Deutsche Vergangenheiten- eine gemeinsame Herausforderung, S. 307-327.
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Richtig gelungen ist dieses noch keinem Historiker, auch nicht Peter Graf Kielmansegg in seiner ansonsten sehr beachtlichen neuen großen Darstellung der Nachkriegsgeschichte, in dem die DDR als Sonderteil abgehandelt ist. 20 Wahrscheinlich ist immer noch KleBmanns Versuch der angemessenste. 21 Im vereinigten Deutschland werden wir dauerhaft mit Unterschieden leben müssen. Ich teile die Ansicht von Hans-Joachim Veen, dass wir unter "innerer Einheit" nicht eine völlige kulturelle Einheitlichkeit verstehen dürfen. 22 Die verbindliche Anerkennung der demokratischen Verfassungsordnung wäre schon viel, auch die prinzipielle Grundsympathie und Bereitschaft zur nationalen Solidarität. Gleichwohl müssen wir, so glaube ich, größere Anstrengungen machen, die unterschiedlichen Erfahrungen in einem gemeinsamen Geschichtsbewusstsein zu berücksichtigen, ein Bewusstsein, das verhindert, dass Geschichte trennt. 23 Ich meine: wir haben noch ein beträchtliches Stück des Weges zurückzulegen.
20 Peter Graf Kielmansegg: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland. Berlin 2000. 21 Christoph Kleßmann: Die doppelte StaatsgrUndung. Deutsche Geschichte 1945-1955. 5. Aufl. Bonn 1991; Ders.: Zwei Staaten. Eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970.2. Aufl. Bonn 1997. 22 Siehe Hans-Joachim Veen: Innere Einheit- aber wo liegt sie? Eine Bestandsaufnahme im siebten Jahr nach der Vereinigung Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40-41 , 1997, S. 19-28.
23 Vgl. Bemd Fau/enbach: Ost-West-Unterschiede als Herausforderungen politischer Bildungsarbeit im vereinigten Deutschland, in: Jahrbuch Arbeit, Bildung, Kultur, 15/16, 1997/98, S. 89-101.
Deutsche Außenpolitik ein Jahrzehnt nach der VereinigungEine Bilanz Von Siegfried Schwarz Im Jahrzehnt seit der Vereinigung ist spürbar geworden, dass Deutschland über ein erheblich stärkeres Gewicht in Europa und über einen größeren internationalen Spielraum als zuvor verfügt. Dies resultiert allein schon aus objektiven Daten: Von Rußland abgesehen, besitzt Deutschland nunmehr die größte Bevölkerungszahl, das größte Bruttosozialprodukt und eine beträchtliche militärische Kapazität innerhalb Europas. Es ist der wichtigste Handelspartner fast aller seiner Nachbarn und der bedeutendste Beitragszahler der Europäischen Union. Seine geopolitische Lage in der Mitte des Kontinents, seine Nähe zur mittelosteuropäischen Region, seine bedeutende Finanzkraft und seine traditionsreichen Verbindungen zu vielen Völkern in West-, Nord- und Osteuropa verleihen der Bundesrepublik heute zweifellos eine herausgehobene Stellung und damit eine erhöhte Verantwortung in der europäischen Staatenwelt Diese erweiterten politischen und ökonomischen Einflussmöglichkeiten in Europa und darüber hinaus sollten jedoch nicht zu dem Fehler verleiten, übersteigerte Erwartungen zu hegen und überhöhte Ansprüche - etwa auf exklusive Führungsrollen - geltend zu machen. Sollte die Bundesrepublik einen Kurs einschlagen, der die neugewonnene Größe und Stärke allzu demonstrativ in den Vordergrund rückt, könnte im Westen wie im Osten des Kontinents eine Reaktion in dem Sinne einsetzen, dass die Nachbarn und Partner das deutsche Gewicht durch die Bildung von "Gegenkoalitionen" auszubalancieren suchen. Dies wiederum würde für einen der stärksten Staaten Europas die Gefahr der politischen und vor allem psychologischen "Einkreisung" zur Folge haben. Allein schon aus diesem Grund ist die deutsche Außenpolitik gut beraten, einen überzeugenden Kurs der Selbstbeschränkung und Selbst-Eindämmung, sozusagen der "freiwilligen Machtfesselung", zu betreiben.' 1 Vgl. Thomas Pau/sen: Die deutsche Rolle in Europa; in: Wemer Weiderife/d (Hrsg.), EuropaHandbuch, Bonn 1999, S. 544.
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I. Deutsche Außenpolitikangesichts wachsender Europäisierung und Globalisierung In dem Dezennium seit 1990 wurde die deutsche Außenpolitik von qualitativ neuen Tendenzen in Weltpolitik und Weltwirtschaft tangiert und beeinflusst, die langfristig die Rolle der Nationalstaaten verringern und gleichzeitig den Prozess der Europäisierung und Globalisierung beschleunigen. Die Rahmenbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten deutscher Außenpolitik sind insofern verändert, als sie von einer rasant zunehmenden Dichte an Informationen, Kommunikationen und Verflechtungen in Politik und Wirtschaft, Technologie und Medien, Kultur und Lebensweisen erfasst worden sind, von einem globalen Trend, der zukünftig noch weitaus größere Dimensionen erreichen wird. Die Impulse der Globalisierung resultieren vor allem aus "Informationskräften". Die hieraus entstehende Informationsgesellschaft stellt in Weltpolitik und Weltwirtschaft einen qualitativ neuen Machtfaktor dar und bewirkt den Aufstieg einerneuen Klasse, einer "Weltklasse der Kosmopoliten", also einer Bewegung visionärer Menschen, die mit großer Beweglichkeit rund um den Erdball agieren (Ralf Dahrendorf). Europäisierung und Globalisierung schaffen geradezu einen dringenden Handlungsbedarf internationalen Zuschnitts, den weder die deutsche Außenpolitik noch die der anderen Länder allein zu bewältigen vermögen. De facto hat die Erosion des Nationalstaats generell und damit auch die der Bundesrepublik längst eingesetzt. 2 In mancher Hinsicht tendieren die Kräfte schon fast zu einer Art gemeinsamer "Innenpolitik", wenngleich einem solchen Trend noch lange zahlreiche Hindernisse entgegenstehen werden. Aus solchen neuen Tendenzen erwächst die Notwendigkeit filr die Entwicklung eines breiten Spektrums moderner, kooperativer Strategien.3 Hieraus folgt auch, dass jede demonstrative Betonung rein nationaler Interessen antiquiert und befremdend wirken müsste; dies um so mehr, als die Außenpolitik der meisten europäischen Staaten infolge der Integrationsprozesse teilweise bereits "denationalisiert" worden ist. 4
2 Vgl. Otfried Höffe: Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 7. 2000, S. 14. 3 Vgl. Ernst-Otto Czempie/: Kluge Macht- Außenpolitik ftlr das 21. Jahrhundert, Munchen 1999, S. 69 ff. 4 Vgl. Michael Zürn: Regierenjenseits des Nationalstaates- Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt!Main 1998, S. 95 ff.
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Angesichts der wachsenden Wirtschafts- und Politikverflechtung, der globalen Herausforderungen auf vielen Gebieten ist seit der deutschen Vereinigung der Zwang dringender denn je hervorgetreten, die gemeinsamen Interessen der Europäischen Union in den Mittelpunkt der Strategien zu rücken. Auch das übergeordnete Ziel der Bundesrepublik, eine effektive Sicherheitsstruktur für Gesamteuropa herauszubilden, kann nicht durch unilaterales Handeln, gar gegen den Willen einiger Partner, sondern nur noch im engen Verbund mit den Teilnehmern der Europäischen Union und der Atlantischen Allianz erreicht werden. Eine solche Bindungsbereitschaft entspricht sowohl dem kollektiven als auch dem nationalen deutschen Eigeninteresse. 5 In der vergangenen Dekade hat sich die deutsche Außenpolitik in besonderem Maße darauf einstellen müssen, dass sich die EU faktisch und institutionell, auch rechtlich, zu einem neuartigen, wenngleich unzulänglichen Organisationsmodell entwickelt hat. In wichtigen Bereichen überwölben supranationale Strukturen die teilnehmenden Nationalstaaten dauerhaft mit bindender Regulierungskompetenz. 6 Es zeichnet sich perspektivisch ab, dass der in einer bestimmtem historischen Situation ausgeformte Nationalstaat nunmehr einem zwar widerspruchsvollen, aber irreversiblen Prozess der Abtretung bisher souveräner Rechte an supranationale Strukturen, teilweise auch an grenzüberschreitende Regionalstrukturen, unterworfen ist. 7 Angesichts solch langfristig wirkender Grundtendenzen in der internationalen Politik wäre jede Überbetonung einseitig nationaler Interessen gegenüber Verhandlungspartnern unangebracht und kontraproduktiv. Dennoch werden in Teilen der politologischen Literatur Definitionen der Rolle Deutschlands als der einer "Zentralmacht Europas", einer "europäischen Großmacht", einer "economie dominante" in den Vordergrund gerückt. Manche Autoren urteilen, die Bundesrepublik sei "gleichsam über Nacht wieder in die Rolle einer kontinentalen Großmacht mit weltpolitischem Gewicht" katapultiert worden. 8 Zwar sei Deutschland keine Supermacht, jedoch könne ohne oder gegen diese Macht kein wichtiger Beschluss in der Europäischen
' Vgl. Michael Staack: Handelsstaat Deutschland - Deutsche Außenpolitik in einem neuen internationalen System, Paderborn-München-Wien-Zorich 2000, S. 19,40 ff. 6 Vgl. M. Rainer Lepsius: Die Europäische Gemeinschaft und die Zukunft des Nationalstaats; in: ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 253. 7 Vgl. Siegfried Schwarz: Das Schicksal des Nationalstaats; in: Internationale Politik, Berlin, H. 10/2000, S. 33.
8 Vgl. Gregor Schöllgen: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland - Von den Anfllngen bis zur Gegenwart, Monehen 1999, S. 201.
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Union gefasst werden. Hierin widerspiegele sich "weit mehr als die ökonomisch dominante Stellung Deutschlands in Europa" 9• Vertreter dieser Denkrichtung meinen, es sei die Kombination vieler ökonomischer, politischer, geographischer und kultureller Faktoren, welche die "größere Bundesrepublik" aus der Sicht ihrer Nachbarn im Westen wie im Osten wieder als "europäische Großmacht" erscheinen lasse. Die Deutschen hätten sich mit der Wahl Berlins zur Hauptstadt zu ihrer "Tradition als europäische Großmacht" bekannt. Berlin sei eben auch und nicht zuletzt die "Kapitale des Deutschen Reiches, der stärksten Macht Europas vor 1914 und erneut vor 1939" gewesen. 10 Allerdings muss man hinzufUgen, dass ausländische Beobachter den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin durchaus mit gemischten Geilihlen betrachten. Aus der französischen Perspektive verschiebt dieser Vorgang symbolisch die Machtbalance in Europa dergestalt, dass ein asymmetrisches Kräfteverhältnis zwischen Deutschland und Frankreich im Entstehen begriffen ist. Aus Pariser Sicht wächst ohnehin die deutsche Dominanz in der "Einflusszone" Mittel- und Osteuropa. 11 Da die skizzierten Eindrücke ausländischer Regierungen und Beobachter bedenkliche Folgen haben könnten, wäre die deutsche Außenpolitik gut beraten, an bewährten Prinzipien festzuhalten und diese in die Tat umzusetzen. Hierzu gehört vor allem: - bestehende Verflechtungen auf außenpolitischem und -wirtschaftlichem Gebiet nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern auszubauen; - jegliche konfrontative Arroganz gegenüber Nachbarn und Partnern zu vermeiden, weil gerade sie deutsche Interessen beeinträchtigt; - keine voreiligen Entscheidungen ohne angemessene Konsultationen der Bündnispartner zu treffen; - dem Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung Priorität beizumessen; 9 Vgl. Gregor Schöllgen: Angst vor der Macht- Die Deutschen und ihre Außenpolitik, BerlinFrankfurt!Main 1993, S. 28.
10 Vgl.
ebenda, S. 31.
11 Stephan Martens: Die "Berliner Generation" - Deutschlands Befindlichkeiten aus französischer Sicht; in: Internationale Politik, Berlin, H. 9/2000, S. 18.
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den globalen Problemen wie der Ökologie, der organisierten Kriminalität, Armut und Kriegen in den Entwicklungsländern besondere Aufinerksamkeit zu schenken. 12 Darüber hinaus erwarten Teile des Auslands vom vereinigten Deutschland, es möge stärker als bisher mit eigenen Initiativen an der Gestaltung der internationalen Politik mitwirken und sich nicht nur auf die europäische Region beschränken. Manche Beobachter übersehen hierbei zumeist, dass die deutsche Politik durch die internen Folgeprobleme der Vereinigung und durch wirtschaftliche Strukturkrisen partiell gelähmt und beeinträchtigt wird. Es kommt hinzu, dass eine Beteiligung der Bundeswehr an Militäreinsätzen der NATO out of area, wie im Falle des Kosovo-Krieges 1999, innenpolitisch aufs höchste umstritten ist. 13 Vielmehr sollte der bislang praktizierte multilaterale Ansatz deutscher Außenpolitik noch deutlicher mit eigenen Ideen fUr zivile und präventive Mittel und Ziele erfiillt und ergänzt werden. 14 II. Kardinalaufgabe deutscher Außenpolitik: Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union
Eines der am schwierigsten zu lösenden Aufgaben deutscher Außenpolitik im vergangeneo Jahrzehnt und in der vor uns liegenden Zeit betrifft das schwer zu öffnende Problem-Paket Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union. Obwohl viele EU-Mitglieder an der Aufschnürung dieses Pakets beteiligt und interessiert sind, trägt doch die deutsche Seite in dieser heiklen, brisanten Frage die größte Last und Verantwortung. Der Grund hierfUr ist einfach darzulegen: Als unmittelbarer Nachbar wichtiger Beitrittskandidaten, als wirtschaftlich und politisch einflussreiche Kraft ftHlt dem vereinigten Deutschland objektiv, von mancher Seite auch subjektiv akzentuiert, die Aufgabe zu, den verzwickten und verschlungenen Komplex umstrittener Fragen maßgeblich zu entwirren. In diesem Punkt steht namentlich die deutsche Seite vor der Einlösung ihres oftmals bekundeten Versprechens, die EU stünde prinzipiell allen europäischen Staaten offen. Sie muss berücksichtigen, dass seitens der mittelosteuropäischen Länder nicht nur deren Interesse am Zugang zum Binnenmarkt und an Finanzhilfen der EU von Belang ist, sondern ebenso die Bekräftigung ihres Willens, die 12 Vgl. Christian Hacke: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland - Weltmacht wider Willen?, Berlin 1997, S. 457-459.
13
Vgl. Ernst-0/lo Czempiel: Kluge Macht, a. a. 0., S. 160.
1• Vgl. He/ga Haftendom: Gulliver in der Mitte Europas - Internationale Verflechtung und nationale Handlungsmöglichkeiten; in: Kar/ Kaiser/ Hanns W Maul/ (Hrsg.), Deutschlands neue Außenpolitik, Bd. I: Grundlagen, MUnchen 1994, S. 149.
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Reintegration mit Westeuropa zu beschleunigen und Sicherheit vor unberechenbaren Mächten zu erlangen. Die Bewältigung des Problems der Osterweiterung stellt deshalb filr die außenpolitischen Eliten der Bundesrepublik eine erhebliche Herausforderung dar, die ihre Handlungsilihigkeit und Gestaltungskraft auf eine ernsthafte Probe stellt. 15 Es ist unbestritten, dass die Vermehrung der Zahl der EU-Länder von jetzt 15 Staaten auf später etwa 25 Mitglieder (oder gar mehr) die Struktur der Gemeinschaft und ihr Erscheinungsbild in der Welt tiefgreifend verändern wird. Zunächst nimmt die Heterogenität der Union sprunghaft zu, weil einige der Kandidaten sehr niedrige Pro-Kopf-Einkommen aufzuweisen haben. Daher wird die Konkurrenz um knappe Finanzmittel zu verstärkten Verteilungskämpfen zwischen alter und neuer "Peripherie" :fiihren. Vor allem bergen die finanziellen Auswirkungen auf die Gemeinsame Agrarpolitik, auf die Strukturfonds und auf den Haushalt der Gemeinschaft erheblichen Sprengstoff in sich. Es kommt hinzu, dass im Falle einer Ausdehnung der EU ethnisch und nationalistisch determinierte Konfliktfelder in den direkten Zuständigkeitsbereich der Union gelangen. Auch wächst bei den romanischen Partnern die Befurchtung, die Osterweiterung könnte die machtpolitische Position Deutschlands innerhalb der EU allzusehr erhöhen. Ebenfalls gilt es zu beachten, dass die Antragsteller den gesamten Acquis communautaire (den in 31 Kapiteln gefassten, 80 000 Seiten umfassenden Rechtsbestand der EU) voll zu übernehmen hätten. Dies schließt den Verzicht der Antragsteller auf eine Reihe nationaler Souveränitätsrechte ein. Ein solcher Verzicht wiederum ist filr einige Kandidaten insofern problematisch oder nur schwer hinnehmbar, als sie solche Rechte erst während der Wende 198911990 mühsam errungen hatten. Es besteht also die reale Gefahr, dass eine zu rasche Aufnahme von Kandidaten, die sich noch nicht in genügendem Maß auf eine Vollmitgliedschaft vorbereitet haben, erhebliche Komplikationen in das Leben der Union tragen könnte. Die Hinweise auf tatsächliche Probleme und mögliche Gefahrenmomente sollten jedoch nicht dazu filhren, in einem gleichsam fatalistischen Sinn vor der Osterweiterung zu erschrecken oder sie gar abzulehnen. Wie jeder geschichtliche Vorgang, dessen Finalität schwer zu bestimmen und zu beurteilen ist, enthält die Ausdehnung nach Mittelosteuropa u. a. auch filr die deutsche Seite eine Reihe von Chancen und Vorteilen. Insbesondere dürfte die deutsche Volkswirtschaft als größter Handelspartner der mittelosteuropäischen Länder von deren Beitritt profitieren. Für die Unternehmen eröffnet der Prozess erweiterte Absatzmärkte. Die Transformation in Is Vgl. Michael Kreile: Die Osterweiterung der Europliischen Union; in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Europa-Handbuch, Bonn 1999, S. 802.
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Mittelosteuropa könnte beschleunigt werden. Als Folge würde der Bedarf an Zulieferungen zur Modemisierung der Infrastruktur und ihrer Produktionsanlagen zunehmen. Auf beiden Seiten würde die Osterweiterung zu einem stärkeren Wachsturn fUhren, wenngleich in einzelnen Sektoren unterschiedlich verteilt. Kurzum: Die traditionell engen Beziehungen deutscher Politik und Wirtschaft mit Mittelosteuropa könnten intensiver als bisher gestaltet werden. 16 Zu den namentlich Deutschland und Österreich betreffenden problematischen Themen gehört die Herstellung der Freizügigkeit von Arbeitskräften und anderen Immigranten aus Mittelosteuropa in die EU. Zu diesem Punkt existieren erhebliche Differenzen zwischen den Prognosen von Fachautoren: In einigen Voraussagen herrscht ein pessimistischer Grundzug vor. In ihnen wird vermutet, dass das Migrationspotential 600 000 bis knapp 1,2 Millionen Menschen betrage. Aufgrund der begrenzten Aufnahmekapazität der westeuropäischen Arbeitsmärkte filhre deshalb kein Weg an einer langen Übergangsperiode vorbei, in der nur eine begrenzte Freizügigkeit schrittweise realisiert werden könne. Für Deutschland gelte, dass es als wichtigster Wirtschaftspartner der Beitrittsländer zwar am meisten von deren Integration profitieren könne, aber auch am stärksten mit den Problemen wie Importkonkurrenz und Migration konfrontiert sein werde. 17 Anderen Studien zufolge werde es allerdings nicht zu einer solch massiven Einwanderungswelle nach Deutschland kommen. Auch die Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt würden - entgegen weit verbreiteten Ängsten - nur marginal sein. Das Deutsche Institut filr Wirtschaftsforschung (DIW) stellt in einem umfassenden Gutachten von Ende Mai 2000 fest, zwar werde die Osterweiterung langfristig den Anteil ausländischer Bürger in Deutschland spürbar erhöhen, aber die Zuwanderung werde sich über einen sehr langen Zeitraum verteilen und wegen des generellen Bevölkerungsrückgangs der Deutschen keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Nach Berechnungen des DIW würde im Fall der Freizügigkeit im Jahr 2002 fUr alle zehn Beitrittskandidaten die Zahl der Zuwanderer im ersten Jahr nur etwa 220 000 Menschen betragen. Dies entspreche weniger als 0,3 Prozent der deutschen Bevölkerung. Von ihnen würden aber tatsächlich nur etwa 80 000 Mittelosteuropäer auf den deutschen Arbeitsmarkt gelangen. Bis zum Ende des Jahrzehnts werde die Zuwanderung auf jährlich ca. 95 000 fallen, hiervon dürften etwa 30 000 Arbeitnehmer sein.
16 Vgl. Peler Becker: Der Nutzen der Osterweiterung filr die Europaische Union; in: integration, Bonn, H. 4/1998, S. 235/236. 17
Vgl. Michael Kreile: Die Osterweiterung der Europaischen Union, a. a. 0 ., S. 808/809.
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Ab dem Jahr 2030 werde es - so das DIW- fast keine neuen Übersiedler mehr geben. Bis dahin werde sich der Anteil der Menschen aus Mittelosteuropa an der Bevölkerung in Deutschland von derzeit etwa 0,6 Prozent auf dann ca. 3,5 Prozent erhöhen. Diese Zahl der Zuwanderer reiche bei weitem nicht aus, um den Rückgang der deutschen Bevölkerung auch nur annähernd auszugleichen. 18 Bezüglich des Beginns der tatsächlichen Osterweiterung existieren auch nach dem EU-Gipfel von Nizza im Dezember 2000 nur unklare Vorstellungen. Die vage Erwähnung des Jahres 2004 ist eine Absichtserklärung der Regierungschefs, aber keine verbindliche Festlegung. Außerdem sollen zu diesem Termin auch nur einige der ersten Kandidaten an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen, nicht etwa alle Länder, mit denen seit längerem Beitrittsverhandlungen gefilhrt werden. Viele Beobachter halten es fil.r fraglich, ob dieser Termin gehalten werden kann. Sie meinen, dass vielmehr "unter der Hand" längst das Datum 2005 akzeptiert worden sei. Manche Autoren halten es sogar fil.r denkbar, das Datum des Beitritts auf2007 festzulegen. 19 Zwar hat die schwedische Regierung fil.r die Zeit ihrer Präsidentschaft im Europäischen Rat (seit Januar 2001) ihre Absicht bekundet, die Osterweiterung der EU entschieden vorantreiben zu wollen, jedoch sind Skepsis und Bedenken über die Erfolgsaussichten angebracht. Dies um so mehr, als die Kritik daran wächst, dass die EU mit zwölf Staaten zugleich Beitrittsverhandlungen begonnen hat. Hieraus könnte - so meinen kritische Beobachter - die Gefahr entstehen, dass die EU zu einer großen Freihandelszone "mit einigen institutionellen Fransen am Rande" (Helmut Schmidt) verflacht. In den hochgespannten Erwartungen der mittelosteuropäischen Länder einerseits und der Entschlusslosigkeit der EU-Staaten andererseits offenbart sich ein schwerwiegendes und lähmendes Dilemma, von dem die deutsche Politik voll betroffen ist. Hieraus einen konstruktiven Ausweg zu suchen und zu finden, darin besteht eine ihrer zentralen, wenngleich auch schwierigsten Aufgaben der nächsten Jahre. 111. Deutsche Vorschläge für ein "Gravitationszentrum" der Europäischen Union
Der von Außenminister Joschka Fischer am 12. Mai 2000 in seiner "HumboldtRede" zu Berlin der Öffentlichkeit unterbreitete Vorschlag, ein "Gravitationszentrum" aus einigen Staaten der EU zu bilden, um der Gefahr der Unbeweg18 Vgl. DIW-Gutachten: Eine Einwanderungswelle wird es nicht geben; in: Berliner Zeitung, 25. Mai 2000, S. 38. 19
Vgl. Sajdik: EU-Erweiterung - Hintergrund, Entwicklung, Fakten, Baden-Baden 1999, S. 183.
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lichkeit der Union vorzubeugen, ist auf ein sehr unterschiedliches Echo gestoßen. Allgemein anerkannt wird der Gedanke, dass eine auf ca. 25 Länder (oder mehr) erweiterte EU zwangsläufig einen äußerst heterogenen Charakter tragen und dass daher eine erhebliche Differenzierung innerhalb der Union erfolgen werde. Die Grundidee des deutschen Außenministers (wie auch die Jacques Delors' u. a.) ist, dass eine kleine Gruppe von EU-Mitgliedern sozusagen als Avantgarde im Prozess der politischen Integration voranschreiten und schließlich den "Nukleus einer Verfassung der Föderation" bilden solle. Allerdings soll ein solcher "Gravitationskern" ein aktives Interesse an der Erweiterung der EU haben. Alle diese Schritte zusammen bedürften eines "bewussten politischen Neugründungsaktes Europas". 20 Einige der Ideen, die ohnehin nicht ganz neu sind21 , erscheinen durchaus einleuchtend und weisen der deutschen Außenpolitik erhöhte Verantwortung und schwere Bürden zu. Allerdings provozieren sie zugleich kritische Fragen nach auftretenden Widersprüchen: Entstehen durch die Bildung eines "Kerns" EUMitglieder erster und zweiter Klasse? Werden dies die weniger "beweglichen" Staaten und Beitrittskandidaten hinnehmen? Führt der Vorschlag zur Herausbildung einer "Union in der Union" und diskriminiert er damit die nicht zum "Gravitationszentrum" gehörenden Mitglieder? Birgt die Initiative insofern neuen Sprengstoff ftlr die Zukunft der EU in sich? Diese Situation deutete sich bereits im Juni 2000 an, als das gewichtigste Land unter den Beitrittskandidaten, nämlich Polen, in einer offiziellen Stellungnahme seiner Regierung betonte, keinesfalls dürfe eine Revision der bisherigen Grundsätze dazu fUhren, dass nicht mehr alle Mitglieder am Prozess der europäischen Integration in vollem Umfang beteiligt wären oder gar die künftigen neuen Mitglieder der EU von wichtigen Integrationsschritten ausgeschlossen würden. 22 Solche und andere Probleme illustrieren das tiefe Dilemma, in dem sich die deutsche Politik und die der Verbündeten in dieser Frage befinden.
20 Vgl. Rede des Bundesministers des Auswartigen, Joschka Fischer, am 12. Mai 2000 in Berlin "Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration"; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, H. 6/2000, S. 752 ff. 21 Vgl. Kar/ Lamers, Variable Geometrie und fester Kern- Zur Debatte ober das Europa-Papier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, H. 12/1994, S. 1467. 22 Vgl. Polen legt Positionen zur Reform der EU-Institutionen vor; in Frankfurter Allgemeine Zeitung, I 7. Juni 2000, S. 8.
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IV. Wie sehen die Partner Deutschlands Rolle? Auch über zehn Jahre nach der Vereinigung steht die Bundesrepublik im Mittelpunkt des kritischen Interesses seiner Nachbarn und Partner. Beobachter aus Ost und West verfolgen den Kurs der deutschen Politik gleichsam mit Argusaugen. Immer wieder stellen sie in wechselnden Modifikationen wichtige Fragen: Wie, in welche Richtung wird das vereinigte Deutschland sein vergrößertes Eigengewicht lenken? In welcher Weise, mit welchem Grad an Selbstbewusstsein und Augenmaß wird es sowohl seinen Bündnispartnern als auch den in die EU strebenden Ländern begegnen? Wie wird das Land mit der Last seiner Geschichte umgehen? Bei west- wie osteuropäischen Nachbarn wollen Stimmen nicht verstummen, die Besorgnisse und Zweifel äußern, ob sich wohl die Bundesrepublik in genügendem Maße in bestehende Bündnisse einordne oder ob sie sich inzwischen auf dem Weg zu einer dominierenden Position in Europa befinde. Die vielbeschworene Harmonie in der Triade Berlin-Paris-London scheint oftmals gestört zu sein. Gerade das Verhältnis zu den verbündeten Mächten Frankreich und Großbritannien ist von Zeit zu Zeit erheblichen Belastungsproben ausgesetzt, um dann von mehr oder weniger glaubwürdigen Bekundungen einer "engen Zusammenarbeit" abgelöst zu werden. So ruft Deutschlands Engagement fUr eine Osterweiterung der EU und fUr eine dichtere Zusammenarbeit mit Russland unter Präsident Wladimir Putin vor allem in Frankreich Verwirrung und Unmut hervor. Dort hat bereits seit längerem eine Debatte um einen zu erwartenden Gewichtsverlust des eigenen Landes in der Weltpolitik und vor allem in der europäischen Staatenkonstellation eingesetzt. Hierbei wird gelegentlich befiirchtet, dass Deutschland als "rücksichtslose Wirtschaftsnation" den französischen Nachbarn degradieren, die "grande nation" an den Rand des kontinentalen Geschehens drängen und dass die Bundesrepublik zur führenden "Zentralmacht" aufsteigen könnte.23 Man gewinnt in Pariser politischen Kreisen zunehmend den Eindruck, dass das bilaterale Verhältnis nicht mehr so "poetisch" zu sehen sei, sondern viel "pragmatischer" als früher geworden ist ( Hubert Vedrine). Die neue Mischung aus deutschem Selbstbewusstsein und Effizienzdenken der "Berliner Generation" könne dazu fUhren, dass im Konfliktfall die Bundesregierung auf Frankreich weniger Rücksicht als zuvor nimmt. 24
23 Vgl. Helmut HubeVBernhard May: Ein "normales" Deutschland? Bundesrepublik in der auslandischen Wahrnehmung, Bonn 1995, S. 70/71.
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24 Vgl. Stephan Martens: Die "Berliner Generation" Deutschlands Befindlichkeiten aus französischer Sicht; in: Internationale Politik, Berlin, H. 9/2000, S. 16.
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Zu massiven Differenzen zwischen Berlin und Paris kam es beispielsweise in der Phase der Vorbereitung und während des EU-Gipfels von Nizza im Dezember 2000. Hierbei ging es um die Gewichtung der nationalen Stimmen im Europäischen Rat, um Fragen der Mehrheitsentscheidungen, um die Zusammensetzung der künftigen Kommission der EU nach ihrer Osterweiterung, um die Sitzverteilung im Europäischen Parlament, um den Zeitplan bei der Aufuahme mittelosteuropäischer Länder in die EU u. a. m. Die Ergebnisse, die nach dem längsten Gipfeltreffen in der Geschichte der EU erzielt wurden, blieben hinter den Erwartungen weit zurück und sind deshalb für viele Seiten unbefriedigend. Man muss nüchtern feststellen, dass deutsche und französische Vorstellungen von der zukünftigen Gestalt der Europäischen Union nicht deckungsgleich sind. Während Berlin dem klassischen Integrationsmuster zuneigt, wonach eine EU mit föderalen Strukturen und einer regierungsähnlichen zentralen Exekutive wünschenswert sei, strebt Paris nach wie vor ein "Europa der Nationen" an, in dem- nach Möglichkeit- die französische Seite den Ton angeben sollte. 25 Einige französische Beobachter meinen, Deutschlands Politik sei (früher) eine Mischung aus Arroganz und Komplexen gewesen, das Benehmen eines Neureichen, der es nicht erwarten könne, Vorrechte zu übernehmen. Seit 1990 fmde sich Deutschland in einer ähnlichen Situation wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder, nur dass Befangenheit und Erinnerung hinzugekommen seien. Die Wiedererlangung der vollen Souveränität bedeute fUr alle eine "Rückkehr ins Ungewisse". 26 Die Vorbehalte der britischen Öffentlichkeit gegenüber deutscher Politik sind weithin bekannt und bedürfen keiner näheren Erläuterung. Aber auch kleinere Nachbarn der Bundesrepublik, wie die Niederlande, sind mitunter von Zwiespältigkeit und Misstrauen erfUIIt, wenn sie auf das vereinigte Deutschland blicken. Hierbei spielen vor allem die unguten Erfahrungen der Geschichte eine wesentliche Rolle. 27 Selbst das Verhältnis zu Nordamerika ist keineswegs störungsfrei. Die Amerikaner erkannten häufig die Janusköpfigkeit im deutschen Volk und reagierten darauf stets mit Unverständnis und auch mit Furcht. 28 Analytiker der USA
25 Vgl. Peter Hort: Die alten Bindungen lockern sich- Nach dem Gipfel von Nizza zeichnen sich neue Einflusssphären in einer größeren EU ab; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 12. 2000, S. 16.
26 Vgl. Philippe De/mas: Über den nachsten Krieg mit Deutschland - Eine Streitschrift aus Frankreich, Berlin-MUnchen 2000, S. 154/155. 27 Vgl. Friso Wie/enga: Vom Feind zum Partner - Die Niederlande und Deutschland seit 1945, MOnster 2000, S. 224/225.
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verweisen auf den Zwiespalt der deutschen Politik, aber auch derjenigen der westlichen Partner. Diese möchten einerseits die Bundesrepublik entsprechend ihrer Wirtschaftskraft an militärischen Belastungen und Verpflichtungen beteiligen. Andererseits haben sie durch die Zeit des Nationalsozialismus erfahren, ''jegliche Demonstration deutscher Macht mit Skepsis zu betrachten". Einige Autoren beftlrchten, dass die "Schamgrenze" der alten Bundesrepublik in der Berliner Republik langsam, aber sicher absinken könnte. Bezüglich deutscher Forderungen nach einer "Normalisierung" außenpolitischen Verhaltens und Auftretens meinen jene Skeptiker: "Wir lehnen ein solches Normalitätsdenken als geflihrlich und ungeeignet ftlr Europa wie ftlr Deutschland ab."29 Das Deutschlandbild in den Vereinigten Staaten wird von neonazistischen Ausschreitungen und von Erinnerungen an die Verbrechen im "Dritten Reich" stärker als in anderen Ländern bestimmt. Dort gibt man zu verstehen, die USA würden stets daftlr Sorge tragen, dass die Deutschen mit ihrer Vergangenheit und den heute im Land lebenden Ausländern "angemessen" umgehen. Insofern - so wird gelegentlich bemerkt - besitze Deutschland nur eine "eingeschränkte Souveränität". Amerikanische Unterhändler übergaben in Berlin sogar eine in den USA vorbereitete Rede ftlr Bundespräsident Rau, die dieser anläßlich der Entschädigung von Zwangsarbeitern in der NS-Zeit halten sollte. 30 Das skizzierte Panorama zeigt die Schwierigkeiten und Fährnisse deutscher Außenpolitik der letzten Jahre. Für jede Bundesregierung dürfte es eine Gratwanderung sein, einerseits legitime Interessen zu artikulieren und durchzusetzen, andererseits aber auch sensibel auf das Echo des Auslands zu achten. Insofern ist Deutschlands Rolle in Europa seit 1990 zwar aufgewertet und verstärkt worden, aber von einer "Normalität" im Sinne anderer Nationalstaaten noch immer weit entfernt und von der Last der Geschichte fortwährend beschwert. V. Das deutsch-russische Verhältnis: Zwischen Konflikt und Kooperation Im Ergebnis der über zehnjährigen Beziehungen des vereinten Deutschlands zu Russland hat sich die Erkenntnis immer stärker herausgeschält, dass die positive Gestaltung dieses Verhältnisses zu den wichtigsten und zugleich problematisch28 Vgl. Wulf Schmiese: Fremde Freunde - Deutschland und die USA zwischen Mauerfall und Golfkrieg, Paderbom-München-Wien-Zürich 2000, S. 233/234.
29 Vgl. Andrei S. Markovits/Simon Reich: Das deutsche Dilemma - Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht, Berlin 1998, S. 22123. 30 Vgl. Niko/as Busse: Das Missverstandnis der eingeschrankten Souveranitat; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 12. 2000, S. 16.
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sten Aufgaben deutscher Politik gehört. Ausgangspunkt einer solchen Betrachtung ist die Prämisse, dass Russlands Zukunft vor allem in Europa und nicht so sehr in Asien liegt. Es ist zu Recht ein Anliegen deutscher Politik, Moskau möge sich stärker auf seine Rolle in Europa konzentrieren, sich vornehmlich als europäische Macht defmieren und legitimieren. Deutsche Außenpolitik ilirdert eine stärkere Verankerung Russlands in Europa durch eine bilaterale strategische Partnerschaft. Hierzu gehören ein intensivierter politischer Dialog, häufigere Treffen auf höchster Ebene, regelmäßige Konsultationen der Außenministerien, die Einrichtung einer Strategischen Arbeitsgruppe fiir Wirtschafts- und Finanzfragen sowie die Unterzeichnung mehrerer Abkommen fiir Großprojekte im Wirtschaftsbereich. Es gibt also Anzeichen fUr eine neue Qualität in den bilateralen Beziehungen. Gleichzeitig sind Defizite und Probleme im beiderseitigen Verhältnis unübersehbar. Der mit barbarischen Mitteln gefil.hrte Krieg in Tschetschenien, die damit verbundenen Verletzungen der Menschenrechte, der unverhältnismäßige Einsatz militärischer Gewalt in jenem Gebiet, auch gegenüber Zivilisten, belasten das deutsch-russische Verhältnis erheblich. Deutsche Politiker mahnen an, im russischen Eigeninteresse eine noch deutlichere Abgrenzung der heute Verantwortlichen vom System Stalins und Lenins vorzunehmen. Solche Hinweise schließen eine klare Distanzierung von dem Unrecht ein, das den baltischen Staaten in der Vergangenheit widerfahren ist. 31 Die deutsche Politik ilirdert das Ziel, Russland in einen gemeinsamen europäischen Wirtschafts- und Sozialraum zu integrieren. Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU einschließlich der Perspektive in langer Frist, eine Freihandelszone zu bilden, sind geeignete Schritte auf diesem schwierigen Weg. Deutschlands Eliten wie die der EU-Partner unterstreichen, dass es gilt, dem geschwächten Russland beim Eintritt in die Modeme und beim Anschluss an die europäischen Sicherheitssysteme helfend zur Seite zu stehen. Es können auch die West-, Mittel- und Mittelosteuropäer nicht in Sicherheit leben, solange Russland nicht einen integrierter Teil des großen Kooperationsrahmens bildet, in dem eine allseitige Stabilität gewährleistet ist. 32 Bei alledem ist festzuhalten, dass Russland seit 198911990 gegenüber Deutschland keinen geradlinigen, sondern einen diskontinuierlichen Kurs eingeschlagen hat. Nach der weltgeschichtlichen Wende in Europa sah die russische Regierung die westlichen Staaten unvermittelt als die "natürlichen Verbündeten" Moskaus 31 Vgl. Wolfgang Jschinger: Die Zukunft Russlands liegt in Europa; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, II. Juli 2000, S. 12. 32 Vgl. Ange/a Stent: Rivalen des Jahrhunderts - Deutschland und Russland im neuen Europa, Berlin 2000, S. 284 ff.
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an. Bei der Lösung vieler Aufgaben des Landes zählte der Kreml auf die zuverlässige Partnerschaft mit ihnen. Russland müsse - so der damalige Außenminister Andrej Kosyrew - mit jenen Staaten eng kooperieren, da Moskau ähnliche Interessen wie sie habe. Bei diesem Bemühen habe die Russische Föderation in der Bundesregierung einen wichtigen Ansprechpartner gefunden. Aufgrund mehrerer gemeinsamer Interessen sei diese am ehesten bereit, Russland zu unterstützen und mit ihm zusammenzuarbeiten. Jelzin war damals der Auffassung, dass Russland dorthin zurückkehren müsse, wo es früher gewesen sei, nämlich in die Entente, in das "Konzert der Westmächte". Die Bundesrepublik übernahm im Verlauf dieser Neuorientierung der russischen Politik fiir Moskau mehr und mehr die Rolle einer "Brücke nach Europa". In Moskau war man überzeugt, dass Russland eine aktive Stabilisierungsrolle auch für Mittelosteuropa nur spielen könne, wenn es eng mit Deutschland zusammenarbeitet und dabei berücksichtigt, dass viele Interessen beider Staaten zusammenfielen. Besonders Außenminister Kosyrew und andere atlantisch orientierte "Westler" ("zapadniki") um Präsident Jelzin traten in jener Phase fiir die kompromisslose Hinwendung ihres Landes zu Westeuropa ein. Nach deren Auffassung war die jahrzehntelange Trennung Russlands vom übrigen Europa gegen die nationalen Interessen gerichtet gewesen. Damit folgten Kosyrew und Jelzin in ihren Überlegungen denen des "neuen politischen Denkens" der Gorbatschow-Ära. Die russische Regierung war in ihren außenpolitischen Positionen nahe an diejenigen der Bundesrepublik gerückt. Nach Auffassung der nunmehr ruhrenden Außenpolitiker sei die frühere Überlegenheit der Sowjetunion trügerisch gewesen, weil sie hauptsächlich aufmilitärischer Macht basiert habe. 33 Der Kosyrew im Amt nachfolgende Jewgenij Primakow, der politisch eher zentristisch ausgerichtet war, fiihrte das skizzierte Konzept zwar fort, aber er schloss eine alleinige "strategische Allianz" mit der Bundesrepublik und anderen Mitgliedern der EU aus. Vielmehr sollte Russland nunmehr eine Strategie "gleicher Partnerschaft" auch mit den Machtzentren USA, China und Japan anstreben. Seit Oktober I 992 gab es neue Akzente in der russischen Außenpolitik. Jelzin kritisierte die Arbeit des Außenministeriums, das zu geringe Anstrengungen hinsichtlich der Staaten Mittelosteuropas unternommen habe. Lediglich in der Zusammenarbeit mit westlichen Länden habe es gewisse Erfolge aufzuweisen. Jedoch werde Russland dort als ein Land wahrgenommen, das gegenüber den Initiativen des Westens immer nur "Ja" sage. Russland dürfe nicht länger zögern, über seine nationalen Interessen offen zu sprechen. Im Januar 1993 wurde ein neues außenpolitisches Konzept veröffentlicht, in dem erstmals die Gorbat33 Vgl. Tanja Wagensohn, Von Gorbatschow zu Jelzin- Moskaus Deutschlandpolitik (1985-1995) im Wandel, Baden-Baden 2000, S. 196-199.
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schowsche Politik des "neuen Denkens" kritisiert und eine Außenpolitik zur Stärkung des russischen Staates gefordert wurde. Auch zeigte sich Moskau über die Hilfeleistungen der westlichen Industrienationen enttäuscht. Man stellte in Moskau fest, dass sich ein "entscheidender Aspekt" verändert habe. Der "Hebel DDR" stand dem Kreml nicht mehr zur Verfilgung, um die Bundesrepublik zu finanziellen Unterstützungen zu animieren. Nach der Vereinigung und dem Ende der UdSSR rückten filr die Bundesregierung andere, mit den Schwierigkeiten des Vereinigungsprozesses zusammenhängende Probleme in den Vordergrund. Insgesamt entstand in den deutsch-russischen Beziehungen ein Geflecht von Konflikt und Kooperation. Im Verhältnis Berlin-Moskau ist zu beobachten, dass Präsident Putin in einem ähnlichen Dilemma wie seine Vorgänger Gorbatschow und Jelzin steckt: Ein zu starkes Nachgeben gegenüber den Vorstellungen der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten oder gar eine Art "Verwestlichung" Russlands würde Putin auf einen Kurs der Konfrontation mit den Militärs und den konservativen Teilen der Herrschaftselite des eigenen Landes treiben. Ein ständiges Lavieren zwischen Liberalen und Reformgegnern wiederum würde die zügige Entwicklung des großen Landes bremsen. In jedem Fall existiert eine Reihe von Problemen in den bilateralen Beziehungen Berlin-Moskau wie auch im Verhältnis Russland-Westen generell. Die deutsche Außenpolitik und die ihrer Verbündeten wünschen eine "europäische Normalität", welche die Anerkennung Russlands als einer bedeutenden Macht in den internationalen Beziehungen einschließt, aber keinerlei Unterstützung filr Ambitionen Moskaus auf unangemessene Großmachtambitionen bedeutet. Ein seit langem schwelender Streitpunkt in den deutsch-russischen Beziehungen betrifft die Ausdehnung der NATO nach Osten, also die bereits vollzogene oder aber die beabsichtigte Aufnahme weiterer mittelosteuropäischer Staaten in den Nordatlantikpakt. In Moskau heißt es, dieser Vorgang tarne nur die Ansprüche der NATO, in immer mehr Regionen Einfluss gewinnen zu wollen. Die Ostausdehnung der NATO rücke potentielle Gegner einander näher; die Wahrscheinlichkeit eines Krieges könnte eines Tages wieder zunehmen. 34 Nach Ansicht der russischen Diplomatie sollte die NATO in eine neue euroatlantische Organisation zur Gewährleistung der europäischen Sicherheit unter Berücksichtigung der Interessen Russlands transformiert werden. Der Kurs der NATO auf ihre Ausdehnung nach Osten lege hingegen Grundlagen filr künftige, gefährliche Krisen. Im Falle des Beitritts vieler Staaten Mittelosteuropas, insbesondere des Baltikums, werde auf dem Kontinent eine grundsätzlich neue Situation entstehen, welche die politischen, militärischen und ökonomischen Interes34
Vgl. ebenda, S. 274.
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sen Russlands stark bertlhre und "angemessene Schritte" zum Schutz Russlands erforderlich mache. Hierzu gehöre u. a. auch die Suche nach Verbündeten "im Osten", also nach einer Allianz mit China und Indien. Für die deutsche Außenpolitik gilt es, die objektive Interessenlage Russlands und dessen subjektive Wahrnehmung der Osterweiterung der NATO zu berücksichtigen. Dies schließt den Umstand ein, dass die russische Seite in der Ostausdehnung der NATO eine erhebliche Beeinträchtigung des russischen Einflusses in Europa erblickt, zugleich eine Barriere filr ihre gleichberechtigte Teilnahme an einem zu erarbeitenden System der gesamteuropäischen Sicherheit und Stabilität. 35 VI. Fazit Aus der Fülle der Probleme, denen die deutsche Außenpolitik gegenübersteht, lassen sich die Schwierigkeiten, Verwicklungen und Unübersichtlichkeiten ihrer zukünftigen Aufgaben ermessen. Dass eine Lösung der verzwickten Fragen nicht im deutschen Alleingang zu bewältigen sein wird, steht filr jeden Einsichtigen außer Frage. In dieser Hinsicht muss sich die Solidarität der Verbündeten und ihr Zusammenwirken sichtbar erweisen. Dies gilt in besonderem Maße fUr die vertrackte Doppelaufgabe einer sinnvollen Osterweiterung der EU und ihrer angemessenen Vertiefung unter Berücksichtigung auch nationaler und regionaler Interessen.· Die erwähnten Zukunftsprojekte greifen weit über die nationale Außenpolitik eines einzelnen, in der Mitte Europas gelegenen Staates hinaus und können in keinem Fall nur auf bilateralem Wege gelöst werden. Das Dezennium deutscher Außenpolitik seit der Vereinigung vermittelt lediglich eine Zwischenbilanz des bisher Erreichten: Nur die Historiker werden eines Tages im Rückblick bewerten können, welche der vielfachen Probleme die schwerer zu lösenden Fragen gewesen sind: diejenigen der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands seit 1990 oder die äußeren Aspekte der ungewohnt neuen Rolle unseres Landes in der Dekade 1990-2000.
3 ~ Vgl. Boris A. Schmeljow: Ist Russlands Nein endgültig?; in: WeltTrends, Berlin, H. 10 (März 1996), s. 76 ff.
Keine falschen Mythen: Wir haben die innere Einheit schon! Von Hans-Joachim Veen Die staats- und völkerrechtliche Vereinigung bescherte uns ein weiteres Vereinigungsproblem, die sogenannte "innere Einheit". Gerade im Jubiläumsjahr 2000 wurde sie wieder viel beschworen, als ein Fernziel, von dem wir auch mehr als zehn Jahre nach der Vereinigung bisher vor allem wissen, daß wir noch ziemlich weit von ihm entfernt sind, weil wir innerlich eben noch nicht zusammengewachsen seien, äußerlich zwar vereint, aber noch nicht wirklich eins seien. Glaubt man Bundeskanzler Sehröder und Bundestagspräsident Thierse oder dem SPIEGEL im Jubiläumsherbst, haben wir im Oktober 2000 gerade mal "die Hälfte" des Wegs zur inneren Einheit zurückgelegt und die zweite Hälfte, so Thierse, werde vielleicht nicht weniger beschwerlich. Und Gregor Gysi setzt in der "Internationalen Politik" noch einen drauf mit seiner Behauptung, daß die Vereinigung sogar die "geistig-kulturelle Spaltung vertieft" habe. Die Vollendung der Einheit bleibt uns also noch aufgegeben. Aber wohin wir sie vollenden sollen, was eigentlich alles zusammenwachsen, eins werden soll, das weiß bis heute niemand genau zu sagen. In der Tat ist bis heute völlig unklar, auf welchen Zustand die wohlfeile Metapher von der inneren Einheit eigentlich abzielt, was alles gegeben sein muß, um zum Traumziel zu gelangen. Eine auch nur einigermaßen greifbare, abgrenzbare Definition gibt es nicht, alles ist im Fluß, alles ist Prozeß und vor allem Defizit und Beklagen von Unterschieden zwischen Ossis und Wessis. Die wichtigste Folge ist, daß die Forderung nach innerer Einheit längst zu einem parteienpolitischen Instrument in der Ost-West-Auseinandersetzung über knappe Mittel geworden ist. Mehr noch: Das Bestreiten der inneren Einheit, die Betonung ihrer Defizite trägt teils gewollt, teils ungewollt zur permanenten Delegitimierung der Vereinigung und des politischen Systems der Bundesrepublik und seiner wesentlichen Prinzipien bei. Eine weitere Folge ist, daß sich fUr die Forschung ein nahezu unbegrenztes Feld eröffnet. Kein Bereich der menschlichen Existenz bleibt verschont: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Verglichen werden politische Kultur und Alltagskultur, Mentalitäten, Werthaltungen, Vorurteile, Konsum- und Freizeitverhalten sowie individuelle und kollektive Psyche, wohlgemerkt, alles im Ost-West-Vergleich. Selbst das Liebesleben der Westund Ostdeutschen wird zum Prüfstand der inneren Einheit. Zwei jüngere For-
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schungsergebnisse mögen das illustrieren: "Die Jugendlichen in Ost und West verlieben sich zur gleichen Zeit" überschrieb beispielsweise die FAZ ihre Berichterstattung über eine aktuelle Jugendstudie unter jungen Ost- und Westdeutschen. Die Genugtuung darüber, daß wir endlich so weit sind, war unüberhörbar, also ein Erfolg der inneren Einheit! Allerdings kamen gleichermaßen engagierte psychologische Untersuchungen über Körper-gefühl und Sexualverhalten der West- und Ostdeutschen vor einiger Zeit zu dem Ergebnis, daß sich beide in beidem noch beträchtlich unterscheiden, wobei die Ostdeutschen offenbar das positivere Körpergeftlhl haben - ein bedenkliches Defizit an innerer Einheit, das tunliehst abzubauen ist! Ich greife weitere Untersuchungsansätze der letzten Jahre heraus. Den einen geht es um die kulturelle und mentale Verwestlichung der Ostdeutschen als Ziel der inneren Einheit, andere fordern, bescheidener, nur die mentale Zusammenfilhrung beider Teile, das heißt, die Überwindung einer sogenannten "Mentalitätslücke". Wieder andere problematisieren unterschiedliche politische Wertorientierungen, da die Ostdeutschen gleichheitsorientierter, die Westdeutschen freiheitsorientierter seien und beide die Soziale Marktwirtschaft unterschiedlich interpretieren, die Ossis staatsdirigistischer, die Wessis marktbestimmter. Für viele liegt die innere Einheit in gleichen ökonomischen Verhältnissen, Einkommen, Lebensstandards, Produktivität, Arbeitslosenzahlen. Manche heben auf die ausgeprägten Vorurteile der Wessis gegen Ossis und umgekehrt ab, sehen in dem Auseinanderfallen von larmoyanten "Jammer-Ossis" und arroganten "BesserWessis" große Defizite auf dem Weg zur inneren Einheit. Wieder andere arbeiten unterschiedliche Demokratieverständnisse, im Osten ausgeprägter plebiszitär, im Westen repräsentativ und parteienstaatlicher als Hemmnisse innerer Einheit heraus. Doch damit nicht genug. Wenn etwa, wie vom Hallenser Sozialpsychologen Hans-Joachim Maaz, innere Einheit als "innere Demokratisierung" verstanden wird und die Selbstbefreiung der Deutschen in West und Ost in einem "inneren Reinigungsprozeß" (wovon, wozu eigentlich?) gefordert wird, gewinnt man vollends eine bange Ahnung davon, was alles gemeint sein kann, wenn die innere Einheit umfassend ins Visier genommen wird. Wo es um Innerlichkeit geht, sollten wir Deutsche nach wie vor besonders auf der Hut sein. Wie gesagt, eine positive Bestimmung, genauer gesagt, eine Eingrenzung von innerer Einheit sucht man vergeblich. Aber wendet man die Konstatierung der noch bestehenden Unterschiedlichkeiten ins Positive, laufen sie in der Summe, mehr implizit als explizit auf die fortschreitende Homogenisierung, die Einebnung aller politischen Einstellungen, aller Werthaltungen, Weltanschauungen, Mentalitäten, Vorurteile, Sympathien und Antipathien, Verhaltensweisen Lebensstile und Empfmdungen hinaus. Die innere Einheit idealiter scheint erst dann wirklich vollendet, wenn die totale Gleichartigkeit aller in allem hergestellt ist, wenn am Ende der völlige Gleichklang der Seelen und Herzen, des Denkens und Fühlens und Handeins gegeben ist. Soll die Einheit etwa grenzenlos sein? Das Ideal einer neuen, uniformen Gesellschaft ist nirgendwo formuliert. Es ist aber implizit, als
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logischer Umkehrschluß der Konstatierung ihrer Defizite in den Hinterköpfen lebendig. Kaumjemand will sie bewußt, die Volkseinheit total. Aber wir sind gebrannte Kinder des NS-Totalitarismus und müssen penibel darauf achten, daß das wabernde Einheitsgerede nicht unreflektiert und unter der Hand zu einem Einfallstor fiir einen neuen Gemeinschaftsmythos werden kann, die innere Einheit quasi die ""blaue Blume" der neo-romantischen zweiten deutschen Einheitsbewegung wird. Deshalb ist es dringend geboten, den Begriff endlich einzugrenzen auf das, was an Gemeinsamkeit und an substantieller Übereinstimmung fiir den inneren Zusammenhalt des vereinten Deutschlands wirklich unverzichtbar ist, was Konsens sein muß und diesen Bereich abzugrenzen von dem, was legitimerweise kontrovers in der Demokratie sein kann. Doch waren die legitimen Grenzen des Konsensbereiches bis heute nie das Thema der Sozialwissenschaften, im Gegenteil, wir beobachten statt dessen eine fast grenzenlose Ausweitung der wünschbaren Übereinstimmungen. Dies zeigt sich etwa, wenn die wechselseitigen Vorurteile zwischen Wessis und Ossis zum Hemmnis innerer Einheit erklärt werden, als hätte es zwischen den Landsmannschaften in der alten Bundesrepublik, zwischen Ostfriesen und Bayern, Berlinern und Kölnern, Schwaben und Badenern nie entsprechend unfreundliche Stereotypen gegeben. Aber diese Stereotypen bereichern bis heute das lliderale Kolorit Deutschlands. Es gibt sie übrigens auch sehr ausgeprägt zwischen Sachsen und Berlinern und Berlinern und Brandenburgern, nur paßt das nicht in das beliebte Ost-West-Schema. Auch wenn immer wieder über die sogenannte "Mentalitätslücke" zwischen West- und Ostdeutschen geklagt wird, muß man zurückfragen: Wer hat denn je die mentalen Unterschiede zwischen süddeutschen Katholiken, norddeutschen Lutheranern und schwäbischen Pietisten, Rheinländern und Preußen zu einem Problem der inneren Einheit in Westdeutschland gemacht? Ein besonders prominentes Beispiel filr die Ausweitung des Konsensbereichs idealiter ist der immer wieder dramatisch von Demoskopen" namentlich dem Institut filr Demoskopie Allensbach, präsentierte Unterschied der politischen Wertorientierungen und der Vorstellungen von Sozialer Marktwirtschaft bei Ostund Westdeutschen. So wird den Ostdeutschen fast ein revolutionäres Republikverständnis unterstellt, wenn sie im klassischen Widerstreit zwischen Freiheit und Gleichheit in der Gesellschaft gegenwärtig, wie die Erhebungen zeigen, der Forderung nach mehr sozialer Gleichheit Vorrang einräumen. Ist das aber mit Blick auf die realen Unterschiede der Einkommen im öffentlichen Dienst und der privaten Vermögen, mit Blick auf das wirtschaftliche Geflille und die doppelt so hohen Arbeitslosenzahlen nicht allzu plausibel? Spiegelt das nicht schlicht die unterschiedlichen konkreten Erfahrungshorizonte wider? In Westdeutschland besteht die ausgeprägte Neigung, diese Unterschiede ideologisch, marxistisch tiefengeprägt zu interpretieren. Manchmal gewinnt man den Eindruck, daß einige Institute fiir Demokopie mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung immer noch in den Schützengräben des Kalten Krieges kämpfen und einer Vorstellung
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vom sozialistischen Menschen verhaftet sind, das zwar dem totalitären Gestaltungsanspruch des DDR-Regimes entsprach, aber nicht den Menschen in der DDR. Diese Fehleinschätzung geht ironischerweise auf eine ältere, aus den USA importierte Sozialisationstheorie der frühen Prägung und nachhaltigen Formung der Menschen zurück, die auf die Ostdeutschen gewendet, deren frühe sozialistische Prägung durch Ideologie und Erziehung und ihre nachhaltige Deformierung bedeutete, von der sie sich bis heute nicht wii-klich befreien konnten. Doch wie prägend der DDR-Sozialismus am Ende wirklich war, ist höchst umstritten. Denn die ältere Sozialisationstheorie kann vor allem zwei Fragen nicht beantworten: Weshalb es überhaupt zur fortschreitenden Delegitimierung der DDR bereits in den frühen 80er Jahren kommen konnte, wie wir aus Umfragedaten des DDR-Zentralinstituts ftlr Jugendforschung in Leipzig wissen und: wie 1989 die friedliche Revolution gelingen konnte? Bei früher mentaler Prägung und dauerhafter Verinnerlichung einer sozialistischen Identität hätte das alles gar nicht passieren dürfen. Waren die Menschen etwa nur verblendet? Wurden sie nur ftlr einen Moment hingerissen, weil ihnen quasi "alles Banane" war und sie entgegen ihren eigentlichen Interessen handelten? Die traditionelle Schule der Soziologie in Westdeutschland unterstellt dies durchaus und konservative Wessis stehen hier Seit' an Seit' mit der alten Linken in der PDS. Sie operieren damit in bedenklicher Weise mit Unterscheidungen von objektiver Tiefenprägung und subjektiver Stimmung, einem klassischen Interpretationsmuster des Marxismus. Aber selbst wenn wir eine Phase euphorischer Verblendung im Herbst 1998 einmal unterstellen, erklärt dies den Verfall der Zustimmung zum DDR-Regime lange vor der Wende, nämlich spätestens seit Anfang der 80er Jahre nicht. Denn da war ja im Grunde noch alles stabil in den Händen der DDR-Machthaber, Mediensystem, Staatssicherheit, Wirtschaft, Kultur, Bürokratie und Gesellschaft. Plausibler erscheint mir eine häufig unterschätzte ganz andere Erklärung, daß nämlich die Mauer am Ende gar nicht so dicht war, daß die Abschottung und Indoktrination gar nicht so perfekt gelangen, wie im Westen häufig angenommen worden ist. Das Bezugssystem der Ostdeutschen war immer die Bundesrepublik. Die meisten DDR-Bürger konnten West-Medien empfangen. Sehr nachdrücklich hat Richard Sehröder dies in der ZEIT einmal formuliert: "Zur ostdeutschen Identität gehörte der ständige, oft nur verstohlene Blick über die Mauer nach drüben. Und dieses drüben waren nicht Österreich oder die Schweiz, wo es sich ja auch ganz gut leben läßt, sondern immer der andere Teil Deutschlands. Wir waren über das Fernsehen jeden Abend Zaungäste des Westens." Sehröder beschreibt hier die sogenannte virtuelle West-Sozialisation mittels Kommunikation, die auch von der DDR nicht verhindert werden konnte, auch wenn man sie ständig zu stören versuchte. Diese virtuelle West-Sozialisation war durch die Scheinwelt des Fernsehens natürlich hochgradig verzerrt. Aber immerhin waren die meisten Ostdeutschen über die gesamte Phase des DDR-Regimes und des Versuchs der totalitären Abschottung und Unterdrückung fast ständig in der Lage, zu vergleichen und fremde Erfahrungen aus dem Westen zu verarbeiten.
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Damit konnten sie sich aber auch immer ein gutes Stück selbst bestimmen, waren der DDR-Propaganda geistig und psychisch also nicht total ausgeliefert. Denn sie kannten eben doch eine andere Welt mit anderen Optionen. Und diese Welt rückte nach dem Grundlagenvertrag 1972 und der KSZE-Schlußakte von Helsinki 1975 mit der Verbesserung der kommunikativen Rahmenbedingungen fiir die Ostdeutschen noch näher. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich also, daß die Phase der vollständigen Abschottung relativ kurz war. Am perfektesten gelang sie vom Mauerbau 1961 bis Ende der 70er Jahre, als die Schlußakte, auf die sich viele Oppositionelle und Bürgerrechtler in der DDR damals ausdrücklich beriefen, den freien Zugang zu Informationen fortschreitend erleichterte. Die Westdeutschen haben also im Hinblick auf die kommunikativen und sozialisatorischen Rahmenbedingungen der Ostdeutschen noch einiges nachzulernen, obwohl man den Eindruck hat, daß vielerorts lieber alte Ressentiments gepflegt werden. Dies wird besonders deutlich, wenn etwa die "Mentalitätslücke" zwischen Ossis und Wessis beklagt wird und ein grundsätzlicher mentaler Unterschied darin gesehen wird, daß den Ostdeutschen soziale Sicherung und eine aktive Rolle des Staates in der Wirtschaft bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wichtiger ist, als das freie Spiel der Kräfte, das im Westen angeblich so hoch gehalten wird. Ist aber die Forderung nach sozialer Sicherheit nicht allzu verständlich bei den wirtschaftlichen Umbrüchen und Arbeitslosenquoten in den neuen Ländern? Man muß das keineswegs als ein Beharren auf sozialistischen Staatsvorstellungen interpretieren. Die gegenwärtigen Forderungen in Ost und West an die Rolle des Staates markieren alles andere als ein Problem der inneren Einheit. Sie deklinieren nur eine traditionelle Konfliktlinie der westdeutschen Nachkriegspolitik neu, in der zwischen den Parteien und den großen organisierten Interessen der Gewerkschaften und Unternehmen immer wieder um eher egalitäre und staatsdirigistische bzw. eine eher freiheitlich-marktwirtschaftliche Position gerungen wurde und heute wieder verschärft gerungen wird. Im übrigen offen-bart sich gerade im Sozialstaatsverständnis eine tiefe Gemeinsamkeit, die weit hinter die Teilung in die Bismarcksche Sozialgesetzgebung zurückreicht Wenn es kriselt, wird von Ost- wie Westdeutschen gleichermaßen nach dem filrsorglichen Staat gerufen. Damit ist der Blick bereits auf die ökonomische Seite der inneren Einheit gerichtet, die im Alltagsverständnis häufig in der Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse und wirtschaftlichen Entwicklungen gesehen wird. So wird der Aufbau einer dem Westen vergleichbaren Industriestruktur gefordert, die Angleichung der Einkommen und Lebensstandards und der Arbeitslosenquoten, ein gleiches Warenangebot in den Lebensmittelketten in Ost und West und dasselbe Konsumverhalten. Wo letztere nicht gegeben sind, also Rotkäppchensekt im Osten und Henkeil Trocken im Westen konsumiert werden, wird das als Defizit an innerer Einheit gewertet. Es war schon auffiHlig, daß Staatsminister Schwanitz in seiner Regierungsbilanz im Herbst 2000 die Angleichung des
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Konsumverhaltens besonders positiv herausstrich. Alles in allem scheinen sich inzwischen die Erwerbseinkommen und Rentenhöhen weitgehend angeglichen zu haben, sie liegen im Osten im Schnitt bei 90 % der Westeinkommen. Die Produktivität ist in den neuen Ländern meist deutlich geringer, wenn auch in den Sparten sehr unterschiedlich. Ihre Angleichung soll nach seriösen Schätzungen noch etwa 15 bis 20 Jahre dauern. Am gravierendsten ist die Differenz bei den Arbeitslosenzahlen. Allerdings muß hier unterschieden werden. Auch in Westdeutschland gibt es alte Industrieregionen und Randgebiete mit Arbeitslosenquoten, die ähnlich hoch sind wie in den neuen Ländern. Dies gilt im Saarland, in Bremen und in mehreren Großstädten des Ruhrgebietes, wo ja auch etliche Millionen Menschen leben. Um nicht mißverstanden zu werden: Der Abbau des wirtschaftlichen Gefiilles ist ein wichtiges politisches Desiderat und der Abbau der Arbeitslosenzahlen auch moralisch geboten. Doch in wieweit dürfen unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen und Arbeitslosenquoten zu Kriterien innerer Einheit gemacht werden? Auch in der alten Bundesrepublik klafften ja blühende Landschaften und wirtschaftsschwache Gebiete immer beträchtlich auseinander. Ein Blick zurück zeigt, daß es immer ein Nord-Süd-Gefiille gab. Das gesamte Zonenrandgebiet von SchleswigHolstein bis Bayern blieb jahrzehntelang wirtschaftsschwach und subventionsabhängig. Die regionale Wirtschaftsilirderung in der alten Bundesrepublik hat die Unterschiede nie dauerhaft aufheben können. Aber ein Problem der inneren Einheit war das nie, weil die sozialen und ilideralen Ausgleichsmechanismen funktionierten, die auch heute zwischen West- und Ostdeutschland und auch unter den alten Ländern wirksam sind. In den neuen Ländern entwickelt sich die Wirtschaft längst höchst unterschiedlich mit Thüringen und Sachsen als Vorreitern. Beide Länder gehören vielleicht schon bald zu den Geberländern im Länderfinanzausgleich, während das Saarland, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bremen voraussichtlich noch lange Nehmerländer bleiben dürften. Wir sollten uns also davor hüten, die wirtschaftliche Angleichung und die daran geknüpften Forderungen nach einheitlichen ökonomischen Bedingungen zu Postulaten der inneren Einheit zu machen. Damit würden Erwartungen geweckt, die unter den neuen europäischen Rahmenbedingungen ohnehin national nicht mehr steuerbar sind und am Ende nur dazu taugen, die Wirklichkeit zu denunzieren und das vereinte Deutschland zu delegitimieren. Entscheidend ist nach alledem, daß das Ziel der inneren Einheit strikt auf die Legitimitätsgrundlagen des Grundgesetzes und den gemeinsamen Willen, in diesem Verfassungsstaat zusammenleben zu wollen, begrenzt bleiben muß. Innere Einheit bedeutet dann die Zustimmung der Bürger zu den gemeinsamen Grundlagen der staatlichen Ordnung, die das Grundgesetz formuliert. Die Anforderungen an die innere Einheit dürfen substantiell also nicht weiter reichen, nicht mehr an Einheitlichkeit einfordern, als der Grundkonsens des Grundgesetzes verlangt. Und dieser Konsens kann unter den Bedingungen von pluralistischer, liberaler Gesellschaftsentwicklung nur ein Minimalkonsens sein. Was muß er
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umfassen? Zunächst die Grundentscheidungen der Verfassung, das heißt einerseits ihre wesentlichen Verfahrensprinzipien, andererseits ihre materiellen Festlegungen. Zu den Verfahrensprinzipien gehören die Akzeptanz des Mehrheitsprinzips, freie Wahlen, zeitliche Befristung politischer Ämter, freie Konkurrenz und Chancengleichheit der Parteien, Offenheit des politischen Prozesses, Legitimität des Interessenpluralismus. Dazu gehören auch Gewaltfreiheit und die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Zu den materiellen Festlegungen des Grundgesetzes zählen die Anerkennung der Grund- und Menschenrechte und der Staatsstrukturprinzipien des Artikels 20, die die Bundesrepublik als demokratischen und sozialen Bundesstaat sowie als gewalten-teilenden Rechtsstaat definieren. Dazu gehört schließlich das Vertrauen in die demokratischen Institutionen in der Bevölkerung, wobei das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit von zentraler Bedeutung ist. Zum Grundkonsens gehören meines Erachtens auch: die Soziale Marktwirtschaft als regulative Idee und die Einbindung der Bundesrepublik in die Europäische Union und das transatlantische Verteidigungsbündnis. Sie liegen teils in der Verfassungslogik oder gehörten von Anfang an zur Staatsräson der Bundesrepublik. Zweitens aber muß es nach über 40 Jahren der Trennung eine Identifikation beider Teile mit dem vereinten Deutschland geben, also den nachhaltigen Willen zur Einheit, das Eins-sein-wollen als Nation, das Nicht-zurück-wollen in die Teilung, das republikanische "plebiscite de tous les jours", das eine Nation seit der französischen Revolution ausmacht. Diese beiden Grundpfeiler: Grundkonsens und Wille zur Nation scheinen mir die notwendigen, aber auch hinreichenden Kriterien filr innere Einheit zu sein. Jede Erweiterung dieses Minimalkonsenses würde die legitime gesellschaftliche Pluralität und Freiheitlichkeit, die politische, gesellschaftliche und kulturelle Lebensluft der Bundesrepublik unzulässig einschnüren. Sie ginge zu Lasten der Offenheit des politischen Prozesses und entspräche weder den Legitimitätsgrundlagen der zweiten deutschen Republik noch der notwendigen Balance zwischen Konsens und Konflikt in unserem Land. Die Vereinigung hat Deutschland ja auch in eine neue Größenordnung gesellschaftlicher und politischer Vielfalt katapultiert. Mit der Vereinigung werden die Deutschen naturgemäß mehr innere Differenzierung, mehr Farbigkeit, mehr Konflikte akzeptieren müssen, wie es in einem SO-Millionen-Volk im Herzen Europas mit seiner ausgeprägt föderalen und auch multiethnischen Geschichte im Schnittpunkt von ständigen Wanderungsbewegungen auch gar nicht anders sein kann. Das vereinte Deutschland ist bunter geworden und mit seinem Zuwachs an Unterschieden politisch-psychologisch endlich in der Normalität der großen westlichen Demokratien angekommen. Aber wieweit wird der Grundkonsens in West und Ost mitgetragen, wenn nicht von allen, so doch von deutlichen Mehrheiten? Sichtet man die Fülle der
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demoskopischen Befunde entlang unserer restriktiven Anforderungen, ergibt sich: Das unabdingbare Mindestmaß an Übereinstimmung gibt es bereits: Die Verfassungsordnung wird weithin akzeptiert, die Wirtschaftsordnung zumindest prinzipiell, die Zugehörigkeit zu EU und NATO wird von unterschiedlich großen Mehrheiten geteilt, den Gesetzen durchweg Gehorsam geleistet und den Institutionen auf allen Ebenen Respekt gezollt. Zurück in die Teilung wollen keine 10% der Ostdeutschen, rund drei Viertel der West- und Ostdeutschen identifizieren sich inzwischen mit dem vereinten Deutschland: Das plebiscite de tous !es jours vollzieht sich jeden Tag! Wie steht es demnach um die vielbeschworene innere Einheit? Die Antwort ist am Ende einfach: denn wir haben sie bereits, in dem was sie legitimerweise bedeuten kann. Das Grundsätzliche ist längst geklärt. Wir leben bereits im Zustand innerer Einheit. Mehr Einheit brauchen wir nicht, mehr wäre vielleicht sogar drückend und fatal. Also Schluß mit falschen Mythenbildungen. Knüpfen wir besser an unsere fMeralen und pluralen Traditionen, die zum besten unserer verspäteten Nationswerdung gehören, an. Was wir brauchen, ist mehr Gelassenheit, mehr Verständnis ft1r Vielfalt und mehr Akzeptanz von Unterschiedlichkeiten. Hier haben wir einigen Nachholbedarf. Aber wie sonst kann die europäische Integration weiter entwickelt werden? Literaturbinweise
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Autorenverzeichnis Dr. Gerhard Barkleit
Hannah-Arendt-Institut, Dresden
Inge Bennewitz
Berlin
Prof. Dr. Bernd Faulenbach
Universität Bochum
Dr. Inga Grebe
Universität Halle
Prof. Dr. Siegfried Grundmann
Berlin
Dr. Jochen Hecht
Gauck-Behörde, Berlin
Prof. Dr. Jürgen Hofmann
Berlin
Prof. Dr. Dr. h. c. Helmut Jenkis
Garbsen
Albrecht Kästner
Bundesarchiv - Militärachiv -, Freiburg
Sven Korzilius
Universität Saarbrücken
Andreas Ludwig
Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt
Prof. Dr. Laurence McFalls
Universite de Montreal
Dr. Andreas Malycha
Zentrum ftlr Zeithistorische Forschung, Potsdam
PD Dr. Dr. Lothar Mertens
Berlin
Dr. Armin Owzar
Universität MOnster
Dr. Ulrich Pfeil
Universität Paris III
Dr. Alexander von Plato
Hagen
Dr. Michael Ploetz
FU Berlin
Dr. habil. Dörte Putensen
Universität Rostock
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Autorenverzeichnis
Dr. Johannes Raschkcz
Hannah-Arendt-Institut, Dresden
Dr. habil. lngrid Reichart-Dreyer
FU Berlin
Prof. Dr. Hermann Schäfer
Direktor, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn
Dr. Mike Schmeitzner
Hannah-Arendt-Institut, Dresden
Ulrich Schröter
Oberkonsistorialrat i.R., Berlin
Annegret Schüle
Universität Leipzig
Prof. Dr. Siegfried Schwarz
Berlin
Philipp Springer
TU Berlin
Prof. Dr. Anton Sterbling
Fachhochschule der Polizei Sachsen, Rotbenburg/Sachsen
Prof. Dr. Dr. Heiner Timmermann
Direktor des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Europäischen Akademie Otzenhausen, Professor filr Europäische Geschichte an der Universität Jena
Prof. Dr. Hans-Joachim Veen
Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin
Dr. Armin Volze
Bonn
Dr. Gerhard Wettig
Kommen
Dieter Wink/er
Berlin
Dr. Tobias Wunschik
Gauck-Behörde, Berlin