Der Zusammenhang der Dinge: Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts [Reprint 2015 ed.] 3484150475, 9783484150478

"Als Habilitationsschrift auf Empfehlung ... der Universit'at M'unchen gedruckt"--Verso t.p.

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German Pages 670 [668] Year 1984

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
TEIL A. THEORETISCHE UND GESCHICHTLICHE VORAUSSETZUNGEN
I. Sprach- und Metapherntheoretische Probleme
II. Zur geistig-geschichtlichen Lineatur des »Zusammenhangs der Dinge«
TEIL B. DER »ZUSAMMENHANG DER DINGE« IN DER NATURPHILOSOPHIE DES 19. JAHRHUNDERTS
DAS GLEICHNISDENKEN SCHOPENHAUERS
FECHNERS METONYMISCHER ANIMISMUS
LOTZES STELLUNG ZWISCHEN MECHANISMUS- UND MIKROKOSMOSMODELL
DER SYNTHETISCHE MONISMUS EDUARD VON HARTMANNS
ERNST HAECKEL: »GOTT-NATUR« - DIE »MATERIALISTISCHE« RÜCKKEHR DER »NATURPHILOSOPHIE«
BÖLSCHES »WELTKUNSTANSCHAUUNG«
TEIL C. ZUR POETOLOGISCHEN RELEVANZ DER NATURPHILOSOPHIE FÜR DIE DICHTUNG DER ZWEITEN JAHRHUNDERTHÄLFTE
I. Tendenz zur Trivialität
II. »Der große Zusammenhang der Dinge« bei Fontane: »Die Welt als Gespräch«
III. Die Präsenz der Naturphilosophie im Naturalismus als dessen innerer Widerspruch
IV. Konjunktur des Kosmischen: Richard Dehmel
V. Die Inflation des ästhetischen Zustandest Alfred Mombert
VI. Bewußtseinsgeschichtliche Aspekte der Jahrhundertwende
Bibliographie
Sachregister
Personenregister
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Der Zusammenhang der Dinge: Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts [Reprint 2015 ed.]
 3484150475, 9783484150478

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE H E R A U S G E G E B E N V O N HANS F R O M M UND H A N S - J O A C H I M M Ä H L

BAND

47

WALTER GEBHARD

»Der Zusammenhang der Dinge« Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts

M A X N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 1984

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft II der Universität München gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Gebhard, Walter: »Der Zusammenhang der Dinge« : Weltgleichnis u. Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein d. 19. Jh. / Walter Gebhard. — Tübingen : Niemeyer, 1984. (Hermaea ; N.F., Bd. 47) NE: GT ISBN 3-484-15047-5

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1984 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz und Druck: Maisch + Queck, Gerlingen. Einband: Heinr. Koch, Tübingen

INHALT

VORWORT

XI

T E I L A : T H E O R E T I S C H E UND GESCHICHTLICHE VORAUSSETZUNGEN

I. Sprach- und metapherntheoretische Probleme 1. Vorverständigung Totaltheorien

über paradigmatische

3 Ansätze

von 3

2. Wissenschaftstheoretische Aspekte von »Bild«, »Analogie«, »Gleichnis«, »Metapher«

13

3. Anmerkungen zum historischen Verhältnis von Gleichniselementen und Textsituation

22

4. Weltgleichnis: Topos und Klischee

30

a) Z u r Vermittlung von Transzendentalität u n d Göttlichkeit im romantischen Kosmosbewußtsein

30

b) Die Aporetik der Bildlichkeit des Weltbegriffs

36

c) D e r » P a n p s y c h i s m u s « als P a r a d i g m a

43

II. Zur geistig-geschichtlichen Lineatur des »Zusammenhangs der Dinge«

49

T E I L B : D E R » Z U S A M M E N H A N G DER D I N G E « IN DER N A T U R P H I L O S O P H I E DES 1 9 . JAHRHUNDERTS D A S GLEICHNISDENKEN SCHOPENHAUERS

I. Die Grundintention des Werkes als Totalitätssuche II. Philosophiebegriff und Wissensinteresse. Zum Verhältnis von Metaphysik und Naturwissenschaft

81

83 86

1. Philosophie als natürliches Ganzheitswissen

86

2. Aufgeklärte Piaton-und Metaphysik-Kritik

89

3. Die Unverträglichkeit aufgeklärter Naturbetrachtungen mit platonistischer Metaphysik

91

4. Die synthetische Aufgabe der Philosophie

94 V

III. Analogiedenken und Gleichnisstruktur

99

1. Transzendentalistische Prämissen 99 a) Schopenhauers Verhältnis zur Schellingschen Naturphilosophie 99 b) Übertragung als Grundverfahren des Denkens 103 c) Der Zusammenhang der Dinge 106 d) Die Aufwertung des Subjekts in ihm 109 2. Sprachliche Erscheinungsformen des Analogiedenkens . . . . a) Vorbild-Nachbild-Bezug b) Metaphorik und Vergleichsfunktion c) Paradigmatik und Amplifikation

110 111 112 114

3. Gleichnisstruktur und Textaufbau a) Aphoristik und Diskursivitätsverzicht b) Exegetischer Textaufbau c) Funktionen des Autoritätszitats

118 118 120 121

4. Praxisbezogene Konsequenzen 126 a) Analogiedenken als Folge von Entscheidungsvermeidung . . . . 126 b) Doppeltheorie als Fazit der Grunddichotomie 129 c) Ambivalenz der Naturwertung 131 aa) Ineffable Natur 131 bb) Natur als Idealität 134 cc) Natura daemonia 147 d) Sozialwelt und »aristokratische« Natur 159 FECHNERS METONYMISCHER ANIMISMUS

164

1. Romantisch-satirisches Vorspiel wissenschaftlicher Aporien 167 2. Das Nebeneinander von induktiver Wissenschaft und spekulativer Metaphysik 175 3. Die Dominanz der konservativen Erbauungsabsicht a) Metaphernkerne und Verlust von Konnexkriterien b) Bibelzitat und amplificado c) Analogiesucht und Metaphorisierung als Denkauflösung . . . .

181 181 188 193

4. Sprachverödung durch Synonymisierung 199 a) Umgangssprachlichkeit und »Zweistandpunktbetrachtung« . . 199 b) Der leere Zusammenhang 203 5. »Symbolische« Immanenz Gottes in der Welt a) Defizienter Bewußtseinsbegriff b) Umdeutung der Geschichte c) Selbstästhetisierung der vergöttlichten Welt VI

208 208 211 215

LOTZES STELLUNG ZWISCHEN MECHANISMUS- UND MIKROKOSMOSMODELL

222

1. Panpsychistische Prägung des jugendlichen Bewußtseins . . 2 2 2 2. Die Antinomie von »Gemütsbedürfnis« und »Wissenschaft« und ihre Zurückstellung durch einen psychistischen Dingbegriff 226 3. »Der Zusammenhang der Dinge« a) Kritik der spekulativen Tradition

235 235

b) Rückgriff auf die Spiritualisierungstendenzen des 17. Jahrhunderts 237 c) Ableitung des Beziehungswissens aus dem Psychismus 245 4. Der menschliche Mikrokosmos als Vermittlung des Guten an die Natur 250 a) Das Überdauern der »Weltseele« 250 b) Freiheit und Notwendigkeit im Mechanismus 254

DER SYNTHETISCHE MONISMUS EDUARD VON HARTMANNS

262

1. Synthetische Philosophie a) Der Begriff des Unbewußten b) Spiritualistischer Monismus

264 264 267

2. Totalitätsvorstellungen a) Die Voraussetzung des Psychischen

270 270

b) Der »Gesammtgeist« c) Der »Allgeist« 3. Hartmanns Ästhetik a) »Idealistische« und »wissenschaftliche« Wahrheit b) Ästhetik und religiöses Bewußtsein c) Mikrokosmos-Modell und Regel-Teleologie

275 281 285 285 288 291

HAECKEL: »GOTT-NATUR« - DIE MATERIALISTISCHE RÜCKKEHR DER NATURPHILOSOPHIE

299

1. Morphologie und Monismus

300

2 . Haeckels Wissenschaftskonzeption

306

3 . »Gott-Natur«

313

4 . »Monistische Ethik«

323 VII

BÖLSCHES »WELTKUNSTANSCHAUUNG«

330

I. »Idealisierte« Naturwissenschaft

332

1. Überforderung der Naturwissenschaft

332

2. Entschärfung der Wissenschaft

335

II. Natur und Welt als Säkularisate

342

1. Natur als »Universalbegriff«

342

a) Natur als totales Subjekt b) Natur als Ordnungsbegriff c) Naturbeseelung

343 345 346

2. Bölsches Fechner-Rezeption 349 3. Natur und Vereinnahmung von Geschichte und Kultur. . . . 356 4. Bölsches Weltbegriff: »Gott-Natur« 360 a) »Weltblick« b) »Welteinheit« c) »Logik des Weltprozesses«

III. »Weltkunstanschaung«

360 364 369

374

1. Idealisierung

374

2. Idyllisierung

379

3. Infantilisierung

383

4. Verbildern und Verklären

389

IV. Die neue Religion als »die ewige Weihnachtsinsel der Kultur«.. 402 1. Ästhetische »Tatsächlichkeit« und »Traumbild«

402

2. Synkretisierte Rückillusionierung

409

3. Sursum und Luxus: der »Urgrund« der Zeitlosigkeit

413

4. Abstrakter Symbolismus und Autismus

418

TEIL C : Z U R POETOLOGISCHEN RELEVANZ DER SPÄTEREN NATURPHILOSOPHIE FÜR DIE DICHTUNG DER ZWEITEN JAHRHUNDERTHÄLFTE

429

I. Tendenz zur Trivialität

439

1. Friedrich Rückert

439

2. Viktor von Scheffel und Eduard Grisebach

441

VIII

II. »Der große Zusammenhang der Dinge« bei Fontane: »Die Welt als Gespräch« 447 1. Realismus des Heldischen

447

2. »Welt« als reale Perspektive im »Stechlin«: »Maulwurfshügel«, »chinesische Mauer« und »die Welt draußen« 449 3. Der Stechlin-See als Lebenssymbol und Zeichen offener Dimensionierung 454 4. Distanzierende Symbolik

460

5. Verklärung als korrektiv realitätsgebundene Ästhetik

465

III. Die Präsenz der Naturphilosophie im Naturalismus als dessen innerer Widerspruch 470 1. Zur innerwissenschaftlichen Auseinandersetzung um Universalaussagen: Du Bois-Reymond und Haeckel 470 2. Bezugslose Ich-Ausweitung: Arno Holz

473

3. Die Abwendung vom Naturalismus als Offenlegung der Ausgleichslatenz 487 IV. Konjunktur des Kosmischen: Richard Dehmel

495

V. Die Inflation des ästhetischen Zustandes: Alfred Mombert . . . 5 1 3 VI. Bewußtseinsgeschichtliche Aspekte der Jahrhundertwende. . . . 5 3 4 1. Säkularisierungsprozeß wußtseins

und

Optimierung

des Weltbe534

2. Der »Zusammenhang der Dinge« in der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts 540 3. Dialektische Entbildlichung, »neue Mystik« und »Dingdemut« 547 4. Totalitätsdenken, Bewußtseinslüge und Sprachskepsis . . . . 5 5 5 5. »Krise des Geistes« und Entstehung der Moderne

564

6. Hinweise zum passiv-synthetischen Sozialcharakter

571

BIBLIOGRAPHIE

577

SACHREGISTER

618

PERSONENREGISTER

644

IX

»Der Menschenrede wert ist nicht, was Menschen taten; Mit der Natur und Gott soll sich mein Geist beraten. Die Weisheit Indiens hat vergessen der Geschichte, Daß sie allein von Gott, Natur und Geist berichte.« (»Aus Rückerts Weisheit des Brahmanen, Lehrgedicht in Bruchstücken, T. I, S. 9«, von Gustav Theodor Fechner zitiert in »Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits vom Standpunkt der Naturbetrachtung« 1851, II, 16)

»Wenn man nur nicht ewig die Hyperbel aller Hyperbeln, das Wort: Welt, Welt, Welt hören müßte, da doch jeder, ehrlicherweise, nur von Mensch, Mensch, Mensch reden sollte!« (Nietzsche 1874: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie« - gegen Eduard von Hartmann und »>die volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozeß< «, Schlechte I, 266)

X

VORWORT

Während das radikale Denken des 19. Jahrhunderts eine breite historische Forschung im 20. Jahrhundert nach sich gezogen hat, sind die für den Zeitraum selbst typischeren Formen des ausgleichenden, versöhnenden und ambivalenten Denkens kaum systematisch und kritisch analysiert worden. Das Interesse an ihnen erlosch mit dem Ausgang der Naturphilosophie in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts. Philosophische Autoren wie Hermann Lotze und Eduard von Hartmann, in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende fast in aller Hände, werden seit dreißig bis vierzig Jahren kaum noch behandelt. Das hat wohl auch mit dem Einsetzen der totalitären Reaktionen zu tun, wodurch das philosophische Interesse einerseits auf politische Bewegungen, andererseits auf Subjektivismen der Existenzphilosophie fixiert wurde. Erst in den letzten Jahren begann die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts die Zonen der offiziellen und trivialen Ästhetiken abzutasten, in denen sich die Voraussetzungen für eine Reihe von Erscheinungen auch der »hohen« Literatur bildeten. Gegenüber der Bedeutung des »revolutionären Bruchs« (Löwith) blieb verständlicherweise das historisch nötige Interesse an der nicht-revolutionären Kontinuität sowohl auf literatur- wie philosophiegeschichtlicher Seite gering. Abschreckend genug wirken die enzyklopädisch ausufernden, teils gewollt unsystematischen, teils ungekonnt rhetorischen Opera des versöhnlichen Ausgleichs der hier ins Zentrum gerückten späten d. h. nachhegelschen Naturphilosophie: Mit ihrer halbkritischen Entfernung vom Hegelianismus beziehungsweise ihrer halbherzigen Hegelnachfolge rekurrieren sie großenteils auf die vorhegelsche Tradition — sei es auf Schellings frühe oder späte Naturphilosophie, sei es die frühidealistische oder spätbarocke Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Rekonstruktion des historisch »Neuen« absorbiert die analytische Aufmerksamkeit für die Darstellung seines Zusammenhangs mit dem Alten auch deshalb, weil sich Geschichtsschreibung zunächst weitgehend auf fachwissenschaftliche Abgrenzungen jeweiliger >Stoffe< eingeschworen hat. Die Sichtung der wissenschaftsgeschichtlichen ProblemXI

entwicklung im ganzen erfordert jedoch die schwierigere interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die Untersuchungen zur Sprache und Geschichte des Totalitätsbewußtseins in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchen am Beispiel der Differenz Naturwissenschaft/Naturphilosophie die Verbindungskräfte im Gegenspiel kultureller Interessen deutlich zu machen, die mit dem Heraufkommen des wissenschaftlichen Bewußtseins aufgerufen waren. Wieweit >Ganzheit< als Inhalt geschichtlicher Selbstauslegung immer auf die historische Dimension verwiesen ist, das läßt sich heute, da die Voraussetzungen für die interdisziplinäre Erforschung von Differenzierungsbewegungen zwischen den Teilsystemen des kulturellen Lebens erst geschaffen werden, noch kaum darstellen. Wenn Totalitätsdenken jedoch zu dem außergewöhnlich stimulierenden Thema des ganzen Jahrhunderts werden konnte, so hat dies seinen Anlaß in der Infragestellung tradierter Totalitätskonzeptionen vorzüglich der christlichen und idealistischen Gesamtdeutungen der Welt am Ende des 18. und in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Auf diese Infragestellung hat die Dichtung ihrerseits nur in der Vermittlung ihres Selbstverständnisses durch die Herausforderung der Wissenschaft reagieren können. Dieser Vermittlung ist die Abschwächung des programmatischen Realismus in den offiziellen Poetologien, die auf philosophisch oder theologisch fundierten Ästhetiken beruhen, zu verdanken. Sie alle berufen sich auf Tradition im Sinn des Ausgleichs zwischen historischen Paradigmata. Sowohl für Frankreich wie für Deutschland gilt: »Die Kritiker haben in ihrer Mehrzahl den programmatischen Realismus abgelehnt. Die ästhetische Doktrin beharrt auf der Idealisierung der Natur (Augustin Joseph Du Pays, 1853: >l'art ne peut être que l'idéalisation de la réalité^«. 1 Die Situation der deutschen Poetologie ist in erhöhtem Maß von der Versöhnungsphilosophie des Jahrhundertanfangs bestimmt, die schließlich auch die linkshegelianische Kritik in Richtung auf human-abstrakte oder utopische Vorstellungen zu prägen vermag. »Die poetische Verklärung, der Schleier einer idealeren und höheren Welt, mit dem die deutschen Realisten die Gegenstände umhüllen«, 2 engt nicht nur die Gegenstände ihrer Weltaufmerksamkeit ein, sondern strukturiert vorab deren Methodik. Sie ist - aus der subjektiven Tradition der deutschen Philosophie - als introspektives Präjudiz geeignet, die Rezeption von 1

2

Realismus und Gründerzeit, Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1 8 4 8 1880, I. Bd., 7. Ebd.

XII

»Natur« stark ans Subjektbewußtsein zu koppeln. Damit entfernt dieses sich von seiner sozialen Natur. Der von Lukács beklagte Vorgang der »Zerstörung der Vernunft« zeigt bei genauerer problemgeschichtlicher Analyse, daß die Berufung auf Natur, auch auf die Widerspiegelung derselben in der Gesellschaft und umgekehrt der Gesellschaft in der Natur, keineswegs vor dem Weg in den Irrationalismus bewahrt. Die vorliegenden Untersuchungen wollen zeigen, daß im Spiegelungs-Topos eine solche verfälschende Macht liegt. Sie führen den Nachweis, daß man in der Natur selbst eine defensive Linie gegen die in den Wissenschaften von ihr erreichten (vermeintlichen) Abwertungen aufgebaut hat, indem man ihr eine soziologische Organisation, letztlich eine »Aristokratie« als Struktur unterlegte. Die Naturphilosophie der zweiten Jahrhunderthälfte favorisiert zum Teil expressts verbis eine analogistische Methode - großenteils wird diese jedoch im Zuge der Kritik an der Schellingschule indirekt und unbewußt gebraucht. Totalitätsinteresse intentionalisiert sich in diesem zweiten, häufigeren Fall als Behauptung von »Zusammenhängen«, Gegenseitigkeiten, Doppelheiten, Polaritäten. Genauer als es bei Lukács geschieht, soll hier am sprachlichen Material der poetischen und philosophischen Texte das »irrationalistische Abbiegen von der Dialektik«3 analysiert und in den Kontext einer Bewußtseinsgeschichte des Wissens gestellt werden. Dabei können die sozialgeschichtlichen Grundlagen nicht eigens thematisiert werden, in Verweisen immerhin reflektierbar bleiben. Für das Bewußtsein des 19. Jahrhunderts stellt sich die Zusammenarbeit von Kunstphilosophie (als Bewußtsein der ästhetischen Vermittlung von Gegensätzen) und Analogie-Methodik als zentrale hermeneutische Ebene heraus, sofern es gegen Wissenschaftlichkeit überhaupt opponiert. Wurde von der aufklärerischen Kritik der Ideologien die »Begriffsdichtung« als unfundierte Synthese von Widersprüchen angezeigt, so versucht ein großer Teil der davon angesprochenen Denktraditionen dem Vorwurf offenbar dadurch zu entgehen, daß man den Begriff überhaupt vermeidet. Die »Zusammenhänge« der Dinge werden von den kulturellen Positionen, die deren wissenschaftliche Objektivierung mehr oder weniger perhorreszieren, ohne ihre sachlichen Bestimmungen gesehen - also weitgehend angenommen, behauptet, »angeschaut«, schließlich »visioniert« - deshalb auch der verräterische Singular des Topos. Weder diskursive Kontinuität noch Logik und Kausalität, son3

Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Bd. I, 131 (Darmstadt und Neuwied 1973).

xm

dern Analogie, Intuition, Metonymik und Bildsprache sind die linguistisch-methodischen Prämissen des Einheitsgewinns. In diesem Rahmen läuft die Poetisierungsbewegung als eine bisher kaum verfolgte Tradition durch das Jahrhundert. Sie stellt eine Umdeutung auch des pantheistischen Gedankens dar. Denn die Kritik der Illusionen verwendet den Projektionsbegriff weitgehend beschränkt auf einen engeren ideologischen oder theologischen Bereich, um gerade die Berechtigung der Bedürfnisse der poetischen Phantasie und der harmonischen Weltdeutung betonen zu können - so bei Strauß und Feuerbach nicht zuletzt. Wieweit sich in dem damit aufgerissenen Rahmen ein anthropologisch berechtigtes Bedürfnis nach Glaube als »Verklärung« zu artikulieren beginnt, dürfte - unter Berücksichtigung der am Anfang und am Ende des 19. Jahrhunderts erreichten Konfundierung von Erotik und Weltvertrauen - erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts diskutierbar werden. Jedenfalls läßt die religionswissenschaftliche Kritik von Anthropozentrismus und Anthropomorphismus den tieferen epochalen Rahmen der idealistischen Tradition unberührt, in dem im Begriff der »Seele« >menschliches< Sprechen indirekt erhalten bleibt. Daraus erklärt sich die zugleich latente und polemisch intensivierte Entwicklung eines Panpsychismus, der sich als Wandlung der Geist-Philosophie durch das Jahrhundert zu erkennen gibt, um an dessen Ende - im Kontext vielfacher antirealistischer Reaktionen — zur willkommenen »Rückkehr des spekulativen Genius« beizutragen. Die Formel von der »Seele« der Welt - der Natur, des Kosmos, des Atoms - und ihrer »Spiegelung« im Einzelding und der damit erreichten Verbundenheit derselben steht im Zentrum der Untersuchungen. Es scheint, als befähigten gerade relative Unerforschtheit und geringe historische Objektiviertheit den Seelenbegriff, als Nenner des Allgemeinsten Träger von Totalitätsvorstellungen zu werden. Mit seiner generellen Anwendung kann auch der Bezug des »Objekts« auf Totalität (gegen seine wissenschaftliche Parzellierung und für seine poetische Dienlichkeit) wiederhergestellt werden. Indem so ein wesentliches Aufbaumoment der religiösen Erfahrung auf das Gegenstandsfeld der wissenschaftlichen Tätigkeit und des kosmologischen Bewußtseins übertragen wird, entsteht das Bild des Kosmos als einer willentlich geordneten Welt, das sich als Naturglaube ausweist. Wie man sich kaum bewußt zu sein pflegt, daß die Naturphilosophie in der >immanenten< Sozialtheorie der Naturwissenschaften als eigenständige Textwelt weiterlebt, so ist der latent antihistorische Affekt im »historischen« Zeitalter im ganzen wohl kaum ausreichend realisiert. XIV

Die Enthistorisierung beginnt in der romantischen Phase, - sie bleibt die prägende Epoche in der Biographie der entscheidenden Denker. Den Naturglauben, der sich als Aufhebung der Wissenschaft versteht, haben wir als zentrales Korrelat der Verluste an Geschichtsbewußtsein zu sehen. Mit der Fragestellung, wie sich Möglichkeiten des emphatischen Einheitsbewußtseins der Romantik in der Verdrängung durch das wissenschaftliche >RealitätsAntworten< der zahlreichen Reformbewegungen ohne Schwierigkeit mit den Befunden der Studie vermitteln lassen, wurde sowohl auf die Darstellung der Anthroposophie Rudolf Steiners wie der kosmogonischen Theorien Ludwig Klages' verzichtet. Dem entspricht 4 5

Nachwort zu L. Feuerbach, Kleine Schriften, Frankf./M. 1966, 254. Feuerbach, zit. v. K. Löwith ebd. 244.

XVI

auf der Seite der historischen Herleitung der Theorie vom »Zusammenhang der Dinge«, daß der Beitrag der Alchimie und der Paracelsischen Spekulationen nicht berücksichtigt wurde; hier geht es um die Nähe von Rationalität und latenter Totalbildlichkeit. Sparsame Hinweise müssen leider auch genügen, um den Beitrag der Naturideologie zum rassistischen und völkischen Irrationalismus des 20. Jahrhunderts anzudeuten. Wie sich das Interesse an »Totalität« zu grundsätzlich totalitären Forderungen verhalte und wandle, - das dürfte in den skizzierten Argumentationsstrukturen zumal des Topos »Opfer und Geopfertes sind eines« einsehbar werden. Für wertvolle Hinweise zum Thema danke ich Herrn Professor Dr. Walter Müller-Seidel und meinen Kollegen Ulrich Dittmann, Georg Jäger, Peter Kobbe und Franz Rhöse. Herrn Rolf Siegel bin ich für zahlreiche, intensiv an der naturwissenschaftlichen Problematik und der sozialen Relevanz des Themas teilnehmende Gespräche zu besonderem Dank verpflichtet. Den Leitern der Bibliothek der Akademie der Künste in Berlin, der Sächsischen Landesbibliothek Dresden und der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek danke ich für entgegenkommende Zusammenarbeit. Ohne die großzügige Unterstützung durch ein zweieinhalbjähriges Stipendium und einen bedeutenden Druckkostenzuschuß der Deutschen Forschungsgemeinschaft hätte diese Arbeit nicht verwirklicht werden können. Für das bewiesene Verständnis spreche ich meinen aufrichtigen Dank aus. Herrn Professor Dr. Hans Fromm und Herrn Professor Dr. Hans-Joachim Mähl habe ich für die Aufnahme der um eine Reihe von historischen Detailuntersuchungen, vor allem um das extensive Kapitel zu Nietzsche, gekürzten Arbeit in die Reihe HERMAEA zu danken. Den Freunden, die vor Jahren in München bei der Schlußredaktion des Manuskriptes geholfen haben, und den Mitarbeitern in Bayreuth, die vor allem die Bearbeitung der Register übernommen haben, bleibe ich in Dankbarkeit verbunden. Bayreuth 1982

W. G.

XVII

TEIL A

T H E O R E T I S C H E UND G E S C H I C H T L I C H E VORAUSSETZUNGEN

I. Sprach- und Metapherntheoretische Probleme

1. Vorverständigung über paradigmatische Ansätze von Totaltheorien Interesse an der Erkenntnis von Zusammenhängen besteht schon als Interesse an der Bewältigung des Lebens. Es modifiziert sich nach den Gegebenheiten der widerständigen, ihren Zusammenhang je verdunkelnden und seiner Erkenntnis je (vorläufig) sich sperrenden Realität. Selbst der theoretisch verfestigte, aus Praxis gewonnene Erfolg steht ungesichert in der sich verändernden Wirklichkeit, verfügt nicht über einen sich selbst garantierenden und fraglos bewährenden Zugriff. Befindet sich das Erkenntnisinteresse gegenüber der Fülle der Zusammenhänge in der Lage eines quasi fallweise vereinzelten Subjekts, so erwächst daraus auch sein Vorteil: die »Dinge« vereinzeln zu können, sich ihnen analytisch zu nähern, indem auf den Zusammenhang zunächst verzichtet wird. Mit dem Erfolg solcher Differenzierung, der praktischen und theoretischen Isolierung von Aspekten, Werten, Aktionen und Reaktionen bestätigt sich, was als Horizont von Erwartungen (über den Erfolg) und Vermutungen (über den Zusammenhang) der intendierten Aktion in relativ ganzheitlichen Vorgriffen vorausging. Darin zeichnet sich der historische Prozeß der Erfahrung ab. Deshalb ist die Fragestellung nach dem »Zusammenhang der Dinge« ein eminentes Thema der Hermeneutik und in den korrektiven Prozeß von Vorannahme, praktischem Ausgriff, Gegebenheitsbestimmung und Deutungsgewinn eingeschlossen. Soweit hermeneutische Tradition in lebensweltlich bestimmten kulturellen Codes zu einem Corpus von >Antworten< gelangt zu sein behauptet, impliziert der epistemologische Status dieser Behauptung eine bestimmte Opposition von »Glauben« bzw. »Nichtwissen« zu definiertem Wissen. Probeweise Extrapolationen können verifiziert werden, damit ergibt sich die Möglichkeit zu umfassenden Aussagen. »Zusammenhang der Dinge« meint auf ontologischer Ebene Kontinuität oder Geschlossenheit des Zusammenhangs. Diese Geschlossenheit als >Lückenlosigkeit< (in lokaler, temporaler, kausaler Hinsicht) nachzuweisen, ist legitimes Motiv des Erkenntnisinteresses wie der Praxis.

3

Die Deutung von Zusammenhängen revoziert notwendig ihre Gestalt, wo Widersprüchlichkeit der Erfahrung bzw. Inkongruenz der Erfahrungsrepräsentation dem Einheitsbewußtsein entgegenstehen. Erfahrungserweiterung führt auch zur Veränderung der >MittelPositionen< oder >Aktionen< eines spezifischen Zugriffs auf Realität dann aufgegeben, wenn sich Realitäten damit nicht gewinnen lassen oder Lebensbedrohungen eintreten. An dieser praktischen Dimension, die auch dem theoretischen Verhalten zukommt, soweit es sich referentiell ausweist, korrigiert sich dessen Wahrheitswert. In dem gespannten Verhältnis zwischen dem Nahbereich, in dem Widerlegungen und Gefährdungen des Verhaltens auftreten, und der Fernzone, aus der man die Hintergründe der entsprechenden Negativität (oft genug irrtümlich, verfälschend und beschönigend) ableitet, realisiert sich auch die Form, in der Wissenschafts- und lebenspraktisches Erkenntnisinteresse zueinander in Beziehung treten. Wie sehr sich metaphysisches Wissen als Erkenntnisinteresse am Zusammenhang des Erkennbaren, als Versuch von Begründung und unumstößlicher Ableitung verstanden hat, erhellt aus einer Reihe von Denk- und Sprechtraditionen, die auf das genannte Problem, die spezifische Verständnis- und Sinnfunktion des ontologischen >Hintergrundetablierten< und fixierten Ausdrucksmitteln nach dem Kriterium berücksichtigt werden, wieweit sich eine Vermittlung von >Entwurf< und >RealisierungPunktualisierung< der Erfahrung einen besonderen Stellenwert ein: sie realisiert sich in verschiedenen Konzepten des Heterogenen, wissenschaftsgeschichtlich seit dem Ausgang der Antike in der häufig als Gefährdung gedeuteten »Atomistik«. Der Atomismus-Angst entspringen besonders im 19. Jahrhundert viele Ordnungsvorschläge und Typen der Rückgewinnung von Ordnung, die sich sowohl auf die vorausgehende natürliche Harmonie aller Dinge wie auf die sekundäre, denkerisch zu entschlüsselnde Einheit im Zusammenhang des vermeintlich Unvereinbaren berufen. In der >Erklärung der Welt< — versteht man sie als Auseinandersetzung zwischen Nah-Erfahrung und Voraus- bzw. Weiter-Wissen - spielen hauptsächlich vier Modellkategorien der Weltbildgewinnung eine Rolle, die nach herausragenden Gehalten der anthropologischen Selbsterfahrung gebildet sind. Gesamtdeutungen realisieren sich entweder nach außermenschlichen, natürlich vorkommenden Erfahrungen oder nach solchen, die in irgendeiner Weise menschliche Praxis einschließen. Der Gruppe der b i o m o r phen Deutungsbilder (wie »Baum des Lebens«, »Keim der Natur«, »Zeugung«, »Geburt«, »Fressen«, »Ausscheiden«) folgen, zweiwertig und ambivalent, Funktionsbilder wie das vom »Weltberg« oder »-vulkan«, vom »Fluß der Dinge«, von der »aufblühenden Knospe«. Dem Bereich des Menschen und seiner Geräte- und Herstellungswelt entstammen t e c h n o m o r p h e Bilder der Welt als »Maschine«, als »Gebäude«, »Spiegel« oder »Kette der Dinge« zu; Einheitsbilder wie das des sich »entfaltenden Kleides« oder »Stoffes« sind auch heute noch verwendete Veranschaulichungen etwa im weltanschaulichen Bereich. Zunehmend a n t h r o p o m o r p h e r werden Bilder, die den ordnenden Zugriff bereits thematisiert haben. Ist die »Pyramide der Wesen« scheinbar auf den Begriff ontologischer Hierarchisierung abstrakt bezogen, so verdeutlicht schon die Rede vom »Plan der Natur«, von der »signatura 5

rerum« oder vom »Band der Liebe« den geistig-seelischen, aus der Selbsterfahrung stammenden psychomorphen Charakter, der analogistisch auf Bereiche übertragen wird, denen man gemeinhin das Attribut des Seelischen abspricht. Die soziale Selbsterfahrung schließlich verwirklicht sich in der Tradition der soziomorphen Metaphorik, in der etwa Staatsvorstellungen auf Dingverhältnisse oder die Gesamtheit der Dinge projiziert werden: »die Heerscharen der Sterne« wie der »Konstitutionalismus der Zellen« gehören demselben psycho/soziomorphen Stamm von »Wurzelmetaphern« an, in dessen Erweiterung etwa der als intentional verstandene »connexus rerum« vergleichbar und überführbar ist dem voluntaristisch und psychistisch konzipierten »conatus amoris dei intellectualis«. Es gilt die Aufmerksamkeit darauf zu richten, daß selbst noch in weitgehend formalisierten Ausprägungen solcher Schematisierungen Ganzheitsbilder stecken, deren genuine Bildlichkeit rhetorisch wichtig bleibt. Auch auf dem abstrakten Niveau jener Diskussion von Totalität, die sich in der Opposition »Ganzes« vs »Teil« abspielt, muß auf die modellartige Übernahme anschaulicher Momente hingewiesen werden, die auf die zugrundeliegende Räumlichkeit zurückführt. Totalität wird hier auf ein keineswegs für das Weltganze ohne weiteres zutreffendes Ausdehnungsbild bezogen, das den Gedanken einer räumlichen Segmentierung nahelegt. Realisiert man diese Implikation, so wird damit auch die Auslassung eines funktionalen Ganzheitsbegriffs deutlich, in dem Wirkungsrelationen die anschauungsprimitiven Raumbezüge >ersetzenVerbildlichung< sei sie nun der gegenständlichen Raum- oder der empirischen Funktions1

Vgl. dazu Heinrich Rickert, Substanz- und Funktionsbegriff 1 9 1 5 .

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welt entnommen - suspendiert wird. Solche Suspension kann in synästhetischen, den Gegensatz von >abstrakt< und >konkret< tilgenden Metaphorierungen erreicht werden. Auf diese Problematik bezieht sich Ulrich Sonnemann in seinen »Studien über Totaltheorie«, und zwar in einem »Exkurs zu Cusanus«, der von dessen totaltheoretischem Bild ausgeht: »Totum relucet in omnibus. In allem strahlt das Ganze wider.« 2 Die Lichtmetaphorik bildet in der Tradition zahlreicher Richtungen des anschaulichen, mythischen, mystischen und spekulativen Sprechens einen zentralen Träger für die Darstellung von Einheit, Wirksamkeit und Korrelativität von Funktionsganzheiten. Eine ihrer wesentlichen Ableitungsmetaphern wiederum ist die des »Spiegels«, mittels welchem, zumal seit dem Mittelalter, Korrelation und zeichenhafter »Zusammenhang« des Differenten oder Ähnlichen vermittelt werden soll. Das Zitat des Cusanus enthält den Ansatz dieses Bildes in der Verbmetapher des »relucet«, in der Zusammenhang als Rückbeziehbarkeit, Rückverweisung, theologisch als Offenbarung verborgenen Lichts präsent ist. »Licht« selbst wird dabei als >AusstrahlungScheinendesaus sich Heraustretendes< zum Träger einer ganzen Reihe von Metaphern und verweist damit auf den Zusammenhang der Schöpfung aus einer »Licht-Quelle«, auf Verbundenheit der Dinge. Uber die Art und Weise des solchermaßen angezeigten Zusammenhangs schweigt das Reservoir der Bildträger nicht anders als Bilder und Denkfiguren, in denen die angebbare Funktion hinter die Behauptung der offenen Bezogenheit zweier Positionen zurückgetreten ist. In abstrakten symmetrischen und analogischen Konstruktionen wird etwa der »Teil« als >das Ganze im kleinen« bzw. >das kleine Ganze< gedacht. Ähnlichkeitsverweisungen sind so auch dem seit der Antike bewahrten Topos von »Makranthropos« und »Mikrokosmos« eingebunden. >Der große Mensch< »spiegelt« >das kleine Alk Die Beziehungsfunktion als solche wird kaum oder nur substantialistisch gedacht, da die gegenwertigen Metaphern in ihrer Konstellation, d. h. in ihrem Gebrauch selbst die Funktion zu erstellen scheinen. Eigentlich muß bereits jeder der beiden Ausdrücke als Metapher angesprochen werden, da in der unbestimmten Vergrößerung des Menschen wie in der Diminuierung des Alls eine Verletzung des lexikalischen Merkmals vorliegt. Macht das

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U. Sonnemann, Athanaton. Studien über Totaltheorie, in: U. S., Negative Anthropologie 141ff. Sonnemann bezieht sich auf Cusanus' »Vom Globusspiel. De ludo globi«, Hamburg 1952, 31.

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Beispiel die Möglichkeit der Erstellung von Ganzheitsbildern durch Komparativierung und Superlativierung deutlich, so liefert die Tradition der totaltheoretischen oder - mit Nietzsche zu sprechen - »totalistischen« Verbalisierungen Hinweise auf die immanente Potenzierung solcher >Bilder< in Bildreihen und Bildschachtelungen. Denn auch im »Teil«, der eine >Struktur< des Ganzen wiederholt, vermag sich eine vielfache Strukturwiederholung in immer kleineren Einheiten und Totalitäten einzurichten, wenn über semantisch und pragmatisch eindeutige Voraussetzungen der Einheitskonstitution nichts ausgesagt wird. Die metaphorische Signifikanz des Bildträgers kann immer weiter übertragen werden. So auch in dem Text des Cusanus, wo eine Reihe von Totalitäten jeweils das Modell der vorangehenden umfassenderen Totalität widerspiegelte Ist das Universum ein >Bild GottesGliederung< und Proportion - naheliegenderweise könnte man schließlich den Finger wiederum als >Abbild< der Hand metaphorieren, womit eine Analogiekette ohne Funktionsargument errichtet ist. Die Funktionsbeschreibung selbst pflegt vielmehr, wie sie es auch im historischen Text tut, in ein Allurteil mit unbestimmbarer Funktionsbehauptung auszugleiten.3 Die häufige Verführung zum Allurteil ergibt sich aus der Situation der Prädikation, vom Ganzen als dem (additiven oder funktionalen) Insgesamt all seiner Teile zu sprechen. Könnte die Notwendigkeitsfunktion bestimmter Teile für Existenz und Funktion des Ganzen ausreichend 3

»Was ihn [Cusanus] zum Ganzen drängt«, meint Sonnemann, »ist eine Abneigung gerade gegen Verabsolutierung von Verstreutem [...]; daher hält er sich ans Bild des Globus, das den Zusammenhang des Universums vertritt. >In sich selbst nämlichfindet der Geist, der die freie Fähigkeit zum Entwerfen hat, die Kunst, den Entwurf zu entfalten.< [Nikolaus von Cues, ebd. 33] Universalerkenntnis, als das lebendige Denken, die Ratio, von Cusanus ausdrücklich bestimmt, ist in einem Teil des Universums, das der Mensch ist, von vornherein angelegt. [...] Daher ist der Teil des Universums, dem diese Aufgabe zugeteilt ist, mehr als ein Teil, spiegelt selber das Universum, strahlt das Ganze wider, ist Mikrokosmos; [...] >Freilich ist der Mensch in der Weise die kleine Welt, daß er auch Teil der großen ist. Denn das Ganze strahlt in allen Teilen wider, weil der Teil Teil des Ganzen ist: so spiegelt sich der ganze Mensch in der Hand, die zum Körper im rechten Verhältnis steht, aber die ganze Vollkommenheit des Menschen strahlt doch im Kopfe in vollkommenerer Weise wider. So spiegelt sich das Universum in jedem seiner Teile, denn alle Dinge haben zum Universum ihr eigenes Verhältnis und ihre Proportion. / Dennoch strahlt es in dem Teil, der Mensch genannt wird, mehr wider als in irgendeinem andern. Weil also die Vollkommenheit der Ganzheit des Universums im Menschen mehr widerstrahlt, ist auch der Mensch eine vollkommene Welt, wenn auch eine kleine, und Teil der großen Welt.< « (Zit. nach Sonnemann, Negative Anthropologie 142)

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angegeben werden, so wäre damit das Problem der Relevanzbehauptung jeweils gelöst. Da aber nur hypothetisch-vorgreifend die Notwendigkeit der Teile fürs Ganze behauptet zu werden pflegt, während ihr Nachweis nur mühsam erbracht werden könnte, entsteht die Schwierigkeit der Relevanzbestimmung für >integrale< und >periphere< Teile des Ganzen. Daß sich in dieser Schwierigkeit Probleme des Normativen realisieren, macht der Text des Cusaners seinerseits klar. Am Ende des Zitats schwankt die Relevanzbegründung zwischen zwei Ansätzen: einesteils wird die Vollkommenheitsbehauptung des Menschen aus seinem bestimmten Sosein, seiner im »Kopf« metaphorisch verlauteten Denkfähigkeit, Geistbeziehung usw. abgeleitet; andernteils scheint sie, allgemeiner, bereits durch die Tatsache ausreichend begründet, daß er als Ganzes »Teil der großen Welt« ist. In diesem Schwanken dokumentiert sich die Alternative zwischen einem bloß zählend-quantifizierenden, jeden Teil gleichwertenden, und einem wägend-qualifizierenden, die Teile wertend klassifizierenden Bezugsmodell für die Teil/Ganzes-Relation. Man ist geneigt, hier wesentliche Entwicklungen des Totalitätsbewußtseins festzumachen, sofern zunehmende Einsicht in die Funktionsdifferenzen zur Erhöhung der Alternativenbildung und damit zur kategorischen Zunahme von Wertungsbereitschaft führen muß. Nicht primär das Vollkommenheitspostulat, wie es im Cusanus-Text begegnet, signalisiert die Problematik der Behauptung von Ganzheiten als normative Festsetzung, sondern die Festsetzung von Einheit selbst ist nichts anderes als sprachliche Normierung. Die axiologische Bedeutung der Einheitsfeststellung tritt auf anderer Ebene in Erscheinung, und zwar in der Tradition des totalistischen Denkens als Legitimation des Teils durch das Ganze. »Teil« wird dann in emphatischem Sinn der zugrundeliegenden Substanz zugeordnet, er erhält - wie im zitierten Beispiel - die auserwählte Dignität einer Unter-Einheit, eines >Vertreters< des Ganzen: seine zunächst leere Funktion wird aufgewertet zum letztlich anthropomorphen Typus >Funktionärrichtige Repräsentanz des Systems< vor. Das Ganze als das sich selbst Repräsentierende, als objektiv sich ausweisendes Souveränes, stiftet in den Teilen den Mehrwert einer übers Dasein als >Masse< emporgehobenen Geltung. Soweit in den Zusammenhangs- und Spiegelungstopoi Funktionen der Repräsentanz- und Legitimationsgewinnung enthalten sind, realisieren sie metaphorisch Modelle der sozialen Zuteilung und Verteilung — denn alle Akte der Zuteilung sind Entscheidungen über Werte, seien sie nun logischer, materieller oder humaner Art. An der Wahl der Metaphorik läßt sich nun die Präferenz jener Werte ablesen, die abgesehen von der 9

Einheitsbehauptung und Ausschließung des >anderen< die Richtung der Wertsetzung anzeigen. Nikolaus von Cues korrigiert seine beispiels- und gleichnisweise Verwendung eines Totalitätsgleichnisses — der Spiegelrepräsentanz der Hand für den ganzen Menschen - durch ein seinem Wertungssystem angemesseneres Gleichnis: »die ganze Vollkommenheit des Menschen strahlt doch im Kopfe«. Würde die Alternative zwischen den konkurrierenden Bildträgern »Hand« und »Kopf« axiologisch entfaltet, ergäbe sich eine elaborierte Stufung von Werten, die schließlich den gesamten Vergleichsakt hinfällig machte, da der >Sprung< des Vergleichens nicht mehr notwendig ist, wenn wirkliche Vergleichbarkeit, d. h. Anmeßbarkeit von Größen oder Werten erarbeitet ist. Dann würde die im Allurteil abstrakt behauptete Proportionalität der Verhältnisse der Teile zum Ganzen angebbar geworden sein. Damit freilich würde auch eine Voraussetzung gerade für jenes Gleichnisdenken entfallen, das im Weltgleichnis theologische Traditionen weiterführt, - die Möglichkeit des Vollkommenheitsprädikats. Wie Sonnemann im Folgenden ausführt und anderweitig durch Blumenbergs Arbeiten zum Beginn des neuzeitlichen Denkens belegt ist, 4 verlagerte sich mit der Betonung der Eigentümlichkeit der Strahlung bzw. ihrer Widerspiegelung der Ansatz der Wertung: sie ging immer weniger vom Ganzen aus, das als Ausgang des Lichtes unvorgreiflich einige Teile begünstigt bestrahlt, sondern von der Arbeitsbereitschaft des einzelnen, die sich in mühsame Relation zum immer >weiteren< Verband sozialer Einheiten zu bringen hätte. Mit einem solchen prozessualen Relationsverhältnis wären die von Sonnemann kritisierten Dinglichkeitsmodelle im Topos >Teil/Ganzes< ebenfalls hinfällig. Je entschiedener der Prozeß von Annäherung und Erarbeitung des Zusammenhangs als sukzessiver und reflexiver verstanden wird, desto mehr widerlegen sich die auf statische Zeitauffassungen begründeten, die Präsenz des Zusammenhangs verhüllt vorwegnehmenden Teilhabe-Modelle, da ihnen die Idee der wünschbaren »Teilung« entschwindet.5 4

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Vgl. dazu u. a.: H . Blumenberg, Die kopernikanische Wende, darin vor allem die Abschnitte »Weltformel und Wahrheitsanspruch«, »Metaphorische Kosmologie Kosmologische Metaphorik« 4 1 f f . und 122ff.; H . B., Die Legitimität der Neuzeit 1966. Sonnemann vermerkt, daß noch in der Grundformel, daß das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, die abgewehrte Voraussetzung eines räumlich-teilenden Verhältnisses gemacht wird: »ein sich Lügen strafender Satz, denn als quantitativer Begriff, der es ist, setzt das Mehr für seinen Anspruch, den sie abweisen muß, gerade jene Summe als Urteilsinstanz; während das qualitativ Andere, das ein Ganzes, wenn es überhaupt eines ist, in der T a t ist, gerade auf die Weise eines wird, daß es seinen Teilen gegenüber nicht als mehr, als ihre Vereinigung sein kann, sich aufspielt.« Der räumlichen

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Kritik der Dinglichkeit ist keine erst dem 19. und 20. Jahrhundert vorbehaltene Entdeckung. Ihr traditionelles Medium ist der innerhalb auch dualistischer Grundkonzeptionen mögliche Verweis auf die Lebendigkeit des »Geistigen«. Auch hier stößt man auf Bedingungen einer philosophischen Metaphorik, wenn sich die Raummetapher nahezu gänzlich mit der Semantik des >Geistigen< füllt: kaum denkt man beim »Inneren« weltanschaulicher Texte daran, daß hiermit noch nichts über >Geistig< vs >Ungeistig< gesagt ist. Man konnotiert ungestört die Bedeutung >spirituell< als wertenden Gegensatz zu >äußerer Wirklichkeit. 6 Sprechen wir im Versuch einer Differenzierung kosmologischer Modelltraditionen vom spiritualistischen Paradigma, so ist auch in ihm ein pragmatischer Aspekt enthalten. Im Umkreis der platonischen Ideenlehren wird Zusammenhang konzipiert als >EntwurfPlan< - mithin >IdeeDing- bzw. Dasein< vorhergeht. Daraus leitet auch Cusanus her, daß der Mensch ein hervorragendes und zugleich den Zusammenhang bewährendes Moment im Universum sei. Aus der Selbsterfahrung des geistigen Vorgriffs auf partielle Wirklichkeitsveränderung entnimmt man das Medium für kosmologische Darstellung. Diese Möglichkeit, die ihren Ausgang aus der Selbsterfahrung des Denkens nimmt, im Vollzug des >Ich denke< »Abbild«-Kategorien für den Weltzusammenhang zu erhalten sucht, nennen wir - entsprechend der im 18. Jahrhundert erreichten Verschärfung des Denkbewußtseins in der Auseinandersetzung zwischen »ideae innatae« und der kritischen Erarbeitung der »transzendentalen Apperzeption« - das Paradigma des

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Vorstellung von Totalität, »die sich Verhältnissen toter Ausgedehntheit im Raum zu deren Komponenten oder ihrem sie Umfassenden nachformt«, gesteht Sonnemann »bestenfalls ein gleichnishaftes, für die Erkenntnis sekundäres Moment« zu;« für das ihm immanente Reflexionsverhältnis, das so sehr Bedingung des Ganzseins eines nicht erschwindelten Ganzen ist, daß es auch als absolute Abgeschlossenheit zuletzt nicht gedacht werden kann, bietet die Dingwelt kein Bild an, versagt, das Denken ganz auf sich selbst stellend, die Metapher.« (Sonnemann 144f.) Im Zusammenhang seiner Untersuchung der »aporetischen Frage nach Objektivität« geht Jürgen Nieraad auf die Tatsache ein, daß die vom Descartesschen Dualismus gefährdete spiritualistische Paradigmatik von Kosmologie durch einen erneuten synthetischen Schritt der Paradigmenverknüpfung bei Leibniz restituiert wurde. »Auch setzte diese neue Hypothese außer Gott und der denkenden Substanz nichts voraus, konnte dabei aber alle Erscheinungen erklären, d. h. von Gott und der denkenden Substanz her begründen. Solche Überzeugung veranlaßte Leibniz, sich gegenüber Malebranche [...] zu rühmen, er sei in das Innere der Dinge eingedrungen und habe ihren Grund entdeckt. >Das Innere der Dinge erkennen« - das muß als eine geradezu programmatische Erklärung gegen GALILEI, NEWTON und den Empirismus verstanden werden, für die [...] das Wesen einer Sache grundsätzlich unerkennbar ist.« (Standpunktbewußtsein und Weltzusammenhang 33)

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transzendentalen Apriori. Grob gesprochen wird darin der Weltzusammenhang als Vorstellungszusammenhang konturiert. Analog verhalten sich dann noetische und ontische Kreativität. Und der Begriff des Zusammenhangs wird demnach kompatibel mit Ausdrücken, die seelische, intersubjektive Verhalte bezeichnen, mit »Ausdruck« selbst, »Repräsentation« (wie bei Leibniz), »Emanation« (wie bei Plotin und den neuplatonischen Schulen). Dieses Paradigma erweist seine spezifische Tragfähigkeit - über das kausal-kosmologische Interesse hinaus in der Deutung des Schöpfungsbewußtseins als ästhetisches Schöpferbewußtsein, also in der Epoche der Kunstphilosophie. Akzentuiert sich in den paradigmabildenden Traditionen des wachsenden transzendentalen Bewußtseins die Beteiligung des Menschen als eines geschichtlich-sprachlichen Wesens an der Aufschlüsselung von Welt, so ist dem transzendentalen Moment eine Fraglichkeit hinsichtlich der Objektivität des Erkennens zugeordnet. Denn alle paradigmabildenden >Entdeckungen< tendieren dazu, sich zu einer unflexiblen Auslegungsform - unter feindlicher Fixierung an eine meist allzu schnell vereinseitigte »anachronistische« Paradigmatik - zu verfestigen. Mit dem, was »idealistische Philosophie« genannt wird, ist eine solche gefährliche Ambivalenz und Überwertigkeit der transzendentalen Selbsterfassung des Denkens verbunden: als transzendentalistische Weltauslegung. Die Krisenereignisse im Gefolge der Kantischen Relativierungen des metaphysischen Denkens, seiner Axiomatik und Ansprüche, sind gerade in dichtungsgeschichtlicher Hinsicht wirksam geworden. Hat man doch vielfach eine radikale und universale Umstellung der Daseinswertung und der Hermeneutik von der Bestimmung der Erkenntnisgrenzen wie der Erkenntnisformen ableiten zu müssen geglaubt. Gegenüber ängstlichen wie unbedenklichen Vereinseitigungen ist ein dialektischer Begriff von Erfahrung beizubehalten, in dem sich weder die transzendentale Organisation noch die Objektivität des Wirklichen als solche verselbständigen. Weder eine nach sozialen Handlungsmodellen konzipierte, von der Ideologiekritik als »intentionales Weltbild« kritisierte Bildhaftigkeit der Weltvorstellung noch eine sogleich ins Irrationale führende Abstraktheit und Verstelltheit des Weltbezugs können sich erhalten, versucht man im Sinn der Unterscheidung von unmittelbarem Erfahrungsvollzug und vermittelnder reflektierter Bestimmung dieses Vollzugs als Erfahrung zu denken.

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2. Wissenschaftstheoretische Aspekte von »Bild«, »Analogie«, »Gleichnis«, »Metapher« »Bildgesegnet und bildverflucht ist das menschliche Leben, nur in Bildern vermag es sich selbst zu erfassen«, klagt Hermann Broch im »Tod des Vergil«, um sogleich diese Doppelheit von Segen und Fluch mit dem Atavismus der Zeitlosigkeit zu verknüpfen: »unbannbar sind die Bilder, sie sind in uns seit Herdenbeginn, sie sind früher und mächtiger als unser Denken, sie sind ein Zeitloses, schließen Vergangenheit und Zukunft in sich ein [...]«.* Wäre dem menschlichen Denken eine Aufgabe gestellt, so möchte sie nicht zuletzt darin bestehen, den Bann der Ambivalenz in ein doppeltes Glück zu überführen, wie es im Gedanken der erfüllten Zeit, der Versöhnung von Vergangenheit und Zukunft als ein mehr oder weniger bewußtes Motiv durch die Geschichte der Selbstdeutungen läuft. Unabhängig vom Diktum des Dichters ist aus denkerischen Gründen die Doppelwertigkeit des »Bildes« in der menschlichen Selbstvergewisserung zu betonen. Deuten wir »Segen« als Anerkennung eines in sich bruchfähigen Ganzen, so wäre der Fluch des Bildes darin zu sehen, daß das Subjekt eben durch das Medium des Bildes gehindert wird, sich selbst zu erfassen. Der Gebrochenheit nicht ausgesetzt zu sein in der Täuschung fiktiver Ganzheiten, in jenem Selbsterfahrung verstellenden Medium des Bildlichen, verwehrt die Chance der Erstbedingung von Denken und Selbstbezug: >sich als je Eigenes setzen< zu können. Aus dem Atavismus führte immer wieder erst und allein die Erneuerung dieses Sich-setzen-, Sich-absetzen-könnens heraus, das sich abhebt von der totalen Verfügung durchs vereinheitlichende, Zeitentfaltung verhindernde Bild. Dichtungs- und wissenschaftsgeschichtliches Bewußtsein zwingt zu der Fragestellung, wie sich der Repräsentationsbereich »sprachlicher Bildlichkeit« auf die Erfassung dieser Thematik in der historisch elaborierten Problemobjektivierung auswirkt. Wenn überhaupt sich Bildgebundenheit als »Fluch« darstellt, worin liegt dann die Richtung einer Befreiung aus ihr? Ist Wissenschaftlichkeit als Prozeß der intersubjektiven Differenzierung von Welt- und Selbsterfassung zu deuten, dann müßte in ihrer zunehmenden Entbildlichung das gesuchte Glück liegen. Doch dagegen protestiert unübersehbar die Geschichte des poetischen, des ästhetischen und großenteils auch des philosophischen Bewußtseins. Wissenschaft, vornehmlich im vergangenen Jahrhundert konnotiert mit 1

Zit. nach Nieraad, »Bildgesegnet und bildverflucht« VII.

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dem >Zerfall< von Einheiten der Empfindung, der Lebensqualitäten, der Geltungstraditionen, schickt nahezu unvermindert Wellen des Schocks durch die Geschichte unserer Weltdeutungen.2 Ihre Unzumutbarkeit wird am dringlichsten erlebt als Entzug von Einheitlichkeit. Die traditionelle Einheitlichkeit von Weltmodellen - etwa des antiken Kosmosmodells, das offensichtlich wenig Zeitaspekte thematisiert, des christlichen Schöpfungsmodells, das diesen Mangel allzu >menschenähnlich< aufzuholen versucht — schien in »atomisierender« Erkenntnis grundsätzlich und für immer zu zerfallen; so entwickelt sich in dieser Bedrohung das Bewußtsein, Werte des »Gemüts« als Integratoren der beschleunigten Dissoziation der Denk- und Bewußtseinsaktivitäten zurückzufordern bzw. an ihnen festhalten zu müssen. Es darf vereinfachend so gesagt werden: in der zweiten, spezifisch naturwissenschaftlich entwickelten Aufklärungsbewegung des 19. Jahrhunderts droht jenen Gruppen und Führungsschichten, die soziologisch an der Einheitlichkeit des Lebens interessiert sind, die >Tradition eines verpflichtenden Textes< der Natur — wie sie in der geistigen Welt des 18. Jahrhunderts zum Movens der Aufklärung wurde und in einer großen Reihe von Topoi aktuell blieb (man denke an »Sprache der Natur«, »signatura rerum«, Weltbeseelungshypothesen u. ä.) - zu entgleiten, da sich Natur als das Analysierbare katexochen darzustellen anschickt. Die latente Wut etwa Schopenhauers über analytisches Unwesen< wird als Korrelat einer Angst vor dem die Verbindlichkeit der Traditionstexte zerreißenden Umsturz der »Ordnung der Dinge« nachzuweisen sein. Ist gegen die unterstellte analytische Zerstörung die Bildlichkeit der Sprache als Heilmittel einzusetzen? Brochs Verwendung des Bild-Begriffs legt die Vermutung nahe, er meine damit etwas wie Archetypen des Bildes, kaum ablegbare Prägungen der menschlichen Vorstellungskraft. Die Frage, wann und inwiefern in ihnen bedrohlicher Fluch sich realisiert, ist nicht zu beantworten, ohne auf die >Bewußtseinsstelle< einzugehen, in der sich dieses Bild ereignet. Nur dort, wo >Schwachstellen< des Systems der Lebensbewältigung bzw. der Selbstdeutung vorliegen (reale Gefahr, psychische Unsicherheit - etwa am Beispiel technologischer Unterlegenheit und traumatischer Erfahrung zu demonstrieren), entwickelt das >Bild< die negative Brisanz seiner atavistischen Kraft. Je >klarerhandlicher< das Bild sich im Zusammenhang des bewußt gestalteten 2

Vgl. dazu wissenschaftskritische Ansätze in den >Philosophien< etwa von F. v. Weizäcker, P. Jordan, M . Picard, neuerdings die >Systemkritik< P. Feyerabends.

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Lebens erweist und bewiesen hat, desto mehr verliert es von seiner überfallenden, übermächtigenden und faszinierenden Bedeutung; in semiotischer Sicht: das ungreifbar Integrierende des Bildes verwandelt sich zum griffigen, gebrauchsnahen, stabilen Zeichen, mit dessen Gebrauch sich Medialität und Kommunikativität zugleich steigern. Gehen wir davon aus, daß Nähe, Wiederholbarkeit und >Handlichkeit< (Überblickbarkeit, Gestaltbarkeit) wesentliche Momente erlebter Sicherheit bilden, so erscheint die Praxis analogisierenden Denkens in dieser historischen Ableitung notwendig als Versuch, die in der (schon bewältigten) Nahwelt erreichte Sicherheit (versuchsweise, entwerfend) auf eine (noch bedrohliche oder zumindest >fremdemenschlicher Modellvorstellungen< in der Tradition der religiösen Sprache gerade in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein ganz zentraler Topos der Argumentation gegen die »anthropomorphe« Vorstellungstradition der Kirchen. Um den Unterschied zwischen ModellDenken und ideologisch kritisierbaren Analogisierungen schärfer zu beleuchten, ist wiederum das Verhalten des Sprachverwenders zu dem von ihm geteilten Sprachgebrauch zu untersuchen. Soll der heuristische Wert einer »Übertragung« gesichert werden, so muß die »Übertragung« als solche, d. h. die vorläufige Unzulässigkeit der semantischen Verbindung, bewußt sein. 6 Das bedeutet, daß eine

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Nieraad, »Bildgesegnet und bildverflucht« 94. So u. a. W. Koller, Semiotik und Metapher. Untersuchungen zur grammatischen Struktur und kommunikativen Funktion von Metaphern; G. Kurz und T. Pelzer, Metapher. Theorie und Unterrichtsmodell; J. Nieraad I.e.; W. Ingendahl, Der metaphorische Prozeß; ders., Die Metaphorik und die sprachliche Objektivität. Im Unterschied zum ausgreifenden Einsatz von Not- und Spielwörtern, mit dem das Kind den Gegenstandsbereich seiner Umwelt einholt, wird allgemein dem Metaphernbegriff das Moment des spezifischen Metaphern-Bewußtseins zugeschrieben, d. h. daß sich die »semantische Anomalie« (vgl. Koller, Semiotik und Metapher) einer Wortver-

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gewisse Praxis des metasprachlichen Zeichenbezugs vorliegen muß. Dieser die Geltung der Zeichen differenzierende Bezug entfällt, wenn Bilder (etwa durch Rekurrenz oder unbewußte Umdeutung) nicht mehr als okkurrent erlebt werden können und dann zu gängigen Metaphern und zu reproduzierbaren Formeln >absinkenÜbertragungAnwendungApplikationVergleichung< unter dem Namen der Analogie oder der Metaphorik zu subsumieren. 7 Shibles Überlegungen arbeiten in rein integrativer Absicht, die vorgeschlagenen Differenzierungen erreichen selten das Niveau des Denotativen (ζ. B. wenn der Satz »das Gehirn ist wie ein Computer« als »ein >offenes GleichnisReferensSignifikant< u. ä. nicht gelingen kann. Über die Undurchfiihrbarkeit eines mathematisch-formalistischen Analogiebegriffs im Bereich der Sprachverwendung belehren bereits die Erfahrungen des Thomas von Aquin; da nämlich das mathematische Proportionalitätsmodell »Bestimmtheit der verglichenen Proportionen in sich«9 verlangt, sah er sich genötigt, diese Übernahme einer Analogie, wie sie im Buch »De veritate« vorliegt, in den späteren Schriften (so in den »Summen«) zu vereinfachen. Bestimmte Proportionalität ist notwendig Bestandteil eines Systems. Dieser Bestimmung widerspricht, worauf es sprachlicher Analogie, metaphorischem Ausdruck und variablem Gleichnis auch ankommt: die »Oszillation« der Bedeutung. Nicht nur für die Metapher, sondern in betontem Sinn für die >ausgeführten< Formen »bildlicher« Sprache gilt, was seit Weinrichs Untersuchungen zur Metapher, vor allem seit seinem Aufsatz über die »Semantik der Metapher«,10 als Erkenntnis allgemeine Anerkennung findet: die Metapher ist kein »Wort«, sondern ein wenn auch noch so kleines »Stück Text«. In diesem Text-Stück, das seinerseits eine metaphorisch-analogische Variation von Bedeutung zu erzeugen sucht, wird eine semantische Abweichung, Dissonanz, Anomalie usw. präsentiert. Dabei erfolgt der Zusammenstoß einer okkurrenten Prägung mit einer lexikalisch, idiomatisch, semantisch usw. angelegten »Determinationserwartung«.11 Mit Recht stellen Kurz/Pelster fest, daß damit die Ebene einer bloßen Textsemantik in Richtung auf Pragmasemantik überschritten ist. 12 Und wichtig ist die Präzisierung der Weinrichschen These dahin, daß nur das gegenseitige, je auf Rezeptionserwartungen fundierte Bestimmungsver-

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W. Shibles, Die metaphorische Methode 6. Historisches Wörterbuch der Philosophie I, 2 2 6 . Vgl. Folia Linguistica 1 (1967) 3 - 1 7 . Weinrich formuliert die Differenz zwischen >Metapher/Bild< und (syntaktisch-semantisch regelhaftem) Kontext folgendermaßen: »Das [die Metapher bildende] W o r t erhält zwar auch eine Meinung, aber diese liegt nicht in dem vermuteten Bezirk. [...] die durch den Kontext bestimmte Meinung liegt nicht innerhalb, sondern außerhalb des Bedeutungskreises. Es entsteht ein Überraschungseffekt und eine Spannung zwischen der ursprünglichen Wortbedeutung und der nun vom Kontext erzwungenen unerwarteten Meinung«. Diesen Vorgang einer Spannungserzeugung nennt Weinrich »Konterdetermination«. (I.e. 6) Kurz/Pelster, Metapher 43f., 47f. und 57f.

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hältnis von »Wort« und »Kontext« das Sprechen in und das Verstehen von Metaphern ermöglicht. Entgegen Shibles Übertragungen ist eindeutig klar, daß keinerlei Okkurrenz, Erwartungsenttäuschung oder lexikalische Exzeptionalität vorliegt, wenn ich ein Modell oder ein Schema auf einen anderen Gegenstandsbereich in einer heuristisch-kognitiven Absicht übertrage - ich bin mir dieser Praxis als einer heuristischvorläufigen bewußt, was bedeutet, daß ich sie, sollte der Übertragungsversuch gelingen und der Anschluß des >Unbekannten< an das geläufige Reservoir von Termen bzw. Modellen gesichert werden können, etwa durch denotative Konventionalisierung der verwendeten oder auch besser geeigneter neuer Zeichen verändere. Wer jedoch - in poetischem oder pragmatischem Sinn - ein »Bild« gebraucht oder eine Metapher verwendet, handelt nicht aus diskursiver Not mit dem (Fern-)Ziel einer Selbstkorrektur, sondern er entwirft eine Übertragung, deren Wert darin besteht, daß sie an sich selbst und an der relativ >selbständigen< Existenz der beiden miteinander verbundenen >Bereiche< interessiert bleibt. Mit allem Recht wird in der kritischen Synopse von Kurz/Pelster festgestellt, daß Metaphorik nur als Verhältnis von >TextKontext< vorkommt: »Ein metaphorisches Element erfordert also einen Kontext mit normalen, usuellen Wortgebräuchen«. 13 Dies ist vor allem im Hinblick auf philosophische Fragestellungen der Spätphase des 19. Jahrhunderts festzuhalten, in welchen die Entdeckung der Bildlichkeit des Sprechens und der triftigen >Exmetaphorizität< der Sprache zu der generalisierenden Annahme führte, dem Menschen stehe - als anthropologisches Stigma nur der Umgang mit Metaphern frei; die verheerenden Folgen, die sich aus dieser Verallgemeinerung eines kritischen Ansatzes in Nietzsches metaphorischem Denken ergaben, trugen zu seinem Nihilismus bei. Festzuhalten ist jedenfalls die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen »Metaphorik« als einer im engeren Rahmen aktueller (wenn auch umfangreicher) >Texte< liegenden (rhetorisch-stilistischen) Sprachebene, »Metaphorizität« als genereller Ausstattung von (allen?) Texten mit >bildlichen< Elementen, die jedoch metasprachlich zu hinterfragen bleiben, und »Bildlichkeit« als Struktur einer simultanen Veranschaulichung bzw. Transformation von >theoretischen< Gehalten. Das Gesamt der anthropologischen Sprachsituation läßt sich mit keinem dieser Begriffe beschreiben. Die Korrelation zwischen normalsprachlicher logischer Wortverwendung und der in ihr implizierten lexikalischen Solidarität ist unverzicht13

Kurz/Pelster, Metapher 44.

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bar für jede metapherntheoretische Reflexion.14 Dementsprechend kann, gerade bei der Analyse philosophischer Texte, auf die operation a l Unterscheidung von »wörtlicher«, d. h. normgeregelter, zur Identifizierung tauglicher Sprachverwendung und einer semantisch anomalen, Identifizierung erschwerenden Diktion nicht verzichtet werden. Es gibt eine große geschichtliche Tradition von vor allem in erbaulichen, philosophisch-theologischen Mischungsbereichen vorkommenden Sprechhaltungen, in denen sich ständige Analogiebildung als Hindernis vor jeder semantischen Identität und Fixierung aufbaut. Am Beispiel Fechners werden entsprechende Erscheinungen zu untersuchen sein, die ihre rezeptive Brisanz darin haben, daß sie ständig der Alternative ausweichen, ob sie sich nun auf Realität oder auf (metaphorisch-analogistische) Sprachlichkeit beziehen. Die rekurrente Praxis eines ständigen bildlichanalogischen Sprechens legt die Ausschaltung der Bereitschaft zur Unterscheidung zwischen >realer< und »metaphorischen Referenz nahe. Ihr Sinn ist auch die Annahme der semantischen Mischung oder Ambivalenz, in der >wörtliches< und >bildliches< Verständnis miteinander in Geltung kommen und bleiben sollen. Im historischen Kontext der Ausdifferenzierung der (Fach-)Wissenschaften sind solchen Texten fachübergreifende, integrative Funktionen zugedacht, die - meist unter Rückgriff auf traditionelle Träger integraler Sprachverwendung (ζ. B. Lebenskunde, Didaktik, Theologie) und im Angriff auf die negativ bewertete Sprachdifferenzierung (Atomismusvorwurf) — nicht nur die Überführbarkeit der einen in die andere Sprachgebung, sondern (häufig allerdings nur implizit) die Rückführbarkeit der elaborierten Sprachlichkeit in bestimmte Traditionssprachen fordern. Solche >Auffangbewegungen< sind als Reaktionsmuster auf Differenzierungsphasen geistesgeschichtlicher Betrachtung geläufig. Ihr sprachlich-pragmatisches Fundament sind Aufweichungen bestimmter Kategorialisierungen. Und am wirkungsvollsten ist dann natürlich die Aufweichung der Differenz zwischen >wörtlich/eigentlicher< und >bildlich/metaphorischer< Bedeutung selbst.15

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Auf den Zerfall der metaphorischen Sprechebene in Texten, für welche >Bildlichkeit< bzw. ein aus der Normalität herausgenommener Gebrauch von semantischer Okkurrenz typisch ist, muß hier unter Berücksichtigung zweier relevanter literaturgeschichtlicher Gattungsprobleme hingewiesen werden: Die normentlastete »Welt« des Märchens kennt kaum Metaphorizität, und die entfaltete Metaphorik der modernsten Lyrik etwa im Beispiel Paul Celans - läßt die Unterscheidung einer »eigentlichem und >uneigentlichen< Ebene der Sprachverwendung nicht mehr zu. Beides belegt die Situation, daß die Universalisierung eines Textelementes auf seine Annullierung hinausläuft.

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Die pragmatisch-rhetorische Ambivalenz des Metapherngebrauchs ist unter dem Aspekt der Prädikation zu untersuchen, sofern man Metaphern als »widersprüchliche Prädikationen« auffassen kann. 16 Die Referenzbeziehung im Prädikationsakt bezieht sich auf das, was als »Thema« der Äußerung angezielt ist. Die Widerspruchsbeziehung im Prädikationsakt hängt offenbar zusammen mit dem, was der Sprecher — entgegen einer normalsprachlichen, semantisch geregelten - durch das Medium seiner Sprache, gleichsam in der Immanenz seiner Prädikation, »ausdrücken« oder »erreichen« will. Diese Kategorie, beschreibbar als das über ein Thema (die propositionale Basis eines Satzes) durch die Prädikation (innovatorisch) Gesagte, hängt wesentlich zusammen mit der »kommunikativen Dynamik«. 17 Da >Bildlichkeit< nur am Denotativen gemessen werden kann, stellt sie immer eine >Abweichung< in der diskursiven Struktur von Äußerungen dar. Insofern exponiert sie sich selbst und bildet damit die Voraussetzungen dafür, daß der Rezipient einen >neuen< Kontext erstellen muß. Ist das Thema das Bekannte, so liefert die bildliche Prädikation das Neue im Rahmen des Rhemas und erzeugt somit die Nötigung, mit einem verschärften hermeneutischen Zugriff diese prädikative Veränderung »eines kontextuell oder situationeil exponierten Themas« 18 einzuholen. Wie schon gesagt, muß dieser hermeneutische Prozeß keineswegs grundsätzlich im Sinn einer Differenzierung der Sprache und des Sprachbewußtseins verlaufen. Daß er dies in ästhetischen Texten tue, wird

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Wenn Kurz/Pelster auf die Intentionspraxis des metaphorischen Sprechers hinweisen, der wolle, daß man sein >Bild< als Metapher annimmt und versteht, nicht es als bloßen >Fehler< auffaßt (vgl. Metapher 51f.), so muß dazu ergänzt werden, daß es zur umfassenderen pragmatischen Funktion metaphorischen Sprechens gehört, es als Mittel für indirekte Intentionen einzusetzen: Wer sich nur als Metaphern-Verwender verstehen lassen will, insistierte auf dem Bewußtsein der Metaphorizität beim Rezipienten; aber >Bildersprache< hat häufig die Absicht, Metaphorizitätsbewußtsein gerade auszuschalten. Vgl. dazu Weinrich, Semantik der kühnen Metapher 337. Vgl. dazu LGL I, 227, w o u. a. auf Möglichkeiten der Ausprägung bestimmter »thematischer Progressionen« durch Veränderung des Verhältnisses von »Thema« und »Rhema« hingewiesen wird. Damit ist die für unsere Untersuchung relevante Frage nach dem Status des Diskurses aufgeworfen: wenn das jeweilige Rhema zum Thema des nächstfolgenden Satzes wird, bestünde eine »einfache lineare thematische Progression«, von der etwa thematische Progression mit konstantem Thema zu unterscheiden ist. Beide Progressionen stehen in einem gespannten Verhältnis zur Metaphorizität, die als Anweisung zu anomaler Prädikation oder als »Analogieanweisung« (vgl. dazu G. Lüdi, Die Metapher als Funktion der Aktualisierung 68) auf einer durch rhematische Mittel ermöglichten Varianz des Thema-Bezugs insistiert. Kurz/Pelster, Metapher 69.

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allgemein anerkannt, und daß der Wechsel von thematischer Diskursivität und bildlicher Diktion dem Diskurs eine Störung zufügt, wird ebenfalls vom wissenschafdichen Bewußtsein anerkannt, aber als metapherntheoretisches Problem und in der Praxis der Analyse expositorischer Texte spürbar vernachlässigt.19 Auf die Zusammenhänge, die sich zwischen der Steigerung der kommunikativen Dynamik durch Einsatz bildlicher Mittel und der Diskursivitätsstörung erkennen lassen, muß im Folgenden auch unter dem Aspekt eingegangen werden, welche >SprachweltenWelt< ist das, >worin< alle Dinge

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Emge, Der ethische Fehlgriff nach dem Ganzen 3 9 . Ebd. 4 6 . Adorno, Ästhetische Theorie, 1970, 16. B.Bräutigam, Reflexion des Schönen - schöne Reflexion 2 4 1 ; zur notwendigen bestimmten Kontextbildung für den Satz »Das Ganze ist das Unwahre« vgl. vor allem 189ff. und 195ff. Vgl. dazu J. Reiters Aufsatz »Subjekt und Totalität«, in: Zs. f. philos. Forschung 2 4 (1970): »Wenn sich [...] die Wichtigkeit der Kategorie >Totalität< erweise als System, das seine eigenen Momente aus sich heraus bildet und sie als Bedingungen des Ganzen setzt, und der Begriff des >Konkreten< den Ort des Menschen in dieser Gesellschaft anzeige: so wird u. E. mit der Behauptung, alle Entfremdungsprobleme seien hier grundsätzlich gelöst, die Totalität in ungeschichtlicher Weise vorschnell beansprucht und (hegelisch gesprochen) mit empirischer Allgemeinheit verwechselt«. (91f.) Reiter referiert anschließend über Damnjanovic' Referat »Das Wahre ist das Ganze - in geschichtsphilosophischer Sicht«, die eine ähnliche Kritik der Totalität enthält: »Gerade die konkrete dialektische Identität des Geistes läßt idealistischen Gesellschaftstheorien (auch unkritischen marxistischen Totalitätsanspruch) nicht mehr zu.«

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>benachbart< sind: der emphatisch verstandene Ort der Einheit und des Zusammenhangs. Daraus, daß die pars-pro-toto-Beziehung gerade einem verschärften Weltbewußtsein geläufig sein muß, ergibt sich die Zusammengehörigkeit von Totalitätsthematik und Metonymik. Daß der »Weitsprung« vom Kiesel zur Welt nicht unbedingt ohne gewisse Hilfestellungen und Brückenglieder erfolgen muß, wird uns eine Reflexion der dualistischen Paradigmatik der Tradition zeigen. c) Der »Panpsychismus« als Paradigma Der Welt im ganzen Prädikate zu erteilen (ist sie »geistig«, »materiell«, »lebendig«?), darf heute als anachronistisches Unterfangen gelten. Sofern modernes Bewußtsein Abstand davon nimmt, Welt in situative oder intentionale Kontexte einzugliedern (Verlust der Geschichtstheologie und der Praxisbildlichkeit der Totalitätsdimension), verbleibt im wesentlichen nur eine strukturelle Relationsübertragung, um Welt in Bildzusammenhänge einzufügen. Da man die Metapher im weiteren Sinn und unter Beziehung auf die Vergleichsfunktion »als eine Kombination zweier Synekdochen, als Bewegung vom Teil zur Klasse und wieder zu einem (anderen) Teil dieser Klasse«, 72 interpretieren kann, läßt sich in die metonymische Hauptbeziehung der Totalitätsfunktion auch ein metaphorisches Moment einbringen, das sich auf die universale Einteilung des Seienden in >geistig-seelische< und >materielle< Dinge bezieht. Wir haben hier nicht über verschiedene kulturelle und sprachliche Ausprägungen der Prädikation von Dingen als »seelisch« zu sprechen, jedoch von der Tatsache einer Tradition, deren Wesen wohl in animistischen wie in naturphilosophischen Ordnungsvorstellungen ähnlich anzusetzen ist. »Seele« (in allen möglichen Abschattungen) wird hier als Wiederkehrendes, oft latentes, jedenfalls »Leben« und »Zusammenhang des Lebens« garantierendes Paradigma gebraucht. 73 Es ist wahrscheinlich, daß sehr allgemein und unspezifisch differenzierende Prädikationsmuster, die in wesentlich praktischen Bereichen der Erkenntnis- und Sprachverwendung längst entweder widerlegt oder aus

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Kurz/Pelster, Metapher 72, Anm. 73. Wieweit hier - geschichtlich gesehen im Raum der älteren Antike (vgl. Jaspers' »Achsenzeit«) - eine der wichtigsten Stufen der anthropologischen Entwicklung: die Selbsterfassung des menschlichen >Geistes< in komplexen realen und sprachlichen Distanzierungsvorgängen vom Nicht-Geistigen zur prägenden Einrichtung eines dualistischen Paradigmas der Welterklärung wurde, wäre in Weiterführung der Forschungsleistung von Topitsch über die antiken Seelenbegriffe zu erfragen.

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ihnen >zurückgezogen< wurden, da sie sich als referenzlos oder unpraktikabel erwiesen, sich langfristig erhalten in Bereichen, die als spezifisch semiotische Sekundärwirklichkeit, als >akkulturierte< oder >medialisierte< hermeneutische Welt mit geringem Realitätswiderstand gelten können; sie behaupten sich - etwa im Rahmen kulturell notwendiger Referenz auf >Tradition< als solche - selbst gegen die Erkenntniskritik einer am Widerstand der Realität (der Außenwelt wie der dialogischen Sozialsituation) kontrollierten und »geschulten« Kognitivität. Dann würde unter anderem das Verhältnis dieser »sekundären« (auf »Geisteswissenschaft« verweisenden) Wirklichkeitsbereiche zu den »primären« der »natürlichen« Welt als metaphorisch tragfähig gelten können: diese wird - unabhängig von den analytischen Praktiken ihrer Erforschung im geistigen Verwertungszusammenhang als Bereich genutzt, der die sekundären, etwa psychomorphen, Bilder »empfängt«, - womit seine affirmative Eingliederung in die hermeneutische Nahzone des Humanen erfolgt. Der metaphorische Prozeß, der ohne Zweifel von der Platonischen »Weltseele« kulturell in Gang gesetzt wurde, enthält nachweislich den Wandel des bildlichen Ausgriffs vom Charakter eines hermeneutischen »Vorschlags« und eines Verstehensangebots zum traditional stabilisierten Verstehensgebot. 74 Dabei konnte die heuristische Funktion zur präskriptiven werden. Was möglicherweise aus lexikalischem Bedarf und nur vorläufig entstand, kann als Integrationsformel stabilisiert werden und rückläufig die Elaboration eines differenzierten Lexikons hintertreiben. Das Selbstverständnis greift dann jeweils auf die im >Bild< verbindlich gesetzte Integration des Fremden bzw. Übermächtigen zurück und erfährt den metaphorischen Brückenschlag in einer Form der uneigentlichen (referenzlosen) Lexikalisierung als Ermöglichung von >NäheÜberschaubarkeitBegrifflichkeit< in der ambivalenten metaphorischen Repräsentanz. 75 Wilhelm Koller stellt in seiner umsichtigen Monographie zur Meta-

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Vgl. das Verständnis der Metapher bei H. Friedrich als »experimentelle Interpretation« und bei Loewenberg als hypothetische Identitätsbehauptung und als » >Vorschlags etwas auf eine bestimmte Weise zu verstehen« (vgl. Kurz/Pelster, Metapher 73f., Anm. 80). Entgegen den auf »logische und validierbare Konsistenz« angelegten wissenschaftlichen Modellen dürfen die metaphorischen - in den Worten von Max Black - als »Systeme der assoziierten Gemeinplätze« oder »Vorurteile« gesehen werden (Kurz/ Pelster, Metapher 74). »Es handelt sich um Muster kultureller Topik, einen relativ festen Bestand von Stereotypen, handlichen Formeln und beziehungsreichen sprachlichen Bildern«. (Kurz/Pelster, Metapher 74f.)

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pher entscheidende Fragen an das reziproke Verhältnis von »Gegenstandsbegriff« und »Bestimmungsbegriff«, mittels dessen die Repräsentation des ersteren mehr oder weniger abstraktbildlich erfolgt. Normalerweise sei »bei der metaphorischen Prädikation der Bestimmungsbegriff bildhafter und konkreter als der Gegenstandsbegriff. Die determinierende und erläuternde Kraft des Bestimmungsbegriffs gründet sich darauf, daß er in der Regel der empirischen Erfahrungswelt der Kommunikanten angehört und in seinem Bedeutungsgehalt überschaubar ist [...].« 76 Unabhängig von der näheren Frage, ob diese empirische Gegebenheit auch im engeren Sinn >anschaulich< oder gar >visuell< zu spezifizieren sei, ist daran festzuhalten, daß im Bildspender Erfahrungspräsenz und Ordnungsgewohnheit aktualisiert werden, soll der metaphorischtopische Ausdruck seinen referentiellen Aufgaben annäherungsweise gerecht werden. So werden natürlich im Topos »Weltseele« nicht >Welt< und >Seele< verglichen, sondern das als Deutungserfahrung vorliegende Leib/Seele-Verhältnis wird auf eine Größe unbekannter Struktur übertragen. Eine solche »psychomorphe« Auffassung der Welt — vorausgesetzt, daß »Weltseele« als integrierendes oder totalisierendes Moment von Welt gedacht wird - ist ein zentrales Beispiel für all jene analogistischen Praktiken, in denen Einheiten, die zunächst nicht als psychisch semantisiert sind, eine Struktur zugeschrieben wird, in welcher der Faktor >psychisch< dominant ist. Erst mit weiteren Übertragungen kommen dem Konzept einer »Weltseele« dann spezifisch anthropomorphe Prädikate zu: etwa »Bewußtheit«, »Absichtlichkeit«, »planender Wille« u.ä.77

Topoi wie der von der »Weltseele« oder vom »Mikrokosmos« sagen nicht von sich aus, ob sie als Metaphern oder als komplexe Denkvorgaben aufzufassen sind. Zur Voraussetzung, derartige Ausdrücke als Metaphern und damit als »innersprachliche« Zeichen zu verstehen (was doch wohl bedeutet: sie zu ästhetisieren, da der Referenzbezug auch zur

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Koller, Semiotik und Metapher 195. Zur Verdeutlichung darf aus dem >Kampf um die SeeleEinstellungenVorkommen< dieser Denkhaltung und ihrer Varianten sprachlichen Ausgestaltung sowohl von der Differenz der Disziplinen wie von der Partialität der Methodologien belastet. Zu der letzteren ist auch die eklektizistische Praxis der älteren toposgeschichtlichen Literatur zu rechnen, die sowohl an die Praxis der >Stichproben< wie an die weitgehend >werkimmanente< Form des Zugreifens gebunden war und die Relevanz von Kontextualität und Textsorten zu wenig berücksichtigt hat. 84 Die präzise textanalytische Arbeit am Verhältnis der gegenseitigen Determination von Topos und Kontext macht den alten Streit, ob besser von »Denkbild« oder »Denkform« zu sprechen sei,85 hinfällig. Auch mit Vonessens Begriff des »Sprachbildes« ist das komplexe Verhältnis einer Einzelmetaphorik zu »epochalen Metaphergewohnheiten« 86 gemeint, das nur durch Funktionsanalysen und nicht durch Nomenklaturen erfaßt werden kann, die meist nur Einzelaspekte der sprachlichen Vorgänge erfassen.

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Aus der vielfältigen Kritik an E. R. Curtius' Praxis der Toposforschung (die sich ihrerseits zum Klischee entwickelt hat) seien zwei Beispiele herausgegriffen. So kritisiert E. U. Grosse Curtius' künstliche Isolierung von Topoi der Naturanrufung und Mitempfindung (aus Psalmen und Paulinus Italicus). Peter Jehn hat als Hrsg. des Bandes »Toposforschung« (1972) Curtius' elitäre und bildungsbürgerlich-restaurative Erkenntnistheorie und Geschichtsauffassung angegriffen; seine damit versuchte Abschaffung von Toposforschung (als nur traditionalistisch interessiert) wird in der differenzierten Rez. seines Buchs durch M. Caliebe (in: WW 24, 1974, 357ff.) mit Recht zurückgewiesen: weder wird, »wie Jehn meint, durch die Rückbesinnung auf Tradition eine nicht vorhandene Kontinuität vorgetäuscht« (ebd. 359), noch kann die Unbestimmtheit des Toposbegriffs als Begründung für eine generelle Zurückweisung der Toposforschung ausreichen. Vgl. E. U. Grosses Kritik an W. Veits Term »Denkform« in: E. U. G., Sympathie der Natur lOff. Vgl. dazu Nieraad, »Bildgesegnet und bildverflucht« 109.

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II. Zur geistig-geschichtlichen Lineatur des »Zusammenhangs der Dinge«

Einer problemgeschichtlich orientierten Sicht der Thematik des »Zusammenhangs der Dinge« müssen erstaunliche historische Konstanten auffallen. Aus welchem Bereich — so stellt sich die Frage — können die Bilder der Totalität bezogen werden, in denen sich die Varianten und diskontinuierlichen Momente mit einem stabilen vereinigen lassen? Und welche Plausibilität findet sich, diesem stabilen Moment die Integrationsfunktion zu überantworten? Das Totalitätsbewußtsein hat sich gegen die geschichtliche Zunahme differentieller Erkenntnis durchzuhalten. Dies kann unter zwei wesentlichen Ansätzen versucht werden: einmal als hermeneutisch-antizipativer, »glaubens«-ähnlicher Vorgriff (einschließlich Formen hypothetischer Praxis der Theorieerprobung) — zum andern als integrierendes, widersprüchliche Modelle und damit schon »wissenschaftlich« elaboriertes Wissen synthetisch ausgleichende Verfahren des Zusammensehens. Im Einsatz der vorzüglich lebensweltlich fundierten >Antwortbilder< verwirklicht sich ein je stabilisierendes, aber auch zur Offenheit rufendes praktisches Verhalten im Theorie/ Praxis-Bezug. Es sei versucht, mit stichwortartigen Benennungen die komplexe Lage zu skizzieren, in der sich das zum >Zusammenhang< entfaltete Einheitstheorem zum Beginn des 19. Jahrhunderts befand. Als Zusammenhang des Distinkten hat er die voraristotelische Substanz/Gestalt-Einheit schon hinter sich gelassen - die Analogie-These öffnet sich der Erfahrung des Erkenntnisprozesses. Auch dem Prozeßbegriff in der aristotelischen Kosmologie liegt eine Lebensweltmetapher zugrunde. Personifikationen des φύσις-Begriffes zeigen sich als Vorbedingung für das Zusammenwachsen von Naturvorstellung und Bild des »Weges«: Natur wird denkbar in der »Vorstellung einer personhaften Macht, die einen Weg gehen kann«. 1 1

H. Galinsky, Cursus Naturae 15. Galinsky weist auf Pindars Formulierung βίου πόροι hin und beschreibt das Traditionell-Werden von φύσις nicht nur in der Kosmologie, sondern auch in der Ethik einschließlich der Staats- und Rechtsphilosophie als den »Aufstieg von φύσις zur mythischen Macht, die Dämonisierung oder Vergöttlichung

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Notwendigerweise erfolgt innerhalb der Weg-Metaphorik jene Intentionalisierung, die als Axiomatik der aristotelischen Entelechie überragende denkgeschichtliche Bedeutung erlangt. Aristoteles bestimmt den όδός είς φύσιν als den »Weg der Materie zur Form« bzw. als »Wachstumsprozeß eines jeden Dinges zu seiner Reife«.2 Dabei begründen sich ontologische und kosmologische Beschreibungen gegenseitig. Denn der entelechischen Funktion ordnet sich auch der /orma-Begriff unter: Der Satz »anima est forma corporis« impliziert die Zuordnung von FormPrinzip und Geist auch als genetisches Prinzip, der Materie können emanativ-differenzierende Aufgaben zugesprochen werden. »Während die Idee nur das ταίιτόν είναι bestimmter Dinge erklärt, erklärt die Materie als Prinzip des Verschiedenen das Anderssein (θάτερον είναι) der Dinge; die Idee aber macht dann die aus dem άπειρον (apeiron) entstehenden Dinge zu πέρατα. Die Weltseele, die zwischen den Reichen der δντα vermittelt, ermöglicht dann die Synthese zwischen den Dingen selbst und den Elementen der Dinge«.3 Schon in der platonischen Ideen- und Seinslehre übernimmt die Formel der »Weltseele« aus dem Timaios die vermittelnde Integration zwischen den dualistisch differenzierten Bereichen. Wie im Vollzug der Praxis die »Idee« als präexistentes Wesen den Zusammenhang zwischen >Entwurf< und >Verwirklichung< empirisch ermöglicht, so ermöglicht die >Weltseele< den totalen Zusammenhang solcher Zusammenhänge. Und für den spezifisch synthetischen Wert des Physis-Begriffs hat die aristotelische Sprache ein eigenes Lexem eingerichtet: Zur »Physis« tritt die »Symphysis« als Kategorie jeweiliger Totalitätsermöglichung, sie hat »allgemein das Zusammenwachsen von Einem und Vielem in der Bewegung zu begreifen«.4 Die Schwierigkeiten des scholastischen Analogiedenkens leiten sich unter anderem davon ab, daß Gottes Kreativität mit dem Zeitbegriff zu verbinden ist. In der Anschauung der »creatio continua« verwirklicht sich die Absicht, den funktional theonomen Grund allen Daseins und all seiner Veränderungen zu sichern. Die Bedeutung des Analogiedenkens als einer sich zunehmend verschärfenden Gegenposition zum syllogisti-

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von φύσις. Wenn Natur als gesetzhaft geordnete Bewegung begriffen und als Lebewesen, als göttliche Person, Dämon oder allegorische Figur körperlich vorgestellt wird, scheint die Geburtsstunde unserer kosmologischen Metapher des »Laufs der Natur« nahegeriickt«. (ebd. 16) H. Galinsky, Cursus naturae 16. M. H. Kerkhoff, Physis und Metaphysik 171. F. Kaulbach, Der philosophische Begriff der Bewegung 18.

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sehen Denken auch für die Hochscholastik machen - neben den großen Darstellungen von Grabmann, Lötz und Przywara5 - die Bemerkungen eines der wenigen theologischen Denker unserer Zeit, die sich mit der späten Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts beschäftigen, greifbar: Eugen Biser weist in seinem Nietzsche-Buch »Gott ist tot« auf die Gemeinsamkeit von analogisierendem und »aufweisendem« Denken hin - er macht klar, »daß sich der Überstieg von der Sinngestalt zum Seinsgehalt für Anselm - der syllogistischen Fassung des Gedankengangs zum Trotz - so wenig wie für sein geistesgeschichtliches Pendant Descartes in schlußfolgernden Denkschritten vollzieht«.6 Und genau dies gilt wiederum und immer noch für die Naturphilosophen des 19. Jahrhunderts, die ihren syllogistisch und enzyklopädistisch konstruierten Kompendien zum Trotz und gegen ihre naturwissenschaftliche Ausbildung und ihr Sprachbewußtsein den Aufstieg zu den Seinsgehalten erzwingen. Wir haben die Bewegung der Abkehr von den zwischen Syllogistik und allegorisierenden Symbolismen pendelnden Formen des Analogieglaubens als eine epochenübergreifende Auseinandersetzung der Geschichte des Denkens zu sehen. Deren vorletzte Endphase, die vermittelnde Ausgleichsphilosophie der natur- und theologieorientierten Denker des 19. Jahrhunderts, bildet den Gegenstand unserer Untersuchung. Aber der Komplex der systematischen Motive liegt bereits in der zwischen Aufklärung und theologischer Integration schwebenden Welt des 17. und 18. Jahrhunderts in einer ähnlichen Struktur von Fragestellungen vor. Da sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach Rückgriffe auf die vorkantische Philosophie, zumal die Leibnizische, feststellen lassen, scheint es dringlich, die Aspekte des »Zusammenhangs der Dinge« in der frühneuzeitlichen Denkgeschichte etwas genauer vorzustellen. Galinsky glaubt in seinen Untersuchungen zum Cursus-Topos der Natur, der als »consuetus cursus naturae« auch bei Thomas von Aquin zu belegen ist,7 ebenso bei Petrarca, wo das Motiv im 7. Sonett auftaucht, eine Individualisierung und Humanisierung, aber gleichzeitig 5

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Vgl. vor allem E. Przywaras großes Werk »Analogie entis. Metaphysik« 1932 und seinen Aufsatz »Natur und Übernatur« in: E. P., Ringen der Gegenwart I, 403-418. E. Biser, Gott ist tot 57. Bisers Anmerkung belegt die These unserer Untersuchung: »Sehr deutlich arbeitet dies H. Lotze in seiner Behandlung des >ontologischen< Gottesbeweises heraus; vgl. Mikrokosmos, Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit, 3. Bd., Lpz. 1923, 556f.« Galinsky, Cursus naturae 42f.

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einen Verlust an kosmischer Weite feststellen zu können. Wesentlich ist der in der Stärkung der menschlichen Selbsterfahrung und Selbstbeziehung ermöglichte Spannungsverlust in der Opposition >Naturgesetz< vs >WunderNaturlauf/ Wunderändernnaturwissenschaftlichermechanistischer< Erfahrungen in die theologieorientierte Sprechtradition der Naturphilosophie zeigt die spätidealistische Synthese der Denker und Schriftsteller, die in der Epoche des »Realismus« und »Naturalismus« gegen »Atomisierung«, »Mechanisierung«, »Zerreißung der natürlichen Zusammenhänge« argumentieren. Was Galinsky am Beispiel des Synonymisierungsprozesses von » cours« und »cause« dokumentiert, wäre ähnlich am vieldeutigen Gebrauch des »Gesetzes«-Begriffs in der frühen Neuzeit darzustellen.9 Das Miteinander der Entfaltung eines kritischen Moralverständnisses und der naturanalytischen Diskursivität ermöglicht dem Begriff >GesetzZusammenhangsEinem Bündel zusammenzubinden (Uno fascículo colligare ...) [...]. Dieses Bündel spricht er jeweils als das »Gesetz« der Natur an.«

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Schöpfergott - wird als Weise der Zusammenhangsfindung wichtig und relevant als rhetorische Affirmation für emphatische Werte, so die Unsterblichkeit der Seelen. Die wechselseitigen Ableitungen und Begründungen innerhalb der Selbst/Welt-Analogie werden unter dem Namen des »Transzendentalen Apriori« gerade nach der Thematisierung der Transzendentalitätsfrage im idealistischen Denken zu diskutieren sein. In der engen Beziehung zwischen Begründungstheorie und Kosmosgedanken bei Leibniz wird das Theorem des transzendentalen Apriori als zentraler Bezugspunkt deutlich, da nach ihm »der mundus als göttlicher Entwurf [gilt]» der prinzipiell in einer über jeden bloßen Modellcharakter im neuzeitlichen Sinn hinausgehenden Hypothese vom menschlichen Verstände nachzukonstruieren ist«.10 Schon in der 1666 gedruckten Dissertation »De Arte Combinatoria« — so Nieraad — »findet sich der bezeichnende Hinweis auf eine >doctrinaharmoniam mundi et intimas constructiones rerum seriemque formarum una completiturconstructioseriesAusdruck< göttlichen Wirkens gedeutet, so ist die Voraussetzung dafür gegeben, daß »Welt« - als Inbegriff des Zusammenhangs aller Dinge - den Gottesbegriff synonymisierend substituiert. »Es ist sehr aufschlußreich«, sagt Nieraad, »wo Lessing hier Welt ansiedelt und wie er sie begründet: Welt ist das Reich des intersubstantiellen Verkehrs, welcher eine Harmonie voraussetzt, die wiederum in der Lückenlosigkeit der Schöpfung, genauer gesagt: in der Vollkommenheit des göttlich-betrachtenden Schaffens begründet ist. Das entspricht genau dem leibnizischen Realitätsbegriff.«33 Die Betonung der Tatsache, daß bei Leibniz wie bei Lessing die Synthesis als ursprüngliche in die ontische Einfachheit der >monadologischen Wesen< eingebettet wird, versteht sich unter dem Gesichtspunkt, daß im 19. Jahrhundert eine analoge Rücklagerung der Integration für das »Atom« vorgenommen wird: In dieses geht die »Kraft« und »Seelenkraft« per ititentionem genuin ein. Waren schon in Leibniz' »Theodizee« (§ 147) »die einfachen Wesen [...] bestimmt als gleichsam eingeschränkte Götter, die mit dem verschiedenen Grad an Vollkommenheit einen je verschiedenen Grad an Bewußtsein verbinden«,34 so kann es im 19. Jahrhundert noch einmal möglich werden, die unberaubbare Digni32

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Vgl. dazu auch F. Kaulbach, Der philosophische Begriff der Bewegung 4: »Der >Punkt< im Sinne des >einzigen< ist berufen, aus dem Labyrinth des Konrinuums herauszuführen, weil er die notwendig auftretenden Grenzen, durch welche die Teilung vollzogen wird, zu überspielen vermag.« Nieraad, Standpunktbewußtsein und Weltzusammenhang 88. Ebd.

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tat der Naturelemente an dem nun signifikant gewordenen Begriff der Seele festzumachen, - freilich unter Verzicht auf die entelechischen Voraussetzungen des kosmologischen Denkens im 18. Jahrhundert. Als Voraussetzung für die Trennung der optimistischen Gesetzesauffassung vom Selbstgefühl des 19. Jahrhunderts ist die zunehmende Dominanz des Freiheitsaspektes anzugeben, und zwar vor allem in der Lehre von jenen vollkommenen Individuenamoralischen< Chaotismus zu dulden. Die Spannung zwischen magischen und theosophischen Einflüssen und der Moralisierung der Natur ist besonders bei Novalis greifbar. Er visiert eine »BILD[UNGS]LEHRE D[ER] NATUR«. »Die Natur soll moralisch werden. Wir sind ihre Erzieher — ihre moralischen Tangenten — ihre moralischen Reitze.«35

Hier ist der »Notwendigkeits-Dogmatismus« 36 der von Kant zwar mit der theoretischen Differenzierung von >freier< und »mechanischen Seite der Welt anberaumten, aber an >Moralität< orientierten, vorsichtig Kosmologie und Transzendentalismus verbindenden kritischen Philosophie ebenso verlassen wie Goethes Polaritätsdenken. Aber die in der Geniebewegung erfolgte Subjektverstärkung durch die neue Greifbarkeit der transzendentalen Vorgesetzlichkeiten bleibt erhalten. Auch die für Herder festgestellte Ablösung von dem rationalen Konzept der Trennung von Gleichnis und Verglichenem gilt strukturell weiterhin. 37 Herders Leibniz-Rezeption hatte die Aufwertung des >Körpers< gerade dadurch ermöglicht, daß er als »Symbol, Phänomen der Seele in bezug auf das Universum« 38 gedeutet wurde. Als neue durch die Geniepoetologie und die Sprachphilosophie zwischen Sturm und Drang und Klassik freigewordene Analogienquelle für die Zusammenhangstopik muß das

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Novalis III, 250ff. So E. Topitsch, Die Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie 54. Vgl. D. Starr, Über den Begriff des Symbols, Reudingen 1964. Herder, ed. Suphan V, 249.

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Bewußtsein von Dialogik und Kommunikation gesehen werden, das zusätzlich durch die Identitätsphilosophie bestärkt wurde. Die daraus resultierende Konjunktur der »Sprach«-Metapher für die Beziehung des Dichters zur Natur hält untergründig für das gesamte 19. Jahrhundert an. 39 In dieser Topik werden die älteren Repräsentanzlehren (wie jene von der »Spiegelung« und der »Signatur«) aufgefrischt, in der Schellingschule und Goethenachfolge aber zugleich an die Eigenemphase des transzendental und personal begünstigten Subjekts angeschlossen. Wenn der als Kunstdidaktiker und Hausarzt des preußischen Hofes so wirkungsreiche >Naturpsychologe< Carl Gustav Caras an die »ausschweifenden Bahnen« von Kometen und die »infusorienartigen Schwärme der Meteore« denkt, so entsteht aus all diesen der Begriff eines, in eine Unendlichkeit von Theilen sich darlebenden unermeßlichen Ganzen, welcher himmelweit abweicht von der Einförmigkeit jener mechanistischen Vorrichtungen [ . . . ] , welche sicher viel beigetragen haben, gewisse enge Schulbegriffe auszubilden, die jetzt doch endlich überall zu großen Lebens-Auffassungen sich erweitern sollten! 4 0

Im kosmischen Vergleich wird der doppelte Zusammenhang des Einzelnen mit der göttlichen Idee fundiert. Seine Qualitäten müssen - von der Genese wie von der Gestalt her — als >Nachbilder< typustheoretisch vereinfachter Ur-Werte und Ur-Gestalten verdeutlicht werden. »Verhältnis «-Annahmen blockieren dementsprechend immer wieder die Regionalisierung und Differenzierung deskriptiver Erkenntnis. Die für mehr als ein Jahrhundert paradigmatisch prägende Verhältnisannahme, als deren wirkungsreichsten Vertreter wir Carus einschätzen, ist die Organismus-Vorstellung. In ihr fließen Gegensätze wie in einem kaleidoskopischen Raster dank der analogischen Spiegelungen je zu Harmonie- und Symmetriebildern zusammen. Dabei ist die inhaltliche Bestimmung des Organismus-Begriffs selbst nach dem >Begriff< des »Inneren« gegeben: erst die »innere Unendlichkeit« garantiert dem All die göttliche 35

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Dies kontrastiert teilweise mit Goethes, besonders im späten Denken hervortretende Zurücknahme von Sprache. C. G. Carus, Natur und Idee oder das Werdende und sein Gesetz. Eine philosophische Grundlage für die spezielle Naturwissenschaft, Wien 1 8 6 1 , 1 2 2 . Im Eröffnungssatz des Vorworts erscheint schon die Zielangabe, »das geistige Element und höchste Ergebniß jeder exacten sinnlichen Erforschung allgemeinen Werdens in sich zu einem Ganzen zu vereinigen« (III). Auf den nächsten Seiten zahlreiche Stellen des Topos vom Zusammenhang der Dinge. »Die Naturphilosophie«, so heißt es ebd. 12, sei »für uns immer der erste Schritt zum Wissen von dem Göttlichen überhaupt. «

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Form

der Totalität. 4 1

Die Einebnung hermeneutischer

Funktionen

erfolgt im naturphilosophischen Offenbarungstopos. Das All ist eine Gesammtheit, die ja nur zu denken ist als durch und durch ruhend und bestehend gemäß und in Folge des göttlichen Wesens, dabei aber in alle Unendlichkeit sich offenbarend durch ihr überall von Gottesgedanken bestimmtes Handeln und sich Verwandeln, d. h. in einem ewigen innerlichen Entstehen und Vergehen ihrer Erscheinung [...]. 4 2 Die Totalitätsrelation wird aufgrund der Leerformelhaftigkeit — die eine große Reihe manifester semantischer und pragmatischer Widersprüche in der Begriffsverwendung erzeugt - zur bloßen Wiederholung verflacht. Polaristische, fichteanische, universalromantische Formelhaftigkeit der Diktion wäre durchlaufend an Carus' Texten nachzuweisen. Der Thier-Organismus, welcher dem Menschen-Organismus mehr und mehr entgegenwächst, um endlich in diesem den Begriff des Mikrokosmos wirklich zu erreichen, indem er als Abbild des Weltganzen alle wesentlichen Verhältnisse des letzteren in sich wiederholt, muß deshalb auch die verschiedenen Formen der Bewegung in sich aufnehmen und darstellen. Wenn demnach der animalische Organismus im Ganzen, als Ei (gleich dem werdenden Weltkörper) durch die elementaren Bewegungen von Anziehung und Abstoßung (Anziehung des Eistoffs zur eigenen ideellen Mitte, und Abstoßung von der Substanz des Mutterkörpers) wirklich ursprünglich gesetzt wird, so finden wir dagegen die ganze Formel seiner eigentümlichen innern Bewegungen wesentlich durch die individuelle Contraction und Expansion bestimmt. 43 Bio- und psychomorphe Beschreibungen der Natur sind mit der Metaphorik des schöpferischen Lichtes verbunden und geben damit eine Z o n e der semantischen Verschleifung ab, in der »Psyche« — so der Titel der frühen Arbeit von Carus - als Einheit von »Sichselbstfühlen« und »Wissen« im »Weltbewußtsein« gefaßt wird. 4 4 Ein emphatischer und widersprüchlicher, mit einer Theologie der »Naturgeschichte« verbun-

43

Vgl. W. Veit (Hrsg.), Toposforschung 165. Vorausgehend wird auf den Sachverhalt hingewiesen, daß im topischen Denken »auch Antworten empfohlen [werden], ohne daß eine wirkliche Frage gehört worden wäre«. A. Gehlen, die Seele im technischen Zeitalter, 1957, 60. Vgl. W . Veit, Toposforschung 79. W . Veit grenzt den Topos dank einer stark inhaltlichen und normativen Auffassung gegen »Formel«, »Wendung«, »Klischee« ab, denn der Topos als Klischee habe keinen Aussagecharakter, und schlägt den Term »Denkform« vor (Toposforschung 81f.). Damit fällt er aus dem rhetorischen nur ins noetische Paradigma (in Nachfolge zu geistesgeschichtlichen Unklarheiten des Begriffs »Denkform« bei Leisegang und Helmut Kuhn).

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W . Veit, Toposforschung 87.

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dener Begriff des Unbewußten ermöglicht die poetische Transzendentalisierung der Natur. 45 Innerhalb derselben werden anthropozentrische Formulierungsmodelle für die Darstellung der »Welt« als Vorbild verwendet und die Beziehung zwischen »individueller Plastik« und dem »Zusammenhang des Werdens« diskutierbar. 46 Auf Probleme des Zusammenhangsdenkens läßt Carus' Praxis des Weltgleichnisses inhaltlich sich wenig ein: Kreislauf-, Zyklus-, Metamorphosen- und Wechselseitigkeitsannahmen umschreiben anthropomorphe Grundmetaphern wie die der »thätigen Erscheinung des Aethers«, die weitergeführt werden zu »eignen Handlungen«, zu »eigentlichen Ur-Handlungen des Aethers«, die »eben deßhalb nothwendig Alles durchdringen und beherrschen, was irgendwie zu einer Wirklichkeit werden soll«.47 »Urgeister«, »Urhandlungen«, »Urseelen« erlauben jeweils argumentationsfrei applizierbare Totalitätsbehauptung — wie im späten 19. Jahrhundert die entsprechenden »Weltgeister« und »Weltseelen«.48 Dem leeren Verbalismus dieser axiologischen Aufstockungen des Unbegriffenen ist die systematische Folge zu verdanken, daß hier - vor E. v. Hartmann bereits — das Unbewußte als Garant des Ganzen erscheint. Die spekulativ >personalistische< Dimension im Weltgleichnis wird in der Gesprächsmetaphorik gerade der Hardenbergschen Natur- und Geistphilosophie greifbar. Ihre subjektivistische »Anthropogenie« überholt ausdrücklich die älteren »Cosmogenien und Theogenien«. Die Anschauung, sowohl im transzendentalen Selbstbezug wie in der Verflechtung der Natur »in einem Gespräch begriffen« zu sein, wird mit einer entwicklungsidealistischen Konzeption des auf MakranthroposAnschauungen zurückverweisenden »Höheren Wesens« verbunden: 45 46

47 48

Vgl. dazu B. Emrich, Topik und Topoi, in: Toposforschung 113, 116. »Die letzte und höchste Offenbarung individueller Plastik« geschehe »nach dem Vorbilde der ewigen Bewegung einer stets sich umbildenden, immerfort theilweise sich zerstörenden und neuschaffenden Welt« (Natur und Idee 91). Natur und Idee 26. Es gehöre »zur Bedeutung einer jeden organischen Totalität: daß die Theile derselben im Wesentlichen stets von gleichen oder ähnlichen Gesetzen bestimmt werden wie das Ganze, und daß ebenso alle secundaren Glieder dieses Ganzen den Typus der primitiven oder Ur-Theile wiederholen«; leere Gliederungen korrespondieren leeren Totalitätstopoi: Carus findet, »daß innerhalb der secundaren Glieder des Makrokosmos, d. h. in den Planeten, Kometen und Satelliten, durchgängig die Spiralbewegung vorherrscht, indem schon dieses unbedingt voraussetzen läßt, daß ebenso nun auch in den Ur-Gestirnen ein ähnlicher Typus der Bewegung keinesfalls fehlen könne«. (Natur und Idee 132)

62

Dieses Wesen rauß ein Höheres Wesen seyn, weil es sich mit ihm auf eine Art in Beziehung sezt, die keinem an Erscheinungen gebundenen Wesen möglich ist — Es muß ein homogenes Wesen seyn, weil es ihn, wie ein geistiges Wesen behandelt und ihn nur zur seltensten Selbstthätigkeit auffordert. Dieses Ich höherer Art verhält sich zum Menschen, wie der Mensch zur Natur, oder wie der Weise zum Kind. 49

Der Schluß dieses Eintrags, der nach den Hemsterhuis-Studien liegt, formuliert die innerste Thematik des »Zusammenhangs der Dinge« — hier gedacht in der Dichotomie der Welten des Ich und des Nicht-Ich: Moralität gehört also in beyde Welten; hier, als Zweck - dort als Mittel - und ist das Band, was beyde verknüpft. 50

Mit Recht verweist Hegener auf das Sylvestergespräch im »Heinrich von Ofterdingen«, in dem »das Gewissen in der Lichtgestalt des himmlischen Urmenschen poetisches Inbild des gesamten Universums [ist], das in all dessen Gestalten wirksam ist, zu deren Verklärung hin«. 51 Bisher ist kaum ein besonderer Affekt der romantischen Aktualisierung von Historik beachtet worden, der für die denkerische Substanz der Zurückweisung aufklärerischen Geschichtsverstehens ausschlaggebend ist: ihre Überarbeitung nah- und zeitgeschichtlicher Verständnisformen. Das mit ihm Gemeinte hat mit Epochenfunktionen in der Selbstdeutung eines spezifisch synthetischen Bewußtseins zu tun. Es ist bei den Brüdern Schlegel wie bei Novalis vielfach nachweisbar, auch Wackenroders Entdeckung des Mittelalters< beruft sich auf diesen Affekt. Und am Ende des 19. Jahrhunderts - nach der Epoche der »strengen Naturwissenschaften«, als die Gegenbewegung der Neuromantik mit Rückgriffen auf pansophische, mystische und goethezeitliche Tradition einsetzte, wird »Überbietung« von Kontingenzerfahrung, Sachlichkeit, historischer Befangenheit zum Topos von »Poetisierung« wie von »Emanzipation« (etwa in Bölsches Naturverklärung und Nietzsches Historismus-Verdikt). Die neue Zeitvorstellung beruft sich sowohl auf eine Art naturwissenschaftlicher Umsetzung des pleromatischen Zeitzustandes wie auf die idealistische Absicht der »Vergeistigung«.52 Damit ist der Anschluß an 4

' Novalis II, 528f. Vgl. dazu J. Hegener, Die Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis, Bonn 1975, 67ff. 50 Novalis II, 529. 51 Hegener, Die Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis 63. 52 Vgl. Novalis III, 271: »GESCH[ICHTS] UND RAUMLEHRE. Synth/esis von Raum und Zeitindividuen. Sichtbare historien. — sichtbare Zeitfüllen [...] Die Zeitnaturen sind wie der W e i n - j e älter, je köstlicher — Gärung - Abklärung - Vergeistigung [...]«.

63

die subjektphilosophische Tradition gesteigert, sofern auch theologische Bereiche unter den erweiterten Anspruch der Philosophie des poetischen Glaubens kommen. Für die folgenreiche Wirkung der Topoi wechselweiser Voraussetzungen, in denen sich begründbare Dependenzen verflüchtigen, dürfte die Novalisrezeption von kaum zu überschätzender Bedeutung sein. Gerade der ambivalente Einsatz des transzendentalistischen Weltgleichnisses hat die unabsehbare Rezipierbarkeit seiner chiastischen, synthetischen, metaphorischen Formeln begünstigt. Welt- und Menschengleichnis werden unbegrenzt konvertibel. Der Mensch ist für Novalis bereits »Metapher« - mit Hegeners Worten: »der eine allumfassende Gegenstand, eine >Analogienquelle für das Weltall·.«53 Nur mit einem Hinweis sei die »poetische Potenzierung« aller Wissenschaften durch Novalis — als Koaktivität der transzendentalen Akte (Glauben und Wissen) - auf ihre Legitimität befragt. Da Novalis häufig zwei synthetische Paradigmata kreuzt, kann er weiterhin zu differenzierten Ergebnissen kommen. Die Funktion der Poesie im Verhältnis zu Wissenschaft und Philosophie ist gerade bei ihm auch dadurch >emanzipativ< bestimmt, als sie ausdrücklich in der Auflösung des Zeichenbezugs kulminiert: Wenn der Philosoph nur alles ordnet, alles stellt, so lößte der Dichter alle Bande auf. Seine Worte sind nicht allgemeine Zeichen — Töne sind es — Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen.54

In der Benennung der Poesiefunktion als »höchste Sympathie und Coactivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen« bleiben die soziablen Anstrengungen erhalten. Poesie fundiert und repräsentiert zugleich - als die zur »Selbstbesprechung« und Selbstaufrufung bereite Form der Verklärung - den Bezug zur Totalität des Lebens und zum Zusammenhang des Individuums mit dem Ganzen: »die Poesie bildet die schöne Gesellschaft - die Weltfamilie - die schöne Haushaltung des Universums.«55 Die weitgehende Einheit eines auf analogistische Naturspekulation bezogenen »romantischen« Bewußtseins für die innere Geschichte des 19. Jahrhunderts läßt sich an der Weiterwirkung von naturwissenschaftlichen Arbeiten des 18. Jahrhunderts ablesen, die über Hardenbergs synthetische Rezeption erfolgt. Die Synthese-Spekulation drückt sich auch als Fundierung jener vereinheitlichenden Redeformen aus, die als »Synästhesie« beschrieben wird: Sie hat sowohl am Anfang wie am 53

Hegener 80.

64

54

Novalis II, 533.

55

Ebd.

Ende des 19. Jahrhunderts Konjunktur. So weist Mähl auf die Eschenmayer-Rezeption wie auf Novalis' Weiterdenken eines kleinen Werkes von C. G. Schocher hin, das zum Aperçu einer »Tonschriftkunst« führt. Vor allem ist die Rezeption von E. F. F. Chladnis »Entdeckungen über die Theorie des Klanges« als signifikantes Beispiel der verdeckten naturspekulativen Tradition des 19. Jahrhunderts anzuführen: Novalis' poetisierende Verarbeitung dieser durchaus empirischen Beobachtungen hat ihre späte Parallele in Nietzsches Versuch, aus den Chladnischen Klangfiguren eine irrationale Erkenntnistheorie abzuleiten. 56 Eine gattungstheoretische Konstante für die Literarisierung von Naturverklärung liegt in der Bevorzugung des Märchens und des Aphorismus als bildlich-verkürzende, abstrakt fundierte, aber auf psychische Konkretisierung zielende Aussageweisen des Einheitsglaubens. Nicht umsonst aktualisieren Märchen — wiederum in betontem Maße bei Novalis — Verwandtschaftsbeziehungen. 57 Abstraktion und Abbreviatur sind korrespondierende Momente jenes wesentlich dilemmatischen »gleichzeitigen Glaubens an Verschiedenes« (Novalis). Dessen Kraft hat am Ende des Jahrhunderts den pneumatologischen Optimismus des Novalis verloren: Seine Experimental-Gläubigkeit der Kombinationsfreiheit stößt nach der vollen Entfaltung der Naturwissenschaften an die unüberspringbar gewordene Grenze des technisch realisierten Denkens. Die Spaltung in Natur- und Geisteswissenschaft, die nicht zuletzt auf den Verbrauch verbindlichen Sprachgeistes in der Schelling-Tradition zurückführt, bestimmt die wesentlich apologetische, großenteils überhaupt forschungsfeindliche Selbstauffassung der in die Verklärung schon literarisierter Natur abgedrängten Poetologie der Neuromantik. Auch sie favorisiert Aphorismus und Märchen, in vergleichbarer Lage des Denkens im Doppelparadigma: einerseits naturwüchsige Anarchie und Vitalität, anderseits Idealität zu repräsentieren. Die Denkfiguren des Novalis, nach denen der Mensch die möglicherweise widerspruchsvolle Aufgabe erhält, zugleich »Evangelium der 56 57

Vgl. Mähl in: Novalis III, 232; dazu Novalis III, 414, 418f. Die Familienmetapher wird zum Topos der Einheitsstiftung widersprüchlicher Prinzipien, wobei die »Analogie« als »Air de Familie« die Verwandtschaft aller Ideen garantiert und eine geniale Synthese auch der mathematischen Punkt-Spekulation erfolgt: »Zur Welt suchen wir den Entwurf- dieser Entwurf sind wir selbst — Was sind wir? personificirte allmächtige Puñete» (Novalis II, 540f.) Symbolik wird zur Symptomatologie: »Alles ist sich gegenseitig Symptom«; »Das Universum ist das Absolute Subject [...]«: »Es ist einerley, ob ich das Weltall in mich, oder mich ins Weltall setze« (ΙΠ, 38 lf.; vgl. ähnlich auch III, 252, 254, 261).

65

Natur« und ihr »Messias« zu sein, stellen den synthetischen Querschnitt der Problemlage dar, auf dem sich eine Auseinandersetzung mit der wissenschaftlich objektivierbar werdenden Natur einerseits als Naturglauben fundieren kann (wonach dann das Evangelium in der Natur mehr als im Menschen läge), andererseits noch mitten in einem Bereich naturverklärender Anschauungen eine Philosophie des Heils aus dem Geist durchhält (wonach die Natur am Wesen des menschlichen Geistes, seiner Fähigkeit zur Verbindung von Gegensätzen, zu genesen hätte). Die Zweiwertigkeit der Natur hängt mit der Undefinierten Stellung des Geistes zu ihr zusammen. Ist Natur nach Schelling nur die »Odyssee des Geistes«, so stellt sich doch die Frage, wie es dazu kommt, daß er an ihre Fremdlandküsten verschlagen ist. Die bekanntlich in der Böhmerezeption auf Schelling wirkende anthropomorphe Spekulation führt zur Differenzierung eines »entgegengesetzten«, negativen Grundes in Gott. Schellings Denkansatz favorisiert nach Aufnahme der Transzendentalphilosophie das Subjekt und das Bewußtsein. Seine 1795 veröffentlichte Abhandlung »Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen« impliziert eine Abgrenzung gegen die Substanzphilosophie Spinozas. Schelling will, über die kritische Philosophie hinaus, seine »Synthesis der Vielheit in der Einheit des Bewußtseyns überhaupt« 58 finden. Zugleich kritisiert er Leibniz' Methode, in der Form der Identität eine Bestimmung des Objekts zu sehen.59 Die Basis für die Auseinandersetzung mit der älteren idealistischen Philosophie ist ein höchst emphatischer Handlungs- und Freiheitsbegriff und die Uminterpretation des Terminus »Idee« zu einem ganz auf die moralische Selbstbestimmung des Subjekts zugeschnittenen Handlungsmotiv: Kant wird der Vorwurf gemacht, nicht eingesehen zu haben, unfähig sich zu Ideen zu erheben, [...] — daß Ideen überhaupt nicht Gegenstände einer müßigen Spekulation, sondern des freyen Handelns seyn müssen

— und Schelling zieht sofort den Rückschluß daraus, daß der Mensch da keine O b j e k t e schaffen, zu realisieren beginnt. 60

58 5' 60

mehr finden darf, wo er selbst zu

Schelling, Schriften von 1794-1798, Darmstadt 1967, 32. Ebd. llOf. Ebd. 122f.

66

Den Ruin eines aus moralspekulativer Selbstüberschätzung der Icherfahrung objektlos gewordenen Denkens im Spielraum beliebig geschaffener »Ideen« haben wir als historisches Stigma des 19. Jahrhunderts und als Latenz einer Praxisverweigerung in den folgenden Untersuchungen zu berücksichtigen. Die Konstellation der zentralen Begriffe bleibt in jenen Strömungen konstant erhalten, die sich auf die selbstverklärende und weltlos gewordene Ideen-Philosophie Schellingscher Prägung berufen. Das »Reich des Schaffens« bleibt bis zu Wilhelm Bölsche das Residuum jener als produktiv ausgegebenen »Ideen«, die sich auch im kleinsten Kreis immer wesentlich um die Aufwertung des Ichs beziehungsweise seines affirmativ behaupteten Freiheitsraumes drehen. Schellings eigene Konstruktion der »absoluten Synthesis« versteht sich aber als »>prästabilierte Harmonie< von Subjekt und Objekt«, »in welcher alle Widersprüche zum voraus aufgelöst und aufgehoben sind«. Trotz der Ableitung aus dem Bewußtsein kann Schellings >höhere< Synthesis und Indifferenz der Gegensätze »>deswegen, weil die Bedingung alles Bewußtseins Duplizität ist, nie zum Bewußtsein gelangennie Objekt des Wissens, sondern nur des ewigen Voraussetzens im Handeln, d.h. des Glaubens, seinabsoIut< geprägten Erkenntnismodells gebunden, in dem der Übergang von Glauben in Wissen nicht ausreichend thematisierbar ist. Kants Bereitschaft, ein System offen zu lassen, indem er - beschränkten Vertrauens — auf den historischen Progreß der Aufklärung verweist, wird in einer präsentischen Radikalisierung überboten und zugleich verloren. Diese präsentische Vermittlung des Absoluten ans Kontingente findet sich sprachlich wieder als »Offenbarung« angeboten, wobei jedoch der Fortgang der offenbarenden Enthüllung des Göttlichen in der Geschichte kriterienlos bleibt. Schelling gebraucht den Begriff des »Zusammenhangs der Dinge« zunächst ähnlich, wie er im 18. Jahrhundert üblich war (etwa bei Wieland und K. Ph. Moritz): Es ist der Zwangszusammenhang der Notwendigkeiten, der Kontingenz, letztlich der Unfreiheit. Es ist damit der Topos der nichtidealen Existenz der Dinge, von der sich die emphatische Selbstbeziehung des Ich als »ganz eigene Welt« abhebt: 61

Zit. nach P. Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegeischen Schule 91.

67

In mir kann nur That und Handlung seyn; von mir können nur Wirkungen a u s g e h e n , es kann kein Leiden in mir seyn; denn Leiden ist nur da, wo Wirkung und Gegenwirkung ist, und diese ist nur im Zusammenhang der Dinge, über den ich mich erhoben habe. 62

Diese Erhebung findet statt mit der Selbstreflektion des vorstellenden Vermögens: Wenn ich frage, »wie kommt es, daß ich vorstelle, erhebe ich mich selbst ü b e r die Vorstellung«, ja »sage mich los vom Zusammenhang mit den Dingen«. 63 Diese Lossagung von der Kontingenz ist das eigentliche Motiv der Rede vom Zusammenhang der Dinge: Es handelt sich um die auf erkenntnisspekulativem Weg radikalisierte Abwehr gegen den »Strom der Ursachen und Wirkungen« 64 oder - in wiederum Schopenhauer ähnlicher Formulierung — um den freien »Schwung, den sie [die idealisierenden Philosophen, als deren Inbilder Plato und Leibniz genannt wurden] sich s e l b s t gaben, und der sie dahin erhob, wohin die bleiernen Flügel eurer Einbildungskraft euch nicht zu tragen vermögen«, mit dem sie »sich selbst über den Naturlauf erhoben hatten«. 65 Gegen die unemphatische selbstrestriktive Philosophie Kants beruft Schelling im folgenden das Einheitspathos von Spinoza und Leibniz. Seine Polemik gegen die Rede von der »Welt an sich« dient der Errichtung des Glaubens an »den allgemeinen G e i s t der W e l t « , den Leibniz gehabt hat. So sollen sich transzendentalistische und harmonistische Weltkonstitution verschränken - Schelling verbindet Leibniz' »ersten Gedanken«, daß die Vorstellungen von äußeren Dingen in der Seele kraft ihrer eigenen Gesetze wie in einer b e s o n d e r e n W e l t entstünden, als wenn nichts als Gott (das Unendliche) und die Seele (die Anschauung des Unendlichen) vorhanden wären

mit der emphatischen Verkündigung des neuen Glaubens, daß die Monaden Fenster haben, durch welche die Dinge hinein und heraus steigen. 66

Wenn Schelling versucht, Leibniz' prästabilierte Harmonie und Newtons Gravitationssystem als ein und dasselbe oder als bloß »verschiedene Ansichten von einem und demselben erscheinen« 67 zu lassen, dann i2 63 M

65

Schelling, Schriften von 1 7 9 4 - 1 7 9 8 , 3 4 1 . Ebd. 3 4 0 . Ebd. 3 4 2 . Die Formulierung taucht u. a. in Schellings »Weltseele« wieder auf: »Organisation ist mir überhaupt nichts anderes als der aufgehaltene Strom von Ursachen und Wirkungen.« (Ebd. 4 0 3 ) Ebd. 3 4 3 . 6 6 Ebd. 3 4 4 . 6 7 Ebd. 3 4 8 .

68

definiert er seine Naturphilosophie als Synthese von Synthesen. Sie wird als »höhere« Synthese aufgewertet. Aber der Rückgriff auf die monadologische Spekulation und die Zwangsartigkeit der »höheren« Synthese korrelieren auch deutlich der dogmatischen Praxis des Isolierens, die noch an die voll entwickelte idealistische Philosophie Momente der Monadologien weitergibt. In den »Ideen zu einer Philosophie der Natur« treten die sich gegenseitig stützenden apodiktischen Annahmen genau an der Stelle hervor, wo der >übermechanistische< Charakter der Natur nachgewiesen werden soll: Jedes organische Produkt besteht für s i c h selbst, seyn Daseyn ist von keinem andern Daseyn abhängig.

Dieser antikausalen Isolation entspricht das irrationalistische Theorem der >SelbstproduktionSelbstursprungsSymbol< im Goetheschen Sinne mehr suchen« könne, greift aber mit der Behauptung, Kellers Rückkehr zur Bildlichkeit erbringe »nur unverbindliche Metaphern, die kaleidoskopisch aufeinander folgen«, doch wohl daneben (C. D., Zwischen Romantik und Symbolismus 1 8 2 0 1885, 1966, 118).

90

76

Es war die hingebende Liebe in alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht jedes Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet [...]. 91

Unsere Darstellung thematisiert den geistesgeschichtlichen Vorgang, in dem diese Epoche der distanzierten Tiefenempfindung der Welt überholt wurde von einer romantischen Disposition, die zu bedenklich reflexhafter mechanischer Zusammenhangssicherheit neigt. Aus dem realistischen Raum kommt nur Fontane - als Gegenstimme zu diesem Prozeß — zur Darstellung.

91

Vgl. dazu J. Schueler, The German Verse Epic 41.

77

TEIL Β

DER » Z U S A M M E N H A N G DER DINGE« IN DER N A T U R P H I L O S O P H I E DES 1 9 . J A H R H U N D E R T S

DAS G L E I C H N I S D E N K E N

SCHOPENHAUERS

In Auseinandersetzung mit den teils spiritualistisch, teils pantheistisch akzentuierten Weltmodellen der spätidealistischen und romantischen Philosophien wendet sich Schopenhauer wie kein anderer Philosoph seiner Zeit den Naturwissenschaften zu. Sein Empirismus versteht sich als Korrektiv gegenüber der als Begriffsspielerei entwerteten idealistischen Philosophie (vor allem Fichtes und Hegels). Es stellt sich aber angesichts seines eigenen systematischen Anspruchs die Frage, ob Schopenhauers Denken jener mit wahrer Empirie verbundenen Offenheit des Erkenntnisprozesses mit seinen Selbstkorrekturen gewachsen ist, - ob die empiristische Haltung im eigenen System noch korrektive und nicht vielmehr nur subsidiäre Funktionen ausübt. Schopenhauer will nicht mehr bloß in generellem Sinn die Erfahrung der Welt diskutieren; mit der Anerkennung der Kantischen Erfahrungskonstitution sieht er sich berechtigt, im Rahmen eines platonisch-kantischen Transzendentalismus die Verbindung zwischen >Selbsterfahrung< und >Außenerfahrung< herzustellen, wobei die »Unmittelbarkeit«, die jener zugeschrieben wird, legitimierend in die >wissenschaftliche< oder >phänomenale< Erkenntnis aller Dinge eingreift. Die Legitimität experimentellen Forschens bedarf für Schopenhauer keiner weiteren Begründung, da sie sich logisch aus der Kritik der verfehlten Philosophie des Mittelalters ergibt. 1 Unter der Voraussetzung eines rational bruchlosen Bezugs zwischen Selbst- und Außenerfahrung wäre das für einen solchen Ansatz zu erwartende Bezugsmodell Verifikation. Bleibt jedoch das Moment deduktiver Systematik, die Fixierung an eine - a priori, intuitiv oder wie auch immer gewonnene - Erkenntnisformel dominant, dann verkehrt Verifikation sich zu Exemplifikation: Vor dem unangreifbar stabilen Erkenntniswert der Weltformel verflüchtigt wissenschaftliche Erkenntnis sich zu bloßem Beleg, enzyklopädisches Interesse erstarrt in der Einheitlichkeit seiner metaphysisch rückführbaren Inhalte. 1

Schopenhauer spricht etwa von dem »beim Mangel aller Realkenntnis an Formeln und Worten allein zehrenden Geiste der Scholastiker« (WWV I, 89).

81

Der damit angedeutete Konflikt zwischen Empirismus und Dogmatismus hat seine Konsequenz auf der Ebene der Erkenntnisorganisation und der sprachlich-textlichen Strukturierung der Argumentation selbst. Jeder Gleichnisgebrauch impliziert ein Verhältnis relativ stabiler vorgewußter Werte zu dem, was im Vergleichen eingeholt werden soll. Für Schopenhauer sind Gleichnisse von großem Werthe, indem sie dazu dienen, einen abstrakten Gedanken anschaulich zu machen. [...] Sie führen ein unbekanntes Verhältn i s auf ein bekanntes zurück. Alle Begriffsbildung beruht im Grunde auf Gleichnissen. [...] Das Aufstellen treffender Gleichnisse zeugt von einem tiefen Verstände. 2

Es überrascht bei so hoher operativer und inhaltlicher Wertschätzung des Gleichnisses nicht, daß sich Gustav Friedrich Wagner im Abkürzungsverzeichnis seines 1909 erschienenen »Encyklopädischen Registers zu Schopenhauer's Werken« zur Einführung einer Zusatz-Sigle genötigt sah: »Gl. z. = Gleichniß zu, - ist stehende Formel für alle Gleichnisse, Metaphern, charakteristischen Ausdrücke, Analogien u. dgl.«3 Und schon die erste Seite dieses in jahrzehntelanger Arbeit entstandenen Lexikons liefert - etwa unter den Stichwörtern »Abbild«, »Abdruck«, »Abglanz«, »Abgrund« - eine Fülle von Belegen für ein Denken in Gleichnissen, wie es Schopenhauer — und im spezifischen Traditionssinn des Wortes »mit ihm« die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts - kennzeichnet.

2 3

Zit. nach Schopenhauer-Register 145. S.-Register VIII. In seinem Vorwort hat Wagner eine Reihe von Textelementen ähnlicher Funktion genannt, ohne freilich ihre rezeptionstheoretische Bedeutung zu reflektieren: »...charakteristische Ausdrücke, Beispiele, Gleichnisse, Citate« (S.-Register V).

82

I. Die Grundintention des Werkes als Totalitätssuche

M i t der i h m eigentümlichen Unmittelbarkeit gibt S c h o p e n h a u e r in der V o r r e d e z u r ersten Auflage v o n »Die W e l t als Wille und Vorstellung« ( 1 8 1 9 ) bereits i m ersten Satz Absicht u n d A n s p r u c h seines W e r k e s a n : » W a s durch dasselbe mitgeteilt werden soll, ist ein einziger G e d a n k e « . Dieser einzige G e d a n k e jedoch erfüllt totalen A n s p r u c h : Ich halte jenen Gedanken für dasjenige, was man unter dem Namen der Philosophie sehr lange gesucht hat und dessen Auffindung ebendaher von den historisch Gebildeten für so unmöglich gehalten wird wie die des Steines der Weisen [...]. 4 4

I, 7. Das gespannte Verhältnis zwischen Einzigkeit des Grundgedankens und ausufernder Breite des Werkes hat vielfach Anlaß zu - meist anerkennenden - Überlegungen geboten. Über »Die Architektonik im Gesamtwerk Schopenhauers« hat in jüngerer Zeit Gerhard Klamp mehrfach gehandelt (so im Jb der S.-Gesellschaft 1958, dann unter dem zitierten Titel - im Jb 1960, 82-97). Den toposhaften Äußerungen Th. Manns und R. Strauß' über den musikalischen Aufbau des Werkes sei wenig Entsprechendes von philosophischer Seite zu gesellen. (»Unter den Philosophen ist Eduard May einer der wenigen, der Schopenhauers System als ein >Wunderwerk erhabener Gedankenkunst< gepriesen hat«. S. 82) Klamp gelingen wenig mehr als formale Zuordnungen und Paraphrasen, vornehmlich in metaphorischer Diktion (»...ein einziger Gedanke, der in immer wieder abgewandelter Form gleichsam in einem mehrstöckigen Riesenbauwerke Gestalt gewonnen hat«, ebd.). Die Gliederung seiner Untersuchung in »äußeren Aufbau« und »inneren Ausbau« hätte Vf. durch argumentative Einstellung sinnfällig machen müssen, statt durch »polarische« Beziehungen »Zwei-Einheiten« entstehen zu lassen (S. 84). Als Ergebnisse seien folgende Beziehungen festgehalten: 1. Ergänzungsbeziehung zwischen Buch I und II von WWV: I behandelt Welt unterm Aspekt der »Vorstellung in der Maske der Erscheinung« (S. 83), Buch II unterm Aspekt des Willens. Buch III kann gelesen werden als ästhetische Vorschule für die in Buch IV dargestellte Verneinung des Willens zum Leben. 2. Eine Zuordnung von Buch II und III sieht Vf. darin, daß sie beide von »Ideen« als »festen, bestimmten Objektivationsstufen des Willens« (S. 84) handeln. Als Fazit ergibt sich: »Handelt das erste Buch von der Welt als einer Setzung des Subjekts, derzufolge die Welt >meine Vorstellung< ist, [...] so wird mit dem vierten Buch, in den eindrucksvollen Schlußpartien, gelehrten radikalen und totalen Akt der Willensverneinung [sie!] eben jene Weltsetzung durch das Subjekt in aller Form wieder rückgängig gemacht, indem alle Erscheinungen zuletzt als trügerischer, nichtiger Schein erkannt werden.« Buch II spreche darüber hinaus von einer rein theoretischen, Buch IV von einer praktischen Metaphysik. Des Vf.s weitere Spekulationen über die »vierfache« - vgl. Schopenhauers Dissertation »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde« - Zuordnungsfähigkeit der Schriften dürfen

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Damit ist nicht nur Einlösung, ja Aufhebung aller Fragen bisheriger Philosophie als historischer Anstrengung des Menschengeschlechts behauptet, sondern im Grunde die Erkenntnis der Welt. Freilich wird die Chance ihrer Erkennbarkeit für den Intellekt im Kontext des häufig verwendeten Begriffs »Welträtsel« negiert. Immerhin aber faßt der Schlußsatz dieser Vorrede, nach wichtigen noch zu untersuchenden didaktischen Vorkehrungen des richtigen Verständnisses des Werkes, den globalen Anspruch unterm Zeichen der erfüllten Erkenntnis zusammen: »sagen wir die Wahrheit«. 5 Schopenhauers Philosophiebegriff zielt auf die Überholung aller empirischen Kenntnisse, kausalen Erfahrungen und Zusammenhänge, nämlich auf »nicht relative, sondern unbedingte Erkenntnis vom Wesen der Welt«. 6 Am Ende des 4. Buches des 2. Bandes seines Hauptwerkes, in dem »Epiphilosophie« betitelten 50. Kapitel, stellt Schopenhauer sich in die Reihe der großen Einheitsphilosophen von den Eleaten über Scotus Erigena, Giordano Bruno und Spinoza zu Schelling, deren Wirkung es zu verdanken sei, daß die Erkenntnis, »daß das innere Wesen in allen Dingen schlechthin eines und dasselbe sei«, 7 Allgemeingut seiner Zeit werden konnte. Er jedoch liefere zum erstenmal die »Lösung« der Frage, » w a s dieses Eine sei und wie es dazu komme, sich als das Viele darzustellen«. Sicher nicht mit größerem Selbstvertrauen spricht Ernst Haeckel am Ende des Jahrhunderts vom »Welträtsel« — er verzichtet auf die symbolische Gestaltanalogie, die Schopenhauer, darin im Gefolge mythischer Überhöhung, zwischen Text und Welt herstellt. In der Vollform des Lösungsbewußtseins werden bei Schopenhauer denn auch die als vorläufig zurückgewiesenen Fragen der Aitiologie (der Begründbarkeit, Herleitbarkeit) und Kausalität apodiktisch beantwortet: in dem »Willensakt, aus welchem die Welt entspringt«,8 glaubt Schopenhauer das von der bisherigen Freiheitsphilosophie versäumte »tertium«, das zusammenfassende Dritte gefunden zu haben. Im § 12 seiner »Fragmente zur Geschichte der Philosophie«, »Die Philosophie der Neueren«, setzt sich Schopenhauer gegen die bisher nicht restlos aufgehenden Systeme ab und exemplifiziert die »Lösung des Rätsels der Welt« 9 einerseits mit mathematischer Aufgabenlösung, andererseits mit dem Durchgang durch ein Labyrinth und der Entwirrung eines Fadenknäu-

5

füglich übergangen werden, wenn er als »Ersatz für das fehlende Stück [als Entsprechung zu Buch III] André Fauconnets Buch »Die Ästhetik Schopenhauers« von 1914 anbietet (S. 87). 7 II, 824. 8 II, 829. I, 13. 6 I, 190. ' IV, 88.

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els. Damit aber meint er schon nicht mehr die im Bild angelegte Struktur von gestellter und verfolgbarer Problematik, sondern die Beliebigkeit der Probleme im Weltknäuel: er unterstellt, »das zu erklärende Phänomen der Welt« biete »unzählige Enden dar«. 1 0 Damit wird jene stabile Identität des Problems vorausgesetzt, die alles, was dem Bewußtsein als Anstoß entgegenstehen mag, mit dem Einheitsgrund gleichsetzt. Einen angemessenen Zusammenhang aller Dinge liefert das Willenstheorem; dieses bleibt die deduktive Konstante in der explikativ erscheinenden, in Wirklichkeit apodiktisch identifizierenden Addierung von Belegen der Grundformel, als die sich Schopenhauers Werke lesen lassen.

10

IV, 89.

85

II. Philosophiebegriff und Wissensinteresse. Zum Verhältnis von Metaphysik und Naturwissenschaft

1.

Philosophie als natürliches Ganzheitswissen

Schopenhauer trennt zunächst kategorisch Philosophie und Wissenschaften. 11 Gleichzeitig nutzt er aber zur Klassifizierung der Wissenschaften rein philosophische Kategorien der Kantschen Erkenntnistheorie. Damit wird die gegen die Wissenschaften gerichtete Absetzung der Philosophie zweifelhaft und die kontinuierliche Verknüpfung in der Klassifizierung manifest, da ihm »die Philosophie oder Metaphysik als Lehre vom Bewußtsein und dessen Inhalt überhaupt oder vom Ganzen der Erfahrung als solcher« 12 erscheint. Der Philosophiebegriff wird doppeldeutig: er meint einerseits etwas wie die Theorie der jeweiligen Wissenschaft, andererseits, als »eigentliche Philosophie«, 13 die Chance, »die allgemeinsten Aufschlüsse über das Ganze der Dinge zu erteilen«. Ähnlich wird die Metaphysik mehreren Erkenntnisweisen zugeordnet. Einerseits müsse Metaphysik »empirische Erkenntnißquellen haben« 14 und »das Erscheinende immer im Zusammenhang mit der Erscheinung, nicht als davon getrennt zeigen«15 — andererseits müsse sie über die Erfahrung hinausgehen: ihr Zielpunkt sei das, »was Kant die Ordnung der Dinge an sich nennt, welche der physischen Ordnung der Dinge zum Grunde liegt«. 16 Ist empirische Erfahrung als Zweiheit von »äußerer« und »innerer« gefaßt, so gibt doch nach Schopenhauer nur die letztere »den Schlüssel zum Verständniß der andern«. Demnach konkurrieren naturwissenschaftliche Empirie und introspektive Metaphysik unmittelbar, d. h. am gleichen Gegenstandsfeld miteinander: an den Dingen der 11

12 14

Vgl. Kapitel 12 des 1. Buches von Band II von WWV, wo im Rückgriff auf die vorausliegende Abhandlung »Über den Satz vom Grunde« eine »Einteilung der Wissenschaften« in »reine Wissenschaften a priori« (solche sind ihm ζ. B. Geometrie, Algebra, Logik) und »empirische Wissenschaften a posteriori« (mit den drei Abteilungen: Lehren von Ursachen - ζ. B. Mechanik, Physik, Chemie; Lehren von Reizen - ζ. B. Physiologie, Zoologie; Lehren von Motiven - ζ. B. Ethik, Psychologie, Geschichte) vorgelegt wird. (II, 165). 13 II, 166. II, 166. S.-Register 272. 15 S.-Register 272. " S.-Register 272.

86

Welt, von denen unklar ist, wann sie als »an sich« seiende und wann als bloß »phänomenale« aufgefaßt sein müßten. Indem Schopenhauer der Philosophie metaphysische Funktionen zuweist, nämlich das transzendentale Ganze, und zwar transzendentalistisch, zu berücksichtigen, wird die Frage akut, welche Einheiten zu solchen >Ganzen< aufgewertet werden können. Statt methodischer Reflexionen sind bei Schopenhauer Wertungen und Vergleiche zu finden. Philosophie, so heißt es in Fortführung der zitierten Stelle aus WWV I, sei »der Grundbaß aller Wissenschaften, [...] aber höherer Art als diese und der Kunst fast so sehr als der Wissenschaft verwandt«. 17 In der spontanen Bezugnahme auf die differenzierte Summe »aller Wissenschaften« zeigt sich unbewußte Orientierung an der diskursiv-analytischen Erkenntnismethode - in der musikalischen Metaphorik und der synthetischen Aufwertung von Philosophie als Zugleich von »höherer Wissenschaft« und »Kunst« die Fixierung an ein unexplizit totalisierendes Wissensziel. Da Schopenhauer die logischen oder operationalen Relationen zwischen beiden Wissensformen nicht anzugeben weiß, schwankt er beständig zwischen ihnen. Widersprüchlich werden »die Hauptresultate jeder Wissenschaft« zum Inhalt einer Spezialphilosophie gemacht, andererseits aber zu deren puren »Data« erniedrigt. Die »eigentliche Philosophie« habe »die allgemeinsten Aufschlüsse über das Ganze der Dinge zu erteilen«. Die Formel vom »Ganzen der Dinge« steht bei Schopenhauer für den Begriff des Weltganzen, meint nicht die auf Grenzen relative Ganzheit von Dingen. »Totalität setzt Gränzen und Gränzen setzen Totalität voraus«, heißt es in typisch romantischer Reversion. 18 Wie Schopenhauer sich absetzt gegen eine Kant zugeschriebene Auffassung, es setzten sich Ganzheiten aus ihren Teilen additiv zusammen, geht es ihm darum, aus der Konzeption des >Ganzen< Momente bedingender Kausalität herauszuhalten: das Verhältnis der Teile zum Ganzen sei nicht das der Bedingung zum Bedingten, und das Ganze der Dinge sei nicht von einem Intellekt ausgegangen.19 Indem jedoch in die rein kosmologisch intendierten Formeln Schopenhauers die >DinglichkeitsÜberbietung mittels Weltgleichnis< auf: wenn sie nichts darzustellen hat, wird sie vermutlich die ganze Welt darstellen. Abstraktion löst den Widerspruch. Dieses dem Weltgedanken immanente Bezugsverhältnis (defizientes Denken und aufgewertetes Wahrnehmen) formuliert sich als Analogiemodell in den Strukturbeziehungen der Einzeldinge wie der ontologischen Ebenen. Als >höchsteVerwirklichungenWeltgleichnis< die Funktion, die Vermittlung zwischen Ding und Welt, zwischen Partialität und Totalität im Schein von Anschaulichkeit und in der Richtung auf Abstraktion anzubieten. b) Metaphorik und Vergleichsfunktion Die analysierte Stelle belegt die Erhöhung der Operationsbasis auf jene Ebene, wo >Welt< und >Ding< - letzteres hier genauer: Kunst und deren Erlebnis — kompatibel werden. Die anderen Formen von Analogiedenken sind logisch aufgebaut, wie die Merkmalsübernahme von einem zum anderen Exponenten einer Klasse. Für den Rest dieses Paragraphen geht Schopenhauer zu explizierenden Erläuterungen von Funktion und Bedeutung der Musik über, die als sprachliche Realisierungen der analogistischen Denkweise interessieren. 94

Der Reiz des Weltgleichnisses bei Schopenhauer liegt gerade in der wechselseitigen Hierarchisierung von »Wille« und »Vorstellung«, so daß die Realgrundlage von Welt einmal - »idealistisch« - in der Vorstellung, dann - »triebphilosophisch« - im Willen gesehen werden kann. Um der Widersprüchlichkeit dieses Verfahrens zu entgehen, insistiert Zimmermann (S. 30f.) auf der Identität von Leib-Wille-Ding an sich, mithin auf der Schopenhauerschen »Form einer >metaphysischen Ergänzung«« (S. 31).

112

Drei theoretisch-abstrakt gehaltenen, apodiktischen Einführungsseiten folgen zwölf beispielhaft belegende, die Analogien im einzelnen durchführende Seiten, die sich zwischendurch theoretischer Summierung nähern, aber auf die ethische Zielebene als Konvergenzlinie der Argumentation bezogen bleiben. Schopenhauer meint, es müsse zwar durchaus keine unmittelbare Ähnlichkeit, aber doch ein Parallelismus, eine Analogie sein zwischen der Musik und zwischen den Ideen, deren Erscheinung in der Vielheit und Unvollkommenheit die sichtbare Welt ist. Die Nachweisung dieser Analogie wird als Erläuterung das Verständnis dieser durch die Dunkelheit des Gegenstandes schwierigen Erklärung erleichtern.95

Wie verbal-abstrakt, inhaltlos und sachfremd die Analogiebildung einsetzt, fällt auf, wenn Schopenhauer einfach die semantische Nähe von >tief< und >niedrig< aufgreift: er »erkenne« [!] »in den tiefsten Tönen der Harmonie, im Grundbaß, die niedrigsten Stufen der Objektivation des Willens wieder«, - nämlich? - »die unorganische Natur, die Masse der Planeten«. Die unglückliche Apposition macht einige Fremdheit mit der Sache der Musik wie der Astronomie deutlich; doch sie kaschiert sich in affirmativen Floskeln wie »sind bekanntlich anzusehen« 96 oder »angesehn werden müssen«. Die argumentative Sprechebene wird, im Verlauf der immer stärker auf Substantivierung und Verbausfall festfahrenden Diktion, zunehmend verlassen, der explikative Text verknappt sich und verändert sich dadurch in sein Gegenteil: in die apodiktische »wie-so«Behauptung. Die Annahme, die hohen Töne entstünden aus Nebenschwingungen des tiefen Grundtones, [sei] nun dem analog, daß die gesamten Körper und Organisationen der Natur angesehn werden müssen als entstanden durch die stufenweise Entwicklung aus der Masse des Planeten: diese ist, wie ihr Träger, so ihre Quelle: und dasselbe Verhältnis haben die höhern Töne zum Grundbaß. 97

Vereinfachte Syntax, Metaphorisierung der Substantiva und unkontrollierter Gebrauch der Vergleichspartikel erzeugen den Schein von Plausibilität, der von der Semantik der Verben aus noch keineswegs bezeugt ist: »sein« tritt als Synonym von »bedeuten« auf, bestimmte Tonleiterintervalle »sind parallel« »den bestimmten Stufen der Objektivation des Willens, den bestimmten Spezies der Natur«, Tonartendifferenzierung ist analog dem Abweichen des Individuums vom Typus der Spezies, Mißtöne, die kein bestimmtes Intervall ergeben, lassen sich den monströsen Mißgeburten zwischen zwei Tierspezies oder zwischen Mensch und Tier vergleichen.98

95

1,360.

96

1,360.

' 7 1,361.

98

1,361. 113

Mit einem platonistischen »Wiedererkennen« werden vielfach solche »Parallelitäten« benannt und kennzeichnenderweise als »Repräsentanten« vorgeführt." Neben den stehenden Formeln einer die Differenz der Sachen noch offenhaltenden Vergleichsdiktion sind grammatische und illokutive Funktionstopoi der Vereinheitlichung festzustellen. Auffällig ist die Häufigkeit, mit der Relativsätze an differenzierend-bestimmte Aussagen Allurteile anschließen. In vielen Fällen handelt es sich nur um Erweiterungen ursprünglicher oder Explikationen impliziter Allaussagen.100 Schopenhauers berühmter »Satz vom Grunde«, den er in § 3 des 1. Buches bereits ausführlich kommentiert, ist nichts anderes als eine Vereinheitlichungsformel. Sie greift mit einem überraschend hohen Aufwand anthropomorpher Metaphorik (die Zeitkonstitution wird dargestellt als wechselnde Folge von »Augenblicken«, die den »vorhergehenden, seinen Vater«, vertilgen; außerdem kommt die Traummetapher zu trächtiger Verwendung) bewußt auf archaische Philosopheme zurück: auf den heraklitischen »Fluß der Dinge«, Piatons dauerndes Werden und den indischen »Schleier der Maja«. c) Paradigmatik und Amplification Die additive, mit belegenden Kommentaren und Digressionen arbeitende Methode der Exemplarisierung von Theoremen und Axiomen ist zurückbeziehbar auf traditionelle Darstellungsweisen, auf die autoritäre scholastische demonstratio wie auf die rhetorische Tradition der exemplificatio,101 In seinen Ausführungen »Zur Syllogistik« (II, 141ff.) liefert 99

Vgl. 1,360, 361, 362 u. ö. Vgl. u. a. 1,32: »Alles, was irgend zur Welt gehört und gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtsein durch das Subjekt behaftet [...]«. 1,33: »Dasjenige, was alles erkennt und von keinem erkannt wird, ist das Subjekt«. 1,38: »Ebenso nun, wer diejenige Gestaltung des Satzes vom Grunde, welche den Inhalt jener Formen (der Zeit und des Raumes), ihre Wahrnehmbarkeit, d. i. die Materie, beherrscht, also das Gesetz der Kausalität erkannt hat«. Ebd.: »Das, worauf sie [die Wirklichkeit oder Realität] wirkt, ist allemal wieder Materie«. Konklusionsfloskeln wie »mithin das Ganze« und totalisierende Appositionen wie »das subjektive Korrelat der Materie oder der Kausalität, denn beide sind eines, ist der Verstand, und er ist nichts außerdem« (1,41) machen, in der Bestimmtheit, mit welcher von Repetition und Variation Gebrauch gemacht wird, den Gestus des Notwendigen, logisch Unausweichlichen aus, mit dem Schopenhauers Texte den Leser suggestivieren. Das identifikativ weiterführende »also« und seine Entsprechungen sind Momente des totalisierenden Systemzwangs (vgl. 1,41: »alle Kausalität, also alle Materie, mithin die ganze Wirklichkeit«). 101 Toposhaft unpräzis und widersprüchlich redet Hübscher in seiner »Biographie eines Weltbildes« vom Aufbau des Hauptwerkes: »es erwies sich als organisches Gebilde 100

114

Schopenhauer eine paradigmatische Analyse seines eigenen gedanklichen Vorgehens, wenn er - nur anscheinend »beiläufig« - fragt, »ob der Schließende durch den neuentstandenen Satz wirklich etwas Neues erfährt«; seiner Auffassung nach besteht »das Wesen des Schlusses« nur darin, »sich seiner eigenen Erkenntnis deutlicher bewußt zu werden«. 102 Dementsprechend nennt er vorangegangene Erkenntnis »latent«, Denken selbst die Freisetzung solch gebundener Erkenntnis. Damit wird die Hypostase legitimiert, der eigentliche Akt des Schließens entwertet. Die Folgen für das Textherstellungsverfahren liegen auf der Hand: Suppositionen, Variationen, Amplifikationen ersetzen Analyse und diskursiven Prozeß; apodiktische Behauptung braucht nur durch applizierte Vergleiche »nachgewiesen« zu werden, um den Schein des Triftigen zu erhalten. Den Abschluß dieser syllogistischen Überlegungen bilden Vergleichstexte: Nach einem Goethezitat, das die unbewußt-spontane »Inspiration« des richtigen Denkens belegen hilft, folgt ein reichlich decouvrierendes »Gleichnis des geschilderten Gedankenprozesses«: jene Vorhängeschlösser [...], die aus Ringen mit Buchstaben bestehn: am Koffer eines Reisewagens hängend, werden sie so lange geschüttelt, bis endlich die Buchstaben des Wortes gehörig zusammentreffen und das Schloß aufgeht. 1 0 3

Besser könnte die Situation einer »versperrten« und auf Zufallslösung bezogenen Erkenntnis kaum persifliert werden. Der sogleich nachfolgende Vergleich von Erkenntnis mit Vibrationen eines Tones im Sand und den von ihnen erzeugten »Klangfiguren« verrät ein weiteres Mal ihr Spezifikum gegen außernoetische natürliche Wirklichkeit.

102 103

[...]. Hier war nichts mehr von der weiträumigen und unruhvollen, erwartungs- und episodenreich geschichteten Architektonik der großen idealistischen Systeme, die nur aus dem Gesamtzug immer wiederholter Anläufe, Änderungen und Umarbeitungen [...] zu verstehen ist. Hier wird nicht eines aus dem andern gefolgert; eine natürlich sich erschließende Gesamtansicht wird durch Bilderreihen beleuchtet und mit Begriffsketten gemessen, es herrscht eine Einheit, ein Zusammenklang der Teile« usw., so daß man nur von Musik sprechen kann (68f.). Später heißt es unter Beziehung auf die Geschichte der Veröffentlichungen: »Die Möglichkeit eines organischen Ausbauens und Weiterwachsens ist von jetzt ab abgetan, es gibt nur mehr ein stetes Anbauen, ein System von Notbehelfen, von zusätzlichen, fortführenden und vertiefenden Betrachtungen.« (86) II, 142. II, 143. Das Goethezitat: »Wie etwas sei leicht, / Weiß, der es erfunden und der es erreicht«. Ein weiteres Vergleichsbild vom Ende dieses Kapitels: »Als ein Sinnbild des Syllogismus kann man die Voltaische Säule betrachten: ihr Indifferenzpunkt in der Mitte stellt den medius vor, der das Zusammenhaltende der beiden Prämissen ist, vermöge dessen sie Schlußkraft haben [...]« (II, 153). In typischer Weise endet dieser ausgeführte Bild-Vergleich mit dem verkürzten der romantischen Metapher vom Berührungsfunken: »das neue Licht der Konklusion« (II, 154).

115

Die dem Schopenhauerschen Text eigentümliche Kettenbildung von Vergleichen ist vom Philosophen selbst gelegentlich »als Amplifikation der nachgewiesenen Analogie« 104 bezeichnet worden. Der lebensphilosophische, praxisinteressierte Charakter der meisten Gleichnis-Vertextungen wird in einer für sein System grundlegenden pragmatischen Analogik greifbar. Schopenhauer pflegt den Akt und die Aktbestimmungen des menschlichen Umgangs mit der Sache auf diese selbst zu übertragen: weil das Zählen Zeit kostet, ist für ihn die Arithmetik eine Wissenschaft der Zeit, bzw. beruht sie »auf der reinen Anschauung der Zeit«. 1 0 5 Da Schopenhauer »auf dem rein objektiven Wege nie zum Innern der Dinge gelangen« 106 zu können glaubt, versucht er in wechselseitiger Begründung der Innen/Außen-Relation das Totum als solches zum Vehikel der Erkenntnis zu machen. Jedes »An-sich-Sein ist Wollen«, heißt es — also ist »Für-ein-Anderes-Dasein« »Vorgestelltwerden«. So gelangt diese Philosophie »am Leitfaden der Analogie« zu einer »latenten« und unablässigen Anthropomorphisierung des Erkennens selbst, der Leitfaden ist die Möglichkeit, »mit unserm eigenen Wesen die übrigen enträtseln [zu] können«, eben jenes Schloß der Einheit aller Dinge, zu dem schließlich alle Schlüssel passen, - sofern die Dinge lange genug geschüttelt werden. Ausdrücklich definiert Schopenhauer die Möglichkeit, durch künstliche Verknüpfung der nach außen gerichteten objektiven Erkenntnis mit den Datis des Selbstbewußtseins zu einem gewissen Verständnis der Welt und des Wesens der Dinge zu gelangen [als ein doch nur] sehr limitiertes, ganz mittelbares und relatives [Verständnis], nämlich eine parabolische Übersetzung in die Formen der Erkenntnis. 107

Die Formel vom Zusammenhang der Dinge, der Erscheinungen, ist als philosophische »Grundeinsicht« vorbeantwortet durch die Weltformel. Wenn unser selbsteigenes Wesen notwendig auch der Welt der Dinge an sich [also dem Gegenteil der Erscheinungen] angehört, in dem es in dieser wurzeln muß, [so gilt es nur noch] einige Data zu erfassen [...] zur Aufklärung des Zusammenhangs der Welt der Erscheinungen mit dem Wesen an sich der Dinge. 108

Diese »Data« werden deduktiv substituiert - zugleich aber gehört den Dingen ein ineffables »an sich« zu: d. h., jedes Ding ist zugleich Versperrung (im objektiven Erkenntniszusammenhang) und Schlüssel (im 104

II, 5 8 3 .

116

105

II, 4 9 .

106

II, 354.

107

II, 3 7 4 .

108

II, 3 7 5 .

Zusammenhang der totalhermeneutischen Analogik) zum Schloß der Welt. Indem damit ein Grunddualismus in Natur- und Dingwelt eingesetzt ist, sind Vergleichsleistungen zwischen dieser und der Welt des Geistes umso dringlicher erfordert. Sie treten auch bei Schopenhauer besonders häufig auf. Wagner hat etwa unter dem Stich wort »Erde« in seinem Register eine Vielzahl von Gleichnissen zusammengestellt, die alle bereichsverbindende Funktion haben. Es seien einige angeführt: Auf der Erdkugel ist überall oben, u. man kann von derselben nicht hinuntergleiten: Gl. z. Gegenwart W, 330. - Der Erdboden, der alles trägt, schwebt selbst in der Luft: Gl. z. Kausalität H, 228. [...] Die Bewegung der E. wird man nicht inne: Gl. z. Kluft zwischen dem Idealen u. Realen W 2 , 214; Gl. z. Bewußtwerden des Problems des Daseins W 2 , 189. — Die Aenderungen im Laufe der E. u. des Mondes durch den Einfluß der Sonne: Gl. z. Motiv u. Handlung W 2 , 340; P 2 , 2 4 7 . - Unser physischer Weg auf der E. ist eine Linie, keine Fläche: Gl. z. erworbenen Charakter, 358. 1 0 9

Vergleichen und Metonymität sind die wesentlichen sprachlichen Verfahren zur Überbrückung des Widerspruchs zwischen Dingen und Wesen, naturwissenschaftlichen Fakten und philosophisch-axiologischen Konstrukten. Im Zusetzen von »Ergänzung« zu der einmal im materialistischen Minus, einmal im transzendentalistischen Plus durchgeführten Sicht realisiert sich Totalisierung. Ihr Erfolg gehört zum Denk- und vor allem Erlebnis-Inhalt des schon in der Tradition des 18. Jahrhunderts formulierten »besseren Bewußtseins«. Besteht Bewußtsein überhaupt »aus einem Gemisch von Ewigkeit u. Zeitlichkeit«,110 so integriert das bessere jeden Unterschied bis zur Identität: Das b e s s e r e Bewußtsein fühlt sich als ein außerzeitliches, übersinnliches, freies [...]; wo dasselbe anhebt, verschwinden alle Gegensätze vom Bedingten u. Unbedingten, von Gott u. Welt [ . . . ] . m

Wir haben versucht, das von Schopenhauer festgestellte und in der Literatur weitgehend unkritisch so übernommene »doppelte Bewußtsein« auf die widerspruchsvereinigende Operation bloß benennenden "" S.-Register 87. Man vgl. zur Entsprechung der vom Geistigen ausgehenden Gleichnisfindung die einzelnen Angaben unter dem Stichwort »Geistererscheinungen« (122f.) und »Gehirn« (118f.). 110 S.-Register 36. 111 S.-Register 36. Die korrektive Kraft des »Ergänzens« bleibt in der wechselseitigen Analogik stecken. Die Begriffe wehren sich gegen ihre Veränderung, und deshalb kann auch der metaphysische Aspekt einfachhin »ergänzt« werden: »Dann wird diese im weitern Sinn physiologische Betrachtung die Ergänzung jener ideologischen, wie die Franzosen sagen, richtiger transzendentalen«. (II, 375)

117

und vergleichenden bzw. metonymisierenden Denkens zurückzuführen, das mit einem doppelten Paradigma arbeitet; das Spiel mit ihm ist motiviert als Aufhebung des Dualismus - es bleibt aber, gerade in der verschärften Intention zur Einheit, an ihn gefesselt. Die Folgen aus dem Konflikt zwischen einer kritisch äußerst angespannten Denksituation und den unzulänglichen sprachlichen Mitteln zur Bewältigung sind für die bereits dualismuskritische, >monistische< Erkenntnisabsicht und ihre Darstellung weiter zu untersuchen.112

3. Gleichnisstruktur und Textaufbau a) Aphoristik und Diskursivitätsverzicht Die Tatsache, daß Schopenhapers Philosophie in ihrem historischen und produktiven Aspekt auf eine unbekümmerte, ja unbedenkliche aphoristische Praxis zurückgeht, ist allgemein anerkannt. Die apodiktischaphoristische Grundprägung seines >intuitiven< Denkens ist romantische Eigenart, nachträglich zur philosophischen Methodik legitimiert; sie 112

Die Literatur über das doppelte Bewußtsein bei Schopenhauer ist reichlich, meist aber wenig analytisch. Schon im Jb. von 1921 behandelt Hans Zint »Schopenhauers Philosophie des doppelten Bewußtseins« (S. 3—45). In der neueren Forschung ist besonders Hübscher auf das Problem eingegangen, er hat ihm in »Biographie eines Weltbildes« ein eigenes Kapitel gewidmet (S. 20-27). »Die Philosophie des doppelten Bewußtseins konnte als einer der Mittelpunkte in der gärenden Begriffswelt des jungen Schopenhauers [sie!] nachgewiesen werden. Die Bereiche des idealistischen Grunderlebnisses, der Umkreis religiöser und ethischer Erfahrung«, frühes »mystisches Erleben« und »eigentümliche Schlüsselstellung von Piatons Ideenlehre deutlich herausgearbeitet werden« (S. 7). Uber den Zusammenhang zwischen der Furcht eines von der »Welt« isolierten Bewußtseins und der erhöhten Affirmierung romantischer Bewußtseinsprojektion wird später zu handeln sein. — Kritischer als Hübscher untersucht R. Neidert, Die Rechtsphilosophie Schopenhauers und ihr Schweigen zum Widerstandsrecht, Tübingen 1966, die Tatsache des »Zwiespalts«. Er macht in methodisch abgesicherten und außergewöhnlich kenntnisreichen Gängen den kontradiktorischen Widerspruch zwischen »Abhängigkeit und Unabhängigkeit des Staates von Moral und Recht« fest und erklärt als die eigentliche Wurzel des Gegensatzes »Schopenhauers gespaltenen Doppelansatz selbst, den er über zwei in sich konsequente, aber einander entgegenlaufende Linien bis hin zu scheinbar äußerlich-zufälligen Exzentritäten fortführt« (S. 114). Wichtig vor allem der Hinweis auf die noch auszuwertende Tatsache, daß die jugendliche Philosophie des doppelten Bewußtseins in den Zusammenhang des moralistischen Pathos gehört (S. 136) und die Untersuchungen über »das methodische Wesen des Schopenhauerschen Dualismus« in dem Abschnitt »Natur und Ursprung des Schopenhauerschen Dualismus« (S. 187ff.). Über den Vorrang der transzendentalistischen Erkenntnis- und Erlösungslehre nach einer kurzen Diskussion der Paradoxien bei Schopenhauer vgl. Kap. 155, S. 191ff.

118

entspringt ursprünglich intendierter antidiskursiver Einstellung. Dem jungen Schopenhauer vom Anfang des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts gilt als »ächte philosophische Betrachtungsweise der Welt« nicht eine »nach dem Woher und Wohin und Warum, sondern immer und überall nur nach dem W a s der Welt«113 fragt. Das abstrakt substantialistische Erkenntnismotiv hält sich wie die Augenblickshaftigkeit der Erkenntnismethode, gewonnen aus der Analogie von Philosophie zur Konzeption einer intuitiv-genial erfassenden Kunst, in Schopenhauers Denken unbeirrt durch. 114 Die Verbildlichung der nicht dem Satz vom Grunde mit seiner konkreten Kausalität zugeordneten Erkenntnisweise als einer »senkrecht« dazu stehenden meint vor allem dies Freibleiben von diskursiv-rationaler Kontinuität. 115 Der Grundbestand synthetischer Aphorismen, die das Weltbild fundieren, ist gering, liefert aber in seiner Abstraktheit Anlaß genug, ihn explikativ und applikativ zu erproben. Die Produktionshaltung des romantischen Philosophen ist ans Theorem organischer, genialer Ganzheit gebunden und wehrt jede analytische Einsicht ab: So wenig wie die Frucht im Mutterschoße könne er das Entstehen seines Werkes begreifen, ich schreibe auf, unbekümmert, wie es zum Ganzen passen wird: denn ich weiß, es ist alles aus einem Grund entsprungen. 116

Flucht vor rationaler Selbstkontrolle wird zu Souveränität des Denkens aufgewertet. »Da Schopenhauer nun seine Philosophie als >eine vollständige Wiederholung, gleichsam Abspiegelung der Welt in abstrakten Begriffen< versteht, vertraut er unbeirrbar auf die Einheitlichkeit seines Werkes, die >aus der Harmonie und Einheit der anschaulichen 113

Zit. nach Neidert, Rechtsphilosophie 191. »Der Künstler und der Philosoph gehen von derselben unmittelbaren, konkreten und intuitiven Anschauung aus« (Neidert, Rechtsphilosophie 191). Zur Problematik von >System und Aphorismus« sammelt H. Margolius im S.-Jb. 1960 (S. 117-124) sehr problemlos-aphoristisch Material. Schopenhauers Werk sei »ein Schulbeispiel dafür [...], daß System und Aphorismus sehr wohl Zusammengehn« (S. 119). »Die Lehre Schopenhauers ist im höchsten Grade philosophisches System [...] das Ganze der Werke Schopenhauers jedenfalls dem Ursprünge nach aphoristisch. Das erste philosophische Manuskript des jungen Schopenhauer ist ein Heft aphoristischer Notizen und Bemerkungen, und alle seine Schriften sind aus aphoristischen Aufzeichnungen hervorgegangen«. 115 Vg. dazu mit vorzüglichen Belegen aus der Frühzeit Neidert, Rechtsphilosophie 192: »Die Philosophie ist solange vergeblich versucht, weil man sie auf dem Wege der Wissenschaft, statt auf dem der Kunst suchte.« 116 Zit. nach Neidert, Rechtsphilosophie 193. 114

119

Welt selbst* notwendig und >unausbleiblich< entspringe. Er sieht es als >einen großen Vorzug< seiner Philosophie an, daß ihre Sätze unabhängig voneinander, durch die Betrachtung der realen Welt gefunden< seien, weshalb er über ihr Zusammenstimmen auch habe >stets außer Sorgen seyn können; sogar noch dann, wann einzelne derselben mir [...] unvereinbar schienen: denn die Übereinstimmung fand sich nachher richtig von selbst ein, in dem Maße, wie die Sätze vollzählig zusammenkamen; weil sie bei mir eben nichts Anderes ist, als die Übereinstimmung der Realität mit sich selbst, die ja niemals fehlen kannVorrat< begrifflicher Antworten entwickelt sich eine theoretische Diskussion, deren Gefüge durchaus logische Momente aufweist. Sie arbeitet deduktiv kombinierend und bleibt in dem abgesteckten begrifflichen Rahmen der ersten Phase. In der dritten wird eine referentielle Diskussion eröffnet: Wirklichkeitsbeziehungen werden als signifikante >Vorkommen< der theoretisch abgeleiteten Erkenntnis herangeholt. Dies führt unmittelbar in die Textphase der Exemplarisierung hinüber, deren Thematik auf die ersten Phasen zurückbezogen bleibt, in ihrer logischen Einrichtung jedoch häufig den Sprung in andere Genera, Seinsbereiche und heterogene kulturelle Objektivationsebenen vornimmt. Diese Exemplarisierung rekrutiert sich vornehmlich aus drei Methoden: dem Autoritätszitat, dem Naturvergleich und der konstruktiven Applikation bzw. der analogistischen Übertragung. Alle drei Formen fungieren als »Beleg«, und sie hypertrophieren nicht zuletzt wegen der geschilderten produktiven Situation der Textherstellung. Dem relativ einfachen axiomatischen Gerüst werden die verlebendigenden Anschaulichkeits->Stücke< angehängt. Bekanntlich hat die 2. Auflage von WWV eine teilweise starke Überhäufung mit solchem Plausibilität vermittelndem Belegmaterial gebracht.122 Dem damit implizierten Variationsprinzip muß dabei als einer durchaus nicht unabsichtlichen Formung der Rezeption, also unter didaktischen Gesichtspunkten, Aufmerksamkeit geschenkt werden. c) Funktionen des Autoritätszitats Noch ehe wir den auf das Motiv menschlichen Trostes mitten im Übel der Welt bezogenen Charakter des Erbaulichen genauer untersuchen, läßt sich aus der Analyse des Textaufbaus angeben, daß dies ethisch stabilisierende Ziel als Telos der Weltphilosophie auftritt. Der Verweis auf ethische Vorbilder, auf Veden, Plato, Christentum, Kant, tritt regel121

Die umfangreiche Arbeit von I. Vecchiotti, La Dottrina di S., kritisiert vielfach die verfehlten Grundanalogien, wie etwa die von Atman und ich (455), die Identifikation von Maya-Schleier und Individuationsprinzip (459), er spricht hier von einer »assoluta illegitimità dell deduzione«. 122 Über die erweiternden Zusätze zur 1. Ausgabe von 1819 informiert präzis das textkritische Nachwort I, 719ff., über die Zusätze der dritten »verbesserten und beträchtlich vermehrten Auflage« von 1858 die Angaben 1,723ff.

121

mäßig in hervorgehobener Stellung am Ende von Paragraphen und Kapiteln auf. So summiert § 3 des 1. Buches von WWV mit Einsatz von Metaphorik und Häufung von »Gleichnissen« die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse, die zurückbezogen und historisch legitimiert erscheinen durch ihr Vorläufertum zur welterlösenden Lehre.123 Derselbe Vorgang am Ende des § 6. 124 Das 1. Buch des I. Bandes gipfelt in langen Ausführungen und Zitierungen vor allem stoischer Ethik (1,40ff.). Im 2. Buch werden § 20 (die Organe als bildlich-sichtbare Objektivationen der Hauptbegehrungen: Parmenides-Zitat, 1,168f.), § 24 mit sehr zentraler Rechtfertigung anthropomorpher Naturbetrachtung durch Scholastikerzitat (1,190), durch Rückgriff auf Spinoza (1,191) und Augustinus (1,192), der folgende § mit Zitat von Angelus Silesius, mit Piatonverweis und abschließendem Zitat von Diogenes Laertius (1,195f.), § 26 nach Diskussion der Begriffe »Naturkraft« und »Materie« durch Hinweis auf »die vollkommene Wahrheit und den tiefen Sinn der Lehre des Malebranche von den gelegentlichen Ursachen«125 im Sinn des Autoritätsbelegs abgeschlossen. Der gleichsinnige Verweis auf die Scholastiker und deren tragende Philosopheme der »forma accidentalis« und »substantial« läuft durch die zentralen Kapitel des Hauptwerks durch. 126 123

Vgl. 1,36f. 1,49ff.: »Die Veden und Puranas wissen für die ganze Erkenntnis der wirklichen Welt, welche sie das Gewebe der Maja nennen, keinen bessern Vergleich und brauchen keinen häufiger als den Traum. Piaton sagt öfter, daß die Menschen nur im Traum leben [...], Pindaros sagt [...]«, worauf noch ein Sophokles-, ein Shakespeare- und ein Calderonzitat folgen. Schopenhauer geht dann selbst zum poetischen Gleichnis über, einen neuen Abschnitt eröffnend: »Nach diesen vielen Dichterstellen möge es nun auch mir vergönnt sein, mich durch ein Gleichnis auszudrücken«. (1,50) Er vergleicht das Leben und die Träume - der zitierte, etwa Calderonsche, Vergleich ist also neues Material zur Verbildlichung geworden - mit den »Blätter(n) eines und des nämlichen Buches«. 125 1,205. Vgl. dazu die Kommentare von Aby, S. und die Scholastik, 36ff. Die Übernahme des Begriffs der forma substantialis ist übrigens einer der Gründe, die Schopenhauer hindern, sich der Idee einer Rückführbarkeit höherer Objektivationsstufen des Willens auf niedere zu nähern; er hält sie für eine »Abirrung der Naturwissenschaft« (38). Über die willkürliche und begriffswidrige Ausweitung des Begriffs der forma substantialis sagt Aby: »Die hier aufgestellte Definition der forma substantialis ist nicht scholastisch, weil hier die forma substantialis der Komplex sämtlicher Eigenschaften des Naturwesens sein soll, wodurch die forma accidentalis überflüssig würde; denn gerade letztere gibt einem Ding sein >esse tale, aut tantum, aut aliquo modo se habensmateria sensibilis signata est individuationis et singularitatis principiumBegrifflichkeit< bzw. an >Anschaulichkeit< generell abhandeln, setzt dieses Kapitel, »Über den praktischen Gebrauch der Vernunft und den Stoizismus«, ein (II, 190). Dabei ist der erste theoretische Abschnitt, der die Begriffe definiert und konstelliert, von prägnanter Kürze. Der folgende Abschnitt jedoch, die Erfahrung im einzelnen und im allgemeinen zitierend und kommentierend, braucht, mit mehrfachem »so, wenn «-Vergleich, mehr als viermal soviel Raum, um die zunehmend mit toposhaften oder proverbialen lateinischen Ausdrücken durchsetzte Beispielgebung der »praktischen Fälle« vorzu1,213). Viele scholastische Lehrsätze aus den Disputationes metaphysicae des Jesuiten Francisco Suarez werden beifällig wiedergegeben (vgl. 1,110,173, 189, 225, 406, 655 u. ö.), bei denen es immer wieder um die Anerkennung bewußtseinshaltiger Definition der »Endursachen« geht, mithin um ein psychomorph-teleologisches Konzept. Eine für S. kennzeichnende >sekundäre< Form der Zitatverwendung liegt darin, daß er, gerade an solchen auf die Geschichte der Philosophie oder der Ethik bezogenen Abschlußstellen, in Polemik gegen die »philosophischen Possenspiele« usw. den ihm und seinem Leser offenkundig gewordenen Unsinn der Fehldenker mit Dichtungszitaten, Sprichwörtern, geflügelten Worten niederschlägt. (Vgl. etwa 1,250, wo zwei Piatonzitate den Ausfall gegen zeitgenössische Denker - u. a. Friedrich Heinrich Jacobi - krönen.) 127 Vgl. Aby, S. und die Scholastik, 24f. 128 Aby 41f. (Zitat aus: Thomas von Aquino, Expositio in 4 libros Aristotelis de coelo et mundo 1,19b). 129 So im Titel des II. Bandes.

123

führen. Die Summierungen rekurrenter Erfahrungen werden in diesem Abschnitt abgeschlossen durch eine anthropologische Grundaussage, die als griechisches Zitat auftritt: der Mensch sei το δειλότατον ζώον. Dieses dank historischer Archaik noch legitimierungsreichere Zitat wird wiederholend weitergeführt durch das den Abschnitt definitiv und insgesamt beglaubigend abrundende Zitat aus den Historien des Herodot: πάν έστι άνδρωπος συμφορά (Homo totus est calamitas) / Der Mensch ist ganz dem Zufall preisgegeben /, sagt schon Herodot / >Historiae< 1,32 /.130 Eine Totaltheorie stützt Schopenhauers eigene totalisierende Thesenbildung nach einer Phase empirisch-explikativer Diskussion, deren Logik im einzelnen wiederum der historischen Legitimität der kulturell akkumulierten Erfahrung latinischer Humanität zugeordnet ist. Dann erst — nach dieser also ihrerseits mit Autoritätstelos komponierten Einleitung — beginnt der im offenkundigeren philologischen Sinn mit Großzitaten, Kommentar und Wertung ausgestattete Teil des Kapitels. Er entfaltet, nicht unähnlich der humanistischen Aufsatzdisziplin, an den >Beispielen< der Väter enzyklopädisch den Bewußtseinsstand und die Lösungsrichtung der anstehenden >ProblemataTopos< bzw. innerem Telos angespielt wird. Diese Differenz kündigt sich in der Mitte des Kapitels an, wenn wir erfahren, daß der eigentliche, vom Autor geforderte Letztgrundgedanke bei den Mönchen [...] wie bei den ihnen verwandten Saniassis ein über das Leben hinausgestecktes Ziel 1 3 2

sei. Sie wird am Ende des Kapitels aber nicht begrifflich-explanativ geklärt, sondern in Form eines aphoristischen Kürzels, apodiktisch und ambivalent, ins weitere Begriffsfeld verschoben: »Endlich den Pantheismus der Stoiker« spreche Seneca aus: >Quid est Deus? Mens universi. Quid est Deus? Quod vides totum et quod non vides totum. Sic demum magnitudo sua illi redditur, qua nihil maius excogitan potest: si solus est omnia, opus suum et extra et intra tenet.« [Was ist Gott? Die Seele des Weltalls. Was ist Gott? Alles, was du siehst, und alles, was du nicht siehst. So allein wird seine Größe anerkannt, größer als welche nichts gedacht werden kann; wenn er allein alles ist, dann umfaßt er sein Werk und durchdringt es.](>Quaestiones naturales< I, praefatio 12). 133

Das Zitat der Weltseele bleibt sicher, auch dank der dem Leser vertrauten Abwertung des Seelenbegriffs, im Modus unausdrücklicher Ablehnung oder Ambivalenz, — aber zugleich ist die >Auflösung< des Widerspruchs durch den die Immanenz überbietenden Begriff Gott und den ihr nicht ohne weiteres gleichzustellenden des Universums inhaltlich positiv gegeben. Schopenhauer, der die belegimmanente Diskussion mit einem Senecazitat eröffnet hat, beschließt sie mit einem ebensolchen, das hervorgehoben ist - nach wiederholter indirekter Lenkung des Lesers durch >antwortgebende< Verweisung auf Transzendenz, mithin gelten muß als Erfüllung der vom Autor gelieferten Erwartungen. Die Verlaufsform des Schopenhauerschen Diskurses wäre folgendermaßen zu skizzieren: Diskursiver Anlauf bzw. Begriffsdiskussion begrenzter Ergiebigkeit, abstraktive Lösung bzw. verbalistische >Reduktion< von Konfliktpunkten auf die Grundbegriffe des Systems, z. T. konkretisierende, z. T. bloß autoritative Belege sammelnde Exemplari132 133

II, 206. Vgl. zur Zurückweisung des Seelenbegriffs 1,190 und vor allem II, 257. Schon zu Anfang von WWV II allerdings wurde der Leser über Schopenhauers Verachtung der »ihrem Publico über Gott, die Seele, die tatsächliche Freiheit des Willens und was sonst dahin einschlägt, nähere Auskunft« erteilenden Philosophieprofessoren belehrt (II, 50).

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sierung. Diese Darbietungsform läßt sich im II. Band von WWV nahezu in jedem Kapitel verfolgen.134 Sofern Schopenhauers Ansichten von der Konstellation der Grundbegriffe her festliegen, wächst dem Verhalten zum eigenen Text eine autoritative Komponente zu. Ihr korrespondiert die polemische. Hier endgültig brauchen die Regeln des diskursiven Dialogs nicht mehr berücksichtigt zu werden, Wahrheitsbesitz und Unsinnsverwerfung artikulieren sich gemeinsam als Schließung des weiteren kritischen Horizontes: gegen die mögliche Revidierung der eigenen Ergebnisse durch künftige Philosophie. Diese, eingeschüchtert von der Übereinstimmung des schon vorliegenden Schopenhauerschen Denkens mit der ältesten wie der verbreitetsten Weltreligion, erhält nur noch Affirmationsrecht. 4. Praxisbezogene Konsequenzen a) Analogiedenken als Folge von Entscheidungsvermeidung Das zuletzt analysierte Beispiel für ein kennzeichnendes literarischphilosophisches Vorgehen Schopenhauers enthält eine >GelenkSinn< wird nicht differenzierend einsichtig gemacht, sondern bleibt nachvollziehender Rezeption als integrales Angebot zur Übernahme nahgelegt. Ein Generalzeichen wie »Gott« oder »Weltseele« löscht die Möglichkeit des Bezeichneten, und die Aufhebung ins Allgemeinste steht als textuelles fait accompli da. Das Weitergehen zum Allgemeineren ist eine der alltäglichsten Formen der Flucht vor der Entscheidung, innerhalb eines Spannungsgefüges auf bestimmte Weise negierend zu verfahren. Da Schopenhauers Anschauungen geradezu getränkt sind von Negativität und Ablehnung, überträgt sich mit der Verschiebung die bestimmte Negation in die unbestimmte universale. Und die Installierung des Allgemeinsten erfolgt als Doppelangebot, wie wiederholt gezeitigt 134

Als besonders ergiebig würden sich folgende Kapitel erweisen: Kap. 1 4 , 1 5 , 1 7 , 1 8 , 1 9 .

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wurde: als >objektiveWeltGegenübertragung< das Innen auf das Außen. Diesem Modus gehören die von uns untersuchten Gleichungspartikel, die ausgeführten und verkürzten, angedeuteten und die bloß als identisch nebeneinandergerückten Vergleichsbeziehungen als Transporteure an. Im Vergleich wird die differentia entis ebenso wie die Heteronomie der Argumente kurzgeschlossen. In der Frequenz der Entscheidungen für die Totalität verwirklicht sich die Ablehnung von Alternativität und Individualität. Die Totalität spaltet sich - gerade in der Unverbundenheit der bloß denkerisch-analogistisch, aber nicht handelnd verbundenen Widersprüche — in eine positive und eine negative. Wenn Schopenhauer die »Endlichkeit alles Daseins« und die »Vergeblichkeit alles Strebens«138 als Gründe des metaphysischen Bedürfnisses angibt, vollzieht er eine totale Negativierung, die eigentlich jeden Praxisbegriff beträfe. Sie korreliert mit der Abwertung des Intellekts - auch als einer sozialen Chance des Individuums, an der >theoretischen< Welterlösung teilzuhaben. Die Spaltung der Sozialwelt in die Gruppe der Handelnden und der Denkenden enthält zusätzlich das Moment der Verhinderung von einsichtiger Handlung. Sie wirkt sich auf die zweifache Wertung von Metaphysik aus. Einerseits propagiert Schopenhauer die aristokratische Philosophie 135

So in dem anschließenden Kapitel »Über das metaphysische Bedürfnis«, wo behauptet wird, «daß die möglichst vollständige Naturerkenntnis die berichtigte Darlegung des Problems der Metaphysik« sei (11,231). 134 Dann heißt es ohne methodische Vermittlung: »Dann aber muß der Blick des Forschers sich nach innen wenden: denn die intellektuellen und ethischen Probleme sind wichtiger als die physischen«. 137 Simmel stellt, im Gefolge von Haym, Volkelt u. a., die »tiefe Fremdheit dieses Weltbildes gegen alle Individualität« fest (zit. nach Bahr, Engagement, 59). 138 II, 207.

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des aristotelischen handlungsenthaltenden Thaumazein (der bloß distanziert-theoretischen Einstellung), andererseits verurteilt und perpetuiert er die »Volksmetaphysik« des reflexionslos unverminderten Bewußtseins des einfachen Menschen gleichzeitig: es sei »weit davon entfernt, sich vom Ganzen der Dinge gleichsam ablösend, demselben gegenüberzutreten« 139 - die »allegorische Natur« 1 4 0 des religiösen Denkens und Sprechens dürfe freilich nicht öffentlich »eingestanden« werden. Dieser Veröffentlichungsvorbehalt ist Vermeidung von Intersubjektivität und aufklärungsfeindliche Verhinderung von Entscheidungsfähigkeit. Dem Begriffspaar Metaphysik/Physik hat Schopenhauer das andere »Ordnung der Dinge an sich/Ordnung der Dinge« korreliert. 141 Beide Ordnungsbegriffe beziehen sich auf gegenstandsbezogene und relationsklärende Verfahrensweise des Wissens, gehören zunächst also in einen Beschreibungszusammenhang. Wenige Seiten nach der aufgestellten Unterscheidung jedoch wird der Topos aber ohne jede Differenz gebraucht, er verschiebt sich ins Allgemeine und offenbart sich als Wertbegriff: Der Unterschied der Religionen, so wird gesagt, liege in ihrer Einstellung zum Problem der Rechtfertigung der Welt, - d. h. zu der postulativen Erkenntnis, daß Schmerz und Tod nicht liegen können in der ewigen, ursprünglichen, unabänderlichen Ordnung der Dinge, in dem, was in jedem Betracht sein sollte. 142

Gegen diese klassische Formulierung der anthropozentrischen Wünschbarkeit hat Nietzsche später seine biologistische und transzendentalis' II, 207. II, 215. Religion wird hier als Modus uneigentlichen, fremd imputierten Wissens der »Unzähligen« definiert, dagegen Philosophie als Wissenschaft »sensu stricto« aufgefaßt (11,214). 141 Die Unterscheidung wird von Schopenhauer anläßlich der angedeuteten Reflexion über die Sprachverwendung bei Religion und philosophischer Wissenschaft vorgenommen: die Religion müsse gemäß den Gesetzen der Erscheinungswelt sprechen - warum, wird nicht gesagt - über die Konstituierung einer Möglichkeit transempirischen Sprechens erfährt man nichts. Die Konsequenz der Sprachlosigkeit ist analog zur Konsequenz der Erkenntnislosigkeit gegeben, wird aber nicht reflektiert, indem Schopenhauer bloß den thematischen Bezug betont. Da offensichtlich die Wissenschaft gemäß den Gesetzen der Erscheinungswelt spricht, tritt das Konkurrenzverhältnis zwischen beiden Formen der Sprachverwendung kraß hervor - Schopenhauer hat es aber im voraus abgefangen, da er unterstellt, »daß die Religion im Grund von einer ganz anderen, von einer Ordnung der Dinge an sich handelt, vor welcher die Gesetze dieser Erscheinungswelt, denen gemäß sie sprechen muß, verschwinden« (II, 215). Damit wird eine residuale Privilegierung im Akt der Religionskritik gleichzeitig deutlich. 142 II, 220. 13

140

128

muskritische Polemik entfaltet. Alle Attribute dieser »Ordnung der Dinge« gehören in den Rahmen einer statischen Hoffnung auf Wunscherfüllung. Der wesentliche Unterschied zwischen der ersten und der anthropomorph potenzierten Ordnung der Dinge läßt sich also nicht so fassen, daß er sich auf die Klasse der »Erscheinungen« und andererseits auf die Klasse der Dinge an sich bezöge, sondern es ist ein Wertungsunterschied, der offensichtlich auf beiden Ebenen vorgenommen werden kann, auf jeden Fall auf der Ebene der Erscheinungen (mit Schmerz und Tod). Es zeigt sich damit, daß durch die Mischung der Ebenen die dualistischen Vorentscheidungen in sich selbst aufgelöst werden. Die im Lexikon ausgewiesene Oppositionsstruktur wird rein abstrakt weitergetragen, findet aber kein adäquates Handlungsfeld, auf dem Entscheidungen fixiert werden könnten. Mit dem Mißbrauch der Begriffserweiterung benimmt sich Schopenhauer die Voraussetzung zur Lokalisierung von Diversität und Unterschied. Das ist unter vielen anderen im gegebenen Textzusammenhang an der Frage des Unterschiedes von Mensch und Natur zu belegen.143

b) Doppeltheorie als Fazit der Grunddichotomien Der philosophischen Entmachtung der Physik folgt überraschenderweise auf derselben Seite die Widerlegung der spekulativen Philosophie — nachdem Schopenhauer sich auf den Mysteriencharakter aller Suche nach dem »inneren Wesen« zurückgezogen hat. Was im Anschluß daran hier negiert wird, ist identisch mit dem, was Schopenhauer auf derselben Seite emphatisch als Grundlegung seiner Philosophie affirmiert, was er in allen Schriften nicht müde wird als Lösung des Welträtsels anzupreisen. Weil beim Denken, so sagt er, 143

»Was nun also Kant von der Erscheinung des Menschen und seines Tuns lehrt, das dehnt meine Lehre auf alle Erscheinungen der Natur aus, indem sie ihnen den Willen als Ding an sich zum Grunde legt. Dies Verfahren rechtfertigt sich zunächst schon dadurch, daß nicht angenommen werden darf, der Mensch sei von den übrigen Wesen und Dingen in der Natur spezifisch, toto genere und von Grund aus verschieden, vielmehr nur dem Grade nach«. (II, 225) Selbstverständlich ist der Mensch »spezifisch« von der Natur unterschieden, aber nicht »toto genere«, nicht seiner ganzen Art nach: es ist eindrucksvoll, an solch minimal erscheinenden sprachlichen Indizien den Vereinheitlichungszwang des synthetischen Denkens am Werk zu sehen. Das Sprachbewußtsein vermag trotz seiner humanistischen Schulung unterm Druck der äquivokativen Ausgleichsbedürfnisse die im Sprachmaterial angelegten Oppositionen nicht mehr zu erkennen. (Vecchiotti spricht in seinem Schlußkapitel ausführlich über »equivoco teologico, equivoco dualista, equivoco platonico«, 332ff.)

129

das Unerklärliche am unmittelbarsten hervortritt [...] machte man hier sogleich einen Sprung aus der Physik in die Metaphysik [dieser Sprung ist kein anderer als die propagierte Schopenhauersche Metabasis] und hypostasierte eine Substanz ganz anderer Art als alles Körperliche — versetzte ins Gehirn eine Seele.144

Diesen Begriff abwehrend, ersetzt Schopenhauer ihn durch »Willen«. Seine nach dieser Äquivokation beliebig bleibende Polemik behält sich das Recht besseren Wissens und Formulierens vor. Schopenhauer müßte, um diskursiv weitersprechen zu können, Position beziehen. Statt dessen geht er zur historischen Polemik gegen den »Naturalismus« und Materialismus von Leukipp bis Cabanis weiter. Keine Einheiten werden kontrastiv voneinander abgesetzt, sondern nur die Unzulänglichkeiten bisheriger Philosophie zurechtgewiesen. Die ambivalente Doppelposition erweist sich als Doppelstrategie, die ihre Grunddichotomien gerade dadurch befestigt, daß sie sie scheinbar in den synthetischen Aspekt von »einerseits/anderseits«-Formulierungen aufhebt. Schopenhauer gibt den physikalischen Aufklärern Recht, »daß alle Phänomene, auch die geistigen, physisch sind«, wirft ihnen andererseits vor, nicht einzusehen, »daß alles Physische andererseits zugleich ein Metaphysisches ist«. Bei so doppelbödiger Stellung muß Schopenhauers Denken gleichzeitig als Dualismus und Monismus beschrieben werden. Mit der Ineinssetzung von Physik und Metaphysik nimmt er Fechners absoluten Standpunkt von Äquivokation vorweg, wobei allerdings in dem nur aphoristisch elaborierten System die dualistische Grundlage sehr viel deutlicher erhalten bleibt. Sowohl gegen mittelalterlichen und modernen Theismus wie gegen alle Formen von Materialismus polemisierend, wird das reduktive Erklärungsinteresse gezwungen, in funktionaler Dichotomie seine Gunst nach nichtdiskursiven Wertungsmaßstäben zu verteilen. So geht der idealistische Gegensatz von Subjekt/Objekt in den von Intellekt und Materie über. 145 Dem Einheitspostulat haben sich selbst die histori144

145

II, 225. »Wäre man jedoch nicht so stumpf gewesen, nur durch die auffallendste Erscheinung frappiert werden zu können; so hätte man die Verdauung durch eine Seele im Magen, die Vegetation durch eine Seele in der Pflanze, die Wahlverwandtschaft durch eine Seele in den Reagenzien, ja das Fallen eines Steines durch eine Seele in diesem erklären müssen.« Schopenhauer wußte offensichtlich nicht, daß die frühneuzeitliche Diskussion der Schwerkraft wie die alchimistischen Lehren immer wieder auf die Zwischenfunktion einer >Wirkung< tragenden Seele zurückgegriffen haben. (Vgl. oben zu Galilei S. 11; dazu 1,191). Bahr spricht von der Hypertrophie des idealistischen Subjektivismus als einer Ablenkung von den Verhältnissen des Subjekts in der Umwelt: »Man sieht, wie für Schopen-

130

sehen Widersprüche zu beugen, und dessen eigene Substanz verkündet sich in neu belebten Mystizismen und Metaphoriken. Die Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Wesen an sich sei »im Grunde zu allen Zeiten da« gewesen, »nur meistens sehr unvollkommen zum Bewußtsein gebracht«. Bewußtseinsfortschritt bestimme sich, nach Schopenhauers programmatischer und immanenter Praxis, als Tilgung des Gedankens. Die Abschlüsse des analysierten und des folgenden Abschnittes bringen naturspekulative Topoi, deren Gemeinsamkeit in der Verneinung der Kraft des Intellekts besteht. Schon die christlichen Mystiker ζ. B. erklären den Intellekt, indem sie ihn das Licht der Natur nennen, für unzulänglich, das wahre Wesen der Dinge zu erfassen. 146 Die letzten Grundgeheimnisse trägt der Mensch in seinem Innern, und dieses ist ihm am unmittelbarsten zugänglich [usw.].147

Das Wesen des halb aufgeklärten Geheimnisses ist: »das Wesen aller Dinge an einem Faden zu erfassen hoffen« und damit das Geheimnis in reine Zugänglichkeit uminterpretieren zu können. Die damit nahegelegte >Geistphilosophie< wird poetisch, und zwar durch Zitat aus spinozistischer Tradition der Naturdichtung, veranschaulicht: Verse aus Goethes Faust (I, 3225-3234) rufen die Tradition franziskanischer Brüderlichkeit aller Dinge der Natur ins Gedächtnis des von philosophischer Aporie bedrängten Lesers. c)

Ambivalenz der Naturwertung

aa) Ineffable Natur Weniger aus sachlichen Begründungen als aus der Doppellage der Argumentation ergibt sich eine merkwürdige Ambivalenz in der Einschätzung der Natur. Den Begriff der Natur von Prädikaten eindeutiger Art freizuhalten, ist eine Notwendigkeit für eine Naturanschauung, die Natur als das »Anschauliche« schlechthin definiert.148 Damit liegt sie auf der Linie der Intellektabwehr. Natur erhält Unmittelbarkeitsattrihauer die Korrelativität von Subjekt und Objekt heimlich in den Gegensatz von Intellekt und Materie entgleitet«. Schopenhauer »versucht, nicht nur die formale Beschaffenheit sondern auch die Existenz der Objekte durch Subjekte bedingt sein zu lassen.« (13) 14< II, 228. 147 II, 232. 148 Vgl. 1,631. Diese >Subjektivierung< ist inhaltlich als Entdefinierung zu verstehen.

131

bute, die zusätzlich gestützt werden durch die transzendentalistische Parallelität zwischen Natur und Wille. In der Konstruktion des vom Satz vom Grunde unabhängigen Weltbereichs bildet die »Anschauung der Natur« ein erkenntnistheoretisches und axiologisches Gelenk in der Trennung zwischen Subjekt und Objekt: Wer sich in die Anschauung der Natur so weit vertieft und verloren hat, daß er nur noch als rein erkennendes Subjekt da ist, wird ebendadurch unmittelbar inne, daß er als solches die Bedingung, also der Träger der Welt und alles objektiven Daseins ist, da dieses nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt. Er zieht also die Natur in sich hinein, so daß er sie nur noch als Akzidenz seines Wesens empfindet. 149

Diese durch Zitat aus Byrons »Childe Harold« und aus den Upanischaden in Kapitelendstellung bestätigte Auffassung entspricht einem synkretistisch formulierten und inhaltlich verschärften idealistischen Ansatz romantischer Naturbeziehung. »Vertiefung«, die gegenstandsloses >Innewerden< und distanzlos erkennende Selbstverlorenheit sein soll, zugleich sich totalisiert zum Erlebnis des Weltträgers, findet einzig in der gegenseitigen Auslöschung von Realität zwischen Welt und Subjekt ihre widerspruchslose Einigkeit. »Anschauung« wird durch den Gegenstand Natur und durch Reduktion des Subjekts auf reines Erkennen zum totalen, mithin auch pseudo-ontologischen Beziehungswert überhöht. Ihre optimierte Erkenntnis ist gekennzeichnet durch einen emphatischen Verschmelzungsbezug, der jede auf Distanz beruhende Einsicht beseitigt. Grundlosigkeit, Unmittelbarkeit, Erklärungslosigkeit — diese Beschreibungsmomente weisen eindeutig genug darauf hin, daß die scheinbare Erhöhung des Erkennens zum »reinen« nichts anderes ist als die im Systemzwang der Kausalitätsnegation liegende Abstellung des Erkenntnisweges selbst. Der Prozeß schränkt sich auf den Fix-Punkt bloßer Wahrnehmung ein. Natur wird so, nicht erst bei Schopenhauer, aber hier besonders deutlich, ein residuales Apologetikum, ein Rückzugsbegriff an den Grenzen des Unaussprechlichen. Der »Leitfaden der Kausalität« genüge nicht, die wenn auch enzyklopädisch und stringent aitiologisch gereihte Totalität »aller ursprünglichen Kräfte der Natur« einzufangen: »stets werden Urkräfte übrigbleiben, stets wird als unauflösliches Residuum ein Inhalt der Erscheinung bleiben, der nicht auf ihre Form zurückzuführen, also auch nicht nach 145

1 , 2 6 0 . >TheoretischeRealisation< des Zusammenhangs der Dinge im interesselosen Anschauen, zur höchsten irdischen Aufwertung des Ich.

132

dem Satz vom Grunde aus etwas anderm zu erklären ist«.150 Daran schließt sich — nach dem Eingeständnis der residualen Reservation der Argumentation - der entscheidende, auf Identität von transzendentaler Idealität und Natur dringende Satz: Denn in jedem Ding in der Natur ist etwas, davon kein Grund je angegeben werden kann, keine Erklärung möglich, keine Ursache weiter zu suchen ist: es ist die spezifische Art seines Wirkens, d. h. eben die Art seines Daseins, sein Wesen.

Natur wird zur Instanz von Unausdriickbarkeit und Ineffabilität. 151 Dem entspricht, daß Schopenhauer sie vom >Negativpol< seines Systems fernhält: »Auf die Natur als solche ist das Kausalitätsgesetz nicht anwendbar; daher ist die Natur etwas Unerklärliches, Unergründliches, eine qualitas occulta, ein x«. 152 Auch der Kraft-Begriff ist bei Schopenhauer Träger einer Ineffabilitätsthese: Der Begriff Kraft ist aus der anschaulichen Vorstellung abstrahiert u. bedeutet das Ursachsein der Ursache, auf dem Punkt, w o es ätiologisch nicht weiter erklärlich ist. 153

Die Vermischung von spezifischer und totaler Relevanz, die Totalisierung von Bestimmtheiten, so auch der Zeitlichkeit in der negierten Erkenntnismöglichkeit, wiederholen bereits bekannte sprachliche und gedankliche Muster. Die Weigerung, sich auf Ursachen einzulassen, verkündigt und verhüllt sich als naturphilosophische Einsicht, als Zuschreibung von Unerklärlichkeit. Die nach solcher Apodiktik eintretende Relativierung bildet nur eine Phase vor der nächsten auf Totalisierung zielenden Fixierung: Zwar von jeder einzelnen Wirkung des Dinges ist eine Ursache nachzuweisen, aus welcher folgt, daß es gerade jetzt, gerade hier wirken mußte: aber davon, daß es überhaupt und gerade so wirkt [wieder Mischung von Relativität und Absolutheit], nie. Hat es keine andern Eigenschaften, ist es ein Sonnenstäubchen, so zeigt es wenigstens als Schwere und Undurchdringlichkeit jenes 150

151

1, 188.

Damit wird eine scholastische Definition des Individuums auf Natur übertragen: individuum est ineffabile. Auf die für Schopenhauer tragfähige Vorläuferschaft Goethes in dieser Auffassung sei hingewiesen, ebenso auf die damit im Zusammenhang stehende Metaphorik des »Kerns« und des »Herzens«, die beide Natur und Individuum integrierende Orte solcher Ineffabilität sind: Ist Naturergriindung nach dem Motto vor dem ganzen Werk von WWV dessen Ziel, so zitiert das Motto zu den »Ergänzungen zum zweiten Buch« Goethe: »Ihr folget falscher Spur, / Denkt nicht, wir scherzen! / Ist nicht der Kern der Natur / Menschen im Herzen?« (II, 245). 152 S.-Register 295 (»Naturkraft«). 153 S.-Register 295.

133

unergründliche Etwas: dieses aber, sage ich, ist ihm, was dem Menschen sein Wille ist, und ist, so wie dieser, seinem inneren Wesen nach der Erklärung nicht unterworfen, ja ist an sich mit diesem identisch.154 Es ist nicht einzusehen, wieso Schwere und Undurchdringlichkeit keine sinnvoll erklärenden Funktionen sein sollen. Aber dem Philosophen geht es darum, in der Anerkennung der Zusammenhangstotalität des Einzeldings die Affirmation der Unaussprechlichkeit des Ganzen >anschaulich< zu verankern. Ungeachtet der kontradiktorischen Willensbestimmung (als Freiheits- und als Zwangsbezug), kommt es darauf an, dem >mechanistischen< Universale des Atoms bzw. ähnlicher Reduktionseinheiten ein spirituelles Universale zu parallelisieren, dem im Konkurrenzkampf der Ideengeschichte dank Traditionsautorität Gewinnchancen zustehen. bb) Natur als Idealität Über den Anschauungsbegriff nimmt Natur an der idealen Deutung der Welt teil, sie vermittelt, als >Idealobjekt< der Anschauung, Freiheit vom »Willen« — obwohl sie andererseits dessen kämpfende Selbstentzweiung repräsentiert. Die durch Anschauung vermittelte Reinigung des Objekts der Natur ist in ihrer Realisierung an die entwillentlichte Kondition des Subjekts gebunden, aber Natur ist doch ihrerseits Fundus dieser Reinheit selbst. Für diesen Aspekt der Natur gebraucht Schopenhauer vornehmlich den Ausdruck »schöne Natur«: »Der Anblick der schönen Natur versetzt uns leicht in den Zustand des reinen, willenlosen Erkennens« - und: Die große Verschiedenheit der Fähigkeit zum Genüsse der schönen Natur beruht darauf, daß die Natur ein Gehirnphänomen ist u. die Reinheit desselben von der Beschaffenheit des Gehirns abhängt.155 Schopenhauer exemplifiziert besonders in § 38 des I. Bandes, wo er von der Ästhetik des Erhabenen handelt, die ideale und damit heilende Funktion der Natur. Sie ist ein Raum notwendiger Selbstheilung: »Die Heilkraft der Natur« besteht vor allem darin, daß »in der Natur [...] jedem Uebel auch ein Heilmittel beigegeben« ist. 156 Natur ist Gegeninstanz gegen die Welt des Willens, die von Defizienzerlebnissen her bestimmt ist. Ihnen gegenüber stellt sich Natur dar als Erfüllendes, Überschwengliches: wie der von 154 155 156

1,188.

S.-Register 295. S.-Register 293.

134

Not und Sorge Gequälte durch einen einzigen freien Blick in die Natur so plötzlich erquickt, erheitert und aufgerichtet 157

wird, so wird in der pleromatischen Rezeption von Natur, da »innere Stimmung, Übergewicht des Erkennens über das Wollen [...] unter jeder Umgebung [Widerspruch zur Antecedens-Bedingung: Totalisierung des >NaturbezugsTotalexempel< immer noch prästabilierender Zusammenhänge der Dinge. Hierarchische und vorund rückläufige Selbstunterordnungen der einzelnen Naturebenen rufen die - willentliche - Selbstanpassung der Weltbestandteile im Ganzen hervor. Die totale Intentionalisierung von >Welt-Anschauung< erzwingt auch die Rückinterpretation von Kausalität: mit der ideologisch manipulierenden Zerreißung jedes Zusammenhangs wird der Zusammenhang affirmiert. 159 Das Theorem der romantischen Koaktivität von Natur und Subjekt wird realwissenschaftlich und naturgeschichtlich verzerrt und totalisiert. In seiner umfangreichen Belegarbeit zur Stützung der spekulativen Resultate seiner Philosophie mit dem Titel »Über den Willen in der Natur, eine Erörterung der Bestätigungen, welche die Philosophie des Verfassers seit ihrem Auftreten durch die empirischen Wissenschaften erhalten hat« (1836) kennzeichnet Schopenhauer diesen hierarchischen 157 158

159

1,281. 1,281.

Nach dem generellen Postulat, zur Betrachtung von Natur und Idee »von allen Zeitverhältnissen zu abstrahieren« heißt es: »Demgemäß ist jene Erklärungsart auch rückwärts zu gebrauchen und nicht nur anzunehmen, daß jede Spezies sich nach den vorgefundenen Umständen bequemte, sondern diese in der Zeit vorhergegangenen Umstände selbst ebenso Rücksicht nahmen auf die dereinst noch kommenden Wesen. Denn es ist ja der eine und selbe Wille« usw. (1,235): »Also [exempli causa] der Lauf der Planeten, die Neigung der Ekliptik, die Rotation der Erde, die Verteilung des festen Landes und des Meeres, die Atmosphäre, das Licht, die Wärme und alle ähnlichen Erscheinungen, die in der Natur das sind, was in der Harmonie der Grundbaß, bequemten sich ahndungsvoll den kommenden Geschlechtern lebender Wesen, deren Träger und Erhalter sie werden sollten. Alle Teile der Natur kommen sich entgegen, weil ein Wille es ist« usw.

135

Aufbau der Natur im Eingang des ersten Kapitels (»Physiologie und Pathologie«) als »Stufengang der Natur von oben nach unten«. 160 Dieser Stufengang ist eine idealistisch-deduktive Reduktion der vitalistisch akzentuierten Natur auf das metaphysische Urprinzip des bewußtlosen Willens, das sich über die Lebenskraft in die verschiedenen Organismen hinein objektiviert. 161 Das unaussprechliche »Wunder« der »Naturkraft« in jedem unorganischen Teil der materiellen Natur ist parallelisiert der »in jedem organischen [Körper] sich äußernden Lebenskraft«. 162 Damit schließt Schopenhauer an die emphatische Naturauffassung der spinozistischen Tradition an, während gleichzeitig der Begriff der Lebenskraft bereits seinen Niedergang erfährt. Diesen Niedergang überholt Schopenhauer durch die erkenntnisidealistische Überhöhung seiner Naturkonzeption. In ihr treten deterministische und freiheitsidealistische Züge nebeneinander, sofern empirische und an sich seiende Welt unterschieden werden. 163 Dem Kapitel »Von der Materie« folgen »transzendente Betrachtungen«, in denen Schopenhauer sich »durch die objektiv und a priori gültigen Weltgesetze« dem Zwang gestellt sieht, die Welt mit allem, was darin ist, als ein zweckloses und darum unbegreifliches Spiel einer ewigen Notwendigkeit, einer unergründlichen und unerbittlichen άνάγκη164

aufzufassen. Diesem negativ-pessimistischen Aspekt folgt kennzeichnend jedoch ein siebenseitiger Passus von Naturbetrachtungen, die ganz in der ekstatisch-bewundernden Topostradition stehen. Eineinhalb Seiten lang werden in anaphorischer Rhetorik die wunderbaren »Meisterwerke« 1 6 5 der Natur angeführt, deren Totalität in unserer zerebralen Erkenntnis sich als Objekt darstellt [...], als eine künstliche Verkettung gesonderter Teile zu Mitteln und Zwecken von einander, in überschwenglicher Vollkommenheit durchgeführt. 166

Schopenhauers Stellung zur Sprachpraxis kann in ihrer ungeklärten Ambivalenz am besten daran abgelesen werden, daß er sich — trotz dieser eindeutig traditionalistischen Toposverwendung - in polemischer Redesituation widersprüchlich dazu ausdrückt: »die Natur ist kein Kunstfabrikat des Hebräergottes«. 167 An der zitierten Stelle wiederholt Schopenhauer mit dem Gedanken von der Natur als Kunstwerk des Willens-Gottes die Affirmation jedes Individuellen als »vollkommenes« 140 164

II, 328. II, 4 1 3 .

136

161 165

1 6 2 II, 4 0 5 . Vgl. dazu u. a. III, 340, 3 5 2 . 1 6 6 11,418. 1 6 7 S.-Register 2 9 4 . II, 416.

163

Vgl. dazu II, 4 1 4 f .

nach dem Satz des Spinoza »omnis existentia est perfectio«. Er tut das im Zusammenhang einer >Naturerläuterunglogische Metonymienc denn w a s die Substanz sei, w a s denn wiederkehre, wird nicht identifiziert) in das Arsenal der Tröstungen, die der Idealismus abstraktiv entwickelt hat, um über der Hinfälligkeit des Individuums die Dauer seiner Abstraktion: der Gattung zu verherrlichen. Winterschlaf und Eiablage sind für Schopenhauer denn auch Argumente für die 180

II, 609. Die »Bejahung« des Willens wird u. a. im 4. Buch von WWV als Philosophie der Verklärung angepriesen: die abstrahierende Definition des Individuums als Erscheinung (vgl. 1,380) versucht seinen Untergang zu >relativierenPhänomenalität< (»Gehirnphänomen«) und »principium individuationis« entstehe »befangene Erkenntnis« (1,380): nur für diese empfange das Individuum »sein Leben wie ein Geschenk, geht aus dem Nichts hervor, leidet dann durch den Tod den Verlust jenes Geschenks und geht ins Nichts zurück. Aber wir wollen ja eben das Leben philosophisch, d. h. seinen Ideen nach betrachten, und da werden wir finden, daß weder der Wille, das Ding an sich in allen Erscheinungen, von Geburt und Tod irgend berührt werden«. Diese Stelle belegt wiederum unsere These, daß Schopenhauer praktisch Erscheinung und Wesen an sich gleich behandelt: das bessere Bewußtsein tritt als Bewußtseinsaufbesserung angesichts der Realien in Aktion. Mögliche Negativität der Erscheinung wird dank »ideeller« und »idealisierender« Philosophie umgewertet und abgewehrt. Das Duplizitätsmodell des Denkens fungiert als Realitätsabwehr, genauer: als Zugang zur jeweiligen Aufwertung wertwidriger Realitätsdeutung.

140

große Unsterblichkeitslehre der Natur, welche uns beibringen möchte, daß zwischen Schlaf und Tod kein radikaler Unterschied ist, sondern der eine sowenig wie der andere das Dasein gefährdet. 181

Um nicht den Vorwurf baren Unsinns, der Tod gefährde das Dasein nicht, zu unterstellen, muß angenommen werden, daß der Daseinsbegriff bereits gattungshafte Allgemeinheit angenommen hat. Aber die rhetorische Problemverschiebung, die Schopenhauer mit großem Aufwand dialogischer Überredungsmomente anbietet, trägt doch das Kennzeichen zwangshafter Löschung von differenzierendem Denken.182 Die rhetorische Verschleierung erfolgt mit Blick etwa auf die Wiederkehr der Baumbelaubung, welche nicht ohne die Triftigkeit eines homerischen Vergleiches berufen wird. Das Beispiel einer Fliege, bei der es ja gleichgültig sei, ob es diesselbe ist, die am nächsten Tag wieder summt, soll den Menschen, der nach einer Lebensform nach dem Tode fragt, als töricht diffamieren: »Die Fliege ist am Morgen wieder da; sie ist auch im Frühjahr wieder da«. Genug Beleg für Wiederkehr als auch für die Identität der Wesen, für Identität der Wesen mit der Welt. Ist das Subjekt des Nachsatzes eindeutig Gattungssubjekt, so stellen sich Zweifel daran ein, ob je ein Individuum >Fliege< gemeint war. Im mehrfachen Vergleich — der Satz ist im Textzusammenhang zunächst Tiervergleich des Menschen, Morgen und Frühjahr verhalten sich im Sinn eines erweiternden Vergleichs — hebt das immer abstraktere tertium comparationis der verklärend herangezogenen Totalität das bestimmte Individuum auf. Als Fluchtlinie des gleichnishaft verschiebenden Totalitätsdenkens stabilisiert sich die Behauptung totaler Omnipräsenz und Ubiquität aller Wesen: Der Tod mäht unermüdlich. Desungeachtet aber, ja als ob dem ganz und gar nicht so wäre, ist jederzeit alles da und an Ort und Stelle, eben als wenn alles unvergänglich wäre. Jederzeit grünt und blüht die Pflanze, schwirrt das Insekt, steht Tier und Mensch [totalisierende Kopula-Metapher!] in unver181 182

II, 609. II, 610f. werden Frage/Antwort-Dialoge vorgeführt, deren Sinn die >Rückgabe< der Frage an den Fragenden als deren Antwort ist (transzendentalistische Tautologie). Als Beispiel die Antwort auf die Frage nach der Herkunft der kommenden Geschlechter: »Wo anders sollen sie sein als dort, wo allein das Reale stets war und sein wird: in der Gegenwart und ihrem Inhalt, also bei dir, dem betörten Frager, der in diesem Verkennen seines eigenen Wesens dem Blatte am Baume gleicht, welches, im Herbste welkend und im Begriff abzufallen, jammert über seinen Untergang und sich nicht trösten lassen will durch den Hinblick auf das frische Grün, welches im Frühling den Baum bekleiden wird, sondern klagend spricht: >Das bin ja ich nicht! Das sind ganz andere Blätter«.« Die transzendentalistische Tröstung wird, in anaphorischer Durchführung, dann auch dem Blatte zuteil.

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wüstlicher Jugend da, und die schon tausendmal genossenen Kirschen haben wir jeden Sommer wieder vor uns.183 Vergessen der Ansatz, sich Fortdauer zu wünschen, — so wird die nackte Lüge angeboten, kaschiert als Selbstbewegung des schon blind geschlagenen Gedankens: Was also dringt sich unwiderstehlicher auf als der Gedanke, daß jenes Entstehn und Vergehn nicht das eigentliche Wesen der Dinge treffe, sondern dieses davon unberührt bleibe, also unvergänglich sei, daher denn alles und jedes, was dasein will, wirklich fortwährend und ohne Ende da ist. Demgemäß sind in jedem gegebenen Zeitpunkt alle Tiergeschlechter von der Mücke bis zum Elefanten vollzählig beisammen. Sie haben sich bereits vieltausendmal erneuert und sind dabei dieselben geblieben [...]. Der Wille zum Leben erscheint sich in endloser Gegenwart. Das hier apologetisch gegen den Tod auftretende Naturbewußtsein regrediert zu spezifisch gemeinsprachlichem typenaddierendem Nennverfahren. Es unterschlägt selbst die schon übernommene zeitliche Differenzierung der Naturgeschichte, holt sich einen zwischen bloßen Graduierungsexponenten (Mücke — Elefant) stabilisierten Umkreis von Bildgestalten zur Sanierung zusammen. Es ist nicht zufällig, daß in diesem von Schopenhauer als der »emsteste« angekündigten 184 — Kontext von naiver Affirmation Topoi und Mythologeme auftauchen, deren Brisanz das 19. Jahrhundert noch beschäftigen wird. Vergänglichkeitsbewußtsein wird mit pathetischer Rede niedergeschlagen: nur mit falschem Scheine lockt ihn [den »bei erreichter Selbsterkenntnis« (1,373) in Anschauung Beruhigten] der finstere kühle Orkus als Hafen der Ruhe. Die Erde wälzt sich vom Tage in die Nacht; das Individuum stirbt: aber die Sonne selbst brennt ohne Unterlaß ewigen Mittag. Dem Willen zum Leben ist das Leben gewiß: die Form des Lebens ist Gegenwart ohne Ende; gleichviel wie die Individuen, Erscheinungen der Idee, in der Zeit entstehn und vergehn, flüchtigen Träumen zu vergleichen.185 Die stilistische Nähe dieser Passage zu Büchners Metaphorik — vor allem im Danton — mag eine nähere Differenzierung der Bewältigung des 1 1 , 6 1 1 . Schopenhauer löst hier seinen Anspruch auf Auslöschung des Intellekts in wünschenswert profunder Weise: begriffslose und erkenntnisabstinente Naturanschauung stilisiert Lebensbewußtsein auf prädikationslose, rein genießende Rezeption von Welt, als ihre totale Ästhetisierung. Begriffsleugnung verbindet sich mit Zeitleugnung und Abwehr der Geschichte: diese ist ihm an dieser Stelle »wie das Kaleidoskop, welches bei jeder Wendung eine neue Konfiguration zeigt, während wir eigentlich immer dasselbe vor Augen haben«. 1 8 4 So zu Beginn des 4. Buches: hier beginne der Ernst der Praxis. (1,375) 1 8 5 1, 3 8 8 . Auf die maßlose Überschreitung eines Lebensbegriffs, der doch immerhin im »Systemchen« noch Relativität duldete, in Totalität hinein wird später einzugehen sein. 183

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»Pessimismus« bei beiden Autoren rechtfertigen. Büchners Kritik am idealistischen Denken hat ihren fortschrittlichen Inhalt gerade in der Zurückweisung der Abwertung, die das Individuelle durchs Gattungshafte erfährt. Sie durchbricht daher wesentlich Schopenhauers in der Individualitätsnegation verharrendes, nur das jeweils agierende Bewußtsein umfärbendes Idealsystem. Seine Poetik der durchgehaltenen Kontraste ist genuin unterschieden von der Naturideale - wie immer sie zu erkennen oder zu konstruieren seien - nachahmenden, abstrakt verpflichtenden Ästhetik Schopenhauers. 186 Die zitierte Stelle bedarf eines weiteren dichtungsgeschichtlichen Hinweises. Denn sie steht im manifesten Kontext der Goetherezeption Schopenhauers. Und zwar handelt es sich um die Tilgung des Zeitlichkeitsbewußtseins, die Goethe unter dem Gedanken der verallgemeinerten Gegenwartserfahrung vorgeschlagen hat. Schopenhauer leitet die Naturverklärung durch den Sonnenvergleich ein: Der Objektivation des Willens ist die Form der Gegenwart wesentlich, welche als ausdehnungsloser Punkt die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet und unverrückbar feststeht, gleich einem immerwährenden Mittag ohne kühlenden Abend; wie die wirkliche Sonne ohne Unterlaß brennt, während sie nur scheinbar in den Schoß der Nacht sinkt: daher, wenn ein Mensch den Tod als seine Vernichtung fürchtet, es nicht anders ist, als wenn man dächte, die Sonne könne am Abend klagen: >Wehe mir! ich gehe unter in ewige NachtGesprächen mit Goethe< (zweite Auflage Bd. I, S. 154) sagt Goethe: >Unser Geist ist ein Wesen ganz unzerstörbarer Natur: es ist ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehn scheint, die aber eigendich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtetEntelechie< taucht in Schopenhauers Naturphilosophie als Lehre von den sich im Kampf um Erscheinung gestaltenden Ideen wieder auf.« 201 Die im vorausgehenden Abschnitt besprochene Stufentheorie der Natur intendiert sich als substantiell-qualitative, mit Sprüngen arbeitende, deren Beschreibung auf »Geheimnis« sich reduziert. »Die Stufe wird zum materiell-qualitativen, festen Element eines Prozesses.« 202 H.-D. Bahr hat dem Antagonismus von Ruhe und Willensbewegung in Schopenhauers Philosophie seine 1,8 199

200

S.-Register 294. Vgl. S.-Register: »Dem Materialismus ist der Naturlauf die absolute u. alleinige Weltordnung.« »Der Wille trennt sich nicht gern von seinem, durch den Naturlauf ihm zugefallenen Intellekt.« S.-Register 294. 201 Bahr, 47. 202 Bahr, 54.

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Aufmerksamkeit im 1. Kapitel des Hauptteils »Die Rechtfertigung des Desengagements aus dem Geist der kontemplativen Ästhetik« mit einer genauen Analyse der Gestalten der Kontemplation gewidmet. Im Gegensatz zur früheren Schopenhauerkritik erkennt er die Immanenz des Widerspruchs als strukturbildende Funktion des falsch synthetischen Gedankens: »Diese Stufen bilden also den unmittelbaren Ort eines Widerspruchs zwischen >RuheAusruhenBewegungRuhelosigkeit< - . Ein theoretisch-logischer Widerspruch liegt in der Bemerkung des Kantkenners Schopenhauer, die >Ideen< wären >ewige< Formen. Das Ewige hat nämlich zum Korrelatbegriff nicht die Zeit, sondern die Zeitlichkeit, in der sowohl >Ruhe< wie >Bewegung< gedacht ist. [.. .]Was drückt jedoch dieser theoretisch-logische Widerspruch aus? - Dahinter steht die Hypostasierung eines Momentes der >StufenAusruhen< möge zur >Ruhe< überhaupt werden. Die Ideen sollen nicht nur >Pausen< sein, sondern zugleich >ewige Urformenewig< dauernde Pausen.«203 Pausen werden unerläßlich, wenn der Daseinskampf in unabänderlicher Gegenwärtigkeit das Subjekt überfordert. Auch wenn die Verquikkung von Präsenzen >ewiger Ruhegestalten< mit ihren dem gegenseitigen Kampf um Materie sich entringenden >ObjektivationenLiebeskampf< und >Konkurrenzkampf< zu kommen. Er hat vielfach versucht, in zweiter Vermittlung den Widerspruch zwischen kämpfender und liebender Einung bzw. Entzweiung abzugleichen. Aber sein Denken unterm Zwang systematischer Umwege kam nur zur gegenseitigen Neutralisierung der Positionen, weil das bestimmte Positive von den ihm hinterlegten Polaritäten aufgesogen wurde. Einen Versuch zu solcher Vermittlung liefert eine längere Passage im 2. Buch des I. Bandes von WWV. Sie ist besonders wichtig auch deshalb, weil sie mit der Analyse soziomorpher Metaphorik eine wichtige inhaltliche Ausprägung des Schopenhauerschen Analogiebegriffs zu erkennen ermöglicht. Wenn von den Erscheinungen des Willens auf den niedrigeren Stufen seiner Objektivation [...] mehrere untereinander in Konflikt geraten, indem jede am Leitfaden der Kausalität sich der vorhandenen Materie bemächtigen will; so geht aus diesem Streit die Erscheinung einer höhern Idee hervor, welche die vorhin dagewesenen unvollkommeneren alle überwältigt, jedoch so, daß sie das Wesen derselben auf eine untergeordnete Weise bestehn läßt, indem sie ein Analogon davon in sich aufnimmt; welcher Vorgang eben nur aus der Identität des erscheinenden Willens in allen Ideen und aus seinem Streben zu immer höherer Objektivation begreiflich ist. 207

Es ist festzuhalten, daß eine Begründung für den Konflikt nicht gegeben wird und daß eine nähere Beschreibung für den Modus, in welchem »Idee« aus dem »Kampf« sich als >Höheres< ergeben soll, ebenso fehlt. Es wird nur eine gesamtintentionale Scheinbegründung gegeben, sofern vom allgemeinen Höherstreben des Willens geredet wird. Die StufenBeziehung selbst wird als inhaltlich unbestimmtes bewahrendes Analogon umschrieben. 208 206 207 208

1,206. II, 215. Im folgenden werden naturwissenschaftliche Beispiele angegeben. »So ist die Mischung der Säfte im tierischen Körper und die Sekretion ein Analogon der chemischen Mischung und Abscheidung, [...] aber [...] sehr modifiziert, von einer höhern Idee überwältigt.«

149

Die aus solchem Siege über mehrere niedere Ideen oder Objektivationen des Willens hervorgehende vollkommenere gewinnt eben dadurch, daß sie von jeder überwältigten ein höher potenziertes Analogon in sich aufnimmt, einen ganz neuen Charakter.209

Schopenhauer gesteht die Dunkelheit seiner Darlegung zu. Er versucht sie mit neuen Formulierungen zu klären, — in diesen tritt aber eine neue Funktionalisierung der Idee auf: nun ist doch sie es, die sich genuin jene niedrigeren durch überwältigende Assimilation unterworfen hat; weil der in allen Ideen sich objektivierende eine Wille, indem er zur höchstmöglichen Objektivation strebt, hier die niedern Stufen seiner Erscheinung [...] aufgibt, um auf einer höhern desto mächtiger zu erscheinen. Kein Sieg ohne Kampf [...]

es geht um Abhängigkeit und Unabhängigkeit der gestuften Wesen: Wie der Magnet, der ein Eisen gehoben hat, einen fortdauernden Kampf mit der Schwere unterhält, welche als die niedrigste Objektivation des Willens ein ursprünglicheres Recht auf die Materie jenes Eisens hat [...]; ebenso unterhält jede [...] Willenserscheinung [...] einen dauernden Kampf gegen die vielen physischen und chemischen Kräfte, welche als niedrigere Ideen ein früheres Recht auf jene Materie haben.210

Die tragenden Ausdrücke der Erörterung, »Konflikt«, »Streit«, »bemächtigen«, »überwältigen«, »in sich aufnehmen«, »beherrschen«, »unterordnen«, »Sieg«, »herrschen«, »mächtiger erscheinen«, »Kampf«, »Widerstand erleiden«, »zur Dienstbarkeit bringen« usw. bilden ein Lexikon rein sozialer, sozialpsychologischer und politischer Terme. So treffen zwei semantische Bereiche, relativ repräsentiert durch die Wortklassen Verb und Substantiv, aufeinander. Erst einem geschärften Bereichsbewußtsein ist die den Text strukturierende durchgängige Metaphorik zwischen den sozial relevanten, praxisbezogenen Verbsemantemen und den ideal relevanten, theoriebezogenen Substantivsemantemen deutlich. Sofern sie idealhierarchische Unterordnungsverhältnisse stabiler Einheitsgarantie darstellen, werden die naturwissenschaftlich gängigen, weltanschaulich gefährlichen Nomina wie »Materie«, »Natur«, »Unorganisches«, »Atom« legitim. Der generelle Namen, unter dem sie dem stabilitätsorientierten Beziehungssystem der Metaphysik eingeordnet werden können, ist der des Willens. Dem Aufweis, dieser sei das Bleibend-Dynamische, dient die Großzahl der Exempel der 209 210

II, 216. II, 216f.

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philosophischen Illokutionen in so vielen Texteinheiten des Schopenhauerschen Werkes. Sofern in den naturwissenschaftlichen Ausdrücken eine Tendenz der Verselbständigung vermutet werden kann, dienen ebendiese Beispiele dazu, ihre tatsächliche Unterordnung unters Naturgesetz klarzustellen, - andernfalls tritt der Illokutionsimpuls der polemischen, ganzheitstheoretischen Diffamierung in Aktion. Dasselbe Doppelverhältnis erscheint im Begriffsfeld des Dynamischen wieder: Dynamisches an Natur, Geschichte, Sozialwelt, das - ebenengleich - »gegeneinander kämpft«, ist Beweggrund für das Sprechen von der hinfälligen Nichtigkeit und vom Elend dieser Welt. Die »Schlechtigkeit« des Weltlaufes bildet seinen »Widerspruch« zu »einer moralischen Bedeutung der Welt«. 211 Diesen Widerspruch kann das Stufenmodell der Weltkonzeption nicht lösen. Dagegen lassen sich dialektische Theoreme der idealistischen Tradition zur Verbalisierung desselben verwenden. Das lange 4. Buch des I. Bandes handelt von »Bejahung und Verneinung des Willens«, — »bei erreichter Selbsterkenntnis«. Hier wird, im § 56, »der Galvanism i « nach bekannter romantischer Tradition »ein zwecklos unaufhörlicher Akt der Selbstentzweiung und Versöhnung« 212 genannt. Im Pflanzenbereich sieht Schopenhauer ein unaufhörliches Treiben durch immer höher gesteigerte Formen, bis der Endpunkt, das Samenkorn, wieder der Anfangspunkt wird: dies ins unendliche wiederholt; nirgends ein Ziel, nirgends endliche Befriedigung, nirgends ein Ruhepunkt.

Diese negativierende Sicht führt zu dem Ausdruck: »steter Kampf um Leben und Tod«. 2 1 3 Mehrere Gedankenbilder stoßen in diesen Formulierungen zusammen: Das Kreislaufbild, das Bild der stufenweisen Steigerung, das Modell des Lebenskampfes, in dem sich »überall die mannigfaltigen Naturkräfte« befänden: sie besitzen nur, was sie »andern entrissen« haben. Die Unverbindbarkeit des Steigerungstopos mit dem Topos der sinnlosen Wiederkehr fällt am Anfang der Passage auf. Seine beschränkte, nur auffüllende Funktion in der wesentlich progressionslosen Naturanschauung Schopenhauers wird an seiner bloß attributiven, nichtsyntagmatischen Stellung zwischen den Topoi des unaufhörlichen Kampfes ablesbar. Die Szenerie des Konkurrenz- und Machtkampfes S.-Register 4 5 9 . 1,424. 2 1 3 1 , 4 2 4 . »Die Quelle aller Kampfeslust ist der Wille zum Leben.« (S.-Register 198). 211

212

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behält die Schlußstellung am Ende des 2. Abschnittes dieses Paragraphen. Über die Unvereinbarkeit eines dynamischen kosmologischen Willensbegriffs mit der Forderung nach totaler Willenlosigkeit, damit über die Unvereinbarkeit von Ontologie und Ethik Schopenhauers ist sich die Forschung seit langem klar. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist hinzuzufügen, daß die doppelt kreisläufige Argumentation Schopenhauers auf die Unklarheit der axiologischen Stellung des Willens bzw. Strebens zurückgeht. Eine doppelte Begründung und eine doppelte Finalität kennzeichnet die Konzeption des Strebens: einmal ist es Movens, das andere Mal Gegenstand der Selbstentfaltung der Natur. Da der Tod zu den Erscheinungsmomenten des Willens gehört, läuft die Argumentation unter dem Gesichtspunkt der Negativität tatsächlich darauf hinaus, daß das Wesen jedes Naturdinges sein Tod sei.214 In seiner Affinität zur Sphäre der Ideen behält der Naturbegriff einen Großteil seiner traditionellen therapeutischen Funktionen. Er verliert sie, sobald die Implikationen eines negativen Lebensbegriffes erscheinen: so besonders in der Geschlechts- und (Zeit-)Geschichtstheorie.215 In ihm wird der Wille als »blind« gedeutet, seine Folge als »Illusion«, der Zusammenhang mit ihm als »Schuld«. Das führt zur Konsequenz einer Auffassung des Willens als Selbstzerstörung. Doch auch diese Wertungskonsequenz muß inkonsequent sein: das Ergebnis ist eine Doppelzuschreibung, redensartlich als »Paradox« hochgewertet. Die Natur, einerseits »immer wahr und konsequent, [...] sogar naiv«, 216 214

Der Verzicht, ein Begriffsfeld differenzierend zu strukturieren, ist auf der folgenden Seite zu analysieren. Das »Streben« wird als kosmologischer »Kern« und als »An sich« jedes Dinges »aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande« abgeleitet dann aber zugleich von seinen »Hemmungen« und Widerständen her motiviert: so entsteht die doppelte Logik einer Innen- und Außenbegründung, der Mangel wird einmal dynamistisch, dann statisch aufgefaßt. Solche Schwächen rühren offensichtlich daher, daß dies Denken vor den Inhalten zurückschrickt: was und warum und woran gelitten wird, bleibt dem integralistischen Griff entzogen. 215 Vgl. einige Stellen aus dem S.-Register 233: »Das Leben ist anzusehen als die Erklärung u. Paraphrase des Zeugungsaktes; diese Schuld muß mit dem Tod, der auch dazu gehört, bezahlt werden.« »Wir werden in das L. hineingelockt durch den illusorischen Trieb zur Wollust, u. darin festgehalten durch die eben so illusorische Furcht vor dem Tode.« »Das L. ist daher nichts frei Erwähltes, sondern trägt das Gepräge eines erzwungenen Zustandes.« Die Sinnlosigkeit des Lebenskampfes ist der Fraglosigkeit des Schopenhauerschen Denkens nachgebildet: »Jeder beschützt sein L. gleichwie ein ihm anvertrautes theures Pfand, ohne zu wissen Wofür und Warum.« »Wo ein Lebendes athmet, ist gleich ein anderes gekommen, es zu verschlingen; was darauf beruht, daß der Wille an sich selber zehren muß.« (S.-Register 233). 216 1, 449 - es geht um »die Heftigkeit des Triebes«.

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wird einmal mit der »Zeit- und Kausalreihe« 217 gleichgesetzt, ein andermal ihr entgegengesetzt, - jedenfalls ist sie »das große Trauer- und Lustspiel«, das der Willen »auf eigene Kosten« und als »sein eigener Zuschauer« 2 1 8 sich vorspielt. Die in ästhetischen Leerlauf geratende Weltbeziehung - wir befinden uns am Ende eines Paragraphen - baut eine leere Berechtigung für sich auf: auch Berechtigung bezieht sich nicht mehr auf einen Berechtigungs g r u n d : D i e Welt ist gerade eine solche, weil der Wille, dessen Erscheinung sie ist, ein solcher ist, weil er so will. [Man beachte die wiederholten leerstehenden Demonstrativpartikel!] Für die Leiden ist die Rechtfertigung die, daß der Wille auch auf diese Erscheinung sich selbst bejaht; und diese Bejahung ist gerechtfertigt und ausgeglichen dadurch, d a ß er die Leiden trägt. Es eröffnet sich uns schon hier ein Blick auf die ewige Gerechtigkeit im G a n z e n . 2 1 8 "

Diese Ableitung der Rechtfertigung eines negativ Bestehenden aus einem nicht strukturierten >GanzenWesens< entspricht, sei als apologetischer Totalitätsglaube bezeichnet. Die rückläufige Tautologie der Ableitung selbst ist auffällig; ihr materiales Substrat, der Sühnegedanke, wird jedoch durch die zeitenthebende Totalisierung und Beschränkungsaufhebung entleert. Selbstbejahung, Anerkennung des eigenen Wesens ist schon Schuld. Diesem »extremen Schuldbegriff der ewigen Gerechtigkeit« hat Neidert ein eigenes Kapitel gewidmet, in welchem er die fatalen Konsequenzen eines kategorienlosen (zeit- und bestimmungsfreien) Handlungsbegriffs aufweist. »Auch unsere Schuld liegt also [...] in unserem Wesen an sich: dem einen Willen zum Leben, der keine Vielfalt kennt und dem wir alle angehören. Deshalb sind der Quäler und der Gequälte eines, und deshalb geschieht alles freiwillig und zu Recht; aber auch unsere Schuld und die Schuld der Welt sind eines.« 219 In dem hier latent pragmatischen Weltgleichnis funktioniert Schopenhauer die Relikte der Fichteschen Freiheitslehre in ihr Gegenteil um. Jeder Mensch wird einerseits »als seine freie That« gedacht, 2 2 0 aber diese sei im Grund nichts anderes als das spezifische 1,450. Vgl. die Wiederkehr des Topos u. a. 1,517. Naturgesetz ist »Äußerung einer Naturkraft am Leitfaden der Kausalität« (S.-Register 294). »Auf die Natur als solche ist das Kausalitätsgesetz nicht anwendbar«. (S.-Register 295). 218 1,453. 218a I, 453. Das Verhältnis von zeitlicher und ewiger Gerechtigkeit behandelt vor allem § 63 des 4. Buches des I. Bandes (1,479ff.). 219 Neidert, Rechtsphilosophie 173. 220 Zit. nach Neidert, Rechtsphilosophie 173. Diese freie Tat wird aber zur Tautologie des zufällig Bestehenden: jeder »hätte in einem bestimmten, zeitlichen Fall wohl anders handeln können, >wenn er nur ein A n d e r e r gewesen wäreErklärung< greift auf soziomorphe Praxismodelle zurück. Ihr ideologischer Hintergrund ist dabei die christliche Erbsündelehre. In den Formulierungen wird deren realgeschichtliche und realpragmatische Brisanz jedoch nivelliert, und zwar in Form affirmativ kaschierter Ambivalenz: die Versicherungsfloskeln sind wie die rhetorische Frage Signale der verschobenen Entscheidung für jene bloß zitierte ideologische Basis. Im letztzitierten Satz wird der Umschlag der Ambivalenz in Metaphorik ansatzweise greifbar: »Tod« ist hier doppelwertig eingesetzt: Im Kontext des ganzen Satzes bleibt seine eigentliche Bedeutung die des sozialpragmatischen Sühnezusammenhangs - gleichzeitig muß durch die idiomatische Formel hindurch seine eigentliche lexikalische Bedeutung als die des außersozialen natürlichen Sterbens assoziiert werden. Im rhetorischen Metaphernspiel des soziomorphen Weltgleichnisses wird die petitio principii der intentionalen Weltdeutung zitiert: Indem der Tod Modell für eine kosmologische Kasuistik wird, kann seine Individualität wie Universalität plausibel gemacht werden. Schopenhauer holt im historischen Rückgriff einen Glaubenszusammenhang hervor, der eigentlich nicht mehr geglaubt wird. Neidert hat sowohl den Zusammenhang des Schopenhauerschen Quietismus und Mystizismus mit dem Einheitsbewußtsein herausgearbeitet222 wie auch die biographische Kontinuität des Erbsündeglaubens 221 222

Zit. nach Neidert, Rechtsphilosophie 175. Vgl. Neidert, Rechtsphilosophie 174ff. Die defiziente Erkenntnistheorie ist hiermit als analogistische Übertragung eines Daseins- und Gefühlswunsches zu interpretieren, ihre kontemplative Tendenz versucht Korrektur des Mißgriffs der unruhestiftenden Kosmo-

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bei Schopenhauer nachgewiesen. Einem Manuskriptbuch ist der Vorwurf an den weltschaffenden Dämon anvertraut: Wie wagtest Du, die heilige Ruhe des Nichts abzubrechen, um eine solche Masse von Wehe und Jammer hervorzurufen!

und im Hauptwerk wird wiederholt von der unendlichen »Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese des Nichtseyns« 223 gesprochen. Gerade in der kosmologischen Erwartung der »Ruhe des allgenugsamen Nichts« drückt sich der radikalisierte Anthropomorphismus einer Leidensanschauung aus, die aufgehört hat, die Verwirklichung der Ruhe des Himmels auf Erden zu betreiben. Die Selbstnegation dieses Anthropomorphismus führt zu jener philosophischen Uneigentlichkeit, die Schopenhauers Negation der Kategorien Raum, Zeit und Materie kennzeichnen: sie bilden das Grundgerüst zu einer leidenden Welt: »Friede, Ruhe und Glückseligkeit wohnt allein da, wo es kein W o u n d k e i n W a n n g i e b t « . 2 2 4

Die Selbstnegation des Anthropomorphismus greift zu den pessimistisch-negativen Beständen der Religionen zurück, während die Philosophie den spekulativen Affirmationen ihrer jüngeren Geschichte nacheilt. Jene Bestände hatten genuine Plausibilität des Gleichnisdenkens, — Schopenhauer vertraut dem verbliebenen Schein des Glaubens: Denn nichts Anderm sieht unser Daseyn so völlig ähnlich, wie der Folge eines Fehltritts und eines strafbaren Gelüstens. 225

Sein Transzendentalismus ist die philosophisch verallgemeinerte und subjektivierte Rückkehr des Mythus: im Rückgriff auf das soziomorphe Weltmodell — auf die ungeschichtliche Geschichte der Sünde — werde alles (die Widersprüche der Kosmologie) klar und richtig. »Bei der Lehre vom Sündenfall müsse man nur die mythische Einkleidung abstreifen und erkennen«, erläutert Neidert, »>daß der Mensch nicht das Werk eines andern, sondern seines eigenen Willens sei. Dann ist sogleich Alles klar und richtige die Freiheit liege im esse, >und eben da liegt auch die Sünde, als Erbsündeals identisch mit dem Adam, dem Repräsentanten der Bejahung des Lebens< [...]. Die nahezu vollständige Einheit des Schopenhauerschen Lebenswerkes zeigt sich auch in diesem wichtigen Punkt wieder: Bereits 1813 und 1814 legt der junge Denker die Lehre vom Sündenfall in allem Wesentlichen genauso aus; er preist sie dort als >eine im strengsten Sinn wahre, unübertreffliche, höchst tiefsinnige Lehre des Christentums^«227 Das Redemodell von der ewigen Gerechtigkeit leistet dasselbe wie die anderen Totalitätsmodelle: es ist die total entlastende Kehrseite zur »Weltverneinung«, indem sie das Unrecht, wo es geschieht, als eines der Welt, aber zugleich als Sünde verklärt; denn die Konkretisierung jedes ohne Begriffsopposition angelegten Totalitäts-Glaubens, der gleichzeitig eine Negativ- und eine Positiv-Annahme nahelegt, kann beliebig zur Verschönung oder Verdammung führen. Schopenhauer beschreibt den negativen Aspekt der Natur, metaphysisch erläutert als principium individuationis, häufig mit dem Bild der »Kette«. Er hat in dieser Negativität die Weise, den Träger und das Ergebnis der individuellen Erkenntnis< identifiziert. Als Beispiel der negativen Lebenswertung sei aus dem 4. Buch des I. Bandes, § 57, zitiert. Den Menschen bedrohen in dieser Sicht »von allen Seiten die verschiedenartigsten Gefahren«, »tausend Zufälle und tausend Feinde [man beachte die Kopula-Metapher!] lauern ihm auf«. 228 Als Beleg früher

Neidert, Rechtsphilosophie 175. Aus der Erbsündenlehre ist auch der negative Aspekt von »Welt« bei Schopenhauer abzuleiten, hier ist das Syndrom aus Sexualität, Willentlichkeit und Egoismus im einfachen tradierten Sinn erhalten: »die Welt« ist auch für ihn Reich des Teufels, »seine Verachtung von Welt und Staat [...] wurde von der Überzeugung mitbestimmt, daß der hier kultivierte Egoismus ja im wesentlichen ein sexueller sei«. (176) Das Welttreiben zeigt so »Das D o p p e l b i l d des S ü n d i g e n und R u h e l o s e n . « (ib.) 2 2 8 1 , 4 2 8 . Vgl. zum Topos der »Kette«: »Das erkennende Individuum als solches und das von ihm erkannte einzelne Ding sind immer irgendwo, irgendwann und Glieder in der Kette der Ursachen und Wirkungen« (1,258). Wenige Seiten später tritt der Topos im Kontext des »Erdgeists« auf (1,263); vgl. 1,282, 3 9 6 ; eine naheliegende Verquickung des Zwangszusammenhangs der Ursachen mit dem Determinismusproblem erscheint 1,415, wo unwiderrufliche schicksalhafte Vorherbestimmung mit der Zufälligkeit in »der Kette der Ursachen« kollidiert; 1 , 4 3 2 wird gesagt, daß »die Kette der Ursachen« »leicht auch anders sein könnte«. 227

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Erkenntnis der für Wildnis wie Zivilisation gleichermaßen geltenden Unsicherheit wird uns Lukrez' De rerum natura zitiert. 229 Wie »das Leben der allermeisten [...] auch nur ein steter Kampf um diese Existenz selbst« ist, »mit der Gewißheit, ihn zuletzt zu verlieren«, so ist »das Leben selbst [...] ein Meer voller Klippen und Strudel«. 230

»Der Zusammenhang der Dinge« erscheint in diesem Kontext als realitätsgarantierende Formel des Desillusionierten. Man könnte den Wahn der Emotionen, meint Schopenhauer, vermeiden, wenn man es über sich vermöchte, die Dinge stets im Ganzen und in ihrem Zusammenhang völlig klar zu übersehn und sich standhaft zu hüten, ihnen die Farbe wirklich zu leihen, die man wünschte, daß sie hätten. 2 3 1

Die Metaphorik wirkt hier umgekehrt wie in den affirmativen Ganzheitsstellen: mit der Farbenmetapher im Kontext didaktischer Lebensphilosophie verstellt sich Schopenhauer den Blick auf die wirkliche mentale Struktur, die er im apologetischen Aufbau seines Denkens vollzieht und als transzendentalistische Projektion einfordert. Vor dem wahnaufbrechenden >realistischen< Blick gewinnt Natur - wie könnte es anders sein - eine desillusionierende Kraft; selbst noch die Aufklärung über das Unwesen der Welt und der Natur wird dieser Instanz medialisiert übertragen: »die immer und überall wahrhafte Natur selbst gibt ihm [dem Menschen], schon ursprünglich und unabhängig von aller Reflexion« die Sicht auf den »Egoismus, der jedem Dinge in der Natur wesentlich ist« und »seinen Bestand und [sein] Wesen in jenem Gegensatz des Mikrokosmos und Makrokosmos« 2 3 2 hat.

Erkenntnistheoretische bzw. »symbolische« und ethische Modellierung des Weltbezugs klaffen in der widersprüchlichen Formulierung des Verhältnisses von Ich und Welt, Mikrokosmos und Makrokosmos auseinander. In der »Epiphilosophie« gibt Schopenhauer noch einmal eine formelhafte Beschreibung dessen, was Welt für ihn sei. Da er vom 1,429. Vgl. die mehrfachen Lukrez-Zitate in diesem §, u. a. 1,437, 439. In diesem Kontext wird summierend die oben analysierte Beziehung von Natur und Heil bzw. Glück negiert: »Was auch Natur, was auch Glück getan haben mag; wer man auch sei und was man auch besitze; der dem Leben wesentliche Schmerz läßt sich nicht abwälzen.« (1,431) 230 1,429. 231 1,436. Zur pessimistischen Gleichschätzung von Mikro- und Makrokosmos vgl. 1,454ff. 232 1,455. 229

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»Wesen der Dinge vor oder jenseits der Welt« 2 3 3 spricht, kennzeichnet Welt sich als Zusammenhang der Kontingenz und als Gesamtheit der erkenntnisbestimmenden und erkenntnisbestimmten Erscheinungen. Erkenntnis selbst sei nur »Phänomen«, daher gelte, daß sie »nur in der Welt stattfindet wie die Welt nur in ihr«. Mit der akzidentellen Wertung aller Erkenntnis ist demnach zwingend die Abwertung alles zu Erkennenden, also der Welt, verbunden. Das gibt Schopenhauer als die »Grenzen meiner und aller Philosophie« an. Er kommt dann auf die Geschichte des Einheitsgedankens zu sprechen. Dieser sei, vom tv και πάν bis zu Schelling, zunächst nur formal gedacht worden. Man habe seit den ältesten Zeiten den Menschen als Mikrokosmos angesprochen. Ich habe den Satz umgekehrt und die Welt als Makranthropus nachgewiesen; sofern Wille und Vorstellung ihr wie sein Wesen erschöpft. 234

Die Welt im Menschengleichnis, der Mensch im Weltgleichnis: die reine Umkehrung eines Analogiebildes wird als substantielle Aussage ausgegeben. Ihr Motiv liegt in dem damit erzwungenen Sinn: die Natur wird an den Menschen angeschlossen. Doch die durch eine >unmittelbare< Operation erzwungene Annäherung hält sich vor unmittelbarer Identifikation zurück, falls diese rein aufwertenden Charakter hätte. Schopenhauer polemisiert, in Abgrenzung seiner Philosophie von der Geschichte des Pantheismus, gegen die im »Sinne des Pantheismus ganz konsequent« vorgetragene Meinung des Scotus Erigena, daß »jede Erscheinung für eine Theophanie« gehalten werden müsse: dann sei θεός ein X . Der zweite Punkt seiner Distanzierung gehört im näheren zur Problematik der anthropozentrischen Welterklärung. Schopenhauer rügt, daß ihr [der Pantheisten] θεός sich manifestiert animi causa [zum Vergnügen], um seine Herrlichkeit zu entfalten oder gar sich bewundern zu lassen. 235

Das sei gleichbedeutend mit dem Zwang, die kolossalen Übel der Welt hinwegsophistizieren zu müssen: aber die Welt bleibt in schreiendem und entsetzlichem Widerspruch mit jener phantasierten Vortrefflichkeit stehn.

Gemeinsamkeit mit Spinoza sieht Schopenhauer insofern, als die Welt aus der inneren, willentlichen Kraft der Eigenständigkeit hervorgegan233 234 235

II, 8 2 4 . II, 8 2 4 . Vgl. dazu widersprüchlich II, 61. II, 8 2 5 .

158

gen sei. Aber: Spinoza habe ihr »die Persönlichkeit entzogen«. 236 Mit der Kritik an der >optimistischen< Ethik des Spinoza kritisiert Schopenhauer zugleich, was seine eigene Ethik als Hauptsünde erklärt: den Egoismus, spinozistisch gesagt das »vivere, agere, suum >esse< conservare, ex fundamento proprium utile quaerendi«. Er kontrastiert, mit dem Ausdruck der »Empörung«: Bei mir hingegen ist der Wille oder das innere Wesen der Welt keineswegs der Jehova, vielmehr ist es gleichsam der gekreuzigte Heiland oder aber der gekreuzigte Schacher, je nachdem es sich entscheidet. 237

d) Sozialwelt und »aristokratische« Natur Die negative Weltwertung entsteht also im Gefolge der Bekämpfung des Sich-selbst-Behauptens in der Sozialwelt. Es handelt sich, nicht erst auf Grund des transzendentalistischen Apriori seiner Erkenntnistheorie, um eine genuine Übertragung der >anthropopathischen< Erfahrungen und der mit ihnen verbundenen Leidensdeutungen, dann um eine Fixierung dieser Deutungen als genetisch-zwingender und auswegloser. Die Grundstellung Schopenhauers zu Natur und Welt ist defensiv, — doch auch so, daß er sich ihrer selbst zur Verteidigung gegen sie bedient. Die Schwierigkeiten der Identifikation von »Mikrokosmos« und »Makrokosmos« sind die eines an projektive Einheit Fixierten, der aus seiner Identitätsfessel herauswill und doch mit jedem Schritt sich weiter in sie verstrickt. Die Metaphorik der religiösen Qual kann nicht länger den Anspruch aufrecht erhalten, kongruente Weiterführung christlicher Erlösungslehre zu sein, da sie den Schmerz, der nur funktional eingeschränkt zu einer christologischen Weltdeutung gehört, auf das Totum der Welt aktual bezieht. Schopenhauers Säkularisation geht mit der Nichtunterscheidung der pragmatischen Grundkategorien (»stattfinden« vs. »sein«, »Träger sein« vs. »Sache sein« usw.) hinter die christliche Erlösungskonzeption stellvertretenden Leidens zurück. Ihr naturgläubiges Säkularisat, die »ewige Gerechtigkeit«, ist die ethische Konsequenz des zur Tautologie vereinfachten Weltgleichnisses. H, 827. Damit ist die These bestätigt, daß Schopenhauer, gegen Anthropomorphismus polemisierend, selbst noch gegen die Geschichte der antianthropomorphistischen Aufklärung an den Funktionen der Vermenschlichung festhält. 237 II, 827. Der Satz läßt erkennen, daß die religiös-personalistische Weltinterpretation im Vergleich nur vokabulär mit der Hülle eines aktionshaltigen Selbstbestimmungsverbs eingekleidet ist — der semantische Gehalt des medialen Nebensatzverbs ist Entscheidungsvermeidung. 236

159

Die ewige Gerechtigkeit liegt darin, daß der Wille die Leiden auch selbst trägt, also der Quäler und der Gequälte Eines sind. Man wird sie inne, wenn man die menschliche Schlechtigkeit mit dem Jammer des menschlichen Daseins vergleicht. 238

Auch dieser Zentralsatz des Pessimismus trägt noch das Stigma eines unreflektierten Totalitätsbewußtseins, indem kosmologische Aussagen vom Sozialraum abgeleitet werden und die operationale Funktion des Vergleichsbegriffs unterschlagen wird. Die Metonymität des Schopenhauerschen Sprechens zerstört vor allem die Semantik des Verbs: handlungsspezifizierende Seme wie »tragen« werden von der reduktiv-identifizierenden Gleichsetzung, die immerzu auf das kopulierende »ist« hinausläuft, bereits zu Metaphern entwertet. Da sich Individualität allererst durch Handlung erstellt - und nicht nur durch statischen Besitz, kann dieses handlungsverwehrende System natürlich keine Metaphysik der Individualität entwickeln. 239 Aber sogar der Selbsterhaltungsbegriff erfährt seinen Selbstwiderspruch vermöge der Rolle des Individuums als Pudendum. Der »im allgemeinen Kampf der Natur erscheinende innere Widerstreit« werde von der »Harmonie« der ihre Einheit entfaltenden Natur nicht getilgt, sie gehe vielmehr nur so weit, daß sie den B e s t a n d der Welt und ihrer Wesen möglich macht, welche daher ohne sie längst untergegangen wären. Daher erstreckt sie sich nur auf den Bestand der Spezies und der allgemeinen Lebensbedingungen, nicht aber auf den der Individuen. 240

Wie bekannt, werden gegensätzlich zu dieser Darstellung gerade Arterhaltung, Geschlechtlichkeit und Selbsterhaltung als Exempel eben des Kampfes und des Egoismus in der Natur herangezogen. Die dem Abstrakten der Gattung zugebilligte Harmonie zieht über die bedeuS.-Register 132. J. Volkelt hat in seinem Schopenhauerbuch ein ausführliches Kapitel »Die Bedeutung des Individuums« eingefügt, dessen Resûmé lautet: »Überblicken wir die metaphysischindividualistischen Regungen bei Schopenhauer, so kann keine Rede davon sein, daß sie ein dem All-Einheits-Zuge an Gewicht und Ausdrücklichkeit ebenbürtiges oder auch nur nahekommendes Element [...] bilden. Man hat es in ihnen nur mit bedeutsamen Ansätzen einer individualistischen Metaphysik zu tun. Auch sind diese Ansätze nicht in sein System hineingearbeitet, selbst die nächstliegenden dringendsten Forderungen für eine veränderte Auffassung der All-Einheits-Grundlage sind nicht aus ihnen gezogen«. (384) Seine Hinweise auf den zunehmenden Individualismus des späten Schopenhauer möchte er deutlich als Chance einer Aufwertung für den Philosophen anführen. 2 4 0 1,237. 238

239

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tendete Bruchstufe im Schopenhauerschen System, die zwischen Individuum und Gattung, jenen »Firniß der Schönheit«, 2 4 1 den Schopenhauer allen Naturdingen zuschreibt. Das Harmoniegesetz dieser Schönheit, das sich in der Genieästhetik vollendet, kennt keinen Unterschied zum Anpassungsgesetz unter den Einzelträgern des allgemeinen Willens - wie es im philosophischen Kontext heißt: Zwischen allen Erscheinungen des einen Willens fand ein allgemeines sich Anpassen und Bequemen zu einander Statt, wobei aber alle Zeitbestimmung auszulassen ist.242 Über den Widerspruch zwischen der generellen Harmonie- und Anpassungsthese und der ebenso generellen Leidensthese hat Schopenhauer nicht anders als mit analogistischen Brücken oder adhoc-formulierten Dichotomien reflektiert. Weiß man, daß Natur, - sofern sie zur Ausbildung des »Intellekts« geführt hat - der Entwertung unterliegt, so hebt doch die Steigerung des Intellekts im Genie diese Entwertung wieder auf. In dem Kapitel über »Die Unvollkommenheiten des Intellekts« sind die Dysfunktionalitäten der einschlägigen Begriffsverwendung zu studieren. Schopenhauer will den Intellekt als höchst außergewöhnliche Erscheinung in der Welt herausstellen - definiert ihn aber gleichzeitig als Instrument der Gattungserhaltung. Potei\z und einfache Qualität desselben Begriffs divergieren bis zum Widerspruch, anders ausgedrückt: Die Eminenz desselben Begriffs wird reservativ gebraucht, während der >einfachealltägliche< Begriff diffamierend und polemisch angewandt wird. Die Illokutionsphase, mit welcher Schopenhauer die Eminenz des Genies anpreist, endigt mit einem hyperbolischen Vergleich: »Für das praktische Leben ist das Genie so brauchbar wie ein Sternteleskop im Theater«. 2 4 3 Nach Gedankenstrich folgt die Illokutionsphase, in der außerhalb der Empirie — die Eminenz des hohen Intellekts bzw. des Genies totaliter auf den Gesamtbegriff, nämlich den der Natur, angewandt werden soll: Sonach ist in Hinsicht auf den Intellekt die Natur höchst aristokratisch. Die Unterschiede, die sie hier eingesetzt hat, sind größer als die, welche Geburt, Rang, Reichtum oder Kastenunterschied in irgendeinem Lande feststellen: aber wie in andern Aristokratien [...] kommen viele tausend Plebejer auf einen Edeln, viele Millionen auf einen Fürsten und ist der große Haufen bloßer Pöbel, mob, rabble, la canaille. Dabei ist nun freilich zwischen der 241 242 243

S.-Register 294. S.-Register 92. II, 188.

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Rangliste der Natur und der der Konvention ein schreiender Kontrast, dessen Ausgleichung nur in einem goldenen Zeitalter zu hoffen stände.244

Die Prädikation der Natur als »aristokratisch« ist völlig unexpliziert trotz der nachfolgenden Vergleiche, da Schopenhauer den sozialen Handlungsraum jeder pragmatischen Dimension entkleidet; das mit dem Vergleich angesetzte Beziehungsverhältnis ist durch die Feststellung seltener Geniebegabung keineswegs beschrieben. Der Aristokratievergleich kennzeichnet entsprechend der erarbeiteten postulativ fingierenden Funktion der Metaphorik - insbesondere des Naturvergleichs - den Gedankeninhalt als Wunschgedanken: ein Hauptfeind Schopenhauers, die Konvention, wird als Naturkontrast eingesetzt. Das tertium comparationis bleibt unbedacht, - aber im poetischen Zitat tritt das Wertungsmovens, wenn auch nur als sekundär Motivierendes und defensiv, zutage: Es geht um das sehr persönliche Hochstehn »auf der einen [...] und auf andern Rangliste«, dessen Gemeinsamkeit darin besteht, »daß sie meistens in vornehmer Isolation leben«, - man vergleiche Byron (»To feel me in the solitude of kings, / Without the power that makes them bear a crown«, Prophecy of Dante 245 ). Die »Aristokratie der Natur« enthüllt sich als logisch nicht stringente, zur Stabilisierung des Eigenwerts geeignete Leerformel, wie es die folgenden Ausführungen deutlich machen. 246 Die Zweiteilung der Welt in Individuum und Gattung, in Normalmensch und Genie, in Empirie und Idee hängt mit der Zweiteilung des Verhaltens in Aktion und Kontemplation zusammen. Ihre Veränderungslosigkeit ist unterstellt. Deren historische Herkunft aus dem Glauben an die » U n a u s w e i c h l i c h k e i t der Schuld und [...] Vergeblichkeit aller Bemühungen des Gewissens« und an ein nachlutherisches »operari sequitur esse«247 hat Neidert triftig geklärt. Soweit sich Schopenhauers Asketismus totalisiert in Tatfeindlichkeit, kommt in seine Ethik und Ästhetik das Moment einer regressiven Kontemplativität: »der Kontemplative zieht sich zurück und beläßt die Welt, wie sie gerade 2+4

245 246 247

II, 188. Zum aristokratischen Erkenntnisideal und seiner versuchten naturphilosophischen Grundlegung vgl. Volkelt, Schopenhauer 149: »[...] bedenkt man, daß dieses Erkennen, so weit es sich wenigstens um die Ideen handelt, den aristokratischen Charakter einer genialen Betätigung hat, so wird man Schopenhauer in die Nähe Schellings rücken dürfen. [...] In Wahrheit gründen beide [...] die Philosophie auf geniale, aristokratische Intuition und gehören hierdurch zu den Romantikern der Philosophie.« II, 188. Vgl. dazu den Vergleich Reiter/Fußgänger für Intelligent/Dumm II, 189f. Neidert, Rechtsphilosophie 179.

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ist, >weil das Geschlecht immer das selbe istdesorientierteTheorie< dürften gerade diese Arbeiten keineswegs abträglich gewesen sein, hatte doch die reale Medizin eigentlich nur »die gemeine Ansicht der Natur«7 akzentuiert. Von ihren niederziehenden Sachzwängen befreit den hochgradig frustrierten jungen Atheisten die Naturphilosophie Okens, wobei sich das >Bekehrungsmodell< bei H. Steffens, der Schelling als Verkünder der Einheit erlebt, analog wiederholt. Gegen die offenbar weder praktisch noch gar theoretisch bewältigte Arbeitsteilung der Wissenschaft installiert sich die Ganzheitsvorstellung als regressiver und zugleich progressiver Aspekt.8 Aber das Ganze bleibt bzw. wird zusehends pure Verklärung, statt als kritische Instanz zu wirken. Denn gerade in seiner kritischen Phase hatte Fechners wissenschaftliches Bewußtsein eine Reihe von Arbeiten zustandegebracht, die als »gute Satiren auf den Wissenschafts- und Kunstbetrieb« der Biedermeierzeit gewürdigt werden können.9 Nur stellt sich bei eindringender Analyse die Frage, ob Fechners Medizin-Satiren wie seine Theologieund Naturphilosophie-Satiren so eindeutig als decouvrierend-polemi-

5 6

7 8

9

tende, vielmehr mit Verschiebung und Verdrängung arbeitende Angststruktur (vgl. Härtung S. 8). Adolph, Die Weltanschauung G. T. Fechners 9. Fechner übersetzt Biots vierbändiges Werk über Physik, Thénards sechsbändiges über Chemie, gibt Lehrbücher und Repertorien über beide Fächer heraus, redigiert - und schreibt etwa selbst davon den dritten Teil — ein achtbändiges Hauslexikon in den 30er Jahren. (Vgl. Adolph, Die Weltanschauung Fechners 1 4 - 1 9 ) Härtung 14. So klagt etwa Steffens »das leidige stückweise Theoretisieren« an: »das herrliche Ganze, was von meiner Kindheit die Seele durchdrang, erstarb mir unter den Händen« (zit. nach Härtung 14). F. Sengle, Biedermeierzeit II, 174f.

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sehe Arbeiten gelesen werden können, wie Sengle das tut. Die Frage verschärft sich, da nachzuweisen ist, daß eben dieselben Operationen des Scheinschlusses, der Übertreibung, der Umkehrung, der Beliebigkeitsanalogie in seiner zweiten und dritten Schriftstellerphase, also nach der ersten und zweiten >BekehrungwissenschaftsgläubigenAufklärung< ausschließt: die Aufklärung des 18. Jahrhunderts wird in den 40er Jahren — wobei nicht auszuschließen ist, daß die Arbeiten früher entstanden, mindestens konzipiert sind - diffamiert mit dem seinerseits wohl dem sakralen Ausdruck »Gottesfreunde« nachgebildeten Terminus »Lichtfreunde« für »Aufgeklärte«. In dem 3. der vier Paradoxe, das logisch mit einem Paradox allerdings nichts zu tun hat, geht es bereits um das Bewußtsein der Epoche des Glaubensverlusts. Wieder reflektiert Fechner darüber in ironischer Umkehrung, wobei allerdings Ernst und Satire sich merklich mischen und wir uns gehalten fühlen, eine volle Ambivalenz von Ironie und ernster Hoffnung anzunehmen. Die Lichtfreunde hätten »eine so große Ersparniß an Glauben gemacht«, 2 2 heißt es. Der in der »Weltordnung« bestehenden Einrichtung des Ausgleichs wegen sei aber der Glaubenssegen innerhalb der Naturwissenschaften ausgeschüttet worden, wo er mehr Frucht bringe, - während m a n den Glauben massenhaft aus dem Gebiete der Religion in manche Gebiete der Naturwissenschaften übergeführt sieht - [ . . . ] und dafür aus dem Gebiete der Naturwissenschaften in d a s Gebiet der Religion das verständige nüchterne Wissen, w a s daselbst die schönste abkühlende Wirkung äußert. 2 3

Im Grunde ergibt sich das gravierendste Problem jeder Satire: die Auflösung - nicht nur die Relativierung - beider Positionen. Der Wissenschaftssatiriker, der hier zwischen den Positionen Ausgleichsvor21 22 23

Fechner, Kleine Schriften, »Jodine« 10. Ebd., »Es giebt Hexerei« 276. Ebd. 278.

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gänge ironisiert, ist gleichzeitig der Wissenschaftsverklärer, der seine Weltanschauung auf das theosophisch interpretierte Entropieziel hin finalisiert. Fechners Satire arbeitet viel zu sehr selbst mit den idealistischen und romantischen Tauschaktionen in der Kritik an ihnen, als daß es ihr möglich wäre, sich oder eine wirklich relevante Sache (es geht hierbei schließlich darum, ob man mit dem Besen Häuserwände unbeschädigt herunterfahren könne) von ihnen opponierend zu distanzieren. Die »Verwandlungen« des Rückschritts in Fortschritt und umgekehrt macht dieses redselig-spielerische »Paradoxie-Denken« in einer autobiographischen Replik als wünschenswerte Aufgabe sich deutlich. 24 Indem sich die Satire gegen das gesamte Spektrum von >Arzt< über >NaturwissenschaftlerNaturphilosophen< bis zu >Geistphilosophen< richtet, verläßt sie den bestimmten Standpunkt wie jede bestimmte Zielgruppe und wird selbstzweckhaft-literarisch. Es dürfte sich also zugleich um eine Kritik an der Unbestimmtheit der zeitgenössischen wissenschaftlichen und philosophischen Ausdrucksweise handeln. Sie streitet mit dem ironisch überzogenen Aufgebot enzyklopädischer Beweisfindung25 und mit eigener Unbestimmtheit gegen die Ubiquität des >Beweisens< im definitionsleeren Raum. So wird die Teleologie der Lebenskraft-Theorien 26 gleichzeitig mit der Hegeischen Phraseologie getroffen: In Hegel's System finde ich fast auf jeder Seite Beweise für den Besenritt, welche zugleich als Bild dieses Rittes dienen können, indem sie gleich kühn, aber auch gleich gut zum Ziele führend sind. Ich schlage z. B. Band VII. der Werke auf, da finde ich (S. 69): >Die Schwere ist, so zu sagen, das Bekenntniß der Nichtigkeit des Außersichseins der Materie in ihrem Fürsichsein, ihrer Unselbständigkeit, ihres Widersprachst Hier sieht man nun, daß die Schwere selbst schon hinreicht, den Besen gegen die Wand zu drücken, um dadurch das Außersichsein der Materie des Besens und der Materie der Wand möglichst zu negiren. Man kann so den Herabritt an der Wand als die Ablegung des philosophischen Bekenntnisses eines Besens aus der Hegel'schen Schule betrachten.

Im zweiten Teil wird Hexerei allgemein als »natürlichste Sache von der Welt« 2 8 bewiesen, wobei Welt einmal — »für uns kommt nichts darauf an, welche Ansicht man wählen will; immer bleiben nach beiden die Grundgesetze des Seins und Denkens wesentlich dieselben« — als »Gedankenspiel Gottes« und einmal als »Gedankenspiel des Menschen« identifiziert wird. Das monistische Immanenzgebot wird hier zwar noch ironisiert, aber doch so, daß erstens in der logischen Unlösbarkeit Inkompetenz zu seiner Lösung zugestanden wird und zweitens nicht 24

Ebd. 284.

25

Ebd. 299.

26

Ebd. 297.

27

Ebd. 298.

28

Ebd. 300.

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mehr die sachliche Diskussion, sondern die menschliche >Anwendung< interessiert. Für die psychisch ambivalente Haltung Fechners in dieser ihrerseits paradoxen Satirik spricht die Art der Schluß-Bildung, in der selbstbezüglich-regressive Thematik mit Selbstironisierung eine Art Aufhebung der Satire-Situation an den Leser vermittelt.29 Wenn Fechner im 4. Paradox wiederum an die Hegelkritik anknüpft, die das 3. beendigte, so geschieht es mit einer Kritik biomorphen Denkens durch biomorphe Übertreibung. Aber mit der Übertreibung ist die Position nicht schon kritisiert. Fechners selbstrückläufige und harmlose Satire entfaltet unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeitssatire selbst die Wissenschaftsfeindlichkeit - nur auf Probe, - aber die biographische Ernstsituation läuft bereits.30 Daß die Diskussion nicht ausgetragen wurde und nicht ausgetragen werden konnte, ist von sprachpsychologischen Kriterien her auf die ihrerseits zwar satirisch einsetzbare, zugleich aber unbewußt-selbstverständliche anthropomorphe Grundstruktur des Fechnerschen Denkens zurückzuführen. Fechner entwertet Hegels Abstraktion durch >Verbildlichung< - dialektisch damit seine >Anschaulichkeit< durch Abstraktion. »Dialektische Methode« ist nach ihm eine Verwandlungskunst: [...] zuvörderst Rechts in Links dadurch zu verwandeln, daß man zeigt, ein b l o ß e s Rechts widerspreche sich selbst. Nachdem nämlich das Rechts dieß eingesehen hat, schlägt es sofort durch Selbstbewegung in Links als NichtRechts um. 31

Die Ironisierung der Ähnlichkeitsanalogien der sympathetischen Kuren und Gedankenansteckungen, 32 der wissenschaftlichen Untermauerung von philosophischen Spekulationen33 hindert eben nicht, daß der Autor selbst alle diese Fehlverhaltensformen bei sich, sogar in hypertrophen Ausmaßen, erzeugt. Am Beispiel des romantischen Denk-Brauchs der 29

30

31 32 33

So u. a. in der »Vergleichenden Anatomie der Engel«, Kleine Schriften 240, im »Panegyrikus« ebd. 68, im letzten der »Vier Paradoxe« heißt es: »Und hiermit gewinnt diese Schrift, welche mit dem einfachen Schatten anhob und mit der dritten Potenz des Schattens endigt, passend selbst ihren dialektischen Schluß als ein in sich zurücklaufender Schatten.« Über die Struktur der Selbstaggressivität und der Zwangsprojektion im gesamten Denken und Verhalten Fechners klärt ansatzweise auf die keineswegs als ausreichend und abgeschlossen zu wertende Studie von I. Hermann, G. T. F., Eine psychoanalytische Studie über individuelle Bedingtheiten wissenschaftlicher Idee, Leipzig Wien Zürich 1926, und in: Imago, Zs. für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, hrsg. v. S. Freud, Bd. XI. Fechner, Kleine Schriften 310. Ebd., über assoziative Magie 304ff., bes. 306; 308. Vgl. ebd. 276.

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>Wechselseitigkeit< läßt sich eine Grundform der Gedankenfindung bzw. —Verfehlung des späteren Psychophysikers festmachen, die am Anfang seiner schriftstellerischen Bahn einigemale ironisiert, in ihrer Breite aber hundertfach erbaulich-weltverbesserisch eingesetzt wird. Das erste Paradox, das die Lebendigkeit des Schattens nachzuweisen unternimmt, handelt ja vom zentralen Thema der Naturbeseelung eo ipso. Es sind in Redesituation, Syntax, Wortwahl und Argumentationsablauf dieselben Schemata, die der Beseelungstheorie Plausibilität verleihen sollen. Eine Technik des trivialen rhetorischen Fragens, die ihren Belustigungswert innerhalb der satirischen Leseerwartung durchaus hat, wird in den erbaulichen Schriften gleichsinnig, aber mit entsprechendem Erhebungswert, vorgebracht. Da heißt es: Kinder und Völker sind still, wenn sie das Nöthige haben, schreien aber um Alles was ihnen fehlt; so wirkt also weniger als was sogar mehr als was. Warum soll denn nun die Natur nicht da, wo das Licht fehlt, eben so gut Lichthunger fühlen, als wir da, wo Speise, Preßfreiheit u. dergl. fehlt?34

Die Tradition der witzigen Konjekturen schreibt Fechner um in die Tradition der natur-sentimentalen. Aber über den latent unsozialen Charakter, mit dem hier Preßfreiheit und Schattenproblem konjugiert werden, kann am wenigsten die gestaffelte Analogik von Kindern, Völkern und Natur hinwegtäuschen: in dieser löst sich alles auf. Der Nachweis, daß satirische Haltung in erbauliche Absicht sich immanent verwandelt, weil im Grunde kein systematischer Gegenstand der Satire, d. h. kein sozial ausgemachter Adressat ihrer Problematik vorliegt, läßt sich an den »Paradoxen« wie auch schon an früher erschienenen Arbeiten erbringen. Wenige Zeilen nach der zitierten Stelle wird die genuine Tradition der romantischen Selbsteingliederung in Natur in einer Fragetechnik berufen, die kennzeichnend changiert zwischen Sach-, Leser- und Selbstironie einerseits, zwischen Ironie und Affirmation andererseits: Aber was ist denn der ganze Mensch selber Anders als ein Gewebe und Gefolge von Naturgefühlen, nur losgelöst vom übrigen Grunde der Natur. Löst sich denn aber der Schatten nicht so scharf als der Mensch aus der übrigen Natur heraus?35

Hier erscheinen dieselben formelhaften Pleonasmen, dieselben unbestimmten sachlichen und logischen Einschränkungen, dieselben Ketten 34 35

Ebd. 250. Ebd.

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rhetorischer Progression wie in dem gleichzeitigen »Büchlein vom Leben nach dem Tode«. Und die Irrelevanzerklärung von Erkenntnis zugunsten von Gefühl stellt sich wie selbstverständlich in der Form eines Chiasmus dar: Inzwischen wird der Mensch immer irgendwelche handgreifliche Unterlage für das Fühlende oder Gefühl verlangen, und das Gefühl des Schattens so lange für einen Schatten des Gefühls zu halten fortfahren, als er den Schatten selber nicht mit Händen greifen kann.. , 3 6

Die idealistische Analogiedeutung von Prädikation aus der Selbsterfahrung, die wir als transzendentalistische Prämisse in der Philosophie Schopenhauers diskutiert haben, tritt als Substrat und als Fluchtpunkt aller >paradoxen Vorschläge< Fechners auf: Jedenfalls sehen wir an uns selbst, daß es nicht die Identität der Materie ist, an welcher die Identität des Individuums hängt. 3 7

Die Ergebnisse einer auch an der sachlichen Fragestellung der kleinen satirischen Schriften des Dr. Mises interessierten Analyse zwingen zu der Auffassung, daß in sie bereits wesentliche Momente einer Auffrischung des Irrationalen gegenüber der als leer und entfremdet erfahrenen Welt des Wissenschaftlichen und Philosophischen eingegangen sind. Die Aussagehaltungen dieser Essays lassen sich nicht einfach als eine Zunahme der satirischen Raffinesse interpretieren.38 Sie müssen aus stilistischen, argumentationstheoretischen und biographischen Gründen als Ambivalenzen und Aufweichungen jeweiliger Normpositionen gesehen werden, wobei die Annahme naheliegt, daß für Fechner die Vielfalt der Normierungen, die sich aus der Rückdeutungs- noch mehr als der Kampfsituation seiner Zeit ergeben haben, soviel Unerträglichkeit hatte, daß er es vorzog, integralistische Kurzschlüsse zu ziehen, statt in einer Meinungsposition zu verharren. Sein Verhältnis zur Wissenschaft wird deshalb sowohl vom Literarischen her, d. h. von wissenschaftlich thematischen Essays, wie vom Theoretischen her geklärt werden müssen. Dazu diene die Analyse der »Vergleichenden Anatomie der Engel« und weiterer halbsatirischer Arbeiten.

3i 37 38

Ebd. 251. Ebd. Vgl. Sengle, Biedermeierzeit II, 174: »Raffinierter als diese Medizin-Satiren [...] ist die Vergleichende Anatomie der Engel (1825). Wurde dort dargetan, daß die Wissenschaft keinen Bezug zu ihrem empirischen Gegenstande hat, daß sie durch Abstraktionen und Spekulationen alles verdirbt, so wird hier umgekehrt ein fiktiver Gegenstand gewählt.«

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2. Das Nebeneinander von induktiver Wissenschaft und spekulativer Metaphysik Die wissenschaftlichen, besonders wohl auch theoretischen Fähigkeiten Fechners haben sich verstärkt, als er sich der Physik und der Chemie und der analytischen Psychologie zuwandte. Seinen medizinischen Ursprüngen ist Fechner als experimenteller Wissenschaftler treu geblieben. In hunderttausenden von Sehversuchen, die der allgemeinen Optik, im besondern der Farbenlehre dienten, hat er seinen persönlichen Tribut der Empirie geliefert. Die Frage, wieweit die Augenkrankheit, die ab 1840 seine Arbeitsfähigkeit lähmte, davon abzuleiten ist, kann hier nicht erörtert werden. Seine Versuche zur Erhärtung des Ohmschen Gesetzes sind 1831 herausgekommen unter dem Titel »Maßbestimmungen über die galvanische Kette« und dokumentieren seine Bereitschaft, das Messen als Prozedur und Kontrollinstanz der Naturwissenschaft anzuerkennen. Seine späteren ophthalmologischen und akustischen Untersuchungen basieren wiederum auf Experimenten. Mit einer Masse von Untersuchungsreihen hat Fechner die Relevanz des goldenen Schnittes, die Wirkung der Holbeinschen Madonna u. ä. Fragen zu klären versucht. Neben dieser Forschertätigkeit besteht durchlaufend Schriftstellerei, die zugleich die satirischen wie die erbaulichen, schließlich die kompendienhaften naturreligiösen Schriften wie »Nanna« und »Zend-Avesta« umfaßt. Schon in einer sehr frühen Arbeit zeigt sich die Neigung zur symbolischen Interpretation auch der wissenschaftlich nüchternen Welt. In der »Stapelia mixta«, 39 die Aufsätze von 1824 bis 1873 umfaßt, stammt der erste Beitrag »aus einer Symbolik der Kegelschnitte«. Hier werden die unterschiedlichen Brennpunktverhältnisse, die Linienführungen bei Parabel und Hyperbel, die implizierten Beziehungen zum Unendlichen Gegenstand einer anthropomorphen, speziell einer psychomorphen Auslegung. Fechner bezeichnet seine symbolische Interpretation als Darstellung »allgemeiner Verhältnisse in abstracter Versinnlichung«. 40 Sie konvergiert mit den in den literarischen Texten besonders zahlreichen bildlichen Veranschaulichungen, deren Tradition tatsächlich in jene Gleichniswelt theologischen Anschauens zurückreicht, in jene »dekorativbarocke Tradition«, 41 von deren Kritik Sengle im 39 41

Fechner, Kleine Schriften 327-420. 40 Ebd. 326. Sengle, Biedermeierzeit II, 174. Im »Büchlein vom Leben nach dem Tode« liefert Fechner ein solches Versinnlichungsbild: sechs Kreise, deren Umkreislinien sich in einem Schnittpunkt treffen; er nennt dies »Figur«: »kein Abbild, sondern nur ein Symbol oder Gleichnis...»

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Zusammenhang mit den frühen Arbeiten Fechners spricht. Wenn der Brennpunkt eine »Seele« vorstellt, dann weisen die Linien auf die außenweltlichen »Bestrebungen und Thätigkeiten« derselben hin. Außerdem soll die dem Brennpunkt zugewandte Seite der Linien spiegelnd gedacht werden, und dann sind des zweiten Brennpunktes Gefühle nach dem Symbole durch Bestrebungen oder H a n d l u n g e n des ersten Brennpunktes unter Zwischenwirkung der Außenwelt, ohne welche überhaupt kein Verkehr der Seelen möglich ist, veranlaßt. Hiernach symbolisirt mir der K r e i s die Selbstliebe, den E g o i s m u s ; die E l l i p s e das Ideal der Freundschaft; die P a r a b e l das der Liebe gegen d a s Unendliche, Göttliche; die H y p e r b e l das des bittersten H a s s e s [ . . . ] 4 2

Derartige Spielereien sind im Grunde nicht ohne die pastorale Tradition der Veranschaulichung des höchst Unsinnlichen durch »abstrakte Versinnlichung« zu verstehen. Diese Tradition lebt heute noch wie vor Jahrhunderten in der Exegetik, in Predigtsammlungen, in trivialen Graphiken. Auch bei Fechner zehrt sie von der Auffüllung der dekorativen Semantik mit Zusatzannahmen, deren Auswahl willkürlich ist. Es erfüllt sich darin eine Neigung zur >Potenzierung< semiotischer Prozesse, deren Beziehung zur Depotenzierung semantischer zu untersuchen wäre. Die Überfülle solch iterierter semiotischer Prozesse, deren sprachlichsemantische Ausgangsbasis durch keinen Referenzbezug geklärt ist, die damit über keine prozeßimmanente Kontrollmöglichkeit bezüglich Sinn und Grenze ihrer Ausuferung verfügen, verschafft den Texten Fechners in allen Gattungen ihren einmaligen Charakter von Beliebigkeit und semiotischer Rückläufigkeit. Die semantische Depotenzierung erscheint oberflächlich als entfaltete Assoziations- und Vergleichstechnik, beruht jedoch auf einer zunächst im Denkerischen aufgewiesenen Ambivalenz der ursprünglichen Prädikationsschärfe, die durch positions- und gegenstandsloses Vagabundieren des Diskutierens mitbestimmt erscheint. In ihm selbst realisieren sich spezifische Chancen einer weltanschaulichen Übergangslage, in welcher kontradiktorische Beschreibungsparadigmata miteinander konkurrieren, zu Überschneidungen kommen und in gegenseitig sich aufhebenden Wertungen zerfallen. Es mußte im Zeitalter der blühenden Physiologie und der stärksten Entwicklung der Anatomie für einen satirischen Geist eine verlockende literarische Aufgabe sein, die überpotenzierte Beschreibungsmechanik der vergleichenden Anatomie auf ein widersprüchliches älteres Paradigma und eine 42

Fechner, Kleine Schriften 327.

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»zersetzende« Gegenständlichkeit zu beziehen. Als Parabel des unzulässigen Vergleichens ist der Fechnersche Gegenstand dafür, die Welt der Engel, freilich in sich schon zu sehr vorgeklärt, um als erhellendes Beispiel für irgendein übers Ziel hinausschießendes Vergleichen von Körpern brauchbar zu sein. Da in der satirischen Parabel zu allererst festliegen muß, was als Sache angegriffen wird, in Termen der Fabeltheorie gesagt: worin ihr »Sitz im Leben« besteht,43 ist die Wahl eines überpointiert fiktiven Gegenstandes wie der Engel wohl eine Vorentscheidung dafür, daß eben nicht dieser desavouiert werden soll. Fechners Entscheidungsschwäche für einen »Sitz im Leben« führt den Interpreten dieser »vergleichenden Anatomie der Engel« in Fechners eigenes Entscheidungsdilemma: soll nun die in fiktionalen Überschuß abgleitende Beliebigkeit der Gegenstandswahl der vergleichenden Anatomien glossiert werden — oder die Fiktionalität einer Wissenschaft von Engeln? Trotz Fechners Prägung durch christliche Anschauungsmodelle, die in der Zeit der erneuten Verchristlichung seines Denkens um 1825 kaum eine so bösartige Theologiesatire erwarten ließe, entscheidet Sengle sich für diesen »Sitz im Leben«: hier sei in Gegensatz zu den früheren Satiren »ein fiktiver Gegenstand gewählt. Indem die Engel im üblichen Abhandlungsstil untersucht werden, mit allen möglichen Distinktionen, Unterdistinktionen und logischen Schlüssen, wird noch deutlicher, daß der Theologieprofessor schlechthin alles beweisen kann und daher sein Objektivitätsanspruch höchst zweifelhaft sein muß«. 44 Nun ist aber von einem Theologieprofessor in der ganzen Arbeit nicht die Rede, und an jenen Textstellen, die den Autor-Leser-Bezug und die Implikate seiner aggressiven Richtung genuin betreffen, in dem »Vorwort« wie in der vierseitigen Einleitung, wird nur auf naturwissenschaftliche Probleme (wie das Linnésche System) und auf sehr allgemeine humanistische Probleme der richtigen Einordnung des Menschen ins Weltganze, seine Eitelkeit auf sich als »Meisterstück der Schöpfung«, 4S die Möglichkeit einer Stufengliederung der Weltordnung 46 u. ä. hingewiesen. Der Gegenstandsbereich ist also so eindeutig naturphilosophisch wie vordem. Und an den Formen der Abhandlung läßt sich kein spezifischer theologischer Tonfall erkennen. Gemäß dem Hinweis Sengles auf die Zwiespältigkeit 43

44 45 44

Vgl. die Überlegungen zu diesem Zentralbegriff der Gleichnistheorie bei W. Gebhard, Zum Mißverhältnis zwischen der Fabel und ihrer Theorie, in DVjs 48 (1974), H. 1, S. 122-153, auch in: P. Hasubek, Fabelforschung, Darmstadt 1983, S. 298-336. Sengle, Biedermeierzeit II, 174. Fechner, Kleine Schriften 197. Ebd. 199.

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der Weltanschauung von Biedermeierzeitautoren, gerade wenn sie aufgeklärte Philosophen und Wissenschaftler waren, zugleich aber Christen bleiben wollten wie Bernhard Bolzano, 47 muß das breite »Mittelfeld« der Ambivalenz bzw. doppelter Entscheidungen ernst genommen werden. Der von zweifelhafter Eindeutigkeit glänzende Formschleier satirischer Gestaltung darf nicht über die tiefer liegende Zweideutigkeit hinwegtäuschen, die immerhin auch einer stilistischen Nahbetrachtung auffällt. Den axiologischen Aufbau der zweideutigen Satire bilden latente Vollkommenheitspostulate und leere Superlative. »Ein erst halbgeglücktes Streben« nach Schönheit führe zum »Auge, dem einzigen fast vollendeten Theile« 48 des menschlichen Körpers. Hier stößt man bereits auf eine später totalisierte Denkform Fechners: die Konvergenz, ja Identität von Funktion, Sein und Bedeutung - das Auge sieht Schönheit, ist Schönheit, bedeutet Schönheit - und wird dadurch tertium comparationis für alles weitere, was auch Schönheit hat. Formsymbolik im Sinn der weltanschaulichen Kegelschnitt-Projektionen kommt hinzu: weil das Auge Kugel ist, diese aber, wie »ein alter berühmter Naturphilosoph (Xenophanes)« 4 9 schon sagte, als wahre Harmonie und Einheit die Gestalt Gottes, so sind formalistisch die Weichen gestellt, um eine >Geistphilosophie< des Auges unterm Schein der naturphilosophischen Distanzierung zu liefern. Der Autor spricht mit Betonung von einem fiktiven Experiment (Reduktion der menschlichen eckigen Gestalt zur harmonischen Kugel), von realer Lebenserfahrung (Blick in zwei geliebte Augen) und schlägt den metaphorischen Bogen zur Einheitsstiftung in direkter emphatischer Selbstbekundung: » W a s s e h e ich d e n n a n d e r s , w e n n ich i n d e i n e b l a u e n A u g e n b l i c k e , a l s z w e i K u g e l n , d i e d i e S e e l e s e l b s t z u i h r e m W o h n s i t z g e s c h a f f e n zu h a b e n s c h e i n t ; j a ist n i c h t ü b e r a l l d a s A u g e d a s j e n i g e , w a s d e n g e i s t i g s t e n A u s d r u c k g e w ä h r t i m M e n s c h e n ! « Ich d a c h t e d a r a n , u n d w u ß t e n u n , d a ß a u c h e i n e K u g e l S e e l e h a b e n u n d Seele äußern k ö n n e . . . 5 0

47 48 49

50

Sengle, Biedermeierzeit 1,76. Fechner, Kleine Schriften 198. Ebd. 2 0 1 . Über die Ernsthaftigkeit der ontologischen Einforderung der Kugelgestalt als leistungssparender Ganzheitsgestalt, die auch Vögeln und Fischen »zur rollenden Bewegung« verhülfe, klären seitenlange Überlegungen des »Zend-Avesta« auf (70ff.). Fechner bedauert, daß die N a t u r das Prinzip des Rades nicht häufiger einsetzt, sie tue es immerhin bei den Planeten: »Nur ein Weltkörper eben konnte Rad sein, weil er das ganz ist, w a s er ist.« (ebd.) Ebd. 2 0 2 .

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Das Ergebnis des fiktiven Experiments ist ein lustvoll betontes Aufwertungserlebnis: »Mein Geschöpf war mir wieder lieb, es war ein wunderschönes Auge geworden«. So laufen über Abstraktionen, fiktionalisierte Operationen und redensartliche Metaphorisierungen als Gelenke die naturverklärenden Mechanismen, die ja keineswegs zu einer Satire gerade auf die nüchternen des anatomischen Vergleichs - der vorher berufen wurde - gehören würden. An dieser Stelle folgt ein deutlich als Zitat eingesetzter Verweis auf den Mikrokosmos-Topos: Der M e n s c h ist M i k r o k o s m o s , d. i. eine W e l t im Kleinen; Philosophie u n d Physiologie vereinigen sich, es zu zeigen. Sein edelstes Glied ist eine sich v o n Licht nährende Kugel, auch das edelste Glied der größern W e l t wird ein solches W e s e n sein, nur selbständig und unendlich ausgebildeter. 5 1

Diese Stelle trägt keine Kennzeichen satirischer Sprachgebung. Von dieser distanzierte Fechner sich übrigens bereits im Vorwort, wenn er für die Extrapolation »höherer Geschöpfe« über die Entwicklung des Menschen hinaus nur »den volksthümlichen Namen Engel « 5 2 quasi probeweis heranzieht: damit ist jede wirkliche Aggression gegen den theologischen Konsens abgeschnitten. Daß die Vereinigung von Philosophie und Physiologie auch für Fechner existentielles wie historisches Muß wurde, ist in seiner Selbstinterpretation wie in seinen Werken Topos geworden. Die Kombination von Glied- und Vervollkommnungshypothese gehört zu dessen wesentlichsten Argumenten. Die Erde wird, wie von traditioneller Praxis der ontologischen Stufung die auf ihr vorfindlichen Dinge, von Fechner in eine hierarchische Reihe gestellt: sie steht »auf einer niedern Stufe«53 als die Sonne. Deren Begriff wird sogleich von umgangssprachlichen Wertungsmetaphern zugedeckt: »Sonnengeschöpfe« als »Kinder des Weltkörpers, der herrschend in der Mitte der andern steht«, 54 erscheinen »als selbstständig gewordene Augen«. Die Metaphorisierung erreicht einen Höhepunkt im 2. Kapitel, das »von der Sprache der Engel« handelt. Hier findet die romantische Sprachmetapher eine doppelbödige Travestie.55 Aber die alternativenbildende und deliberative Sprachgebung ordnet diese Refle51 55

52 54 Ebd. Ebd. 197. 53 Ebd. 203. Ebd. 203f. »Die Pflanzen theilen sich durch G e r u c h einander mit; das Medium ihrer Mittheilung ist der D u n s t ; ihre Sprache reicht wiederum weiter als die der vorigen Wesen. Aber so wie bei den chemischen Stoffen die Sprache nur in einem Herbeilocken der Atome gegen einander, um sich zu gatten, und bei den ganz todten Massen in der Gattung selbst Statt fand, so scheint auch der Duft der Pflanzen [...] den Zweck zu haben, die männlichen und weiblichen Theile der Pflanze zur wechselseitigen Gattung anzuregen.« (215)

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xionen zugleich in die Naturspekulation ein, die auf die Beseelung aller Dinge abzielt. Der Aufwand an Analogieschlüssen, der hier für den Nachweis eines Lichtverkehrs zwischen den beseelten Planeten bzw. den sphärenmusizierenden Planeten-Engeln eingesetzt wird, ist nicht geringer als jener, der später im »Zend-Avesta« zur Anthropomorphierung der »Dinge des Himmels« benötigt wird. Logisch betrachtet, läuft die Umkehrung einer absurden Gleichsetzung aufs selbe hinaus, auch wenn sich dieselbe Gleichsetzung einmal als Satire, später als Metaphysik gibt. »Ironisiert sich Fechner mit dieser letzten Ausdeutung [der Engel-Planeten als Dunstblasen, so am Ende der Abhandlung] seiner Phantasiegeschöpfe selbst, so hat doch gerade die in diesem Werk vollzogene Gleichung Engel-Planeten später eine folgenreiche Umkehrung erfahren. Der Satz: Planeten sind Engel, ist ein Kernsatz seiner Philosophie geworden.«56 Diese Beobachtung weist genau auf die Funktion der metaphorischen Denkhaltung, die in »versinnlichter Abstraktion« und vice versa in abstrakter Anschaulichkeit, in Begriffsbildern und »punktuellen Allegorien« nach Sengles Einsicht zu den geistesgeschichtlichen Prägungen der Biedermeierzeit gehört. Es zeigt sich, daß solche »Kernsätze« in ihrer Umkehrbarkeit auf eine unauflösbare »Metaphorik als Kernzone«57 der noetischen Prozesse bezogen sind, deren Abbau und Erneuerung die geistesgeschichtlichen Kämpfe der Zeit vorweg strukturierten. Fechner hat in seinen satirischen Frühschriften, so in der außergewöhnlich umfangreich gewordenen medizinkritischen Arbeit »Schutzmittel für die Cholera«,58 viele Denkmodelle der hippokratisch-regressiven und spekulativen Anwendung der Naturwissenschaften kritisiert (etwa die nichtssagenden Leerformeln der zusammenfassenden Abstraktion, die sich als Schrittmacher der Wahrnehmungsverstellung durch »Ismen«-Blindheit auswirken);59 er hat deutlich genug von dem »Sack« gesprochen, in den die Wissenschaft »alle ihre Dunkelheiten wirft«, und dabei betont, es sei »sehr klug, daß sie [ . . . ] hierzu gerade das verwendet, was eigentlich die Laterne der Wissenschaft sein sollte, s o die Philosophie das Absolute, die Aesthetik die I d e e « 6 0 56 57 58 59

i0

H. Adolph, Die Weltanschauung G. T. Fechners 17f. Sengle, Biedermeierzeit 1,504f. Fechner, Kleine Schriften 6 9 - 1 9 4 . Ebd. 150ff.: - »es ist groß, ja göttlich, eine Sache ohne die Mittel dazu zu Stande zu bringen«, heißt es als Auftakt zur ironischen Revue der widersprüchlichen verabsolutierten Krankheitsbeschreibungen, der »miasmatischen«, »tellurischen«, »kosmischen« Diagnostik usw. Ebd. 158.

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— aber diese Polemik gehört mehr ins Umfeld einer von bloß praktischen Widerständen ausgehenden, stark traditionsgebundenen Medizinsatire, als daß sie, theoretisch und reflexionskritisch fundiert, eine Voraussetzung gegen seine eigene Rehabilitation der platonischen und metaphysischen Instanzentheorien lieferte. Er hat die Konsequenz aus der kritischen Erfahrung, daß es auf Namen nicht ankomme, in der Weise gezogen, daß er den denotativen Bezug selbst relativierte und damit die Semantik aufgab. 61 3. Die Dominanz der konservativen Erbauungsabsicht a) Metaphernkerne und Verlust von Konnexkriterien Den assoziativen Metaphernkernen und Metonymien, die als Ursprungseinfälle aphoristischer Denkprobehaltungen eine so ungewöhnlich wichtige Begleitfunktion der Nachwirkung romantischer Einstellungen haben, hat Fechner in jenem außerwissenschaftlichen und emphatisch affirmativen Werk, das seine Breitenwirkung überhaupt fundierte, eine höchst interessante Interpretation gegeben. Im Vorwort zur zweiten Auflage des »Büchleins vom Leben nach dem Tode«, das vor der Phase der manifesten psychosomatischen Krankheit geschrieben wurde und 1836 zum ersten Mal erschien, 62 berichtet Fechner über eine in Gesprächen mit seinem Freund Ch. F. Grimmer aufgegriffene »von unserm gemeinschaftlichen Freunde Billroth flüchtig ausgesprochene und ebenso nur flüchtig festgehaltene, im Verfasser aber festgewordene, Idee«, die den Anlaß zu dem Trostbüchlein gegeben habe: »Ein Körnlein war's, ein Baum ist d'raus geworden: er hat den Boden dafür lockern helfen.« 63 61

62

63

So heißt es ironisch in der Engel-Satire: »Ich habe freilich die Engel oben Augen genannt, und jetzt nenne ich sie lebendig gewordene Planeten. Der Name ändert aber nichts an der Sache und dient blos, bald die, bald die Beziehung mehr hervorzuheben.« (228). Strukturähnlich wird die Alternative zwischen Freiheit und Notwendigkeit als sachirrelevant hingestellt (230). Die 2. Auflage erschien 1866, die dritte 1887, nach der Jahrhundertwende folgen sich die Auflagen in Dreijahresabständen: 1900, 1903, 1906, 1911. Fechner, Vom Leben nach dem Tode VI. Wie die Nachschrift zur 1. Auflage genauer mitteilt, ist dieses Büchlein genuin theologischer Provenienz: Billroth war damals Professor der Theologie in Leipzig, anschließend in Halle. Fechner sieht sich genötigt, die Distanzierung Billroths von seinem »sich selbst gestaltenden und durch eine Art notwendigen Fortschritts zur Idee eines höhern Lebens der Geister in Gott erweiterten« (83) Büchlein mitzuteilen: Billroth habe »wie in der Religionsphilosophie überhaupt, so namentlich in der Unsterblichkeitslehre, eine von der hier verfolgten ganz verschiedene und sich direkter an das kirchliche Dogma anschließende Richtung genommen«.

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Im Naturvergleich wird die notwendige Entstehung, das Unwillkürliche und zugleich das Substanzbewahrende im ganzen Prozeß zwischen Einfall und Ausführung der »Kernidee« beschworen. Als »Erstling einer Reihe späterer [...] Schriften [...], die sich ihm durch den Inhalt mehr oder weniger anschließen«,64 wurde dieses Buch zum Auftakt einer Entfaltung des Irrationalismus in Fechners Schreiben, die ihm erst die auch dichtungsgeschichtlich bedeutungsvolle Breitenwirkung sicherte. Der dritte Teil des 1851 erschienenen »Zend-Avesta« führt, nach Fechners Aussage, dessen Ansichten weiter aus. In dem »Büchlein vom Leben nach dem Tode« mischen sich romantische und syntaktische Simplifizierung, ornamental gegliedertes Anschauen und Denken, Traditionen des theologischen dualistischen Denkschritts und der gleichsinnigen Wiederholung mit rhetorischen Traditionen der theologischen und laisierten Erbauungsliteratur: direkte Leseranrede, admotiitio und Verwarnung, vor allem Seligpreisung und Segnung — alles auf einem gemeinsamen Nenner stilistischen Niveaus, das die heterogenen Ansätze vom Verdacht authentischen Denkens unberührt läßt. Die mit dem romantischen Innen/AußenTopos durchsetzte primitive Apodiktik einer suggestiven, auf lexikalische Differenzierung bewußt verzichtenden Leserbeziehung erscheint im Gestus des total Wissenden sofort im Anfang des ersten der 12 Kapitel: Der Mensch lebt auf der Erde nicht e i n m a l , sondern d r e i m a l . Seine erste Lebensstufe ist ein steter Schlaf, die zweite eine Abwechselung zwischen Schlaf und Wachen, die dritte ein ewiges Wachen. Auf der ersten Stufe lebt der Mensch einsam im Dunkel; auf der zweiten lebt er gesellig aber gesondert neben und zwischen andern in einem Lichte, das ihm die Oberfläche abspiegelt, auf der dritten verflicht sich sein Leben in dem höchsten Geiste, und er schaut in das Wesen der endlichen Dinge. Auf der ersten Stufe entwickelt sich der Körper aus dem Keime und erschafft sich seine Werkzeuge für die zweite; auf der zweiten entwickelt sich der Geist aus dem Keime und erschafft sich seine Werkzeuge für die dritte; auf der dritten entwickelt sich der göttliche Keim, der in jedes Menschen Geiste liegt, und schon hier in ein für uns dunkles, für den Geist der dritten Stufe tageshelles, Jenseits durch Ahnung, Glaube, Gefühl und Instinkt des Genius über den Menschen hinausweist. Der Übergang von der ersten zur zweiten Lebensstufe heißt Geburt; der Übergang von der zweiten zur dritten heißt Tod. Der Weg, auf dem wir von der zweiten zur dritten Stufe übergehen, ist nicht finstrer als der, auf dem wir von der ersten zur zweiten gelangen. Der eine führt zum äußern, der andere zum innern Schauen der Welt. 6S 64 65

Fechner, Vom Leben nach dem Tode VI. Ebd. lf.

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Der Ruin der Rationalität ist auf sämtlichen sprachlichen Ebenen festzumachen (er wird des weiteren in Zitat und Kommentar noch festgehalten werden müssen): Gleichheitsbehauptungen und Namensbehauptungen rudimentieren die Verbsemantik; der Begriff der Entwicklung wird ebenso sinnentleert wie der des Schöpfens oder Schaffens; die logischen Bestimmungen des auf Einheit seiner Sachbestimmungen bezogenen Wiederholungsbegriffs entfallen; die Semantik der Hauptwortverwendung verflüchtigt in deren verfolgbarer Reduzierung notwendig, was erhalten bleibt, besteht nur noch als Metonymie. Die zitierte Passage liefert — analog dem bei Schopenhauer in vergleichsweise großer intellektueller Differenzierung gegebenen Modell das dogmatische Gerüst, das in den zwei folgenden und sowohl in ihrer Masse wie in ihrer Syntax gestreckten Abschnitten mit Lebensvergleich plausibiliert wird. Der Text fährt fort: W i e aber das K i n d auf der ersten Stufe noch blind u n d taub ist f ü r allen G l a n z u n d alle M u s i k des Lebens auf der zweiten [...]

usw. - das theologische Fazit liegt allzu nahe, um nicht schon erraten zu sein; der Folgeabschnitt beginnt: D a n a c h [nach dem Tod] w i r d alles, w a s uns mit unsern jetzigen Sinnen äußerlich u n d gleichsam n u r aus der Ferne nahe gebracht w i r d , in seiner Innerlichkeit v o n uns durchdrungen u n d e m p f u n d e n w e r d e n . 6 6

Es geht, wenn die Erde solchermaßen zur Ferne des Vergleichs abstrahiert wird, offenbar darum, Lästiges ihrer Erfahrung durch das Bessere des Überirdischen zu legitimieren; es geht um Todesverklärung. Sie ist in ihrer idealistischen Version keineswegs neu, aber die begriffslose Machart ist doch erst nach weiter Entfernung von Kantscher Sprachhaltung denkbar geworden. Schon die frühidealistischen Momente vitalistischer Lebensverklärung stehen unter dem Zwang, die durch die Religionskritik offengelegten Entlastungspunkte und Verklärungsmechanismen neu zu füllen. 67 Als einen der tragfähigsten Verklärungsmechanismen haben wir den Topos vom Zusammenhang der Dinge kennengelernt. Bei Fechner 66 67

Ebd. 3. C. Friedlein hat seiner Dissertation über »Das Verhältnis der Naturanschauung Fechners zu derjenigen Örsteds« von 1912 ein Fichte-Motto vorangestellt, das in der Kürze einen Beleg für meine Behauptung liefern mag: »Motto: Nicht der Tod ist die Wurzel der Welt, welcher Tod erst durch allmähliche Verringerung seines Grades zum Leben herausgekünstelt werden müßte, sondern vielmehr das Leben ist die Wurzel der Welt, und was da tot erscheint, ist nur ein geringerer Grad des Lebens. Fichte.« (1)

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schlägt die fixe Idee des Zusammenhangs in ihre negative Potenz um: mit Zusammenhängen macht er alles, was er will, und er zerreißt sie, w o er will. Aber v o m Zusammenhangsdenken her verurteilt er den traditionellen Dualismus zwischen Welt und Gott, da er - so wird es zum Anfang des späteren Buches »Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht« ( 1 8 7 8 ) gesagt - eine der beiden Seiten zur »Illusion« mache. 6 8 »Illusion« scheint dabei weitgehend in Schopenhauerschen Konnotationen gemeint zu sein: als Syndrom aus Vergänglichkeit, Menschenfremdheit und Scheinbarkeit. Der Eingang des Erbauungsbuches von der »Tagesansicht« skizziert Vorstellungen des Welttodes zusammen mit dem Sterben von Blumen - und in dieser »negativen« Weltsicht »reichen sich Philosophen und Physiker, Materialisten und Idealisten, Darwinianer und Antidarwinianer, Orthodoxe und Rationalisten die H ä n d e « . 6 9 Wie Fechner in seinen Paradoxen und Satiren, in seinen wissenschaftlichen Arbeiten wie in den naturphilosophischen Großwerken sich auf den gemeinen Menschenverstand oder die »natürliche Ansicht der D i n g e « 6 9 3 beruft, so legitimiert er seine optimistische Tagesansicht mit dem gesunden verklärenden Daseinsgefühl, - zusätzlich mit der Diffamierung nahezu der gesamten Denkgeschichte als »Nachtgeschichte«: »die ganze Unerbaulichkeit dieser Ansicht von der W e l t « 7 0 beruft ihn zum Superlativ seiner Erbaulichkeit. Als metonymisches Oxymoron hat die Uminterpretation des Todes zu einer anderen, real gezählten, einer »zweiten« Geburt längste theologische Tradition. 7 1 Wenn sich in der Situation Fechners, die durch die vorgängige methodische Anerkennung der Naturwissenschaft gekennzeichnet ist, ein positiver Ausweg nicht finden läßt, liefert ihn eine Umkehrung: der in stärkeren Referenzbeziehungen stehende Begriff der Geburt wird zur Metapher, Geburtsvorgang und Geburtssituation werden fiktionalisiert und das intrauterine Leben zum reflexiven Daseinsmodus aufgewertet: darüber belehrt das 2 . Kapitel. Das Kind im Mutterleib hat bloß einen Körpergeist, den Bildungstrieb. Die Schöpfung und Entwickelung der Gliedmaßen, womit es aus sich herauswächst, sind seine Handlungen. Es hat noch nicht das Gefühl, daß diese Glieder sein Eigentum sind, denn es gebraucht sie nicht... Ein schönes Auge [vgl. o.!], ein schöner Mund sind ihm bloß schöne G e g e n s t ä n d e , die es 68 71

Tagesansicht 4. «'Ebd. 69*Ebd. 5. 7 0 Ebd. Es sei hier nur auf den wahrscheinlichen Einfluß von Palingenesieanschauungen außerhalb der theologischen Tradition der »Wiedergeburt« mit ihren pietistischen Ausdifferenzierungen — hingewiesen, der von Herder und Jean Paul her eingewirkt haben dürfte.

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geschaffen, unwissend, daß sie einst dienstbare Teile seines Selbst sein werden. 72

Fechner spricht vom Fötus. Die intrauterine Anschauungsgegenständlichkeit der libidinösen Primärobjekte Fechners 73 gibt den Auftakt zur präexistentiellen Humanisierung des idealistischen Topos der Bildungstriebe, sie leitet aber auch die totale Entwertung des Handlungsbegriffs ein. Der satirische Umkehrungswille ist jetzt einem erbaulichen Umkehrungszwang gewichen, da in ihm die einzige Chance gesehen wird, in die Identität vorgeburtlichen Einsseins zurückzukehren, nach deren Bild denn auch Fechner das Leben nach dem Tod entwirft: Der Geist wird nicht mehr vorüberstreifen am Berge und Grase, er wird nicht mehr, umgeben von der ganzen Wonne des Frühlings, doch von der Wehmut gequält werden, daß das alles ihm nur äußerlich bleibt, sondern er wird Berg und Gras durchdringen und jenes Stärke und dessen Lust im Wachsen fühlen; er wird sich nicht mehr abmühen, durch Worte und Gebärde einen Gedanken in andern zu erzeugen, sondern in der unmittelbaren Einwirkung der Geister aufeinander, die nicht mehr durch die Körper getrennt, sondern durch die Körper verbunden werden, wird die Lust der Gedankenerzeugung bestehen; er wird nicht äußerlich den zurückgelassenen Lieben erscheinen, sondern er wird in ihren innersten Seelen wohnen, als Teil derselben, in ihnen und durch sie denken und handeln.74

Über die nur anscheinend unglückliche Bildwahl von Berg und Gras zur Erläuterung vitaler und spiritualer Utopien läßt sich hinweggehen, wenn man die durchgehende Instrumentalisierung aller Entwicklung gewahrt, die als Ergebnis der totalen anthropomorphen Intentionalisierung angezielt wird. Fechner baut seine Ideologie manifest auf den Zusammenhang des Nichtwissens, da er ihm allein ausreichend elementar erscheint, um seine grenzenlosen Wünschbarkeiten analogistisch extrapolieren zu können. So wenig das Kind in Wahrheit doch von seinen künftigen Organen im Mutterschoß weiß - so wenig können wir in diesem Leben die Funktionalisierung unserer >Handlungen< und Leistungen durchschauen, die sie im jenseitigen Leben gewinnen. Das Erdenleben wird mit einem Mutterkuchenmodell verglichen: wie die Placenta das Kind ausstößt, stößt dieses die Placenta weg, um zu seiner neuen Lebenseinheit vorzustoßen. Die Analogie, die Fechner einmal in Alltags- und Erbauungsdeutsch, dann aber — »dem Physiologen läßt sich bezeichnen72 73

74

Vom Leben nach dem Tode 5. Vgl. zur Diskussion der libidinösen Ausstattung und Lebensverfehlung bei Fechner Imre Hermann, G. T. F., in: Imago, Bd. I. Vom Leben nach dem Tode 4.

185

der sagen« 7 5 - in Wissenschaftlich einschließlich Latein auch unterm Anmerkungsstrich vorlegt, sei in ihrer alltagssprachlichen Wiederholung noch einmal zitiert: Unser ganzes Handeln und Wollen in dieser Welt ist eben so nur berechnet, uns einen Organismus zu schaffen, den wir in der folgenden Welt als unser Selbst erblicken und brauchen sollen. Alle geistigen Wirkungen, alle Folgen der Kraftäußerungen, die bei Lebzeiten eines Menschen von ihm ausgehen, und sich durch die Menschenwelt und Natur hindurchziehen, sind schon durch ein geheimes unsichtbares Band miteinander verbunden, sie sind die geistigen Gliedmaßen des Menschen, die er bei Lebzeiten treibt, verbunden zu einem geistigen Körper, zu einem Organismus von rastlos weitergreifenden Kräften und Wirkungen, deren Bewußtsein noch außer ihm liegt und die er daher, obwohl untrennbar mit seinem jetzigen Sein zusammengesponnen, doch nur im Ausgangspunkte von demselben für sein erkennt. 76

Die Motivation der auf allen geistigen, sozialen und biologischen Ebenen durchgeführten Erbauung ist bei Fechner mit außergewöhnlicher Durchsichtigkeit auf die Erhaltung von Kraft, auf die Ersparung von Verlusten, eine im weiten Sinn konservative Einstellung begründet. Diese >optimiert< jeden natürlichen Prozeß zum Analogon eines übernatürlichen Konservierungs- und Heilsvorgangs. Fechners systematischer Ansatz ist der Versuch, eine optimistische Dauereschatologie als anthropomorphes Aufwertungsbewußtsein einzurichten.77 Was noch keinen gegenwärtigen oder zukünftigen Wert absehen läßt, erhält doch WertFunktionen zugeschrieben, die mindestens als zukünftige nicht falsifiziert werden können. Alle diese Funktionalisierungschancen bündelt der Organismustopos als Leerformel: die naturwissenschaftlich zunehmende Einsicht in die bisher undurchschauten Organfunktionen wird neu angewandt auf humane, noetische und soziale Funktionen. In dieser Leerformel ist auch die Restauration eines antiken Begriffs des Weiterlebens nach dem Tod, einer >materialisierenden< Deutung des Gedächtnisses zu verstehen, das als reales Weiterleben >optimiert< wird. Im Gedächtnis jedes Bekannten und Nachkommen erfolge das Weiterleben nicht mehr unter der Materie-Substanz-Trennung - »Leben« erfährt sodann eine Verselbständigung im Sinne einer überraumzeitlichen Idealwelt. Deren metaphysische Legitimierungs- und Heilungsaufgaben werden traditionellen Überwelt-Konzeptionen entlehnt und in einen möglichst lückenlosen Konnex zur Welt der Materie versetzt. So gerät der Zusammenhang der Dinge zum Zusammenhang des Bewußtseins, da die Lebensform dieser Uberwelt ein Bewußtsein sei, das die gesamte raum75

Vom Leben nach dem Tode 6.

186

76

Ebd. 7.

77

Vgl. dazu >Zend-Avesta< I, 171.

zeitliche Welt als ihren >GegenstandGeburt< in sich hereingenommen habe. 78 An ihr Ziel kommen die Erbauungs- und Nähebedürfnisse, wenn der kategorische Unterschied des Eigenen und Fremden, sei es in erotischer, sozialer oder ontologischer Dimension, getilgt ist. Dem dient das 3. Kapitel des Büchleins. Dort entwickelt Fechner einen beim Wort zu nehmenden Animismus fremder »Geister«, die in den einzelnen Menschen wirken. Wieder wird der Gedanke in bildhafter Anschaulichkeit formuliert, wobei Wortspiele und Toposhaltigkeit der Diktion ins Auge fallen. »Leib und Geist« sind »nur eine Wohnung, worein höhere fremde Geister eintreten, sich verwickeln und entwickeln, und allerlei Prozesse untereinander treiben, die zugleich das Fühlen und Denken des Menschen sind, und ihre höhere Bedeutung für die dritte Lebensstufe haben.

Nach einem Absatz bekräftigt der Folgesatz die Widerspruchsstruktur: Des Menschen Geist ist ununterscheidbar zugleich sein Eigentum und das Eigentum jener höheren Geister, und was darin vorgeht, gehört stets beiden zugleich an, aber auf verschiedene Weise. 7 9

Zur Bezeichnung eines derartig symbiotischen Vitalzusammenhangs, daß Fremdeinwirkung als Eigentum verklärt wird, legt sich, auch jenseits der besonderen individualpsychologischen Triftigkeit bei Fechner, nur der Ausdruck >infantil< nahe. Der Zusammenhang von allem mit allem kann auf dieser Reduktionsstufe nicht mehr als Zusammenhang von Dingen oder Menschen oder Sachwerten oder Verhältnissen reflektiert werden, da Begriffe von Wirkung, Bestimmung und Zusammenhang bereits fallengelassen sind. Fechner pflegt, besonders in diesem Kapitel, die »wechselseitige« Auflösung der Bestimmungsrichtung. Er redet einerseits davon, daß der Einzelmensch die Verknüpfung dieser Geister sei, der unsichtbare urlebenskräftige Mittelpunkt voll geistiger Anziehungskraft, in den alle zusammenströmen, in dem sich alle kreuzen und durch wechselseitigen Verkehr miteinander die Gedanken zeugen 80

78

79 80

Der Begriff der Geburt gewinnt dabei selbst einen über die Subjekt/Objekt-Spaltung hinausgehenden mehrfachen Sinn: das transzendentalistische Apriori der spätidealistischen Naturphilosophie potenziert >Geburt< zur psychologischen, vitalen und theologischen Selbstgeburt eines zu >Welt< aufgewerteten Ichs mit dem Anspruch der creatio rerum. Vom Leben nach dem Tode 17. Ebd. 19.

187

- andererseits wird das Denkbild der Psychomachie, des Kampfes guter und böser Geister um die Seele des Menschen, natürlich nicht fallengelassen, sondern zu einer existenzentlastenden, subjektive Schwierigkeiten ins Geister-Objektive der Fiktionen verschiebenden Projektion genutzt: Der innere Zwiespalt, der so oft im Menschen Platz hat [man beachte die materialistischen Veranschaulichungen!], ist nichts als dieser Kampf fremder Geister... 8 1

Nach den vorgelegten Zitaten dürfte geklärt sein, daß die wesentlichen entscheidungsfordernden und Wahrheitsermöglichenden Distinktionen im selbstwidersprüchlichen Erbauungssystem des Fechnerschen Denkens hinfällig sind: es geht darum, die auseinandersetzungstragenden Begriffspaare wie >Freiheit/Notwendigkeitkörperlich/geistigwahr/ falsch< durch Mischung zu liquidieren.82 Die geistesgeschichtliche Herkunft dieser Liquidierung ist im Bilderund Vergleichsvorrat der theologischen Traditionen und ihrer reflexionsfreieren Anwendungen zu suchen. b) Bibelzitat und amplificatio Die von Fechner erzwungene Zusammenführung von Naturwissenschaft und Theologie verschafft seinen Schriften im ganzen den Charakter einer naturphilosophischen Exegese der theologischen Lehre vom corpus Christi mysticum. Sicherlich fallen in ihrer Kontamination die fachspezifischen Aussageinhalte weg, aber das sollen sie auch. Nicht entfallen die überfachspezifischen und sozialintegralen Wirkungsziele. Bibelzitate werden als Autoritäts- und als fachliche Legitimationszitate zugleich eingesetzt. In einer Steigerung sondergleichen wird in dem 3. Kapitel des »Büchleins vom Leben nach dem Tode« der Verdacht, »das Fortwirken des Geistes der gestorbenen Menschen in den Leben« sei nur »als ein leeres Gedankending« zu werten, historisch falsifiziert, nicht ohne daß vorher der Naturwissenschaft die Rolle zugeteilt würde, den entwicklungsgeschichtlich konstruierten Organmangel eines »höheren Sinnes« einzumahnen — die metaphysischen Organe zur Erfassung des Zusammenhangs der Dinge seien uns noch nicht >gewachsenBelege< für »unsern Mythus von den Engeln«. 89 Es wird aus der »Christlichen Glaubenslehre« von Strauß passagenweise zitiert, als antike >Quelle< wiederholt aus Ciceros »De natura deorum« (so »ZendAvesta« I, 142, 147 u. ö.), Verweise auf die Veden (nach Ritters »Geschichte der Philosophie«, I, »Zend-Avesta« 1,227) und auf persische Kosmologie (1,266 und 1,342ff.) und immer wieder, an den 87

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Ebd. 4 3 . Die theologische, genauer alttestamentarische Herkunft der Spiegelmetapher, die für ontologische und noetische Belange herangezogen wird, erhellt auch an mehreren Stellen des »Zend-Avesta«, so 1 , 2 2 9 und 230f., w o auch Weish. 7, 2 5 . 2 6 angegeben wird. Vgl. dazu auch 1,236. Der wissenschaftlichen Erkennbarkeit seiner Thesen gibt Fechner etwa S. 61 (mit Verweis auf seine »Elemente der Psychophysik« und seine »Atomenlehre«), SS. 62, 66, 7 1 Hilfestellung. Traditionalistisches Festhalten am »gewachsenen Glauben an die Heiligkeit des Bibelwortes« ist für ihn die restituierbare Voraussetzung der Religion: » D a ß wir philosophische Systeme mit der Prätension, das Vernünftigste in allem Höchsten und Letzten zu bieten, von Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Herbart, Feuerbach, Schopenhauer, Hartmann usw. haben, macht nicht nur nicht, daß wir heute noch eine Religion haben; vielmehr haben wir sie k a u m noch wegen und zum Teil nur noch trotz dieser Systeme« - s o heißt es in der späten Zusammenfassung seiner Weltanschauung, in der 1 8 7 9 erschienenen »Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht«. Zend-Avesta 1,144.

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»zentralen Knotenpunkten« (um mit Fechner zu sprechen), wo die Übereinstimmung der ursprünglichen heidnischen mit den christlichen Anschauungen bewiesen werden soll, aus dem 1. Korintherbrief. So wird das XI. Kap. von » Zend-Avesta «, »Von Gott und Welt«, mit einer paulinischen Formel der monotheistischen Affirmation eingeleitet: »Und es sind mancherlei Kräfte, aber es ist Ein Gott, der da wirket alles in allen«. (l.Cor. 12, 6.)90 In der Großanlage seines bewußt als neue Bibel angebotenen synkretistischen Welterklärungswerks wiederholt sich die im kleinen aufgewiesene Belegstruktur, denn nach dem >Theorieteil< der Theologie und Naturwissenschaft synthetisierenden Verknüpfungsthesen des Kap. XI folgt als nächstes der »religiös-praktische und poetische Gesichtspunkt«. 91 Es arbeitet mit äußerster Vereinfachung des Vokabulars, mit direkter Leseranrede und fiktivem LeserAutor-Dialog, schließlich mit einer Technik der Identifikation, der eine brutale Überredungswirkung nicht abgesprochen werden kann. Fechner stellt die Zweifel seines Lesers an der These dar, »Gott in die Natur verwickelt denken, statt darüber erhaben?«, weist daraufhin seine Autorschaft für diese These zurück: N i c h t ich habe diese Lehre erfunden, du bekennst sie in deiner Religion; d u glaubst nur selbst nicht, w a s du bekennst.

Daraufhin erfolgt der scholastische Imperativ an den Leser: Antworte: Bekennst du nicht selbst, daß G o t t der Urquell, Schöpfer deines Geistes ist. Aber w a s der Geist Geistiges schafft, das verläßt ihn n i c h t . . .

Wieder gibt der Autor die Gegenfrage zurück: U n d erkennst du nicht selber an u n d hältst es für ein schönes Wort, d a ß Gott in dir u n d allem lebt u n d w e b t und wirkt u n d ist, u n d du in ihm? 9 2 90

Ebd. 1,199. Ein umkehr-analogistisches und teilweise agnostizistisches Zitat aus Paulus findet sich 1,252: »Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, ohne den Geist des Menschen, der in ihm ist; also weiß auch niemand, was in Gott ist, ohne den Geist Gottes.« (l.Cor. 2, 11) Das 30. Kapitel des »Zend-Avesta« glaubt in einer endlosen Reihe von NT-Stellen »Bezugspunkte unsrer Lehre zum chrisdichen Leben insbesondere« vorlegen zu können; hier auch 11,425 eine Häufung von Belegen aus den Korintherbriefen. " Zend-Avesta 1,294-313. 92 Ebd. 1,294f. Die Tilgung des Fremdmoments in der Theologie formuliert sich anschließend folgendermaßen: »Indes du von einem Gotte sprichst, Hort und Quell alles Geistes, der in dir lebt und webt und ist, und du in ihm, Herzenskündiger, Einigen, Unendlichen, Allgegenwärtigen, Allwissenden, Alliebenden, Allgütigen, Allbarinherzigen, Allgerechten, willst du auch wieder dich ihm äußerlich gegenüberstellen, wie du deinem Nachbar dich gegenüberstellst ... als gab's für euch kein Band in Gott, du rechts, er links, Materie zwischen euch, Gott oben..., ihr auf der Erde, zwischen Himmel und Erde, welcher Zwischenraum.« (1,296f.)

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So gehen die semantischen Schachzüge Fechners, der auf jeder Position eine zugfreie universalistische Beziehungspotenz einzusetzen hat, einige Seiten weiter, bis sich die Szene zur Poesie öffnet und der Dichter, »den wir gern erheben über alle andern«, 93 als Präzeptor der gewünschten Einheit des Bekenntnisses von Dichtung und Philosophie auftritt: Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in sich, sich in Natur zu hegen, So daß, was in ihm lebt und webt und ist, Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.

Fechners stehende Formelhaftigkeit des Sprechens erweist sich in wesentlichen Teilen als Versuch, Goethesche Prägungen des Einheitswissens rekurrent und >allverbindlich< zu machen. Die Orientierung an Goethe verbindet sich mit der größten Wertschätzung Rückerts, aus dessen Gedichten, vor allem aus der »Weisheit der Brahmanen«, mehr als zwei Dutzend poetischer Verdeutlichungen der Welteinheit im » ZendAvesta « eingesetzt sind. 94 Eine weitere Sammlung von Belegen folgt aus dem »Cherubinischen Wandersmann« von Angelus Silesius. Aber Fechner versucht in der Einleitung dazu abzuklären, daß das Einheitsverhältnis von Gott und Mensch »wenigstens im Ausdruck nicht hinreichend von einer Gleichstellung oder Identifizierung Gottes mit dem Menschen [...] unterschieden ist, da doch das Einzelne nie dem Ganzen gleichgestellt werden darf«. 95 Gleichwohl ist die Rolle der Aufwertung menschlichen Bewußtseins bei den bevorzugten Dichtern identisch mit Fechners eigener Erbauungsintention. Seine »Glaubenssätze in bezug auf das Übel. Beziehungen derselben zu den christlichen Ideen« — so ein Kapitel aus der »Tagesansicht« - stehen nach seiner Auskunft als universalistische Umprägung des Christentums in Konsens mit dessen »heilsamen und trostreichen Folgerungen«. 96 Solche werden strophenweise zusätz93 94

95

96

Zend-Avesta 1 , 3 0 1 . Vgl. Zend-Avesta 1,12, 147, 148, 199, 2 3 5 , 2 4 9 , 2 5 5 , 3 0 3 - 3 0 7 , 3 3 1 . »Unter den neuern Dichtern weiß ich keinen, der den Gedanken eines in allen individuellen Geistern und in aller Natur lebendig waltenden Gottes öfter, schöner und mit dem Gepräge tiefergehender Überzeugung, statt wie gewöhnlich bloß in poetischer Verbrämung, ausgesprochen, als Rückert, daher ich so gern auf Stellen von ihm Bezug nehme. Hier noch eine kleine Sammlung von solchen, in denen so ziemlich die ganze bisher vorgetragene Lehre von Gottes Verhältnis zu den Einzelgeistern und zur Natur enthalten ist [...]. Nicht besser wüßte ich zu zeigen, daß diese Lehre, die sicher nicht bloß eine poetische ist, die von ganz andern als poetischen Gesichtspunkten her entwickelt ist, a u c h eine poetische ist.« (1,303) Zend-Avesta 1 , 3 0 7 . Fechner zitiert nach der von Varnhagen van Ense veranstalteten Ausgabe Silesius' und Saint Martins, 3. Aufl. 1849. Tagesansicht 157.

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lieh aus dem Schatz des Kirchenliedes und der religiösen Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts zitiert (so von Paul Gerhard, von Geliert, Fleming u. a.). Die Antwort auf die Glaubensfragen seiner Zeit, die Fechner mit der summierenden Zusammenstellung von Glaubenssätzen in den großen Erbauungsschriften des » Zend-Avesta «, des »Büchleins vom Leben nach dem Tode«, der »Tagesansicht« und der »Drei Gründe und Motive des Glaubens« gegeben hat, ist ausdrücklich zu verstehen als Versuch, diesen kirchlichen Lebenstrost zu »retten«. So gibt es der Naturwissenschaftler mehrfach zu erkennen, und er gibt in diesem Sinn Kostproben seiner Selbsterbauung in der Zeit der großen Krankheit wie jenes siebenstrophige Lied »Trost in Trübsal«, von 1841, das die persönlichen Hinweise in »Tagesansicht« abschließt.97

c) Analogiesucht und Metaphorisierung als Denkauflösung Es würde keinem kritischen Textbegriff entsprechen, wollte man den Schein des medialen Unterschieds zwischen dem kleinen »Büchlein vom Leben nach dem Tode« und den Uberdimensionen des »Zend-Avesta« für aussagekräftig hinsichtlich der Meinung und Intention beider Textgestalten halten. Die rhetorischen und fachwissenschaftlichen Aufschwemmungen variieren als persuasive Amplifikationen den in seiner Unbestimmtheit gleichen Kern. Der Textbildung ist in unendlicher Vielfalt der Beleg zu entnehmen, wie ausgeführter Vergleich als demonstrative Analogie und als verkürzte Metapher dasselbe Aussagegewicht tragen. Um präzis zu erfassen, welche intentionalen Grundannahmen der rekurrenten Analogik der Fechnerschen Texte zugrundeliegen, ist die Frage nach den Zielen der analogischen Verfahren zu stellen. Das Ziel besteht in der >Nahelegung< der empirisch nicht beweisbaren bzw. unwahrscheinlichen Annahmen der Glaubenswelten. Dementsprechend besteht der inhaltliche Kern der Fechnerschen Vergleiche in einem transzendenten VerhältnisZugehören< nicht zuletzt geht. Der Frage nach der Erkennbarkeit der metaphysischen >Welt< hat Fechner sich oft genug gestellt, um von der Schwierigkeit einer bejahenden Antwort ausgehen zu können. Dafür hat er einen weiteren Naturvergleich gefunden: So hoch der Flug und das Auge des Vogels über dem langsamen Kriechen der blinden Raupe schwebt, die nichts erkennt, als was ihr träger Schritt berührt, wird jene höhere Erkenntnisweise sich erheben über die unsre."

Erst in einer höheren »Ordnung der Dinge« wird der Mensch »auf einmal unvermittelt in sich haben, schauen und genießen«, was »an die Stelle jener erloschenen niedern Tätigkeitsweise« 100 treten wird. Die Direktheit des Genußwunsches dokumentiert, wie sehr es um die Kontinuität irdischer, aber trotzdem irdisch verwehrter Erwartungen geht. Als Modell des direkten Zugangs figuriert nicht zufällig in diesem Vergleich das Auge - es ist Organ des als »himmlisch« interpretierten, schon als Glaubensgegenstand metaphysisch aufgewerteten kosmischen »Lichtverkehrs«.101 " Vom Leben nach dem Tode 44. Vgl. dazu die nach Möglichkeit noch einfachere Verbildlichung in der »Tagesansicht« : »Der Geist des Menschen erstreckt seine Folgen in den allgemeinen Geist, und der Leib des Menschen in die allgemeine Welt der körperlichen Dinge, die diesen Geist trägt, hinein«. Es gelte »nicht, den Geist von der Materie abzulösen, sondern den Weg, den der Geist diesseits mit ihr geht, ins Jenseits fortzuführen. / Die Saite verklingt und der Ton entschwebt in die Luft, das ist, einfachst ausgedrückt, das Verhältnis zwischen Diesseits und Jenseits.« (40f.) " Ebd. 48f. 100 Ebd. 49. 101 Ebd. 47 heißt es: »[...] im Augenblicke des Todes, wo eine ewige Nacht das Auge des Körpers überzieht, wird es zu tagen beginnen in seinem Geiste«. Vgl. dazu Tagesansicht 26: Das allsichtige Auge Gottes der Theologie wird hier neu paraphrasiert als attributives Analogon des menschlichen Sehens, zugleich aber als universale >Welt-Sichtigkeit< Gottes: »Warum nun soll Gott noch ein Auge wie du und deins brauchen, um einheitliche Strahlenpunkte über dich hinaus zu gewinnen, da er die strahlenden Punkte der Außenwelt selber dazu hat. Statt deiner Netzhaut, oder vielmehr hinter ihr und allen Netzhäuten der Geschöpfe überhaupt, hat er als Netzhaut die Oberfläche der Dinge selbst; das ist die allgemeinste und fundamentalste, die es gibt.« Die in vielen Werken, besonders ausführlich im »Zend-Avesta« vorgeschlagene Mythologisierung

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Der Ausdruck »Lichtverkehr« ist eine Grundmetapher Fechners, deren Bedeutung in der Darstellung einer gerafften >Transzendenzbeziehung< liegt. »Verkehr« weist auf die Gegenseitigkeit eines je über sich hinausgehenden Verhaltens. Was sich in der Konjektur des Kompositums ereignet, verwirklicht sich im Gebrauch transzendenz- und immanenzverweisender Präpositionen. Formalisiert wird das >Transzendierungsbedürfnis< ausgedrückt mit der verbalen wie substantivischen Ausdrücken applizierten Präposition »über — hinaus«. Diese Prägung tritt besonders in dem Buch der »Tagesansicht«, das die radikale Überbietung der Nachtansicht mit ihrer geschwächten Sehkraft programmiert, in einer typischen Konstellation auf, die auf alle transzendierungswürdigen Dinge, Verhältnisse und Werte anwendbar wird: Nach der »Tagesansicht« reicht »die Beseelung über Menschen und Tiere hinaus in Zusammenhang durch die Welt«. 102 Mit Präpositionshäufung und Präpositionswechsel müssen die Durchdringungsverhältnisse der Allgegenwart des Zusammenhangs der Dinge präsent gemacht werden. Alle Dinge sind Teilhaber der durchgehenden Beseelung, diese ist aber auch als »der Schluß von einer Stufenleiter, die in uns selbst besteht, über uns hinaus da«. 1 0 3 Mit diesem Präpositionalmodell bestreitet Fechner im Grunde seine Analogisierung der Selbsterfahrung als Grundlegung der Jenseitslehre; damit aber hat er von Anfang an seine >paradoxen< Vereinheitlichungen vorgenommen. Die Präpositionalmodelle, die grobe sprachliche Zuordnungsdifferenzierungen ermöglichen, verlieren allerdings dort ihre semantische Kraft, wo es nur um die Affirmation des Einheitlichen im Distinkten geht. Ortsprädikationen und Richtungsweisungen verlieren im tertium cornparationis der Allgegenwart Gottes ihren Sinn. 104

102 103 104

des Auges, des Sehens ist als interessante Eigenwert- und Erlebnisprojektion Fechners für eine Modelltheorie weltanschaulicher Projektivität ebenso zu werten wie als umgangssprachlich-pseudowissenschaftliche Vorbereitung der jugendstilzeitlichen Mythologie der Vision. Unter streng psychologischem Gesichtspunkt wären etwa die »zusatzweisen Betrachtungen über das Sinnesgebiet der Erde« Zend-Avesta II, 65—84 als reflexiv gehemmte Ersatzphantasien mit dem Impuls einer Erweckungsaffektion zu analysieren. Tagesansicht 2 9 . Ebd. Ebd. 2 2 4 heißt es: » W a s irgendwie die Wesen unterscheidet, die auf verschiedener Stufe zueinander stehen, das schlägt im Obergang zu Gott, dem Ab- und Einschluß aller Stufen, ins Absolute u m ; was ihnen ist gemein, das ist in Gott allein ganz, rein und voll begründet.« Die sprachliche Orientierung der Präpositionalspekulation an neutestamentlichen Beständen wird u. a. in der Vorrede zum »Zend-Avesta« sichtbar, wo die >Entfesslung< der Vernunft zum Glauben am Gleichnis vom Lösen des Schuhriemens thematisiert wird und damit begründet wird, daß Christus »noch heutigen T a g e s

195

U m den im religiösen K o n n e x relativierten Selbstand der Dinge n o c h a n z u z e i g e n , w e n d e t F e c h n e r die S p i e g e l m e t a p h e r a n t h r o p o m o r p h m ö c h t e sagen: schneewittchenhaft -

man

auf Gott an:

W i e h o c h aber G o t t a u c h stehe mit seinen Geschöpfen, h a t er sie doch zu Spiegeln seiner H ö h e und Herrlichkeit. Kein Geschöpf ist s o niedrig und klein, d a ß es nicht einen G o t t bedeutete für einen Wirkungskreis, der unter sich n o c h Tieferes begreift. 1 0 5 Der

Mißbrauch

der

Präpositionen

ergibt

sich

zwingend

aus

einem

D e n k e n , d a s n u r d a s Z i e l k e n n t , alle R a u m v e r h ä l t n i s s e u n d D i n g g e g e b e n h e i t e n a u f z u h e b e n . V o n d e n S ä t z e n , d i e als B e i s p i e l

hypertropher

R e k u r r e n z und sinnentleerter Rhetorik Fechners naturklerikale p e n d i e n f ü l l e n , sei e i n e r z u r V e r d e u t l i c h u n g d e s G e s a g t e n

Kom-

herausge-

griffen: A b e r G o t t , und nur eben Gott, ist als Schöpfer und G e s c h ö p f sich selbst gleich; g a n z sein eigener Schöpfer, g a n z sein eigen Geschöpf, aus nichts erwachsen, denn aus sich selber, ergänzt sich mit nichts a n d e r m , ist selbst g a n z ; d o c h alles ist aus ihm erwachsen, ergänzt sich in ihm, zu i h m . 1 0 6 D i e P r ä p o s i t i o n e n v a r i a t i o n ist e b e n s o als M i t t e l d e r R h e t o r i s i e r u n g u n d als S i g n u m der E r b a u u n g s d i d a k t i k z u sehen w i e die a u ß e r g e w ö h n l i c h hohe Ausstattung der Fechnertexte mit anaphorischen Strukturen, etwa m i t K e t t e n b i l d u n g e n v o n rhetorischen F r a g e n . 1 0 7 Selbst die L ä n g e d e r Sätze,

die m i t zugleich e i n h ä m m e r n d

und einschläfernd

rekurrenten

S y n t a g m e n u n d S e m a n t e m e n d a s B e h a u p t e t e in d i e R e z e p t i o n z w i n g e n ,

105 106

107

lebendig nicht nur zwischen und unter uns, sondern auch in uns [wandelt], also, daß er durch uns an sich selber tut, was wir an ihm zu tun meinen. So ist mein Glaube« (ZendAvesta I, XVIII). Andererseits ist Fechners Glaube so eingeschränkt wieder nicht: Zu Beginn des Textes erfährt man, daß er doch eigentlich den Vorzug den heidnischen Ansichten gibt: deren polytheistische Vielfalt liefert nämlich »tausend Einzel-Anwendungen« seiner Glaubensbereitschaft (Ebd. 1,6). Ebd. 2 2 5 . Ebd. Über die Zwänge des anthropomorph analogisierenden Denkens geben Folgerungen Auskunft, die im pantheistischen Vorstellungsbereich des 19. Jahrhunderts mehrfach erscheinen. Fechner hat die aufwertende Analogik seiner »anagogischen« Naturtheologie bis zu der Konsequenz weitergeführt, daß er Gott den Komparativ des Leidens zuschreibt: »Ja Gott wird über uns alle hinaus noch größere und höhere [diese Adjunktion ist ihrerseits ein zur Metaphorik führendes Syntagma] Leiden als wir empfinden, die aus Beziehungen erwachsen, welche über das einzelne Geschöpf hinausgreifen [...]; aber ebenso wird er Ergänzungen und Versöhnungen dieser Leiden aus höheren Gesichtspunkten in sich tragen, die über uns hinausgreifen [...]« (Tagesansicht 82) Vgl. ζ. B. Zend-Avesta 1 , 1 6 0 - 1 6 9 , wo eine Massierung von rhetorischen Fragesätzen als Abschnittseröffnungen auftritt, also eine sehr prägnante Form der irrationalen und demagogischen Impulsgebung vor neuen Denkschritten. 196

gehört zur apodiktiv-indiskursiven Ausstattung dieser Belehrungsprosa. Von weiteren stilistischen Merkmalen sei nur noch auf die häufige Brechung der hypotaktischen Syntax zugunsten einer additiven, Umgangs- und redesprachlichen Parataxe hingewiesen. Eine erkenntnisverwehrende Struktur von besonderer Wirksamkeit erscheint in der Weise, wie der kleinste gemeinsame Meinungsnenner eingefordert und abgefragt wird. Wir verweisen auf die oben bereits zitierte Stelle, in der Gegenargumente prärogativ vorgesprochen, ihre Beantwortung durch rhetorische Gegenfragestellung mit Lieferung des insignifikantesten Implikats mehrdeutiger Terminologie erzwungen wird. 108 Im Terror der Bekenntnisabfrage und der appellativen Supposition dürfte der milde Naturverklärer Fechner kaum zu überbieten sein. Fechner hat nahezu das ganze überkommene Arsenal der kosmologischen Vergleichsbilder und Metaphern in sein Reden eingebaut. Seinem vereinnahmenden Griff gelingt es, selbst Feuerbach als Zitatquelle zu nutzen. 109 Im ganzen aber scheint seine Neigung doch eher älteren, aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Weltvergleichen zu gehören. So verwendet er mehrfach den Uhren-Vergleich, wobei er sich aber mit seiner an sich leibniznahen Auffassung vom »psychophysischen Parallelismus« für eine entschiedenere Immanenz des Geistes ausspricht. Fechner nimmt semantische Momente aus dem Uhrengleichnis beliebig heraus. So ist in »Zend-Avesta« II, 348 vom Werkmeister die Rede, welcher der Uhr - also der Natur — innewohne, anderseits versucht Fechner das Gleichnis im Sinn des Immanenz-Motivs ganz als Automaten anzubieten. Die naturbürtige und zugleich transzendentale Automatik wird dann mit der Binnen-Differenz einer »innerlichen« und einer »äußerlichen« Ansicht wieder ausgestattet. Fechner selbst gesteht die Nähe zur Leibnizschen prästabilierten Harmonie zu, ergänzt jedoch kritisch: Wenn aber nach Leibniz Seele und Leib gleichnisweise zwei Uhren sind, die miteinander zusammenpassend, doch ganz unabhängig von einander, nur vermöge ihrer guten Einrichtung durch Gott nie von einander abirrend gehen, ist es nach uns vielmehr eine und d i e s e l b e Uhr, die sich selbst in ihrem Gange als geistig sich regendes Wesen und einem Gegenüberstehenden als ein 108 109

Vgl. oben S. 267 = Zend-Avesta 1,294. Vgl. Zend-Avesta II, 393, wo aus Feuerbachs »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« vier Stellen wiedergegeben werden, die vom anthropomorphen Bild-Denken der »kindlichen Menschen« sprechen. (Vgl. dazu L. Feuerbach, Werke in sechs Bänden 1975, 1,77ff. Feuerbach hat der anonymen Schrift ein Motto aus Goethes »Prometheus« vorangestellt, die Stelle, wo vom verirrten »Kind« gesprochen wird, das sein »verirrtes Auge / Zur Sonne« kehrt.)

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Getriebe und Treiben materieller Räder erscheint. Statt prästabilierter Harmonie ist es Identität des Grundwesens, was beide Erscheinungen zusammenpassend macht. Es bedarf dazu keines Gottes als äußeren Werkmeisters, doch wohnt Gott selbst als Werkmeister in seiner Uhr, der Natur. 1 1 0 Wieder zeigt sich, daß die Allgegenwart der Innen/Außen-Teilung die kritische Zurückweisung traditioneller Bilder blockiert. Indem er die Tautologie eines »äußeren Werkmeisters« bemüht, ruiniert Fechner die Denkmöglichkeit der Immanenz: sie gerät ihm eben zum >inneren Werkmeistern Die von ihrer Doppelung zum Rücklauf gezwungene Metaphorik erzeugt Absurdität von Vorstellungen und löst ein kritisches und analytisches Denken in sich auf. Im Gefecht der Kombination der im romantischen Denken noch in Distanz gehaltenen Innen- und AußenDimensionen bleibt progressives Erkennen hängen, es verweist nur noch auf sich selbst als mikrokosmischen Knoten. N e b e n der schon diskutierten Spiegelmetaphorik tritt häufig eine weitere technomorphe Gleichnisebene auf, die besondere Eignung für die Rangbedürfnisse der zugrundeliegenden Weltanschauung hat. U m » d a s Höhere« zu »versinnlichen«, verwendet Fechner oft Architekturund Hausmetaphorik. So ist ihm natürlich auch die Erde ein H a u s mit entsprechenden rangklärenden Treppen. 1 1 1 Den Wertungskonflikt zwischen Mensch und Erde - »der Mensch ist wirklich die höchste Stufe der irdischen Treppe, da geht nichts darüber« — löst Fechner mit dem Überbietungsmodell: » d a s Haus, worin die ganze Treppe eingebaut ist, ist noch etwas selbst der höchsten Stufe Übergeordnetes«. 1 1 2 110

111 112

Zend-Avesta II, 152. Weitere Stellen der Uhr-Metapher: Zend-Avesta 1,13, 78, 79. Kennzeichnend für eine besonders wirkungsvolle Form der inventio der Fechnerschen Witzlehre der Natur ist die Technik der Rückanwendung einer Analogie: »Die Erde ist solchergestalt ihre eigene Uhr. Alle unsere Uhren müssen von ihr lernen; ihre Räder werden im Grund alle gemeinschaftlich aufgezogen, getrieben und geregelt durch das große Rad der Erde [...]. Während aber unsere Uhren immer bloß eine Zeit auf einmal anzeigen, zeigt die Erduhr alle Tagesstunden, Minuten, Sekunden zu gleicher Zeit an [...]« (Ebd. I, 78). Gegen Leibniz wendet sich Fechner am Ende des »Zend-Avesta« bei Wiederholung der Analogien zwischen Tod und Geburt (II, 337f.). Auf die Doppeldeutigkeit des Uhren-Gleichnisses hat bereits F. Lienhard hingewiesen: »Das >Miteinandergehen< von Leib und Seele, das >Korrespondieren< ihrer Veränderungen ist viel einfacher als mit den okkasionalistisch gerichteten oder prästabil harmonisierten beiden Uhren zu erklären durch die Selbigkeit der einen Uhr, die sich innerlich als Intelligenz und Trieb, andern als Räderwerk erscheint«. (Der Gottesbegriff bei G. T. F. 34). Vgl. Zend-Avesta 1,195 und 235. Ebd. 1,195. Über die Qualität Fechnerscher Analogiefindung belehrt - als Beispiel für den technomorphen Hausbau-Topos zitiert - eine Stelle aus »Die drei Motive und Gründe des Glaubens« (1863): »Die Welt ist größer als mein Haus, also wird auch ein größerer Jemand sein, der die Welt gebaut hat. Mein Körper bewegt sich unter dem Einflüsse meines Gefühles und Willens, auch Sonne, Mond, das Meer, der Wind wird

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4. Sprachverödung durch Synonymisierung a) Umgangssprachlichkeit und »Zweistandpunktbetrachtung« Spiritualistischer Provenienz ist der vornehmlich in Mystik und Pietismus, dann auch in romantischer Literatur verwendete Vergleich des Lebens und der menschlichen Situation mit Sprache oder Schrift. Fechner beginnt die Darlegung seiner »Grundansicht über das Verhältnis von Körper und Geist« 1 1 3 mit diesem Vergleich. Die ganze »Darlegung« verbraucht auf ihren mehr als zwei engbedruckten Seiten vielfache Vergleiche, dann heißt es rekapitulierend: Gehen wir v o m Bilde zur Sache über: Stellen wir uns einen Menschen vor, welcher denkt, empfindet, so kann ein anderer, welcher in sein Gehirn, seine Nerven hineinblickt, nichts von seinen darin vorgehenden Gedanken und Empfindungen w a h r n e h m e n . 1 1 4

Auch diese Stelle belegt den in Fechners Denkbemühungen verfestigten metaphorischen Zwang der vorsprachlichen, anschauungshaften Fragekonstellation: ungeschieden treten Vorstell-Anweisung und triviale Erkenntnismetaphorik nebeneinander. Deren Gegenstände sind im Zuge ungestoppter Synonymisierung nicht mehr greifbar (hier sind über die synonyme Reihung von »Gehirn« und »Nerven« die nicht genannten Begriffe »Bewußtsein«, »Seele«, »Geist« als Äquivalenzen anzusetzen). In der Kombination des logisch Widersprüchlichen, das oft genug nur in der Hülle der gesunkenen Metaphorik gegenwärtig wird, bleibt die metaphorische Struktur des Widerspruchs selbst erhalten und mündet in noetische Aporie. War in den Satiren der spekulativ hochgetriebene Verschleiß an Analogien kritisiert, so rekrutiert Fechner in den späteren Schriften seinen Analogismus aus der Trivialstilistik. Mit ihr möchte er dem Leser nahelegen - in keineswegs uninteressierter Blindheit der Abstraktion - in seine Nerven hineinzuschauen; wäre entweder die Verbalphrase »hineinschauen« oder der Objektbereich Metapher, so läßt der persuasive Schein des >VorstellungsZend-Avesta< 1,21: »Jeder Mensch ist wie ein lebendiges Wort, das bloß seinen Sinn hat und fühlt, die Erde ist eine Rede, welche den Sinn aller dieser Worte, aber noch etwas Höheres als diesen Sinn der einzelnen Worte hat und fühlt [...]«. Ebd. 132.

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eines Differenzbewußtseins nicht zu. Fechner will dem Zwang zur Übertragung und Uneigentlichkeit unterliegen, gerade wenn er sich der Sache zuzuwenden scheint. Dieser Uneigentlichkeitszwang hat historische Bedeutung als Stil der Abstraktion, die deutsches Denken des 19. Jahrhunderts unkorrigierbar prägte, aber auch als Trivialität einer Welteinstellung, deren wissenschaftliche Aufmerksamkeit zurückgebunden ist an bedauernswerte Sprachverödung. Den Zusammenhang dieser Verödung des Sprachbewußtseins — der unerträglichen Pleonasmen, Irrationalismen und rhetorischen Aufblähungen des Stils - mit einer ängstlich rudimentären Theologie versucht unsere Analyse aufzuweisen. So wird zunächst noch auf das explizite Sprachbewußtsein Fechners einzugehen sein, um dann die einzelnen Momente der Sprach- und Denkauflösung hervortreten zu lassen, nicht ohne auf die Beziehung zum Verfall des historischen Denkens hinzuweisen. Die Sprachschwierigkeiten Fechners sind auf das Mißlingen der Bewältigung der Einheitsforderung seiner Weltanschauung zurückzuführen. Mit der Methode totaler Projektion läßt sich der Abbau eines Zweiwert-Systems, wie es die tradierte Weltauffassung mit der Scheidung von Physik-Metaphysik und Geist- bzw. Gottwelt und Erdendasein vorsieht, dann nicht durchführen, wenn die Zweiteilung doch gelten soll. Dem simpel analogisierenden Übertragungsmechanismus ist es zuzuschreiben, daß die im Weltbegriff getilgte Dualität im Gottesbegriff, bzw. in der Beschreibung seiner Werthierarchie, wieder auftaucht. Hatte Fechner im »sachlichen« Teil seiner »Theologie der Tagesansicht« 115 in projektiver Weise Gott mit allen negativen Attributen des Menschseins, mit Kümmerlichkeit, Schmerz und Leid ausgestattet, so muß er diese »paradoxe«, vom Lexikon nicht vorgesehne Zuschreibung zu Beginn des Folgekapitels, der »Sprachliches« dieser Theologie thematisiert, in einer Weise auffangen, die der ganzen unprädikativen Denkweise bloßer Formalisierung entspricht: er teilt Gott in untere und höhere »Stufen«, und dessen absolute Vollkommenheit ist »nur in den unteren Gebieten seines Geistes [...] nicht zu finden«. 116 Emanations- und Evolutionstheoreme, pantheistische und personalistische, welthistorische und bewußtseinsideologische Philosopheme treten in Fechners >Synthesen< synkretistisch zusammen. »Mit dem emanatisch-remanatischen Pantheismus Plotins«, so wird es in älterer Literatur 115 llé

Tagesansicht 79-82. Ebd. 82.

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formuliert, »hat er die Stimmung weithin und den Stufenbau gemein«. 117 Fechners wissenschaftliche Hauptkonstruktion, der »psychophysische Parallelismus«, entspricht in stimmiger Umkehrung dem, was unter dem Druck der Enzyklopädistik im 18. Jahrhundert als »physikotheologisches« Denken den Ausgleich der widerstreitenden Paradigmata suchte. Im 19. Jahrhundert der deutschen Naturphilosophie ist der bestimmende Vorrang des Seelischen gesichert: Gott wird als »Weltseele«, als »Naturseele«, als »Allgeist« gedacht, wobei - wieder unter dem fachwissenschaftlichen Druck der Physiologie - die Organismus-Ideologie die Nafebeschreibung der Dinge, schließlich der Welt liefert, — die »synthetische* philosophische Beschreibung wiederholt jedoch die traditionelle Leib/Seele-Auffassung, wonach »organisierendes* Prinzip nur die Seele sein kann. Daraus wird die Gleichzeitigkeit von Dualismus und Parallelismus in der Psychophysik verständlich, deren Argumentation auf die Identität von Leib und Seele, Natur und Gott hinauslaufen soll.118 Entsprechend schillert die Anschauung der Natur: ist sie »System der materiellen Punkte«, so zugleich »Allorganismus«. Sie ist synonym mit »Welt«. Der Weltbegriff wiederum wird als »Inbegriff der äussern Erscheinungswelt« definiert.119 In beiden Begriffen setzt sich jedoch eine transzendentalistische Wertung durch, wenn es — innerhalb der »Wechselbedingtheit« - um eine Rangordnung geht: »Natur und Allgeist sind zusammen eins; jene als Gesamtheit der äusseren Erscheinungen abstrahiert vom Geist, der sie hat, dieser als Selbst- oder innere Erscheinung der Gesamtheit, des Weltganzen«. Nachdem Lienhard die Identität von »Natur« und »Naturseele« festgestellt hat — ohne mit dem nötigen Nachdruck in dieser Gleichsetzung die Identifizierung von Teil und Ganzem zu erkennen, kommt er notwendig zur Kritik dieser »Zweistandpunktbetrachtung«: sie lasse sich doch »nicht bis auf das Universum, also auf Fechners Gott, ausdehnen«. 120 Ein späteres Ergebnis seiner Untersuchung läßt sich als latent weltanschauungskritisches Moment auf die philologische Sichtweise beziehen, 117 118

119 120

F. Lienhard, Der Gottesbegriff bei Fechner 2. Lienhard stellt ebd. 11 Fechners »Abweisung der Frage nach den beiden Erscheinungsweisen zugrundeliegenden Wesen« fest. Er verweist mit Recht auf Stellen, in denen Fechner - dank wissenschaftlichen Kontexten — die Frage offen läßt, »ob nicht schließlich die ganze Welt eine einheitliche psychische Resultante gebe; dann fehlt uns aber wenigstens das Bewußtsein dieser Einheit«: so Fechner in der 1882 geschriebenen »Revision der Hauptpunkte der Psychophysik« II, 519. Zit. nach Lienhard, Der Gottesbegriff bei Fechner 11. Ebd. 13f.

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die uns auf jeder Seite Fechners Paradigmenwechsel zeigt. Spricht Lienhard von der »Verschiebung der Identität des Grundwesens auf die der Erscheinungsweisen«, 121 so ist das von der Annullierung des Unterschieds zwischen Wesen und Attribut, Grund und Erscheinung überhaupt abzuleiten. Fechners »Koordinationsparallelismus« 122 ist unter sprachtheoretischem Aspekt die einfache Folge der ständig verschobenen Entscheidung zwischen einem Standpunkt der Erscheinungs- oder einem solchen der Wesensphilosophie, — gleichgültig, wie sich dieser >Materialismus< oder jener >Spiritualismus< verstehen mag. Wenn die Naturbildlichkeit jede Unterscheidung der Ontologie untergräbt, wenn Weltgeschichte wesentlich als »Gärung«, 123 zugleich aber als »reines Bewußtsein« beschrieben wird, dann stellt sich kein Kontinuum von Argumentation her, sondern die Praxis jener Verschiebungen, die nur aus augenblicklicher Wünschbarkeit einen Kontext zur Welt: als denotativ differente, aber immer affirmative Gläubigkeit ans Eine, zulassen können. 124 Die beschriebene Unfähigkeit zu logischen Dezisionen führt notwendig zu der Fechners Stil so mißlich gestaltenden Technik vorausgesetzter oder nachgereichter Einschränkungen. Deren lexikalische Folge ist der überhandnehmende Gebrauch »schwebender«, insignifikanter Komparativa, wie sie in den dauerpräsenten Exklusivpartikeln »größer«, »höher« oder »unteres« vorliegen. Das in der »Tagesansicht« im Bewußtsein des Autors auftauchende umfassende Problem der Versprachlichung von Welt führt keineswegs dazu, sich der sozial konditionierten Sprachbestände kritisch zustimmend oder ablehnend zu bedienen: — es wird verschleiert und verdrängt, - kennzeichnend mittels der zum Thema des nichtgefüllten Komparativs gehörenden Rhetorik des überbietenden Superlativs: es ließe sich wohl fragen [...], ob man nicht statt der ganzen von einem einheitlichen Bewußtsein übergriffenen geistigen Existenz bloß das Allgemeinste und hiemit zugleich Höchste und Beste davon, kurz den Gipfel der geistigen Existenz als Gott zu betrachten habe. So hochwichtig aber diese Frage scheint, ist es doch 121 124

122 Ebd. 40. 123 Ebd. 21. Ebd. 33. Fechner war sich wohl stark, wenn auch defensiv-fixiert, der Beschränktheit seines Wunschdenkens bewußt: in der Vorrede zum »Zend-Avesta« liefert er eine Apologie desselben, in der die naive Naturgläubigkeit zum Vorschein kommt: Alles Wünschbare wird zu »den höhern praktischen Interessen des Menschen« erklärt — »ich gebe aber etwas auf den ursprünglichen Naturinstinkt der Menschen und glaube, daß nichts wahr sein kann, was nicht auch gut ist zu glauben, am wahrsten aber das, was am besten. Freilich auch in dem, was man für gut hält, kann man irren, aber einmal muß doch ein Punkt kommen, wo der Mensch sich selbst glaubt.« (Zend-Avesta XI.)

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vielmehr nur eine Frage der Sprache, als der Sache. Denn ob man das Oberste oder das Ganze der geistigen Existenz Gott nenne, so bleiben doch die Beziehungen von unten zu oben und umgekehrt dieselben, stellen sich nur einesfalls dem W o r t l a u t e nach als äußere z w i s c h e n Gott und einem unteren Gebiete, andernfalls als innere zwischen einem oberen und unteren Gebiete in Gott dar. 1 2 5

Fechner verschiebt das logische Sprachproblem auf eine in der Metapher vom W o r t l a u t ihn überwältigende ontologische Ebene, auf der es sofort das dichotomische Innen-Außen-Modell als zu negierende Struktur heranbringt. Unter dem ontologischen Beziehungswahn seiner Einheitssucht verstellt sich jeder Blick auf die Beziehungsschwierigkeit der semiotischen Ebene. Logische Regionalisierung, die im Kontext versuchter Argumentation auftaucht, ist immer schon in Totalisierung eingebettet. Dadurch zerfällt die Voraussetzung für Prädikation selbst. Die Widersprüche, die er monistisch vermeiden will, fesseln seine Aussagen in widersprüchlicher Struktur. b) Der leere Zusammenhang Die Rede vom Beziehungswahn erhält ihr Recht nicht nur aus den semantischen, sondern auch aus den textlichen Strukturen der Fechnerschen Schriften. Das drei Seiten lange Kapitel, das in »Tagesansicht« Sprachreflexion anzielt, ist nichts als die überaus redselige Vermeidung einer Entscheidung darüber, was nun eigentlich ein »Zusammenhang« sei. D a keine Vorstellung eines Begriffs von Semiotik vorliegt, wird die Trennung des Signifikats vom Signifikanten unmöglich, und Fechner muß jeden Begriff als »Abstraktum« kritisieren, da er ja in jedem das Totale der Existenz vermeint. So erfolgt Rückübertragung der anthropomorphen Prädikation Gottes, wenn gesagt wird: es ist dann doch nur ein Abstractum, was man Gott nennt, was sowenig für sich bestandfähig ist, als die höchste Bewußtseins-, Willens- und Gefühlseinheit in uns.

Andererseits wird vom Typ solcher Einheit die gesamte Weltentstehung abgeleitet. Fechner meint, wir verlören damit, daß wir Gott in anderm Sinne einen Geist nennen als unsern eigenen Geist, worunter wir doch nicht bloß ein Abstractum des Höchsten und Besten verstehen, die begrifflichen und sachlichen Bezugspunkte, die sich zwischen dem göttlichen Geiste und unsern Geistern finden lassen. 126 125

Tagesansicht 82.

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Tagesansicht 83.

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Wenn es nur darauf ankommt, ob das ganze geistige Gebiet der Welt nach gleichem Prinzip in sich zusammenhängend und aufsteigend, nur in größerer Weite und höherer Aufsteigung, auf- und ausgebaut sei, als unser eigenes, und ob unser Geist selbst als untergeordnetes Glied in diesen Bau mit eingehe,

dann erledigt sich freilich im Grunde jede metaphysische Fragestellung. Im schwebenden Komparativ wie in den Tautologien, die als Gesetze mißverstanden werden, realisiert sich die Leere, die sich zwischen den von allen Gründen ausgeblasenen Zusammenhängen auftut. Insofern können analogistische Annahmen beliebig als »Lücken« ausgegebene Desiderate auffüllen. Das Seelenleben der Pflanzen ζ. B. »füllt Lücken aus, welche das der Menschen und Tiere lassen würde«. u 6 i Die gleiche »Lücke« gilt dann für die Gestirne. Ausdrücke wie »sich gegenüberstehen«, »miteinander gehen«, »parallel liegen« werden semantisch und argumentativ synonym mit »identisch sein«, »Zusammenhang haben«, »demselben Grund, derselben Sache, Situation usw. angehören«. Innere und äussere Erscheinungen stellen sich gegenüber und ändern sich vermöge ihres gemeinsamen Zusammenhangs mit dem sich verändernden einen Grundwesen. Die verknüpften Vorgänge »gehen miteinander«.127

Der Aufweis von Zusammenhang ist deshalb immer wieder auf komplexe, häufig räumliche Bilder des Zusammenstehns und Zusammenliegens beschränkt. So ist Gott gleich »Gottesstamm«: als solcher »Geistesstamm der Welt«. 128 Raummetaphorik dringt tief in die theologische Metaphorik der Welt ein: Zwar auch die Erde ist kein absolut selbständiges Wesen, ein solches ist nur das den ganzen Gott tragende Weltganze.129

Da Entscheidung bereits in der Ebene der Beschreibung des Räumlichen vermieden wird, können die Kontinuitäts- und Zusammenhangsannahmen ungehindert sich im Heteronomen und Heteromorphen entfalten. Die Dysfunktionalität der Raumvorstellung drückt sich in wiederholungsreicher Formulierung wechselseitigen Inbegriffenseins wie in leerI26a 127

128

129

Zit. nach Wentscher, Fechner und Lotze 41. Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen (1873), zit. nach Lienhard, Der Gottesbegriff G. T. Fechners 30. Zend-Avesta 1,27. Auf dieser und der vorausgehenden Seite begegnen hintereinander folgende Bilder der Naturalisierung Gottes: Teich-, Beet-, Baum- und Stamm-Vergleich. Zend-Avesta 1,33.

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laufenden Raumsteigerungen aus - Beziehungen türmen sich zusammenhanglos übereinander, wie es Fechner selbst beschreibt: Beziehungen über Beziehungen dazwischen türmen sich in ihm [Gott q u a Welt] höher und höher auf, u m sich in höchster H ö h e abzuschließen, und wie ein König seine Minister und diese ihre Amtsleute, und diese ihre Diener zur A u s f ü h r u n g seiner Befehle haben [...], so greift in umgekehrter Richtung Gottes oberster Wille mittelst des Willens und der Triebe seiner höheren und niederen G e s c h ö p f e durch das Weltgetriebe; indes er die Zügel immer oben in der H a n d behält; es ist nur alles innerlich in ihm, w a s dort äußerlich. 1 3 0

Der in der Philosophiegeschichte - will man sich dazu überreden, Fechner ihr zuzurechnen - einmalige Ausstoß von Tautologien und etymologischen Figuren ist auf die universelle Verdrängung von Differenzurteilen ebenfalls zu beziehen. Kann die Tautologie gesehen werden als unbewußte Herstellung der insignifikanten Allgemeinheit einer als Urteil vermeinten Aussage durch semantische Wiederholung, so verwirklicht sich in der Fechnerschen Häufung von Tautologie und Redundanz das, was Lienhards theologisch geschärfter Blick als Fechners »πρώτον πσεϋδος« rügt: »dass das Allgemeine, Gemeinsame das Göttliche sei, und dass Weltbeseelung = Gottbeseelung!«131 Da die explizite, wenn auch immer wieder widersprüchlich formulierte Umfunktionierung des Gottesbegriffes in den Weltbegriff mit leeren Operationen und referenzloser Verbalisierung arbeitet, brechen sowohl disjunktive wie potenzierende Funktionen in sich zusammen; sie können sich nicht auf ein Fixiertes zurückbeziehen. Deshalb liefern Fechners Texte eine so große Menge an Additionen, Schein-Potenzierungen, wesenlosen Steigerungen. Jede >Position< und jede >Größe< kann beliebig relationiert und »über sich hinaus« >gesteigert< werden - wo sie als dieselbe wiederkehrt. So ist die Erde als Summe der Lebewesen und der »Geister« für Fechner Gegenstand einer maßlosen verbalen Mythologisierung. Deren Geschick ereilt die Sterne und Planeten ebenso. Da die Planeten im Fechnerschen Panpsychismus Selbst- und Weltwahrnehmung erhalten, Gefühle und Leiden haben, ist das egologische Prinzip des Glaubens an sich selbst und der Selbstheilung kosmisch abgesichert. Der »Zusammenhang der Welt« fungiert in solcher Ideologie als der 130 131

Tagesansicht 25. Lienhard I.e. 17. Vgl. Fechner Zielangabe in der Zend-Avesta-Vorrede: »Widerspruchslose Kombination des von verschiedenen Seiten her gewonnenen Allgemeinen«. (XV) »Wenn auch der Mensch das geheime Modell ist, nach dem die Wirklichkeit gebildet wird [...], so schaut Fechner die organische Wesensform doch in der Hauptsache verallgemeinert, erweitert, gesteigert«, so H. Adolph, Die Weltanschauung G. T. Fechners 92.

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dem leidenden Gott der Welt zugleich abzunehmende und zu gebende Trost. 132 Gleichwohl behält dieser Welt-Gott das Prädikat der Unveränderlichkeit — er ist »getragen« und »gefesselt« an das Band der Dinge, das er selbst ist. Als status quo fungiert das Naturgesetz. 133 Im Gravitationsgesetz mit seiner Kraft [sieht Fechner] gleichsam einen unsichtbaren König der Welt, einen Herrscher über alle Himmel, alle Zeiten; der Sonnen und Erden ihre Bahnen und jedem Stäubchen seine Stelle auf einer Sonne oder Erde anweist, dem Dienste geschehen in allerlei Formen und Gebräuchen, der von Anfang war und sein wird in Ewigkeit. 1 3 4

Den Widerspruch zwischen diesen soziomorphen Denkmodellen und den organologischen hat Fechner nicht reflektiert. Die relative Fremdheit der Überordnungen hat er immer wieder mit dem Glied/Organismus-Modell oder, abstrakter, mit dem bloßen Teil/Ganzes-Modell ausreichend bezeichnen zu können vermeint.135 Vgl. dazu Zend-Avesta I, 249 (im Zusammenhang der »Weisheit der Brahmanen«), Oft spricht Fechner vom »Band der Welten« (so Zend-Avesta 1,209), wobei mehrfach Verselbständigung und inexplizite Rückintentionalisierung der Vorstellung auftritt: »Diese allgegenwärtige Gültigkeit, unverbrüchliche Haltbarkeit des Gesetzes ist ein viel tiefer greifendes, innigeres, festeres Band des Alls, als jener Zug, der dem Gesetze nur gehorcht [...]«: im doppelten Gesetzesbegriff geht es unausgesprochen um die Relation des Weltgesetzes zur Freiheit. 133 Formulierungen wie folgende ließen sich alle paar Seiten finden: Das Unveränderliche »ist das, in und durch alle Veränderungen der geistigen wie der materiellen Welt bestehende, alle bindende, den Zusammenhang aller vermittelnde Gesetz, wonach aus denselben, sei es geistigen oder materiellen, Ursachen, Bedingungen immer und überall, heute wie morgen, hier wie da, dieselben Folgen fließen, und nur in einer durch das Gesetz bestimmten, Weise fließen können. Mit diesem, in Gottes unveränderlichem Wesen begründeten oder den unveränderlichen Halt seines Wesens selbst begründenden Gesetze beherrscht Gott den ganzen Weltlauf, ohne das und hiemit ohne Gott fällt kein Haar von unserm Haupte.« (Tagesansicht 86). Der uneingeweihte Leser dieser pleonastisch geratenen Passage wird kaum vermuten, daß sich im ersten Satz Fechners Lösung des Welträtsels verhüllt: es ist das im » Zend-Avesta «, vorher bereits in seiner Abhandlung der kgl. sächs. Akademie der Wissenschaften vorgetragene »oberste Weltgesetz« (vgl. Zend-Avesta 1,207ff.). Seine tautologische Leere wird in der kürzeren Formulierung des » Zend-Avesta « fast noch eindrucksvoller: »Wenn und wo auch dieselben Umstände wiederkehren, und welches auch diese Umstände sein mögen, so kehren auch dieselben Erfolge wieder, unter andern Umständen aber andere Erfolge.« (Zend-Avesta 1,210) 134 Zend-Avesta 1,209. 135 Beide Entlastungsmodelle des Denkens werden etwa S. 202 in »Zend-Avesta« I gleichzeitig gebraucht: Oben »läßt sich Gott als einheitlich ganzer Geist, als a b s o l u t e r Geist, Allgeist, den unter ihm begriffenen individuellen Geistern der Geschöpfe als seinen geistigen Teilwesen über- und gegenüberstellen« [Präpositionalaporie!] - unten heißt es: »Wie der göttliche Allgeist als einheitlich ganzer unseren individuellen Einzelgeistern, läßt sich die Natur oder der göttliche Leib als einheitlich ganzer unsren 132

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Der Zusammenbruch des begrifflichen Denkens ist auf allen Fronten des spekulativen Zusammenhangsdenkens Fechners zu konstatieren. Was Fechner als »wechselseitige Erläuterung« versteht, ist die wechselseitige Aufhebung von Begriffen. Daß der Begriff Gottes und der Welt sich immer im Zusammenhange wenden, bringt den Vorteil mit, daß sich nun beide auch wechselseitig erläutern. Hierauf und auf dem Zusammenhange überhaupt fußen wir, wenn wir die Begriffe Gott und Welt künftig bald in weiterm, bald in engerm Sinne, bald in dieser, bald in jener Wendung brauchen, ohne uns über die Bedeutung, in der es geschieht, jedesmal besonders zu erklären; es wären gar zu viel Worte nötig, es immer mit ausdrücklichen Worten zu tun. 136

Begriffsersparung setzt sich automatisch in Wortblähung und Autoritätszitat um. Er hat ein Paulus-Zitat zur Hand, wenn er seinen Gottesbegriff erläutern will: »Man mäkle endlich nicht am Gebrauche des W o r t e s Gott und seiner vielseitigen Wendungen, man sehe nach der S a c h e . >Denn das Reich Gottes stehet nicht in Worten, sondern in Krafttheoretischen< Syntagmen laufen aus in häufig direkt theologiebürtige Benediktions- oder Entlastungsformeln. Diese zielgerichtete Abfolge klärt die Frage, ob es sich hier um theologisierte Naturbetrachtung oder vernatürlichte Religion handelt, eindeutig: Nicht Theologie wird entfremdet - obgleich die Auflösung einer von Distanzerfahrung doch wohl nicht zu befreienden religiösen Daseinssicht eine genuin theologische Reflexionsschicht nicht mehr gestattet, sondern Natur usurpiert zum Ersatz einer begriffslos gewordenen Religion.

individuellen Einzelleibern, unser Leib als einheitlich ganzer seinen einzelnen Organen zwar über- und gegenüberstellen, doch eben nur so, daß die Natur unsre Leiber, unser Leib seine Organe teilhaft inbegreift.« 136 Zend-Avesta 1,205. Ausdrucksverkürzung als Sprachersparung - so formuliert es Fechner unsatirisch in seiner Engelsatire - hängt mit dem Interesse an der Gleichstellung aller Dinge zusammen: die Wechsel der Begriffsextensionen sollen freundlicherweise »nur als Abkürzungen für den Ausdruck [...] gewisser Gleichungspunkte angesehen werden«. (Gemischte Schriften 228f.) 137 Zend-Avesta 1,205.

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5. »Symbolische« Immanenz Gottes in der Welt a) Defizienter Bewußtseinsbegriff Den konfliktvermeidenden und damit positionsverflüchtigenden Denkgewohnheiten der im »Zusammenhang« und »Zusammenfall« der Dinge gelöschten Eigenständigkeit des Seienden ist das Motiv einer von >innen< kommenden Beherrschung der Dinge der Welt zugrundegelegt. Es ist die Frage zu stellen, wie weit sich bei Fechner die >Entmachtung< des Menschen durch die Verwissenschaftlichung seines >äußeren< Zugriffs auf die Natur als Auslöser einer »ergänzenden«, das Gefühl des Ganzen wieder komplettierenden Bemächtigungschance der distant gewordenen Welt gegenüber auswirkt. Die idealistisch-transzendentalistische Selbstaufwertung des Nosologischen gegenüber dem Epistemologischen, der bloß gläubigen subjektiven Bewußtseinskraft gegenüber einer sozial sich kontrollierenden Erkenntnis scheint ein Prozeß zu sein, der die Wissenschaftsverschärfung des 19. Jahrhunderts begleitet. Die Ranküne dem Wissen gegenüber sichert sich den »philosophischen«, also metaphysischen Aufwertungseffekt garantierenden Hauptzugang zur Welt. Und der ebenso verschwommene wie prononcierte Rückgriff auf Denksysteme, die aus sehr geschichtlichen Gründen Kategorien wie »Allwissenheit«, »Allmacht« vorsehen, garantiert die Nachfolge eines Anspruchs, wenn nicht >alleinseligUmweg zum andern< über die »höhere Verknüpfung« hat seine Vorbilder in einer christlichen Bevorzugung des >Innenumwegs< des Gebets, des Gottesbewußtseins, der Moralverpflichtung mit transzendentalistischer Ausrichtung gegenüber einer sachlichdirekten, >interhumanen< Fundierung der gewünschten Verhaltenswei138

Zend-Avesta 1,173.

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sen. Auch von Fechner wird, in unübersehbarer Analogie zur Schopenhauerschen Innen-Philosophie, das Allwissenheitsprädikat zumindest transzendentalistisch für das Selbstbewußtsein beansprucht. Der Optimismus der introjektiven Selbsterkenntnis liefert das naive Fundament für den Optimismus der Naturgläubigkeit auch hier: »Weiß nicht mein Geist um alles einzelne, was er in sich hat, um seine höchsten Selbstreflexionen, wie um seine sinnlichsten Momente in unmittelbarer Weise?« 1 3 9 Als Problemtilgung ist aus diesen Motiven heraus auch Fechners Kritik am Hegeischen Begriff der Entäußerung zu verstehen; sie proklamiert statt dessen die Existenz des »realen Bandes«, das sich uns zwischen dem organischen und unorganischen Gebiete in einer höheren Organisation der Erde, zwischen allen einzelnen Bewußtseinsgebieten in einem höheren Bewußtsein aufgetan hat. 1 4 0

Ähnlich wie den traditionellen Gottesbegriff diffamiert er das »Wortspiel einer Idee, die sich in der Natur äußerlich geworden«: »damit entkräftet man die Kraft der Natur und entgeistet den Geist der Natur, damit wirft man Gott aus der Natur, die Natur aus Gott heraus.« 1 4 1 Die als lexikalische Attributsverdoppelung im Distinktionslosen einrastende Tautologie der Fechnerschen Naturbeseelung zielt auf einen immanenten Gott, dessen Radikalität der Immanenz auch den Ansatz von Kriterien seiner Erfahrbarkeit vernichtet. Als abstraktive Fluchtgestalt ist der tautologisch-nichtssagende, ins >Symbolische< ausweichende Charakter der Fechnerschen Textbildung einsehbar. Wenn ein Denker von seiner wissenschaftlichen Erfahrung an Formulierungsabsurditäten wie der Frage nach der anthropomorphen Erziehung der Welt durch sich selber oder durch einen Vater festhält, so ist als Fluchthorizont dieser Anthropomorphierung nicht wieder ein bloß abstrakt anthropomorphes Formal-Denken anzusetzen, sondern der präzise gesellschaftliche Begriff der anthropomorphen Rückdeutung der Natur: die menschlich offenbar nicht handelnde Natur verklärt sich zum entlasteten, prästabiliert und präorientiert das immer Richtige handelnden Geistmenschen, insofern dieser sich von aller gesellschaftlichen Handlung zurückzieht ins Allgemeine theologisierter Naturbetrachtung. 142 139 142

140 Ebd. 1,26Í. 141 Ebd. 1,127. Ebd. 1,172f. Die ptolemäische Kehrtwendung des »naturalisiertem menschlichen Selbstbewußtseins überspringt reale Interessenszusammenhänge zugunsten der theoretisierbaren Anschauungszusammenhänge, sie darf nicht — etwa im Sinn der von Blumenberg analysierten Stärkung der humanen Eigenkraft in der theoretischen Neugier - als antikische Stärkung des eigenständigen Daseins im Kosmos, also nicht Nietzsche ähnlich, verstanden werden. Denn die pseudoautochthone Erde wird eben doch von

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Der Titel eines Erbauungsbuches formuliert die Intention des Fechnerschen Werkes präzis: »Ueber die Seelenfrage, ein Gang durch die sichtbare Natur, um die unsichtbare zu finden«.143 Dieser Titel desavouiert die vorangegangene Abgrenzung Fechners gegen die Tradition einer Naturphilosophie, »welche die Natur aus Kategorien, die [...] ins geistige Gebiet gehören, oder worin sich die Gesichtspunkte beider Gebiete unklar mischen, nach einem festen Schematismus betrachtet«. 144 Sein Synkretismus zieht die unschematische Mischung in vortheoretischer Sprachlichkeit vor. Die »Tagesansicht« biete den »Abschluß dessen nach oben, was von unten als Psychophysik angehoben ist, oder die Glaubensblüte und Frucht oberhalb der Wurzel, welche die Psychophysik unmittelbar im Wissen sucht«. 145 den alttestamentarischen Sternenheeren eines Besseren und vor allem »Höheren« belehrt: »Kann wohl die Erde durch sich selbst erzogen werden? Auch sie bedarf des Vaters und der Welt dazu«. Fechners eigentliche Haltung wird drastisch genug greifbar in der wörtlich so formulierten »innern Führung [der Erde] durch die himmlische Ordnung der Sterne«, welch göttlich-naturgesetzlicher Führung denn überhaupt die Entstehung des Gottesgedanken zugeschrieben wird. (Zend-Avesta 1,194) 143 Leipzig 1861. Fechner gibt eine Zusammenstellung seiner religiösen und naturverklärenden Werke in Tagesansicht 74f., nachdem er sich - S. 72f. - äußerst unklar gegenüber der Naturphilosophie abzusetzen versucht hat. »Leicht läßt sich die Tagesansicht mit Naturphilosophie verwechseln«, gibt Fechner zu, sich nur formal gegen »jede Fassung« derselben - als inhaltslos - distanzierend. Die Explikate von »Naturphilosophie« lassen an rücksichtsloser Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: sie gilt »als Lehre von den allgemeinsten Gesichtspuncten und Gesetzlichkeiten, welchen sich die Welt der materiellen Dinge rücksichtslos auf einen geistigen Gehalt unterordnet, kurz als allgemeinere und höhere Naturwissenschaft«; zweitens »als eine Lehre von den allgemeinsten und höchsten Beziehungen der geistigen zur materiellen oder innerlich erscheinlichen [! metonymische Übertragung] zur äußerlich erscheinlichen Welt, wohinein die Ansicht von einer Gottbeseelung der ganzen Welt und der Gliederung dieser Welt tritt«. (Ebd. 72f.) 144 Tagesansicht 73. So die dritte (offenbar antischellingische) Definition von Naturphilosophie. 145 Die Formulierung liefert mit wörtlicher Wiederholung eine bereits im »Büchlein vom Leben nach dem Tod« gefundene Struktur, die zudem den Konnex zwischen Glaubensbedürfnis, Denkersparung und vergleichsdefekter Sprachlichkeit offenlegt. Es handelt sich um den Abschluß des ganzen Werkchens, und es ist erregend, hier vor Mitte des 19.Jh.s bereits die vollendete Ästhetisierungsstruktur des verweltanschaulichten und meinungslosen Denkens vorzufinden, die man gemeinhin erst der Décadence zuzuschreiben pflegt. Das 12. Kapitel also lautet: »Du fragst mich nach dem Ob; ich antworte mit dem Wie. Der Glaube erspart die Frage des Ob; doch wird sie getan, so gibt es nur die eine Antwort darauf durch das Wie; und so lange das Wie nicht fest steht, wird das Ob nicht aufhören zu gehen und zu kommen. / Hier steht der Baum; manch einzeln Blatt davon mag fallen; doch sein Grund und Zusammenhang ist fest und gut. Er wird immer neue Zweige treiben und immer neue Blätter werden fallen; er selbst wird nicht mehr fallen; wird Blätter der Schönheit treiben, und statt im Glauben zu wurzeln, Früchte des Glaubens tragen.« (81) Die metaphorische Naturalisierung Gottes liefert in der Ideologie von Grund und Zusammenhang das im Vergleichsspre-

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b) Umdeutung der Geschichte Die willkürliche Teilung aller Sach- und Praxisbestände nach dem >glaubensblütigen< Selbstüberredungsbedürfnis der »Überhöhung« führt Fechner zu totalistisch-irrationalen Geschichtskonstruktionen im Sinn eines pantheistischen Revisionismus der Geistesgeschichte. Im »Eingang« der historischen Retrospektive der »Tagesansicht« demonstriert Fechner den reaktionären Ansatz seiner Verklärungsgläubigkeit, indem er mit sprachlichen Popanzen wie der Zertrümmerung der Welt »in Stäubchen«, 146 mit ideologischer Abwehr jedes Vergänglichkeitsbewußtseins eine Umkehrung des Illusionsbegriffs versucht. Illusionär sei gerade die Ernüchterung der Weltanschauung in den Wissenschaftsepochen. Er läßt kein Moment geschichtlich zunehmender Aufklärung zu. Deshalb erfaßt seine Reaktion gleichermaßen Wissenschaft und Philosophie - wie später bei einem seiner dank langjähriger Tätigkeit an der Berliner Universität zu großem Einfluß kommenden Schüler: auch Friedrich Paulsens »Philosophia militans« wendet sich gleichzeitig »gegen Naturalismus und Klerikalismus«. »In den Hallen der Philosophen, wo das Welträtsel sich mit seiner eigenen Lösung abquält«, 147 bildeten Begriffe wie Ich und Nichtich, Kraft und Stoff »die Illusion einer leuchtenden tönenden Welt«148 - aber in ihrer »hadesgleichen Welt« sei der Begriff eines »allgütigen Gottes« nicht mehr verwendbar. »Und nachdem die Jünger der Natur verlernt haben, Gott als Schöpfer dieser Dinge anzubeten, beten sie das goldene Kalb des Protoplasma dafür an«. 149 So wenig das als Satire der Naturwissenschaft zündet, so deutlich macht es die Gefühlsbedürfnisse Fechners, wie sie sich als Entlastungserlebnisse nach seiner dreijährigen psychophysischen Seh-, Denkund Bewegungskrankheit mit epochemachender Wirkung durchgesetzt haben; seine Philosophie von der Bank des Kranken vom dunklen, abgesperrten Zimmer aus, die das Aufleuchten von Frühlingsblumen als persönlichste Rettung aus der »Nachtansicht« seiner psychogenen chen potenzierte Alibi der Anschaulichkeit gegenüber der Tatsache der theoretischen Unfundiertheit; der Einsparungscharakter fundierungslosen Glaubens und seine Verbindung mit dem Sprung ins Ästhetische beleuchtet eine geistesgeschichtliche Epoche der verunsicherten, aber umso mehr totalitätsbedürftigen Ambivalenz, an deren Ende der Vorlauf dieses >Glaubens als ob< auch theoretisch reflektierbar wurde (vgl. Hans Vaihingers »Philosophie des Als ob«), 146 Tagesansicht 4. Bei Bölsche wird diese Unterstellung von »Zertrümmerung« und »Zerstäubung« zum rekurrenten Motiv der Wissenschaftsüberwindung und der Propaganda der Naturgläubigkeit ausgebaut. 147 Tagesansicht 6. 148 Ebd. 149 Ebd. 7.

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Erblindung durch göttliche Erweckung deutet, ist in einem nicht ohne weiteres verstehbaren Ausmaß Funktion einer erlebnisoptimierenden, verklärend-symbolisierenden Aufwertungsbedürftigkeit. Der in unserer Fragestellung aufgerissene Bezug zwischen Symbolisierungszwang und Zusammenhangszwang erfährt — in der extremen Verdeutlichung durch die rational ungefilterte Direktheit des Bekennens bei Fechner - den triftigsten Beleg für die problematische Beziehung zwischen Aufrichtungs- und Verklärungsbedürfnis und Vergleichsstruktur. Sie konvergieren in der real erlebten Gesundung der Augenkraft durch Blicken ins Ferne. Mein Auge verträgt bei jedem Rückfall seiner Krankheit nicht Lesen einer nahen Schrift, nicht Sonnenschein der Straße, nicht Sonnenflecke in der Stube. Aber [...] in je weitere Ferne es den Blick richtet, um so mehr findet es sich erquickt, am meisten von dem Blick in den reinen Himmel, also wendet es sich immer von Zeit zu Zeit dahin. >Womit vergleich ich das?< fragt' ich mich; alles Sinnliche läßt sich doch als Symbol von etwas Geistigem fassen. Und ich meinte, die zugleich schönste und wahrste Auslegung des Bildes liege darin, daß, wenn den Menschen die irdische Gegenwart und Nähe bedrängt, er seinen Blick nur in die Ferne und Höhe zu richten braucht, um Trost zu finden, so sichrem, in je größre Weite und Höhe er ihn richtet.150

Zusammenhangsdenken, Einheitssuche und analogischer Auslegungszwang prägen eine geistesgeschichtliche Grundsituation der gespaltenen Gefühlsstruktur. Nicht Todesbewußtsein als solches steht zur Frage, sondern, als psychologische Tiefenstruktur, die Problematik der lebensermöglichenden oder lebensverwehrenden Fähigkeit zur >Trennung< im allgemeinen: »fürchtest du« - so redet Fechner den Leser an daß der Tod die Bande, die jetzt eins an das andre knüpfen, zerbrechen wird, so ist es die Furcht der Nachtansicht; der Tod in der Tagesansicht sprengt vielmehr die Bande, die jetzt beide noch voneinander trennen.151

Das im nächsten Satz beschworene Herzensbedürfnis nach Sonnenglanz und Himmelsblau und Meeresrauschen ist Ausdruck eines sursumconfo-Bedürfnisses der aufwärtsstrebenden Welt-Teilnahme ohne Anstrengung. Zur Wahrheit, die der Geist verlangt, verlangt das Herz nach Schönheit; kann es aber eine schönere Welt geben, als worin die Schönheit selber zur Wahrheit wird. Und wird sie es auch nach der Tagesansicht nur ganz in Gott für Gott, der alles sieht und hört, so hat doch, wer in seinem Sinne sieht und hört, sein Teil daran. 152 150 151 152

Ebd. 8. Ebd. 9. Hier widerlegt sich der Begriff des Bandes selbst. Ebd. 10.

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Mit dieser nackt anmutenden Kundgabe sind wir auf Tiefenbedürfnisse einer naturgläubigen, aus idealistischen Resourcen genährten Synästhetisierung der Weltbeziehung verwiesen, wie sie — sicherlich in weniger naturfrommer Naivität - als Ästhetizismus noch der dunkelsten Satansvitalismen der Jahrhundertwende beschreibbar ist. Verklärung wie Dämonisierung des Lebens, der Sonne, der Welt tragen die psychographischen Aufgaben der dialektischen Welt/Ich-Analogie in sich: gleichzeitig Selbstaufwertung und Selbstaufhebung durch den Zusammenhang des Ganzen zu ermöglichen. Die Art, wie bei Fechner Sehen und Nichtsehenkönnen, Hören und Gehorchen, Teilhabe und sinnliche Wahrnehmung begriffs- und handlungslos gekoppelt werden, zielt auf eine Form der synästhetischen Aufhebung der Arbeitsteilung, auf eine Aufhebung der anstrengenden Rollenwechsel im Gesamtgebiet der geistigen Funktionen. Irrationalismus ergibt sich mit geradezu kausalistischer Stringenz aus dem nicht ausgehaltenen »wissenschaftlichen^ anscheinend Entzugserfahrungen erzeugenden Bewußtsein der Ungleichheit der Dinge. Die Flucht vor den Namen in die immer offenen Arme des Ganzen, das gemeint, aber nicht prädizierbar ist, entspricht einer Dysfunktionalität des sprachlichen Bewußtseins überhaupt, das seine Regression als Homonymisierung durchführt, um bei der unterbrechungslos bestätigten »Univokation« 153 des Einsseins zu enden. Aus dem verabsolutierten Einheitspostulat ergibt sich sogar die Annihilierung des Analogiedenkens, sofern die gattungsüberschreitende Kraft der Analogie überflüssig wird in reiner Einheitsbehauptung. An ihrer immanentistischen Einheitstheorie löst sich die Struktur der Vor- und Nachordnung auf, und deshalb sind einige der zentralen Analogien und Metaphern aus dem Bereich der symbiotischen Einheit gewählt (so Mutter/Kind, Stamm/Zweig u. ä.). Gliederndes und strukturbildendes Denken geht zurück auf reine Kontinuitäts- und Identitätsannahmen. Im historischen Denken erscheint dann folgerichtig eine >naturale< Gliederung als Tag-Nacht-Abfolge sinnträchtig. Fechners Kritik des Dualismus befleißigt sich allerdings auch nicht der geringsten sachlichen oder philosophiegeschichtlichen Anstrengung. Ihm ist von vornherein [...] die heidnische Ansicht [die ohne Körper/Geist-Trennung auskommt] die natürlichste Ansicht der Dinge. Kein König so mächtig, prächtig und wohltätig als die Sonne, ein Baum nicht minder, nur anders lebend, wachsend, sterbend als ein Mensch. 154 153

154

Vgl. dazu vor allem das 5. Kapitel des Analogie-Artikels in Phil. Wörterbuch I, Spalte 220f. Tagesansicht 11.

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Der Verzicht auf historische Lokalisierung und sachliche Erläuterung des Abfalls von dieser Einheit weist im Verein mit der weitergeschleppten formalen Dualistik auf die nicht erledigte Auseinandersetzung mit der Theologie hin; sie habe Gott, »in Widerspruch zwar mit Sprüchen ihrer eigenen Quellen und immer von neuem sich selber widersprechend, von der Welt abdestilliert« und »die Götter [!] in dienende Engel verwandelt«, schließlich die »Welt als caput mortuum für die Messungen und Experimente der Physiker, für die Lukubrationen der Philosophen und für die Scheltworte der Theologen«155 zurückgelassen. Würde man annehmen, es wäre dann mit einem begriffsfreien Rückgang auf den antiken Umgang des Menschen mit Natur getan, so sieht man sich getäuscht, denn der natürliche Mensch sieht von der Natur doch immer auf einmal nur Bruchstücke, [...] die Einigung aller im All und die Klarheit über ihr Verhältnis zum All entgeht ihm. 156

Die »Tagesansicht« ist eine Überbietung der heidnischen Weltbeziehung, sie faßt mit den unverlorenen Stücken auch den Zusammenhang der Stücke in das Auge, und je nach dualistischer oder monistischer Fassung [...] erfüllt sich für sie die Welt mit einer einheitlichen göttlichen Wesenheit oder hebt sich ganz und geradezu in eine gemeinsame Einheit damit auf. 157

Die Verteufelung der »einheitlichen« und nicht »positiven« »Nachtansicht« wird im Folgekapitel unverblümt ausgesprochen. Aber »ihre unerbaulichen Konsequenzen« höben sich durch Inkonsequenzen selber auf, in den meisten Fällen sei doch etwas vom Positiven der Tagesansicht bei ihr zu finden. »Ganz ohne Gesichtspunkte der Tagesansicht geht es etwa nur bei den krassesten Materialisten und Sozialdemokraten.« 158 Selten tritt in Fechners Schriften die soziale Stoßrichtung der Erneuerung des Glaubens an die »gute göttliche Weltordnung« 159 so deutlich hervor. Der Kurzschluß vom Gravitationsgesetz als Bestandteil eines naturwissenschaftlichen Glaubens160 auf die »Glaubenssätze«, die den Abschluß des »Zend-Avesta« bilden, vollzieht sich auf der Ebene eines Sozialbedürfnisses, dessen Inhalt Selbstunterordnung ist. Die regressive 155

Ebd. Ebd. l l f . Das Zitat ist mit seiner aussagelosen Häufung von Umstandsadverbien stilistisch typisch für den Fechner-Nachfolger Bölsche. 157 Ebd. 158 Ebd. 15. 159 Zend-Avesta II, 430, 10. Abschnitt des »Überblicks der Lehre von den Dingen des Jenseits«. 160 Tagesansicht 17. 156

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Topologie des Fechnerschen Denkens bündelt sich in einer kaum für wahr zu haltenden Enthistorisierung des Bewußtseins, die sich als Rückbindung der Bewußtseinswelt der Wissenschaft an frühgeschichtlich-mythische Glaubenswelten versteht. Fechner will den Glauben an die Engel in den Ursprung selbst zurückleiten, aus dem er hervorgegangen ist. Im ganzen alten Glauben des Orients treten die Gestirne als der Gottheit dienende höhere Wesen auf, die seiner schöpferischen und ordnenden Kräfte teilhaftig sind... 1 6 1

Alle Verklärungstendenzen, seien sie nun auf Welt, Erde oder Leib des Menschen gerichtet, meinen nicht die ganzheitstheoretisch vermittelte Selbständigkeit dieser Einheiten, sondern ihren Dienstzusammenhang. 162 Der naturgeistgläubige Apologet aller anachronistisch gewordenen »Naturformen« des Glaubens, der eine hochgradig altertümelnde Diktion pflegt, proklamiert unterm Scheinbegriff des Glaubens seine kulturpolitischen Unterordnungsimperative im letzten seiner zwölf Glaubensartikel im » Zend-Avesta «: Ich glaube, daß die Vernunft der Unmündigen sich zu bescheiden hat vor einer höhern Vernunft, die ihr Recht bewährt hat in der Geschichte durch die Erziehung der Mündigen. Ich glaube, daß die Vernunft der Mündigen des eignen Irrtums Möglichkeit gedenk bleiben und acht haben soll, daß sie nicht, bessern wollend an dem, was bisher feststand, die Grundlagen des Guten selber erschüttert, die vor allem und über alles zu erhalten. Ich glaube, daß alles Neue, was bestehen soll, nur erwachsen kann aus dem, was schon bestanden hat, nicht durch den Umsturz, sondern die Fortbildung oder die Verjüngung des Bestehenden oder Bestandenen. Ich glaube, daß in der Verjüngung nur fallen können altgewordene Hüllen, doch frischer, höher, weiter treiben muß der alte Kern. 1 6 3

c) Selbstästhetisierung der vergöttlichten Welt Die theogonische Selbstästhetisierung der Welt zum sich in seiner Rückbezüglichkeit genießenden Gotte enthält in diesem intentionalen Rahmen kein fortschrittliches Moment. Die in den verklärenden Hilfskonstruktionen der »Tagesansicht« vorgenommene Schleifung der Oppositionen von Geist vs Materie schafft zwar einen neuen Gottesbegriff von radikaler Allgemeinheit, der aber als unbestimmter keine befreiende Zend-Avesta 1,150. Auch der Leib ist »Diener der Seele« (Zend-Avesta I, 111), und die Verhältnisse der synästhetischen Symbolik sind immer auch interpretierbar als Dienstverhältnisse: zumindest der »mittelbare« Dienst der »äußeren leiblichen Erscheinung« für »die innere Selbsterscheinung einer Seele« wird an dieser Stelle supponiert. " 3 Zend-Avesta II, 434. 161

162

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historische Kraft entwickelt. In der »Tagesansicht« wie in den anderen Werken wird die Konsequenz nahegelegt, »den Namen Gottes in gewissem Sinne für den Inbegriff aller Existenz« zu gebrauchen. 164 Sicher liegen in der von Fechner betriebenen Vergöttlichung des Irdischen Entwicklungschancen; aber diese würden sich nur entfalten innerhalb eines handlungsoffenen Horizonts von Glauben. Im Gegensatz dazu ist die trotz aller Organismusideologie retrospektive Gewaltlösung Fechners in der Prästabiliertheit der Gesetzes-»Annahmen« zwischen Gravitation und Status quo befangen. Aus den teleologischen Hoffnungen der Zusammenhangsformeln erscheint nur ein deus in machina, dessen Befreiung gegenstandslos geworden ist. Das Freiheitsproblem wird ebenfalls in der Form der identifikativen Verschiebung ins Gegenteil behandelt. Denn Aufhebung des »Sprungs« erfolgt wie immer mit dem »Dazudenken« des Gegenteils.165 Bei der Diskussion eines ausgewogenen Verhältnisses von Determinismus und Indeterminismus zeigt Fechner seine Vorliebe fürs gesetzlich Laufende. Ihm gilt der Determinismus nicht schon damit für abgetan, daß er »die Welt zur Maschine mache«. Denn die vorteilhafteste Eigenschaft der M a s c h i n e erteilt er der Welt g e w i ß . W a s wäre eine M a s c h i n e , der es ebenso frei stände, gut wie schlecht zu g e h e n , für die es kein Gesetz gäbe, das ihren G a n g sicher z u m richtigen Ziele führte. [ . . . ] Sind Liebe, Freundschaft, Gottvertrauen, s o w e i t sie in der Welt sind, darum schlechter, daß sie n o t w e n d i g sind [ . . . ] . 1 6 6

Inmitten einer schon zur These potenzierten rhetorischen Frage tritt der idealistische Orientierungs- und Integrationsbegriff der »Notwendigkeit« auf, in dem sich der Willensbegriff selbst denaturiert: »aber Besseres kannst du nicht wollen, als daß du nach unverbrüchlicher Notwendigkeit dahin geführt wirst, einst besser zu werden und es einst besser zu haben«. 167 Der Freiheitsbegriff, den Fechner vorzuschlagen hat, wird von ihm freimütig genug erläutert: »Nötigung zum Guten«. 168 164 165 166 167 168

Tagesansicht 105, dazu 84. Vgl. die Formulierungen über Dualismus-Bewältigung in Tagesansicht 237. Tagesansicht 173. Ebd. Ebd. 175. Solch naturalistischer Nötigung entspricht eine durch Umkehrung der Beziehung erwirkte >Materialisierung< der auf Freiheit beziehbaren Gegenstände: wenn Planeten wie Menschen »durch sich selbst« laufen, ist der Freiheitsbegriff denkbar radikal umgewertet. Freiheit »[...] ist das freie Spiel der organischen Geschöpfe auf der Erde selbst«, »verwebt mit ihren Beziehungen zu Tag und Nacht, Sommer und Winter und den himmlischen Beziehungen überhaupt...«. Das »Übergewicht der äußern Freiheit, das die Menschen haben, [schlägt] für die Erde zu einem Übergewicht innerer Freiheit aus«. (Zend-Avesta 1,103)

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Selbst die »psychophysische Hypothese der Lust und Unlust« - denn das sich vermehrende Glück aller hat Fechner immer im Auge - steht ihm unter dem »Prinzip der Tendenz zur Stabilität als Finalprinzip der Welt«. 169 Soweit nicht die Behauptung des Zusammenfalls von Dasein und Sinn jede Bewegung des Daseins erübrigt, vermittelt sich die Auflösung von Unlust in Lust nach Anweisung der Topoi »Versöhnung« und »Umschlag«. Im Rahmen eines Vergleichs Gottes mit einem Gemälde, in dessen unteren Regionen Schatten gemalt sind, die »seiner obern Lust« keinen Abbruch täten, wird in » Zend-Avesta « eine derartige Versöhnung verbalisiert. Das Negative des Schattens — ein Schatten der »Nachtansicht« also auch in Gott - wird zum totalen, integralen Ingrediens >umschlagsartig< aufgewertet. So zeigt die totalisierende Denkmethode sich zunächst vermittelt als theologische Metaphorierung - denn so wie Gemälde ein Gleichnis für Gott, ist auch Gott ein Gleichnis für das ästhetische schöpferische Gebilde, letztlich für Ästhetisierung geworden. Die metonymische Metaphorierung erweist sich dann als effizienteste Methode, im >Totalraum< etwa des Gottes- oder Weltbegriffs zur Versöhnung aller denkbaren Widersprüche zu kommen. Es heißt demnach: das Gemälde wäre nicht nur nicht schöner ohne den Schatten, es wäre überhaupt keins. 170

Der negative Teil kommt nicht mehr als auszuscheidender in Betracht er wird in Begründungsumkehr zum Wesensmoment verklärt. Damit ist jede Möglichkeit, kritisches Denken aufzubauen oder zu geschichtlicher Selbstveränderung zu kommen, im Keim der totalitär übersprungenen Kontingenz getilgt. In seiner Überzüchtung entartet das Totalitätsbewußtsein zum Auflösungsmittel jeder Ganzheitskonzeption und jeder Sach- und Wertbeurteilung. Fechner fährt fort: Das Licht ist aber die Lust der Versöhnung des Leides. Und ist der Gott für uns nicht der beste, der unser Glück und Unglück in sich selber trägt, dessen eigene, ungetrübte Seligkeit daran hängt, daß er kein Unglück ungehoben, unbefriedet lasse? Was wär's, wenn er bloß äußerlich unser Elend ansehe [sie!], wie wir das Elend eines Bettlers in Lumpen, dem wir einen Pfennig 169 170

Tagesansicht 205. Zend-Avesta 1,249. - Auf Anklänge dieser Licht-Eschatologie, die sich im Rahmen der Versöhnungsklischees einer immanentistischen Geschichtstheologie ausdrückt, an pansophische, paracelsische Anschauungen kann hier nur verwiesen werden, etwa am Beispiel Helmonts, dessen dreifach gestufter »forma«-Begriff in die »substantia formalis« des Menschen übergeht: »Leben ist formgebendes Licht und erfüllt die ganze Natur« (zit. nach R. Hülsen, Lebenskraft, Sensibilität, Empfindung und Schmerz in der medizinischen Psychologie R. H. Lottes 5).

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hinwerfen? Nun aber fühlt er allen unsern Schmerz gerad' so wie wir, nur insofern anders als wir, als er auch zugleich die Wendung und die Lösung und den Überschlag in Lust voraus fühlt. 171

Den Assoziationsverhältnissen dieser Gleichnisrede, die zugleich Überordnungsverhältnisse sind, ist nachzugehen. Zunächst fällt auf, daß abstrakt eine natürliche Gegebenheit zu einem geschichtlichen Prozeß umgedeutet wird, in dem sie zugleich sich selbst hedonistisch genießen könne. Damit gewinnt die Übertragung einen präzis anthropozentrischen Sinn. Mit der Äquivalenz von >Gott< und derart vermenschlichter >Natur< erfolgt der Übergang aus der Gemäldeparabel in die zeitlich strukturierte soziale. Das emotionale Entlastungsmotiv - Rudolf Bilz spricht von »Verdrängungsschutz«, um die Entlastungsmotivik zu kennzeichnen, die sich als Belastungswilligkeit ausgibt172 - bildet das zentrale Motiv der Fabel, es wird jedoch in rhetorischer indirekter Affirmationsfrage untergebracht. Wie das Licht - als Symbol der VersöhnungsSouveränität — dem Gemäldeschöpfer zugeordnet und dem Schatten übergeordnet wird, so wird der Schatten selbst >von oben befriedet^ er konstituiert entgegen der ontologisierenden Behauptung gerade keinen differentiellen Wert. So überholt der Begriff Gottes bei Fechner den des Künstlers. Die Anthropomorphik widerruft sich, sofern irgendein Negatives in die Machtfülle des »Glücks« einginge. Die Frage nach der Berechtigung der Verbindung von immer schon im voraus >gewendeter< Unlust und Lust wird durch immanenten Selbstwiderruf daran gehindert, sich zu stellen: ein »insofern« bringt nicht Erläuterung, sondern Kontradiktion. Diese Gedanken-Wende entspricht nun - unabhängig vom Niveau des denkerischen Kontexts - der Bewegung des etymologisierenden Selbstwiderspruchs, die in Nietzsches berühmter Wendung »Notwendigkeit hat alle Not gewendet« vorliegt. Bei beiden Denkern wird so die Realität der Begründung des Widerspruchs unfragbar: Das Problem der Theodizee interessiert Fechner weder hier noch anderwärts. 173 Aber der Widerspruch in der Einheit des menschlichen und soteriologischen Wesens Gottes fordert eine Scheinstruktur heraus. Das Oppositionsschema wird eingebracht in der Topik, die doch gerade als aufgehoben gelten soll: die Generaldifferenzierung der romantischen Anthropologie — »innerlich« vs »äußerlich« — widerruft immer wieder die Einheit von innerer Haltung, Empfindung, wahrem Wesen und 171 172 173

Ebd. Vgl. R. Bilz: Der Verdrängungsschutz. Eine Untersuchung über das Paradigma der Verdrängung bei Nietzsche und bei Freud, in: Der Nervenarzt 29 (1958) 145—148. Vgl. dazu vor allem Zend-Avesta II und Tagesansicht.

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äußerer Handlung, praktischer Tat. Der so sehr mitleidende Gott wird im nächsten Augenblick in didaktische Distanz gerückt. Das von Fechner berufene >bloß äußerliche Ansehen< konnotiert >innere Gleichgültigkeit, >Duldung gegenüber dem Negativen< — in wahrer >Innerlichkeit< aber, so wird nahegelegt, sei es, wenn praxislos, doch auf dem Weg zur lustbetonten Negativitätsaufhebung. Der Selbstvergleich des human denkenden Menschen verweist nun auf die gleichnispraktische Kernzone der Denkform: auch wir >sehen »bloß äußerlich«< das Elend des Bettlers - vertrösten ihn mit einem Pfennig, haben aber doch schon, insofern wir sein Elend fühlen, das volle Mitleid mit ihm. Deshalb kann über die praktische Zukunft dieses Mitleids nichts verlauten. Sie wird ebenso seelisch-automatisch und heliotrop zur »Lust der Versöhnung des Leides« tendieren wie die Seele Gottes gegenüber der »Nacht des Leides«, Totalaussage wird sogleich als Teilaussage widerrufen: neurotisch daran ist die zwangshafte Blindheit und Rekurrenz, die Satz für Satz nachzuweisen ist. Hier heißt es: Ist eine unsrer Seelen ganz in N a c h t des Leides versenkt, so ist's ja darum noch nicht seine weit darüberhingreifende. 1 7 4

Wie Gott also hat auch der Mensch das Bessere, weit über die Gegenwart Hinausgreifende schon bereit im Busen, während er noch den Gottespfennig seiner Selbstentlastung wirft. Und wie das Fühlen des Schmerzes schon nachgeordnet wird dem »Überschlag in Lust« — der auch in Fechners Schrift über »Das höchste Gut« zentrale Orientierung liefert - , so geht die Seligkeit gleich immer weiter und darüber zur Seligkeit aller der Armen, die schon — so wird es Ende des Jahrhunderts von Dehmel, Schlaf, den Gebrüdern Hart immer wieder gesagt — »im All« zu spüren ist. 175 Ein sachliches Ende hat die parabelhafte Erbauung nicht, die im bloß innerlichen Verhältnis des Guten zur Welt stecken bleibt, dafür ein poetisches. Fechner zitiert seinen Lieblingsautor Rükkert, um dann unmittelbar in die Rolle des Erbauungshelfers zu fallen, der seinen Rezipienten mit den Ruten seiner rührenden Rekurrenz schlägt. 174 175

Zend-Avesta II, 249. Zend-Avesta I, 249. — Wieweit die auf leeren, >autogenen< Umschlag setzende Verklärung des Armseins hier - in der Mitte der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts ihre Wurzeln hat, wäre nicht nur im Blick auf die in der Trivialität verbleibenden Sonnenverehrer und Zeitverächter der Neuromantik zu fragen, sondern bis hinein in die durch dieselbe Denkgeschichte gegangene Armen-Verklärung noch des Rilke der Elegien: seine siebte spricht von der Enterbung durch »Umkehr der Welt«, von der Ferne des »Nächsten«, - die vierte von der erloschenen Bühne: »ich bleibe dennoch. Es giebt immer Zuschaun.« (Rilke, Sämtliche Werke 1,698)

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Die Seligkeit ist nicht zu vielen, nur zu allen; Mir kann nur Seligkeit der ganzen Welt gefallen. Wer selig war' und müßt unselig andre wissen, Die eigne Seligkeit wär' ihm dadurch entrissen. Und die Vergessenheit kann Seligkeit nicht sein, Vielmehr das Wissen ist die Seligkeit allein. Drum kann die Seligkeit auf Erden nicht bestehn, Weil hier die Seligen so viele Unsel'ge sehn. Und der Gedanke nur gibt Seligkeit auf Erden, Daß die Unseligen auch selig sollen werden. Wer dieses weiß, der trägt mit Eifer bei sein Teil Zum allgemeinen, wie zum eignen Seelenheil. Gott aber weiß den Weg zu aller Heil allein; Drum ist nur selig Gott, in ihm nur kannst du's sein. (Rückert, »Weisheit des Brahmanen«. I. S. 5 8 ) 1 7 6

So wenig sich in Rückerts Dichtung die historische Konsistenz des Buddhismus in der semantischen Gestalt eines Textes umreißen läßt, da die Uminterpretationen nicht nur der historischen Bestände, sondern der möglichen Konsistenz des poetischen Gedankens selbst dessen Gestalt vereiteln, so wenig lassen sich Fechners Texte auf ihrer unablässigen Flucht vor gedanklicher Bestimmbarkeit zu einer anderen historischen Gestalt als der einer geschichtsflüchtig synkretistischen strukturieren. Zu dieser Geschichtsflucht gehört, daß im Einreden von »Kraft« jeder »Weg« genommen wird, auf dem sie sich objektivieren könnte. 177 Im engeren geschichtlichen Horizont kommt es in der totalen Verklärung der theologisierten Naturerbauung auch zur Integration der mechanistischen Topoi des 18. Jahrhunderts; da Erkenntnis sich von andern geistigen Tätigkeiten nicht unterscheidet, Erkenntnisinhalt auf Behauptung und widersprüchliche Mischung von Präpositionalphrasen reduziert ist, sind alle Beziehungen von allen >Dingen< aussagbar. Konstant ist die Position der Selbstunterordnung des Menschen - allerdings bereichert um die Möglichkeit, sich umstandslos mit Gott gleichzusetzen. 176

Ebd. II,

177

Z u m Beleg für die sich selbst annihilierende Persuasion ohne Inhalt zitieren wir, w a s

249Í.

Fechner anschließend ans R ü c k e r t - Z i t a t vorbringt: » W e m diese B e t r a c h t u n g e n recht ins G e m ü t gegangen, der w i r d im Gedanken an G o t t im herbsten Leide einen T r o s t über allen T r o s t finden. E s m u ß besser mit dir werden, weil G o t t lebt, G o t t in dir lebt, du in G o t t lebst, G o t t dein Leiden nicht nur äußerlich ansieht, sondern selbst mit dir fühlt, u n d über alle deine K r ä f t e und Mittel g r ö ß e r e Kräfte und Mittel h a t , mit denen er unablässig beschäftigt ist, die Hebung des Übels durchzusetzen. D a z u strengt er nicht nur deine Kräfte, sondern, w o sie nicht reichen wollen, Kräfte weit ü b e r dich hinaus, ja endlich seine g a n z e n Kräfte an, die zu allem reichen« (ebd. II, 2 4 9 f . ) .

220

Wir sind im Zusammenhange der ganzen Werkstatt der Natur zweckmäßig erfunden und eingerichtet und dienen nun jeder besonderen Zwecken darin. 178 Eine atemporale kosmologische Didaxe zieht sich durch das ganze W e r k Fechners, indem sich grenzenlose Lern- wie Lebensprozesse abspielen. So steigert sich mit jedem neuen Leben die unverletzbare Schönheit der Welt. Die rentable Gleichsetzung von potentia

und actus führt zum

göttlichen Verwechslungsspiel von allem in alles: Und indes von einer Seite Gott an Alter wächst, wächst er von der anderen auch wieder an Jugend; denn wie er altert in der Zeit, werden immer neue Einzelwesen in ihm jung. [...] Indes das Kind vom alten Gotte das Alte lernt, erlernt der alte Gott durch neue Wesen Neues, [...] hebt allen Schatz des Neuen, den er in einzelnen durch sie gesammelt, im ganzen auf, [...] und aus diesem Schatze empfängt dann jeder durch Erziehung und Leben dies und das und wuchert mit dem empfangenen Pfunde weiter [...]. 1 7 9 Theologie, die zur atavistischen Topik entartet ist, Philosophie, die mit einem Dutzend Denkformeln auskommt, verbinden sich mit der zur Erbauung entwerteten Dichtung zur Gegenstandslosigkeit einer Sprache, die selbst im 1 9 . Jahrhundert ihresgleichen sucht. Ihr Code versucht sich auf rein synthetischen Umgang mit den drei Zentralbegriffen zu beschränken, die Fechner in der Poesiesammlung v o m Ende des »ZendAvesta« aus Riickert zitiert. 1 8 0 Wir hielten es nicht aus in der entseelten, entgötterten Natur, wenn wir nicht mit der Phantasie wieder hineintrügen, was wir ihr mit dem Verstände und im Glauben geraubt haben — so heißt es hier unter Verwendung eines sehr unmarxistischen Entfremdungsbegriffs: er meint die Privation von anthropomorpher Phantasie. Fechner selbst thematisiert die zum Animismus zwingende atavistische Struktur des Ersetzungswahns: Dennoch muß etwas in der Natur sein, was durch den Nebel, der unsre Augen deckt, das Augenlid, womit wir es freiwillig verschließen, gewaltig hindurchleuchtet und uns nötigt, das gleichsam im Wahnsinn noch nachzusprechen, was der jungen Menschheit klar offen lag. 181

178 179 180

181

Zend-Avesta, zit nach W. Sprink, Spinoza und Fechner 33. Ebd. 31. »Der Menschenrede wert ist nicht, was Menschen taten; / Mit der Natur und Gott soll sich mein Geist beraten. / Die Weisheit Indiens hat vergessen der Geschichte, / Daß sie allein von Gott, Natur und Geist berichte.« (Unterstreichung von W. G.; Zend-Avesta II, 303). Zend-Avesta II, 302f.

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LOTZES STELLUNG Z W I S C H E N M E C H A N I S M U S - UND MIKROKOSMOSMODELL

1. Panpsychistische Prägung des jugendlichen Bewußtseins »In der ersten Reihe der Denker, die seit Hegel und Herbart aufgetreten«, stehen für Falckenberg »Theodor Fechner und Hermann Lotze, beide Meister in der Handhabung exakter Methode, zugleich mit ganzer Seele den höchsten Fragen zugewandt, [...] Fechner abwechselnd Phantast und nüchterner Forscher, Lotze die Gegensätze in Leben und Wissenschaft mit weicher Hand harmonisierend«. 1 Falckenberg sieht in Lotze einen vor Trendelenburg, Fechner und Hartmann ausgezeichneten Klassiker der Philosophie. Auch Lotze ist ausgebildeter Naturwissenschaftler, promovierter und habilitierter Mediziner, der zu Metaphysik und Philosophie weitergeht. Er teilt mit Fechner, dem er freundschaftlich im Leben, aber kritisch in der philosophischen Auseinandersetzung verbunden war, das Medizinstudium in Leipzig und die Prägung durch die Philosophie und Theologie von Weiße und J. H. Fichte. Aber vorher schon sind bei Lotze extreme Positionen eines Panpsychismus vorhanden, der sich in Jugenddichtungen des Sechzehnjährigen ausdrückt, die einerseits der »Sprache des traditionellen religiösen Empfindens verfallen [sind], wie sie in der durchschnittlichen GesangbuchLyrik zu finden ist«, 2 andererseits eine sehr starke Goethe-Rezeption ausweisen. Dies letztere gilt vor allem für einen unvollständig erhaltenen Novellenzyklus »Die Deutschen«, in dem Anregungen von »Wilhelm Meisters Wanderjahren« 3 vorliegen. Dem Goetheschen Naturverhältnis dürfte die besondere Emphatik zu verdanken sein, mit der Lotze einerseits »die sichtbare Herrlichkeit der Schöpfung« preist, andererseits gleichzeitig das selbstdiffamierende und weltentwertende Diktum ver-

1 2 3

R. Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie 583f. M. Wentscher, Lotzes Leben und Werke 9. Ebd. 11.

222

bindet: wir brauchen »eine Körperwelt, eine sinnlose, seelenlose Welt, um uns darüber zu erheben«.4 Die unklare Verbindung von angestrengter anthropologischer Subjektivität (im Erhebungspostulat) und kosmischer Idealität liegt den Philosophemen des »Unendlichen« (als Bezeichnung für das Göttliche), der » e i n e n unerschöpflichen Quelle« und der »Verbrüderung« aller Wirklichkeiten zugrunde. 5 >Verbrüderung< ist grundsätzlich nur im Enthebungsbereich, — der jedoch als eine immanente Elevation gedacht ist: »in dem >ewigen Heiligen< sei >unsere Vereinigunginnige Leben, das überall hervorquellende Strahlen des U n e n d l i c h e n , Heiligen, des göttlichen Geistes< in der Wirklichkeitswelt [...].« 6 Die für Fechner, für Schopenhauer festzustellende Widersprüchlichkeit der Wertungsinhalte in unklaren Theoretisierungen liegt für Lotze genauso vor — sie wird jedoch ohne die den Genannten eigentümliche Selbstgerechtigkeit hier zugegeben, ja kritisch revidiert. So steht bei Lotze die spätere Kritik zugleich mit der Orientierung an Wissenschaftsergebnissen und an logischer Argumentation im Vordergrund eines Bewußtseins, in dessen Motivationsgehalten die poetische und ethische Einheitssuche, wie sie im Verbrüderungstopos synthetisch gedacht ist, sich lebenslang durchhält. Wenn Lotze später sich von Fechners Allbeseelungs-Hypertrophien abgrenzt (so in dem Aufsatz »Alter und neuer Glaube« von 1879 in der Deutschen Revue), distanziert er sich von seinen eigenen jugendlichen panpsychistischen Vorstellungen, in denen die Allbeseelung nicht nur auf Blüten und Keime, »sondern auch auf Mond und Sterne und weiter auf die >wehenden WolkenFrühund Spätrot< übertragen [wird], auf Gebilde also, die ganz offenbar nur f ü r u n s , in dem Anblick, den sie uns gewähren, ein einheitlich Ganzes, wie es der spätere Lotze als notwendige Bedingung der Beseelung fordern mußte, bedeuten können, ja, die auch für uns im Grunde nur als 4

5 6

Ebd. 14. Das widersprüchlich verflochtene Wertungs- und Abwertungsschema, das der Naturverklärung zugrundeliegt, ist in dieser pseudokritischen Jugendnotiz idealtypisch greifbar: die von einem alogischen Entwertungszwang geprägte Aburteilung der Körperwelt als »sinnlos« und »seelenlos«, andererseits ihre Funktionalisierung zum iiberwind- und überbietbaren Anlaß verklärender Selbsterhebung. Ebd. Ebd. Wentscher sieht richtig, »daß hier in der Tat der eigentliche Ursprung jener späteren, ausgereiften Weltanschauung des Philosophen liegt, daß also die metaphysisch-logischen Argumentationen, die später zur Begründung derselben herangezogen werden, nicht etwa den Weg bezeichnen, auf dem Lotze selbst ursprünglich zu ihnen gelangt ist«.

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Bestandstücke der uns umgebenden Szenerie jene Bedeutung haben, die ihnen das ästhetische Gefühl in poetischer Anschauung zuweist«. 7 Die weltanschauungsbildende und religionsersetzende Funktion der produktionsästhetischen Totalitätserfahrung ist hier — mit einer für die zweite Hälfte des Jahrhunderts signifikanten Verweisung auf die »Szenerie« — ausgesprochen. Schillings, Hegels und Goethes Gedanken (es gibt Distichen auf sie, wörtliche Faust-Zitate, ein »Ganymed«-Gedicht, ein »Helena«-Drama, Aufgreifen des Namens des »Allumfassers« — und die dazugehörige »Faustsche Geringschätzung alles vermeintlichen W i s sens der Menschen gegenüber dem, was >aus eigener Seele quillt«Frömmigkeitnatura naturans< Beabsichtigte«13 sieht. Damit ebnet sich ein Gedankenweg, der an Schopenhauers Willens-Intentionalismus erinnert, ohne dessen Intellektfeindschaft anzuerkennen. Die Erscheinung wird ontologisch als intendierte >Emanation< der Allseele gedeutet, während die hypostatischen Scheinqualifizierungen naturphilosophischer Prinzipien aus Schellingscher Provenienz einer erstaunlich radikalen Kritik 11 12

13

Wentscher, Lotzes Leben und Werke 26. Wichtig wurden für Lotze vor allem zwei Arbeiten Weißes aus den frühen dreißiger Jahren: »Die Idee der Gottheit« (1833) und »Grundzüge der Metaphysik« (1835). Gegen die These eines spezifisch personalistischen Einflusses von Weiße auf Lotze, die der Pfarrer Pannier vertritt, weist Schmidt-Japing wohl zurecht auf das ästhetische Moment hin, wenn er sagt, »daß er dem jungen Lotze die Formeln bot, in denen sich seine bisher ungeklärte Pietätsreligion eines ästhetisierenden Panentheismus bewußt werden konnte. Die schon in der frühen Ablehnung des Indeterminismus sich zeigende Tendenz Lotzes auf den >ganzen Geist< wurde durch den >absoluten Geist< Weißes ins philosophische Bewußtsein gehoben.« (Lotzes Religionsphilosophie in ihrer Entwicklung 28) Auf die durchgehaltene Triftigkeit einer Pietätsreligion verweist das im »Mikrokosmos«-Entwurf notierte Schlußkapitel hin: »Der status quo und pia vota« (zit. nach Wentscher, Lotzes Leben und Werke 368). Wentscher, Lotzes Leben und Werke 33.

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unterzogen werden: so die Begriffe »Polarität«, »organische Gravitation«, »vitale Oszillation«. 133 Als ausgleichendes Gegengewicht zu dieser Aufklärung erfolgt umgekehrt eine generalisierende Qualifikation alles Daseienden, also nicht nur der Lebewesen, sondern aller Körper, als »sensibel«. Dieser kritisch-korrektive Begriff wird in der Frühzeit defensiv gegen die Konnotationen »Seele« und »Selbstbewußtsein« angesetzt - unter Verweis auf die eingegrenzte wissenschaftliche Zuständigkeit der Philosophie. Wieweit diese Eingrenzung durch die Rezeption der großen metaphysischen Philosophietradition, besonders der Leibnizischen Monadologie, wieder aufgehoben wird, läßt sich aus der systematischen Analyse seines Werks unschwer erkennen.

2. Die Antinomie von »Gemüthsbedürfnis« und »Wissenschaft« und ihre Zurückstellung durch einen psychistischen Dingbegriff Klassiker der Philosophie zu sein, darf Lotze nicht zuletzt seiner außergewöhnlich systematischen Befähigung wegen in Anspruch nehmen. Er realisiert nicht nur im Gegensatz zu Fechner den Widerspruch zwischen Alltags- und Wissenschaftssprache, sondern thematisiert den vor solchen medialen Unterschieden der Selbstrepräsentation von Wissensformen liegenden Bedürfnis- und Interessenswiderspruch. Die Rückbindung aller logischen Darlegungen an die Grenzen der sprachlichen Annäherung an das Gemeinte nötigt ihm in seinen Schriften wiederholte Hinweise auf die Unzulänglichkeit des sprachlichen Ausdrucks und Reflexion der diskrepanten Motivierungen von Wissens- und Gefühlsinteresse ab. Daß er den Griff aufs >Ganze< des menschlichen Wissens und Lebens wagt und ihn gleichzeitig von der Rationalität kontrollierter Urteilsbildung abhängig macht, verleiht seinen »anthropologischen« Versuchen einen umständlichen, aber auch ehrlichen Charakter. Lotzes schriftstellerische Situation ist in einem prägnanten Sinn gedoppelt: 14 als zugleich theoretisierender wie praktischer Arzt schreibt er an spekulativen wie an empirischen Arbeiten. Das persönliche Interesse ist dabei längst auf der Seite der Philosophie, und zwar mit dem Ziel 13a 14

Ebd. 32. 1839 hat sich Lotze gleichzeitig für Philosophie (mit der Arbeit »De summis continuorum«) und für Medizin habilitiert. Aus dem Themenkreis der Habilitationsschrift erwächst die 1841 veröffentlichte »Metaphysik«, ihr steht im nächsten Jahr die »Allgemeine Pathologie und Therapie« gegenüber.

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(um einen Topos aus Lotzes Biographien zu zitieren), die »Hochflut materialistischer Tagesströmungen« 14a einzudämmen. Aus den Stellen erhöhter didaktischer Relevanz des Metaphysik-Buches ergibt sich, daß Lotze den ästhetisch-emotional fundierten »Zusammenhang der Dinge« bereits als Horizont seiner Überzeugungen anzielt und weitergibt, noch ehe er zum »philosophischen Beleg< dieser synthetischen Auffassung kommt, die sich aus der Verwirklichung eines schon 1853 mit seinem Freund Hirzel besprochenen Plans einer »Anthropologie« entwickelt; ab 1856 erscheint sie unter dem Namen »Mikrokosmos«. 15 Lotze geht mit dem ersten Satz der Mikrokosmosbände unvermittelt auf den genannten, für das Denken des 19. Jahrhunderts verschärften Widerspruch zwischen Gemüt und Erkenntnis ein: Zwischen den Bedürfnissen des Gemüthes und den Ergebnissen menschlicher Wissenschaft ist ein alter nie geschlichteter Zwist. Jene hohen Träume des Herzens aufzugeben, die den Zusammenhang der Welt anders und schöner gestaltet wissen möchten, als der unbefangene Blick der Beobachtung ihn zu sehen vermag: diese Entsagung ist zu allen Zeiten als der Anfang jeglicher Einsicht gefordert worden. Und gewiß ist das, was man so gern als höhere Ansicht der Dinge dem gemeinen Erkennen gegenüberstellt, am häufigsten doch nur eine sehnsüchtige Ahnung, wohl kundig der Schranken, denen sie entfliehen, aber nur wenig des Zieles, das sie erreichen möchte. 1 6

Mit den »Eindrücken überlieferter Bildung und augenblicklicher Zeitrichtungen«, mit natürlichen Stimmungswechseln und subjektiven Erfahrungsbeschränkungen nennt Lotze wesentliche Widerstände gegen die Erwartung, daß die unruhige Bewegung des Gemüthes den Zusammenhang der Dinge richtiger zeichnen werde, als die besonnene Untersuchung, mit der in der Wissenschaft das Allen gemeinsame Denken beschäftigt ist. 1 6 *

In Lotzes Bekenntnis zur idealistischen Philosophie, wie es am Ende seiner »Logik« ausgesprochen ist, tritt jedoch signalartig die Antithese zwischen universalistischem Verstehen und fachwissenschaftlicher

Wentscher, Lotzes Leben und Werke III, 25 u. ö. Vgl. die im Brief vom 8. 3. 1853 Hirzel mitgeteilte Disposition, die mit der »Mechanik des menschlichen Körperlebens« und der »Mechanik des Seelenlebens« beginnt und nach einer »Geschichte des religiösen Bewußtseins« mit dem XI. Punkte schließt: »Der status quo und pia vota«. - Für Falckenberg ist der Untertitel des besonders einflußreichen »Mikrokosmos« (3 Bände, 1. Auflage 1856-64. 5. Auflage 1896-1909, nach welcher hier zitiert wird) eine bescheidene Untertreibung. 16 Mikrokosmos I, V. 16aEbd. I, Vf.

14a 15

227

Berechnung auf: es gehe darum, »den Weltlauf zu verstehen und ihn nicht bloß zu berechnen«. 17 Es wird kein Zweifel daran gelassen, daß nun die Anstrengung dieses dem »Zusammenhang der Dinge« so prononciert gewidmeten Kompendiums systematischen Wissens vor den Richterstuhl der Wissenschaft zu treten hat. Andererseits aber soll mit der neuen »Vergötterung der Wahrheit« nichts »beleidigt« werden, »was das lebendige Gemiith außerhalb der Wissenschaft für unantastbar achtet«. 18 Lotzes Fragestellung insistiert auf dem Problem einer Bedrohung des traditionellen vorwissenschaftlichen »Weltbilds« durch die von der Naturwissenschaft angeführte Verwissenschaftlichung. Sein Werk steht, wie es die Vorrede zum »Mikrokosmos« angibt, in der Linie des »anwachsenden Widerstandes gegen die Beeinträchtigungen [...]«, die man von »dem übermächtigen Einfluß« der Naturerkenntnis »für das Höchste der menschlichen Bildung erwartet«. 19 Diese Vorrede liefert in der Offenheit ihrer um Wertungsprobleme der Anthropologie bemühten Frageansätze interessante Hinweise auf die Rolle, die man der Poesie in der weltanschaulichen Auseinandersetzung zuweist. Rügt Lotze, daß sich die Naturwissenschaft »gewiß mit Unrecht [...] ganz von den ästhetischen und religiösen Gedankenkreisen« 20 abwendet, so dokumentiert sich darin der ganzheitliche Anspruch, der von der vorher bereits erwähnten geistigen Arbeitsteilung wieder abrückt. Den Ganzheitsanspruch verbalisiert Lotze mit dem Begriff des »Übersinnlichen«, zu dessen Gebrauch auch die Naturwissenschaft mit ihren Theorien von Kräften und Naturgesetzen zurückkehren müsse. Mit diesem Vorschlag kennzeichnet sich Lotzes Lösungsansatz bei der Vermittlung von (Natur)Wissenschaft und traditionellem Denken als idealistisches Überfangen der modernen mechanistischen Beschreibungsmodelle. Aber er findet die »mechanische Naturauffassung« viel ungefährlicher als ihre Gegner, deren »ängstliche Furcht, vor ihren Folgerungen alle Lebendigkeit, Freiheit und Poesie aus der Welt verschwinden zu sehen«, 21 ihm ungerechtfertigt erscheint. Seine Begründung ist einem Geschichtsbewußtsein zunehmender Aufklärung entnommen: das anthropologisch jeweils regionale mythische »Gefühl der Heimatlichkeit«, »diese Einigkeit des Göttlichen und Menschlichen ist überall zu Grunde gegangen in dem Fortschritte der geographischen

17

18

Zit. nach Hosang An, Hermann Lotzes Bedeutung für das Problem der Beziehung (Diss. Jena 1929), Bonn 1967, 4. 20 Ebd. I, X . 21 Ebd. I, XI. Ebd. I, VI. " Ebd. I, X .

228

Kenntniß« -

a b e r : »diese erweiterte Aussicht v e r d a r b nicht, sondern

veränderte nur u n d e r h ö h t e den poetischen Reiz der W e l t « . 2 2 D i e auf s o l c h e Beteuerung der poetischen K o n s t a n z erfolgende R e k a pitulation der Desillusionierungen bringt keinerlei inhaltliche Belege für die E r h ö h u n g jenes Reizes. L o t z e will - mittels d e r räumlichen Vorstellung der W i s s e n s e r w e i t e r u n g -

in ihr zugleich

Lebensbereicherung

sehen, - in seinem M o d e l l w i r d aber der idealistisch k o m p e n s a t o r i s c h e >Zugzwang< einer erneuten gegenaufklärerischen M e t a p h y s i k wörtlich greifbar: So sind alle die freundlichen Begrenzungen zerfallen, durch die unser Dasein in eine schöne Sicherheit eingefriedigt lag; unermeßlich, frei und kühl ist die Aussicht um uns her geworden. Aber alle diese Erweiterungen unserer Kenntnisse haben weder die Poesie aus der Welt vertrieben, noch unsere religiösen Ueberzeugungen anders als förderlich berührt; sie haben uns genöthigt, was in anschaulicher Nähe uns verloren war, mit größerer geistiger Anstrengung in einer übersinnlichen Welt wiederzufinden. 23 Es läßt sich nicht übersehen, d a ß hier - in so aufklärungsbereit erscheinender W e i s e -

22

23

keinerlei inhaltliche M o m e n t e

diskutiert sind; die

Ebd. I, XI. Welche weltanschauliche Belastung dem Motiv des Blicks von der Gipfelhöhe herab im Denken Lotzes zukommt, wird erst aus dem von Wentscher mitgeteilten »Ganymed«-Fragment ersichtlich. In den drei mitgeteilten Strophen bleibt das Sujet des Abwärtsblickens erhalten: in der ersten wird dem elevierten Jüngling vergönnt, »Aus stiller Heiterkeit / Lenzblauer Wolke / Niederzuschaun unberührt / Auf das wechselnde Elend«. Jede Strophe endigt mit dem elegischen Appell, in die Tiefe heimgeführt zu werden. Die zweite Strophe konkretisiert das Sehnsuchtsmotiv mit dem Weinen der verlassenen Geliebten. Immer erweist sich die Situation der Höhe als unerträglich - als unirdisch, und unmenschlich. Die dritte Strophe lautet: Ausblick, unendlicher, Der du dich bietest mir, Von den Gipfeln der Welt abwärts, Verhülle dich, unseliger! Betörtest du nicht Den strebenden Geist Mit trügerischer Größe, Er würde nicht jetzt Weinend vom Himmel Nach dem Tale seiner Jugend Flehend die Arme breiten! (Zit. nach Wentscher, Lotzes Leben und Werke 360) Das vorrevolutionäre Stigma der unbewältigten Höhe begegnet als Klage über »stolze Sehnsucht ohne Kraft« am Ende des Gedichtes »Gewitterregen« (ebd. 359). Die Widerlegung der Elevation, nachdem sie erfolgt ist, durch die Schwäche der irdischen Bindungen dürfte als Beleg für eine fragwürdig affirmative Aufwertung des philosophischen Gipfelbewußtseins in der enzyklopädischen Programmschrift »Mikrokosmos« gelten. Ebd. I, XIII.

229

Umwertungsprozesse, wie sie Feuerbachs Werke strukturieren, werden auf je abstrahierend-formale Weise »überhöht«; Anerkennungen der widersprüchlichen Positionen schwanken zwischen abstrakter Affirmation und inhaltsloser Einschränkung, Kriterien der religiösen Wahrheit werden ebenso wenig gegeben wie solche der Lebenswertigkeit. Als Vehikel der die regionale Desillusionierung und Entmythisierung auffangenden Sichterweiterung erscheint der prononcierte Welt-Begriff, so daß sich die Relation ergibt: Zunahme der Heimatlosigkeit und Unbehaustheit = Zunahme des poetischen Reizes der »Welt«. Sein volles Verständnis für die »Standhaftigkeit«, mit welcher die Weltansicht des Gemüthes als höhere Auffassung der Dinge den überzeugenden Darstellungen der mechanischen Naturbetrachtung [...] zu widerstreben sucht, 24

setzt dem didaktischen Ziel dieses anthropologischen Werkes seinen Inhalt: gegen »das weitere Vordringen der mechanischen Wissenschaft [...] die kleinere Welt, den M i k r o k o s m o s des m e n s c h l i c h e n W e s e n s « 2 5 zu verteidigen; die »unbefangene« Einsicht in das Überzeugende der mechanistischen Beschreibung der Welt zwingt ihn andererseits zu einer Lösung des Dilemmas, die dieser nicht zu nahe tritt. Sie besteht in dem »Versuch, die Harmlosigkeit dieser Ansicht nachzuweisen«. 26 Am Ende des Vorworts nimmt Lotze Bezug auf idealistische Leistungen der Welterklärung: er distanziert sich verehrungsvoll von dem nur indirekt erwähnten Werk Alexander von Humboldts, er interpretiert seine eigene Absicht als Wiederholung des anthropologischen Unternehmens, das in Herders »Ideen zur Geschichte der Menschheit« vorliegt, allerdings »unter den veränderten Anschauungen, welche die Gegenwart gewonnen«. 27 Lotzes Dingbegriff ist Ergebnis einer semantisch mehrwertigen Betonung des Zusammenhangs. Die schon im 18. Jahrhundert erfolgte Auflösung der Annahme der substantialistischen Unveränderlichkeit der Dinge hatte ihre Beschreibung als >Einheiten wechselnder Zustände< nahegelegt. Zum Zustandsbegriff, dessen Anwendbarkeit von >akzidentiellen< Verhältnissen (wie bestimmten Farbwerten) bis zu wesensverändernden Einwirkungen anderer >Dinge< reicht, gehört ein latent aktionaler und damit intentionalisierender Inhalt. Lotzes wiederkehrende Formel zur differentiellen Beschreibung des Dinges ist, daß es »tue« und »leide«. Damit ist der latenten Anthropomorphierung des Dingbegriffs 24

Mikrokosmos I, XIVf.

230

25

Ebd. I, XIV.

2i

Ebd. I, XV.

27

Ebd. I, XVI.

vorgearbeitet. Es fällt auf, daß Lotze sich kaum auf eine naturwissenschaftliche Fassung des Dingbegriffs einläßt, sondern ihn unter dem Aspekt philosophischer Kausalität reflektiert. Da Kausalitätsbewußtsein eine der prägnantesten Ausformungen des Zusammenhangbewußtseins ist, wird die Fassung des Kausalitätsbegriffs bestimmend für die Gehalte des Totalitätsbewußtseins. Bevor wir die verschiedenen Funktionen der Einheitsannahme, unter welcher die mechanistischen Beschreibungen als »harmlos« erscheinen können, untersuchen, ist nach der Motivation des ontologischen Interesses bei Lotze zu fragen. Der Seinsfrage ist der Philosoph so unverbrüchlich zugetan, wie er deren vorschnelle Beantwortungen zurückweist. Aber ihr Ansatz ist bereits von der Weltfrage abhängig, die als übergreifende Problemstellung und Antwortsbeziehung vorausgesetzt wird. Der Zusammenhang von ontologischer Vergegenständlichung und latentem Anthropomorphismus wird von folgendem Zitat deutlich gemacht: Wir werden z u e r s t uns unsere Forderung klarmachen und überlegen müssen, was jenes Sein ist, das wir von den Dingen geleistet verlangen, damit an ihnen unsere Weltauffassung jenen festen G r u n d finde; in zweiter Linie erst wollen wir fragen, wie die Dinge und w a s sie sein können und müssen, u m dies Sein, dessen Sinn wir gefunden haben werden, zu genießen. 2 8

Unter der kosmologischen Präjudizierung des Dingbegriffs erscheint die Motivation, den Dingen einerseits so weitgehende Selbständigkeit zu geben, daß sie zum >Selbstgenuß< kommen, ihnen andererseits kosmologische Fundierungsaufgaben zu stellen. Jene erste Motivation, die einer hochgradigen Aufwertung des Dinges vorarbeitet, wurde in der zeitgenössischen Diskussion als »Hedonismus« bezeichnet; sein durchaus nur analogistischer Charakter steht — bei allen seinen Vertretern wie Fechner, Lotze, Paulsen, Trendelenburg u. a. — in Zusammenhang mit der Absicht, dem Dasein über eine Aufwertung des >Seins< jene Optimierung angedeihen zu lassen, deren Extremwerte wir »Verklärung« nennen. Das Zitat belegt die dogmatisch von universalistischen Positionen und humanen Erwartungen ausgehende Ontologie. Im Begriff des Dinges wie in der Relation der Dinge wird ein Leidenspostulat gedacht, das zum Ausgangspunkt der psychistischen Zusammenhangsannahme wird. Unter dem Begriff der »Wechselwirkung«, an dem Lotze ziemlich reflexionslos festhält, agieren die Dinge auf-, gegen- und miteinander wie empfindliche aktionshaltige Wesen. 28

Zit. nach H. Kronheim, Lotzes Lehre von der Einheit der Dinge 19.

231

Solange die Dinge Nichts merken und leiden von den Beziehungen, welche zwischen ihnen stattfänden, solange können diese nicht den Grund einer Veränderung in ihnen und ebensowenig den einer wechselseitigen Wirkung derselben aufeinander enthalten. Nur von dem, was in ihm selbst wirklich ist, von seinem eigenen Leiden kann jedes Wesen zur Veränderung seiner Zustände veranlaßt werden; nur insofern zwei Wesen dies Leiden einander antun, können sie aufeinander wechselwirkende Ursachen sein. 29

Eine doppelte Weise der Veränderung wird hier dem Ding zugesprochen. Das Leiden ist einerseits autogene Veränderung im Ding, über deren Ursache hier nichts weiter ausgesagt wird, andererseits heterogene Reaktion auf Fremdeinwirkung. Diese augenscheinliche Doppelbegründung eines einheitlichen Sachverhaltes korrespondiert einem zweifachen Dingmodell: das >immanente< Leiden entspricht einem Transzendentalismus in der Konstruktion des Dings, das exogene Leiden bleibt auf die Auffassung relativ selbständiger und mechanisch aufeinander wirkender Einheiten bezogen, in denen die monadologischen Momente der Leibnizschen Dingkonzeption nachwirken. Die Verbalisierung der Tätigkeiten der Dinge ist nun eindeutig psychistischer Herkunft, und der von Lotze immer wieder aufgegriffene Ausdruck, die Dinge seien nicht »teilnahmslos« gegeneinander, bestätigt die psychistische Konzeption seiner Ontologie. Lotze kämpft gegen die These der monadologischen Unabhängigkeit der Dinge mit unermüdlicher Wiederholung ihres Zusammenhangs, er kritisiert damit die seiner Leibnizrezeption zugehörenden pluralistischem Momente mit einem idealistischen Entwurf der übergreifenden beharrlichen, die Einzeldinge integrierenden Substanz. Aber auch dieses Modell ist nicht einfach eine Wiederholung etwa Fichtescher Vorstellungen - gegenüber der Auffassung der Bewußtseinsabhängigkeit der Existenz der Dingwelt betont Lotze einen >realistischen< Standpunkt. »Das Sein der Dinge ist weder ihr Wahrgenommenwerden [...] noch eine reine, beziehungslose Position, ihre Setzung überhaupt, sondern Sein ist S t e h e n in B e z i e h u n g e n . « 3 0 Vielmehr werden in deutlicher Entsprechung zur frühidealistischen spinozistischen Auffassung die »Dinge als Modi, Zustände, Teile eines einzigen umfassenden Wesens, einer unendlichen, unbedingten S u b s t a n z betrachtet«. 31 Lotze sieht jedoch in dieser integralistischen und insofern entlastenden Annahme noch keine ausreichende Analyse der Kausalgenese an sich: wie ursprünglich die >Entstehung< von Wirklichkeit >gemacht< oder >bewirkt< sei, entziehe sich 29 30

Mikrokosmos III, 483f. Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie 589.

232

31

Ebd. 590.

auch der metaphysischen Reflexion. Den Beziehungsbegriff erweitert Lotze nämlich in einer Weise, die alle Fragen nach dem Modus der Entstehung wie nach den Formen des »Zwischen«, in dem sich die Dinge zueinander verhalten, ausschlägt. Er verlegt den >Zusammenhalt< in die Dinge selbst. Es ist leicht, irgendeinen verbindenden Hintergrund aller Dinge vorzustellen, an dem wie an einer haltbaren Unterlage die Beziehungen von einem Dinge zum andern verlaufen könnten. [Er geht so weit, zu sagen,] daß der G e d a n k e einer zwischen den Dingen objektiv stattfindenden Beziehung überhaupt unmöglich ist, und daß überall [...] ein Z u s t a n d oder ein Geschehen i n den Dingen ist. 3 2

Die damit betonte und vielleicht überbetonte >Autonomie< der Dinge entspricht offenbar einer Autonomievorstellung, wie sie spirituellen und selbständigen Wesen zugeteilt zu werden pflegt. »Die einzige Bürgschaft aber dafür«, so erläutert Falckenberg Lotzes Dingphilosophie, »daß die verschiedenen Zustände [...] Zustände eines Wesens [...] sind, gewährt die Tatsache des Bewußtseins. Nur ein bewußtes Wesen, das die Unterscheidung seiner selbst von den in ihm vorkommenden Zuständen selber vollzieht und in Gedächtnis und Erinnerung sich als das identische Subjekt derselben fühlt und weiß, ist wirklich ein Subjekt, das Zustände hat. Darum muß man den Dingen, wenn sie wirklich sein sollen, eine unserer Seele wesensverwandte Natur zuschreiben. Alle Wesen sind geistig, nur geistigen Wesen kommt wahrhafte Wirklichkeit zu. So verknüpft Lotze die Monadologie des Leibniz mit dem Pantheismus des Spinoza, so wie er die (auch für die Erklärung des Organischen gültige) mechanistische Anschauung der Naturwissenschaft mit der Teleologie und dem ethischen Idealismus Fichtes zu versöhnen weiß. Die Welt der Formen hat nur die Mission, 32

Mikrokosmos III, 483. Es ist im Zusammenhang unserer Fragestellung denkwürdig, daß sich für Lotze der Zwang zur Verlegung der >Beziehungen< in die Dinge gerade aus der Rücksicht auf verfälschende Bewußtseinsbildlichkeit in der Beschreibung der ontologischen Relationen ergibt. Man vergleiche dazu eine Stelle aus der »Metaphysik«: »Alles, was wir als bloße Beziehung ansehen, alle jene Relationen, die sich durch die völlige Leere eines Zwischen-den-Dingen zu spannen scheinen, so daß in sie hinein das Wirkliche treten könnte, bestehen nur als Bilder, die unser Vorstellen sich für sich erzeugt; sie entstehen in ihm und für es, wenn seine bewegliche Tätigkeit die Ähnlichkeit, Verschiedenheit und Reihenfolge der Eindrücke vergleicht, die das Einwirken von A B C auf uns [...] hervorbringt [...]« (Metaphysik S. 160). Auf der vorausgehenden Seite heißt es: »Was wir unter diesem Namen einer objektiven Beziehung zwischen den Dingen verlangten, das kann nur bestehen, wenn es mehr ist als bloße Beziehung, und wenn es nicht zwischen den Dingen, sondern in ihnen, unmittelbar als das gegenseitige Leiden und Wirken besteht, welches sie aufeinander ausüben und voneinander erfahren.« (zit. nach Hosang An 60)

233

der Realisierung der idealen Zwecke des Absoluten, der Welt der W e r t e , zu dienen.« 33 Das Arsenal der anthropomorphen Ausdrücke, mit denen das Wesen der Dinge und ihres Beziehungsseins beschrieben wird, Termini wie »teilnehmen«, »leiden«, »merken«, »tun«, kann nicht ohne weiteres als Grund unbewußter Genese der anthropomorph-idealistischen Weltdeutung angesehen werden. Vielmehr scheint in der intentional präzisierten Problemerfassung durch Lotze der Grund zu liegen, daß eine derartige Selektion im Beschreibungsreservoir gesucht wird. Immer wieder beteuert er die idealistische Grundinterpretation ebenso wie die agnostizistische Unerkennbarkeit der Dinge, er verneint die Einsicht in ihr Entstehen. So entwertet er zugunsten einer vorsichtig restaurativen Ontologie die ihm vorangegangene kosmologische Spekulation und argumentiert, bevor die Religionsphilosophie als Versöhnerin der ontologischen und erkenntnistheoretischen Aporien eingesetzt wird, gegen die >Hinterlegungenalten< Naturauffassungen, er ist damit auch historische Anthropologie. Wenn an deren Ende, das eine methodische Öffnung in die wissenschaftlich nicht mehr stringente Religionsphilosophie erbringt, der Terminus »Zusammenhang der Dinge« das Thema bildet, so lassen sich aus diesem Darstellungskontext mehrere seiner Aufgaben bestimmen. Im »Zusammenhang der Dinge« werden historisch entwertete und anachronistisch gewordene Auffassungen der Natur- und Welteinheit modifiziert und in einigen Dimensionen des historischen Verlustes nach der Versicherung, die den Eingang des »Mikrokosmos« auszeichnet, versöhnend und kompensatorisch aufgewertet. Der Sinn der Uminterpretation ist die Stabilität im Wiedergewinn der älteren Anschauungen. Deren Zwingendes wird als »Bedürfnis« angezeigt. Von der Berücksichtigung dieser menschlichen notwendigem Wünschbarkeiten leitet sich die Transzendierung der wissenschaftlich strengen Urteilsbildung in Richtung auf Glaubensannahmen ab. Die Kritik der spekulativen Überdeutung der Natur als Träger manifest geistiger Erscheinungen teilt Lotze mit den meisten Naturphilosophen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So bringt Lotze im 1. Kapitel des 1. Buches, wo über die Leiblichkeit des Menschen gehandelt wird, eine Kritik des transzendentalistischen Analogieschlusses, die merkwürdig radikal ausfällt und unseres Erachtens nicht ohne Gefahr für seine in den Schlußteilen des Werkes vorgeführte Wiederholung wäre. Er sagt: Denn indem wir uns auf die lebendige Erfahrung eines unbewußten geistigen Wirkens in uns berufen, berufen wir uns nicht nur auf das, was in unserem

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eignen Innern der Aufklärung am meisten bedarf, sondern die Untersuchung würde nach wenigen Schritten zeigen, daß alle jene Zustände, wenigstens sofern sie mit dem Genuß verknüpft sein sollen, auf welchen wir Werth legten, Grenzfälle sind, denen nur ein persönliches und individuelles Geistesleben sich mit den Mitteln s e i n e r Natur nähern kann; sie werden undenkbar anstatt erklärbarer zu werden [.. .] 37

Gegenüber so unklaren Prinzipien sieht Lotze »den Glauben an persönliche Naturgeister« und »die mythologische Weltansicht«38 im Vorteil. Er verweist auf die Steigerung der Gefühlswerte, die den anthropomorphen Sonnendeutungen i. S. des olymperleuchtenden Helios eigen seien. Die gegen die mythischen Personifikationen gerichtete Kritik beruft sich auf atomistische Auffassung, wonach den Stoffen als solchen - insofern übrigens synonymes Äquivalent der »Dinge« bei Lotze — die Energie ihrer Kraftäußerung innewohnt. Es ist kein Zweifel, daß Lotze mit der Rede von jenem »unendlich hohen Inhalt der Weltseele, dessen einzelne Ausstrahlungen die Geschöpfe der Natur sind«,39 Inhalte der romantischen >Ersetzung< der ursprünglichen Naturkonzeption meint. Ihr gegenüber vermerkt Lotze, daß jeder zufällig herausgegriffene Augenblick aus dem Leben eines menschlichen Herzens unendlich seelenvoller sei als die Tiefe der Weltseele. 40

Die realistische Kritik der Spekulation bestätigt sich im weiteren, wenn Lotze die Entwicklung der Technik — die bisher kaum Anlaß zu philosophischem Aufschwung gegeben habe — berücksichtigen will. Er kontrastiert der ursprünglich anthropomorphen Naturauffassung, die eine statisch-bildliche Wirklichkeitssicht gehabt habe, das neue genetische, entwicklungs- und herstellungstheoretische Interesse. Seine Überwindung der innerlichkeitsbezogenen Auffassung der »Lebenskräfte-Theorien zielt auf die mechanistische Auffassung, welche - auch bei theoretisch gebilligter Auffassung, »daß die Idee des Ganzen der Wirksamkeit der Theile vorhergehe« 41 - doch praktisch eine Widerlegung dieses 37 39

40 41

Mikrokosmos 1,16. 38 Ebd. 1,17. »Auf einen zusammenfassenden Weltgrund, auf Eine unendliche Vernunft führte sie vor allem die zersplitterte Welt der Erscheinungen zurück; in das Innere dieser träumenden und schaffenden Weltseele verlegte sie sinnvolle U r t r i e b e , die in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit der Formen sich ausgestaltend diese Wirklichkeit begründen.« (Mikrokosmos 1,18f.) Mikrokosmos 1,20. Ebd. 1,26. Eine »letzte Scheu« vor der Aufgabe aller Annahme anthropomorpher und ästhetischer Teleologie habe die Gegenwart überwunden, »müde, ein Inneres zu verehren, das doch nie werkthätig sich äußerte«: »zum Vortheil der Forschung wie unleugbar zur Beunruhigung des Gemüths über alle Gegenstände unserer Naturerkenntniß«.

236

Zugeständnisses an die Tradition enthalte, indem sie »alle wirklich fruchtbringende Erklärung nur in dem Zusammenwirken der Theile« suche. Lotze stellt die Frage, ob die Ernüchterung des Reiches der Natur zu einem »Reiche der Sachen« 42 wirklich mehr sei als »nur der Rest eines Irrthums, den wir abthun müssen«. 43 Er verschärft den bloß auf äußerliche Wirkung bezogenen Atomismus der Antike zu einem Atomismus, bei dem sich die Wirkung in den Atomen bilde - und dadurch kommt er, nicht ohne wiederholte Präpositionalspekulation, zu jener Innerlichkeitsauffassung der Atome, die ihre idealistische Beseeltheit ermöglicht. Zwischen allen Atomen, als Bestandtheilen derselben Welt [Argumentation von der Totalität her?], dürfen wir einen Zusammenhang gegenseitigen Füreinanderseins voraussetzen, aus welchem eine unmittelbare Wechselwirkung ihrer innern Zustände entspringt. Aber diese innern Erlebnisse der Atome entgehen unserer Beobachtung völlig [ . . . ] 4 4

- deshalb halte sich die Naturwissenschaft an die Beobachtung ihrer äußeren Veränderungen. Die tröstliche Zusatzannahme wird unmittelbar deutlich. Auch Lotze bezieht, nur in sehr viel kritischerer Weise und unter Eingeständnis der logischen Unbrauchbarkeit, Plausibilität für seine >humane< Kausalitätsauffassung aus der Analogie gegenseitiger Zuneigung zweier Personen. Was er in der Analogie etabliert, glaubt er »nun ohne Gleichniß allgemein ausdrücken zu können«. 45 Das Fazit ist die Bestimmung der Atome wie die Beschreibung ihrer kausalen Verbundenheit als seelischer Wesen und Vorgänge. Auch der Begriff des »transeunten Wirkens« in der zeitgenössischen Diskussion der Kausalität arbeitet mit einer psychistischen Unterlegung des als ruinös leer empfundenen Räumlichkeitsbegriffs: die voneinander isolierten räumlichen Einheiten kämen nur durch Willensentscheidung zueinander in Kontakt. Nach diesem Modell wird auch das Wechselwirkungsverhältnis zwischen Leib und Seele gedacht. b) Rückgriff auf die Spiritualisierungstendenzen des 17. Jahrhunderts Daß Lotze ähnlich wie die anderen aus der Tradition der AnalogiePhilosophie stammenden Naturtheoretiker dazu tendiert, das Problem des Zusammenhangs zwischen den Dingen nach dem Paradigma des Zusammenhangs von Leib und Seele zu denken, hat Aussagekraft 42

Mikrokosmos 1,28.

43

Ebd.

44

Ebd. 1,42.

45

Ebd. 1,50.

237

hinsichtlich des geistesgeschichtlichen Standorts der Problemerfassung selbst. Denn gegen jene Rationalität des frühen 19. Jahrhunderts (Biologie, Chemie, Physiologie usw. wären die Regionen, in denen reale Zusammenhänge beschreibbar und zu Gesetzeshypothesen auszubauen sind), die jeweils arbeitsteilige Ebenen der wissenschaftlichen Gegenstandsdefinition einrichtet, wird der Rückgriff auf die Reaktionsphase der Cartesianischen Geist/Körper-Teilung als vereinfachtes Bezugsmodell eingesetzt. Der erneute Schritt zur Metaphysik, den Lotze wie Herbart durch das »prachtvolle Tor der Leibnizischen Monadenwelt« 46 machen, gewährt Zugang zu einem Paradigma doppelter Beschreibung in der Grundlegung der Philosophie selbst: die Doppelheit der Monaden-Attribute hat hinsichtlich des Problems, wie die Dichotomie Materialismus/Spiritualismus überwunden werden könne, die Funktion eines Gleichnis-Vorbilds. Entsprechend der Denotation von >Qualität< und >Quantität< kann jedem Seienden nun die Konnotation »Seele/Geist< und >Körper< zugesprochen werden. Diese Lösung der Grundantinomie wird in der frühen, französisch geschriebenen Arbeit »Pensées d'un Idiot sur Descartes, Spinoza et Leibniz« reflektiert. Hier stellt Lotze fest, daß die qualitative Reaktion der Monade den »Gipfel des Fortschritts« bilde, wo sie »bei ihrer Auffassung der Reize der Außenwelt diese letzteren ihrer eigenen Substanz angleicht, wo sie sie s p i r i t u a l i s i e r t « . 4 7 Dieser Spiritualisierung kommt ein Philosophem entgegen, das ähnlich wie die forma/materia-Relation älteste abendländische Würde besitzt und gerade in der Phase des späten Transzendentalismus zum Topos wird, der die Gleichartigkeit von Mensch und Natur, sofern sie im Gegensatz von Geist und Materie gedacht werden, garantieren hilft. Es ist der Topos, daß nur »Gleiches das Gleiche erkennen könne«. Diese Prästabilierung der S i t u a t i o n des Erkennens hilft den Schein der Identität erhöhen. Sie verweist auf die Homogenität des Daseienden und der Ideen. Daß dieses Postulat zusammenhängt mit ungelösten Problemen der Kantischen Erkenntnistheorie und in der romantischen Philosophie als affirmative Abstützung der Einheitsbehauptungen dient, hat 46 47

Zit. nach Wentscher, Lotzes Leben und Werke 34. Zit. nach Wentscher ebd. 36. Damit ist sowohl ein empirisch valider »Okkasionalismus« ermöglicht, der zur Generalisierung des Mechanismusmodells weiterführt, wie die antezedente Einheit im je zusammenfallenden Bezug von Leib und Seele gewährleistet. Seele wird Mikrokosmos 1,312 als Totalinstanz definiert: des Leidens und des Tuns fähig, vermöge sie eben auch die Atomkräfte zu mobilisieren. Schmidt-Japing stellt fest, daß »Descartes als Kronzeuge der teleologischen Gewißheit auftritt [...], während in der zweiten Periode der kartesianische Umweg über Gott wegfällt« (Lotzes Religionsphilosophie 44).

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jüngst Ernst Bloch in einem Kapitel von »Experimentum mundi« mit der Überschrift »Denken und Sein, Problem: Nur Gleiches kann Gleiches erkennen« 48 dargestellt. Der Kontakt, der in erkennender und ästhetischer Wahrnehmung zwischen Dingwelt und Subjekt erscheint, wird damit zum Ereignis einer Wiederbegegnung des >GetrenntenIsolationVereinzelung< oder >Zerrissenheit< der Naturelemente voran. Darin ist ein Moment hypostatischer Wahrnehmungsverfälschung zu erkennen, das im Überredungszusammenhang mit den angebotenen Lösungsvorschlägen steht. Am Ende des 3. Buches von »Mikrokosmos« I (mit dem Titel »von den ersten und letzten Dingen des Seelenlebens« belegt es unsere These, daß die Ontologie der Naturphilosophie des 19.Jh.s eine säkularisierte Eschatologie ist) faßt Lotze die Thesen vom verlorenen Zusammenhang zusammen (bes. I,· 422ff.). Er spricht vom »blinden Causalzusammenhang« (1,423), betont die naturwüchsige Überlieferung des Minderwertigen und Häßlichen (1,424), diskutiert die naturwissenschaftlichen Annahmen eines »principlosen Wirbels«, der »in unzweckmäßiger Zusammensetzung und ohne jenes innere Gleichgewicht der Bestandtheile und Kräfte« den »Naturlauf« erzeuge (1,424f.), um die Zentralfrage zu stellen nach der Möglichkeit der »Verehrung eines allwaltenden Naturgesetzes, als des einzigen Bandes, welches alle zerstreuten Elemente des Weltlaufes zu wechselseitigen Wirkungen zusammen51

Ebd. 1 , 4 0 8 . Dies als geradezu klassische Darlegung der ontologischen Verklärungsmotivation einer Daseinskonzeption, die anthropozentrische Rückdeutung des Seins als Aufwertung der Wirklichkeit betreibt. Die Rückprojektion des Besitz- und Genußanspruchs auf die ontologische Ebene scheint dabei nur Ausführungsmittel einer grundsätzlichen Gezwungenheit zur Optimierung der Wirklichkeitsverhältnisse zu sein.

240

dränge...« (1,425). Die philosophische Weiterführung der Reflexion beruft sich auf die bereits früher eingesetzte Analogie von >Wirkung< mit >Willensbestimmung< (1,427) und folgert, daß »Einflüsse« nicht zwischen einem elementaren Dualismus der Dinge vermitteln könnten. Die anschließende Frage, ob »die Vorstellung eines Reiches ewig und allgemein geltender Gesetze diese Lücke füllen« könne, hat nur noch rhetorischen Überleitungscharakter. Die Unterstellung dieser »Lücke« bedient sich eben jenes Dualismus, der doch andererseits — wird er »von oben her« gedacht - hinfällig sein soll. Die Negation der Frage wird von einer ebenso rhetorischen Affirmation ergänzt: Nichts kann sein außer dem Seienden und seinen inneren Zuständen, und nichts zwischen den Wesen kann als ein für sich bestehender sie verbindender Hintergrund, als eine wirksame sie leitende Macht eine allgemeine Ordnung ausgegossen sein, dem vorangehend was sie ordnen soll. Blicken wir auf unser menschliches Leben zurück, so finden wir die Gesetze unseres geselligen Daseins nicht neben uns und nicht zwischen uns in einer unabhängigen Wirklichkeit bestehen, nicht als Mächte, die durch ihr Dasein von außen uns zwingen und leiten könnten; sie existiren nur in dem Bewußtsein der Einzelnen, die sich ihnen unterworfen fühlen; sie kommen zur Geltung und Verwirklichung nur durch die Handlungen der lebendigen Individuen; sie sind nichts als die in dem Innern vieler Wesen übereinstimmend entwickelte Richtung ihres Wollens, die dem späteren zusammenfassenden Blicke der Beobachtung als eine höhere von außen leitende Macht erscheint, weil sie in ihrer gemeinsamen Geltung für viele Einzelne nicht mehr ausschließlich als das Erzeugniß eines Einzigen sich darstellt. Die Gesetze der Natur mögen den Einrichtungen des menschlichen Geistes überlegen sein; können diese Widerspruch und Unfolgsamkeit erfahren, so gebieten jene uneingeschränkt und ungehemmt; dennoch wird die Natur nicht das an sich Widersprechende vermögen und dem eine selbständige Existenz verleihen, was nur an dem Seienden und in ihm zu sein im Stande ist.52 Argumentation beschränkt sich in diesem signifikanten Text auf Supposition. Schon die Rede von »den Wesen« verstellt substanzialisierend die Tatsache ihres funktionalen Zusammenhangs. Das an den Anfang dieser Passage gestellte negative Allurteil erinnert zu sehr an die theologische Totalitätsformel (nichts ist außer Gott), als daß nicht die Ängstlichkeit einer apodiktischen Wertbehauptung sich über die Logik einer ontologischen Formel stülpte. Das »Seiende« wird hier apologetisch und totalisierend als Innerlichkeitswesen definiert; gerade damit >deckt< Lotze die formal materialistische Rede von den sich wechselwirkend gegenüberstehenden Monadenwesen, und entsprechend materialistisch-gegen51

Mikrokosmos 1,427f.

241

ständlich formuliert er die ebenfalls von seinen idealistischen Zielen her anzugreifende idealistische These eines »für sich bestehenden Hintergrundes«. Lotzes Ontologie kritisiert das Auseinanderfallen von vorgängiger >Ordnung der Dinge< und nachfolgender >Gesetzeserfüllung der Dingedingfunktionale< Auffassung. Im Beispiel des menschlichen Lebens nun erscheint eine allerdings starke Blindheit für die Antezedenz von Normen gegenüber dem Normenverhalten. Lotze kann die Fakten gesellschaftlicher Norminstitutionalisierung nicht anders denn als verdinglichte Subjektivität mit dem Schein subjektiver und intersubjektiv harmonischer Normschöpfung sehen: die Blindheit für die gesellungsprägende Kategorie des »Zwischen« 53 resultiert auf einem vorab den Menschen monadologisierenden Blick auf die reale Unfreiheit total introjizierter Gesetze. So schlägt Lotzes Argumentation sich selbst das Material aus der Hand: wenn er die letztlich auf >Freiheitlichkeit< hinauslaufende, transzendentalistisch beglaubigte Selbständigkeit der Dinge beispielhaft zu stützen versucht, muß er es mit dem Bild des verdinglichten, auf homogen vorangepaßte Konformität reduzierten Menschen tun. Als Grund dafür, daß kein brauchbarer Freiheitsbegriff vorliegt, sondern eine harmonistische Glättung und Aufhebung der zunächst noch ausgesprochenen >Unterwerfung< zu einer >Wollensübereinstimmung< genuiner Einträchtigkeit erfolgt, ist der Mangel an Zeitund Geschichtsbewußtsein anzugeben. An der signifikanten Umdrehung der Realverhältnisse in der Zeitachse, die ebenfalls innerhalb des transzendentalistischen Umdeutungsmodells der Spätidealistik verläuft, ist das Defizit einer prozeßbewußten Zeitordnung abzulesen: die Handlungsdimension ist reduziert durch anschauungslos angewandte Substantivierung - nachträgliche Geltung und Verwirklichung von R i c h t u n g e n supponieren sich der geltungsschaffenden Tat des Selbstbehauptens oder Fremdbestimmens. Keine Frage, kein Moment der Aufmerksamkeit gilt dem realen prozeßhaften Entstehen von Gesetz und

53

Genuin soziales Denken wie das Martin Bubers und anderer jüdisch-christlich beeinflußter Denker (wie Franz Werfel etwa im Bereich ästhetischer Reflexion) hat die funktionsbestimmende, dingliche Ontologie ausschlagende Bedeutung des »Zwischen« im menschlichen Dialog und gesellschaftlichen Verkehr produktiv meditiert.

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Regelbefolgung. In idealistisch vorauslaufender Introjektion wird kein »Außen« und »Neben«, das von außen zwingen könnte, anerkannt: Unterwerfung muß dem Individuum als Großartigkeit seiner Macht zur Selbstunterdrückung verklärt werden. Verinnerlichung als Voraussetzung von Selbstverdinglichung wird dann total, wenn das Subjekt seine eigene Beobachtung als verfälschende Umdeutung der Wirklichkeit auszulegen versteht: wodurch die Richtungsangabe und die ihr folgende >Willensentwicklung< geschehen seien, blieb ungefragt; es scheint, daß der zusammenhangskonstruierende Blick der Nachträglichkeit immer der zu spät kommende einzige Blick auf die Wirklichkeit sei. Sieht er den Zwangszusammenhang des Geschehens, so ist es ihm einer des Wollens. Will er den Zwang des Wollens sehen, so soll es bloß die Gemeinsamkeit subjektiv affirmierter Übereinstimmung sein. Wenn Lotze die Tatsache der idealistischen Verselbständigung der realen Macht und ihrer Ausübung kritisiert, indem er den Glauben an diese Macht als eine »höhere« diffamiert, ist diese Kritik deshalb hinfällig, weil seine Argumentation und der logische Rahmen seiner Kritik eben den Vollzug dieses Glaubens ausmachen. Optimiert er doch gerade diesen Glauben, indem er jede Fremdbürtigkeit des Willens leugnet. Seine Ersetzung des »Höheren« durch das »Innere« potenziert eine Blindheit, deren nach oben gerichtete Einsinnigkeit des Sehens auch dieses Oben als ein Außen nicht mehr duldet, sondern dafür den transzendentalistischen Kreislauf verlangt. Lotze kommt am Ende des Gesamtwerks auf diese Stelle zurück, und die Art, wie real hier noch Realität vorgestellt werden kann, belegt die restlose Höhe dieser Abstraktions-Philosophie. Unter Verweis auf die oben gegebene Klärung der Unrichtigkeit der Formulierung, daß die Naturgesetze »ihre Herrschaft über alle Dinge durchsetzen«, schreibt Lotze: Von den Naturgesetzen, von der Weltordnung, pflegen wir so zu sprechen, als ständen beide, für sich Etwas, zwischen, außer oder über den Dingen, bereit, ihre Gebote an ihnen zur Geltung zu bringen. Ein Blick auf gesellige Verhältnisse zeigte uns den begangenen Irrtum: wo war das Gesetz eines Staates, wenn alle seine Bürger schliefen oder alle die Pest hingerafft hatte, oder alle Anderes wollten, als es gebot? 5 4

Einer genaueren Befragung des Textes muß die merkwürdige Argumentation auffallen, nach welcher das Gesetz ausschließliche Erzeugung des Einzigen< sei. Das steht in offensichtlichem Widerspruch zu der Tatsache, daß oben gesagt wurde, eben der Einzelne habe sich dem Gesetz 54

Mikrokosmos III, 480.

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unterworfen. Diese Argumentation ist formal eine Apriorisierung der Kontingenz und der Fakultativität des Geschehens, inhaltlich die doppelte Supposition, daß das Gesetz selbst irrationalisiert dem Undefinierten Willen des Subjekts unterstellt wird und daß Unterwerfung zur Selbstbestimmung verfälscht wird. Lotze beachtet nun zwar, daß sein Beispiel den zu demonstrierenden Sachverhalt nicht trifft, aber er denkt wieder nicht in Kategorien, sondern in relativistisch verschleifenden Vergleichen. Seine Formulierungsweise, von der »Selbständigkeit« von Erscheinungen zu sprechen, offenbart den individualistischem Ansatz seines Denkens, dessen Ziel doch die sehr überindividuelle Harmonie von Subjekt und Gesetz ist. Worin denn nun der von ihm behauptete »Widerspruch« liege, wird nicht gesagt; offenbar ist es der Widerspruch zwischen »Seiendem« und »Geltendem« - ihre geforderte Identität will also einerseits die Aufwertung des Seienden zu schlechthin Geltendem, andererseits die Gefahrlosigkeit des Gesetzlichen erweisen. Diese dem >unterlegenen Seienden< versicherte Gefahrlosigkeit ist nun allerdings nicht zu denken ohne Beanspruchung eines >höheren GütigenVertretungen< nachzeichnet, die in den Perioden die entsprechenden Formulierungen des totalen Geistprinzips bilden, so wird das von Lotzes wiederholt öffentlich geäußerter Unentschiedenheit selbst infragegestellt; dem »ganzen Geist« der ersten Periode folge das »ganze Wesen der Seele«, »das mit Hilfe einer berechtigten Analogie auf die >Weltseele< übertragen« werde (Lotzes Religionsphilosophie 47f.). 84 Vgl. dazu Lotzes Logik, bes. § 195. In den §§ 149 und 150 behandelt Lotze mit dem Syllogismusproblem die Hegeische Weltdialektik und schließt eine implizite Kritik an der Organismusideologie an (vgl. Pannier 31f.). 85 Pannier sieht Weißes Einwirkung auf Lotze am bedeutendsten in der Religionsphilosophie und genauer in der Bildung des Gottesbegriffs. »Grundlegend ist für ihn der Begriff der Freiheit gegenüber dem Begriff der Notwendigkeit in dem Sinne, daß die Freiheit herrscht, aber auf der Basis der Notwendigkeit.« (33)

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Freiheit zurückzuführen. Aus einem so widersprüchlich vermittelten Freiheitsbegriff »resultiert die Aseität und Absolutheit Gottes, seine schöpferische Allmacht und Heiligkeit, für das Wesen der Welt die Erhabenheit der Teleologie über den Mechanismus und für das Wesen des Menschen die Selbsttätigkeit der Seele und der Indeterminismus«.86 Der Begriff der Welt beweist seine Äquivalenz zum Gottesbegriff als Totalitätswert und als Kompensator von Relativität und Determiniertheit. Was als »Okkasionalismus« 87 in der Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem bei Lotze und Fechner, auftaucht, ist nichts als die zunächst über den Weltbegriff umgeleitete, dann aus Naturkategorien wie Kausalität, Mechanismus, Organismus wieder abgeleitete Eschatologie des universalisierten Geistes. Darin ist der Glaubensbegründung der Naturphilosophie im naturwissenschaftlichen Zeitalter eine zwar kurze, aber vielleicht doch in ihr ausreichend klare Formel gegeben. Traditionelle Gott-Metaphysik wird umgeschrieben auf Weltmetaphysik. Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist der selbe Geist der Schöpfungskraft, der sich in der Theologie der Kreativität aussprach, wie sie das Mittelalter und dann das 17. und späte 18. Jahrhundert entwickelt haben. »Schon in seiner Allgemeinen Pathologie und Therapie< (1842) bestreitet Lotze zwar, daß es eine Gottlosigkeit sei, zweckmäßige Reflexbewegungen mechanisch erklären zu wollen, aber er behauptet auch andrerseits, >daß alle Aktionen, welche die verschiedensten Körper in d e r s e l b e n Weise einfach und zweckmäßig vollziehen, gerade nicht Eigentum ihrer eigenen Seele, sondern E r z e u g n i s s e der g ö t t l i c h e n S c h ö p f e r k r a f t sind, die ihnen durch einen fertigen und vollendeten M e c h a n i s m u s nicht nur die Möglichkeit, sondern auch den Impuls zu ihrer Ausübung gibtvon oben< legitimieren kann, wird geduldet, der Gedanke des Selbstzwecks wird als >gesetzliche< Anpassung ans Weltganze des Geistes hinterfangen und aufgehoben. 57 Ebd. 419. " Ebd. 438ff. " Ebd. 438.

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In ihrer metaphysischen Perspektivierung treffen sich Kunst und Religion; da sogar »Welterlösung der End- und Zielpunkt aller Religion ist, so decken sich Religion und Kunst nach ihrem wesentlichen Gehalt mehr als irgend zwei andere Richtungen des Geisteslebens«. 100 Zwischen »Immanenz des göttlichen Wesensgrundes im Erscheinungsindividuum« und »transzendente Lösung des kosmischen Konflikts« wird als »Mittelglied« der immanente teleologische Weltprozeß geschaltet. So synthetisiert sich eine idealistische Geschichtstheorie mit Resten pessimistisch-übermoralischer Lebensanschauung, denn das Gemeinsame von Kunst und Religion liege gerade auch darin, »die Sittlichkeit nicht als Selbstzweck und Endziel, sondern nur als Durchgangspunkt und Mittel zu einem übersittlichen Zweck [...] gelten zu lassen«. 101 Der aufgewiesenen Analogie von »Weltphilosophie«, Religion und Kunst zufolge gilt es nun, die Konsequenzen zu analysieren, die sich aus dem komplex begründeten Interesse an »Welt« für Hartmanns Ästhetik ergeben. Sie ist, fern von jeder Autonomiestellung gegenüber dem synthetischen Systemversuch, Glied einer negativ emanatistischen Weltkonzeption. Wird >Welt< in organologische Schichtungen jeweils höherer Gattungswürde hierarchisiert, so folgt daraus die ästhetische Aufwertung des Gattungshaften. Sie verbindet sich mit dem philosophischen Axiom des Teleologischen. Das Individuelle bleibt der Hegeischen Verachtung verfallen. Auf der Stufe des Individuellen verdunkelt sich die Logizität der unbewußten Idee als unbewußter Bestimmungsgrund der konkreten Beschaffenheit des ästhetischen Scheins am meisten, und wird die Unbewußtheit der teleologischen Grundlage [!] des ästhetischen Eindrucks ein Maximum; insbesondere gilt dies für das rein oder einfach Schöne auf der Stufe des Individuellen und in um so höherem Maße, je weniger mikrokosmisch das Schöne ist. Denn die mikrokosmische Beschaffenheit des Individuellen erscheint aus dem Gesichtspunkt des logischen Formalprinzips selbst als eine logische Forderung, sowohl der Regelmäßigkeit und Gleichmäßigkeit des Gliederbaus der Welt, 100 101

Ebd. 4 4 2 . Ebd. 4 4 2 . In dem Widerspruch zwischen Hegelscher Weltprozeß-Positivität und Schopenhauerscher Verneinung des »Allwillens«, d.h. der programmierten Bereitschaft, »den Willen zum Leben in seiner absoluten Totalität« aufzuheben (vgl. Nachträge zur Metaphysik des Unbewußten, Philosophie des Unbewußten II, 560f.), offenbart sich die mißlungene Synthese widersprüchlicher Tradition. Hartmann denkt sich — bei metaphysisch eingeschränktem Respekt vor den Naturgesetzen - das »Ende des Weltprocesses« nur als »übernatürlichen Act [...], durch welchen das Weltwesen sich aus der bisherigen Willensmanifestation zurückzieht und mit der Erscheinungswelt auch ihre Gesetze und ihre Scheinsubstanz (Materie) aufhebt« (Philosophie des Unbewußten II, 561).

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als auch der maximalen teleologischen Leistungsfähigkeit jedes Gliedes durch Homogeneität mit dem Ganzen und maximale gliedliche Beziehungen auf das Ganze und seinen teleologischen Prozeß. 102

Hartmanns Rede von der »konkret-individuellen Idee« oder einfach von der »Individualidee«, die sich bis zum Postulat steigert, auch Tiere nur in dieser Ideen-Individualität abbilden zu dürfen, 103 enthält bereits die Anhebung der Realität zum synthetischen Idealen als Axiom. Der naturphilosophischen Abstraktion der kosmisch abgeleiteten Schönheit entspricht, daß auseinanderfällt, was als »erhabene« Hochbestimmung des Schönen (im Tragischen) und als »relative Realisation« auf der Wirklichkeitsebene gedacht ist. Die idealen Bestimmungen, die Hartmanns Gottes-Ersatz, das »All-Eine« enthält, werden einerseits als Emanationen anerkannt, andererseits gleichzeitig relativiert. »Das AllEine ist die Quelle alles Wahren, Guten und Schönen, aber selbst über all diese relativen (vergleichenden) Bestimmungen erhaben.« 104 Diese Relativierung berücksichtigt einen kosmologischen Evolutionismus, der auf die anthropomorphen Zweckvorstellungen verzichtet, die den Ausfluß der göttlichen Ideale - etwa im Sinn von >HeilErlösung< — begründen. Da der Grund für das Dasein einer nicht-idealen Welt nicht mehr intentional angegeben und geglaubt werden kann, verdoppelt sich damit aber durch die Behauptung, daß diese Ideen >befolgt< werden müßten, der Modus religiöser Verpflichtung. Die Konstruktion der »Individualidee« in der Ästhetik ermöglicht die genannte Realitätsanhebung - aber im Zusammenhang einer gespaltenen, in den welttragischen Pessimismus führenden Teleologie. Die gebrochene Teleologie behauptet ihren formalen Anspruch weiterhin als Totalitätsdenken. c) Mikrokosmos-Modell und Regel-Teleologie Hartmann restauriert den Mikrokosmosgedanken, weil dieser die »gliedliche« Leistungsfähigkeit des Individuellen als >Abbild< und als 102

Ästhetik 448. Der erste Satz wäre auf seine logische Widersprüchlichkeit hinsichtlich der Funktion des Unbewußten zu analysieren. 103 Vgl. dazu in der »Ästhetik« das Kapitel »Die Konkretionsstufen des Schönen«, vor allem den Abschnitt »Individualidee und Gattungsidee« 181, in dem sich die genannte Forderung dann S. 183 ergibt. Hartmanns Hochschätzung des Naturschönen ist keineswegs realistisch begründet, sondern umgekehrt aus der spirituell kosmologischen Bedeutung der Natur abgeleitet — nicht aus der Selbständigkeit der erscheinenden Existehz leitet sich die ästhetische Würde des Konkreten her, sondern daraus, daß die Natur ihrerseits der Idee »entspricht«, »weil sie aus ihrer Realisation hervorgeht« (ebd. 181). 104 Zit. nach Schnehen 250.

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Folge seines Zusammenhangs mit dem Ganzen garantiert. Die Vereinnahmung des Einzelnen durchs Weltganze wäre unter dem Aspekt der Profitmaximierung zu sehen, die natürlich nicht dem Individuellen zukäme. Hartmanns Explikation des schönen Scheins als »Mikrokosmos« der Welt, wie sie im folgenden Abschnitt über »Die dem Schönen immanente mikrokosmische Idee« gegeben wird, wiederholt die hierarchischen Gliederungsmodelle und ihre Wertstufen, vermag aber dem Begriff der mikrokosmischen Beziehung keine präzisere Bestimmung als die der »Wiederholung« zu geben. Er unterscheidet zwischen offenbar bildlich gedachter »Wiederholung« und real vorgestellter »Beziehung« auf das Weltganze. Diese letztere Beziehung wird als Teilnahme-, als Inklusivverhältnis gefaßt. »Individualideen« werden »als ein Segment aus der Weltidee« gesehen, als »Partialidee, welche als Glied und integrierender Bestandteil von der Totalidee umspannt wird«. 105 Alle »Individualideen« seien nur in der » einen absoluten Idee« begründet. Sofern nun Hartmann einerseits reduktionistische Welterklärung pflegt, mit der Zielangabe des Unbewußten, werden individualisierende Differenzierungen obsolet, sofern er aber die Komplexheit der Welt widergespiegelt haben will und damit die Affinität der »höheren Stufen der Individualität«106 zum Makrokosmos anerkennt, sind sie wiederum Sachgründe ihrer Aufwertung - der Widerspruch wird von Hartmann gesehen, wenn auch nicht auf seine Gründe hin durchschaut, 105

106

Ebd. 4 4 9 . Hartmanns Totalitätsbewußtsein manifestiert sich hier als erheblicher Optimismus formaler Extrapolationen: Die »Totalidee« >enthält< alle »Individualideen« und stellt zugleich eine bildliche Struktur derselben dar; sie bezieht sich einerseits aufs Ganze des Weltprozesses, ist »aber ebenfalls als aktuelle zeitlich begrenzt (durch Anfang und Ende des Weltprozesses) und aktualisiert nur einen kleinen Teil der ideellen logischen Möglichkeiten, die sie als latente ewige Idee in ihrer unendlichen Entfaltungsfähigkeit verschließt«. / »Die Totalidee als solche ist der ästhetischen Versinnlichung entrückt, die individuelle Partialidee aber macht in ihrer adäquaten ästhetischen Versinnlichung eine um so höhere ästhetische Wirkung, je mikrokosmischer sie ist, d. h. je deutlicher sie einerseits den Gliedbau der Totalidee im kleinen in sich wiederholt, und je deutlicher sie sich andererseits als Glied auf die Totalidee bezieht. Dabei tritt ein Widerstreit ein zwischen dem Grade der mikrokosmischen Bedeutung und dem Grade der Versinnlichungsfähigkeit; die höheren Stufen der Individualität stehen im allgemeinen dem Makrokosmos und seiner ideellen Bedeutung näher, entziehen sich aber dafür um so mehr der Versinnlichung, je höher sie sind, und müssen deshalb unter Verzicht auf vollständige Darstellung repräsentativ durch charakteristische Ausschnitte wiedergegeben werden«. Das Dilemma der doppelten, einmal hierarchisch und einmal unmittelbar gedachten Ableitung der Repräsentanz führt dann zu »den konflikthaltigen Modifikationen des Schönen«, die gerade dieses Konflikts wegen »als die am meisten mikrokosmischen auch die ästhetisch wertvollsten« sein sollen. (Ebd. 4 5 0 ) Ebd.

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und als Ausgangspunkt der »konflikthaltigen Modifikationen des Schönen« 107 beschrieben. Worin die Konflikte inhaltlich bestünden, wird allerdings so wenig gesagt wie ein Aufschluß darüber gegeben, wie die Relevanzkriterien für die »mikrokosmische« Bedeutsamkeit bestimmter ästhetischer oder kultureller Einheiten aussähen. Mikrokosmische Bedeutung gewinnt Natur- und Kunstschönes, soweit es »eine ideell bedeutsame Phase oder ein für den Weltprozeß wertvolles Stück der vergangenen aktuellen Idee festhält«. 108 Im Gesamt seiner Ästhetik fungieren die logischen, axiologischen und teleologischen Relevanzzuschreibungen rein als Leerformeln, deren Wiederholungskraft Sinn suggeriert, aber dank ihrer Tautologik verstellt. So wird selbst »Welt« der Zweck/Mittel-Relation unterworfen, die gegebene als nur eine von vielen ideell möglichen Realisierungen der »absoluten Idee« gesehen und behauptet, daß »diese Welt für den Zweck, dem sie dienen soll, das logisch adäquateste Mittel darstellt« — wobei die Überbietung der hiesigen Welt in der unkontrollierten Metaphysik soweit geht, den Gedanken nahezulegen, daß für die mikrokosmisch individuelle Versinnlichung bestimmter ideeller Seiten oder Beziehungen in der absoluten Idee ein Segment aus einer ganz andersartigen ideell möglichen Welt geeigneter und deshalb ästhetisch wertvoller sein kann [...].' 109

Wieviele »ideell mögliche Welten« nun eigentlich mikrokosmisch wiederholt werden können, ist einer Philosophie, die sich im Kreislauf der Weltkonstruktion bewegt, dann gleichgültig. Die zwangshafte Affirmation der »ewigen Idee« läßt nur noch die Versicherung zu, sie sei »in ihrer unendlichen Entfaltungsmöglichkeit unendlich viel reicher als sie sich im tatsächlichen Weltlauf offenbaren kann«, 110 aber die Benennung dieses Reichtums wird der Glaubende vergeblich erwarten. Er wird dafür zu imaginären Extrapolationen seiner Welt- und Allbegriffe geführt, bis sich sein Selbstgefühl im Weltgefühl »überwunden« hat. 111 Dem Mikrokosmosbegriff kommt in Hartmanns Denken sowohl eine repräsentative wie eine regulative Funktion zu. Mit ihm wird jeder 107 111

108 Ebd. 109 Ebd. 451. 110 Ebd. Ebd. 450. Als stilistisches Beispiel für den semantischen Leerlauf der gezeigten Formelhaftigkeit sei aus diesem Kontext ein Satz wiedergegeben, der literaturästhetische Postulate anbietet: »Diese ideellen Beziehungen müssen nur mikrokosmisch bedeutsam und letzten Endes logisch bedingt sein aus dem absolut logischen Charakter der absoluten Idee und deren Verhältnis zum Unlogischen; sie können demgemäß entweder, wie im Märchen, einen Ausschnitt aus der immanenten sittlichen Weltordnung versinnlichen, oder auch die transzendente übersittliche Bedeutung der Existenz andeuten, in dem sie die zugrunde gelegte Phänomenalität komisch und humoristisch auflösen.« (451)

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ästhetischen Produktivität das Imprimatur eines idealistischen Monismus verliehen. Er leistet die Doppelrepräsentation, auf welcher die Legitimität des synthetischen Schönheitsprodukts beruht: die realitätssetzende Selbstrepräsentation und zugleich die Repräsentation des »anderen Attributs«, des absoluten Geistes »in seiner einheitlichen Totalität«, sofern »die Idee im Schönen zugleich ein Bild des Willens bietet«.112 Schon im ersten Band der Hartmannschen Ästhetik, in der »Philosophie des Schönen«, wird kennzeichnenderweise als eine der »Modifikationen« des Schönen gemeinsam »das Mysteriöse und Mikrokosmische« abgehandelt. 113 Dem gehen theoretische Zuweisungen der »Gegensätze des Schönen« — des »Häßlichen« in seiner Relativität also - voraus, welche die »Uberwindung« desselben in einem Totalitätsmodell gestatten. Sie heißt bei Hartmann auch »der Triumph des Logischen«, der einmal »auf demselben Punkte« sich vollziehen kann (also im Konflikt eines Individuums in sich) oder so, daß der Kampf und Sieg sich erst in einer Gruppe von Individuen vollzieht. In diesem Falle repräsentiert diese Gruppe von Individuen ein Individuum höherer Ordnung (Familie, Gemeinde, Gesellschaft, Staat, Kirche) und die Negativität des Unlogischen hat dann ihren teleologischen Platz innerhalb dieser Individualität höherer Ordnung als Sporn und Lebensreiz des teleologisch Seinsollenden, der, wenn er seine Schuldigkeit in dieser Hinsicht getan hat, als nicht mehr sein sollender beseitigt wird. 114

Die soziomorphe Beschreibung des Konflikts arbeitet durchgehend mit einem Unterordnungsmodell, das den Wert des »Seinsollenden«, der logischen und ideellen Regel als Totalitätsbezug über das Abweichende und darin nur funktionell Dienende stellt. Das »individuell Häßliche« wird dadurch ein dienendes Glied in der charakteristischen Schönheit eines größeren Ganzen, in welchem der Triumph des teleologisch sein Sollenden nicht versinnlicht werden könnte, wenn nicht ein nicht sein Sollendes da wäre, das überwunden werden kann. 115

Die beiden genannten »Arten der Überwindung des inhaltlich Häßlichen« liefern, wie es abschließend heißt, vereinigt die höchste Gestalt, in der das Schöne auftreten kann, weil es diejenige Gestalt ist, welche am meisten m i k r o k o s m i s c h ist. 116 112 114

115

113 Ebd. 453. Ebd. 276ff. Ebd. 246. Hier darf auf die durch den »Priester« der Natur erfolgende Opferung des unwerten Seins bei Schelling zurückverwiesen werden, die in der Vorgeschichte des »Zusammenhangs der Dinge« zitiert worden ist. Ebd. 116 Ebd. 247.

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Ästhetik ist somit die Lehre von der auf sinnlicher Ebene durch teleologisch-mikrokosmischen Totalitätsbezug in Erscheinung tretenden, jederzeit im voraus in ihre ideellen Schranken verwiesenen Regelmäßigkeit und Unterordnung des Daseienden unters Seinsollende. Nicht zuletzt deshalb wird in Hartmanns Ästhetik das Naturschöne höher bewertet als das Kunstschöne, weil es weniger Gefahren der >partiellen< Unbotmäßigkeit enthält als dieses. Natur ist hier nicht als Bild des Aus-sich-Seienden verstanden, sondern als Vorbild des in monistischem Totalitätsbezug geordneten Abhängigen. Im Vollzug des Ästhetischen (— es ist hier nicht nach Produzierenden zu fragen: sie können nur »untergehen« oder »siegen«) realisiert sich in irrationaler Vermittlung eine kosmische Finalität: zwar nicht »an jeder Stelle«, aber doch grundsätzlich haben Natur und Geschichte [...] die Aufgabe, [...] eine solche mikrokosmische Antizipation der humoristischen Welttragödie oder kosmischen Tragikomödie zu liefern, sie haben [...] Glied an Glied zu fügen, bis die große Kette sich schließt. Nur dann darf das Kunstschöne den Anspruch erheben, neben dem Naturschönen zu existieren, wenn es mikrokosmisch in sich abgerundete Ausschnitte bietet, in denen kein ästhetisch ungerechtfertigtes Häßliches mehr vorkommt. 117

Der Begriff des »Mikrokosmischen« meint also, fern davon, nur ein formal Ästhetisches zu sein, den komplexen ideellen und ästhetischen Vorgang einer Normierung von Inhalten an idealistisch gedachten Totalitätsbezügen. Nur soweit (Natur-)Verhältnisse und (Kunst-)Produktionen eingespannt werden können in einen normativen Mikro-/Makrokosmos-Bezug, ist ihnen die Würde des Ästhetischen als Uberwindung ihres bloß anthropologischen Wertes zuzuerkennen. Die gehäufte leere Verwendung des Weltbegriffs, der Abusus des Kosmischen erweisen sich im Gesamtfeld dieses Grundlagendenkens als Ersatz des sozial verflüchtigten Ästhetischen und der Normfunktion. Alle konkreten und veränderlichen Bestimmungen oder gar Selbstbestimmungen einer human entwickelten Kunstwelt werden vom Sog der monistischen Ontologie >naturalisiert< und zu metaphysischen Kategorien verflüssigt. 118 117 118

Ebd. 2 4 8 . Die Leistung des Künstlers besteht ausgesprochenermaßen darin, »seine Abstraktion der Idee vom Willen im ästhetischen Schein des Kunstwerks« zu objektivieren und zu fixieren (Ästhetik 454). Selbst diese Leistung wird aber im nächsten Zug als mediale Wirkung des »absoluten Geistes« der humanen Bedeutung entzogen: »dem freien Kunstschönen ist der absolute Geist von vornherein nur noch ideell immanent, weil das Ding nicht das ist, was es zu sein scheint«.

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Das Naturschöne selbst wird einem teleologisch verstandenen ZweckMittel-Zusammenhang untergeordnet, und die Bestimmungen der Kunstproduktivität schwanken ihrerseits zwischen den Konsequenzen aus der totalen Philosophie des Unbewußten (als dem Ursprung einer Naturphilosophie) und der totalen Philosophie des Geistes (als der Tradition der Gesellschaftsphilosophie). In dem Kapitel, das »die unbewußte Entstehung des Naturschönen und Kunstschönen« behandelt, grenzt Hartmann seine Anschauung zwar verbal von der »theosophischen« Ästhetik ab, die zu überwinden die Hauptaufgabe des 19. Jahrhunderts sei, aber die Denkstruktur behält doch die logischen Relationen der theosophischen Ästhetik und ihres »abstrakten ästhetischen Idealismus« 119 bei, während sie die Leerforderung der »Sinnlichkeit« des ästhetischen Scheines stellt. Hartmanns Ästhetik enthält in ihren Gegenseitigkeitsbegründungen eine intentionalistische Struktur: die totale teleologische Zweckdeutung der Wirklichkeit. In ihrem Gefolge degeneriert verständlicherweise auch der ästhetische Anspruch zu einem sekundären, und Hartmann diskutiert ausführlich die logische Konsequenz seiner »Welt-Anschauung« vom »Schönen im Weltganzen«, ob Schönheit nicht bloßes »Überfluß«Produkt des absoluten Geistes sei bzw. ob der Weltgeist, bei dominierendem praktisch-realem Zweck, »zugleich noch andere Nebenzwecke verfolgt« habe, darunter den ästhetischen, »gleichsam mit derselben Klappe mehrere Fliegen auf einmal« schlagend. 120 Immerhin genügt ihm »eine anthropologische Ästhetik, welche das Kunstschöne rein aus den Bedürfnissen und bewußten Absichten des Menschen abzuleiten versucht«, 121 nicht, - Negation der rationalistischen Bewußtheitsästhetik des 18. Jahrhunderts wie Denkzwang des Offenbarungsbegriffs scheinen als Hauptverhinderungsfaktoren dabei im Spiele zu sein. Hartmann will ein Unbewußtsein als natürlich-humane Doppelontologie zur Lösung der Weltwidersprüche. Dies Unbewußtsein leidet an denselben logischen Problemen wie der Weltgeist, der als erlösungsbedürftig behandelt wird. Unter weltanschauungskritischem Blick ist zunächst unerfindlich, wieso ein mit göttlicher Souveränität ausgestatteter absoluter oder 119

120 121

Vgl. Ästhetik 461f.: Über die unmittelbar emanatistische Lichtmetaphorik (menschliches Gestalten wie »gebrochene Strahlen zu dem Urlicht in Gott«) liefe theosophische Ästhetik auf eine ungebremste Optimistik hinaus: »Die Einbildungskraft hat dann [...] den ästhetischen Schein im göttlichen Bewußtsein zu einem den ganzen M a k r o k o s m o s umspannenden zu erweitern.« Ästhetik 4 6 4 . Ebd. 4 6 5 .

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Weltgeist erlöst werden soll, sollte nicht die Opposition zu den »niedren«, »partialen« Verhältnissen der Individuation aufgegeben werden, die doch ihrerseits unter nichts anderem leidet als eben der Trennung von seiner Omnipotenz. Aber der im Riickverkehr des spekulierenden Individuums mit seinen soziokulturellen Denkmustern einsetzende sekundäre analytische Applikationsprozeß zwingt dazu, die primären tradierten Projektionen zurückzuprojizieren. Dem Denken des 19. Jahrhunderts, dem es vor der wissenschaftlichen Analyse der Kulturkodes als Zeichensysteme um nichts mehr ging als um die vor dem Zusammenbruch der Inhalte noch einmal gewahrte Einheit ihrer Heteronomie, ist nun die Aufgabe gestellt, »das Ganze« und »das Einzelne« zusammenzudenken. Bis zur radikalen Zurückweisung der anthropozentrischen Fesselung der Welterklärung auf der Stufe Nietzsches ist das denk- und daseinserleichternde Mittel dafür die Analogie. Ihren Selbstverständlichkeitscharakter hatten wir bei Schopenhauer und Fechner kennengelernt. Vorsichtiger, aber im wesentlichen entsprechend verfährt Hartmann. Auch für ihn ist die Erlösungssehnsucht dem absoluten unbewußten Geiste und dem bewußten Individualgeiste gemein, ja sie ist sogar ursprünglich Funktion des ersteren, die nur auf den letzteren übergeht; was aber im absoluten Geiste sich lediglich als makrokosmischer Endzweck der Erlösung des Willens zum Wollen [!] darstellt, das reflektiert sich im endlichen Geiste zwiespältig als Sehnsucht nach Erlösung vom Übel überhaupt und als Sehnsucht nach Erlösung vom Übel des individuellen, von Gott geschiedenen Daseins insbesondere, wobei die letztere Seite die dringlichere und dem Individuum näherliegende ist. 1 2 2

Das Näherliegende wird so widersprüchlich definiert: unter dem naturphilosophisch-ontologischen Erklärungsanspruch ist es das Fernliegende einer unerhört kosmisch vermittelten Weltgeistfunktion. Da die Wirklichkeit als Grund von Prädikationen nicht mehr ausreicht, wo Gesamtwelt-Anschauung wirklichkeitsüberholende Deutungen anbietet und aufzwingt, kann Erlösung selbst nicht mehr unwidersprüchlich formuliert werden: es wird Erlösung von der Erlösung - Wille will sich ohne Wollen. Für Erlösung taucht bei Hartmann denn auch ein urchristlicher Topos wieder auf. Da der Welt ein wenn auch spätestens erst bei ihrem Ende auffallender Zweck unterschoben wird, kann die Erlösungsidee mit einer Summationsformel am geeignetsten formuliert werden. Zwar 122

Ebd. 468f.

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wurde »die andere, äußere Seite des Weltprozesses — d. h. das materielle Dasein und die materiellen Veränderungen der Welt - an und für sich wertloses, bedeutungsloses und gleichgültiges Mittel für die inneren Bewußtseinsvorgänge in der Welt«123 genannt, aber wenn diese willensabhängige Materialwelt, nachdem sie eine Weltgeschichte lang Dienst getan hat, zusammenbricht, dieser genetische Wille also sich gründlich genug verneint, dann ist »das Nein dieses Endzieles [...] nichts anderes als das alte urchristliche Ideal der »Wiederbringung aller Dinge in Gottimmanente Organisation beschreiben ließe.4 Haeckels Intention besteht darin, den Überblick über die jährlich zunehmend gehäuften »zoologischen und botanischen Kenntnisse« mit 1

Vgl. dazu den Text in Goethe, HA XIII, 49ff. Goethe HA XIII, 54f. Haeckel versäumt nicht, die geistes- und realgeschichtliche Kontinuität seines Unternehmens mit Goethes Vorläuferschaft durch Angabe des Entstehungsortes (»Jena, 1807«) hervorzuheben - eine Praxis, die sich durch seine und Bölsches Schriften hindurchzieht. In einem biographischen Rückblick in »Gott-Natur« heißt es, er habe »ein halbes Jahrhundert hindurch in den unvertilgbaren Spuren des Geisteshelden von Weimar« gewandelt (60). * Der Kommentar zur Hamburger Ausgabe spricht prononciert vom Streben »nach Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit von Wissenschaft und Poesie« [GoetheZitat], - womit zusammenstimmt, daß Goethes methodologische Texte dazu tendieren, die Leistungen des wahrnehmenden/deutenden Subjekts zu problematisieren, um zu einem Intégrât von »Sinnen« und »Urteil« zu gelangen (vgl. dazu u. a. HA XII, 406). »Wenn Goethe das Gemeinsame seiner vorgetragenen Fälle als Allgemeines ausspricht, so geht es ihm dabei nie um Kausalzusammenhänge, sondern um ihre Bedeutung in bezug auf die Gesamtheit des Lebens.« (HA XIII, 617f.) 3

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kausalen Erklärungen zu strukturieren. Dies soll durch »vergleichende und denkende [kombinatorische] Naturbetrachtung« geschehen.5 Morphologie erfaßt demnach gegenüber der Goetheschen Position ein weiteres Feld des zeitlichen Geschehens in der evolutiven Differenzierung. Sie behält darin jedoch die Funktion der Ganzheitserkenntnis gemäß der bei Karl v. Baer, Schleiden und Johannes Müller ausgesprochenen Synthese von »Erfahrung« und »Grundsatz«-Erkenntnis, von »Beobachtung«, »Beschreibung« und »Reflexion«.6 Die Schwierigkeit und Mißverständlichkeit dieses Gebrauchs des Reflexionsbegriffs liegt darin, daß damit ein aus dem idealistischen Denken bestimmter Sinnzusammenhang, die aus der Selbstkonstitution des Subjekts gewonnene Replikativität des Denkens, als Schlagwort der Naturwissenschaft zugewiesen wird. Haekkels Gleichsetzung von »Reflexion« mit »philosophischer Erkenntnis« und mit naturwissenschaftlicher Gesetzeserkenntnis übernimmt den Wortgebrauch des noch nicht aus dem idealistischen Paradigma herausgetretenen, allerdings schon durch die exakte Praxis der Naturwissenschaft korrigierten Methodenbewußtseins der ersten Jahrhunderthälfte. Haeckel orientiert sich an den sehr allgemeinen, die methodischen Konflikte keineswegs erarbeitenden Aussagen etwa von Johannes Müllers »Handbuch der Physiologie des Menschen« (1840), Karl E. von Baers »Zwei Worte über den jetzigen Zustand der Naturgeschichte« (1821). 7

Da die morphologische Ganzheitserkenntnis nun spezifisch den »naturgeschichtlichen« Wandel der Individuen und Gattungen betrifft, modifiziert sich der goethezeitliche Typusbegriff. Wenn Haeckel Schleidens Satz referiert, »nur die Entwickelungsgeschichte kann uns über die Pflanze das Verständniss eröffnen«,8 zielt dies auf die Ablösung des »anschauenden« Morphologieverständnisses, das eine bedeutende Zone der verwehrten Erkenntnis implizierte, durch ein evolutionshistorisches. Dem trägt der von Haeckel geprägte Begriff der »Ontogenie« Rechnung, der die Umwandlung morphologischer Individuen in solche 5

6

7 8

Haeckel, Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen (zit. aus »Generelle Morphologie« nach G. Heberer, Der gerechtfertigte Haeckel - künftig: Haeckel/ Heberer - 69f.). Dieser Synthese dienen Haeckels Überlegungen zur »Kritik der naturwissenschaftlichen Methoden, welche sich gegenseitig nothwenig ergänzen müssen« zu Beginn der »Generellen Morphologie«, speziell das I. Kap. »Empirie und Philosophie (Erfahrung und Erkenntniss)« (Haeckel/Heberer 80ff.). Vgl. dazu ebd. die Zitate 80 und 81. Ebd. 153 (= Schleiden, Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik I. Bd., III. Aufl. 142).

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»höherer Ordnung« umschreibt. 9 Morphologie hat ihre Wandlung zur »Morphogenie« vollzogen: dank der Deszendenztheorie wird sie zur »allgemeinen Entwickelungsgeschichte«, die »diejenige der Individuen (Ontogenie) und diejenige der Stämme (Phylogenie) unmittelbar verknüpft«. 10 Morphogenie, die sich an der individuellen (embryologischen) und an der »paläontologischen« Diachronie des Gestaltwandels ausweist und aus der Relation beider Reihen ihre heuristischen Vorteile gewinnt, wird nun für Haeckel bedeutungsgleich mit »Monismus«. Dank der Vererbungs- und Anpassungstheorie vermag sie nach Haeckel »die mechanisch wirkenden Ursachen der Morphogenesis« 11 nachzuweisen und belegt damit den »monistischen« Charakter von Natur und Naturwissenschaft auf methodisch stringente Weise. »Monistisch« ist in Haeckels »Genereller Morphologie« zugleich ein theoretischer und ein axiologischer Ausdruck: er meint sachlich die Einheit der deszendenztheoretischen Differenzierung der Natur, er sieht im »monistischen Verständnis« das »allein richtige« Prinzip der Erklärung aller Naturerscheinungen. Das bedeutet die Übertragung der komplexen Methodik der Deszendenztheorie, aber auch ihrer Ergebnisse auf das Gesamtgebiet aller Naturwissenschaften, ja aller Wissenschaften (auch der Psychologie, der Geschichte usw.). Impliziert ist damit letztlich auch die Rückführbarkeit aller physiologischen Funktionen auf mechanisch-kausale, physikalischchemisch vermittelte Ursachen. Das diskutiert Haeckel in dem Kapitel »Typus und Grad der individuellen Entwickelung« im II. Bd. der »Generellen Morphologie« in Auseinandersetzung mit Baers »Über Entwicklungsgeschichte der Thiere«. 12 Haeckels Rede von »innen« und »außen« enthält nun aber keine substantielle Differenz im Sinn der Geist/Körper-Dichotomie, sondern beschränkt sich auf die bloße Lokalfunktion. Damit glaubt sich Haeckel 9 12

Ebd. 152. 10 Ebd. 155. 11 Ebd. »Während also die beiden Grunderscheinungen der organischen Entwickelung, Bildungstypus und Ausbildungsgrad, welche BÄR richtig als die beiden formbildenden Kräfte der gesammten Organismenwelt aus rein morphologischen Inductionen erkannte, ohne die Abstammungslehre für uns zwei unverstandene Räthsel bleiben, welche weder durch die anthropomorphe Vorstellung eines vorbedachten >Schöpfungsplans< [...], noch durch die leere Phrase eines allgemeinen Entwicklungsgesetzes oder Bildungsgesetzes< dem tieferen wissenschaftlichen Verständniss, d. h. der monistischen, causalen Erkenntniss näher gerückt werden, so werden uns durch die Descendenztheorie diese beiden Rätsel im monistischen Sinne gelöst: wir erkennen in dem Bildungstypus die Wirkung des inneren Bildungstriebes der Vererbung, in dem Ausbildungsgrad die Wirkung des äusseren Bildungstriebes der Anpassung [ . . . ] « - beide über Fortpflanzung und Ernährung an Physik und Chemie >angeschlossen< (ebd. 157).

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dem höchsten, von Bär aufgestellten Ziel der Entwicklungsgeschichte nah, der »Zurückführung der bildenden Kräfte des organischen Körpers auf die allgemeinen Kräfte des Weltganzen!«13 Es zeigt sich an diesem Zitat, wie sich die Spannung zwischen einem bildhaft-synthetischen Gebrauch des Totalitätsbegriffs und einem analytisch-empirischen in Haeckels Texten als Differenz zwischen naturphilosophisch und idealistisch tradierten »Zielen« und naturwissenschaftlich elaborierten »Erkenntnissen« aufbaut: sie signalisiert die Differenz zwischen literarischem Traditionsbezug und wissenschaftlicher Praxis in ihnen selbst. Und je mehr sich letztere in den Hintergrund der popularisierenden, d. h. mit Traditionsbezug (auf Kulturgeschichte wie auf eine durch die Verweis-Automatismen errichtete Text-Autorität) arbeitenden Wiederholungen drängen ließ, um so mehr treten die totalitätsaffirmativen Tendenzen in Haeckels Arbeiten hervor. Die Spannung liegt jedoch bereits in der »Generellen Morphologie« vor, und zwar in der Textabfolge von Goethezitaten, von diskursiver Auseinandersetzung mit der vorausgegangenen mehr oder weniger philosophisch geprägten Naturwissenschaft, von weitgehend rational zuverlässiger Erarbeitung der eignen Theorie und ihrer >Überhöhung< durch die wiederum naturphilosophischen Totaltheoreme. Diese Struktur bildet einen Prozeß der monistischen Umdeutung, dem vor allem geisteswissenschaftliche und sprachgeschichtliche Differenzen zum Opfer fallen. Sein Entdeckungs- und Fortschrittsoptimismus scheint Haeckel an der Wahrnehmung der Tatsache zu hindern, daß in den vorangestellten Goethetexten dem evolutionären Moment doch entschieden ästhetisch-statische und den Glauben an die diskursive Fortsetzbarkeit des Erkennens erheblich einschränkende Momente widersprechen. So kommt es dazu, daß im Goethe-Motto etwa dem Topos des »Rätsels« und »Geheimnisses« eine Emphatik gewidmet ist, die im Text des Naturwissenschaftlers umgekehrt gerade der absoluten Auflösung des Rätsels gilt.14 13 14

Ebd. 157, mit leichter Veränderung 159. So stellt Haeckel der »Systematischen Einleitung in die allgemeine Entwickelungsgeschichte« im II. Bd. das Goethe-Motto voran: Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern; und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz, Auf ein heiliges Räthsel! (Haeckel/Heberer 139) Im zitierten Schlußabschnitt wird dann die Erklärung jener »Rätsel« (ebd. 157) als Erfolg der Deszendenztheorie gefeiert. Auf die Problematik der spezifisch introspektiven Emphase, wie sie zumal in frühen Goethetexten vorliegt, wird noch gesondert einzugehen sein.

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Was Haeckels Goetherezeption hinsichtlich der Bedeutung der Morphologie kennzeichnet, ist gerade vom methodischen Ansatz dieser Untersuchung her augenfällig. Haeckel >übersieht< weitgehend die poetisch-ästhetische Funktion der in der »Metamorphose der Pflanzen« enthaltenen Gleichnisstruktur. Er realisiert die poetischen Texte als Vorläufer diskursiver, als epistemologische Vorgriffe, kaum als in sich selbst zurückverweisende Sprachgebilde. Das heißt aber auch, daß er die Relation von Bildhälfte und Sachhälfte in diesen Texten weitgehend ausklammert — der von Goethe wesentlich intendierte didaktische Lehrgehalt der Metamorphose-Gedichte bleibt, eingespannt in die Kontinuität einer Forschungsgeschichte, aus der >existentiellen< Anwendung ausgeschlossen. Ineins damit werden die semantischen Oppositionen, die »dualistischen« Strukturen der Texte in einer Textkonkretisation nivelliert, die abzielt nur auf die Legitimation des Einheitsbewußtseins. 15 In einer Anmerkung des wissenschaftsgeschichtlichen Exkurses hebt Haeckel allerdings hervor, daß der »Vater der Naturgeschichte«, Aristoteles, diesen seinen »monistischen Einheitsgedanken« durch die »Analogie« »ausgesprochen« habe); außerdem wird auf Gestalt-Homologien bei Belon und Newton hingewiesen, - jedoch so, daß deutlich

15

Dies läßt sich u. a. besonders gut an dem Kap. »Begriff und Aufgabe der Ontogenie« nachweisen, dem ein gänzlich bildhafter Goethetext vorangestellt ist: Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze Stufenweise geführt, bildet zu Blüthen und Frucht. Also prangt die Natur in hoher voller Erscheinung; Und sie zeiget, gereiht, Glieder an Glieder gestuft. Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze, Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir. Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern, Ueberall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug; Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig, Bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt! (Metamorphose der Pflanzen. 1817) (Haeckel/Heberer 151). Haeckels Text gibt dann sein Telos als eine Einheitssuche zu erkennen, die mit der Sach/ Bild-Relation letztlich nichts mehr anzufangen weiß: »die vollständige Einheit der gesammten organischen und anorganischen Natur und die alleinige Geltung der mechanisch-wirkenden Ursachen in allen Naturerscheinungen, die vollständige Einheit von Kraft und Stoff und die alleinige Geltung der chemisch-physikalischen Nothwendigkeits-Gesetze in allen wahrnehmbaren Vorgängen, die vollständige Einheit der Structur und Abstammung des Menschen und der übrigen Wirbelthiere, und die alleinige Geltung der causalmechanischen Nothwendigkeits-Herrschaft auch in der gesammten Anthropologie, die Psychologie nicht ausgenommen«. (Ebd. 160)

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wird, wie wenig Haeckel gerade den Gestalt-Begriff ernst nimmt - die Ganzheit der Körper ist ihm irrelevant.16

2. Haeckels Wissenschaftskonzeption In einer »autobiographischen Skizze« schreibt Haeckel über sich selbst: Mit besonderem Eifer war HAECKEL ferner bemüht, unserem >Dichterfürsten< GOETHE eine hervorragende Rolle als Begründer der Entwicklungslehre zuzuerteilen und durch zahlreiche, aus GOETHES Schriften entnommene Zitate nachzuweisen, daß dieser unvergleichliche Mann in Wahrheit neben LAMARCK als ein Vorläufer DARWINS zu betrachten ist. 17

Dieses durchaus in das historisch-politische Programm der sechziger Jahre gehörende Konzept wird in der Anlage des Buches, das auf die Gewaltanstrengung der »Generellen Morphologie« folgt und eine leichte Wendung zum popularisierenden Vortrag enthält, in den »Vorträgen« der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« von 1868 fortgeführt. Hatte die »Generelle Morphologie« vielfach auf »den Mangel einer gesunden Speculation, einer klaren und logischen Synthese der analytisch gesammelten empirischen Beobachtungen«18 hingewiesen, so geht in solch allgemeiner >Synthesis< gerade der zeitgenössisch thematisierte Unterschied von »Verstand« und »Vernunft«, von »Wissenschaft« und »Philosophie« unter. Haeckel opponiert mit dem richtigen Ansatz so emphatisch den »sogenannten >reinen SystematikernIdeen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« die Einheit des Organisationstypus in der unendlichen Mannigfaltigkeit der lebenden Wesen hervor [...].« 17 Haeckel/Heberer 9. 18 Ebd. 221. 19 Ebd. 222. 20 »Ohne philosophische Verstandes-Operationen« könne man nicht »zu allgemeinen Resultaten und zu klaren Begriffsbestimmungen gelangen« (ebd.). 21 So bedauert er, »dass in dem ganzen zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts«, ja bis 1860 »die rein empirische und >exacte< Richtung ganz überwiegend« in Biologie und Morphologie geherrscht habe, - was er durchaus als Reaktion auf das »verkehrte und willkürliche Verfahren der sogenannten Naturphilosophie·« versteht. Erst mit Darwins »Entstehung der Arten« (1859) sei als zweite Reaktion wieder »die gedanken-

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Im Vorwort zur ersten Auflage der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« soll, »was schon W o l f g a n g G o e t h e mit dem prophetischen Genius des Dichters [...] ahnte«, mit dem »Zauberwort« »Entwicklung« der weiteste Rahmen deutlich gemacht werden, in den auch Wissenschaft eingegliedert ist, in dem »wir alle uns umgebenden Rätsel lösen« können. 22 Mit der Umschreibung von Erkenntnis als Rätsellösung schafft Haeckel so frühzeitig das metaphorische Gelenk, das Heilsbotschaft, Wissenschaft, Kulturfortschritt, Technik und Theologie zu versöhnen erlaubt. Die im naturwissenschaftlichen Textprozeß aufgewiesene religiös wirkende Zielprojektion ist am Ende dieses Vorworts verbalisiert und zugleich als der »bedeutendste und ruhmvollste Wendepunkt in der ganzen Entwicklungsgeschichte der Menschheit« gewertet: Möchten [...] recht viele Leser angeregt werden, tiefer in das innere Heiligtum der Natur einzudringen, und aus der nie versiegenden Quelle der natürlichen Offenbarung mehr und mehr jene höchste Befriedigung des Verstandes durch wahre Naturerkenntnis, jenen reinsten Genuß des Gemütes durch tiefes Naturverständnis, und jene sittliche Veredelung der Vernunft durch einfache Naturreligion schöpfen, welche auf keinem anderen Wege erlangt werden kann. 23

Haeckels genuine Bereitschaft zur »Versöhnung« zwischen Naturwissenschaft und Philosophie dürfte wesentliche Impulse durch den Briefwechsel mit Eduard von Hartmann empfangen haben, der sich in der Mitte der siebziger Jahre abspielt. E. v. Hartmann hatte die Besprechung der »Anthropogenie oder Entwickelungslehre des Menschen« (1874) für die Deutsche Rundschau übernommen - gleichzeitig kommt seine nun weltweit wirkende 6. Auflage der »Philosophie des Unbewußten« heraus. Ihm liegt die »Einheitlichkeit unseres Kulturfortschritts« 24 so am Herzen, daß er alles dran setzt, Haeckel davon zu überzeugen, daß seine »mechanische Weltanschauung eine Sache ist, die mit Ihrer Aufgabe als

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24

volle Naturbetrachtung, der im besten Sinne philosophische, d. h. naturgemäss denkende Geist« zum Durchbruch gelangt (ebd. 82). Die Beurteilung etwa Okens ist ausgesprochen milde, nur gelegentlich werden seine späteren Verirrungen angemerkt. Natürliche Schöpfungsgeschichte VI. Ebd. VIII. Das Vorwort zur 9. Auflage (10. 11. 1897) wiederholt nach LektüreEmpfehlungen (u. a. Carus Sterne, Werden und Vergehen. Eine Entwicklungsgeschichte des Naturganzen in gemeinverständlicher Fassung 1886, W. Bölsche, Entwicklungsgeschichte der Natur 1894) den Hinweis auf die »Rätsel« — ohne Zweifel bereits Reklame für das geplante »Welträtsel«-Buch von 1899, auf das natürlich das Vorwort zur 10. Aufl. wiederum eingeht: hier stellt Haeckel (1902) mit Freude fest, »daß das Ende des abgelaufenen neunzehnten Jahrhunderts zu einem neuen Aufschwünge der vielverdächtigen N a t u r p h i l o s o p h i e geführt hat« (ebd. XIII). Metaphysik und Naturphilosophie. Briefwechsel zwischen Eduard von Hartmann und Ernst Haeckel, hrsg. v. Bertha Kern-von-Hartmann, in: Kant-Studien 48 ( 1 9 5 6 / 5 7 ) 4.

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Naturforscher gar nichts zu tun hat [...]«. 25 Der strittige Punkt ist, ob wirklich »hinter dem Mechanismus der (empfindenden) Atome [...] nichts weiter« ist, wie Haeckel nach Hartmann behauptet. In Haeckels Hand, so heißt es im Brief vom 9. Juli 1875, liege es, »zu einer Versöhnung zwischen Naturwissenschaft und Philosophie den entscheidenden Anstoß zu geben«.26 Haeckel aber bekennt sich, nachdem er seine kritische Auffassung zur »Philosophie des Unbewußten« in der Vorrede zur 4. Auflage der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« dargelegt hat, zu dem Verfasser des »Unbewußten vom Standpunkt der Physiologie und Deszendenztheorie« — was aber die Einigkeit im Streben nach dem gleichen monistischen Ziele nicht schmälere.27 Mehrfach thematisiert Haeckel die Unzulänglichkeit der Sammlung »toter Fakten< und seinen eigenen Versuch der Belebung des »todten ontogenetischen Erfahrungs-Materials« durch Phylogenese, wobei er über die gespaltene Anteilnahme der Fachwelt an seinen Büchern klagt: die Tatsachenberge seien immer gerühmt, die philosophischen Exkurse immer verworfen worden.28 Über die Identität der Verfasser der beiden Schriften über das »Unbewußte« klärt Hartmann Haeckel im Brief vom 4 . 1 1 . 1 8 7 4 auf: ihm sei es darum gegangen zu zeigen, »daß ich die mechanische Weltansicht des Darwinismus beherrsche« — er bekämpfe jedoch die festen Grenzen, die Haeckel von seinem Fach aus ziehe, »wo Sie ruhig das Gebiet für andere Special- oder Universalwissenschaften als offen zugestehen könnten«. Interessant ist nun Haeckels Aussage im Antwortbrief, die seinen erheblichen universalistischen Ordnungszwang als Abwehr einer Chaosangst verständlich macht: Sie werden als virtuoser Denker sehr leicht das Dilettantenhafte meiner Philosophasterei durchschauen. Aber ich bin zu diesem Vorgehen gezwungen, wenn ich überhaupt Gedanken und Licht in das grauenhafte empirische Chaos meiner biologischen Wissenschaft bringen soll. Sie glauben nicht, wie entsetzlich es hier aussieht. Die Gedankenlosigkeit und Stumpfheit der großen Mehrzahl der angeblich >exacten< Biologen ist wahrhaft nonsensi29

Der Eklektizismus beider Denker wird greifbar, wenn E. v. Hartmann versichert, er habe in seiner hauptsächlich »nach Wundt und Maudsley gearbeitet(en)« Untersuchung »Zur Physiologie der Nervencentra« auch auf Haeckels »Anthropogenie« rekurriert,30 und dem Naturwissenschaftler mit dem 9. 7. 75 seine Stellung zwischen Theologie und Natur25 29 30

2 6 Ebd. 3. 2 7 Ebd. 6. 2 8 Ebd. 7. Ebd. 5. Ebd. 8f. (Hier folgt Hinweis auf Alexander Wiessner, Das Atom, Leipzig 1875). Ebd. 16.

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Wissenschaft darzulegen sucht, wobei er es fertig bringt, Haeckel eine spekulative calvinistische Dogmatik zu empfehlen.31 Er selbst brenne darauf, »die Versöhnung mit der Naturwissenschaft zu finden« (was Haeckels Kollege Pfleiderer bestätigen könne). »Ich hoffe, daß Ihnen die Unbedenklichkeit der fraglichen Synthese für alle Consequenzen Ihrer Wissenschaft durch meine [...] Abhandlung >Zur Physiologie der Nervencentra< noch einleuchtender geworden sei«. Wie sehr die Nähe zwischen Haeckel und Hartmann politisch bestimmt ist, ergibt sich aus der gemeinsamen Frontstellung gegen den »Ultramontanismus«. Selbst Haeckels Darwin-Rezeption bietet das Bild einer kritischen Wiederherstellung »der vergessenen und verlassenen Naturphilosophie«. 33 Kritisch ist sie nicht nur in ihrer Ablehnung der analogistischen Übertragungen, die in Haeckels Denken ideologiekritisch als Kampf gegen Anthropozentrik und Anthropomorphismen des religiösen und philosophischen Denkens breitesten Raum einnimmt. Sie ist es auch, da sie — trotz mancher Ähnlichkeit mit dem bei Schopenhauer dargestellten Verfahren der Auffüllung bestimmter Grundkonzepte, fixierter Formulierungen in den späteren Auflagen - doch ein unübersehbares Quantum an Selbstkorrektur nicht nur fordert, sondern auch einlöst. Selbst die besondere Schwäche von Haeckels Denken, dessen erkenntnistheoretische Voraussetzungen sicherlich unzulänglich sind, - seine Neigung zur extensiven Begrifflichkeit und zur Ausweitung von Begriffsinhalten ist nicht ohne die Berücksichtigung der Tatsache zu sehen, daß darin ein legitimes Sprachverfahren vorliegt, wenn wirklich die Einheit und Identität von Geist und Körper gedacht werden soll. Viele der dabei sehr leer werdenden Prägungen lassen sich — unter dem Aspekt, den Haeckel 31

32

33

Ebd. 19: »Der Kampf der Teleologen gegen Ihren Mechanismus ist lediglich eine Reaktion gegen Ihre Bekämpfung der Teleologie, die Sie von dem naturwissenschaftlichen Materialismus der fünfziger Jahre als Erbteil übernommen haben. Wenn Sie z. B. ein Werk lesen wie Biedermanns christliche Dogmatik [Alois Eman. B., Christliche Dogmatik, Zürich 1869] (nicht warm genug zu empfehlen), so werden Sie gerade das Gegenteil von Ihrer Behauptung finden, nämlich eine bedingungslose Anerkennung des naturgesetzlichen Mechanismus im allerweitesten Sinne«. »Die Beschleunigung dieses Friedensschlusses« scheint Hartmann deshalb »so wichtig, weil das nächste Jahrzehnt in Deutschland den Sieg der Cultur über den Ultramontanismus für die ganze Welt erkämpfen muß [...]« (ebd.). Zit. nach Heberer, Der gerechtfertigte Haeckel 494. Vgl. ähnlich in »Natürliche Schöpfungsgeschichte« 609, wo Goethe-Zitate (»Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, / Denn was innen, das ist außen« und »Natur hat weder Kern noch Schale, / Alles ist sie mit einem Male«) gegen die Vernachlässigung des »allgemeine(n) Verständnis(ses) des Naturganzen« mobilisiert werden.

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vielen seiner Anschauungen zubilligt, nämlich hypothetisch zu sein - als Vorgriffe auffassen, in denen die Identität sprachlich auf zwei Weisen behauptet wird: einmal durch >leere Worthülsen< (von denen Haeckels Werk so viele anbietet), dann durch Doppelbeschreibungen bzw. Doppelableitungen der materiellen und der psychischen Reihe. Die gewaltsame Streichung aller »dualistischen« Oppositionen liefert das Ergebnis, daß der Gegensatz von Geist und Körper aus dem Lexikon verschwindet. Der größte Teil der zeitgenössischen Polemik realisiert die Position des konsequenten Monismus gar nicht, indem sie immer wieder den Vorwurf vorbringt, Haeckel leugne den »Geist«, die »Idee« usw. Die Praxis der Doppelbeschreibung der Erscheinungen - einmal nach dem materialistischen, zum andern nach dem psychistischen Paradigma — liefert zu einer mechanischen Deduktionsbasis psychistische Formationsvorstellungen. Ihr Verhältnis wird schwankend angegeben sowohl als Identität wie auch als Wechselwirkung. Heberer hat beschrieben, wie sich Haeckel damit behalf, »daß er gewissermaßen die Längenverschiedenheit der psychischen und der materiellen Reihe a b zugleichen versuchte«.34 Sprachlich erscheint dieser Ausgleich als psychomorphe Metaphorik. Diese unterscheidet sich jedoch bei Haeckel, wo sie auf der Ebene der sprachlichen Präsenz ganz ähnlich wie bei Fechner erscheint, dadurch, daß die Reduktivität ernst genommen wird. Nicht mehr aus dem Vollprinzip der menschlichen Selbsterfahrung, der introspektiven oder traditionsideologischen Symbolik wird analogistisch auf das »Seelenleben« der Organismen geschlossen, sondern reduktiv im bloßen Bewegungscharakter der psychische Charakter behauptet. Solange nun aber nur die Organismen als beseelt gelten dürften, wäre das Ziel der monistischen Weltdarstellung noch nicht erreicht, die doch ohne Verlust an Seelenwerten gegen Dualismus und Spiritualismus auftreten muß. Deshalb kommt Haeckel, nachdem er schon in den sechziger und siebziger Jahren die Beseelung aller Organismen gelehrt hatte, um die Jahrhundertwende, in »Die Lebenswunder« (1904), auch zur Anwendung des Seelenattributs aufs Anorganische. Es ist hervorzuheben, daß sich Haeckels Materialismus immer als Naturgläubigkeit verstanden hat, die sich als »einfache Naturreligion«, als »Pantheismus oder Monismus«35 in die Tradition der liberalen Kontrafakturen zu den »Kirchenreligionen« einreiht. Er macht sich anheischig, »mutig den Schleier vom Bilde des Schöpfers zu lüften«, hält aber 34 35

Haeckel/Heberer 533. Natürliche Schöpfungsgeschichte 599.

310

gleichzeitig am Topos der »Offenbarung« fest und >heiligt< dadurch Wissenschaft: Die göttliche Offenbarung, welche wir als die einzig wahre anerkennen, steht überall in der N a t u r geschrieben, und jedem Menschen mit gesunden Sinnen und gesunder Vernunft steht es frei, in diesem heiligen Tempel der Natur durch eigenes Forschen und selbständiges Erkennen der untrüglichen Offenbarung teilhaftig zu werden. 36

Die Widersprüchlichkeit des Haeckelschen Denkens ergibt sich so zunächst aus der Situation seiner Sprache. Sie hat den traditionellen Idealismus, die »dualistischen« Sprachmuster der Ideenlehre nicht völlig abgebaut, ruft also mit dem affirmierenden Medium zu dessen Kritik auf - auch hier eine Nähe zu Nietzsche, wenn auch auf anderem Niveau. So gebraucht Haeckel zu zentralen Stellen den intentional von seiner Wissenskonzeption bekämpften Terminus »Substanz«, erklärt den im historischen Lexikon gegen den Substanzbegriff opponierenden Erscheinungsbegriff zum Repräsentanten sowohl der »materiellen« wie der »geistigen« Welt. Vom »Substanzgesetz« heißt es: Dieses wahrhaft göttliche »Gesetz von der Erhaltung der Kraft und von der Erhaltung des Stoffes« umfaßt die gesamte, dem Menschen erkennbare Erscheinungswelt, ebenso die geistige wie die materielle. 37

Mit diesem Globalanspruch der Naturwissenschaft hat Haeckel ganz wesentlich zur Spaltung zwischen ihr und der Geisteswissenschaft beigetragen. Sie wird von ihm nicht erst in »Gott-Natur« betrieben, sondern ist als mehr oder minder explizites Axiom seit der Zeit der VirchowNachfolge, also etwa mit Ende seiner Assistenz und mit Beginn seiner Jenaer Tätigkeit (1857—1862), nachweisbar.38 Zu ihr gehört die nicht seltene Gleichsetzung von Erkenntnis und Mathematik und die Verwerfung eines undifferenzierten Gesamts von »Theologie« und »Metaphysik« als »Dichtung« und »poetische Phantasie«.39 3i 37 38

39

Ebd. 600. Wörtlich ähnliche Formulierungen in einem späteren Zusatz ebd. 634. Natürliche Schöpfungsgeschichte XI. Vgl. dazu die Orientierung am »früheren mechanischen M o n i s m u s des berühmten Würzburger Pathologen« Virchow im IV. Kapitel des umfangreichen Aufsatzes »Freie Wissenschaft und freie Lehre. Eine Entgegnung auf Rudolf Virchow's Münchener Rede über >Die Freiheit der Wissenschaft im modernen StaatGeistesweltKonzepte< der »Gott-Natur« ungeschminkt hervor. Er trägt den Titel: »Erkenntnislehre«. Monistische (physiologische) und dualistische (metaphysische) ErkenntnisTheorie: Unsere

monistische

oder

»naturwissenschaftliche«

Erkenntnistheorie

b e t r a c h t e t d i e E r k e n n t n i s als einen p h y s i o l o g i s c h e n N a t u r - P r o z e ß , d e s s e n a n a t o m i s c h e s O r g a n u n s e r m e n s c h l i c h e s G e h i r n ist. Die herrschende d u a l i s t i s c h e oder »geisteswissenschaftliche« Erkenntnisl e h r e [sie!] h i n g e g e n e r b l i c k t in d e r w a h r e n E r k e n n t n i s einen ü b e r n a t ü r l i c h e n V o r g a n g , ein transszendentes

»Wunder«.40

Der Abschnitt schließt mit einer Kritik der »introspektiven Analyse«, die glaube, »durch m e t a p h y s i s c h e Spekulation über die ErkenntnisThätigkeit, und durch dialektisches Spiel mit ihren Begriffen, zur Analysis der Wirklichkeit< zu gelangen«. 41 Am Ende des folgenden Abschnitts (»monistische Erkenntnistheorie«) kritisiert Haeckel die Analogistik der introspektiven Denkmethode und zugleich den Spiegel-Topos, anerkennt sie aber, sofern sie eine »vergleichende und genetische Betrachtung« einzuschließen fähig sei. »Soweit es sich [...] um Erscheinungen des B e w u ß t s e i n s handelt«, sei der Weg der introspektiven Selbstbeobachtung »durchaus berechtigt; denn die s u b j e k t i v e >innere Anschauung< unseres Selbst, welche die Physiologie mit einer S p i e g e l u n g vergleicht, ist hier überhaupt der einzig mögliche Weg«. 4 2 Dem Bewußtsein des Vergleichens antwortet Haeckels Bemühung um Abstraktion, wie sie in den Konstruktionen um das »Phronema«, das Denkzentrum der »Phronetalzellen der Großhirnrinde« und ähnliche scheinbar deskriptive Vorgriffe in Erscheinung tritt. Abstraktion kennzeichnet auch Haeckels eigentliche Naturreligion, die sich bewußt als »echte« und »gesunde« Aufklärungsform der alten »Naturreligion« versteht.

40 41

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sehen Vorstellungen. Unsere monistische Kosmologie verweist ihn in das Gebiet der spiritualistischen Phantasiegebilde und der uferlosen religiösen D i c h t u n g « (33); Unsterblichkeitshoffnung ist »nur ein reines Phantasiegebilde der D i c h t u n g « (52). Gott-Natur 12f. Gott-Natur 13. Haeckel kritisiert damit zurecht die Tradition des transzendentalistischen metaphysischen Denkens in ihrem Zusammenhang mit idealistischer Dialektik und romantischer Innerlichkeit. Die Anführung bezieht sich auf Otto Liebmanns Werk »Zur Analysis der Wirklichkeit«, das in den weiteren Rahmen des Neukantianismus gehört, gegen den Haeckels antikantianische Einstellung wiederholt sich wendet. Gott-Natur 19.

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3. »Gott-Natur« Das 30. Kapitel der »Generellen Morphologie« trägt den Titel »Gott in der Natur«. Haeckels Weg von der Präpositionalform pantheistischer Weltauslegung zur totalen Identität vollzieht sich auf den Vorlagen eines vereinfacht verstandenen Spinozismus und in der Vermittlung von Goethes Spinozarezeption. Dieser >Weg< ist in der Abfolge der Kapitel der »Generellen Morphologie« schon beschritten: das 29. Kapitel behandelt »Die Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft«, versteht sich also als monistische Hinführung zu dem von Haeckel so genannten »theologischen Grundgedanken«. 43 Goethes Wissenschaft und Dichtung werden als »vollkommenster Ausdruck« der in Spinoza und Giordano Bruno gegebenen pantheistischen Einheit von Philosophie und Religion verstanden. So muß man Haeckels Monismus als Versuch einer wissenschaftlichen Religion verstehen. Denn die von ihm so lebhaft betonte »philosophische« Bedeutung des Darwinismus ist gerade der zum naturwissenschaftlichen Nachweis fortgeschrittene Einblick in den mechanischen, evolutionären und nichtintentionalen Zusammenhang der Dinge. Im verschärften Einheitsgedanken wird die Rede vom »Band« der Dinge selbst metonymisch: der >Zusammenhang< bezieht sich auf Nicht-Getrenntes, das >Band< ist eines im Identischen. Wenn Haeckel die Abstammungslehre als » n a t ü r l i c h e Schöpfungsgeschichte« bezeichnet, ersetzt er damit korrigierend die anthropomorphe Tradition der Schöpfungsgeschichte, die er als »Kreatismus« vielfach angreift. 44 In einem späteren Zusatz zum 3. Vortrag der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« erläutert Haeckel den Kern seines synkretistischen Pantheismus: Der höher entwickelte Mensch der Gegenwart ist befähigt und berechtigt zu jener unendlich edleren und erhabeneren Gottesvorstellung von G o e t h e , welche Gottes Geist und Kraft in allen Erscheinungen ohne Ausnahme erblickt. Diese monistische Gottesidee [...] hat schon G i o r d a n o B r u n o einst mit den Worten ausgesprochen: »Ein Geist findet sich in allen Dingen, und es ist kein Körper so klein, daß er nicht einen Teil der göttlichen Substanz in sich enthielte, wodurch er beseelt wird«. Diese veredelte Gottesidee liegt derjenigen Religion zugrunde, in deren Sinne die edelsten Geister des Altertums wie der Neuzeit gedacht und gelebt haben, dem P a n t h e i s m u s ; und sie ist es, von welcher Goethe sagt: »Gewiß, es gibt keine schönere Gottesver-

43 44

Haeckel/Heberer 401 (»Die Phylogenie der Organismen«). Vgl. dazu den 1. Vortrag der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« »Inhalt und Bedeutung der Abstammungslehre [...]«, 1.

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ehrung als diejenige, welche kein Bild bedarf, welche aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserm Busen entspringt«. Durch sie gelangen wir zu der erhabenen pantheistischen Vorstellung von der E i n h e i t G o t t e s u n d der N a t u r . 4 5

Da Haeckel sich früh an die evolutionistische Umdeutung der älteren Naturphilosophie gewöhnte, fällt ihm der Unterschied gerade zwischen (ur-)bildlicher Übertragungsmethodik und seiner kausaltheoretischen Vorstellung nicht mehr auf. So interpretiert er in dem anschließenden Vortrag, der eine seiner ausführlichsten Darstellungen der Naturphilosophie um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert enthält, den Inhalt einer ganz auf dem Analogietopos des Weltgleichnisses aufbauenden Passage aus Treviranus als » u n i v e r s a l e n K a u s a l n e x u s , d.h. den einheitlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen allen Gliedern und Teilen des Weltalls«. 46 Das naturwissenschaftlich ermöglichte Einheitswissen >füllt< die durch die Genügsamkeit der idealistischen Naturideologie am »Gleichnis und Bild« gelassene Leerstelle so aus, daß die Differenz von Bild und Inhalt irrelevant wird. Sie kann zusätzlich interpretiert werden im Sinn der poetisch-hypothetischen Antizipation, - dann weist sie erneut auf die kontinuierliche »Reifung« und »Veredelung« der Weltanschauung.47 45 46

47

Natürliche Schöpfungsgeschichte 49. Ebd. 65. Treviranus stellt eine Kette von Abhängigkeiten fest, die er als Kontiguitätsreihe interpretiert: »Das lebende Individuum ist abhängig von der Art, die Art von dem Geschlechte, dieses von der ganzen lebenden Natur und die letztere vom Organismus der Erde. Das Individuum besitzt zwar ein eigentümliches Leben und bildet insofern eine eigene Welt. Aber eben weil das Leben desselben beschränkt ist, so macht es doch zugleich auch ein Organ in dem allgemeinen Organismus aus. Jeder lebende Körper besteht durch das Universum; aber das Universum besteht auch gegenseitig durch ihn«. Nicht die unlogische Umkehr eines semantisch fragwürdigen Urteils interessiert hier, sondern die genetische: »schöpferische« Bedeutungsfunktion der Abhängigkeitsfeststellung, durch welche das Universum, Generator von Kontingenz, synonym wird zu »Gott«. Zu den immer wieder ganz und ausschnittweise zitierten Goethetexten gehört vor allem »Im Namen dessen«. Hier artikuliert sich die Sprachtranszendenz des Gottesbewußtseins am Ende der ersten Strophe, auf die auch Haeckel sich bezieht: In Jenes Namen, der, so oft genannt, Dem Wesen nach blieb immer unbekannt: So weit das Ohr, so weit das Auge reicht, Du findest nur Bekanntes, das Ihm gleicht, Und Deines Geistes höchster Feuerflug Hat schon am Gleichniss, hat am Bild genug; Es zieht Dich an, es reisst Dich weiter fort, Und wo Du wandelst, schmückt sich Weg und Ort; Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit,

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Der Topos »Gott-Natur«, dem Haeckel in einer späteren Publikation die wissenschaftliche Umschrift »Theo-Physis« verleiht, 48 ist Goethesche Prägung. Als zweites Goethe-Motto ist der Rede über den Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft der Vers vorangestellt: Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, Als dass sich Gott-Natur ihm offenbare?

Haeckels Rede von 1 8 9 2 gehört in die Reihe verstärkter Bemühungen um »Ausgleich« und »Versöhnung« im »Kampf der Weltanschauungen«, der um die Zentren des »Alten und neuen Glaubens« von Strauß und Haeckels darwinistischem Monismus in den siebziger und achtziger Jahren geführt wurde. Das betont Haeckel auch in seinem V o r w o r t . 4 9 Das dogmatisch entkleidete, nur auf den Einheitsbegriff verschworene synkretistische Bild, das dieser Monismus historistisch aus der Überblickstotale der Weltanschauungen von sich zusammenfügt, läßt selbst den Unterschied von »mechanistisch« und »pantheistisch« wesenlos werden. 5 0 Die genannten »Glaubensbekenntnisse« der konferierenden Naturwissenschaftler stehen in einer spezifischen Tradition des 19. Jahrhunderts, deren genauere Geschichte noch zu schreiben wäre. Als Gegenbekenntnis gegen die religiösen Sprechtraditionen ist Virchows »medizinisches Glaubensbekenntnis« zu werten, das 1 8 4 9 »Die Einheitsbestre-

48 49

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Und jeder Schritt ist Unermesslichkeit. Was wär' ein Gott, der nur von aussen stiesse, Im Kreis das All am Finger laufen Hesse! Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen, So dass, was in Ihm lebt und webt und ist, Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermisst. Dies ist das erste Goethe-Zitat, mit dem Haeckel den Druck seiner Altenburger Rede »Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntniss eines Naturforschers, vorgetragen am 9. Oktober 1892« einleitet. Gott-Natur (Theophysis). Studien über monistische Religion, Leipzig 1914. Seine Rede ist dialogisch begründete und sozial eingeforderte Spontanreaktion auf den Festvortrag von Professor Schlesinger (Wien) »über naturwissenschaftliche Glaubenssätze« (Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft 6f.) Nachdem die »Geisteswissenschaft« als »Theil« der »Naturwissenschaft« — »(— oder auch umgekehrt - ) « — zugeordnet wurde, heißt es: »Unsere monistische Weltanschauung gehört [...] zu jener Gruppe der philosophischen Systeme, die man [...] auch als m e c h a n i s t i s c h e oder p a n t h e i s t i s c h e bezeichnet hat«. In den »Systemen eines EMPEDOKLES und LUCRETIUS, eines SPINOZA und GIORDANO BRUNO, eines LAMARCK und DAVID STRAUSS« bleibe als »gemeinsamer Grundgedanke die k o s m i s c h e E i n h e i t , der untrennbare Zusammenhang von Kraft und Stoff, von Geist und Materie [...], von Gott und Welt«. Daraufhin erfolgt Verweis auf »Faust« und Goethes »Gott und Welt«. (Ebd. 10)

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bungen in der wissenschaftlichen Medizin« enthalten. 1856 hat es Virchow an die Spitze seiner »Gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin« gestellt, - was Haeckel mehrfach herausstellt, nicht zuletzt deswegen, um die monistische Auffassung Virchows in der Jahrhundertmitte gegen dessen >revisionistische< Neigungen in den siebziger Jahren zu kontrastieren.51 Haeckels Glaubensbekenntnis ist als Resultante der Einheitsauffassungen des >historischen< Monismus in seine Naturwissenschaft eingegangen: die synthetische Leistung seiner »philosophischen Reflexion« ist die Verbindung von Lavoisiers »Gesetz von der Erhaltung des Stoffes« mit dem von Robert Mayer und Helmholtz aufgestellten »Gesetz von der Erhaltung der Kraft« in den » einen philosophischen Begriff«: »Gesetz von der Erhaltung der Substanz«.52 Einen ähnlichen Rückgriff auf ältere Anschauungen der Naturphilosophie stellt Haeckels Auffassung vom »Weltäther« dar, die einerseits die zwischen Lotze, Fechner und anderen Naturphilosophen der Jahrhundertmitte diskutierte Theorie der actio in distans hinfällig macht, anderseits aber auch eine anachronistische Umschreibung der elektrodynamischen Entdeckungen Heinrich Hertz' von 1888 ist. Die naturphilosophische, pantheistische Umdeutung der Äthertheorie empfiehlt Haeckel selbst mit dem Begriff des ideologischen »Auswertens« — damit wird das Band zwischen Religion und Wissenschaft so hergestellt, daß auch kreatistische Formulierungen wieder zu ihrem Recht kommen: . . . eine vernünftige F o r m der Religion kann die Aethertheorie als »Glaubenssatz« v e r w e r t h e n , indem sie den beweglichen W e l t ä t h e r als

»schaffende

G o t t h e i t « der trägen und schweren M a s s e (als »Schöpfungsmaterial«) gegenüberstellt. 5 3

51 52 53

Vgl. Welträtsel 102f. Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft 14. Ebd. 16. Die Parallelschaltung der beiden Paradigmata erscheint in der Schrift in einer der typischen graphischen Darstellungen in Anm. 11 S. 42: Welt ( = Substanz = Kosmos). (Die dem Menschen erkennbare Natur.) Weltäther ( = »Geist« = bewegl. o. active Weltmasse ( = »Körper« = träge o. passiSubstanz) ve Substanz) Schwingungsvermögen. Beharrungsvermögen. Hauptfunctionen: Electricität, MagneSchwere, Trägheit, chemische Wahlvertism., Licht, Wärme. wandtschaft. Structur: dynamisch; continuirliche, atomistisch; discontinuirliche, unelastielastische Substanz [...] sche Substanz Theosophisch: »Schaffender Gott« (stets »Geschaffene Welt« (geformt in Ruhe). in Bewegung) »Wirken des allgemeinen »Werke der Raumverdichtung«. Raumes«.

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So kehren die »Dualismen« der überholten philosophischen Weltanschauungen als Beschreibungskategorien der Einheitsreligion wieder zurück. Der Wechsel der Aspekte vermag die monistische Identifizierung nicht zu stören, da die Frage, die gerade für das aristotelisch und thomistisch bestimmte, neuscholastische Denken des 19. Jahrhunderts virulent geworden war, die Frage nach dem »Qualitätssprung« durch die verallgemeinerte Entwicklungstheorie aufgehoben ist. Bei Haeckel taucht nahezu das vollständige Arsenal der traditionellen philosophischen und dogmatischen Strukturen bis hinein in eine später entwickelte Trinitätslehre der Weltsubstanz »in wissenschaftlichem Sinne«5* wieder auf. Selbst eine der am schärfsten kritisierten christlichen Anschauungen, die der unsterblichen Seele, wird auf die Ebene der kosmischen Einheit verschoben, mithin als Attribut von >Welt< diagnostiziert und restauriert. Keineswegs, so apologetisiert sich Haeckels monistischer Naturglaube, leugne er »die Unsterblichkeit überhaupt« — nachdem er eben festgestellt hat, daß man unfähig sei, sich »wirklich immaterielle Wesen irgend fassbar vorzustellen«, sondern sie wird gar zu einem »unentbehrlichen Grundbegriff unserer monistischen Naturphilosophie. Unsterblichkeit in wissenschaftlichem Sinn ist Erhaltung der Substanz« — also die kosmologische Aufwertung der Energieerhaltungsgesetze; und die unentbehrliche Religion, die aus der göttlichen Natur entspringt, findet zu sich selbst im Weltgleichnis: »Der ganze Kosmos ist unsterblich«.55 Die auf dieser Seite wieder einmal strapazierte »Erkenntnis« Goethes, daß »die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiren und wirksam sein« kann, wird zur ideologischen Gleichsetzung der Begriffe weitergesponnen. Die Konsequenz dieser Einerseits-AnderseitsPhilosophie ist die Ausschaltung der Opposition von »Materialismus« und »Spiritualismus«;56 denn diese »monistische Gottesidee« »erkennt >Gottes Geist in allen Dingennaturgetreu< nach, wie sie zur Substantialisierung der idealistischen Werte aufruft: Das Wahre, das Gute und das Schöne, das sind die drei hehren Gottheiten, vor denen »die monistische Naturforschung, [...] die monistische Ethik, [...] 54 55 57

Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft 24. Ebd. 5 6 Ebd. 2 6 . Ebd. 3 3 . »Gott« wird damit einerseits völlig formalisiert (er ist präsent als »Kausalität«, »das oberste Weltgesetz«, »Wirken des allgemeinen Raumes«), anderseits mit dem Dingbegriff identisch und damit beliebig konkretisierbar.

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die monistische Aesthetik« ihre »Knie beugen; in ihrer naturgemäßen Vereinigung und gegenseitigen Ergänzung gewinnen wir den reinen Gottesbegriff. Diesem >dreieinigen Gottes-IdealeKirche< in der herrlichen Natur selbst«60 schon besteht. Von praktischen Bestimmungen entlastet, wird Religion der Naturgläubigkeit zum bloßen Verklärungswert des wissenschaftlichen Bewußtseins vom »Zusammenhang der Dinge«, »jene höhere [!] Erkenntnis des kausalen Zusammenhangs aller einzelnen Erscheinungen, die wir mit einem Worte Philosophie nennen«, wie es mehrfach redundant im Vorwort zur ersten Auflage der »Welträtsel« (1899) heißt.61 Selbst »das größte, umfassendste und schwerste« aller Welträtsel, die »Schöpfungsfrage« wird beantwortbar mittels einer Extrapolation.62 Wie weit Haeckel in seiner Wissenschaftsgläubigkeit von einer Erfassung des mythischen Horizontes des »Weltproblems« entfernt ist, dokumentiert seine ihrerseits recht substantialistische Rede vom »Weltgesetz« der Substanzerhaltung, in der die göttliche Verehrung eher der 58 55

60 61 62

So am Ende des vorletzten Abschnitts der Rede, ebd. 36. Welträtsel 3 5 5 : »Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, Der h a t auch Religion! Wer diese beiden nicht besitzt, Der h a b e Religion«. Welträtsel 3 7 1 . Ebd. III und IV. »Gelingt es uns, eine sichere Antwort auf diese Fragen [ist die Welt übernatürlich »erschaffen« oder »auf natürlichem Wege >entwickelt«KraftwechselEssential-Attributebelebt< im weitesten Sinne! - ) . Einseitig betont vom monistischen Psychomonismus (Ernst Mach, Max Verworn) und dem älteren Idealismus (Platon, Berkeley).66 63 66

Ebd. 258. 6 4 Ebd. 245. 65 Ebd. 244Í. Mit diesem Muster korrigiert Haeckel ausdrücklich seine »ältere Theorie von der Binität der Substanz (zwei Attribute: Einheit von Materie und Energie), welche ich im Anschluß an Spinoza 1892 aufgestellt hatte«: so wird seine Naturphilosophie wieder zu einer stärkeren Differenzierung, aber auch zu einer Annäherung an die herkömmliche Betonung des psychistischen Moments weiterentwickelt. (Gott-Natur 66)

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Im Analogiezwang parallelisiert Haeckel nun der dritten Kategorie seiner synthetischen Substanz (auf der folgenden Tabelle wird von »drei Attributen der Substanz oder des >KraftstoffesLiebe der ElementeErhaltung der Materie< (1789) mit dem physikalischen Grundgesetz von der >Erhaltung der Energie< (1842)« die Synthesis des »einzigen untrennbaren Universalgesetz(es) verabreicht wird, das »auf den einheitlichen SubstanzBegriff von Spinoza (1677) bezogen wird; er fällt zusammen mit dem monistischen Grundbegriffe der >Gott-Natur< von Goethe (1809)«. 6 8

Die Rückkehr der idealistischen Naturphilosophie spielt sich auf der Ebene der spezifisch synthetischen Textpassagen und der monistischen Einheitszitate ab. Sie schließt eine fruchtbare und vielfältige wissenschaftliche Kritik vitalistischer und mystischer Theoreme nicht aus. So weist Haeckel den verallgemeinerten Gebrauch des » Organismus «Topos im 2. Kapitel der »Lebenswunder« zurück, handelt aber im Anschluß daran vom »Leben der Krystalle«.69 Wachstum ist ihm - im Gefolge Karl v. Baers - ausreichendes semantisches Merkmal für »Leben«, ja für »Empfindung«: Empfindung und Bewegung [...] fehlen aber auch nicht bei den Krystallen; denn bei der Krystallisation selbst bewegen sich die Moleküle in ganz 67 68 i9

Gott-Natur 67. Welträtsel 246. Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie 29ff. Vgl. dazu schließlich Haeckels letzte Arbeit: »Kristall-Seelen. Studien über das anorganische Leben«, Leipzig 1917.

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bestimmter Richtung und legen sich nach festen Gesetzen aneinander; dabei müssen sie aber auch Empfindung besitzen, denn sonst könnte die Massenanziehung der gleichartigen Teile nicht stattfinden.

Die Begriffsausweitung, die damit betrieben wird, versucht Haeckel durch den Zusatz, daß es sich hier um »unbewußte« Empfindungen handle, auszugleichen. Wie schon Friedrich Paulsen in seiner Kritik der »Welträtsel« festgestellt hat, 70 wie unsere Darstellung verdeutlicht, läuft die Terminologie der kritisierten »Lebenskraft«-Theorien im Gesamtwerk Haeckels durch; sie wird - unter Bezugnahme auf die Untersuchungen Verworns, Ostwalds und Hofmeisters71 - im Zusammenhang des Neovitalismus der Jahrhundertwende als tragfähig für die monistische Weltauslegung rehabilitiert. Den Begriff der »Lebenskraft«, der als Vis Vitalis, rtisus formativus, »Bildungstrieb« im 18. und frühen 19. Jahrhundert diskutiert war, könne man »in monistischem Sinne beibehalten«,72 wenn man darunter die für den Organismus charakteristischen »Energieformen« des Stoffwechsels und der Vererbung verstehe. Das ist reduktiver »physikalischer Vitalismus«.73 Wiederum betont Haeckel nur seinen Gegensatz zu den dualistischen Voraussetzungen: Auch im »transgressiven Wachstum« seien »alle einzelnen Funktionen [...] mechanisch ausgebildet« worden, so daß sich als letzte Punkte der monistischen Lebenstheorie folgende ergeben: 7. Die Bewegung der Organismen in jeder Form ist von den Bewegungen der anorganischen Dynamomaschinen nicht prinzipiell verschieden. 8. Die Empfindung ist eine allgemeine Energieform der Substanz, in den sensiblen Organismen und den reizbaren Anorganen (Pulver, Dynamit) nicht prinzipiell verschieden. Ein immaterielles »Seelenwesen« existiert nicht. 74

Hier ist der Unterschied zu Fechners analogen Beseelungsannahmen hervorzuheben: dessen Panpsychismus dient dem Nachweis der spirituellen Identität aller Naturdinge. Haeckels Monismus, der an der Effizienz der Reduktionen festhält, versucht den hypothetischen Nachweis, daß sich die psychischen Funktionen aus den biochemischen und physikalischen herausentwickelt haben können. Die Schwäche seiner wissenschaftlichen Theorie ist dabei nur, daß er nicht zwischen generalisierender und exakter Induktion unterscheidet, - was wiederum, wie gezeigt werden konnte, mit seinem bildungspolitisch weitgehend berechtigten,

70 72

Vgl. F. Paulsen, Philosophia militane 209. Vgl. dazu Lebenswunder 34f. 73 Ebd. 36.

71

Ebd. 30. Ebd. 40.

74

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aber doch zu Abwehren führenden Kritikverhältnis zur exakten Naturwissenschaft, also mit seiner spezifisch »naturphilosophischen« Neigung zusammenhängt. 75 Diese Prägung ist wesentlich durch die literarische Rezeption vermittelt. Die monistische Konfession bildet sich aus einer eklektizistischen Vereinnahmung aller »Panpsychisten« von Empedokles bis Schopenhauer, der in »Gott-Natur« gelegentlich als Gewährsmann herangezogen wird. 76 »Kosmischer Hylozoismus«, »naturalistischer Monismus«, »Naturphilosophie«, »Atheismus«, »monistische Religion«, »Panpsychismus« werden als Glaube an den »All- oder Universalgott« synonym. 77 Das ist bereits in der »Generellen Morphologie« so angelegt: Die wirklich natürliche, d. h. wahrheitsgemäße Theologie fällt zusammen mit der Kosmologie, oder was dasselbe ist, mit der Naturphilosophie. Denn da Gott allmächtig, da er die Summe aller Kräfte der Welt ist, da er das ganze Universum umfaßt, so muß er auch in allen Teilen des Kosmos erkennbar sein, so ist jede Naturerscheinung eine Wirkung Gottes, oder was dasselbe ist, des Kausalgesetzes und die allumfassende Naturwissenschaft ist zugleich Gotteserkenntnis. 78

So gliedert sich auch Haeckels doppelwertige Position in die Überlagerungsstruktur des 19. Jahrhunderts ein, die mittels der Extensivierung von semantischen Merkmalen den Widerspruch zwischen zwei Ableitungs- und Kreativitätsparadigmen auszugleichen sucht. Aber trotz der im einzelnen noch genauer nachweisbaren Nähe zur philosophischen Vereinheitlichungsspekulation, wie sie in den »Seelen«- und » Willens «Paradigmen vorliegt, gehört Haeckel in die geringe Reihe derjenigen, die sich mit erhöhter — und kulturpolitisch angeheizter Kraft der Aufgabe stellen, sich für ein alternatives Paradigma zu entscheiden. Die Macht der literarischen Tradition scheint so nicht nur das materialistische und naturalistische Interesse zu deformieren, sondern in dieser Validität als 75 76

77 78

Vgl. die ähnliche Sicht des Theologen Günter Altner, Charles Darwin und Ernst Haeckel, in: Theologische Studien 85 (1966) 46. Die Trinitätslehre des Monismus sei durch Spaltung des Energie-Begriffs »in zwei gleichgeordnete Begriffe« entwickelt: »von der Kraft (oder >Arbeit< im weitesten Sinn = >Wille< von Schopenhauer)« habe er »die Empfindung (Psychoma)« abgetrennt. (GottNatur 36) Vgl. dazu den Rückgriff auf »Einheit von Materie und Energie« als »Grundprinzip der >Identitätsphilosophie