Der Wille zum Willen: Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880-1900 9783110212464, 9783110212457

The end of the 19th century, which declared progress and the technical and scientific mastering of life as guiding maxim

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German Pages 567 Year 2009

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Table of contents :
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Inhalt
I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frühen Moderne
II. Daseinskämpfe
III. Poetik der Tat
IV. Wille zur Gemeinschaft
V. Verlöschende Form
VI. Der Wille zum Willen und die Modernisierung der Moderne. Transformation und Erkenntnislogik der frühen Moderne
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Der Wille zum Willen: Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880-1900
 9783110212464, 9783110212457

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Ingo Stöckmann Der Wille zum Willen

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

52 ( 286 )

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Der Wille zum Willen Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880−1900

von

Ingo Stöckmann

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-021245-7 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin

Inhalt I.

Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das transzendentale Problem 1: Thermodynamik und Gymnastik des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das transzendentale Problem 2: Der Wille und die Einheit des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Methodologie der frhen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Daseinskmpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Selbstentzweiung des Willens, Kampf ums Dasein, Ursprungswelt: Das Erzhlsystem des Naturalismus . . . . . . 41 2. Treibende Krfte. Mythisierungen des Willens bei Conrad Alberti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3. Enthllung, Umkehr, Naturalisierung. Der Wille und die Kulturentwicklung des 19. Jahrhunderts (Max Kretzer, Felix Hollaender, Kurt Grottewitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Der Sinn des Jahrhunderts. Die Krankheit des Willens und die Undurchdringlichkeit des Symbolischen bei Max Nordau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 III. Poetik der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Apokrypher Avantgardismus. „Fhrerschaft“ und „Kunst-Wille“ bei den Brdern Hart und bei Leo Berg . . . 2. „Propaganda der That“. Karl Bleibtreus Heroismus . . . . . . 3. Tat, Entscheidung, Opfer. Die Augenblicke des Lebens und der naturalistische Einakter (Georg Hirschfeld, Alexander L. Kielland, Rilke, Schnitzler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Wille zur Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Soziologie der Willenspersçnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 2. Gemeinschaft statt Gesellschaft. Der naturalistische Roman, die frhe Soziologie und die sentimentalische Moderne . . . 258

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Inhalt

3. Soziologische Trauerarbeit. ber den „gesetzmßig-normalen Prozess des Verfalles aller Gemeinschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Wille und die Konstitution der Sozialwelt . . . . . . . . . 5. „Lust-Elemente“ der Gemeinschaft. Selbstgenuss, Verschuldung, Feindschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Sprache der Gemeinschaft. Der Tod der Zeichen im Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Patriarchalischer Sinn und Werteautonomie. Wilhelm von Polenz und Max Weber in Ostelbien . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verlçschende Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Semiotik der Willensschwche. Entropie als Figur . . . . . . . 2. „Disgregation des Willens“. Das Sekundr-Werden der Texte und die Hermeneutik der Anempfindung (Nietzsche, Hofmannsthal, Jens Peter Jacobsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Psychophysisches Erzhlen. Der Wille und die Unform der Existenz bei Hermann Conradi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Intime Dramen. Das innere Jenseits des Dialogs und die Archologie des Ichs (Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verausgabungen. Michael Georg Conrads entropische Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. „sthetischer Pantheismus“ und „Wille zur Kunst“. Georg Simmels modernistische Rettung des Naturalismus . . . . . . VI. Der Wille zum Willen und die Modernisierung der Moderne. Transformation und Erkenntnislogik der frhen Moderne . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556

I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne 1904, im Rckblick auf die Grndungsphase der literarischen Moderne, schreibt Samuel Lublinski: Die mikroskopisch scharfen Augen und das hochverfeinerte Gefhlsleben der Naturalisten hatten den jungen Dichtern eine schier unendliche Flle von Nuancen erschlossen, die sich nicht so leicht in einen einheitlichen Stil zwingen ließen, als es frheren Generationen bei ihrem geringeren Vorrat mçglich gewesen war. Man verlor sich in der Flle, man ertrank im Rausch, man fhlte sich krank, willensschwach und wie gelhmt, weil an die organisatorischen Krfte des Willens plçtzlich die ungeheuersten Anforderungen gestellt wurden. […] Der passive Held des naturalistischen Dramas wurde in den neuen Romanen zu einem Held der Willenlosigkeit, dessen Haupteigenschaft die mimosenhafte Empfnglichkeit fr Stimmungsschwingungen war.1

Mitunter, so darf man aus Samuel Lublinskis ußerungen schließen, besitzt die unmittelbare Zeitgenossenschaft den Vorzug, ein historisch 1

Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne [1904]. Mit einem Nachwort neu hg. von Gotthart Wunberg, Tbingen 1974, 104 f. – Zitatnachweise aus Primrund Forschungsliteratur erfolgen bei der Erstnennung mit vollstndiger bibliographischer Angabe, bei wiederholter Zitation unter Nennung von Autorname, Kurztitel und Seitenzahl. Aufgrund der Menge des zitierten Quellenmaterials ist dem vollstndigen Quellennachweis wie dem Kurztitel jeweils das Erscheinungsjahr in eckigen Klammern beigegeben. Fr Monographien und Aufsatzpublikationen der Forschungsliteratur gilt das gleiche, wenn das Ersterscheinungsjahr der Monographie erheblich zurckliegt bzw. dasjenige des Aufsatzes deutlich vom Erscheinungsjahr des Sammelbands, in dem er (wieder)abgedruckt worden ist, abweicht. Wird ein Werk mehrfach fortlaufend hintereinander zitiert, erfolgt der Zitatnachweis mit ,Ebd.‘ und unter Angabe der Seitenzahl. Bei wiederholter Nennung mehrbndiger bzw. mehrteiliger Quellenwerke, insbesondere von Romanen, erfolgt der Bandnachweis mit rçmischer Zahl und Seitenangabe. Aus Grnden der Leserorientierung beginnt mit jedem Kapitel (nicht Teilkapitel) die vollstndige Titelaufnahme nochmals, auch wenn ein Werk der Primr- oder Forschungsliteratur unter Nennung des vollstndigen Titels bereits aufgefhrt wurde. Die bibliographischen Nachweise finden sich vollstndig nochmals im Literaturverzeichnis. Hervorhebungen, die vom zitierten Text abweichen, werden gesondert kenntlich gemacht.

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I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne

werdendes Phnomen zu den Bedingungen seiner Entstehung zu verstehen. Dieses Phnomen, dem Lublinskis Bilanz in der Hauptsache gilt, ist der Naturalismus, und auf ihn fllt – anders etwa als bei Hermann Bahr2 – ein unerwartetes Licht. Zum einen behauptet Lublinski einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen naturalistischen Texten und Problemen des Willens. Offenbar empfangen die naturalistischen Textwelten ihren thematischen Gehalt wie ihre Darstellungsbedingungen aus den „organisatorischen“ Leistungen des Willens, und in gewisser Weise markiert Lublinskis Bilanz damit eine Art transzendentale Struktur, die die Rede- und Schreibbedingungen naturalistischer Texte determiniert. Die vorliegende Studie richtet sich, noch vor allen weiterfhrenden Fragen zum Zusammenhang von Naturalismus und literarischer Moderne, auf die Exploration dieses transzendentalen Bedingungsgefges. – Zum anderen zielt Lublinskis Bemerkung auf den spezifischen Gehalt dieser literarischen ,Transzendentalitt‘. Er besteht in einer fr die Rezeptionsgeschichte des Naturalismus verblffenden Weise nicht in dem, was die Forschung den historischen Interessen des Naturalismus fr gewçhnlich nachsagt: Realittserfassung und phono-photographische Detailtreue, Gegenstandsreferenz und ,objektive‘ Mimesis.3 Zwar lassen sich Erkenntnisansprche dieser Art nicht grundstzlich bestreiten, schon weil sie zu den teils hochfliegenden, teils sich szientifisch verstehenden Programmaspekten der Epoche selbst gehçren und – insbesondere im Blick auf die Experimentalpoetiken der Zeit – inzwischen eine breite wissensgeschichtliche Forschung angestoßen haben.4 Aber sie beruhen ihrerseits 2

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Vgl. Hermann Bahr: Die berwindung des Naturalismus [1891]. In: Ders.: Zur berwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887 – 1904. Ausgew., eingel. und erlut. von Gotthart Wunberg, Stuttgart, Berlin u. a. 1968, 33 ff. und 85 ff. Vgl. noch aus der neueren Literatur Walter Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar 1998, 43 ff.; Eva-Maria Siegel: High-fidelity. Konfigurationen der Treue um 1900, Mnchen 2004. Mit Blick auf Photo- und Phonographie vgl. auch Vgl. Helmut Schanze: Der Experimentalroman des deutschen Naturalismus. Zur Theorie der Prosa um 1890. In: Helmut Koopmann (Hg.): Handbuch des deutschen Romans, Dsseldorf 1983, 460 – 467; Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800 – 1900 [1985], 4., vollst. berarbeitete Neuaufl. Mnchen 2003, 276 ff.; Gisela Hçhne: Probleme der Wahrnehmung und einer frhen Medientheorie im ,Konsequenten Naturalismus‘ und den theoretischen berlegungen von Arno Holz von 1900, Diss. Berlin 1990. Vgl. nur Marcus Krause/Nicolas Pethes (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Wrzburg 2005.

I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne

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auf einer Schicht von apperzeptiven Fragestellungen, die das, was ,mimetisch‘ oder ,photographisch‘ reprsentiert werden soll, an die Strukturen seiner Wahrnehmung und kognitiven Synthese koppelt. Wenn die „organisatorischen Krfte des Willens“5 nur mehr in geschwchter Form funktionsfhig sind, dann ist der Naturalismus in einer bislang unerschlossenen Weise in einer Debatte verankert, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert um die Frage organisiert, wie die Einheit des Bewusstseins – nach dem Verlust seiner angestammten apriorischen, metaphysischen oder analogischen Synthesen – berhaupt denkbar ist. Und was sich an diesen Erfahrungen im 19. Jahrhundert zu entsprechenden Problembestnden aufwirft, die – darin ganz in der Tradition Kants – nicht eigentlich mehr Aussagen ber die Realitt, sondern ber die prekren Momente ihrer ,Apperzeption‘ treffen, verhandeln die Diskurse der Zeit bezeichnenderweise in voluntaristischen Kategorien. Wenn es im Naturalismus Ansprche an die Erfassung eines als ,Wirklichkeit‘ oder ,Welt‘ semantisierten Realen gibt, dann verlaufen sie durch apperzeptive Bedingungen hindurch, die diesem Realen gegenber einen (nach wie vor) transzendentalen Status besitzen. Zahlreiche Texte des Naturalismus sind, anders als es seine literaturgeschichtliche Marginalisierung nahe legt, Schaupltze eines Darstellungsanspruchs, der vor ,der Realitt‘ die Bedingungen ihrer apperzeptiven und zeichenhaften Synthese erprobt. Fr eine Wahrnehmungsgeschichte der Moderne, die nicht einsinnig auf mediale Abbildungsanalogien oder nachahmungstheoretische Traditionen vertraut, ist der deutschsprachige Naturalismus noch zu entdecken. Das entfaltete Panorama kann sich zunchst auf eine berwltigende literarische Belegflle sttzen. Schon der viel zitierte und in der historischen Semantik zum Schlagwort geronnene ,Determinismus‘ fhrt seine Deutungsansprche in aller Regel am illusionren Charakter des freien Willens vor, und das naturalistische Drama ist diesem Determinismus bereitwillig in die Tragçdien des brgerlichen Lebens gefolgt.6 Vom Willen, seiner Schwche und seinen Lhmungen, von seiner Freiheit und seinen Determinierungen ist in naturalistischen Texten fortwhrend die Rede. Fast die Mehrheit des naturalistischen Dramenpersonals fhrt ihr beschwerliches Leben im Zeichen einer ,krankhaften Willensschwche‘7, 5 6 7

Lublinski: Die Bilanz der Moderne [1904], 105. Vgl. Hermann Faber: Der freie Wille. Schauspiel in drei Aufzgen, Leipzig o. J. [1891]. Vgl. F.C.R. Eschle: Die krankhafte Willensschwche und die Aufgabe der erziehlichen Therapie, Berlin 1904.

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I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne

und entsprechend bewegen sich die umfnglichen Erzhloberflchen des naturalistischen Romans durch eine agonale Welt der Willensstarken und -schwachen, der Sieger und Verlierer im aufreibenden ,Kampf ums Dasein‘. Max Nordau, der Diagnostiker all der Hinflligkeiten, die die sptzeitlich gewordene Moderne begleiten, vergrçßert die Willensproblematik 1888 zu einer Krankheit, die dem ganzen Jahrhundert seinen Namen gibt.8 Insofern ist die Titelwahl der Arbeit als Ausdruck einer historischen Situation, und nicht als Anmaßung zu verstehen, sich in die bergroße Nachbarschaft der modernen epistemologischen Kritik (Nietzsche, Foucault) begeben zu wollen. Der gewhlte Titel ist zumal ein historisches Zitat. 1896 vermerkt Georg Simmel die zeittypische Neigung, den Gefhrdungen der Willensenergien mit einem „Willen zum Willen“9 Herr werden zu wollen. Fr den hier bezogenen Standpunkt ist Simmels Formulierung in doppelter Hinsicht symptomatisch: Zum einen entspricht sie einer ubiquitren kulturellen Anrufung des Willens, die selbst noch dort wirkt, wo sich der Wille in seinen Schwchungen und Lhmungen erfhrt. Zum anderen gibt die Formulierung eine selbstinvolutive Logik zu erkennen, die den Willen zu seinem eigenen Gehalt werden lsst. Welche Modernisierungsleistungen in dieser Selbstanwendung des Willens verborgen sind, soll im Folgenden entfaltet werden. Zunchst ist allerdings die literarische Belegflle des Problems signifikant. Alle Texte, die im Folgenden zur Sprache kommen, bewegen sich durch ein semantisches Feld von Kraft und Ermdung, von Strke und Schwche, von energetischer Selbstbehauptung und ,entropischem‘ Selbstverlust. Schon die Titel der naturalistischen Texte lassen ahnen, wovon sie handeln: Von Treibenden Krften und Kraftkuren ist seit den 1880er Jahren bemerkenswert hufig die Rede; von Mden Seelen ebenso wie von Siegernaturen, von einem Faust der That ebenso wie von ihrer Propaganda oder der Frage, wer der Strkere ist. ber den Kampf ums Dasein, der die Willen seiner Protagonisten aufzehrt, breitet der Naturalismus einen sechsbndigen Romanzyklus; ber den aporetischen Versuch, einen entropischen Reproduktionszyklus als fortschreitenden Ver8 9

Vgl. Max Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts. 2 Bde., Leipzig 21888, Bd. 1, 177 ff. Georg Simmel: Skizze einer Willenstheorie [1896]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstadt. Bd. 5: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900. Hg. von Heinz-Jrgen Dahme und David P. Frisby, Frankfurt/M. 1992, 130 – 144, 142.

I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne

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lust von Willensenergien und Vitalkrften zu erzhlen, immerhin drei Romane.10 Dass Projekte dieser Art, die dem monumentalen Vorbild Zola nacheifern, in aller Regel schnell erlahmen, besitzt einen Sinn, der nicht nur in den kontingenten Dispositionen ihrer Autoren zu suchen ist. In all dem ist der Naturalismus auf einen Referenzhorizont bezogen, der in neuartiger Weise in thermodynamischen Hintergrundannahmen verankert ist.11 Ganz offensichtlich grndet der Wille im ausgehenden 19. Jahrhundert in einer gegenber den Begriffstraditionen vernderten epistemischen Figur. Sie lsst die lteren anthropologischen und transzendentalphilosophischen Fragen – vor allem das traditionsreiche Problem der Willensfreiheit – hinter einen Diskurstyp zurckzutreten, 10 Vgl. fr die genannten Titel Max Kretzer: Treibende Krfte. Roman [1903], Dessau 1921; Karl Bleibtreu: Kraftkuren. Realistische Novellen, Leipzig, Berlin 1885; Arne Garborg: Mde Seelen. Deutsch von Marie Herzfeld, Berlin 1893; Kurt Grottewitz: Eine Siegernatur. Moderner Roman, Berlin 1892; Karl Bleibtreu: Ein Faust der That. Tragçdie in fnf Akten, Leipzig 1887; ders.: Die Propaganda der That. Sozialer Roman, Leipzig 1890; Conrad Alberti: Wer ist der Strkere? Ein sozialer Roman aus dem modernen Berlin. 2 Bde., Leipzig 1888. Bei den genannten Romanzyklen handelt es sich um Conrad Albertis Romanzyklus Der Kampf ums Dasein (6 Bde., 1888 – 1895) und Michael Georg Conrads Mnchener Isar-Zyklus (3 Bde., 1888 – 1893). 11 Dies und das Folgende in Gegensatz zu Dieter Kafitz’ Versuch, den Naturalismus nach einer lang whrenden Rckbindung an den Positivismus auf darwinistische Hintergrundannahmen einzuschwçren. Vgl. Dieter Kafitz: Tendenzen der Naturalismus-Forschung und berlegungen zu einer Neubestimmung des Naturalismus-Begriffs. In: Der Deutschunterricht 40 (1988) H. 2: Naturalismus. Hg. von Helmut Scheuer, 11 – 29, 15 ff. Die Bedeutung des Darwinismus wird an dieser Stelle nicht bestritten, zumal nur ein beraus kleines Segment – der ,konsequente Naturalismus‘ – faktisch auf positivistische Theorievorgaben zurckgegriffen hat. Vgl. Hanno Mçbius: Der Positivismus in der Literatur des Naturalismus. Wissenschaft, Kunst und soziale Frage bei Arno Holz, Mnchen 1980 und – mit der Konsequenz, den Naturalismus vollstndig im Verbund von Positivismus und ,konsequentem Naturalismus‘ aufgehen zu lassen – ders.: Der Naturalismus. Epochendarstellung und Werkanalyse, Heidelberg 1982, 7. Wie Kafitz’ ideengeschichtliche Perspektive aber zeigt, hat der Darwinismus primr die weltanschaulichen Fundamente des Naturalismus erschlossen; die im engeren Sinne formativen, etwa erzhlstrukturellen oder semiologischen Konsequenzen sind damit noch nicht hinreichend geklrt. Die hier vorgeschlagene Interpretation des Naturalismus im Zeichen eines voluntaristischen Paradigmas besitzt den Vorzug, zum einen weltanschauliche und formale Implikationen analytisch miteinander verbinden zu kçnnen, zum anderen Darwinismus und Voluntarismus in ihrem paradigmatischen Gewicht hierarchisieren bzw. dort, wo dies die textanalytischen Befunde nahe legen, integrieren zu kçnnen. Vgl. insbesondere die Ausfhrungen zum naturalistischen Roman (Kap. II).

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I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne

der psychische Gehalte als quivalente einer allgemeinen bewegenden Kraft behandelt und damit das Seelenleben im Ganzen zu einem Schauplatz von unterschiedlichen Energien werden lsst. In welchem Maße diese Energetisierung im 19. Jahrhundert ein neues wissenschaftliches und kulturelles System ausbildet, das dem industriellen Zeitalter ebenso euphorische wie bengstigende Selbstdeutungsmçglichkeiten zuspielte, haben die Arbeiten von Anson Rabinbach und Joachim Radkau gezeigt.12 Auch der Wille gehçrt einem diskursiven Feld an, in dem eine einzige, unzerstçrbare Kraft verschiedene materielle Formen von Energie hervorbringt. Und auch wenn die philosophische Fachdiskussion ltere Fragen der Willensfreiheit – seit jeher Prfstein der moralischen Autonomie des Subjekts – bewahrt,13 so hat sich das epistemische Feld, das den Willen fortan in eine Sprache der Kraft bersetzt, doch erkennbar verndert. An ihm wird eine anthropologische Modernisierung ablesbar, die den Willen zur Seelenenergie umdeutet und in eine doppelte Akkumulationsrichtung eintrgt: zum einen in Richtung auf eine potentiell unablssige Krftigung und Strkung, einen Zuwachs an Zielorientierung und Konzentration, die dem modernen Prinzip der Steigerung verpflichtet ist; zum anderen in Richtung einer angstbesetzten Willensschwchung, die Handlungsziele in eine Vielzahl von Zielmçglichkeiten, Formen in Gestaltlosigkeit und Ordnungen in dissipative Reststrukturen zerstreut. Und selbst oberhalb derartig pessimistischer Verlaufskurven erscheint die Willenskraft als rares, die Grenzen jedes Einzelnen ausmessendes Gut, das einer strikten Haushaltung unterliegt. Wenn der Wille am Ende des Jahrhunderts seine moral- und transzendentalphilosophischen Implikationen einbßt und im beschriebenen Sinne zum Gegenstand einer konomie der Kraft wird, dann gewinnt die Willenskraft ihrerseits einen quasi-transzendentalen Rang: Sie wird kulturell unhintergehbar, weil sie einen wesentlichen Horizont moderner Selbstdeutungen bestimmt. 12 Vgl. Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermdung und die Ursprnge der Moderne. Aus dem Amerikanischen von Erik Michael Vogt, Wien 2001; Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervositt. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. Mnchen, Wien 1998 sowie im Anschluss die Beitrge in Thomas Brandstetter/Christoph Windgtter (Hg.): Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800 – 1900, Berlin 2008. 13 Vgl. fr einen berblick Uwe an der Heiden/Helmut Schneider (Hg.): Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, Stuttgart 2007.

1. Das transzendentale Problem 1

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Das Folgende soll diese transzendentalen Bedingungen in Grundzgen entfalten – zunchst (Das transzendentale Problem 1) mit Blick auf jenes thermodynamische Referenzwissen, das im ausgehenden 19. Jahrhundert Literatur, Philosophie und Psychopathologie durchwandert und das in Form einer unberschaubaren medizinisch-populrwissenschaftlichen Ratgeberliteratur ber Willensschwche und Willensstrkung auch die Alltagswelt prgt; dann (Das transzendentale Problem 2) mit Blick auf die weit verzweigten Ergebnisse von Experimental- und ,philosophischer‘ Psychologie, die im letzten Jahrhundertdrittel die „Grundtatsachen des Seelenlebens“14 klassifizieren und das Problem einer apriorischen Einheit des Bewusstseins in die Syntheseleistungen des Willens umschreiben. Dabei handelt es sich ausdrcklich um eine Darstellung von problemgeschichtlichen Grundzgen – und dies aus drei Grnden: Zunchst, weil die wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Fakten fr sich genommen weitgehend vertraut sind und nur in der literaturgeschichtlichen Konstellation mit dem Naturalismus eine eigene Signifikanz entwickeln. Sodann, weil die spezifischen Homologien zwischen Literatur und kulturellem Wissen an den entsprechenden Stellen im Verlauf der Argumentation zur Sprache kommen; drittens schließlich, weil die Arbeit kein im strengen Sinne ,wissenspoetologisches‘ Interesse verfolgt, das die Analyse auch auf das im allgemeinsten Sinne kulturelle Wissen der Zeit zu konzentrieren htte.15 Das Folgende dient allein der Konturierung von horizontbildenden Aspekten, auf die sich der Naturalismus bezieht.

1. Das transzendentale Problem 1: Thermodynamik und Gymnastik des Willens In philosophiegeschichtlicher Hinsicht ist an dieser Stelle zunchst noch an ein lteres Paradigma zu erinnern. Es ist in seinen Auslufern noch im ausgehenden 19. Jahrhundert, etwa bei Wilhelm Wundt, sprbar und betrifft die traditionsreiche Verankerung des Willens in vermçgenspsychologischen Kategorien. Tatschlich hatte die philosophische und anthropologische Tradition, in ihren Grundlagen auf Aristoteles zurckgehend, den Willen lange Zeit als ein ,Vermçgen‘ – als eine facultas – gedacht und damit substantialistische und entelechische Begriffsmomente 14 Vgl. Theodor Lipps: Grundtatsachen des Seelenlebens [1883], Neudruck Bonn 1912. 15 Vgl. zur Begrndung Abschnitt 3 (,Methodologie der frhen Moderne‘).

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I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne

zusammengefhrt: Substantialistisch ist der Wille insofern, als er eine angeborene seelische Fhigkeit darstellt, die als potentia – dies markiert das entelechische Moment des Begriffs – einer zielgerichteten Verwirklichung entgegenstrebt.16 Im Gefolge dieser Bestimmungen hat sich um 1800, nach unterschiedlichen Systematisierungen durch Christian Wolff, Christian A. Crusius, Baumgarten, Sulzer und Mendelssohn, ein dreigliedriges System aus den eigenstndigen Vermçgen des Denkens, Wollens und Fhlens durchgesetzt; in dieser Form wirkt es noch in die psychologischen Grundlagen des Kantischen Erkenntnissystems fort.17 Man kann die Details der ideengeschichtlichen Entwicklungen, die zu Systembildungen dieser Art fhren, wie die wachsende Kritik, die die entsprechenden Entwrfe bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ereilt, auf sich beruhen lassen. Entscheidend sind die grundstzlichen Unvertrglichkeiten, die die Vermçgenspsychologie zunehmend in Widerspruch zu einer neuartigen Seelenforschung versetzen, die unter Berufung auf naturwissenschaftliche Methoden vor allem das Denken in Substanzbegriffen zurckweist. Im Kern sind es zwei Gesichtspunkte, die den vermçgenspsychologischen Willensbegriff endgltig berwinden: Zum einen die vor allem von experimentalpsychologischer Seite betonte Dynamik des seelischen Geschehens. Schon Johann Friedrich Herbart hatte 1816 im Rahmen eines neuartigen psychogenetischen Ansatzes gefordert, dass die Psychologie ihr „Augenmerk“ auf „die w e c h s e l n d e n Zustnde“ des Seelischen zu richten habe, weil nur „[ d ] i e s e (nicht aber jene Vermçgen) […] u n m i t t e l b a r [e r f a h r e n ]“ werden.18 Wer – wie 16 Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur ersten Philosophie. bers. und hg. von Franz F. Schwarz. Bibliogr. erg. Aufl. Stuttgart 1984, 227 – 238 [Buch IX]. Fr eine entsprechende bernahme in das vermçgenspsychologische Denken des 18. Jahrhunderts vgl. Christian August Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft=Wahrheiten, wiefern sie den zuflligen entgegengesetzt werden. 2., vermehrte Aufl. Leipzig 1753, Nachdruck Darmstadt 1963, 124 f. [Par. 69]. 17 Vgl. Johann Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche ber die menschliche Natur und ihre Entwicklung. Erster Band, Leipzig 1777, Hildesheim, New York 1979, 590 – 617 [Neunter Versuch. Ueber das Grundprincip des Empfindens, des Vorstellens und des Denkens]. Zu Kritik und berwindung der Vermçgenspsychologie vgl. Klaus Sachs-Hombach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Entstehung und Problemgeschichte, Freiburg, Mnchen 1993, 72 ff. 18 Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie. Text der 1. Ausgabe 1816 mit Beifgung der Abweichungen der 2. Ausgabe 1834. In: Ders.: Smtliche Werke in 19 Bnden. In chronologischer Reihenfolge hg. von Karl Kehrbach und Otto Flgel. Bd. 4. Neudruck der Ausgabe Langensalza 1891, Aalen 1964, 295 –

1. Das transzendentale Problem 1

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Wundt oder Theodor Lipps – im ausgehenden 19. Jahrhundert schließlich vom Seelenleben spricht, hat – ohne jeden lebensphilosophischen Beiklang – eine aktualistische Theorie der Psyche vor Augen, die alles Seelische, anders als es die entelechische Selbstbewegung der Seelenvermçgen nahe legt, als dynamische „Ttigkeit“19 und „reine Actualitt“20 versteht. Zum anderen richten sich die explikatorischen Interessen der neuen Psychologie auf jene Grundelemente des Seelischen, deren Analyse die vermçgenspsychologischen Begriffe bislang verstellt hatten. Auch in dieser Hinsicht markierte der aktualistische Seelenbegriff einen Neubeginn, weil er es gestattete, dem bestndigen Fluss von psychischen Grundelementen auf der Spur zu sein, die sich immer nur situativ zu komplexen seelischen Gebilden verbinden. Es ist dieser psychologische Aktualismus, der im 19. Jahrhundert den Kern einer grundstzlichen epistemischen Umorientierung darstellt; jedenfalls bildet er den Fluchtpunkt von so unterschiedlichen Entwicklungen wie vermçgenspsychologischer Kritik, Experimentalpsychologie und Energielehren, die ihrerseits auf thermodynamische Vorstellungswelten zurckgreifen. Wie angedeutet, besitzen thermodynamische Hintergrundannahmen insofern eine hohe Attraktivitt fr die Willensproblematik, als der zugrunde gelegte Kraftbegriff den Willen in einen bergreifenden energetischen Universalismus mit zwei grundstzlich gegenlufigen Deutungstendenzen entlsst. Nicht zuletzt unterhlt dieser Universalismus eine enge, gewissermaßen naturalisierende Beziehung zu menschlichen Grunderfahrungen: Wenn Kçrper und Materialien, Arbeitsleistung und Konzentrationsfhigkeit gleichermaßen ,ermden’, dann lassen sich die Gesetze des Kraftuniversums auch ohne ein Verstndnis der mechanischen Wrmelehre und ihrer materialistischen Implikationen begreifen. 436, 302. Herbarts Kritik gilt gleichermaßen dem „Dogma von der sogenannten transcendentalen Freyheit des Willens“, weil sie „einen großen Theil der psychologischen Thatsachen der allgemeinen Gesetzmßigkeit entweder geradezu entziehen, oder doch diese Gesetzmßigkeit fr bloße Erscheinung erklren.“ Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft. Neu gegrndet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. 1. synthetischer Theil, Kçnigsberg 1824. In: Ders.: Smtliche Werke. Bd. 5. Neudruck der Ausgabe Langensalza 1890, Aalen 1964, 177 – 434, 185. 19 Wilhelm Wundt: Grundzge der physiologischen Psychologie [1874]. Bd. 3, 6. umgearb. Aufl. Leipzig 1911, 279. 20 Wilhelm Wundt: Zur Kritik des Seelenbegriffs [1885]. In: Wundts Philosophische Studien. Bd. 2, Leipzig 1885, 483 – 494, 484.

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Was sich auf diesem Weg gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die leidensreiche Identitt der chronisch Willensschwachen und rastlosen Neurastheniker fortsetzt,21 ruht bekanntlich auf den beiden Hauptstzen der Thermodynamik.22 Wissenschaftsgeschichtlich handelt es sich in beiden Fllen um Formalisierungen von eigentlich getrennten Teilhypothesen. Der erste Hauptsatz, der 1842 kausalittstheoretisch von Robert Julius Mayer begrndet und als Satz von der ,Erhaltung der Energie‘ bekannt wird,23 resultiert zunchst aus wrmephysikalischen Experimenten, in denen verschiedene Naturkrfte (Reibung, Wrme, Bewegung) ineinander umgewandelt werden, ohne dass in der Umwandlungsbilanz signifikante Vernderungen auftreten. Konzeptuell bergreift der erste Hauptsatz drei Teilmomente: Erstens die Vorstellung, dass Krfte grundstzlich ineinander transformierbar sind; zweitens die Einsicht, dass diese Verwandlung in regelhaften, d. h. in Bezug auf das aufgewendete Energiequantum verlustfreien Verhltnissen geschieht; drittens, dass jede Kraft nur eine Erscheinungsform, eine ,Gestalt‘ einer abstrakten Entitt ist.24 In vereinfachter Form konnte der erste Hauptsatz als optimistische Lehre einer grundstzlichen Unverminderbarkeit interpretiert werden, in der ein festes Energiequantum zur Verfgung steht und verfahrenstechnisch, d. h. etwa bei der Umwandlung von Wrme in Bewegung, nicht eigentlich verbraucht, sondern lediglich transformiert wird. „Das Naturganze“, heißt es bei Hermann von Helmholtz, „besitzt einen Vorrat wirkungsfhiger Kraft, welche in keiner Weise vermehrt noch vermindert werden kann: die Quantitt der wirkungsfhigen Kraft 21 Vgl. Radkau: Das nervçse Zeitalter. 22 Der Begriff ,Thermodynamik‘ geht auf William Thomson (Lord Kelvin) zurck. Thomson hatte den Begriff „thermo-dynamics“ erstmals 1854 zur Bezeichnung der (allgemeinen) Wrmetheorie verwendet, nach dem er schon 1851 von „thermodynamik engines“ (Wrmekraftmaschinen) gesprochen hatte. In Deutschland lçst der Begriff Thermodynamik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den bis dahin dominanten Begriff ,(mechanische) Wrmelehre‘ ab. Disziplingeschichtlich ist damit allerdings nicht nur die Physik der Wrme im engeren Sinne gemeint, sondern im allgemeinen Sinne die Dynamik der durch thermodynamische Zustandgrçßen beschreibbaren Zustnde physikalischer Systeme. Vgl. umfassend Elizabeth R. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850 – 1915, Freiburg/Br., Berlin 2006. 23 Vgl. Robert Julius Mayer: Bemerkungen ber die Krfte der unbelebten Natur [1842]. In: Die Mechanik der Wrme. Zwei Abhandlungen von Robert Mayer. Hg. von A. von Oettingen, Leipzig 1911 [Ostwalds Klassiker Nr. 180], 3 – 8. 24 Vgl. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, 130 f.

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ist in der unorganischen Natur ebenso wenig und unvernderlich wie die Quantitt der Materie.“25 Man kann den Erhaltungssatz auf breiter Basis bei naturalistischen Autoren nachweisen. Conrad Alberti erklrt ihn 1890 auf dem Weg einer Analogisierung der „Naturgesetze, welche die mechanischen Vorgnge in der physischen Welt regeln“, mit den „geistigen Vorgnge[n] und Erscheinungen“ zu einem „Grundprinzip“26 des sthetischen. Noch 1902 heißt es bei Julius Hart: Nie verschwindet eine Kraft, aber unaufhçrlich verwandelt sie sich, Spannkraft, ruhende Kraft, in lebendige, in Bewegungskraft, mechanische Krfte werden umgesetzt in chemische und elektrische, und umgekehrt. All die großen und gewaltigen Wunderwerke unserer Technik entstehen nur durch eine ewige Verwandlung der verschiedenen Naturkrfte ineinander.27

Der geballte kulturelle Optimismus dieser Formulierungen besitzt im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik einen entsprechenden Widerpart. Er beruht, in hnlicher Weise wie der Satz von der Erhaltung der Energie,28 auf getrennten Teilhypothesen, schließt aber an den ersten Hauptsatz insofern an, als er dessen dissipativen Sinn – also den Umstand, dass die zur Verfgung stehende Gesamtenergie zwar konstant bleibt, ihre Nutzbarkeit aber progressiv abnimmt – zur Vorstellung einer unaufhaltsamen Entropie des Universums ausbaut. Ihr zufolge spaltet jede Energietransformation im bergang von wrmeren zu klteren Kçrpern eine nicht weiter zu verwendende Abfallenergie ab, deren unaufhçrliches Anwachsen mit einer progressiven Verringerung der zur Verfgung stehenden Gesamtenergie korreliert. In dieser Vorstellung einer unumkehrbaren Dissipation der Krfte tragen sich all jene degenerativen Prognosen ein, die am Ende des 19. Jahrhunderts auch den Willen erfassen. Wie in einer unaufhaltsamen Akkumulation, die alle denkbaren Formen schleichender Auflçsung und Entstrukturierung zu einem universalen Phnomen des Energieverfalls bndelt, addieren sich 25 Zit. nach Leo Koenigsberger: Hermann von Helmholtz, Braunschweig 1911, 42. 26 Conrad Alberti: Die zwçlf Artikel des Realismus. Ein literarisches Glaubensbekenntnis. In: Ders.: Natur und Kunst. Beitrge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhltnisses, Leipzig 1889, 311 – 320, 313. 27 Julius Hart: Zukunftsland. Im Kampf um eine neue Weltanschauung. Bd. 2: Die neue Welterkenntnis, Leipzig 1902, 8. 28 Vgl. Stephen G. Brush: Die Temperatur der Geschichte. Wissenschaftliche und kulturelle Phasen im 19. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen bersetzt von Helga Stadler und Stephan Haltmayer, Braunschweig, Wiesbaden 1987, 11 – 17.

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die Ermdungen der einzelnen Willen zum imaginren Schreckbild einer geschwchten und regenerationsunfhigen Kultur.29 Wirkungsgeschichtlich erfasst die Thermodynamik vor allem jenen Hauptstrang der Philosophie, der im 19. Jahrhundert, ausgehend von Schopenhauer, als Metaphysik des Willens neu begrndet wird. Dabei bewegt sich die philosophiegeschichtliche Konstellation, die durch das Werk Schopenhauers, Philipp Mainlnders und Nietzsches hindurch fhrt, in mehrfacher Hinsicht durch Gegenbegrifflichkeiten: Einerseits stellt vor allem Schopenhauers Willensbegriff das entschiedenste Pldoyer fr einen Irrationalismus dar, der Philosophie und Vernunft endgltig auseinander treibt, andererseits fgt sich der Wille in die Reihe der großen Begrndungstitel der abendlndischen Metaphysik, zu der neben Gott und Natur auch die diskreditierte Vernunft zhlt. Und einerseits richtet sich der Wille im Ungrund einer irrationalistischen Metaphysik ein, whrend er andererseits in den Umwandlungsbilanzen eines Materialismus fundiert ist, der die so rationalittstrchtigen, technisch-industriellen Selbstdeutungen des 19. Jahrhunderts anstçßt.30 Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, um die philosophiegeschichtlichen Nachwirkungen dieses Materialismus im Detail zu entfalten.31 Schon Schopenhauers ausdrckliche Identifizierung von „Wille“ und „Kraft“, wie sie das zweite Buch seines philosophischen Hauptwerkes vollzieht, berhrt sich mit den beschriebenen Umbauprozessen.32 Glei29 Vgl. fr eine ausfhrliche Herleitung des Entropiesatzes und seiner inneren Verwandtschaft mit der Willensproblematik Kap. V. 30 Vgl. Rabinbach: Motor Mensch. 31 Vgl. Andreas Arndt (Hg.): Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000; Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/ Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Der Materialismus-Streit, Hamburg 2007. 32 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I und II [1859]. Nach den Ausgaben letzter Hand hg. von Ludger Ltkehaus, Mnchen 32005, I, 165 f. Allerdings kennt Schopenhauer weder den neuartigen Energiebegriff noch seine thermodynamischen bzw. erhaltungstheoretischen Implikationen. Schopenhauers biophysikalische Kenntnisse bewegen sich noch in den Bahnen der lteren Lebenskraft-Lehre, wie er sie etwa durch Carl Friedrich Kielmeyer vermittelt bekam. Vgl. Carl Friedrich Kielmeyer: Ueber die Verhltniße der organischen Krfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Geseze und Folge dieser Verhltnisse. Faksimile der Ausgabe Stuttgart 1793. Hg. von Kai Torsten Kanz, Marburg 1993. Die Entstehung der neuen physikalischen Energielehre, wie sie vor allem von den Physiologen im Gefolge Johannes Mllers ausgearbeitet wurde (Du Bois-Reymond, Helmholtz, Virchow), steht bezeichnenderweise mit der Polemik gegen die Lebenskraft in Zusammenhang. Vgl. zu

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ches setzt sich in die abgesunkenen Regionen der Philosophiegeschichte fort. 1876 schreibt Philipp Mainlnders Philosophie der Erlçsung 33 eine ganze Metaphysik der Entropie aus, die vor allem in der Auseinandersetzung mit Schopenhauer eingebt wird und insofern wichtige Fingerzeige fr dessen außerordentlich weit verzweigte Rezeptionsgeschichte bereithlt.34 Mainlnders Erlçsungsphilosophie prgt eine doppelte Rckbindung an das energetische Paradigma. Einerseits transformiert sie Schopenhauers Willensmetaphysik in einen Kampf der individuellen Willen, die sich fortlaufend selbst bejahen und vereinzeln. Seine Energie bezieht dieser Widerstreit der Willen aus einem Mythos von der uranfnglichen Selbstvernichtung Gottes, der einen fortwirkenden Bewegungsimpuls in die Welt entußert; Gottes Tod, sein Aufgehen in eine Gestalt der „Vielheit“35, ist insofern der Anfang der Welt, als sie lediglich die Fortzeugung einer ersten Bewegungskraft darstellt, die aus der Selbstaufgabe Gottes resultiert. Andererseits aber ist diese „Kraftsumme“36 nicht unerschçpflich, sondern auf ein Quantum begrenzt, das sich in den vielen Konflikten des Willens allmhlich aufzehrt und zerstreut. So vollstreckt der Wille mit unumkehrbarer Konsequenz den thermodynamischen Mythos einer entropischen „Vernichtung der in der Welt thtigen Kraftsumme“37. Leben heißt nach Mainlnder, einer schleichenden Dissipation der Energie und damit dem verborgenen Erfah-

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Schopenhauers Kraft-Begriff Wolfgang Seelig: Wille und Kraft. ber Schopenhauers Willen in der Natur und seine Definition als Kraft in der Naturwissenschaft. In: Schopenhauer-Jahrbuch 60 (1979), 136 – 147. Zum Grenzsaum von Lebenskraft und thermodynamischem Kraftbegriff vgl. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, 304 ff. Vgl. Philipp Mainlnder: Die Philosophie der Erlçsung [1876]. 2 Bde. Bd. 1, Frankfurt/M. 31894. Vgl. zu Mainlnder Ulrich Horstmann: Der philosophische Dekomponist. Was Philipp Mainlnder ausmacht. In: Philipp Mainlnder: Vom Verwesen der Welt und andere Restposten. Eine Werkauswahl. Hg. und eingel. von Ulrich Horstmann, Waltrop, Leipzig 22004, 7 – 27; Ludger Ltkehaus: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst, Zrich 1999, 243 – 263; Friedhelm Decher: Der eine Wille und die vielen Willen. Schopenhauer – Mainlnder – Nietzsche. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die NietzscheForschung 25 (1996), 221 – 238. Zur Rezeptionsgeschichte Mainlnders vgl. Winfried H. Mller-Seyfarth (Hg.): Die modernen Pessimisten als dcadents – Von Nietzsche zu Horstmann. Texte zur Rezeptionsgeschichte von Philipp Mainlnders ,Philosophie der Erlçsung‘, Wrzburg 1993. Vgl. dazu ausfhrlich Kap. II. 1. Mainlnder: Die Philosophie der Erlçsung [1876], 325. Ebd., 341. Ebd.

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rungsgehalt einer thermodynamischen Abstraktion beizuwohnen, hinter deren kalter Gesetzlichkeit das Universum als Wille sichtbar wird. Am Ende dieser materialistisch-philosophischen Verflechtungen steht Nietzsches spter Voluntarismus des „Willens zur Macht“. In den Nachlass-Fragmenten der 1880er Jahre erscheint der Wille als eine vitalistische Energie, die den physikalischen Kraftbegriff um einen „innere[n] Willen“38 supplementiert, so dass dieser Wille immer ,etwas‘ und dieses ,etwas‘ in immer strkerem Maße will.39 Wollen meint in Analogie zu einem physikalischen Begriff Julius Robert Mayers das „Auslçsen“ bzw. „a u s l a s s e n “40 von Kraft als das ewige Gesetz der energetischen Steigerung, der bermchtigung von anderen Willen und Widerstnden.41 Jenseits der sprachlich-metaphorischen Suggestion des Kausalittsgesetzes, alles Wirken sei durch ein bewirkendes Subjekt veranlasst, ist der Wille allein auf sich selbst bezogen, weil es „keine andere Causalitt als die von Wille zu Wille“42 gibt. In der Besonderung der verschiedenen Kraftquanten begegnen sich die Willen in immer anderen Konstellationen und vielfach abgestuften Willensenergien. ,Wille zur Macht‘ bedeutet daher nicht, das Leben aktiv zu wollen – dies liefe auf eine bloße Tautologie hinaus –, sondern es nach Maßgabe seiner willentlichen Aneignung zu steigern und durch eine fortwhrende „A k k u m u l a t i o n v o n Kraft“43 ber sich und seine bestehenden Formen hinauszutreiben: 38 Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre. In: Ders.: Werke in sechs Bnden. Hg. von Karl Schlechta, Bd. 6, Mnchen, Wien 1980, 455. 39 Vgl. Ebd., 674. 40 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Juli 1882 – Herbst 1885. 2. Teil: Frhjahr 1884 – Herbst 1885. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 11, Mnchen 1980, 222. Der Begriff geht auf Nietzsches Beschftigung mit einer Abhandlung (ber Auslçsung, 1876) von Julius Robert Mayer zurck. Vgl. Gnter Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin, New York 1984, 44 – 49. 41 Vgl. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 – Anfang Januar 1889. 1. Teil: Herbst 1885 – Herbst 1887. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 12, 424. 42 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Juli 1882 – Herbst 1885. 2. Teil: Frhjahr 1884 – Herbst 1885. In: Ders.: Smtliche Werke. Bd. 11, 514. 43 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 – Anfang Januar 1889. 2. Teil: November 1887 – Anfang Januar 1889. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 13, Mnchen 1980, 261.

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Der Wille zur A k k u m u l a t i o n v o n Kraft ist spezifisch fr das Phnomen des Lebens, fr Ernhrung, Zeugung, Vererbung – fr Gesellschaft, Staat, Sitte, Autoritt – sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen drfen? […] Nicht bloß Konstanz der Energie: sondern Maximal-konomie des Verbrauchs: so daß das S t  r k e r - w e r d e n - w o l l e n v o n j e d e m K r a f t z e n t r u m a u s die einzige Realitt ist – nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignen-, Herr-werden, Mehr-werden, Strker-werden-wollen.44

Steigerungsimperativen dieser Art, die sich auf der energetischen, „siegreiche[n]“45 Kehrseite von Nietzsches Dekadenz-Diagnosen errichten, steht die berzeugung entgegen, dass die Welt analog „zum Satz vom Bestehen der Energie“46 als „bestimmte Grçße von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftzentren gedacht werden“47 muss. Es wrde hier zu weit fhren, diese vordergrndigen konzeptuellen Widersprche mit der eigentmlichen Wiederholungslogik von Nietzsches Sptphilosophie der ,ewigen Wiederkehr‘ zu vermitteln.48 Ihre Rekapitulation ist schon deswegen nicht erforderlich, weil sich die auffllig frhe und intensive Nietzsche-Rezeption der naturalistischen Autoren an anderen, primr stilistischen Aspekten von Nietzsches Werk entzndet hat, whrend eine im engeren Sinne inhaltliche Wahrnehmung auf frhere Werkphasen beschrnkt blieb.49 Der Materialismus, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ber den Willen breitet, ist freilich so rein nicht, wie es die in paradigmatischen Formationen denkende, ltere Wissenschaftsgeschichte nahe gelegt hat. Denn trotz seiner Verankerung in den Vorstellungswelten der 44 Ebd. 45 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Juli 1882 – Herbst 1885. 2. Teil: Frhjahr 1884 – Herbst 1885. In: Ders.: Smtliche Werke. Bd. 11, 563. 46 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 – Anfang Januar 1889. 1. Teil: Herbst 1885 – Herbst 1887. In: Ders.: Smtliche Werke. Bd. 12, 205. 47 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 – Anfang Januar 1889. 2. Teil: November 1887 – Anfang Januar 1889. In: Ders.: Smtliche Werke. Bd. 13, 376. 48 Vgl. Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 187 ff.; Martin Bauer: Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff. Nietzsches Auseinandersetzung mit J.G. Vogt. In: Nietzsche-Jahrbuch 13 (1984), 211 – 227. 49 Vgl. Richard Frank Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867 – 1900, Berlin, New York 1974, 273 – 276, sowie fr die Spezifika der naturalistischen Nietzsche-Rezeption Kap. III. 1. und 2.

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Thermodynamik bewahrt der Wille einen spiritualistischen Rest; gewisse Annahmen ber eine immaterielle geistige Kraft hatten seit jeher zu den Implikationen des Energiebegriffs gehçrt.50 Nur so ist jedenfalls der Elan erklrbar, mit dem sich die stattliche Zahl der um 1900 erscheinenden rztlichen Ratgeber zur „Willensbildung“51 oder Willens-„Gymnastik“52 in einen kaum verborgenen Widerspruch zum Satz von der Erhaltung der Energie begeben und die Befreiung aus den diversen Hemmnissen des Willens in Aussicht stellen. Offenbar spaltet sich unter dem Eindruck der kulturpessimistischen Deutungskonsequenzen, die sich aus den thermodynamischen Hintergrundkonzepten ergeben, die Vorstellung ab, die aufgezehrten Willenskrfte kçnnten mit Hilfe immaterieller Geisteskrfte und steigerbarer seelischer Energien regeneriert werden. Spekulationen dieser Art finden ihren Rckhalt gerade in jenem rztlichen Schrifttum, das sich den Erkrankungen des Willens und dem weiten Feld seiner Anomien widmet. Tatschlich ist das Spektrum der Krankheitsbilder entsprechend differenziert, wie sich die Willensschwche ohnehin durch ein differenzialdiagnostisch nur schwer zu kontrollierendes Feld von benachbarten Pathologien bewegt.53 Ob sie ein eigenes Krankheitsbild darstellt oder ob sie als Symptom einer neurasthenischen Erkrankung zu versehen ist, ob sie allgemeinen Formen seelischer Paralyse (Jean Martin Charcot) zugehçrt oder als Hinweis auf einen beginnenden ,Hysterismus‘ zu werten ist, hngt vom Verlauf des Krankheitsbildes, nicht selten auch davon ab, welche Phnomene der Kranke als besonders leidensreich in den Vordergrund seiner Selbstdarstellungen rckt. Dass Valentin Magnan, die dominante Figur der franzçsischen Degenerationstheorie, die 50 Vgl. Thomas Kuhn: Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung. In: Ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Hg. von Lorenz Krger. bers. von Hermann Vetter, Frankfurt/M. 1977, 125 – 168, 146 f. Differenzierend dazu Rabinbach: Motor Mensch, 59 f. und grundstzlich kritisch Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, 124 f. sowie Kenneth Cavena: Physics and Naturphilosophie. A Reconnaissance. In: History of Science 35 (1997), 35 – 106. 51 Vgl. Paul-Emile Lvy: Die natrliche Willensbildung. Eine praktische Anleitung zur geistigen Heilkunde und zur Selbsterziehung. bers. von Max Brahe [1903], 3. Aufl. der deutschen Ausgabe Leipzig 1910. 52 Vgl. Reinhold Gerling: Die Gymnastik des Willens. Praktische Anleitung zur Erhçhung der Energie und Selbstbeherrschung […] durch Strkung der Willenskraft ohne fremde Hilfe [1905], 2., vollstdg. neubearb. Aufl. o. J. 53 Vgl. Thodule Ribot: Der Wille. Pathologisch-psychologische Studien / Les maladies de la volont [1882]. Nach der 8. Aufl. des Originals mit Genehmigung des Verf. uebersetzt von F. Th. F. Pabst, Berlin 1893, 95 ff.

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„Willenlosigkeit (Abulia)“ noch 1891 in den degenerativen Prozess der erblichen Entartung aufnimmt,54 belegt den geradezu ,metamorphotischen‘ Charakter der Willensschwche. Bei allen Differenzen in der Symptomatik besitzen die unterschiedlichen Krankheitsbilder dennoch einen gemeinsamen Kern. Er besteht in einem Verlust von Hemmungsleistungen, die die subjektiven Wahrnehmungsgehalte und Zielfixierungen buchstblich konzentrieren und zu einem kohrenten Zusammenhang von Vorstellung und motorischem quivalent (Willenshandlung) zusammenfgen. Willensschwach zu sein, bedeutet Zielbildungen an fortwhrende Desorientierungen, Handlungsausrichtungen an Abweichungen zu verlieren und sich so in immer neue Motivfixierungen zu verstricken. In all dem beginnt sich ganz offenkundig der Sinn von Krankheitserfahrungen dieser Art zu verndern. Leiden wie die Willensschwche besitzen nicht nur eine soziogene Schicht, die ihre Entstehung – wie im Falle der symptomatologisch benachbarten Neurasthenie – aus den Belastungen moderner Reizintensitten erklrt, sie weisen auch in das Soziale, dem sie sich verdanken, zurck. Zumindest in Zusammenhang mit seelischen Befangenheitssymptomen wie der „abulischen Insuffizienz“55 beginnt ein Krankheitsverstndnis in den Hintergrund zu treten, das sich am Kriterium der Abweichung von Normalzustnden bemisst; zahlreiche Schriften zur Willensschwche warnen ausdrcklich vor der „Verwechslung von nicht vçllig normalen“ mit „krankhaften Zustnden“56. Stattdessen lsst sich beobachten, wie funktionale Stçrungen als Minderungen der fr die „Erhaltung der wesentlichen Betriebsarbeit“57 notwendigen Energie und damit als Phnomene reduzierter mentaler Arbeitsfhigkeit begriffen werden – ein Beleg fr die Tendenz der kulturellen Moderne, ihre Kernvisionen von Arbeit, Kraft und Energie in den ,Haushalt‘ des seelischen Lebens einzuarbeiten. In den psychopathologischen Diskursivierungen des Willens reprsentieren sich, anders formuliert, nichts anderes als Formen der Selbstthematisierung der Moderne, denen sie einen psychosomatischen Erfahrungsrckhalt verschaffen.

54 Valentin Magnan: Psychiatrische Vorlesungen. 6 Hefte. Dt. von Paul Julius Mçbius, Leipzig 1891 – 1893, H. 1, 2 f. 55 Vgl. Eschle: Die krankhafte Willensschwche und die Aufgabe der erziehlichen Therapie, 53. 56 Ebd. 57 Ebd., 54.

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Auf der Ebene der Ratgeberdiskurse verdichtet sich das Problem der Willensschwche allerdings zu einem eigentmlichen argumentativen Zirkel. Denn das rztliche und populrwissenschaftliche Schrifttum, das in Teilen bereits im Kontext der Naturheilbewegung und ihren alternativen Heilkulturen entsteht,58 verstrickt sich in das Dilemma, das geschwchte Vermçgen ausgerechnet mit Appellen an seine willentliche Wiedererkrftigung kurieren zu wollen. „Der Wille“, so heißt es in einer der einschlgigen ,Willens-Gymnastiken‘, „ußert sich anregend oder hemmend. Deshalb: wolle nur wirklich. […] Also ernstes Wollen ist Grundbedingung der Selbsterziehung und unerlßlich, wenn der Wille zur Herrschaft in uns gelangen soll. […] Gebt keiner Anwandlung von Willensschwche nach!“59 – „Lerne also zu wollen! […] Es verschlgt gar nichts, daß also Wille gefordert wird, um den Willen zu ben. Wie man das Schreiben nur lernt durch bung im Schreiben, das Sprechen durch bung im Sprechen, so kann man auch Wollen nur lernen durch bung im Wollen.“60 – „Das letzte Mittel endlich, den Willen zu bilden, ist Wollen. […] Bloß das bewußte, feste, mit dem ausdrcklichen Vorsatz, unsern Willen durch die Tat zu strken und zu bilden, bettigte Wollen fhrt uns sicher zum Ziel […].“61 Formulierungen dieser Art legen den Schluss nahe, dass die bungen zur Willensbildung letztlich keinen Ausweg aus dem Zwang finden, den Willen ausschließlich auf sich selbst anwenden zu kçnnen. Noch Georg Simmel vermerkt, wie erwhnt, in seiner 1896 erschienenen Skizze einer Willenstheorie, dass „die gewçhnliche Vorstellung solcher Flle von ,Rettung aus eigener Kraft‘ […] einen Willen zum Willen [konstruiert], der sich sozusagen am eigenen Schopfe aus dem Sumpfe zieht; damit wird keine Erklrung, sondern nur eine Zurckschiebung des Problems auf eine gleichbenannte und gleich fragwrdige hçhere Instanz bewirkt.“62 – berblickt man die entsprechenden Schriften unter systematischen Gesichtspunkten, fallen drei Aspekte auf: Erstens der Befund, dass sich die Willenstherapeutik in logischer Hinsicht als Unfhigkeit zur Tautologieunterbrechung darstellt und daher rhetorische Techniken zu ihrer Entfaltung bençtigt. Der postulative Ton und der aggressive Heroismus, mit der die wiederzuer58 Vgl. Radkau: Das Zeitalter der Nervositt, 357 ff. 59 Gerling: Die Gymnastik des Willens [1905], 179 ff. 60 Wilhelm Bergmann: Selbstbefreiung aus nervçsen Leiden [1911], Freiburg 5 1922, 167 ff. 61 M. Meschler: Bildung des Willens. In: Stimmen aus Maria-Laach 71 (1906), 391 – 411, 407. 62 Simmel: Skizze einer Willenstheorie [1896], 142.

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langende Fhigkeit der Selbstbeherrschung berufen und geschlechterpolitisch in einen Imperativ zur Maskulinierung, zur „Erziehung zur Mannhaftigkeit“63, gewendet wird, legt die Vermutung nahe, dass das zugrunde liegende logische Problem nur rhetorisch kompensiert werden kann. Gerade weil sich die Willensschulung in einem Zirkel zwischen Willensschwche und Willenskrftigung bewegt, neigt die Ratgeberliteratur zu einer appellativen Unnachgiebigkeit, die nur rhetorisch entfaltet werden kann: „Ich schreibe fr die Amboß-Naturen. Die Hmmer werden sich auch so durch die Welt schlagen. Das heißt: die geborenen, energischen ,Hammer-Naturen‘.“64 Von hier aus fhren – zweitens – Wege in die modernistischen Ermchtigungen des Naturalismus. Dieser Moderne zuzugehçren bedeutet in naturalistischen Programmschriften vor allem, den Dunstkreisen der Dekadenz, der Weiblichkeit, des „Pessimismus“65, berhaupt einer in Lhmungen und epigonalen Ermdungen befangenen Vergangenheit zu entkommen. ber die „Psychologie der modernen Dichtung“ heißt es 1890, dass in ihr der Mensch „umzuwollen“ habe, um sich einer neuen „Kraftbettigung“ auszusetzen, die „die Schaffenslust und Energie der Menschen herausfordert“66. Nur mit „rcksichtloser Brutalitt“, schreibt Karl Bleibtreu 1886, kçnne dem „Epigonenthum“ und dem „sthetischen Schçnheitscultus“67 begegnet werden. So weit die Willensschulung auch eine Vielzahl therapeutischer Maßnahmen bereitstellt, fllt drittens auf, dass die einschlgigen Kurmethoden auf disziplinierende Selbstverhltnisse abzielen, die neben ihrer Rckbindung an ltere Therapietraditionen – etwa der Melancholie – vor allem eigentmliche Legierungen mit den Krankheitsursachen eingehen bzw. sie mimetisch nachbilden. Zumindest die beharrliche Empfehlung, der Zerstreuung der Willensenergien mit kçrperlicher Arbeit zu begegnen, um die Dauerreflexion auf das Leiden um- und die „Aufmerksamkeit vom ,Ich‘“68 abzulenken, mobilisiert einen Ermdungsfaktor, der selbst urschlich an der Entstehung des Leidens beteiligt gewesen ist.69 63 Vgl. Ludwig Gurlitt: Erziehung zur Mannhaftigkeit, Berlin 1906. 64 Gerling: Die Gymnastik des Willens [1905], 179. 65 Kurt Grottewitz: O est Schopenhauer? Zur Psychologie der modernen Literatur [1890]. In: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverstndnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Eingel. und hg. von Gotthard Wunberg, Frankfurt/M. 1971, 63 – 68, 65. 66 Ebd., 65 f. 67 Karl Bleibtreu: Die Revolution der Literatur [1886]. Mit erluternden Anmerkungen und einem Nachwort neu hg. von Johannes J. Braakenburg, Tbingen 1973, 5 bzw. XIV.

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Um die Jahrhundertwende fhrt die neu entstehende ,Energetik’ des Chemikers Wilhelm Ostwald die verstreuten konzeptuellen Strnge schließlich in einem „energetischen Imperativ“ zusammen, der sich ausdrcklich als „Zusammenfassung der beiden Hauptstze [der Thermodynamik, I.S.]“70 versteht. „Vergeude keine Energie, verwerte sie!“71 lautet die energetische Maxime in Analogie zum kategorischen Imperativ Kants, die in der Folgezeit in berlegungen zur „[p]ersçnlichen Energie“72 mndet und in einem energetisch berformtem ethischen Rigorismus jeden einzelnen einem Kalkl mentaler und physischer Krfte unterwirft. Dieser Rigorismus, der sich einem „gewissen Primat des Willens“73 verpflichtet weiß, kann freilich nicht verbergen, dass er den Widerspruch zwischen einer unablssigen Energiemaximierung und den entropischen Energiebeschrnkungen beerbt. Auch die Energetik zerteilt ihren visionren Elan zwischen dem Appell, die „persçnliche Energie zu einem Maximum zu entwickeln“74, und den unberwindlichen Grenzen, die diesem Maximum durch das „allgemeine Erhaltungsgesetz“75 gezogen werden.

68 Bergmann: Selbstbefreiung aus nervçsen Leiden [1911], 247. 69 Der Zirkel bricht sich an dem Umstand, dass die arbeitstherapeutischen Maßnahmen in aller Regel auf Patienten gemnzt waren, die ihrer beruflichen Herkunft nach keinen kçrperlichen Belastungen ausgesetzt sind. Dennoch beruhen Krankheitsursache und Therapeutik auf derselben Produktivittsbasis; beide sind ,Arbeit‘, d. h. Vorgnge, in denen, physikalisch gesprochen, ein Widerstand bei gleichzeitigem Energieverbrauch berwunden wird. Von hier aus verlaufen diskursive Entsprechungen zu den Erschçpfungen, die im Zuge der wachsenden Industrialisierung von Arbeitsablufen am arbeitenden Kçrper sichtbar werden. Auf diese Ermdungsphnomene reagiert im Anschluss an Angelo Mossos Studie La fatica nicht nur ein breites experimentalphysiologisches Schrifttum, sondern – parallel hierzu – vor allem die entstehende Arbeitswissenschaft. Vgl. Angelo Mosso: Die Ermdung [1884]. Aus dem Italienischen bers. von J. Glinzer, Leipzig 1892 sowie zum gesamten Komplex Rabinbach: Motor Mensch, 161 ff., 211 ff. 70 Wilhelm Ostwald: Der energetische Imperativ, Leipzig 1912, 13. Vgl. zu Wilhelm Ostwald Markus Krajewski: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt/M. 2006, 64 – 140. 71 Ostwald: Der energetische Imperativ [1912], 13. 72 Vgl. J. Waldapfel: Persçnliche Energie. In: Annalen der Naturphilosophie 5 (1906), 303 – 320. 73 Ebd., 313. 74 Ebd., 314. 75 Ebd., 309.

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2. Das transzendentale Problem 2: Der Wille und die Einheit des Bewusstseins Wenn bislang von ,transzendentalen‘ Bedingungen fr die Literatur des Naturalismus die Rede gewesen ist, so ist damit lediglich ein heuristischer Sachverhalt bezeichnet. Fr gewçhnlich liegt in diesem Zusammenhang der Verweis auf die wissensarchologischen Arbeiten Michel Foucaults nahe, um jene ,objektiven Transzendentalien‘ aufzusuchen, die im 19. Jahrhundert aus der ,transzendentalen‘, d. h. empirisch gegebenen Struktur des Lebens, der Arbeit und der Sprache resultieren. Wollte man diese theoretischen Impulse weiterverfolgen, so wrde man das textuelle Feld mit den „Metaphysiken der ,Tiefen‘“76 in Einklang zu bringen haben, die aus dem nach Foucault charakteristischen Problem des 19. Jahrhunderts resultieren, eine Universalie (,Transzendentalie‘) vorauszusetzen, die den empirischen Phnomenen als Bedingung ihrer Mçglichkeit zu Grunde liegt, die aber positiv, d. h. als solche, nicht erkannt werden kann („hors connaissance“) und daher auf Phnomene einer „oberflchlichen Erkenntnis“77 verwiesen ist. Demgegenber haben die bisherigen berlegungen lediglich den Zweck gehabt, ein Bedingungsgefge zu umreißen, das den naturalistischen Texten und ihren Schreibweisen als Ermçglichungsstruktur zugrunde liegt, und entsprechend ist der Begriff der ,Transzendentalie‘ an dieser Stelle auf seine literarische Seinsweise beschrnkt: Zum einen soll er anzeigen, dass die Mçglichkeiten der innertextuellen Reprsentation von Welt (Diegese) an die Erfahrungsmçglichkeiten des Willens als ihre ,transzendentale‘ Bedingung gebunden sind und durch sie begrenzt werden; zum anderen soll er dem Umstand Rechnung tragen, dass die formalen Momente der Texte durch die spezifischen textuellen Reprsentationen des Willens festgelegt sind; ,transzendental‘ ist der Wille insofern, als die Texte durch die Verfahren bestimmt sind, die ihn textuell realisieren.78 76 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archologie der Humanwissenschaften [1966]. Aus dem Franzçsischen von Ulrich Kçppen, Frankfurt/M. 1974, 302. 77 Ebd. 78 Diese ,transzendentale‘ Fundierung ist nicht als transzendentalphilosophische Kontinuittsbehauptung miss zu verstehen – etwa in dem Sinne, dass das ausgehende 19. Jahrhundert an einer transzendentalphilosophischen Begrndung festhalten wrde. In dieser Hinsicht befindet sich das Gesagte vielmehr ganz im Einklang mit vertrauten Schematisierungen der Philosophiegeschichte, nach denen es im Verlauf des 19. Jahrhunderts – legt man etwa die einschlgigen

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Foucaults Rede von den „objektiven ,Transzendentalien‘“79 ist zudem wenig geeignet, um die Breite des hier interessierenden historischen Problemfelds zu erfassen. Denn die transzendentale Qualitt des Willens reicht im 19. Jahrhundert in dem Maße weiter als Foucaults Begriff der „objektiven ,Transzendentalien‘“80, wie ein Hauptstrang seiner wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Diskursivierung zu jenen eigentlichen transzendentalphilosophischen Problemstellungen zurckkehrt, die die Kantische Erkenntniskritik der Psychologie des 19. Jahrhunderts und ihrer Frage nach der Einheit des Bewusstseins hinterlassen hatte. Wenn Foucault die Rede von den „Quasi-Transzendentalia“81 bewusst auf einer den Kantischen Transzendentalien abgewandten, empirisch-aposteriorischen Seite lokalisiert hat, dann bewegt sich der Willensdiskurs des 19. Jahrhunderts auf der Seite eines apriorischen Transzendentalienproblems, dessen Hinterlassenschaft vor allem die Wundtsche Experimentalpsychologie dazu nçtigt, Apperzeption und Willensttigkeit zusammen zu denken. Schon 1855 hatte der Physiologe und Wissenschaftstheoretiker Hermann von Helmholtz konzediert, dass die „Naturwissenschaften […] noch jetzt fest auf denselben Grundstzen [stehen], die sie zu Kant’s Zeiten hatten“82. Entsprechend definiert sich der Bezugsrahmen der neuen experimentalpsychologischen und physiologischen Entwicklungen wesentlich dadurch, welche Problemlagen der kantischen Transzendentalphilosophie durch die eigenen begrifflichen Instrumentarien reformuliert werden konnten – dies aber auf eine Weise, dass nicht mehr auf die apriorischen Erkenntnisgarantien Kants zurckgegriffen werden musste, andererseits gleichwohl Modalitten beschrieben werden konnten, wie das menschliche Bewusstsein ,Einheit‘ herstellt.

79 80 81 82

berlegungen Odo Marquards zu Grunde – zu einer Ablçsung des apriorischtranszendentalphilosophischen Standpunkts (Kant, Fichte) zugunsten einer „Ermchtigung der Triebnatur“ (Schopenhauer, Nietzsche) und einer komplementren „,Ohnmacht der transzendentalen Vernunft‘“ (Odo Marquard: Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Kçln 1987, 198 bzw. 200) kommt. Unter ,transzendental‘ ist hier lediglich die Fundierung eines historischen Aussagefeldes in einer Universalie (Wille) zu verstehen, die quasi-empirisch gegeben ist und von der her alle Objekte desselben Feldes ihren inneren Zusammenhang erhalten. Damit ist weder eine transzendentalphilosophische Aussage noch eine philosophiegeschichtliche Hypothese formuliert. Foucault: Die Ordnung der Dinge, 302. Ebd. Ebd., 307. Hermann von Helmholtz: ber das Sehen des Menschen. Vortrag gehalten zu Kçnigsberg am 27. Februar 1855. In: Ders.: Vortrge und Reden. Bd. 1, Braunschweig 51903, 85 – 117, 88.

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Wundt wie Helmholtz haben Kant darin unmittelbar beerbt; Wundt, indem er, durch die methodologische Entkopplung von ,Denken‘ und ,Handeln‘ hindurch, sein Interesse ausschließlich auf die Strukturen des Bewusstseins richtet; Helmholtz, indem er Kants transzendentale Frage nach den Bedingungen der Mçglichkeit aller Erkenntnis in eine sinnesphysiologische Fragestellung umschreibt.83 Was Experimentalpsychologie, Psychophysik und Sinnesphysiologie im 19. Jahrhundert mithin an erkenntnistheoretischen Erblasten durch ihre zum Teil erhebliche Erfolgsgeschichte hindurch tragen und im Falle Wundts in eine explizit voluntaristische Theorie des Seelenlebens mnden lassen, sind kategorische Zweifel an der Begrndbarkeit des Bewusstseins durch ein transzendentales ,Ich‘. Kant hatte auf diesem Weg bekanntlich eine jeder Erfahrung und jeder Erkenntnis voraus liegende, 83 Auch hier gilt: Es geht allein um eine aus dem transzendentalphilosophischen Apriori resultierende Problemstellung – die Einheit des Bewusstseins –, nicht aber um eine Fortfhrung der Transzendentalphilosophie selbst. Der Bruch mit dem transzendentalphilosophischen Standpunkt Kants und Fichtes ist darin zu sehen, dass die kognitive Synthese nur mehr psychologisch geleistet werden kann. – Entsprechend verluft durch die Biographien Helmholtz’ und Wundts die allmhliche Emanzipation der Psychologie von der Philosophie. Wundt war von 1858 bis 1864 Helmholtz’ Assistent im neu gegrndeten Physiologischen Institut der Universitt Heidelberg. 1879 erçffnete Wundt das erste psychologische Labor an der Universitt Leipzig. Helmholtz, der sptere ,Reichskanzler der Physik’, war seinerseits Schler des Berliner Physiologen Johannes Mller. Vgl. Gerhard Benetka: Denkstile der Psychologie. Das 19. Jahrhundert, Wien 2002, 52 ff., 73 ff.; Klaus-Jrgen Bruder: Zwischen Kant und Freud: Die Institutionalisierung der Psychologie als selbstndige Wissenschaft. In: Gerd Jttemann/Michael Sonntag/ Christoph Wulf (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Mit 82 Abbildungen, Weinheim 1991, 319 – 339. Zu Helmholtz vgl. Lorenz Krger (Hg.): Universalgenie Helmholtz. Rckblick nach 100 Jahren, Berlin 1994; Theodor Leiber: Vom mechanistischen Weltbild zur Selbstorganisation des Lebens. Helmholtz’ und Boltzmanns Forschungsprogramme und ihre Bedeutung fr Physik, Chemie, Biologie und Philosophie, Freiburg, Mnchen 2000. Zu Wundt vgl. Alfred Arnold: Wilhelm Wundt. Sein philosophisches System, Berlin 1980; Wolfgang G. Bringmann/Gustav U. Ungerer: The foundation of the Institute for Experimental Psychology at Leipzig University. In: Psychological Research 42 (1980), 5 – 18; Georg Lamberti: Wilhelm Maximilian Wundt (1832 – 1920). Leben, Werk und Persçnlichkeit in Bildern und Texten, Bonn 1995. Zum Kreis um Johannes Mller vgl. Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Johannes Mller und die Philosophie, Berlin 1992. – Vgl. fr die zeitgleichen Verhltnisse in der englischen und amerikanischen Psychologie Lorraine J. Daston: The Theory of Will versus the Science of Mind. In: William R. Woodward/Mitchell G. Ash (Hg.): The problematic Science. Psychology in 19th Century-Thought, New York 1982, 88 – 115.

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epistemologische Letztbegrndung behauptet, die in den apriorischen Strukturen der reinen Vernunft und ihrer Kategorien verankert ist. Whrend das „empirische Bewußtsein“ an „sich zerstreut und ohne die Beziehung auf die Identitt des Subjekts“84 bleibt, leistet die ,reine‘ Apperzeption jene „t r a n s z e n d e n t a l e E i n h e i t [ … ] , durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird“: Sie [die transzendentale Einheit, I.S.] heißt darum o b j e k t i v, und muß von der s u b j e k t i v e n E i n h e i t des Bewußtseins unterschieden werden, die eine Bestimmung d e s i n n e r e n S i n n e s ist, dadurch jenes Mannigfaltige der Anschauung zu einer solchen Verbindung empirisch gegeben wird. Ob ich mir des Mannigfaltigen als zugleich, oder nach einander, e m p i r i s c h bewußt sein kçnne, kommt auf Umstnde, oder empirische Bedingungen an. Daher die empirische Einheit des Bewußtseins, durch Assoziation der Vorstellungen, selbst eine Erscheinung betrifft, und ganz zufllig ist. Dagegen steht die reine Form der Anschauung in der Zeit, bloß als Anschauung berhaupt, die ein gegebenes Mannigfaltiges enthlt, unter der ursprnglichen Einheit des Bewußtseins, lediglich durch die notwendige Beziehung des Mannigfaltigen der Anschauung zum Einen: Ich denke; also durch die reine Synthesis der Verstandes, welche a priori der empirischen zum Grunde liegt.85

Es gehçrt zu der vergleichsweise wenig erforschten Wirkungsgeschichte Schopenhauers, dass durch die dezidierte Kant-Nachfolge der Welt als Wille und Vorstellung ein kritischer Kant-Kommentar verluft, der sich gegen die apriorischen Einheitsgarantien Kants richtet. In diesem Sinne ist Kant in Schopenhauers Metaphysik auch in einer quasi-heterodoxen Weise prsent, und insofern steht Schopenhauers dezidiertem Rckgang auf ein metaphysisch ,Allerletztes‘ eine Schicht an wahrnehmungstheoretischen Ableitungen gegenber, die aus der spezifischen Zeitlichkeit des Willens und seiner ,inneren‘ Sinnerfahrung resultieren. Gleichwohl besteht der begrndungstheoretische Sinn, mit dem Schopenhauer der doppelten Gegebenheit des Willens folgt – einerseits ist er Gegenstand der intellektualen Anschauung, andererseits ist er unmittelbare Leiberfahrung –, zunchst darin, ein metaphysisches Letztbegrndungsprinzip 84 Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft [1781]. In: Ders.: Werkausgabe III: Critik der reinen Vernunft 1. Hg. von Wilhelm Weischedel, Zrich 1977, 137. 85 Ebd., 141. Zur Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption vgl. auch Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798]. In: Ders.: Werkausgabe XII: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pdagogik 2 / Register zur Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel, Zrich 1977, 397 – 690, 416 f.

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zu benennen, das die Vielheit der in der Vorstellungswelt gegebenen Erscheinungen auf eine Einheit – auf ein „Eines und das Selbe“ – beziehbar macht.86 Dennoch erscheint der Wille selbst keineswegs als Einheit, sondern als reine, bewegte Differenz, als unermdlicher, leidensreicher, allein sich selbst fortzeugender Drang, der im Wechsel von Mangel und Erfllung fortwhrend Begehren auf Begehren folgen lsst. „Jedes erreichte Ziel“, so Schopenhauer, „ist wieder Anfang einer neuen Laufbahn, und so ins Unendliche.“87 Selbst dasjenige, was sich als Gehalt des Begehrens zeigen soll, erweist sich als grausame Leere eines ziellosen bzw. sein Ziel ewig aufschiebenden Drngens. Wille ist bei Schopenhauer wesentlich ein durch Kants transzendentale Apperzeption nicht mehr gedeckter Zusammenhang von dynamischer Zeitlichkeit und Absenz, von ewigem Begehren und fortwhrendem Aufschub: [N]un hat jeder einzelne Willensakt eines erkennenden Individuums […] nothwendig ein Motiv, ohne welches jener Akt nie eintrte; aber wie die materielle Ursache bloß die Bestimmung enthlt, daß zu dieser Zeit, an diesem Ort, an dieser Materie, eine Aeußerung dieser oder jener Naturkraft eintreten muß; so bestimmt auch das Motiv nur den Willensakt […] als ein ganz Einzelnes. […] Daher hat auch jeder Mensch bestndig Zwecke und Motive, nach denen er sein Handeln leitet, und weiß von seinem einzelnen Thun allezeit Rechenschaft zu geben: aber wenn man ihn fragte, warum er berhaupt will, oder warum er berhaupt daseyn will; so wrde er keine Antwort haben […]: und hierin eben sprche sich eigentlich das Bewußtseyn aus, daß er selbst nichts, als Wille ist, dessen Wollen berhaupt sich also von selbst versteht […]. In der That gehçrt Abwesenheit alles Zieles, aller Grnzen, zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist. […] So aber gerade verhlt es sich mit allem Streben aller Erscheinungen des Willens […]: ewiges Werden, endloser Fluß, gehçrt zur Offenbarung des Wesens des Willens.88

Man hat es an dieser Stelle, an der das metaphysische Wesen gerade kein Wesen besitzen und nur ,Ab-Wesenheit‘ sein kann, mit einem folgenreichen Entzug transzendentaler Erkenntnis- und Bewusstseinsgarantien zu tun. Entsprechend wird man die Frage nach Schopenhauers stheti86 Vgl. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I und II [1859], I, 151: „Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seine Identitt mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: einmal als Vorstellung in verstndiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber zugleich auf eine ganz andere Weise, nmlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet.“ 87 Ebd., 228. 88 Ebd., 228 f.

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scher Modernitt kaum mehr mit dem traditionsreichen Verweis auf eine ideengeschichtliche Wende beantworten kçnnen, die das Kreatrliche und Naturhafte des Menschen an die Stelle der Vernunft setzt.89 Vielmehr ist der Wille in einer eigentmlichen Entleerung seines metaphysischen Sinnversprechens nur mehr Name, nur mehr (,leerer‘) Signifikant fr eine unhintergehbare Abwesenheit und eine unstillbare temporale Dynamik, die dem Zeitbegriff alle angestammten transzendentalen Charakteristika – Ordnung, Sukzession, Kohrenz – nimmt. Damit trgt sich auf der Kehrseite einer metaphysischen Grndung, die den Willen zum Fundament ihrer Welterfahrung erklrt, ein apperzeptionstheoretischer Zweifel ein, der alle apriorischen Mçglichkeiten kognitiver Einheitserfahrungen und bewusstseinsfçrmiger Synthesen tilgt. Nur dieser apperzeptionstheoretische Strang begrndet die sthetische Modernitt Schopenhauers und die ausgeprgte Affinitt seiner Philosophie zur sthetischen Moderne; eine Affinitt, die nicht zuletzt klassischen Charakteristika des modernen sthetischen Zeitbewusstseins – man denke an Baudelaires Bestimmungen des Vergnglichen, Flchtigen und Zuflligen90 – vorgreift. „Unser Selbstbewußtseyn“, so Schopenhauer in den Ergnzungen zur Welt als Wille und Vorstellung, hat nicht den Raum, sondern allein die Zeit zur Form […]. Wir kçnnen nmlich Alles nur successive erkennen und nur Eines zur Zeit uns bewußt werden, ja, auch dieses Einen nur unter der Bedingung, daß wir derweilen alles Andere vergessen, also uns desselben gar nicht bewußt sind, mithin es so lange aufhçrt fr uns dazuseyn. […] Auf dieser Unvollkommenheit des Intellekts beruht das Rhapsodische und Fragmentarische unsers Gedankenlaufs […] und aus diesem entsteht die unvermeidliche Zerstreuung unsers Denkens. Theils nmlich dringen ußere Sinneseindrcke stçrend und unterbrechend auf dasselbe [das Denken, I.S.] ein, ihm jeden Augenblick das Fremdartigste aufzwingend, theils zieht am Bande der As89 Vgl. Wolfgang Riedel: ,Homo natura‘. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin, New York 1996, XV. Vgl. zur Profilierung dieser ,anderen‘, apperzeptionstheoretisch-erkenntniskritischen Modernitt Schopenhauers die instruktiven berlegungen von Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho, Frankfurt/M. 2002, 52 ff. 90 Vgl. Charles Baudelaire: Die Maler des modernen Lebens [1863]. In: Ders.: Smtliche Werke/Briefe in acht Bnden. Hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Bd. 5: Aufstze zur Literatur und Kunst 1857 – 1860, Mnchen, Wien 1989, 213 – 258, 226. Im Original: „le transitoire, le fugitif, le contingent“. Vgl. Charles Baudelaire: Le Peintre de la vie moderne [1863]. In: Œuvres compl tes II. Texte tabli, prsent et annot par Claude Pichois, Paris 1976, 682 – 724, 695.

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sociation ein Gedanke den andern herbei und wird nun selbst von ihm verdrngt; theils ist auch der Intellect selbst nicht ein Mal fhig sich sehr lange anhaltend auf einen Gedanken zu heften; sondern wie das Auge, wenn es anhaltend auf einen Gegenstand hinstarrt, ihn bald nicht mehr deutlich sieht […].91

Darin ist ein fr die epistemischen Neuorientierungen des 19. Jahrhunderts signifikanter problemgeschichtlicher Zusammenhang verborgen. Er begrndet sich durch die perzeptionstheoretischen Anschlsse an Kant und wird ganz offensichtlich ber Schopenhauer vermittelt, ohne dass dieser Problemzusammenhang in der Rezeptionsgeschichte Schopenhauers bewusst im Vordergrund stehen msste. Fast, wre der Gedanke nicht methodologisch unzulssig, ließe sich behaupten, dass der dominante Strang der literarischen Schopenhauer-Rezeption im 19. Jahrhundert und mit ihr ihre Einbung in ein pessimistisches Gegenwartsbewusstsein den eigentlichen sthetischen Gehalt der Schopenhauerschen Philosophie nachhaltig verkannt hat.92 Es ist jedenfalls keine Beliebigkeit, dass insbesondere die experimentalpsychologischen berlegungen der Wundt-Schule an denselben problemgeschichtlichen Zusammenhang anknpfen und in ihrer expliziten Referenz auf Kant in unterschwelliger Weise auch die transzendentalphilosophischen Verunsicherungen Schopenhauers in sich aufnehmen. Was Wundts psychologischen Voluntarismus anbelangt, so lassen sich vier Aspekte unterscheiden. Erstens: Wundt zieht aus der Schwchung der transzendentalen Synthesis Kants wie aus Schopenhauers apperzeptionstheoretischem Zweifel die Konsequenz einer radikalen Aktualittstheorie des Bewusstseins. Alle Mçglichkeiten der bewusstseinsfçrmigen Synthesis werden von einem konstitutiven Defizit, einer grundstzlichen Anomalie ihrer apperzeptiven Prozesse her gedacht. Diese Anomalie besteht darin, dass das Bewusstsein grundstzlich als Temporalitt verstanden werden muss, d. h. als ein instabiles ,Feld‘ von fortwhrend wechselnden Impressionen, Vorstellungen und Assoziationsbildungen. Zeitlichkeit steht dem Bewusstsein nicht als momentaner oder defizienter Zustand gegenber, sondern es ist selbst, seiner Struktur nach, konstitutiv zeitlich. Wenn es mithin einen transzendentalen Rest in Wundts philo91 Arthur Schopenhauer: Von den wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts. In: Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung I und II [1859]. Zweiter Band, welcher die Ergnzungen zu den vier Bchern des ersten Bandes enthlt, 158 – 172, 158 f. 92 Vgl. Kap. II. 1.

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sophischer Psychologie gibt, dann ist es diese Transzendentalitt der Zeitlichkeit aller Bewusstseinsprozesse: Das Bewußtsein ist […] kein unvernderlich bleibender Schauplatz, auf welchem die seelischen Vorgnge kommen und gehen, sondern es ist selbst dieses Kommen und Gehen, es ist selbst nichts anderes als fortwhrendes, immer wechselndes inneres Erlebnis.93

Zweitens: Das Wundtsche Aktualittsprinzip besagt nicht, dass eine kognitive Synthese grundstzlich ausbleiben muss. Wundt zielt vielmehr auf eine in der Zeitlichkeit der seelischen Vorgnge angelegte Schwchung transzendentaler Syntheseleistungen. Wahrnehmung ist demgegenber ohne die Rckbindung an apriorische Kategorien, und das heißt: allein psychologisch zu denken. In welchem Maße hierin die Neubegrndung einer ausschließlich psychologischen Apperzeptionskategorie zu sehen ist, belegt noch Oswald Klpes 1893 ausgeprochene Warnung, den „Wundt’schen […] Begriff der Apperception“ nicht mit dem „der transcendentalen Apperception Kant’s“ zu verwechseln und damit in eine „metaphysische Region“ zu rcken.94 Wundts Konstruktion besteht ent-

93 Wilhelm Wundt: Die Entwicklung des Willens. In: Ders.: Essays [1885]. Mit Zustzen und Anmerkungen, Leipzig 21906, 318 – 345, 320. Vgl. auch Wilhelm Wundt: Grundriß der Psychologie, Leipzig 1896, 17, 239. 94 Oswald Klpe: Grundriß der Psychologie auf experimenteller Grundlage dargestellt. Mit 10 Figuren im Text, Leipzig 1893, 441. Der Wundt-Schler Klpe hatte sich 1888 in Leipzig mit einer Arbeit ber Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie habilitiert, die wegen ihres berblickcharakters noch heute lesenwert ist. Vgl. Oswald Klpe: Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie, Leipzig 1888. Ab 1893 vollzieht Klpe eine methodologische Abkehr von Wundt; sie mndet in die Grundlegungen der ,Wrzburger Schule‘, die eine weitere, ber Wundt hinausfhrende Verwissenschaftlichung der Psychologie auf denkpsychologischer Grundlage anstrebt. Zum Kreis der Wrzburger Psychologen ist auch Narziß Ach zu zhlen, an dessen Wrzburger bzw. Straßburger Promotion Klpe Ende 1899 als Referent beteiligt ist. Ach betreibt eine konsequente Experimentalisierung der Willenspsychologie, wobei sich das Interesse auf die determinierenden Tendenzen des Willensaktes – darunter die Hypnose –, vor allem aber auf die Entschlussdauern innerhalb der Willensbildung richtet. Vgl. Narziß Ach: ber die Willensttigkeit und das Denken, Gçttingen 1905. Eine kompakte Darstellung des Forschungsprogramms findet sich in ders.: ber den Willen. Vortrag, gehalten in der gemeinschaftlichen Sitzung beider Hauptgruppen der 82. Versammlung Deutscher Naturforscher und rzte. In erweiterter Form dargestellt, Leipzig 1910. Ach publiziert seine Ergebnisse noch bis in die Mitte der 1930er Jahre. Vgl. zum Gesamtzusammenhang Horst Gundlach: Anfnge der experimentellen Willenspsychologie. In: Heinz Heckhausen/Peter

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sprechend in einer Unterscheidung zweier perzeptiver Zustnde, die das menschliche Wahrnehmungsfeld in einen Zustand von fortwhrenden Modulationen zwischen einer (noch) diffusen „Perception“95 und Momenten kohrenter Aufmerksamkeit – der „Apperception“96 – versetzen. Das entsprechende Hintergrundmodell ist in einer fr die epistemologischen berzeugungen des spteren 19. Jahrhunderts bezeichnenden Weise der Struktur visueller Wahrnehmung nachgebildet, so dass die Wahrnehmungsobjekte zunchst in einem diffus organisierten, visuellen Gesamtfeld – dem „Blickfeld“ – lokalisiert sind, um dann von einem zentrierenden Fokalpunkt – dem „Blickpunkt“ – apperzeptiv aufgenommen zu werden.97 Drittens: Die auf diesem Weg erfolgende apperzeptive Synthesis ist immer nur temporr und verbindet – dies markiert den strikt genetischen Charakter der Theorie – die elementaren Einheiten des seelischen Lebens zu komplexen Erfahrungsgehalten, die psychologisch gleichwohl nur als „unmittelbares inneres Erlebnis bekannt“98 sind. Hermann Ebbinghaus hat aus diesem Umstand die Konsequenz gezogen, dass der Wille lediglich eine begriffliche Fiktion sei, die nur „wegen der allgemeinen Gleichartigkeit“99 seiner in ihm zusammengefassten psychischen Funktionen – „Empfindungen, Vorstellungen und Gefhlen“100 – zur „Bildung“ eines entsprechenden „Begriffs des Willens“101 berechtige. Genetisch verdankt sich diese Erfahrungsunmittelbarkeit inhibitorischen Mechanismen, die im Rahmen einer im 19. Jahrhundert breiten Debatte ber das Verhltnis von Wille und Aufmerksamkeit lokalisiert sind und die – wie der Studie von Jonathan Crary zu entnehmen ist102 – den verbindenden Mechanismus fr die Identifikation der beiden Funktionen

95 96 97 98 99 100 101 102

M. Gollwitzer/Franz E. Weinert (Hg.): Jenseits des Rubikon. Der Wille in den Humanwissenschaften, Berlin, Heidelberg u. a. 1987, 67 – 85. Wilhelm Wundt: Grundzge der Physiologischen Psychologie [1874]. Bd. 2, 3., umgearb. Aufl. Leipzig 1887, 236. Ebd. Vgl. Ebd., 235 – 246. Vgl. auch Klpe: Grundriß [1893], 446. Wundt: Die Entwicklung des Willens [1885], 331. Zur Entstehung der Willensvorgnge aus ihren ,genetischen‘ Elementen (Affekte, Motive) vgl. Benetka: Denkstile der Psychologie, 75. Hermann Ebbinghaus: Abriß der Psychologie [1908]. Mit 19 Figuren, Berlin, Leipzig 91932, 81. Hermann Ebbinghaus: Grundzge der Psychologie. Bd. 1. Mit zahlreichen Figuren im Text und einer Tafel, Leipzig 1902, 565. Ebbinghaus: Abriß der Psychologie [1908], 81. Vgl. Crary: Aufmerksamkeit, 46.

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darstellen. Wille und Aufmerksamkeit begegnen sich bis zur Identitt ihrer psychischen Funktion in einer gemeinsamen Hemmungs- bzw. Unterdrckungsleistung, die es gestattet, in einem zunchst ,offenen‘ Wahrnehmungsfeld einzelne perzeptive Gehalte hervorzuheben und andere der Aufmerksamkeit zu entziehen.103 Im Zuge dieses Attentismus vollzieht Wundts Apperzeptionstheorie bereits Mitte der 1880er Jahre den bergang in einen „empirischen“ bzw. „psychologischen Voluntarismus“104, der alles seelische Geschehen von einem Willen bewegt sieht, der als Grundprinzip aktiver Aufmerksamkeitssteuerung kurzerhand mit der Kategorie des Bewusstseins konvergiert: So besttigt denn die Beobachtung durchaus, was der innige Zusammenhang der psychischen Funktionen schon annehmen lßt: der Wille ist keine erst spter im Bewußtsein entstehende Eigenschaft, sondern er ist ursprnglich an das Bewußtsein gebunden. […] Der Wille kann in gar keiner andern Weise Gegenstand unserer inneren Erfahrung sein, als die Vorstellung oder das Gefhl, nmlich als Tatbestand unseres Bewußtseins. Wir empfinden uns unmittelbar als selbstttig, und an diese Empfindung der eigenen Ttigkeit knpfen wir bestimmte innere und ußere Vernderungen als ihre Wirkungen.105

Viertens: Wundts aktualittstheoretischer Standpunkt fhrt in der Konsequenz zu einer Dynamisierung der seelischen Vorgnge, die den Willen ,genetisch‘ dazu nçtigen, seine Zielbildung prozessual mit immer neuen Motiven und Zwecken anzureichern und so von der ursprnglichen Motivlage zu entfernen. Grundlage dieser Anreicherung eines intentionalen Ursprungs mit sekundren Zwecken ist eine „psychische Kausalitt“, nach der „das aus irgendeiner Anzahl von Elementen entstandene Produkt mehr ist als die bloße Summe der Elemente“106. Teleologisch, d. h. auf die „W i l l e n s h a n d l u n g e n “107 gewendet, tritt dieses 103 Vgl. Wundt: Grundzge der Physiologischen Psychologie [1887]. Bd. 2, 235 – 246. Zur Bedeutung der „attention“ vgl. auch William James: The Principles of Psychology [1890]. Authorized Edition in two Volumes. Vol. 2, New York 1950, 562: „Effort of attention is thus the essential phenomenon of will.“ 104 Wundt: Die Entwicklung des Willens [1885], 344. 105 Ebd., 327 f. Vgl. auch Klpe: Grundriß der Psychologie [1893], 466: „In diesem Sinne schließen wir uns […] der Anschauung von Wundt an, nach der Apperception und Wille im Grunde dieselbe Function sind. Denn die eigenthmliche Energie, die wir dem Willen zuschreiben und vermçge deren er die beherrschende Macht in unserem Dasein zu bilden scheint, fließt […] aus keiner anderen Quelle, als aus der Apperception.“ 106 Wundt: Physiologische Psychologie [1874]. Bd. 3, 755. 107 Ebd., 765.

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Grundgesetz des psychischen Lebens in eine „H e t e r o g o n i e d e r Z w e c k e “108 ber, die die Zweckreihe durch ihre zeitliche Konstitution zwischen „Anfang“ und „Ende“109 hindurch zu immer neuen Zweckreihen modulieren lsst: Zu solchen die teleologische Betrachtung herausfordernden Erscheinungen gehçren nun vor allem diejenigen, die im Grunde die psychologischen Wurzeln der Ursache- wie der Zweckbegriffe selbst sind: die W i l l e n s h a n d l u n g e n . Indem jene Bestandteile der Motive, die wir als die ,Beweggrnde‘ bezeichneten, den Erfolg der Willenshandlungen im Bewußtsein vorausnehmen, besteht naturgemß eine mehr oder minder große Diskrepanz zwischen diesen vorausgehenden Zweckvorstellungen und den nachfolgenden, wirklich erreichten Zwecken. […] Nicht der vorher gewollte, sondern der e r r e i c h t e Erfolg bildet dann die Grundlage neuer Motivreihen und der aus diesen entspringenden Handlungen. Denkt man sich auf diese Weise die Zwecke, die in einem Zusammenhange von Willenshandlungen sukzessiv als Beweggrnde hervortreten, in einer Reihe geordnet, so wird daher diese Zweckreihe im allgemeinen immer reicher, indem fortan aus den erreichten Erfolgen neue Motive zuwachsen. Hiernach bezeichnen wir das in dieser Motiventwicklung zum Ausdruck kommende Prinzip als das der H e t e r o g o n i e d e r Z w e c k e .110

Vermutlich ist bereits an dieser Stelle deutlich geworden, welche sthetischen Affinitten in einer Neubegrndung von Apperzeptionstheorien verborgen sind, die ihren Weltkontakt nur mehr durch die Gitternetze einer radikal temporalisierten und in vielfacher Hinsicht dynamischen Wahrnehmungssynthese hindurch vollziehen. All das jedenfalls, was sich in der experimentalpsychologischen Phnomenologie des Willens an psychophysischen Zerstreuungsmomenten, Symbolisierungsverlusten, intentionalen Abweichungen und Aufmerksamkeitsdefiziten zutrgt, bewegt sich im ausgehenden 19. Jahrhundert durch ein Feld ausgeprgter literarischer Homologien. Dabei gehçrt es zur literaturgeschichtlichen Prgnanz dieses Zusammenhangs, dass er durch das Rezeptionsverhalten zahlreicher naturalistischer Autoren hindurch nachweisbar ist – dies gilt fr die Brder Hart wie fr den spteren Monisten Wilhelm Bçlsche, fr Conrad Alberti wie fr den in dieser Hinsicht außerordentlich signifikanten Hermann Conradi.111 Entsprechend verankert Conrad Albertis Programmschrift Natur und Kunst die naturalistische „Weltanschauung“ 108 109 110 111

Ebd., 766. Ebd. Ebd., 765 f. Vgl. Kap. V. 3.

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I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne

1890 ausdrcklich in der voluntaristischen Psychologie Wilhelm Wundts: Die frhere sthetik lehrte uns, daß nur solche Wirkungen knstlerische genannt werden drfen, welche sich an die Fantasie und die Empfindung wenden, die sthetische Grenze aber berschritten sei durch jedes Kunstwerk, welches den Willen errege. Die neuere Psychologie indessen, zumal die Wundt’sche, hat nachgewiesen, daß Fhlen, Vorstellen, Wollen keineswegs durch unbersteigliche Mauern getrennte Kreise der menschlichen Geistesttigkeit sind, sondern eng miteinander verbunden, ja fast identisch, und schwer voneinander zu trennen. […] Zu diesem Zwecke, und um eine allgemeine Steigerung der Ausdrucksfhigkeit der Kunst ber die Klassiker hinauszuerzielen, suchte die moderne Kunst sich zunchst neue, noch unbebaute Gebiete zu sichern. […] Die einzelnen seelischen Vorgnge wurden genau betrachtet, die Uebergnge von einem Seelenzustand in den andern besucht, das Oscillieren der Seele mit peinlichster Genauigkeit aufgezeichnet, eine Kunst der psychologischen Mikroskopie entstand, welche sich auch an Wundt’sche Methoden anlehnte, der mehr als jeder andere Einfluß auf den modernen literarischen Geschmack bte, ohne auch nur im mindesten daran zu denken.112

3. Methodologie der frhen Moderne Das entfaltete Panorama kçnnte den Eindruck vermitteln, es gehe in methodologischer Hinsicht um einen Beitrag zu der noch immer offen gefhrten Debatte um die Mçglichkeiten einer Vermittlung von Wissenschaftsgeschichte und Literatur.113 Demgegenber verlaufen die folgenden Argumentationen entlang einer doppelten methodologischen Abgrenzung. Zum einen suchen sie Distanz zu den lteren Positionen der geistesgeschichtlichen Forschung, die die Literatur um 1900, im Kern auf Wolfdietrich Rasch zurckgreifend, aus ihrem zumeist kompensatori112 Conrad Alberti: Der Realismus als Weltanschauung. In: Ders.: Natur und Kunst. Beitrge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhltnisses, Leipzig 1890, 19 – 30, 19 f. 113 Vgl. Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers. In: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Knste und die Wissenschaften um 1800, Wrzburg 2004, 341 – 372; ders.: Literatur und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv fr Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28 (2003) H. 1, 181 – 231. Eine Zusammenschau und Neukonzeptualisierung des Feldes verspricht Petra Renneke: Poesie und Wissen. Poetologie des Wissens der Moderne, Heidelberg 2008.

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schen Gegensatz zu den positiven Wissenschaften begreifen.114 Dabei gibt es keinen methodologisch hinreichenden Grund, die Ansprche textueller Bedeutung nur in einer Abwehr der positiven Wissenschaften und ihrer schmerzhaften ,ratio den‘ Vereinseitigungen bewahren zu wollen.115 Zum anderen verstehen sich die Analysen nicht als Beitrag zu jenen kulturpoetischen Forschungen, die ihr Interesse nicht mehr auf Literatur im engeren Sinne, sondern auf die rhetorische und narrative Verfasstheit von Wissen richten. Kulturpoetischen Fragestellungen gegenber betonen die Analysen vielmehr die grundstzliche Differenz von Literatur und Wissenschaft, setzen beide ,Diskurse‘ aber – dies in Absetzung von kompensationstheoretischen Zugriffen – so in ein Verhltnis, dass nach den strukturbildenden Leistungen von nicht-literarischem Wissen fr literarische Texte gefragt werden kann. Entsprechend beschrnken sich die Ansprche an Begriffe wie ,epistemologisch‘ oder ,Epistemologie‘, nicht zuletzt angesichts der erheblichen rekonstruktiven Erwartungen, die sich mit ihnen in wissenspoetologischen Kontexten verbinden,116 auf die ,epistemischen‘ Leistungen der Texte, d. h. auf das erklrte Interesse an literarischen Erkenntnisleistungen. Ob sich diese Erkenntnisleistungen durch den ausgeprgten Hegelianismus, der die realidealistischen Anteile am Naturalismus bezeugt, oder auf dem Weg einer programmatischen Experimentalisierung der Literatur (Zola, Wilhelm Bçlsche, Arno Holz) artikulieren, lenkt den Blick dabei weniger auf das Faktum selbst, als auf die Textverfahren, die diese Erkenntnisabsichten realisieren.117 Unter ,epistemisch‘ soll daher der historische Zusammenhang zwischen diesen Erkenntnisabsichten und den textuellen Strukturen, die sie herstellen, 114 Vgl. Wolfdietrich Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900 [1967]. In: Viktor Zˇmegacˇ (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Kçnigstein/ Ts. 1981, 18 – 48; Riedel: ,Homo natura‘, VII-XX; Walter Mller-Seidel: Zeitbewusstsein um 1900. Zur literarischen Moderne im wissenschaftshistorischen Kontext. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999), 147 – 179. Eine frhe Gegenposition findet sich bei Hans Schwerte: Deutsche Literatur im Wilhelminischen Zeitalter [1964]. In: Zˇmegacˇ (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, 2 – 17. 115 Vgl. Riedel: ,Homo natura‘, XI. 116 Damit soll kein Zweifel an der Begrndbarkeit eines entsprechenden Forschungsprogramms behauptet, sondern lediglich ein anderes Frageinteresse markiert werden. Fr eine sehr grundstzliche Kritik, die das Verhltnis von Philologie und Kulturwissenschaft tendenziell wieder verhrtet, vgl. Gideon Stiening: Am ,Ungrund‘ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ,Poetologien des Wissens‘? In: Kulturpoetik 7 (2007) H. 2, 234 – 248. 117 Vgl. Kap. II. 1.

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verstanden werden; Aussagen ber den seinerseits epistemologischen Status der Literatur, etwa im Sinne einer Problemstellung, die der literarischen Genese von Wissensobjekten nachfragt, werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht getroffen. Allerdings entkommt man epistemologischen Problemstellungen nicht restlos. Denn offensichtlich hlt der Willensbegriff, der das historische Diskursfeld organisiert, seinerseits insofern eine epistemologische Verlegenheit bereit, als sein ontologischer Status – zumindest fr textwissenschaftliche Fragestellungen – keineswegs geklrt ist. Der hier gewhlte Standpunkt hat es zunchst nicht mit einem realen Substrat zu tun; ob es den Willen oder seine Freiheit ,gibt‘, soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden und muss jenen ,Grenzen der Intentionalitt‘ berlassen werden, die gegenwrtig im Zwischenraum zwischen (analytischer) Philosophie, Ethik und Kognitionswissenschaften verhandelt werden und die dem Menschen erneut erhebliche anthropologische Krnkungen zufgen.118 Allerdings hat schon das 19. Jahrhundert diesen anthropologischen Unmut erkenntnistheoretisch wenden und verschrfen mssen: als Frage nmlich, wie berhaupt ber den Willen gesprochen werden kann. Dass der Wille alle Zge einer begrifflichen Fiktion trgt, die substantiell ohne Deckung bleibt und allein den gewhlten Sprachspielen geschuldet ist, lsst sich dem Einspruch gewichtiger Stimmen entnehmen: Bei Nietzsche als Kritik an der ,katachretischen‘ Grundlosigkeit des Schopenhauerschen Willensbegriffs – Schopenhauers Wille sei ein „dunkles unfaßbares x“, das „wie mit bunten Kleidern behngt scheint“119 –, bei Georg Simmel als Einsicht in die unbewltigte Anthropomorphisierung seiner Rede120 oder – bei Hermann Ebbinghaus – als unzulssige kategoriale Verallgemeinerung der elementaren psychischen ,Tatsachen‘.121 Tatschlich ließe sich ein beeindruckendes Material fr die These versammeln, dass kaum eine anthropologische Kategorie des 19. Jahrhun118 Vgl. aus der Vielzahl der in jngerer Zeit erschienenen Publikationen Helmut Fink (Hg.): Freier Wille – frommer Wunsch? Gehirn und Willensfreiheit, Paderborn 2006; Eberhard Schrockenhoff (Hg.): Beruht die Willensfreiheit auf einer Illusion? Hirnforschung und Ethik im Dialog, Basel 2004. 119 Friedrich Nietzsche: Fragment einer Kritik der Schopenhauerischen Philosophie [1867]. In: Ders: Gesammelte Werke (Musarionausgabe). Bd. 1: Jugendschriften 1858 – 1868 (Dichtungen, Aufstze, Vortrge. Aufzeichnungen und philologische Arbeiten). Hg. von Max Oehler und Richard Oehler, Mnchen 1922, 392 – 401, 396. 120 Vgl. Simmel: Skizze einer Willenstheorie [1896], 133. 121 Ebbinghaus: Abriß der Psychologie [1908], 81.

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derts eine derart intensive sprachlich-rhetorische Bearbeitung erfahren hat, wie der Wille. Dass die Welt und ihre Objekte in die Abgrnde ihrer Tropen und Katachresen taumeln, wie Nietzsche dem 19. Jahrhundert hmisch zu bedenken gegeben hat, misst kein Begriff so intensiv aus, wie der Wille: Immer dort, wo er zu Letztbegrndungen des Seins, des modernen Subjekts oder der lebensweltlichen Erfahrung aufgerufen worden ist, hat das 19. Jahrhundert einen nachhaltigen Entzug vermerken mssen. Keine ,grçßere‘ Leere und keine intensivere sprachliche Flle als in der Gegenwart des Willens. Auch aus diesem Grund ist der Referenzgesichtspunkt der folgenden Untersuchungen eine literarische Figuration. Abstrakt formuliert handelt es sich um unterschiedliche sinnhafte Reprsentationen ,derselben Sache‘, in die zugleich die formalen Bedingungen ihrer sprachlich-rhetorischen Erzeugung eingehen. Im Mittelpunkt stehen daher unterschiedliche Diskursivierungen des Willens, d. h. rhetorisch-semantische Bewegungen innerhalb eines historischen Feldes, das sich um den Willen als seinen Gegenstand organisiert und unterschiedliche Weisen seiner literarischen Darstellung erkennen lsst. Entsprechend hat man es mit synchronen Teiltransformationen dieser Darstellung zu tun. Sie mçgen zunchst heterogen wirken, belegen bei genauerem Zusehen aber gerade die zeittypische Deutungskraft des Diskursmusters. Kapitel II rekonstruiert zunchst ein im 19. Jahrhundert ubiquitres Deutungsmuster – den ,Kampf ums Dasein‘ –, der die Moderne in einen mythischen Kampf der Willen verwandelt und ein entsprechend tiefenstrukturelles Erzhlen ausbildet, das sein fundierendes Narrativ fortlaufend in den Erzhldiskurs transkribiert (Conrad Alberti, Max Kretzer, Felix Hollaender, Kurt Grottewitz). Kapitel III folgt einem Dezisionismus der Tat, der in den apokryphen avantgardistischen Zgen des Naturalismus (Brder Hart, Leo Berg), den Romanen und Dramen Karl Bleibtreus, nicht zuletzt im naturalistischen Einakter eine konzeptuelle Bewegung anstçßt, die von den Krisenmomenten des ,Geschichtlichen‘ in die vitalen Bemchtigungen des ,Lebens‘ fhrt. Kapitel IV geht der diskursiven Affinitt nach, die den ausgeprgten Voluntarismus der frhen Soziologie (Ferdinand Tçnnies, Georg Simmel, Max Weber) mit den Willenspersçnlichkeiten des naturalistischen Romans (Max Kretzer, Wilhelm von Polenz, Peter Rosegger) verbindet und darin sozialtheoretische Vorstellungen ber einen Modernisierungsprozess begrndet, der offenkundig nur als sentimentalischer Verlust gedacht werden kann. Kapitel V schließlich wendet sich auf die entropischen Formverluste, die der Naturalismus in seiner inneren Verwandtschaft mit dem Phnomen der Willensschwche dokumentiert

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I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne

und die seine Schreibweisen in eine reiche Phnomenologie von Symbolisierungsschwchen, digressiven Formverlufen und wahnhaften Redeordnungen ausfalten. Was den literaturhistorischen Horizont der Studie anbelangt, so wird er durch jenen Zeitraum markiert, fr den sich der Begriff der ,frhen Moderne‘ eingebrgert hat. Problemgeschichtlich umfasst er die Vielzahl der heterogenen literarischen Strçmungen, die sich um 1900 formieren,122 genetisch aber – nicht zuletzt in ihrem ausgeprgten Bewegungscharakter – auf den Naturalismus zurckfhren. Insofern bezieht die Arbeit einen Standpunkt, der die Entstehung der literarischen Moderne auf die zwei Jahrzehnte zwischen 1880 und 1900 datiert und dem Naturalismus eine Schlsselfunktion im Prozess dieser Modernisierung zuweist. Dass der Blick ber den Naturalismus im engeren Sinne hinausreicht und Phnomene erfasst, die gewçhnlich im Umfeld von ,Dekadenz‘, ,sthetizismus‘, ,Heimatkunstbewegung‘ oder der Frhphase der ,klassischen Moderne‘ lokalisiert sind, trgt einerseits der Heterogenitt des literarischen Feldes Rechnung, soll andererseits aber gerade die Kontinuitt des Naturalismus mit den bergreifenden Entwicklungen der literarischen Moderne belegen.123 Entsprechende berlegungen kçnnen sich auf den Sachverhalt sttzen, dass der substantivische Begriff der ,Moderne‘ erstmals 1886 im programmatischen Umfeld des Naturalismus verwendet wurde.124 Der 122 Vgl. Marianne Wnsch: Vom ,spten Realismus‘ zur ,frhen Moderne‘: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandel. In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tbingen 1991, 187 – 203, 187. Vgl. auch unter Betonung der „,Gemengelage‘“ um 1900 Renate Werner: Das Wilhelminische Zeitalter als literarhistorische Epoche. Ein Forschungsbericht. In: Wege der Literaturwissenschaft. Hg. von Jutta Kolkenbrock-Netz, Gerhard Plumpe und Hans Joachim Schrimpf, Bonn 1985, 211 – 231, 216 ff. und Viktor Zˇmegacˇ : Zum literarhistorischen Begriff der Jahrhundertwende (um 1900). In: Ders.: (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, IX-LI, IXff. 123 Vgl. den lteren Versuch, den Gegensatz von naturalistischen und symbolistischsthetizistischen Positionen mit Blick auf gemeinsame Grundprobleme zurck zu stellen, bei Christa Brger/Peter Brger/Jochen Schulte-Sasse: Naturalismus/ sthetizismus, Frankfurt/M. 1979. Die problemgeschichtlichen Kontinuitten zwischen Naturalismus und nicht-naturalistischen Tendenzen haben allerdings schon Hans Sedlmayr: Die Revolution der modernen Kunst, Hamburg 1955, 42 f. und Wilhelm Emrich: Protest und Verheißung. Studien zur klassischen und modernen Dichtung, Frankfurt/M., Bonn 1960, 122, betont. 124 Der Begriff geht auf den Literaturhistoriker Eugen Wolff zurck. Wolff verwendet ihn in einem Vortrag ber Die ,Moderne‘ zur Revolution und Reform der Litteratur, den er im September 1886 vor der literarischen Vereinigung Durch!

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Begriff ist in zweierlei Hinsicht neuartig: Zum einen lçst er die Identitt der Moderne aus den lteren, am Muster der Querelle des Anciens et des Modernes gewonnenen Gegenbegrifflichkeiten. Diese ,naturalistische Moderne‘ ist eine nur mehr aus sich selbst gewonnene Modernitt, die, wenigstens der Tendenz nach, auf Relationen und Vergleichbarkeiten mit einem in aller Regel geschichtsphilosophisch eingesetzten ,Vorher‘ verzichtet. Zum anderen markiert der Begriff eine spezifisch sthetische Moderne. Damit fhrt er aus den makroperiodischen, vor allem an Habermas, Foucault, Koselleck oder Luhmann gewonnenen Modernebegriffen heraus, in die in aller Regel zugleich Annahmen ber den Verlauf der gesellschaftlichen Modernisierung eingegangen sind.125 Wenn dem Naturalismus in der Vergangenheit wiederholt der Charakter einer „Transformationsphase der sthetischen Moderne“126 zugestanden worden ist, dann bemht sich die Arbeit um eine systematische hlt und der in Grundzgen in seine 1888 erschienene Schrift Die jngste deutsche Litteraturstrçmung und das Princip der Moderne eingeht. Vgl. Eugen Wolff: Die jngste deutsche Litteraturstrçmung und das Princip der Moderne, Berlin 1888. Das synonyme Verhltnis von Moderne und Naturalismus wird nach 1886 schnell Konsens, sttzt sich aber wirkungsgeschichtlich auf die prominenteren zehn Thesen der freien literarischen Vereinigung Durch!, die ebenfalls erstmals 1886 (und nicht, wie in der lteren Forschung hufig behauptet wird, 1887) erscheinen. Vgl. Thesen der freien literarischen Vereinigung ,Durch!‘ [1886]. In: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverstndnis der Literatur um die Jahrhundertwende, 1 f. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933, 20 f.; Lothar L. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. ber die Situierung der Literatur in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne, Tbingen 2005, 216 – 224 sowie aus begriffsgeschichtlicher Perspektive Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernitt, Moderne. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. 4, Stuttgart 1978, 93 – 131, 120. Ob der Begriff der Moderne mçglicherweise bereits auf Friedrich Schlegel zurckgeht, ist nach wie vor ungewiss. Vgl. Uwe Japp: Literatur und Modernitt, Frankfurt/M. 1987, 205 f. 125 Vgl. Jçrg Schçnert: Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne. In: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1988, 393 – 413 und im Anschluss an Luhmann Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995. Fr den hier interessierenden Zeitraum vgl. Werner: Das Wilhelminische Zeitalter als literarhistorische Epoche, 220 ff. 126 Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik, 289. Vgl. bereits Jost Hermand: Der verdrngte Naturalismus. In: Ders.: Der Schein des schçnen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende. Mit 46 Abbildungen, Frankfurt/ M. 1972, 26 – 38, 27 f.

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I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne

und modernittsgeschichtliche Weiterung dieses Befundes. Im Ergebnis bedeutet dies, nicht zum wiederholten Male dem Mythos vom Aufbruch einer naturalistischen Moderne zu folgen, die alsbald hinter den erreichten Stand zurckfllt und in dieser Selbsthistorisierung einer ,eigentlichen‘ Moderne Raum schafft.127 Vielmehr geht es um den Nachweis, dass der Naturalismus all die Aporien, die sich in der Tat schnell einstellen und die Epoche fr den literaturwissenschaftlichen Blick in das Licht der historischen Vergeblichkeit tauchen, in sich aufnimmt und in einen Prozess konzeptueller Revisionen berstellt. In dieser Perspektive erweist sich die frhe Moderne als ein Feld von Transformationen, in dem der Naturalismus vorlufige, sich gewissermaßen in Bewegung befindende Figurationen fr sthetische Modernitt ausbildet, an die die ,Klassische Moderne‘ nach 1900 anknpfen wird.128 Mçglicherweise kann in den viel kommentierten Brchen des Naturalismus so eine anders zu deutende literaturgeschichtliche Idiomatik sichtbar werden: die einer Modernitt, in der sich der Naturalismus – jenseits von Vergessen und Rettung – als ihr bewegendes Moment erweist. Die vorliegende Arbeit hat – dies als letzte Vorbemerkung – von dem Umstand profitiert, dass sie einerseits auf eine reiche Forschung zur literarischen Moderne zurckgreifen kann, andererseits aber hinsichtlich der Deutung des hier interessierenden Textmaterials noch weitgehend freie Hand hat. Nach wie vor steht die frhe Moderne in ihrer naturalistischen Spielart nicht im Ruf, der ,reifen‘ literarischen Moderne belastungsfhige Impulse gegeben zu haben; zu schwer wiegt das geringe literarische Vermçgen ihrer Autoren, zu gering ist das subversive Potential 127 Vgl. zu diesem beraus gelufigem Schema, nach dem mit der um 1890 einsetzenden „Kritik am Naturalismus […] die knstlerische Moderne einen anderen und beschleunigten Fortgang“ nimmt, Helmut Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – sthetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, Mnchen 2004, 30. Vgl. auch Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933, 86 ff. und Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900. Von der Reichsgrndung bis zur Jahrhundertwende, Mnchen 1998, 113. Zentraler Akteur dieser berwindung ist Hermann Bahr. – Zu einer in der Wertung gegenlufigen, wenngleich politisch motivierten Bilanz vor dem Hintergrund derselben nachnaturalistischen Zsur gelangt Jost Hermand: Der Aufbruch in die falsche Moderne. In: Ders.: Der Schein des schçnen Lebens, 13 – 25, 22. Die Verdrngung des Naturalismus habe den Aufbruch in eine „falsche Moderne“ mit entweder „,sthetisch-dekorative[r]‘“ oder „,volkhaftmonumentale[r]‘“ Tendenz bedeutet. 128 Vgl. die etwas expositorisch bleibenden Hinweise von Helmut Scheuer: Der Beginn der ,Moderne‘. In: Der Deutschunterricht 40 (1988) H. 2, 3 – 10, 8.

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ihrer sozialanalytischen Ambitionen und zu berraschungsarm scheint ihr literaturgeschichtliches Profil zwischen Elendsschilderung und mimetischer Detailtreue. Das alles hat den Naturalismus, anders als in Frankreich und Skandinavien, zu einem Schauplatz weniger kanonischer Entwicklungen (,konsequenter Naturalismus‘) und vereinzelter literarischer Spitzenleistungen (Gerhard Hauptmann) werden lassen. Die folgenden Ausfhrungen sind – im prinzipiellen Einklang mit diesen Wertungsgesichtspunkten – daher nicht an einer Rettung der entsprechenden Texte, sondern, wie angedeutet, an ihren horizontbildenden Leistungen fr den Modernisierungsprozess im Ganzen interessiert. In der Konsequenz liegt es, dass sich der Argumentationsverlauf nicht an wenigen Einzeltexten berprfen kann, sondern eine mçglichst breite Erschließung des Textmaterials leisten muss. Die Arbeit ordnet diese Textbestnde mit Blick auf eine Reihe problemgeschichtlicher und formaler Gesichtspunkte zu grçßeren Textreihen an, auch wenn in vielen Fllen nicht auf eingespielte Forschungsperspektiven zurckgegriffen werden kann.129 Im Ergebnis fhrt dies auch dazu, dass das naturalistische Feld in sich neu gewichtet wird. So tritt der ,konsequente Naturalismus‘, auf den sich die Wahrnehmung in der Vergangenheit hufig konzentriert hat, in die Vielfalt der naturalistischen Produktion zurck, whrend andere Korpora – insbesondere der naturalistische Roman und das naturalistische Drama – in den Vordergrund rcken. Die angestrebte Rekonstruktionsbreite bringt es im brigen mit sich, dass die Perspektive – auch wenn der Naturalismus schon im Verstndnis der (zumal deutschen) Zeitgenossen ein gesamt129 Wie zçgerlich die Forschung auf weiten Strecken gewesen ist, belegt der Umstand, dass die einschlgigen berblicksdarstellungen zum Thema trotz einer dreißigjhrigen literaturwissenschaftlichen Forschungsgeschichte immer wieder unverndert aufgelegt worden sind. Vgl. Roy C. Cowen: Der Naturalismus. Kommentar zu einer Epoche, Mnchen 31981 [1973] und Gnther Mahal: Naturalismus. Unvernderter Nachdruck des erstmals 1975 erschienen Buches, Mnchen 31996. Ein 1988 angekndigter Forschungsbericht von Helmut Scheuer ist bezeichnenderweise nicht erschienen. Vgl. den Hinweis bei Kafitz: Tendenzen der Naturalismus-Forschung und berlegungen zu einer Neubestimmung des Naturalismus-Begriffs, 14. Insofern stehen nach wie vor nur ltere Forschungsberblicke zur Verfgung. Vgl. Sigfrid Hoefert: Zum Stand der Naturalismusforschung. In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses 1975. Hg. von Leonhard Forster und Hans-Gert Roloff, Bern, Frankfurt/ M. 1976, 300 – 308; Klaus Bohnen: Der literarische Naturalismus. Gnther Mahals ,Arbeitsbuch‘ und die Tendenzen der neueren Naturalismus-Forschung. In: Text & Kontext 5 (1977) H. 1, 125 – 138; Werner: Das Wilhelminische Zeitalter als literarhistorische Epoche. Ein Forschungsbericht.

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I. Der transzendentale Wille und die Literatur der frhen Moderne

europisches Phnomen ist130 – notgedrungen eine deutschsprachige bleibt. Zwar werden die bergeordneten europischen Prozesse, namentlich dort, wo sie wesentliche Impulse von Zola und Ibsen erhalten, ausdrcklich thematisiert, sie bilden aber keinen gesonderten Gegenstand der Rekonstruktion. Was die hier erarbeiteten Befunde fr die literarische Moderne im europischen Kontext bedeuten, ist nicht mehr systematischer Gegenstand der Arbeit.131

130 Vgl. etwa Julius Hillebrand: Naturalismus schlechtweg! [1886]. In: Manfred Brauneck/Christine Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, Stuttgart 1987, 36 – 42, 39, der den Naturalismus ausdrcklich als „international“ bezeichnet. 131 Zwei Teilkapitel des V. Kapitels sind an anderer Stelle vorab publiziert worden. Vgl. zu Kap. V. 4 Ingo Stçckmann: Das innere Jenseits des Dialogs. Zur Poetik der Willensschwche im intimen Drama um 1900 (Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf ). In: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81 (2007) H. 4, 584 – 617 und zu Kap. V. 6 Ingo Stçckmann: sthetischer Pantheismus, Wille zur Kunst, schwebende Gestalt. Georg Simmels Naturalismus-Rezeption zwischen Kultursoziologie und Lebensphilosophie. In: Internationales Archiv fr Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32 (2007) H. 2, 93 – 115. – Die Fertigstellung der Studie in der vorliegenden Fassung ist einem Fellowship im Kulturwissenschaftlichen Kolleg der Universitt Konstanz zu verdanken, das mir der dortige Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ (EXC 16) im SS 2007 und im WS 2007/8 bewilligte.

II. Daseinskmpfe 1. Selbstentzweiung des Willens, Kampf ums Dasein, Ursprungswelt: Das Erzhlsystem des Naturalismus Unter den Grnden, mit denen der Naturalismus bereits um 1900 zu Grabe getragen wird, hat Samuel Lublinskis Bilanz der Moderne 1904 zwei der gewichtigsten formuliert. Zum einen habe der Naturalismus seinen Anspruch, die Totalitt des Sozialen darzustellen, immer nur durch symbolische Teilmomente, d. h. lediglich in Ausschnitten realisieren kçnnen.1 Naturalistisches Schreiben ist im materialistischen Blick Lublinskis ein Verfahren, in dem eine beliebige „Einzelerscheinung“2 – etwa die „Trunksucht“ – als Signifikant fr ein Signifikat – das Soziale – einsteht, dessen sozio-genetische „Gesamtheit“3 von dieser Einzelerscheinung verfehlt wird. „Man lebte und schwelgte“, so Lublinski, „in […] naturalistischen Symbolen, die man aber nicht fr Symbole hielt, sondern fr die Wirklichkeit.“4 Zum anderen sei der Naturalismus einem mythologischen Zug gefolgt, weil er seine Orientierung an der „modernen Naturwissenschaft“, vor allem an der „Entwicklungslehre des Darwinismus“, nicht in ihrer „streng wissenschaftlichen, sondern in ihrer gleichsam mythologischen Gestalt“ betrieben habe. Unter diesen wissenschaftlichen Mythologien habe der Naturalismus einen ,Mythos‘ zu seiner „Hauptsache“ erklrt: den „,Kampf ums Dasein’“, in dem die „Natur selbst“ zu einem „revolutionren Symbol geworden [war]“.5 Die Schrfe der Polemik verdeckt, dass sie nicht recht auf die eigenen Bedingungen und Konsequenzen transparent ist. Denn fast scheint es, als rekonstruiere Lublinskis frhe Literatursoziologie eine Art von ,epochal Unbewusstem‘, dem sich der Naturalismus auf dem Weg undurch1 2 3 4 5

Vgl. Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne [1904]. Mit einem Nachwort neu hg. von Gotthart Wunberg. Tbingen 1974, 13 ff. Ebd., 13. Ebd. Ebd., 14. Ebd. Von der „mythische[n] Gestalt“ des darwinistischen „Fortschritts- und Entwicklungsglaube[ns]“ spricht auch Leo Berg: Hçhenwahn. In: Ders.: Aus der Zeit – Gegen die Zeit. Gesammelte Essays, Berlin, Leipzig, Paris 1905, 369 – 379, 378.

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II. Daseinskmpfe

schauter Verwechslungen – Symbol statt Wirklichkeit, Mythologie statt Wissenschaft – ausgeliefert hat. Und zugleich scheint es, als lege Lublinskis Bilanz die knftigen Rezeptionsbedingungen des Naturalismus fest: Sie bestnden, nimmt man Lublinski beim Wort, darin, Naturalismusforschung als Analyse seiner in vielerlei Hinsicht unbewltigten Mythen zu betreiben. Tatschlich wird der europische Naturalismus von einem Zentralmythos getragen, den schon Lublinski im Blick hatte und der im ausgehenden 19. Jahrhundert geradezu ein Bewegungsgesetz der Moderne versinnbildlichen sollte. Als Darstellung eines Daseinskampfes gibt sich beinahe jeder naturalistische Erzhltext zu erkennen und bezeugt damit die fr das ausgehende 19. Jahrhundert vertraute Konjunktion von Darwinismus und Literatur. Vor allem im deutschen Naturalismus wirkt das darwinistische Motiv des struggle for existence geradezu strukturbildend, wie die zyklischen Erzhlprojekte des Naturalismus (Conrad Alberti, Michael Georg Conrad), aber auch Einzeltexte (Max Kretzer) belegen, die sich den dramatischen Vernderungen der Lebens- und Arbeitswelt im ausgehenden 19. Jahrhundert widmen.6 Dass das ausgehende 19. Jahrhundert nicht ohne die dichten Interaktionen zwischen Darwinismus und Literatur verstanden werden kann, ist angesichts ihrer intensiven ideengeschichtlichen Erforschung selbstverstndlich. Unbemerkt ist demgegenber der Umstand, dass es eine Koinzidenz zwischen dem naturalistischen Roman und der Willensmetaphysik Schopenhauers gibt, die im Naturalismus eine eigentmliche Legierung mit den darwinistischen Motiven der natural selection und des survival of the fittest eingeht. Tatschlich hat man es an dieser Stelle mit einem Teilstrang der noch immer wenig berschaubaren SchopenhauerRezeption des 19. Jahrhunderts zu tun, sieht man von Thomas Mann, Richard Wagner oder Wilhelm Raabe ab, deren Schopenhauer-Nhe zu stehenden Topoi geworden ist. Eine umfassende literarische Rezeptionsgeschichte der Philosophie Schopenhauers steht jedenfalls noch immer aus,7 zumal im 19. Jahrhundert auch weniger prominente Rezeptions6

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Vgl. exemplarisch Max Kretzer: Meister Timpe. Sozialer Roman [1888], Berlin 1927, der den ,Kampf ums Dasein‘ fortlaufend in unterschiedliche Erzhlebenen wie Figurenrede (Ebd., 38), Erzhlerkommentar (Ebd., 115) oder Kapitelstruktur (Ebd., 113 ff. bzw. 156 ff.) einspielt. Vgl. Wolfgang Riedel: ,Homo natura‘. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin, New York 1996, XV. Die noch immer einzige deutschsprachige Monographie bildet Bernhard Sorg: Zur literarischen Schopenhauer-Rezeption im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1975, whrend sich die sehr grundstzliche kleinere Studie von David E. Wellbery (vgl. ders.: Schopenhauers Bedeutung fr die

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wege zu bercksichtigen sind. Ihre Rekonstruktion wird unter anderem dadurch erschwert, dass die literarische Aufnahme Schopenhauers – zumindest fr die naturalistische Generation – wesentlich an die seit Mitte der 1880er Jahre einsetzende Nietzsche-Rezeption, zum Teil – und frher – an diejenige Eduard von Hartmanns gebunden oder maßgeblich durch sie vermittelt ist.8 Dass diese Vermittlungswege bereits den Zeitgenossen vertraut gewesen sind, belegt eine ußerung Johannes Volkelts von 1872, nach der „die ungemeine Verbreitung der Schopenhauer’schen und Hartmann’schen Ideen (selbst bis in die novellistische Literatur hinein) […] geradezu fr unsere Zeit als charakteristisch bezeichnet werden“ kann.9 Entsprechend ist Schopenhauer – ohne dass die Vermittlungs- und

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moderne Literatur, Mnchen 1998) auf die avancierte literarische Moderne (Beckett, Borges) beschrnkt. Grundlegende Stationen der deutschen Schopenhauer-Rezeptionen sind berblickshaft aufgearbeitet bei Bernhard Adamy: „Knstlerphilosophie par excellence“. Zur Schopenhauer-Rezeption der deutschen Literatur. In: Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 483 – 496 und Gabriele von Heese-Cremer: Zum Problem des Kulturpessimismus. Schopenhauer-Rezeption bei Knstlern und Intellektuellen 1871 bis 1918. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzoldt und Gerd Woland, Berlin 1983, 45 – 70. Im Blick auf Einzelautoren wie Thomas Mann, Richard Wagner, Wilhelm Raabe und Wilhelm Busch ist die Forschung tendenziell unberschaubar, fr Mann und Wagner existieren allerdings berblicksartikel, die noch immer verlsslich ber den Stand der Forschung informieren. Vgl. Hartmut Reinhardt: Richard Wagner und Schopenhauer. In: Wagner-Handbuch. Hg. von Ulrich Mller und Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, 101 – 113; Børge Kristiansen: Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption. In: Thomas Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1990, 276 – 283. Zur Schopenhauer-Rezeption einer dem Naturalismus tendenziell nahe stehende Autorin vgl. Michael Meyer: Willensverneinung und Lebensbejahung. Zur Bedeutung von Schopenhauer und Nietzsche im Werk Ricarda Huchs, Frankfurt/M., Berlin u. a. 1998, 29 ff. Einen berblick ber die gesamteuropischen Rezeptionswege geben die Beitrge in Anne Henry (Hg.): Schopenhauer et la cration littraire en Europe, Paris 1989. Hartmanns Philosophie des Unbewußten, die Grundzge des Schopenhauerschen Denkens auch fr breite Leserschichten popularisiert, erscheint 1869. Da es sich um eine der erfolgreichsten und meistgelesenen philosophischen Publikationen des 19. Jahrhunderts handelt, darf die Vermittlungsleistung entsprechend hoch veranschlagt werden. Vgl. zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte der Philosophie des Unbewußten Michael Pauen: Pessimismus. Geschichtsphilosophie. Metaphysik und Moderne von Nietzsche bis Spengler, Berlin 1997, 122 – 131 und Annett Kramer: Kultur der Verneinung. Negatives Denken in Literatur und Philosophie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2006, 121 – 130. Johannes Volkelt: Die Entwicklung des modernen Pessimismus. In: Im neuen Reich 2 (1872) H. 1, 953 – 968, 964.

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Rezeptionsmodalitten im Blick auf einzelne Autoren in jedem Fall deutlich wren10 – im Naturalismus allgegenwrtig. Gerhart Hauptmann hat Schopenhauer sptestens zwischen 1905 und 1907 in Zusammenhang mit seinem Drama Gabriel Schillings Flucht rezipiert und seine Schopenhauer-Lektre in Tagebuchnotizen und einem sechzigseitigen Exzerpt dokumentiert, das er von Schopenhauers Hauptwerk anfertigen ließ.11 Hermann Conradi rezipiert Schopenhauer (und Hartmann) im Zusammenhang mit seiner ab 1887 nachweisbaren Beschftigung mit Wilhelm Wundts Psychophysik.12 Michael Georg Conrad hat in Paris zwischen 1880 und 1882 mehrfach Vortrge ber Schopenhauer gehalten, darunter ber „Schopenhauer und Leopardi“ bzw. Schopenhauer und Nietzsche.13 In Hermann Conradis Roman Adam Mensch verbreitern sich die uferlosen Gesprche, die die Hauptfigur mit einem „Entsagungsphilosophen“ fhrt, zu essayistischen Komplexen, die nur lose in die Narration integriert sind.14 In Felix Hollaenders Roman Sturmwind im Westen konfiguriert sich der gesamte Konflikt, der breit im ,Hasten und Jagen‘ der Zeit kontextualisiert ist, um die Auseinandersetzungen zwischen dem Willens-„Asketen“ Gent und dem „Tatmenschen“ Regine

10 Vgl. die unterschiedlichen Aneignungstypen bei Adamy: „Knstlerphilosophie par excellence“, 484. 11 Vgl. zu den Details Christel Erika Meier: Das Motiv des Selbstmords im Werk Gerhart Hauptmanns, Wrzburg 2005, 86 – 93; Wilhelm Marx: Gerhart Hauptmann, Stuttgart 1998, 161; Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses, Berlin 1982, 221 ff. 12 Dies belegen Dokumente im Conradi-Nachlass der Anhaltischen Landesbcherei/Wissenschaftliche Bibliothek und Sondersammlungen (Bl. 335 – 357). Grundlage ist ein der Schule Wilhelm Wundts gewidmeter berblicksartikel von Thomas Achelis: Wilhelm Wundt. In: Nord und Sd (1887), 288 – 304. 13 Vgl. Michael Georg Conrad: Madame Laetitia! Neue Pariser Studien, Leipzig o. J. [1883], 166 f. und ders.: Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann. Erinnerungen zur Geschichte der Moderne, Leipzig 1902, 60 f.: „In den Wintern 1880 – 82 hielt ich in Paris […] Vortrge in franzçsischer und deutscher Sprache […]. Ich sprach ber Richard Wagners Meistersinger, ber Schopenhauer (mit Herbeiziehung der Nietzscheschen berhmten Unzeitgemßen) […]“. Die Hinweise lassen vermuten, dass Conrads emphatischer Nietzsche-Rezeption die Rezeption Schopenhauers vorausging. 14 Vgl. Hermann Conradi: Adam Mensch. Roman. Leipzig 1889. Nachdruck Karben 1997, 115 ff., 215 ff.

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Heller.15 Max Nordaus Roman Die Krankheit des Jahrhunderts entwickelt die im Titel formulierte Diagnostik aus einer kulturell lhmenden Wirkung der Philosophien Schopenhauers und Hartmanns heraus,16 whrend sich in Hermann Sudermanns Novellenzyklus Die indische Lilie eine Lebedame als Schopenhauer-Leserin erweist.17 In John Henry Mackays Roman Die Anarchisten gibt sich ein russischer „Nihilist“ als Schopenhauer-Jnger zu erkennen,18 whrend Conrads Was die Isar rauscht einem Hausdiener fortwhrend entstellte Schopenhauer-Zitate in den Mund legt.19 Entsprechend vermerkt Adalbert von Hanstein noch im Jahr 1900 die Anwesenheit eines „unvermeidliche[n] Schopenhauer-Verehrer[s], der in fast allen diesen Romanen wiederauftaucht“.20 1890 hatte Kurt Grottewitz, Propagandist eines antidekadenten „Neu-Idealismus“, die „Schopenhauerschen Ideale des Weltschmerzes und der Weltverachtung“ als „negative“ Ideale des „Naturalismus“ ausgemacht und mit Nietzsche die „Zchtung eines vornehmen, selbstbewussten, tatkrftigen Menschengeschlechtes“21 nahe gelegt – ein Beleg dafr, wie Schopenhauerund Nietzsche-Rezeption auch in gegenlufige Perspektiven auseinander treten, wenn sie sich an der Leitopposition von Strke und Schwche ausrichten. Welche Bedeutung Schopenhauer von Beginn an fr den Naturalismus besitzt, dokumentiert eine frhe ußerung Heinrich Harts, nach der die „Tendenz“ des Naturalismus in einem von „Schopenhauer“

15 Vgl. Felix Hollaender: Sturmwind im Westen [1896]. In: Ders.: Drei Romane. Sturmwind im Westen, Salomons Schwiegertochter, Die Briefe des Frulein Brandt, Rostock o. J., 47 ff., 153 ff. 16 Vgl. Max Nordau: Die Krankheit des Jahrhundert. 2 Bde., Leipzig 21888, Bd. 1, 177 ff. 17 Vgl. Hermann Sudermann: Die indische Lilie. In: Ders.: Romane und Novellen. Gesamtausgabe in sechs Bnden. Bd. 4, Stuttgart, Berlin 1920, 147 – 360. 18 Vgl. John Henry Mackay: Die Anarchisten. Kulturgemlde aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts [1891], Leipzig 1992, 131 ff. 19 Vgl. Michael Georg Conrad: Was die Isar rauscht. Mnchner Roman. 2 Bde., Leipzig 1888, Bd. 1, 297 f. 20 Adalbert von Hanstein: Das jngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte. Mit 113 Schriftsteller-Bildnissen. Buchschmuck von Emil Bchner, Leipzig 1900, 93. 21 Kurt Grottewitz: Wie kann sich die moderne Literaturrichtung weiter entwickeln? [1890]. In: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverstndnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Eingel. und hg. von Gotthart Wunberg, Frankfurt/M. 1971, 58 – 62, 61. Vgl. auch ders.: O est Schopenhauer? Zur Psychologie der modernen Literatur [1890]. In: Ebd., 63 – 68.

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her „eindringenden Pessimismus“ zu sehen sei.22 Nur rund eineinhalb Jahrzehnte spter ist der „Zusammenhang der naturalistischen Kunst […] mit Schopenhauers Philosophie“23 – wie eine Bemerkung des Literaturund Theaterkritikers Karl Frenzel bezeugt – bereits Teil eines kanonisierten Naturalismus-Bildes. Methodologisch drngt sich die Frage auf, was in diesen Belegen, die sich im Falle der Romantexte wie eine Art Kryptorezeption ausnehmen und leicht um weitere zu erweitern wren, eigentlich sichtbar wird. Gewçhnlich wird die auffllige literarische Prsenz des Schopenhauerschen Denkens, dessen Begriffe Fontane schon 1873 zu den kulturellen „Haushaltungswçrter[n]“24 zhlte, mit den mentalen Vernderungen in Verbindung gebracht, die sich in Deutschland zunchst nach dem Scheitern der Mrzrevolution,25 dann vor allem im Gefolge des ,Grnderkrachs‘ und der ,großen Depression‘ zwischen 1873 und 1895 einstellten und ein entsprechend resignatives Klima begrndeten.26 hnliche 22 Heinrich Hart: Neue Welt. Literarische Essays [1878]. In: Manfred Brauneck/ Christine Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, Stuttgart 1987, 7 – 17, 12. Vgl. auch Karl Bleibtreus ußerung ber Wilhelm Arent: „Dass z. B. Arent keine ,moderne‘ Zeitpolitik treibt, ndert nichts an der Thatsache, dass seine Poesie in ihrer Art ,modern‘ ist, weil eben nur heut grade solche krankhafte Schopenhauerei entstehen konnte […].“ Karl Bleibtreu: Die Revolution der Literatur [1886]. Mit erluternden Anmerkungen und einem Nachwort neu hg. von Johannes J. Braakenburg, Tbingen 1973, 61. 23 Karl Frenzel: Der moderne Realismus [1891/92]. In: Brauneck/Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, 380 – 390, 385. 24 Fontanes Briefe in zwei Bnden. Ausgew. und erlut. von Gotthart Erler. Bd. 1: Briefe 1842 – 1878, Berlin, Weimar 31989, 383 – 386, 385 [an Karl und Emilie Zçllner, 14. 7. 1873]. 25 Vgl. Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Wrzburg 1998, 60 f.; Karl Heinrich Hçfele: Das Leben – ,freudlos und verdriesslich’. Schopenhauers Pessimismus und die Zeitstimmung nach 1848. In: Schweizer Monatshefte 67 (1987), 399 – 404. 26 Vgl. Hans Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918 [1973], Gçttingen 71994, 41 ff.; Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Mnchen 32001, 226 ff.; Hans Peter Ullmann: Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, Frankfurt/M. 1995, 60 ff. Von der „Lebensstimmung der brgerlichen Klasse“ spricht noch Sabina Becker: Brgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im brgerlichen Zeitalter, Tbingen, Basel 2003, 82.

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mentale Strukturen bei sprunghaftem Anstieg literarischer SchopenhauerAnleihen lassen sich fr die zeitgleichen Verhltnisse in sterreich (Bçrsenkrach von 1873, Ende der liberalen ra 1879)27 und Frankreich (Niederlage von 1870/71)28 belegen. Sieht man davon ab, dass der an dieser Stelle zwischen Philosophie- und Mentalittsgeschichte changierende ,Pessimismus‘ zunchst kein Begriff der Philosophie Schopenhauers ist,29 und lsst man unbercksichtigt, dass die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Grundlagen dieser Erklrungen inzwischen von Seiten der historischen Forschung relativiert worden sind, weil die langfristigen çkonomischen Kontinuitten der wilhelminischen ra die entsprechen27 Vgl. Karlheinz Rossbacher: Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien, Wien 1992, 225 ff.; Peter Sprengel: Darwin oder Schopenhauer? Fortschrittspessimismus und Pessimismus-Kritik in der çsterreichischen Literatur (Anzengruber, Krnberger, Sacher-Masoch, Hamerling). In: Literarisches Leben in sterreich 1848 – 1890. Hg. von Klaus Amann/Hubert Lengauer/Karl Wagner, Wien, Kçln, Weimar 2000, 61 – 90. 28 Vgl. Brigitta Coenen-Mennemeier: Der schwache Held. Heroismuskritik in der franzçsischen Erzhlliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u. a. 1999, 23 ff. Zur insgesamt berschaubaren, aber bei Einzelautoren (Puschkin, Lermontov, Dostojewski, Turgenev) sehr lebendigen Schopenhauer-Rezeption in Russland vgl. Sigrid McLaughlin: Schopenhauer in Russland. Zur literarischen Rezeption bei Turgenev, Wiesbaden 1984. Eine Zusammenschau der amerikanischen Schopenhauer-Rezeption in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts verspricht die Arbeit von Christa Buschendorf: ,The highpriest of pessimism’. Zur Rezeption Schopenhauers in den USA, Heidelberg 2008. 29 Als Begrndung einer pessimistischen Philosophie kann Schopenhauers Hauptwerk erst seit der erweiterten zweiten Auflage von 1844 gelten, die den Begriff unter Berufung auf Voltaires Candide und Byrons Kain und in expliziter Absetzung von Leibniz, Shaftesbury, Bolingbroke und Pope verwendet. Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 2, welcher die Ergnzungen zu den vier Bchern des ersten Bandes enthlt. In: Arthur Schopenhauer’s smmtliche Werke. Hg. von Julius Frauenstdt. Bd. 3, Leipzig 31891, 668 ff. Schopenhauers Bemhung, „alles Leben“ als „Leiden“ (Ebd., Bd. 2, 366) zu behandeln, bildet das zentrale „Argument zum P e s s i m i s m u s “ (Ebd., Bd. 3, 406), der sich in einem „F u n d a m e n t a l u n t e r s c h i e d “ (Ebd., 187) zum „O p t i m i s m u s “ (Ebd., 668) befindet. Der Konsequenz, dass die Welt „eigentlich nicht seyn sollte“ (Ebd., 188), folgen seit Mitte der 1880er Jahre zunchst populre weltanschauliche Abhandlungen, dann vor allem Bemhungen um eine ,Geschichte des Pessimismus‘ (F.Th. Vischer, E. v. Hartmann, P. Deussen, O. Plmacher), die den Begriff aus lang whrenden geistesgeschichtlichen Kontinuitten herleiten wollen. Zur literarischen Wirkungsgeschichte des Pessimismus vgl. Wolfgang Schçmel: Apokalyptische Reiter sind in der Luft. Zum Irrationalismus und Pessimismus in Literatur und Philosophie zwischen Nachmrz und Jahrhundertwende, Opladen 1985.

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den Krisensymptome deutlich berlagern,30 so belegen die Zusammenhnge zunchst nur eine auffllige geistesgeschichtliche Konstellation. In dieser Form trgt die Prsenz Schopenhauers allerdings nichts zu einem literarischen Problem im engeren Sinne bei.31 Literarische Relevanz besitzt die naturalistische Schopenhauer-Rezeption deswegen, weil der Rckgriff auf Schopenhauer von einem narrativen Problem her motiviert ist und in dieser Form als forcierter Versuch zu lesen ist, den Erfahrungsdruck der Moderne erzhlerisch, d. h. mit Rckgriff auf geeignete narrative Schemata zu bewltigen. Welchen spezifischen Anteil der naturalistische Roman an der Schopenhauer-Rezeption des 19. Jahrhunderts hat, zeigt sich an der entsprechenden Neigung der Texte, die moderne Welt nicht anders denn als Kampf, als existenziellen Widerstreit von Willen und Interessen darstellen zu kçnnen; beinahe alle Texte bewegen sich in der Immanenz einer Welt der Willen, die kein ,Außen‘ kennt und der in anthropologischer Hinsicht nur starke und schwache Naturen, in narrativer Hinsicht nur Verlufe von Sieg und Niederlage zur Verfgung stehen. Wie zu zeigen sein wird, ist dieses Erzhlschema in jener ,Selbstentzweiung des Willens‘ fundiert, die Schopenhauer im Paragraph 27 des Zweiten Buches und im Paragraph 61 des Vierten Buches von Die Welt als Wille und Vorstellung entwickelt hat.32 Der entsprechende Zusammenhang ist bislang aus Grnden, die in der Abgelegenheit des Materials liegen, unbemerkt geblieben. Zwar hat Peter Sprengel wiederholt auf die Schopenhauerschen Anteile am ,Kampf ums Dasein‘ aufmerksam gemacht, den Hinweis aber weder systematisch

30 Vgl. Volker Hentschel: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland. Organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat, Stuttgart 1978, 206 ff.; Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. Bd. 1: 1866 – 1918. Arbeitswelt und Brgerstaat, Mnchen 21991, 217 ff. Vgl. auch Heese-Cremer: Zum Problem des Kulturpessimismus, 45 sowie zur Geschichtskategorie der ,Krise‘ Rudolf Vierhaus: Zum Problem historischer Krisen. In: Karl-Georg Faber/Christian Meier: Historische Prozesse. Beitrge zur Historik. Bd. 2, Mnchen 1978, 313 – 329. Zweifel aus philosophiegeschichtlicher Perspektive vermerkt auch Herbert Schndelbach: Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt/M. 41991, 176. 31 Vgl. sehr dezidiert Wellbery: Schopenhauers Bedeutung fr die moderne Literatur, 14 f. 32 Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I und II [1859]. Nach den Ausgaben letzter Hand hg. von Ludger Ltkehaus, Mnchen 32005, I, 198 – 215, 430 – 433.

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entfaltet noch in ein Verhltnis zum naturalistischen Erzhlen gesetzt.33 Dass es sich um „Zeugnisse eines Pseudo-Darwinismus“ handelt, „der im Grunde eher eine aktualisierte Form des Schopenhauer-Diskurses darstellt“34, mag fr die çsterreichische Situation zutreffen, auf die der Befund gemnzt ist, im Naturalismus dagegen wird man angesichts der zum Teil ausgeprgten Darwin-Rezeption seiner Autoren von einer konzeptuellen Verklammerung ausgehen mssen, die sich auf die unterschiedlichen Konstitutionsebenen des Narrativs auswirkt: Whrend die ,Selbstentzweiung des Willens‘ die antagonistische Figurenkonstellation der Erzhltexte anleitet, begrndet der darwinistische Daseinskampf ein tiefenstrukturelles Erzhlen, das unterhalb einer auf der Oberflche heterogenen Wirklichkeit eine Ursprungswelt anordnet, in der der Daseinskampf als elementare ,Gesetzlichkeit‘ wirkt. Eine spezifischere Bedeutung Schopenhauers und Darwins ist damit zunchst nicht behauptet; andererseits besitzen sie so viel Spezifik, dass die Texte ohne diese tiefenstrukturellen Konstitutionsmomente nicht verstndlich sind.35 Fundierungsverhltnisse dieser Art machen deutlich, dass sich die Anverwandlung Schopenhauers im naturalistischen Roman selektiv vollzieht; insbesondere die gewichtigen transzendentalphilosophischen Auseinandersetzungen mit Kant sind mit dem naturalistischen Erzhlen kaum vermittelbar gewesen. Schopenhauers Bemhung um eine Erneuerung der Metaphysik im Gefolge Kants hatte dazu gefhrt, den Willensbegriff doppelt fassen zu mssen: einerseits ist er Vorstellung und damit gemß Kants transzendentalem Vorbehalt Gegenstand – ,Konstruktion‘ – der intellektualen Anschauung; andererseits ist er – als das behauptete metaphysische „Ding an sich“36 – unmittelbare Leiberfahrung, deren fundamentale Hermeneutik das Wesen des Seins aus sich entlsst. Schopenhauers anthropologische Wendung der ,logo-zentrischen‘ Metaphysik sttzt sich auf die Gewissheit, dass der Mensch in 33 Vgl. Peter Sprengel: Darwinismus und Literatur. Germanistische Desiderate. In: Scientia Poetica 1 (1997), 140 – 182, 144; ders.: Darwin in der Poesie, 60. 34 Sprengel: Darwinismus und Literatur, 145. 35 Entsprechend zielen die folgenden Textanalysen (II. 2.–4.) auf die Transkriptionsmodalitten, mit denen die Texte ihr Narrativ in einen konkreten Erzhldiskurs berfhren. Es versteht sich, dass die Ebenen der narrativen Fundierung und der Manifestation im Einzeltext ungetrennt vorliegen und nur analytisch unterschieden werden kçnnen. Eine ber diese Fundierungsmomente hinaus weisende Bedeutung Schopenhauers oder Darwins wird im Einzelnen kommentiert. 36 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung [1859], I, 163.

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seiner Leiblichkeit der Welt nicht wie ein Subjekt dem Objekt gegenbersteht; er ist vielmehr deren Teil, insofern sich die Welt in seiner Leiberfahrung, in seinem ,inneren Sinn‘, als Wille ausspricht und diesen Willen zur Anschauung seiner raum-zeitlichen Erscheinungen bringt. Wie in den Bewegungen des Leibes wirkt auch in der Vielzahl der Naturerscheinungen der eine Wille, der sich im Modus der Erscheinung darstellt, so dass – umgekehrt – alle Erscheinungen der unbelebten und belebten Natur nur Manifestationen des sich in sich selbst differenzierenden Willens bilden: Der Wille als Ding an sich ist von seiner Erscheinung gnzlich verschieden und vçllig frei von allen Formen derselben, in welche er eben erst eingeht, in dem er erscheint, die daher nur seine Objektivitt betreffen, ihm selbst fremd sind. Schon die allgemeinste Form aller Vorstellung, die des Objekts fr ein Subjekt, trifft ihn nicht; noch weniger die dieser untergeordneten […]. Der Wille als Ding an sich liegt, dem Gesagten zufolge, außerhalb des Gebietes des Satzes vom Grund […], und ist folglich schlechthin grundlos, obwohl jede seiner Erscheinungen durchaus dem Satz vom Grunde unterworfen ist: er ist ferner frei von aller Vielheit, obwohl seine Erscheinungen in Zeit und Raum unzhlig sind […].37

Weil der Wille als „Ding an sich“ unteilbar und selbst grundlos ist, folgen die Erscheinungen dem principium individuationis, das ihre Vielheit und ihre Differenz begrndet. Whrend der Wille außerhalb von Raum und Zeit liegt und als blinder Drang Begehren auf Begehren folgen lsst, realisieren sich die Erscheinungen als seine „Objektivationen“, die einen unstillbaren Widerstreit anstoßen. Dieser Konflikt der vielen Einzelwillen treibt fortlaufend Erscheinungen einer hçheren Stufe hervor, die aber die ontologisch niederrangige bestehen lsst und als Analogon in sich aufnimmt. Analogisch sind die Einzelwillen, weil sie sich zwar als Rangfolge unterschiedlicher Objektivationsstufen darstellen, aber in sich denselben Grund ihrer Hervorbringung reproduzieren. Jede Objektivation, gleich welchen Rang sie in der ontologischen Hierarchie einnimmt, bildet lediglich die Wiederholung jenes inneren Antagonismus, mit dem sich der Wille – wie in einer Form endloser Selbstverzehrung – hervor- und zur Anschauung bringt; Wille ist daher wesentlich Selbstentzweiung seiner Krfte, d. h. innerer Kampf, berwltigung, Bemchtigung und Vernichtung der niederen durch die hçheren Willensobjektivationen: Wenn von den Erscheinungen des Willens, auf den niedrigeren Stufen seiner Objektivation, […] mehrere Stufen einander in Konflikt gerathen, indem 37 Ebd., I, 166 f.

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jede […] sich der vorhandenen Materie bemchtigen will; so geht aus diesem Streit die Erscheinung einer hçheren Idee hervor, welche die vorhin dagewesenen unvollkommeneren alle berwltigt, jedoch so, daß sie das Wesen derselben auf eine untergeordnete Weise bestehen lßt, in dem sie ein Analogon davon in sich aufnimmt […]. Kein Sieg ohne Kampf: indem die hçhere Idee, oder Willensobjektivation, nur durch Ueberwltigung der niedrigeren hervortreten kann, erleidet sie den Widerstand dieser, welche […] immer noch streben, zur unabhngigen und vollstndigen Aeußerung ihres Wesens zu gelangen. […] So sehen wir in der Natur berall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges, und werden eben darin weiterhin die dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst deutlicher erkennen.38

Schopenhauer hat, was die Konkretisierung dieses Stufenbaus der Willensobjektivationen anbelangt, Lçsungen von unterschiedlicher Deutlichkeit erwogen. Nach den eher andeutungshaften Bemerkungen im Zweiten Buches seines Hauptwerks39 findet sich 1851, im sechsten Stck Zur Philosophie und Wissenschaft der Natur der Paralipomena, ein vierteiliges Schema: Auf den „untersten Stufen“ wirken die „Krfte der unorganischen Natur“40, auf der nchst hçheren befindet sich der Wille „im stummen und stillen Leben einer bloßen Pflanzenwelt“41, die „dritte[] große[] Objektivationsstufe des Willens“ bildet die „Tierwelt“42, whrend auf den „obern Stufen der Objektivitt des Willens“ die menschliche „Individualitt“ als „die große Verschiedenheit individueller Charaktere“43 hervortritt, so dass die „Erde […] einem vierfach beschriebenen Palimpsest zu vergleichen“44 ist. Auf den ersten Blick kçnnten die Objekte – hier Schopenhauer, dort der Naturalismus –, die sich im hier relevanten Rezeptionsvorgang berhren, kaum unterschiedlicher sein, bedenkt man ihre ungleiche Kanonizitt in Philosophie- und Literaturgeschichte. Entsprechend haben ideengeschichtliche Zugriffe – anders als im Falle der nach-naturalisti38 Ebd., I, 205, 206 – 208. 39 Vgl. Ebd., I, 187. 40 Arthur Schopenhauer: Zur Philosophie und Wissenschaft der Natur [1851]. In: Ders.: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. 2. Bd. In: Smtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und hg. von Wolfgang Frhr. von Lçhneysen. Bd. V, Frankfurt/M. 1986, 123 – 210, 169. 41 Ebd., 170. 42 Ebd. 43 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung [1859], I, 188. 44 Schopenhauer: Zur Philosophie und Wissenschaft der Natur [1851], 171. Zur alternativen Hierarchisierung von nur drei Objektivationsstufen vgl. Wilhelm Decher: Wille zum Leben – Wille zur Macht. Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche, Wrzburg, Amsterdam 1984, 31, Anm. 7.

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schen Moderne45 – Zusammenhnge zwischen Schopenhauer und dem Naturalismus bislang nicht hergestellt. Dabei hngt die Reichweite dessen, was, zumal mit Blick auf die sthetische Moderne, begrndet als literarische Schopenhauer-Anleihe zu gelten hat, ganz wesentlich von der Frage ab, was an Schopenhauers Metaphysik des Willens selbst in sthetischer Hinsicht modern sein kçnnte. Aussagen ber die literarische Schopenhauer-Rezeption des 19. Jahrhunderts sind jedenfalls nicht mit Hinweisen auf die fragwrdige Qualitt einzelner literarischer Bewegungen vorentscheidbar – etwa mit Blick auf einen zur literaturgeschichtlichen „Velleitt[]“46 deklassierten Naturalismus –, sondern auf ein Verstndnis der sthetischen Modernitt Schopenhauers selbst verwiesen. In dieser Perspektive erscheint Schopenhauers Willensbegriff vornehmlich als Problem einer spezifisch modernen Sinnkonfiguration. 47 Seine Modernitt besteht darin, in der Unterscheidung zwischen dem Willen als metaphysischem ,Ding an sich‘ und seiner als bloßen Erscheinungen gedachten Vielheit einen ,leeren‘, vordifferenzialen Grund sichtbar zu machen, dessen Bewegungen zunchst jede Bedeutung, jede Referenz auf einen ihr ußerlichen Sinn zurckweisen und sich zum selbstbezglichen Zeichen verschließen. Whrend der Wille als differenzloser Sinn figuriert, bringen die Objektivationen des Willens diesen vordifferentiellen Sinn zur Vielheit seiner sinnhaften Erscheinungen, die Sinn dadurch herstellen, dass sie fortlaufend differentielle Positionen zueinander einnehmen. Auf einem abstrakten Niveau betrachtet, figuriert Schopenhauers Willensbegriff als Genese von Sinn aus den Bezglichkeiten differentieller Verweisungen, die sich einem zeitlosen und unbewegten Grund gegenber als Sequenz in der Zeit herstellen. Wenn das naturalistische Erzhlen auch die in dieser Sinnkonfiguration beschlossene Mçglichkeit, stheti45 Vgl. Riedel: ,Homo natura’. 46 Ebd., 104. 47 Wolfgang Riedels berzeugung, Schopenhauers sthetische Modernitt bestehe in der Aufwertung der Leiblichkeit, d. h. der emphatischen Menschennatur und der Wendung auf „Empfindung“ und „Gefhl“ (Riedel: ,Homo natura’, X), erscheint – nicht zuletzt im Blick auf die von ihm selbst entwickelten aufschlussreichen philosophie- und anthropologiegeschichtlichen Kontinuitten – recht unspezifisch, es sei denn, man analogisiert Anthropologie kurzerhand mit sthetik. Auch wenn Schopenhauers Metaphysik ideengeschichtlich in der Tradition der philosophischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts (Platner etc.) verstanden werden kann, lçst diese Parallelisierung nicht die Frage nach den im engeren Sinne sthetischen bzw. textuellen Modernisierungen, die die literarische Schopenhauer-Rezeption ausgelçst hat. Vgl. zur Kritik die Rezension von Bettina Hey’l. In: Scientia Poetica 1 (1997), 238 – 246.

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sche Reprsentation als Prozess selbstbezglicher Verweisungen zu denken,48 literaturhistorisch (noch) nicht realisiert, so wirkt hier doch insofern eine strukturelle Beziehung, als der Naturalismus die Bedingungen seiner Sinnkonstitution aus der spezifischen ,Transzendentalitt‘ des Willens herleitet. Der Naturalismus semantisiert den Verweisungssinn, der sich in der Relation von Wille und Erscheinung herstellt, zu einem narrativen Konfigurationssystem, das sich als Immanenz widerstreitender ,Willen‘ erzhlen und zugleich als sinnhaftes ,Gesetz‘ der Moderne hypostasieren lsst. Wenn die unhintergehbare Bedingung des Lebens nach Schopenhauer in jener „Eris“ besteht, die den „Kampf aller Individuen“ als „Ausdruck des Widerspruchs, mit welchem der Wille zum Leben im Innern behaftet ist“49, bezeichnet, dann konfiguriert das naturalistische Erzhlen diesen innerweltlichen Sinn zu einem Mythos von den bewegenden Energien der Moderne. Anders als im Falle Schopenhauers sind die literarischen Affinitten des Darwinismus verlsslich erforscht.50 Darwins eigenes Konzept des ,Kampfes ums Dasein‘, wie er es in der 1859 erstmals erschienenen Schrift The Origin of Species by Means of Natural Selection 51 entwickelt hat, steht bekanntlich in einer Wissenschaftstradition, die auf einen konstitutiven Anteil an ,bildlichem Denken‘ verwiesen ist. Im Blick auf solche metaphorischen Fundamente haben es wissenschaftsgeschichtliche, in jngster Zeit vor allem wissenspoetologische Anstze nahe gelegt hat, in bestimmten historischen Wissensformationen sthetische Darstellungsweisen zur Geltung zu bringen, die sich komplementr zu ihren propositionalen Gehalten verhalten.52 Auf diesem Weg konnten Darwins 48 Vgl. Wellbery: Schopenhauers Bedeutung fr die moderne Literatur, 56 ff. 49 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung [1859], I, 433. 50 Vgl. aus der jngeren Forschung nur Hermann Josef Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs. Der Dialog mit der Evolutionsbiologie in der englischen und amerikanischen Literatur, Mnchen 1992; Sprengel: Darwinismus und Literatur; ders.: Darwin in der Poesie; Werner Michler: Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in sterreich 1859 – 1914, Wien, Kçln, Weimar 1999, 10 f.; Katharina Brundiek: Raabes Antwort auf Darwin. Beobachtungen an der Schnittstelle von Diskursen, Gçttingen 2005; Philip Ajouri: Erzhlen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller, Berlin, New York 2007. 51 Vgl. Charles Darwin: The Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races, London 1859. 52 Vgl. Josef Vogl: Fr eine Poetologie des Wissens. In: Karl Richter/Jçrg Schçnert/ Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770 – 1930,

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ausgeprgte Lektren literarischer Texte als konzeptuelle ,Vorgeschichte‘ der Entwicklungslehre53 oder unter dem Gesichtspunkt von wirklichkeitsbildenden Verfahren rekonstruiert werden.54 Wissenschaftsgeschichtlich erklrt die auffllige Prsenz metaphorischer Strukturen den erheblichen Erfolg der Entwicklungslehre, zumal sich Darwins Theoriesprache an ihren terminologischen Gelenkstellen bewusst nicht aus den diskursiven Hinterlassenschaften der natural theology gelçst hat.55 In dieser diskursiven Struktur, die auch den in vielerlei Hinsicht zweideutigen Evolutionsbegriff vermieden hat,56 ist es zugleich begrndet, dass die Origin of Species die Vielzahl der im 19. Jahrhundert nachweisbaren Evolutionsvorstellungen (Thomas Henry Huxley, Herbert Spencer, Ernst Haeckel) berlagert hat, sieht man davon ab, dass Darwin in der zeitgençssischen Wahrnehmung keineswegs als Begrnder der Abstammungstheorie galt57 und die Selektionstheorie mitsamt des in ihr implizierten Adaptionsgedankens – also das, was als Darwins eigentliche wis-

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Stuttgart 1997, 107 – 128. Fr einen berblick ber die vielfltigen Anstze im Feld von Literatur und Wissenschaftsgeschichte vgl. Nicolas Pethes: Poetik/ Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers. in: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Knste und die Wissenschaften um 1800, Wrzburg 2004, 341 – 372. Vgl. Gilian Beer: Darwin’s Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth-Century Fiction, London, Boston, Melbourne, Henley 1983. Vgl. George Levine: Darwin and the Novelists. Patterns of Science in Victorian Fiction, Cambridge/Mass., London 1988. Vgl. Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs, 31 f.; Jonathan Howard: Darwin. Eine Einfhrung. Aus dem Englischen bers. von Ekkehard Schçller, Stuttgart 1996, 59. Vgl. Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs, 31. Darwins Vorbehalt hngt mit dem spekulativen Charakter zusammen, den der Evolutionsbegriff seit Robert Chambers skandaltrchtigen Vestiges of the Natural History (1844) besaß. Vor allem aber ist der Begriff im frhen 19. Jahrhundert zunchst noch in einer der Evolutionsbiologie fern stehenden Prformationsvorstellung beheimatet, nach der sich Individuen (einer Art) kraft einer ,pr-formierenden‘ Schçpfung ent- bzw. ,auswickeln‘ (lat. evolvere). Vgl. Eve-Marie Engels: Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktionen. Eine Einleitung. In: Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Hg., eingel. und mit einer Auswahlbibliographie versehen von Eve-Marie Engels, Frankfurt/M. 1995, 13 – 66, 22. Diese Leistung wird gewçhnlich Lamarcks Philosophie zoologique (1809) zugeschrieben. Vgl. Wolfgang Lef vre: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984, 20 ff. und Engels: Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktionen, 35.

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senschaftliche Innovation zu gelten hat – kaum durchsetzungsfhig war.58 Darwins vermeintliche wissenschaftliche Revolution ist primr aus den historiographischen Bedrfnissen nach tief greifenden wissenschaftlichen Transformationen erklrbar, von denen ihrerseits ein historisches Licht auf die Produktionsmodalitten des Darwinismus fllt.59 Nach allem, was die Wissenschaftsgeschichte an historischen Differenzierungen zusammengetragen hat, besteht Darwins historische Leistung darin, evolutionistische Vorstellungen lterer Herkunft aufgenommen und zu einem kulturellen Gesamtkonzept des Darwinismus zusammengefhrt zu haben, das durch einen Bestand an gemeinsamen biologischen Grundannahmen identifizierbar ist.60 Dieses konzeptuelle Aggregat lenkt die Wahrnehmung strker als bisher auf die paradigmatischen und terminologischen Vorentscheidungen, mit denen der Darwinismus – parallel zu Darwin, aber eben auch jenseits seines Autornamens – zu einem çffentlichen Diskursprodukt des 19. Jahrhunderts wird. Der Sinn dieser Erwgungen besteht nicht darin, die Wissenschaftlichkeit des Darwinismus kulturalistisch entkrften und seines szientifischen Status berauben zu wollen. Vielmehr geht es darum, dass die metaphorische Struktur – gewissermaßen das Diskursinnere des Darwi58 Vgl. Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs, 11 und Engels: Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktionen, 40. 59 Vgl. Peter J. Bowler: The Non-Darwinian Revolution. Reinterpreting a Historical Myth, Baltimore, London 1988. Vgl. der Tendenz nach hnlich schon Søren Løvtrup: Darwinism. A Refutation of a Myth, London, New York, Sydney 1987. 60 Vgl. Bowler: The Non-Darwinian Revolution, 48, der Darwin eine katalysatorische Funktion fr die Freisetzung heterogener Evolutionsvorstellungen zuspricht. Zu diesem Feld heterogener Konzepte mssen neben Darwin selbst einerseits orthogenetische, d. h. am Begriff der Teleologie festhaltende, andererseits ,pseudodarwinistische‘ Anstze gezhlt werden, die in aller Regel vordarwinistischen Traditionen folgen. Vgl. Engels: Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktionen, 20 f. Vom Darwinismus als einem „hochgradige[n] Mischaggregat aus biologischen Grundlagen, deren pointierten ,Verschlagwortungen‘ sowie den Assoziationsketten, die sich mit beiden verbinden“, spricht auch Brundiek: Raabes Antwort auf Darwin, 38. – Als nichtdarwinistisch gelten Theorien, die gegen die Annahme der Artenkonstanz und der gçttlichen Prformation zwar die Vorstellung eines Artenwandels betonen, aber – wie etwa Prformations- und Rekapitulationstheorien – gewisse Verlaufsrichtungsgesetze fr die Artenevolution annehmen und daher teleologisch argumentieren. Vgl. Engels: Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktionen, 20 f. und Peter J. Bowler: The Eclipse of Darwinism. Anti-Darwinian Evolution Theories in the Decades around 1900, Baltimore, London 1983.

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nismus – wie das Moment seiner kulturellen Akzeptanz paradigmatischen Vorentscheidungen geschuldet ist, die bestimmte Aussagen fr die zeitgençssische Wahrnehmung allererst als ,darwinistisch‘ markieren. Wenn es zutrifft, dass der Darwinismus im 19. Jahrhundert „erst als Produkt gesellschaftlicher Verhandlungen“61 entsteht, dann ist es ebenso zutreffend, dass die Literatur der Zeit kein Medium einer sekundren, d. h. falschen oder verzerrenden Rezeption des Darwinismus darstellt, sondern vielmehr an dessen diskursiver Produktion beteiligt ist.62 Fr die Ausgangsfrage, wie sich das naturalistische Erzhlen durch das Narrativ des Daseinskampfes hindurch konstituiert, bleiben Darwins eigene Zugestndnisse hinsichtlich der Metaphorizitt seines Diskurses signifikant. Natural Selection und struggle for existence sind bei Darwin selbst bereits eingestandenermaßen „bildliche[] Ausdrcke[]“63. Sie implizieren weder Annahmen ber eine ,Intentionalitt‘ der Natur noch schçpfungstheologische oder teleologische Erklrungsmuster, sondern zielen allein auf eine kausalmechanische Erklrung des Artenwandels: Einige Schriftsteller haben den Ausdruck natrliche Zuchtwahl missverstanden oder unpassend gefunden. […] Andere haben eingewendet, dasz der Ausdruck Wahl ein bewusztes Whlen in den Thieren voraussetze, welche verndert werden; ja man hat selbst eingeworfen, da doch die Pflanzen keinen Willen htten, sei auch der Ausdruck auf sie nicht anwendbar! Es unterliegt allerdings keinem Zweifel, dasz buchstblich genommen, natrliche Zuchtwahl ein falscher Ausdruck ist; wer htte aber je den Chemiker getadelt, wenn er von den Wahlverwandtschaften der verschiedenen Ele61 Michler: Darwinismus und Literatur, 10. Fr einen fr die deutschen Zusammenhnge aufschlussreichen Beleg vgl. Jutta Kolkenbrock-Netz: Wissenschaft als nationaler Mythos. Anmerkungen zur Haeckel-Virchow-Kontroverse auf der 50. Jahresversammlung der deutschen Naturforscher und rzte in Mnchen (1877). In: Jrgen Link/Wulf Wlfing (Hg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identitt, Stuttgart 1991, 212 – 236 sowie Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Brgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche ffentlichkeit 1848 – 1914, 2., erg. Auflage Mnchen 2002, 66 ff. 62 Vgl. fr den Monismus der Jahrhundertwende Ingo Stçckmann: Im Allsein der Texte. Zur darwinistisch-monistischen Genese der literarischen Moderne um 1900. In: Scientia Poetica 9 (2005), 263 – 291. 63 Charles Darwin: ber die Entstehung der Arten durch natrliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begnstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein. In: Ch. Darwin’s gesammelte Werke. Aus dem Englischen bersetzt von J. Victor Carus. Autorisierte deutsche Ausgabe. Bd. 2: ber die Entstehung der Arten, Stuttgart 8 1899, 102.

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mente spricht? Und doch kann man nicht sagen, dasz eine Sure sich die Basis auswhle, mit der sie sich vorzugsweise verbinden wolle. Man hat gesagt, ich spreche von der natrlichen Zuchtwahl wie von einer thtigen Macht oder Gottheit; wer wirft aber einem Schriftsteller vor, wenn er von der Anziehung redet, welche die Bewegung der Planeten regelt? Jedermann weisz, was damit gemeint und was unter solchen bildlichen Ausdrcken verstanden wird; sie sind ihrer Krze wegen fast nothwendig.64

Bekanntlich hat bereits das 19. Jahrhundert – allen voran Friedrich Engels – den metaphorischen Status des Daseinkampfes kritisiert und in ihm geradezu eine Form sprachbildlicher Infantilitt ausgemacht. „Die ganze darwinistische Lehre vom Kampf ums Dasein“, so Engels, ist einfach eine bertragung der Hobbeschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der brgerlich-çkonomischen von der Konkurrenz, neben der Malthusschen Bevçlkerungstheorie, aus der Gesellschaft in die belebte Natur. Nachdem man dieses Kunststck fertiggebracht […], so rckbertrgt man dieselben Theorien aus der organischen Natur wieder in die Geschichte und behauptet nun, man habe ihre Gltigkeit als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft nachgewiesen. Die Kindlichkeit dieser Prozedur springt in die Augen […].65

So zutreffend Engels‘ Verweis auf die „Malthussche[] Bevçlkerungstheorie“ ist, er bersieht, dass sich Darwins Metaphern nicht in der „Rckbertragung“ eines soziomorphen Sinns erschçpfen.66 Darwins Metaphorik erbringt vielmehr Leistungen, die auf die Steuerung des Theorieaufbaus und die sprachliche Anordnung seiner Konstituenten 64 Ebd., 101 f. In spteren Auflagen der Origins hat Darwin bekanntlich Herbert Spencers Formel survival of the fittest bevorzugt. Vgl. Ebd., 83: „Ich habe dieses Prinzip, wodurch jede […] geringe, wenn nur ntzliche Abnderung erhalten wird, mit dem Namen ,natrliche Zuchtwahl‘ belegt, um seine Beziehung zum Wahlvermçgen des Menschen zu bezeichnen. Doch ist der oft von Herbert Spencer gebrauchte Ausdruck ,berleben des Passendsten‘ zutreffender […].“ Vgl. Howard: Darwin, 45 und Ferdinand Fellmann: Darwins Metaphern. In: Archiv fr Begriffsgeschichte XXI (1977), 285 – 297, 291. 65 Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewhlte Briefe. Besorgt vom Marx-EngelsLenin-Stalin-Institut beim ZK der SED, Berlin 1953, 356 – 359, 357 [Brief von Engels an P.L. Lawrow 12 – 17.11.1875]. Der Passus findet sich beinahe wortgleich in Engels‘ Dialektik der Natur. Vgl. Friedrich Engels: Dialektik der Natur [1873 – 1886]. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 20, Berlin 1973, 305 – 570, 565. 66 Vgl. Fellmann: Darwins Metaphern, 290. Engels‘ Vorbehalt richtet sich gegen die ideologischen Funktionen eines ,Naturgesetzes’, das das liberal-çkonomische Konkurrenzprinzip auf die Natur appliziert und damit eine ideologische Rechtfertigung des frhen Kapitalismus betreibt.

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bezogen ist. Die innerdiskursive Funktion des Daseinskampfes besteht darin, Funktionen eines kausalmechanischen Geschehens zu strukturieren und aufeinander zurechenbar zu machen, die erst in der Addition seiner Teilprozesse ,Entwicklung‘ bzw. ,Evolution‘ ergeben. Im Ergebnis bedeutet dies zum einen, dass der ,Kampf ums Dasein‘ funktional auf die natural selection bezogen ist, die ihrerseits den Mechanismus der Evolution darstellt. Evolution meint dynamische Variabilitt unter den Bedingungen einer Umwelt, die bestimmte Merkmale einer Population als besser angepasst erscheinen lsst, whrend andere Artmerkmale die Wahrscheinlichkeit fr erfolgreiche Reproduktion limitieren. Die Besonderheit des Daseinskampfes liegt darin, das konstruktive Moment adaptiv bedingter Artenentstehung als Zweckmßigkeit verstehen zu kçnnen, ohne sie auf eine ihr vorgngige Zweckursache beziehen zu mssen. Evolution verluft kontingent, ,nutzt‘ diese Kontingenz aber, um bestimmte Merkmale durch Vererbung in einem Prozess gradueller Akkumulation gegenber anders ausgestatteten Populationen ,durchzusetzen‘. Zum anderen bezeichnet der ,Kampf ums Dasein‘ – anders als es seine spteren sozialdarwinistischen Auslegungstraditionen suggerieren67 – lediglich eine formale Relation zwischen zwei ungleich wachsenden Grçßen. Er ,zeigt‘ sich immer dort, wo die Vermehrungsrate von Organismen die Kapazitt ihrer aus der Umwelt bezogenen Subsistenzmittel bersteigt, und entsprechend besitzt die natural selection nur den formalen Sinn, die potentielle Gesamtmenge aller Beziehungen der Lebewesen zueinander und mit ihrer Umwelt zu erfassen.68 „Ich will vorausschicken“, so Darwin, „dasz ich diesen Ausdruck [den Kampf ums Dasein, I.S.] in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche, unter dem sowohl die Abhngigkeit der Wesen von einander, als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch Erfolg in Bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird“69 : 67 Vgl. Robert C. Bannister: Social Darwinism. Science and Myth in AngloAmerican Social Thought. Mit einem neuen Vorwort, Philadelphia 1979; HeinzGeorg Marten: Sozialbiologismus. Biologische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte, Frankfurt/M., New York 1983; Markus Vogt: Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie, Freiburg 1997. 68 Vgl. Engels: Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktionen, 44 f. 69 Darwin: ber die Entstehung der Arten durch natrliche Zuchtwahl [1899], 84.

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Ein Kampf um’s Dasein tritt unvermeidlich ein in Folge des starken Verhltnisses, in welchem sich alle Organismen zu vermehren streben. Jedes Wesen, welches whrend seiner natrlichen Lebenszeit mehrere Eier oder Samen hervorbringt, musz whrend einer Periode seines Lebens oder zu einer gewissen Jahreszeit oder gelegentlich einmal in einem Jahre eine Zerstçrung erfahren, sonst wrde seine Zahl zufolge der geometrischen Zunahme rasch zu so auszerordentlicher Grçsze anwachsen, dasz keine Gegend das Erzeugte zu ernhren im Stande wre. Da daher mehr Individuen erzeugt werden, als mçglicher Weise fortbestehen kçnnen, so musz in jedem Falle ein Kampf um’s Dasein um die Existenz eintreten, entweder zwischen den Individuen einer Art oder zwischen denen verschiedener Arten, oder zwischen ihnen und den uszeren Lebensbedingungen.70

Schließlich ist der diskursive Charakter des Daseinskampfes unbersehbar. Der gesamte Kausalmechanismus, auf den die Naturprozesse transparent sind, ist nach dem Prinzip einer logisch-sprachlichen Analogie gebildet. Darwins Metapher rekonstruiert gesetzmßige, d. h. kausal beschreibbare Prozesse hinsichtlich eines Resultats, dessen Zustandekommen allein nach dem Modell zweckgeleiteter und intentionaler Prozesse – Kampf und Auslese – verstndlich wird. Entsprechend sind die adaptiven Leistungen, die einen Organismus innerhalb der Arterhaltungskonkurrenz als ,besser angepasst‘ erscheinen lassen, nur in dem Maße sinnhaft, wie sie eine nachtrgliche sprachliche Qualifikation darstellen. ,Bessere Anpassung‘ ist allein am differentiellen Verlust einer Art, d. h. nach der Auslese, auf das selektive Geschehen zurechenbar und insofern ausschließlich eine semantische Leistung ihrer Versprachlichung.71 Es ist an dieser Stelle zweitrangig, ob die soziomorphen Deutungsmuster, die im 19. Jahrhundert am ,Kampf ums Dasein‘ hervortreten und 70 Ebd., 85. Theoretischer Hintergrund dieses Gedankens ist Thomas Malthus‘ 1798 erschienener Essay on the Principle of Population. Malthus hatte darin konstatiert, dass „die Vermehrungskraft der Bevçlkerung unbegrenzt grçßer ist als die Kraft der Erde, Unterhaltsmittel fr den Menschen hervorzubringen“. Thomas Robert Malthus: Das Bevçlkerungsgesetz. Hg. und bers. von Christian M. Barth, Mnchen 1977, 18. Der von Darwin adaptierte Gedanke ist, wenn der Essay auch eine fr die englische Geistesgeschichte des frhen 19. Jahrhunderts folgenreiche nationalçkonomische Diskussion in Gang bringt, keineswegs neu. Malthus selbst hat die eigenen Einsichten zunchst nur mit der Skepsis gegenber groß dimensionierten sozialen Versprechungen bedacht; erst die zweite, mit umfnglichem statistischen Material ausgestattete Auflage (1803), die Empfehlungen zur Geburtenbeschrnkung ausarbeitet, besitzt die sozialtechnologischen Zge, die mit Malthus‘ Essay gewçhnlich verbunden werden. 71 Vgl. Howard: Darwin, 46.

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an die sich die bekannten weltanschaulichen Affekte anlagern,72 Auslufer von begriffsimmanenten Bedeutungsberschssen sind oder ob sie als metaphorische Transformationen einer ursprnglichen Bedeutung zu gelten haben. ,Ursprnglichkeit‘ ist schon angesichts des Netzwerks an Reprsentationen, in die der ,Kampf ums Dasein‘ eingelassen ist, eine methodologisch nur schwer zu evaluierende Kategorie. Die Vielzahl seiner Vorstellungsgehalte legt es nahe, die Grnde seiner kulturellen und literarischen Validitt weder aus einer ursprnglichen, noch aus einer spezifischen metaphorischen Bedeutung herzuleiten, als vielmehr und grundstzlicher aus der Form, mit der er Vorstellungsbereiche, ohne dass einer dem anderen als ursprnglich voraus geht, in ein Verhltnis der Analogie setzt. Insofern geht es an dieser Stelle weniger um ein „Objekt“ von Bedeutungen, als um eine bestimmte „Weise des Bedeutens“.73 Schon die vermeintliche Ursprnglichkeit des Darwinschen Begriffs ist eine ,sekundre Ursprnglichkeit‘, weil im ,Kampf ums Dasein‘ kein ursprnglicher Sinn metaphorisiert wird, sondern Naturprozesse mit den Mitteln kausalmechanischer Analogien bezeichnet werden; darin ist die Darwinsche Metapher zunchst ein referentieller Akt, der ,etwas‘ als etwas benennbar macht. Dieser referentielle Charakter lsst das Verhltnis von begrifflichem Sachverhalt und metaphorischer bertragung keineswegs unplausibel werden, aber er verweist darauf, dass der ,Kampf ums Dasein‘ nicht von einer Asymmetrie zwischen ursprnglicher und abgeleiteter, eigentlicher und uneigentlicher Bedeutungen erfassbar ist. Vielmehr muss er von einem historischen Aussagefeld her verstanden werden, in dem in grundstzlicher Weise Modalitten von hnlichkeit wirken. Auf abstraktestem Niveau bildet der ,Kampf ums Dasein‘ eine sprachliche Konstitutionsregel, die getrennte Vorstellungsbereiche und Realittsebenen wie Natur und Kultur, Kontingenz und Intentionalitt, Zwecklosigkeit und Finalitt nach dem Prinzip von Analogie und ,Verwandtschaft‘ anordnet. 72 Vgl. etwa W. Preyer: Der Kampf ums Dasein. Ein populrer Vortrag, Bonn 1869; Ludwig Bchner: Darwinismus und Sozialismus oder Der Kampf um das Dasein um die moderne Gesellschaft [1894], Stuttgart 21906; Gustav Eckstein: Der Kampf ums Dasein. In: Die neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie 27 (1909) Bd. 1, 695 – 711. Zur nationalistischen Aufladung des Deutungsmusters an der historischen Schnittstelle von Nationalçkonomie und frher Soziologie vgl. Max Weber: Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter [1894]. In: Ders.: Schriften 1894 – 1922. Ausgew. und hg. von Dirk Ksler, Stuttgart 2002, 1 – 21 sowie Kap. IV. 7. 73 Roland Bartes: Mythen des Alltags [1957]. Deutsch von Helmut Scheffel, Frankfurt/M. 1964, 85 (m. Hervorhg.).

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Man kann dieses fr den Darwinismus bezeichnende Feld von hnlichkeiten und Analogien an der vordergrndig konzisesten Grundlegung einer naturalistischen Poetik auf darwinistischer Grundlage – Wilhelm Bçlsches 1887 erschienene Naturwissenschaftliche Grundlagen der Poesie – ablesen. Das gesamte scheinepistemologische Programm des Textes, das unter dem Eindruck Darwins die rckhaltlose „Anpassung“ der Literatur „an die neuen Resultate der Forschung“74 proklamiert, beruht auf einer Applikation von paradigmatischen Beziehungen, die Bçlsche Zolas 1879 erschienener Programmschrift ber den roman exprimental nachgebildet hat.75 Dies betrifft zunchst das Verhltnis von Literatur und Naturwissenschaft, das wie bei Zola, der seinerseits auf Claude Bernards Introduction  la l’tude de la mdicine exprimentale

74 Wilhelm Bçlsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen sthetik [1887]. Mit zeitgençssischen Rezensionen und einer Bibliographie der Schriften Wilhelm Bçlsches neu hg. von Johannes J. Braakenburg, Tbingen 1976, 5. Teile des Textes hatte Bçlsche im Mrz 1887 vor der literarischen Vereinigung Durch! vorgetragen. Wie das Protokollbuch des Vereins dokumentiert, fanden Bçlsches berlegungen allerdings ein gespaltenes Echo. Vgl. Ebd., 86. Gegen Bçlsche hatten die Mitglieder vor allem hervorgehoben, „daß die Poesie nicht in ihrem Zwecke mit der Wissenschaft zusammenfalle“ (Ebd.); die ußerung verweist auf ein grundstzliches Missverstndnis, das in erster Linie durch Bçlsches Bekenntnis zum Experimentalroman Zolas motiviert gewesen sein drfte. Bçlsches erklrter Idealrealismus mitsamt seinem Bekenntnis zu dessen „versçhnende[r] Tendenz“ (vgl. Ebd., 3 ff.) hat sich zu keiner Zeit mit Zolas szientifischem Naturalismus in Einklang befunden, zumal die Naturwissenschaftlichen Grundlagen bereits Bçlsches sptere Orientierung am Monismus Ernst Haeckels durchscheinen lassen (vgl. Ebd., 49). Zu Bçlsches realistischer Distanzierung von Zola vgl. Wolfram Hamacher: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bçlsche, Wrzburg 1993, 128 f. sowie zur um 1890 einsetzenden Wendung zum Monismus Jutta Kolkenbrock-Netz: Poesie des Darwinismus. Verfahren der Mythisierung und Mythentransformation in populrwissenschaftlichen Texten von Wilhelm Bçlsche. In: Lendemains. Zeitschrift fr Frankreichforschung und Franzçsischstudium 8 (1983) H. 30: Mythen des XIX. Jahrhunderts, 28 – 35. 75 Vgl. mile Zola: Le Roman exprimental [1879]. Nouvelle edition, Paris 1905. Der Text ist zuerst im September 1879 in der St. Petersburger Zeitschrift Le Messager d’Europe erschienen, einen Monat spter in der Pariser Zeitschrift Le Voltaire, 1880 schließlich mit anderen literaturtheoretischen Arbeiten in Buchform. Eine deutsche bersetzung erschien erst 1904, nachdem eine von Leo Berg 1892 angekndigte bertragung nicht zustande gekommen war.

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(1865)76 zurckgreift, nach der Analogie von Dichter und Chemiker gebildet wird: Der Dichter, der Menschen, deren Eigenschaften er sich mçglichst genau ausmalt, durch die Macht der Umstnde in alle mçglichen Conflicte gerathen und unter Bethtigung jener Eigenschaften als Sieger oder Besiegte, umwandelnd oder umgewandelt, daraus hervorgehen oder darin untergehen lsst, ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet. Natrlich: der Dichter hat Menschen vor sich, keine Chemikalien. Aber […] auch diese Menschen fallen in’s Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagiren gegen ussere Umstnde, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergrndet und die der Dichter bei dem freien Experimente so gut zu beobachten hat, wie der Chemiker […].77

Bçlsches Text ist zunchst unter rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkten signifikant. 1887 erschienen, konvergiert er mit den Tendenzen der deutschsprachigen Literaturkritik, die erst ab 1879/80 auf Zola aufmerksam wird, nachdem Zolas zwischen 1864 und 1879 entstandene literaturtheoretische berlegungen weitgehend unbekannt geblieben waren.78 Die ab etwa 1880 einsetzende Rezeption konzentriert sich neben Zolas Romanwerk vor allem auf die Theorie des Experimentalromans, die allerdings – wo sie nicht ohnehin als bloßes Kuriosum erscheint – mehrheitlich mit formsthetischen Argumenten abgewehrt wird.79 Vor

76 Vgl. Claude Bernard: Introduction la l’tude de la mdecine exprimentale, Paris 1865. 77 Bçlsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie [1887], 7. Die entsprechende Passage bei Zola lautet: „Kurz, wir mssen mit den Charakteren, den Leidenschaften, den menschlichen und sozialen Handlungen operieren, wie es der Chemiker und der Physiker mit den starren Kçrpern, der Physiologe mit den lebenden Wesen tut.“ mile Zola: Der Experimentalroman. Eine Studie. Autorisierte bertragung, Leipzig 1904, 23. 78 Vgl. die ltere, aber materialreiche Dokumentation von Winthrop H. Root: German Criticism of Zola, New York 1931 (Reprint 1966). 79 Vgl. Irma von Troll-Borosty ni: Der franzçsische Naturalismus [1886]. In: Brauneck/Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, 212 – 215, 214; Heinrich und Julius Hart: Fr und gegen Zola [1882]. In: Ebd., 655 – 659, 658 f.; Eugen Wolff: Der Experimentalroman [1896]. In: Ebd., 728 – 731, 729. Die Kritik trifft sich in zwei Aspekten: Zum einen richtet sie sich gegen die unzulssige Homogenisierung von Kunst und Wissenschaft, zum anderen gegen einen szientifischen „Rohstoff“, dem „die knstlerisch herausgearbeitete Form“ (Ebd.) fehlt. Grundstzlich verschieben sich die Rezeptionsinteressen allerdings Mitte der 1880er Jahre (erneut) zugunsten

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diesem Hintergrund erscheint Bçlsches zustimmende Rezeption des „Experimental-Roman[s]“80 als durchaus eigenstndig,81 wenn sie die Ausgangskonzeption auch in einen darwinistischen Kontext stellt, der Zolas eigenen theoretischen Referenzen Claude Bernard und – soweit Fragen der Vererbung betroffen waren – Prosper Lucas fremd ist. Gerade aber durch die Verschiedenartigkeit der konzeptuellen Referenzen hindurch zeigt sich, dass der zwischen Claude Bernard, Zola und Bçlsche verlaufende Rezeptionszusammenhang primr ein Feld fr die Nachbildung und Weitergabe analogischer Argumentations- und bertragungsverhltnisse darstellt. Entsprechend besteht Zolas wesentlichste Vernderung der Bernardschen Experimentalphysiologie in der Substitution des Mediziners durch den Romancier;82 die hnlichkeitsstruktur, die in beiden Fllen eine vergleichbare experimentelle Ttigkeit begrnden soll, aber bleibt unangetastet. „[W]enn die experimentelle Methode aus der Chemie und Physik in die Physiologie bertragen werden konnte, kann sie es auch aus der Physiologie in den naturalistischen Roman.“83 Bçlsche schließlich variiert in der Nachbildung von Zolas berlegungen dasselbe Analogiefeld, in dem er Literatur und Experiment bzw. Menschen und Chemikalien analogisiert. Entscheidend ist auch hier die figurale Ordnung der Analogiebeziehungen, und entsprechend ist Bçlsches Rede vom Experiment lediglich ein Produkt von semantischen hnlichkeitsbeziehungen, in denen der „Dichter“ und der „Chemiker“ im tertium des

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von Ibsen, dessen Gespenster 1886 in Augsburg ihre deutsche Erstauffhrung erlebten. Bçlsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie [1887], 7. Eine hnlich bemerkenswerte Ausnahme bildet Julius Hillebrands Pldoyer fr den „untrennbaren […] Zusammenhang der Poesie mit dem sozialen Leben und der Wissenschaft“. Julius Hillebrand: Naturalismus schlechtweg! [1886]. In: Brauneck/Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, 36 – 42, 37. Diese „sozial-philosophische Doppelnatur“ (Ebd., 39) des Naturalismus resultiert aus einer fr die Frhzeit der Naturalismustheorie ungewçhnlichen historisch-materialistischen Perspektive, die den Naturalismus als Ausdruck einer spezifischen Entwicklungsstufe der gesellschaftlichen Antagonismen behandelt: „Die Kunst ist ebenso ein Produkt der jeweiligen Gesellschaftszustnde wie etwa Ethik oder Politik.“ Ebd., 37. Vgl. Zola: Der Experimentalroman [1904], 7 f.: „Meist wird es mir gengen, das Wort ,Arzt‘ durch das Wort ,Romanschriftsteller‘ zu ersetzen […].“ Vgl. zur ,Umschrift‘ Bernards durch Zola Irene Albers: Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk mile Zolas, Mnchen 2002, 199 ff. Zola: Der Experimentalroman [1904], 19.

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Experiments formal dieselbe paradigmatische Struktur ausbilden, wie „Menschen“ und „Chemikalien“ im tertium der „Reaktion“.84 In der Konsequenz erweisen sich die Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie vollstndig von Strukturen und bertragungsmechanismen der Analogie her entwickelt. Das sechste und gewichtigste Kapitel der Schrift handelt unter dem Titel Darwin in der Poesie die Mçglichkeiten ab, die sich in der metaphorischen Anverwandlung des „socialen Lebens“ durch einen „Darwin’schen Gesichtspuncte“ herstellen: Unendlicher Stoff liegt auf diesen Gebieten. Sowohl das Aufstreben des Neuen wie das Absterben des Veralteten, die geheimnisvollen Processe, wie das Gesunde verdrngt wird durch ein Gesunderes, wie es zum Ungesunden herabsinkt durch haltlose Opposition gegen das bessere Neue – sie sind seit alten Tagen die Domne der Poesie […]. Das ganze sociale Leben mit all‘ seinen Klippen und Irrthmern, seinen Triumphen und Fortschritten fordert die Beleuchtung vom Darwin’schen Gesichtspuncte aus. […] Kçrperliche Gesundheit als Vortheil im Daseinskampfe findet ihr Aequivalent in Geldmitteln, die Kraft der Sehnen wird gleichwerthig ersetzt durch die bessere Molecularconstruction des Gehirns […]. […] Im Lichte grosser, allgemeiner Gesetze kann die an und fr sich nicht sehr poetische Chronik eines Krmerviertels, das ein grosses Magazin im modernsten Stile nach und nach vollkommen todt macht, von hçchster dramatischer Wirkung werden, ein Motiv, das Zola in einem seiner besten Romane bereits mit Geschick durchgefhrt hat.85 84 Bçlsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie [1887], 7. Fr ein buchstbliches Verstndnis des Experimentbegriffs vgl. die zeitgençssisches Kritik bei Ferdinand Bruneti re: Le roman exprimental [1880]. In: Ders.: Le Roman naturaliste, Paris 91896, 121 – 148; Max Nordau: Zola und der Naturalismus. In: Ders.: Paris unter dritten Republik. Vierte, gnzl. umgearb. und bis auf die Gegenwart fortgef. Aufl. Leipzig 1890, 146 – 175, 170; Arno Holz: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze [1891]. In: Das Werk von Arno Holz. Bd. 10: Die neue Wortkunst. Eine Zusammenfassung ihrer ersten grundlegenden Dokumente, Berlin 1925, 1 – 210, 58 f. Fr entsprechende Belege aus der Forschung vgl. etwa Hans-Jçrg Neuschfer: Populrromane im 19. Jahrhundert von Dumas bis Zola, Mnchen 1976, 190 f.; Joachim Kpper: sthetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der franzçsischen Sptaufklrung bis zu Robbe-Grillet, Stuttgart 1987 127 – 135. Von der „rhrenden Naivitt de[s] Naturalismus“ spricht Michael Titzmann: Revolutionrer Wandel in Literatur und Wissenschaften. In: Karl Richter/Jçrg Schçnert/Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770 – 1930, Stuttgart 1997, 297 – 322, 304. 85 Bçlsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie [1887], 57 f. Vgl. fr eine bemerkenswert gleichsinnige Adaption solcher Verlaufsgesetze in die Romannarration, die den quasi-generativen Charakter des Daseinskampfes belegt, Conrad Alberti: Wer ist der Strkere? Ein sozialer Roman aus dem mo-

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Die Textpassage enthlt, liest man sie gegen ihre Simplizitt, den gesamten Darwinismus naturalistischer Provenienz. Zunchst wird das analoge Verhltnis zwischen den Gesetzen des natrlichen und des sozialen Lebens in einer Reihe von „Aequivalent[en]“ fundiert, deren Beziehung allerdings nicht durch die Eigenschaften dieser „Aequivalente“ selbst hergestellt werden kann. Ihre Analogie wird im Text postuliert, ohne dass deutlich wre, wie sich etwa „Geldmittel“, die im Prozess ihrer kulturellen Zirkulation Qualitten ,entfrben‘, und individuelle, d. h. als unverußerlich gedachte Qualitten zueinander verhalten. Beide quivalente werden nur durch ein metaphorisches Drittes relationierbar, weil sie innerhalb eines Vorstellungsbildes vom ,Gesetz der Moderne‘ dieselbe narrative Funktion einnehmen – etwa Aufstieg oder Niedergang, ,Triumph‘ und ,Niederlage‘ kausalmechanisch zu plausibilisieren. Zweitens konstituiert der darwinistische ,Kampf ums Dasein‘ eine Art von elementarem Narrativ. Unter ,Narrativ‘ soll an dieser Stelle ein narratives Schema verstanden werden, das elementares Erzhlmaterial so anordnet und richtet, dass es einen spezifischen Verlaufssinn ausbildet, gleichwohl noch nicht die konkrete narrative Vermittlung bzw. ,Darbietung‘ determiniert.86 Elementar ist dieses Narrativ aus drei Grnden: Zum einen, weil der ,Kampf ums Dasein‘ den komplexen Modernisierungsvorgang auf einen, hochintegrativen Kernprozess reduziert, der der Vielzahl anderer und synchroner Teilprozesse ein gemeinsames Gesetz unterlegt. In diesem ,Gesetz‘ ist eine Aufrechnung all jener traditionalen Lebenszusammenhnge, Reproduktionsweisen und Sozialformen aufbewahrt, die der Modernisierungsprozess ausgeschieden und zu historischen Relikten dernen Berlin. 2 Bde., Leipzig 1888, Bd. 2, 3 f., wo der Erzhler „berall“ den „Kampf des eindringenden besseren Neuen gegen das staubig gewordene Alte“ vermerkt. hnliches findet sich 1890 von programmatischer Seite. Vgl. Conrad Alberti: Die zwçlf Artikel des Realismus. Ein literarisches Glaubensbekenntnis. In: Ders.: Natur und Kunst. Beitrge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhltnisses, Leipzig 1889, 311 – 320, 312. 86 Insofern bildet das Narrativ eine ,mittlere‘ Selektivittsebene zwischen histoire und discours. Der Begriff ist, so weit ich sehe, noch keine differenziert ausgearbeitete narratologische Kategorie, wenn er auch gegenwrtig eine erhebliche kulturtheoretische Konjunktur, insbesondere in seiner Applikation auf kulturelle Semantik, erfhrt. Hier ist der Begriff auf die Konstitution literarischer (Erzhl-)Texte bezogen. Wie schon an anderer Stelle vermerkt, impliziert das Narrativ, dass sich die entsprechenden Erzhltexte analytisch gesehen als durch das narrative Schema ermçglichte Varianten bzw. Manifestationen rekonstruieren lassen mssen. Hinsichtlich seiner Struktur setzt das Narrativ zwei elementare Zustnde – einen Anfang und ein Ende – voraus, wobei sich ihre temporale Verknpfung im Nacheinander als implizit kausal verstehen lsst.

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erklrt hat. Wer im Naturalismus vom ,Kampf ums Dasein‘ erzhlt, folgt in aller Regel einem sentimentalischen Erzhlverlauf vom Sieg der ,kalten‘ lebensweltlichen Abstraktionen ber die ,warme‘ Reproduktionsgemeinschaft des traditionellen Sozialverbands. Elementar ist das Narrativ zum anderen, weil es mit Formen ,elementarer Literatur‘,87 d. h. mit prototextuellen Mustern gerichtete Ereignisverknpfungen erzeugt, die am Verlaufssinn des ,Daseinskampfes‘ orientiert sind. In ihm verbergen sich Vorabkoordinationen, die abstrakte Konstitutionsregeln – das „Aufstreben des Neuen“ und das komplementre „Absterben des Veralteten“88 etwa – fr narrative Prozesse festlegen. Drittens schließlich begrndet der ,Kampf ums Dasein‘ ein Erzhlsystem, in dem sich ein fundierendes Narrativ in unterschiedlichen, gleichwohl verwandten Manifestationen realisiert, die allesamt Transkriptionen dieser Fundierungsebene bilden. In diesem Sinne hat Bçlsche an Zolas 1883 erschienenem Roman Au bonheur des dames ein „bereits mit Geschick durchgefhrt[es]“ „Motiv“89 ausgemacht, zu dem sich die Einzeltexte wie die Konstituenten eines Systems verhalten; insofern ist naturalistisches Erzhlen wiederholendes, analogisches Erzhlen, in dem sich ein Grundmythos vom Sinn der Moderne fortwhrend in seinen strukturierten Einzelrealisierungen ausspricht.90 Im Ergebnis zielt diese wiederholende Transkription auf ein naturalistisches Erzhlsystem, das das ltere, um 1880 freilich noch andauernde realistische Erzhlen auf spezifische Weise transformiert. Wenn die Erzhlordnungen des Realismus – zumindest im Programmhorizont des brgerlichen bzw. poetischen Realismus in Deutschland – darauf gerichtet waren, in den Vollzgen bei sich seiender Gemeinschaften, treuer Liebe und unermdlicher Arbeit noch einmal jene verborgene Totalitt hervortreten zu lassen, die die Moderne lngst beschdigt hatte,91 dann 87 Vgl. Jrgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. Mit einem Beitrag von Jochen Hçrisch und Hans-Georg Pott, Mnchen 1983, wobei Link primr semantisch-diskursive Komplexe im Sinne von „,Halbfabrikate[n]’“ (Ebd., 9) oder (objektsprachlich formuliert) „Ideen“ (Ebd., 76), und weniger Narrative im Sinne von Verlaufsmustern im Blick hat. 88 Bçlsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie [1887], 57. 89 Ebd., 58. 90 Vgl. fr die narrative Mikrostruktur am Beispiel Zolas die semiologische Analyse von Hans Vilmar Geppert: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzhlens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tbingen 1994, 134 f. 91 Vgl. Hermann Korte: Ordnung und Tabu. Studien zum poetischen Realismus, Bonn 1989.

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begegnet der Naturalismus dieser Moderne mit dem zwanghaften Versuch, in immer anderen narrativen Konfigurationen des Daseinskampfes das Gesetz ihrer Gegenwart zu veranschaulichen. Fast scheint es, als verberge sich in der Insistenz, mit der die Autoren des Naturalismus Bezug auf den ,Kampf ums Dasein‘ nehmen, die Hoffnung, in jeder weiteren Wiederholung des Erzhlschemas, in jeder Reminiszenz seiner Struktur, eine Art narrativer Angstbewltigung ins Werk zu setzen, die die Traumatisierungspotentiale dieser Moderne abschwcht und ertrglich macht. Fr das Verstndnis einer Literatur, deren „Grundformel“ wie bei Zola und Bçlsche in der Verbindung von „Naturwissenschaft und Artistik“92 besteht, ergibt sich die Frage, wie diese Konjunktion methodologisch gefasst werden kann. Versuche, das experimentelle Diskursmoment der naturalistischen Romanpoetik nicht als deren metaphorische ußerlichkeit zu entwerten, berzeugen dort, wo sie – wie im Falle Zolas – die produktionssthetische Dimension des naturalistischen Schreibens in der Einheit von description, observation und documentation betonen.93 Umgekehrt scheinen Versuche, den Zolaschen Physiologismus im „interventionistischen Wissenstypus“ der „,Normalisierungsdisziplin’“94 zu verankern, letztlich nur die Semantik des Ausgangsmaterials zu besttigen.95 Die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Sinn des Experimentalromans sind vor allem darin begrndet, dass sein sthetisch-poetologischer Legitimationsdiskurs, in dem die experimentaltheoretischen 92 Hans Schwerte: Deutsche Literatur im Wilhelminischen Zeitalter [1964]. in: Viktor Zˇmegacˇ (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Kçnigstein/ Ts. 1981, 2 – 17, 8. 93 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Zola im historischen Kontext. Fr eine neue Lektre des Rougon-Macquart-Zyklus, Mnchen 1978, 39. Dass es sich, wie Gumbrecht vermerkt, um „produktionseigene[] Theoreme[]“ (Ebd.) handelt, betonen auch Jutta Kolkenbrock-Netz: Fabrikation, Experiment, Schçpfung. Strategien sthetischer Legitimation im Naturalismus, Heidelberg 1981, 193 f. und unter minutiçser Rekonstruktion ihrer Einzelelemente Beschreibung, Beobachtung, Dokumentation Albers: Sehen und Wissen, 192 ff., 199 ff., 214 ff. 94 Vgl. Michael Gamper: Normalisierung/Denormalisierung, experimentell. Literarische Bevçlkerungsregulierung bei Emile Zola. In: Marcus Krause/Nicolas Pethes (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Wrzburg 2005, 149 – 168, 156 ff. 95 Vgl. den entsprechenden Versuch, Zolas Germinal als „Ablauf mit ungewissem Ausgang“ zu lesen, Ebd., 159 ff. Vgl. fr einen Nachvollzug der Zolaschen Position auch Hamacher: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert, 117 – 121.

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Analogiebildungen aufbewahrt sind, nicht einfach mit seiner narrativen Praxis identisch ist; von der Art seiner theoretisch-diskursiven Begrndung aus gibt es keinen unmittelbaren, jedenfalls nicht restlos gleichsinnigen Durchgriff auf die Struktur seiner narrativen Konstitution und seiner Schreibweise. Legitimatorischer Diskurs und Erzhlpraxis bilden, verkrzt gesagt, zwei unterschiedliche, wenn auch verwandte Dimensionen desselben Signifikanten. Bçlsches Naturwissenschaftliche Grundlagen tragen diese Spannung dadurch aus, dass sie das „Wort Experiment“ einerseits „im buchstblichen, wissenschaftlichen Sinne genommen“96 wissen wollen, andererseits die „Gesammtflle des modernen naturwissenschaftlichen Materials“ nur „unter dem bestndig beibehaltenen Gesichtspuncte der dichterischen Verwertung“97 zur Geltung bringen. Dieses Moment der „dichterischen Verwertung“ legt es nahe, das gesamte Projekt des Experimentalromans auf seine narrativen, und weniger auf seine methodologisch kaum sinnvoll zu elaborierenden wissenschaftlichen Implikationen hin zu lesen. Wenn die Rede vom Experimentalroman einen kohrenten Sinn besitzt, dann besteht er, zumindest im deutschen Rezeptionshorizont, darin, all die Vordergrndigkeiten, die sich in den Analogien von Literatur und Experiment, von Autor und observateur herstellen, in Kategorien des Narrativen zurckzuverwandeln. Wie noch zu zeigen sein wird, sind einer wissenschaftlichen Epistemologie des Experimentalromans in Deutschland durch den flchendeckenden Hegelianismus der Autoren ohnehin enge Grenzen gezogen. Entsprechend zielt Bçlsches Poetik des Experimentalromans auf einen epischen Determinismus, der eine Fundierungsebene, in die Annahmen ber ,Wesen‘ und Verlauf der Moderne eingelassen sind, mit einer Manifestationsebene, die diese Universalie veranschaulicht, relationiert.98 „Der soziale Roman“, so vermerkt ein Rezensent 1886, „hat die Aufgabe, uns das innere Gefge und Getriebe der Gesellschaft zu enthllen und damit die Gebilde, Erscheinungen und Gestalten, die sich auf der Oberflche der Gesellschaft bewegen, zu erklren.“99 Auf diesem Weg spricht sich im naturalistischen Roman eine ,Gesetzmßigkeit’ – und eben weniger der Autor oder der Erzhler – aus, die ihrer Realisierung im Einzeltext voraus liegt und die in jeder ihrer 96 97 98 99

Bçlsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie [1887], 7. Ebd. (m. Hervorhg). Vgl. Gumbrecht: Zola im historischen Kontext, 15 f. Wilhelm Blos: Der soziale Roman. Eine kritische Plauderei. In: Die Neue Zeit. Revue des geistigen und çffentlichen Lebens 4 (1886), 422 – 428, 423.

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Manifestationen wiederkehrt. Zolas eigene Formulierungen legen, durch den positivistisch-experimentellen Begrndungsdiskurs hindurch, diese narratologische Lesart in dem Maße nahe, wie der Experimentalroman nichts anderes umfasst, als die Transkription eines tiefenfundierenden „Determinismus“ auf der Ebene der histoire durch eine spezifische „Geschichte“100 auf der Ebene des discours. Das Prdikat des ,experimentellen‘ rechtfertigt sich nur insofern, als sich gegenber der fundierenden Determinationsebene variante Modalitten der Fiktionsbildung, d. h. der Gestaltung des discours abzeichnen sollen: Nun! Kommen wir jetzt auf den Roman zurck, sehen wir gleichfalls, dass der Romanschriftsteller aus einem Beobachter und einem Experimentator besteht. Der Beobachter in ihm gibt ihm die Tatsachen so, wie er sie beobachtet hat, setzt den Ausgangspunkt fest und stellt den festen Grund und Boden her, auf dem die Personen aufmarschieren und die Erscheinungen sich entwickeln kçnnen. Dann erscheint der Experimentator und bringt das Experiment zur Durchfhrung, d. h. er gibt den Personen ihre Bewegung in einer besonderen Handlung [besser: Geschichte, I.S.], um darin zu zeigen, dass die Aufeinanderfolge der Tatsachen dabei eine solche ist, wie sie der zur Untersuchung stehende Determinismus der Erscheinungen ist.101

Der experimentelle Akt des Experimentalromans besteht damit darin, eine prkonstruierte ,Hypothese‘ ber die determinierenden Energien des Sozialen durch eine Narration zu elaborieren, die diese Hypothese ,verifiziert‘ und im Prozess ihres Fortschreitens als deren inneren Sinn entfaltet.102 Und weil diese Struktur konstitutiv auf ihre Beglaubigung verwiesen ist, folgt der naturalistische Roman einer Logik der strukturellen Reminiszenz: Dass er ,alles sehen‘ und ,alles wissen‘ will,103 ist auch ein 100 Zola: Der Experimentalroman [1904], 13 f. Das franzçsische Original lautet: „Eh bien! en revenant au roman, nous voyons galement que le romancier est fait d’un observateur et d’un exprimentateur. L’observateur chez lui donne les faits tels qu’il les a observes, pose le point de depart, tablit le terrain solide sur lequel vont marcher les personages et se developer les phnom nes. Puis, l’exprimentateur para t et institute l’exprience, je veux dire fait mouvoir les personnages dans une historie particuli re, pour y montrer que la succession des faits y sera telle que l’exige le dterminisme des phnom nes mis l’tude.“ Zola: Le Roman exprimental [1879], 7 (m. Hervorhg). 101 Zola: Der Experimentalroman [1904], 13 f. 102 Vgl. Neuschfer: Populrromane im 19. Jahrhundert von Dumas bis Zola, 190; Albers: Sehen und Wissen, 220. 103 Vgl. Barbara Vinken: Zola – Alles Sehen, Alles Wissen, Alles Heilen. Der Fetischismus im Naturalismus. In: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beitrge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft, Wrzburg 1995, 212 – 226.

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Effekt seiner Wiederholbarkeit und seines fortwhrenden Nochmal-Erzhltwerdens.

2. Treibende Krfte. Mythisierungen des Willens bei Conrad Alberti Die bisherigen Ausfhrungen haben davon abgesehen, jene Unterschiede in Programmatik und narrativer Praxis zu markieren, die Zola von seinen deutschen Nachfolgern trennen. Unabhngig davon, ob sich Autoren wie Alberti und Kretzer, Conrad und Hollaender selbst als Zola-Nachfolger verstanden haben oder ob entsprechende Zuschreibungen Effekte ihrer Rezeptionsgeschichte sind, liegt ein Vergleich dennoch nahe, weil ihr Schreiben denselben epistemologischen Grundintentionen verpflichtet ist, wie sie auch Zolas monumentalen Rougon-Macquart-Zyklus prgen. Allerdings hat die jngere Zola-Forschung auf die inneren Diskontinuitten aufmerksam gemacht, die Zolas zyklische Gesamtkonzeption prgen und die sie im Vergleich zum deutschen Naturalismus nicht nur heterogener, sondern zugleich erheblich komplexer erscheinen lassen. Diese konzeptuellen Bruchstellen betreffen zunchst den Umstand, dass die vergleichsweise reduktionistischen Implikationen104 des roman exprimental der umfassenderen Wissenskonfiguration des Rougon-MacquartZyklus entgegenstehen. Hatte der roman exprimental sein Geschehen noch in der Doppelung von ,innerem‘ und ,ußerem Milieu‘ fundiert, so verknpft der Rougon-Macquart-Zyklus diachrone und synchrone Darstellungsmuster, etwa der Hereditt (Prosper Lucas) oder der Geschichte des Kaiserreichs, mit positivistischen Beschreibungsverfahren und tiefenmetaphysischen Universalien.105 Die genannten Bruchstellen betreffen zweitens den Umstand, dass die Einzeltexte des Zyklus in unterschiedlicher Weise auf dessen wissenschaftliche Prsuppositionen hin transparent sind. Kaum ein anderer Roman des Rougon-Macquart-Zyklus etwa besitzt ein derartiges Maß an epistemologischer Selbstexplikation wie sein 104 Vgl. Gumbrecht: Zola im historischen Kontext, 41; Elke Kaiser: Wissen und Erzhlen bei Zola. Wirklichkeitsmodellierung in den ,Rougon-Macquart’, Tbingen 1990, 42. 105 Vgl. mile Zola: Vorwort. In: Das Glck der Familie Rougon [1871]. Hg. von Rita Schober, Mnchen 1974, 5 f. sowie Gumbrecht: Zola im historischen Kontext, 48 – 56; Kaiser: Wissen und Erzhlen bei Zola; Walter Erhart: Familienmnner. ber den literarischen Ursprung moderner Mnnlichkeit, Mnchen 2001, 94.

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Schlussstck, und kaum einen anderen Roman Zolas hat die Forschung so nachhaltig mit dem Odium der sthetischen Unlesbarkeit umgeben wie den 1893 erschienenen Docteur Pascal. 106 Drittens besteht die Heterogenitt der Zolaschen Konzeption in den seit Georg Luk cs immer wieder vermerkten ,selbstdekonstruktiven‘ Zgen,107 mit denen die Einzeltexte durch ihre metaphorischen und beschreibenden Textanteile hindurch ihre epistemologische Fundierung destabilisieren. Texte wie Le ventre de Paris sind unterschwellig immer davon bedroht, ihren eigenen Fundierungszusammenhang zu verfehlen, weil Zolas Milieudarstellungen eine eigensinnige Semiose anstoßen und damit all jene Katachresen und tropischen Entstellungen produzieren, die nur schwach durch die auktoriale Koordination kontrolliert werden kçnnen. Zumal in der fortwhrenden Produktion von Gerchten und Legenden, mit der der Text seine willensschwache Hauptfigur Florent umstellt, realisiert das Erzhlen ,disseminierende‘ Zeichen, die hinsichtlich des fundierenden Mythos – der bataille der gras gegen die maigre – so lange intransparent bleiben, bis sie der Erzhler gegen Ende mit der eigentlichen Teleologie der Erzhlung zur Deckung bringt.108 Der Seitenblick auf Zola ist an dieser Stelle erforderlich, weil er die anders gelagerten Erzhlvoraussetzungen des deutschen Naturalismus kenntlich macht. Denn anders als Zola verstricken sich die Romane Max Kretzers, Conrad Albertis oder Felix Hollaenders nicht in eine narrative Bewegung, die ihren Fundierungsmythos durch den Trbstoff ihrer Metaphorik verdecken wrde. In einem przisen Sinn handelt es sich vielmehr um berdeterminierte Erzhlstrukturen, die jeden Erzhlakt auf seine Fundierungsmomente hin transparent werden lassen, gleich, ob dies textimmanent mit Bezug auf eine mythische Tiefenstruktur geschieht oder mit Blick auf eine vom Text-Außen her rekonstruierbare Kopplung 106 Vgl. Erhart: Familienmnner, 94 f. und 114 ff. sowie zur ,sthetischen Unlesbarkeit‘ des Textes Rainer Warning: Kompensatorische Bilder einer ,wilden Ontologie’: Zolas ,Rougon-Macquart’. In: Ders.: Die Phantasie der Realisten. Mnchen 1999, 240 – 268, 268. 107 Vgl. Georg Luk cs: Erzhlen oder Beschreiben? [1936]. In: Ders.: Werke. Bd. 4. Probleme des Realismus I. Essays ber Realismus. Neuwied, Berlin 1971, 197 – 242. Luk cs‘ materialistische Kritik richtet sich auf den hohen Anteil von Beschreibungen, die Luk cs als Ausdruck einer historischen Krise des Erzhlens verstand. Luk cs‘ Beobachtungen sind in der Folgezeit narratologisch differenziert oder im Kontext von Zolas ,Impressionismus‘ gelesen worden. Vgl. etwa Efim Etkind: Beschreibung und Symphonismus (Der Roman ,Le Ventre de Paris’). In: Beitrge zur romanischen Philologie 7 (1968), 205 – 222. 108 Vgl. Albers: Sehen und Wissen, 185 ff.

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an das energetische Diskursfeld der Zeit. Wenn sich der analytische Sinn eines naturalistischen Erzhlsystems auch daher an Zola bewhren soll, dann wird man ihn darin sehen drfen, dass sich das ,Erzhlsystem Zola‘ gerade durch eine Emergenz all der dysfunktionalen Erzhlmomente – die hypertrophe Beschreibung, das ganze Feld der „folie rhtorique“109 – konstituiert, die die systemische Schließung zwischen den epistemologischen Prmissen der Erzhlung und dem rcit selbst (punktuell) verhindern: ,System‘ ist Zolas Erzhlen nur in den Momenten seiner Entstellung und Verfehlung, die den Augenblick seiner textuellen Schließung aussetzen. „Zolas Phantasie“, so hatte Rainer Warning ber die ,wilde Ontologie‘ Zolas vermerkt, „ist wesentlich eine Transgressionsphantasie, die Grenzen nur evoziert, um sie in ihrer berschreitung verschwinden zu lassen.“110 Man mag, wie Michel Serres, in dieser transgressiven Poetik den thermodynamischen ,Motor‘ sehen, der Zolas Texte als Narrative der Bewegung, der Kraft, des Lebens und der Energie antreibt. Sie schaffen fluktuierende Grenzen, Risse, Transpositionen und Umbesetzungen in dem, was der Zolasche Naturalismus als Wahrheit seiner beobachtenden und dokumentarischen Praktiken verbrgt: „l’application de vrit explose en myriades au hasard“111. Auch dieser Befund ist dazu geeignet, die Spezifik des deutschsprachigen Diskursfeldes gegenber dem Zolaschen Naturalismus hervorzuheben. Denn anders als es Michel Serres nahe legt, wirken die thermodynamischen Konzepte von Energie und Kraft nicht prinzipiell als transgressive Potentiale, die die Texte fortwhrend ,entgrenzen‘. Vielmehr realisiert der naturalistische Roman einen eigentmlichen Proto-Vitalismus, der noch auf seiner Kehrseite, d. h. in den Phnomenen der Schwche und der Ermdung, denselben energetischen Monismus sichtbar werden lsst, der den Erzhldiskurs bestimmt. Darin folgt er der Annahme einer „Ursprungswelt“112, in der ,reine‘ Energien 109 Henri Mitterand: La drive des figures dans ,Germinal’. In: Ders.: Le discours du roman, Paris 1980, 230 – 241, 240. Vgl. auch Thomas Stçber: Vitalistische Energetik und literarische Transgression im franzçsischen Realismus-Naturalismus. Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola, Tbingen 2006, 126 ff. 110 Warning: Kompensatorische Bilder einer ,wilden Ontologie’, 244. Vgl. auch Klaus-Dieter Ertler: Naturalismus und Gegennaturalismus in Frankreich. Das literarische System und seine Schwellen. In: Romanische Forschungen 117 (2005), 194 – 204, 198. 111 Michel Serres: Feux es signaux de brume. Zola, Paris 1975, 26. 112 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 [1983]. bers. von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt/M. 1989, 172.

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wirken, die sich im Erzhldiskurs zu ,Starken‘ und ,Schwachen‘, zu ,Siegern‘ und ,Verlierern‘ auskonfigurieren. Wie das Verhltnis von Ursprungsenergie und Ableitungswelt beschaffen ist, dokumentiert mit grçßter Prgnanz Conrad Albertis sechsteiliger Romanzyklus Der Kampf ums Dasein. 113 Die sechs Teile sind als Versuch zu lesen, ein panoramatisches Bild der grnderzeitlichen Wirklichkeit zu entwerfen, in dem jeder Einzeltext einen anderen Schauplatz des im Zyklus ausgestellten „Grundgesetzes“114 aufsucht. Dieses Grundgesetz des Daseinskampfes wirkt in smtlichen Sphren der modernen Gesellschaft – im Kunst- und Kulturbetrieb (Die Alten und die Jungen), in den Konjunkturen des Geschftslebens (Mode), im Kampf um die Verbesserung der modernen Arbeits- und Produktionsbedingungen (Maschinen), im Konflikt zwischen ehrenwertem Handwerk und der ,charakterlosen‘ Großfinanz (Schrçter&Co) oder in den Lebenslgen der Liebe (Das Recht auf Liebe). Auffllig ist, dass die erzhlerische Intensitt im Verlauf der sechs Bnde sprbar nachlsst; die Teile fnf und sechs, die kaum noch eigenstndige fiktionale Entwrfe prsentieren, bilden lediglich Transpositionen von Vorgngertexten. Schrçter&Co lsst bereits im Titel Gustav Freytags Soll und Haben durchscheinen, whrend Maschinen erkennbar den Hauptmannschen Webern nachempfunden ist. Dieses Erlahmen der erzhlerischen Energien ist ein Grundzug der naturalistischen Romanprojekte, dem im Einzelnen recht unterschiedliche Ursachen zu Grunde liegen. Sieht man davon ab, dass die Umorientierungen des literarischen Feldes um 1900 den naturalistischen Ansprchen an Aktualitt und Zeitnhe allmhlich die Grundlagen entziehen, so dokumentiert der Fall Alberti vor allem eine kaum verhohlene Affinitt zur Tendenzliteratur,115 die den Verzicht auf eigenstndige Fiktionen und den ausgeprgten moralischen Impuls der Texte erklren. In ihnen sollen – wenn auch nicht mit der Schonungslosigkeit und rhetorischen Hypertrophie Conrads – die moralischen Verworfenheiten des neuen Reichs hervortreten. Die grçßten epischen Energien besitzen demgegenber die ersten beiden Teile des Zyklus. Noch ohne die Beschrnkungen der spteren 113 Vgl. Conrad Alberti: Wer ist der Strkere? (1888); Die Alten und die Jungen (1889); Das Recht auf Liebe (1890); Mode (1892); Schrçter & Co. (1893); Maschinen (1895). 114 Conrad Alberti: Mode. Roman, Berlin 1893, Statt einer Vorrede, unpag. 115 Vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900. Von der Reichsgrndung bis zur Jahrhundertwende, Mnchen 1998, 380 f.

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Texte realisieren sie die spezifische Ausprgung des sozialen Romans im deutschen Naturalismus. Entsprechend zielen sie zunchst auf eine Totalerfassung sozialer, çkonomischer und politischer Realien. Albertis Romane sind Texte dinglicher und phnomenaler Flle, die den Sinngehalt ihres fundierenden Narrativs dadurch realisieren, dass sie Großstadt- und Moderneerfahrung miteinander verbinden. In dieser metonymischen Bezglichkeit werden die leitenden Energien der Moderne wahrnehmbar: als Serie von Klassenkonflikten und Arbeitskmpfen, als Zusammenhang von wirtschaftlichen Interessen und ffentlichkeit, als tief greifende ,physiognomische‘ Vernderungen des Stadtbilds und der Wohnviertel, nicht zuletzt als Formierung von politischen, çkonomischen und wissenschaftlichen Cliquen, die ein labiles System von Patronage und Nichtbeachtung errichten. Das entsprechende Erzhlprogramm hat Alberti erst 1892, mit Erscheinen des fnften Bandes seines Zyklus, ausgearbeitet. Albertis Formulierungen lassen die Nhe zu Zola deutlich erkennen, machen aber auch sichtbar, welche epistemologischen Konfigurationen der Zolaschen histoire naturelle et sociale Alberti verschlossen bleiben. Weder kommt es in der programmatischen Synchronie des Erzhlens zu einer Verschrnkung mit diachronen Mustern, noch zu einer Herleitung der erzhlten Verhltnisse aus einer hereditren oder degenereszenten Geschichte. „Zweck und Inhalt“ des Zyklus zielen vielmehr auf eine zergliedernde Darstellung der geistigen Strçmungen und Mchte […], welche die menschliche Gesellschaft begrnden und zusammenhalten. Die Zusammensetzung und Eintheilung, kurz der ußere Mechanismus der Gesellschaft, sind von Grçßen – ich nenne nur Thackeray, Balzac und Zola – so eingehend geschildert worden, daß wir sie nunmehr bis in die kleinste Einzelheit kennen. Noch fehlt aber eine D y n a m i k der menschlichen Gesellschaft, ein Werk, welches […] die geistigen Krfte klarlegt, welche in der lebendigen Gesellschaft walten, […] und das uns diese geistigen Krfte einzeln und in Zusammenspielen, gleichsam im vollen Betriebe vorfhrt. Das ist […] der Plan meines Werks. Ich nenne es „Der Kampf ums Dasein“, weil ich den Kampf ums Dasein als die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens, seinen Erzeuger, Erhalter, Fortbildner ansehe. Aus ihm leiten sich alle die andern geistigen Potenzen ab, welche das gesellschaftliche Leben regeln.116

Das gesamte Erzhlprogramm, das Alberti ber die Konstituenten seines Romanzyklus breitet, entspricht den Strukturbedingungen des naturalistischen Erzhlens. Schon die herbeizitierte Traditionslinie von Tha116 Alberti: Mode [1892], Statt einer Vorrede, unpag.

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ckeray ber Balzac zu Zola soll dies bezeugen, wenn auch Balzac und Zola in Albertis Augen bislang nur den „ußere[n] Mechanismus der Gesellschaft“ aufgesucht haben, ohne ihn auf seine innere Gesetzmßigkeit hin zu berschreiten. Zu Grunde liegt auch bei Alberti das „ewige[] Gesetz[]“117 des ,Kampfes ums Dasein‘, das sich durch die einzelnen Konstituenten des zyklischen Erzhlens hindurch in immer „nur […] vernderte[r], verfeinerte[r] Abwandlung“118 zeigt. So stellt sich die discours-Ebene des Textes durchgngig als Feld fest gefgter Antinomien und Differenzen dar. Vor allem der erste Teil des Zyklus, Wer ist der Strkere?, macht deutlich, dass der soziale Roman seinen Gegenstand vor allem dadurch bewltigt, dass er das Soziale in eine Topographie symbolischer Gegenstze und orientierender Unterscheidungen bersetzt.119 Gesellschaft ist im sozialen Roman ein Feld scharf konturierter Teilmilieus, die sich in ihrer Summe zu einer geordneten Ganzheit zusammenfgen. Der Text realisiert dieses panoramatische Nebeneinander der sozialen Milieus durch ein stellvertretendes Erzhlen, in dem je ein Protagonist – der Architekt Hilgers, der Mediziner Breitinger und der Offizier Fhringhausen – die Interessenlagen eines sozialen Segments – Arbeiterschaft, brgerlicher Akademiker und Adel – vertritt und sie mit emphatischen Werten – Gerechtigkeit, Wahrheit, Liebe – besetzt. Narrativiert wird diese axiologische Struktur dadurch, dass der ,Kampf ums Dasein‘ den Erzhlprozess paradigmatisch und syntagmatisch durchdringt. Auf der paradigmatischen Achse verknpft er die vordergrndig heterogenen Lebenslufe der drei Protagonisten durch die hnlichkeit ihres Verlaufssinns. Auch wenn sich die drei Figuren durch heterogene Teilmilieus bewegen und unterschiedlichen Wertbesetzungen folgen, ruhen ihre Schicksale doch auf demselben gesetzhaften Substrat des modernen Lebens. Auf der syntagmatischen Ebene koordi117 Ebd. 118 Ebd. 119 Vgl. zum Folgenden Christof Forderer: Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen zwischen Naturalismus und Moderne, Wiesbaden 1992, 107 ff. Vgl. auch die historische Typologie von Stadtdarstellungen bei Klaus R. Scherpe: Von der erzhlten Stadt zur Stadterzhlung. Der Großstadtdiskurs in Alfred Dçblins ,Berlin Alexanderplatz’. In: Jrgen Fohrmann/Harro Mller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1988, 418 – 437, 422 sowie ders.: Ausdruck, Funktion, Medium. Transformationen der Großstadterzhlung in der deutschen Literatur der Moderne. In: Gçtz Großklaus/Eberhart Lmmert (Hg.): Literatur in einer industriellen Kultur, Stuttgart 1989, 139 – 161, 146.

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niert der ,Kampf ums Dasein‘ die Ereignisverknpfung im Nacheinander, indem er seine gesamte Sinnwelt auf Verlufe von Sieg und Niederlage hin orientiert. Zudem ordnet sich der stdtische Raum entlang von Stadtterrains, die dem historischen Berlin um 1890 recht genau entsprechen und sein soziales Panorama in proletarische und ,vornehme‘ Teilidentitten ausfalten.120 Mittelpunkt all dieser Einzelmilieus ist der Salon des Bauunternehmers Semisch, in dem – analog zur Semiotik seines Leitmediums Geld – eine fortwhrende ,Berhrung‘ und ,bertragung‘ der Milieus stattfindet. Vor allem die glanzvollen Soireen der guten Gesellschaft, zumal dort, wo auch die soziale Periphere, vor allem das assimilierte Judentum, Zutritt zu ihnen hat, gestalten sich zunchst wie ein Aufmarsch der unterschiedlichen Teilmilieus, um schließlich in Kontakt miteinander zu treten.121 Entsprechend erscheint der stdtische Raum als unmittelbarer Bedeutungstrger. Auch aus diesem Grund ist die Stadt einer Sprache zugnglich, die sich noch vollstndig gegen die fragmentierenden Erfahrungen spterer Großstadtdarstellungen – etwa des Expressionismus – verschließt und die daher fortlaufend architektonische Ensembles ,zeigt‘, die sich im Blick des Erzhlers zu Sinnbildern des fundierenden Narrativs zusammenfgen:122 Und hier, rings eng umbaut von den hohen steinernen Quadern eines dieser bis zum Boden mit Schtzen gefllten Kaufpalste, lag wie ein Maulwurf in den Krallen des Lçwen, ein schmaler, niedrer, ruchiger Laden […], der letzte Rest des alten, kleinen, schmutzigen Gebudes, das vordem auf diesem Platze gestanden. Auf dem Scheine seines Vertrages fußend hatte der Miether sich geweigert die jmmerliche Bude zu verlassen und gemeint dadurch den Bau des ganzen Palastes aufzuhalten – aber lchelnd war die neue Zeit ber seine Weigerung hinweggeschritten […]. Wer will standhalten gegen das gewaltige Andringen der neuen Zeit, gegen den Strom der Wahrheit, des Lichtes?123

Die zitierte Stelle markiert einen Topos naturalistischer Großstadtdarstellungen.124 In der veranschaulichten „neuen Zeit“, die ungerhrt ber 120 121 122 123 124

Vgl. Forderer: Die Großstadt im Roman, 110 f. Vgl. Alberti: Wer ist der Strkere? [1888], I, 91 ff. Vgl. zu diesem Darstellungstyp Scherpe: Ausdruck, Funktion, Medium, 147. Alberti: Wer ist der Strkere? [1888], II, 7 f. Archetyp dieses Topos ist Zolas 1883 erschienener Roman Au bonheur des dames, der den Untergang des stdtischen Kleinhandwerks in hnlicher Weise veranschaulicht. „Denise“, heißt es zu Beginn ber die Werkstatt des alten Bourras, „berraschte das Haus […] mehr als alle andere[n]: ein bauflliges Huschen, eingezwngt zwischen dem ,Paradies der Damen‘ und einem großen vornehmen

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das Beharren des Alten hinweg schreitet, ordnen sich die architektonischen Zeichen zu Ausdruckstrgern eines existenziellen Kampfes, der aus der Struktur der stdtischen Zeichen nicht eigentlich herleitbar ist. In gewisser Weise liegt das Signifikat der Erzhlung den Signifikanten der Großstadt immer schon voraus liegt. Unabhngig davon, in welchem Maße sich die erzhlte Phnomenwelt dem sprachlich realisierten Sinn der Erzhlung adaptiert – jedes Teilmoment der Stadt bringt eine signifikative Dimension zum Ausdruck, der sich die Signifikanten grundstzlich anzupassen haben. Den Eindruck, dass sich die Großstadt in „rstigen Vorwrtsstreben“125 befindet und dass berall „Bewegung, Leben“ und „echte Kraft sich emporringen“126, leitet der Text nicht aus einlsslichen Beobachtungen und Beschreibungen in der Art Zolas her, sondern aus seinem Erzhlprogramm, das sich unmittelbar, notfalls an der Phnomenwelt vorbei, in einen rhetorischen Ausdruck umsetzt. Nichts gibt es daher im Blick des Erzhlers, was sich nicht als Manifestation des modernen Lebensgesetzes identifizieren ließe. „Jeder“, heißt es in Wer ist der Strkere?, „suchte hier Erfolge, jeder jagte dem Glck nach, jeder kmpfte sich in anhaltendem Streben empor.“127 Im ,Gesetz‘ dieses Erzhlens liegt es zudem beschlossen, dass die Figuren der erzhlten Welt von einer geradezu provokanten Simplizitt sind. Weil der Text seine Figuren vollstndig mit ihren Willensenergien Privatbau im Louis-quatorze-Stil, auf unbegreifliche Weise in diesen Spalt geraten, in dem seine zwei niedrigen Stockwerke fast erdrckt wurden.“ mile Zola: Das Paradies der Damen. Roman [1883]. Aus dem Franzçsischen von Hilde Westphal. Mit einem Nachwort von Gertrud Lehnert, Frankfurt/M. 2004, 27. [„Denise donna un coup d’œil aux vitrines de la boutique, o les parapluies et les cannes s’alignaient par files rguli res. Mais elle leva les yeux, et la maison surtout l’tonna: une masure prise entre le Bonheur des Dames et un grand hotel Louis XIV, pousse on ne savait comment dans cette fente troit, au fond de laquelle ses deux tages bas s’crasaient.“ mile Zola: Au bonheur des dames [1883]. In: Ders.: Œuvres completes. dition tablie sous la direction de Henri Mitterand. Tome quatri me, Paris 1967, 709 – 1043, 723]. Eine weitere Reminiszenz des Motivs findet sich in Max Kretzers Roman Meister Timpe. Vgl. Kretzer: Meister Timpe [1888], 120: „Timpes Haus nahm sich […] wie ein stçrender Punkt in der Umgebung aus, wie ein alter Sonderling, der der Neuerung trotzt: vorn der freie Platz, begrenzt von den Neubauten der Holzmarktstraße, und hinten die roten Backsteingebude der Fabrik, berragt von dem Schornstein, der Siegessule der modernen Industrie.“ Vgl. auch Ebd., 173. Zum Motiv vgl. auch Kap. IV. 125 Alberti: Wer ist der Strkere? [1888], II, 3. 126 Ebd., II, 3 bzw. 5. 127 Ebd., II, 4.

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identifiziert, zeigt sich der naturalistische Roman so außerordentlich sprçde gegenber den Mçglichkeiten des psychologischen Erzhlens. „Sie hatte sich einmal ein Ziel gesetzt“, heißt es ber Lucie Semisch, die in die gute Gesellschaft Berlins aufsteigt, „und das wollte sie mit allen Mitteln erreichen.“128 Individualschicksale dieser Art, die der Text hufig auf dem Weg analeptischer Rckblicke rekonstruiert, bedienen sich erkennbar Muster des Bildungsromans, die das angestammte Bildungsprogramm durch Projekte des sozialen Aufstiegs ersetzen; ein Beleg dafr, dass der Naturalismus die Teleologie des romanhaften Erzhlens recht abrupt verndert. „Aber er wollte ihn“, resmiert der Erzhler Fhringhausens Absichten im Blick auf seinen Konkurrenten, „befehden mit den strksten Waffen, die ihm zu Gebote standen! […] Nun wohl, die Zukunft mußte zeigen, wer der Strkere war!“129 Fr Fhringhausen wie fr Semisch besitzt der Daseinskampf eine doppelte Dimension. Isoliert betrachtet und aus dem Nebeneinander der Erzhlstrnge gelçst, liest sich ihr Schicksal wie die Selbstauslieferung an eine erotisch bermchtige Frau, aus deren Bann sich der unterlegene Mann nur durch Flucht zu lçsen vermag. Auf diesem Weg hat der soziale Roman des Naturalismus bereits Anteil an jener Anthropologie der femme fatale, die das Fin de sicle prgen und seinen Mnnern immer weitere Autorittsverluste zufgen wird.130 Fhringhausen wie Semisch erleben ihre erotischen Verstrickungen entsprechend wie entropische Selbstverluste, zumal der Text im Bild eines hysterischen Mannes die suberliche Trennung der Geschlechterpathologien erkennbar durchbricht: [S]o oft er [Semisch, I.S.] vor ihr stand, waren ihm Energie, Klugheit, Berechnung in Luft zerronnen […] – dann fhlte er sein Blut sieden und pochend an seine Schlfen schlagen, die Nerven seiner Finger, seiner Kniee erzittern, er war ein armer, kraftloser, stummer Knabe, und fand seinen Willen […] erst wieder, so wie die Thr ihn dem dmonischen Funkeln ihrer Augen entzogen. […] Er bestrkte sich innerlich, fest zu bleiben, er wollte sich als Mann erweisen […], durch energisches Auftreten die Herrschaft ber sie […] gewinnen. […] Und wie Semisch‘ Auge diese Linien erblickte, diese ppigen, krftigen Formen, wie der berauschende Hauch der Sinnlichkeit, der von dieser Frau ausging, seine Nerven zittern machte, nahm der drohende Ausdruck seines Blickes zuerst sanftere, dann immer glhendere Farben an. […] … Plçtzlich entrang sich ein lauter Seufzer seiner Brust, Thrnen strzten aus seinen Augen, abgebrochene, stçhnende Laute ent128 Ebd., I, 45. 129 Ebd., I, 269 f. 130 Vgl. Jens Malte Fischer: Fin de si cle. Kommentar zu einer Epoche, Mnchen 1978, 59.

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flohen seiner Kehle […] wie trunken strzte er auf sie zu […] und brach dann zu ihren Fßen zusammen […]. Er lag vor ihr, sein Kçrper bumte und krmmte sich in nervçsen Zuckungen, er umfaßte ihre Kniee, ksste ihr Kleid und schluchzte unaufhçrlich.131

Stellen wie diese belegen, dass der ,Kampf ums Dasein‘ noch die Innenrume des Boudoirs erobert und seine intendierte Welthaltigkeit zugleich auf den Maßstab intimer Dramen reduziert. Auf der anderen Seite entwickelt dieser neue Erzhltypus einen bemerkenswerten Blick fr jene stdtischen Mikrogesellschaften, in denen die „persçnlichen Interessen“ ein ubiquitres „System des gegenseitigen Sttzens und Emporhebens“132 hervorbringen. Ihm gilt das geballte Ressentiment des naturalistischen Erzhlers, der erkennbar durch die Wahrnehmung solcher Figuren hindurch spricht, die, wie der Mediziner Breitinger, zu den Unterlegenen im Daseinskampf gehçren: Allmhlich schien in dem Kopfe des Gelehrten [d.i. Breitinger, I.S.] […] eine leise Ahnung aufzudmmern von dem Zusammenhang der einzelnen Kreise, von dem System des gegenseitigen Sttzens und Emporhebens, von diesem ganzen ungeheuren Getriebe, welches die eine Feder zusammenhielt und leitete: das persçnliche Interesse. Wie das des Einzelnen vernietet und verknpft ist mit dem aller andern Glieder desselben Kreises, und wie Der sogleich alle Glieder gegen sich in Waffen ruft, welcher […] ein einziges zu verletzen droht, um den großen Kreis zu erweitern, der alle jenen kleinen um die eignen Mittelpunkte gelagerten Kreissysteme umfasst!133

Was diese kleinen konomien der sozialen „Kreise“ und „Ringe“134 nach innen bindet, sind Beziehungsmodi, in denen die geschlossenen Allianzen jederzeit aufgekndigt und neu hergestellt werden kçnnen. Darin sind sie Signaturen einer grnderzeitlichen Gesellschaft, die im Geld und im Vertrag die ihr adquaten Bindungsweisen erblickt – Bindungsweisen, die selbst nur der unsichtbaren Triebkraft einer in die Sphre des konomischen gewendeten Energie folgen. Entsprechend figuriert das ganze form- und gestaltlose Getriebe dieser ewigen bertragung im Bild der Bçrse. Sie stellt, nimmt man den Blick des Erzhlers zum Maßstab, einen Schauplatz dar, auf dem sich der Daseinskampf in der Anschauung der entfesselten çkonomischen Energien und des fluktuierenden Kapitals gerade in der Ununterscheidbarkeit der Individuen und Gestalten zeigt. Dass auch hier, wie in den Ausdrucksgebrden der stdtischen Ensembles, 131 132 133 134

Alberti: Wer ist der Strkere? [1888], II, 49 und I, 266 f. Ebd., I, 171. Ebd. Ebd., I, 37.

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ein existenzieller „Krieg“135 gefhrt wird, kommt in der momenthaften Krise einer Wahrnehmung zum Ausdruck, die schlechterdings nichts mehr unterscheiden kann: [D]a unten wimmelte es in unendlicher, ewig sich erneuernder Flle. Da stieß und drngte es sich, vereinigte sich zu dicken, schwarzen Klumpen und trennte sich wieder wie in einem Berge von Riesenameisen […]. Das krabbelte und wibbelte und hetzte sich durcheinander, daß die Augen weh thaten, das toste, schrie, kreischte, daß die Ohren schmerzten. Und Alle so schwarz, so unbestimmt und massig; die Gestalt, die Stimme des Einzelnen gingen vçllig unter in diesem Toben und Treiben […]. Das konnte keines Menschen Nerven auf die Dauer ertragen, dieses Jagen und Toben ringsum, dieses Rennen und Stoßen, dieses unablssige Befehlen und Zurcknehmen, diesen fortwhrenden Krieg von fnftausend Menschen gegen einander, Alle gegen Einen – Einer gegen Alle.136

,Bilder‘ dieser Art sind recht unmittelbare Umsetzungen eines ebenso populren wie trivialisierten Schopenhauer-Verstndnisses, zumal in ihnen das buchstbliche ,Hasten und Jagen‘ der Grnderzeit zum Ausdruck kommt. Zugleich aber sind sie Manifestationen einer fundierenden Energie, die im sozialen Roman in einer systematisch zu nennenden Weise in bildgebende Verfahren, d. h. in Modalitten emblematischer oder allegorischer ,Veranschaulichung‘, drngt. Sie sind erkennbar darauf gerichtet, den Willen als bewegendes Prinzip des Erzhlprozesses gewissermaßen zu vergegenstndlichen und die zeichenhaften Oberflchen des Stadtraums zu entsprechenden Funktionen der Hypostasierung umzubilden. Diese hypostasierende Tendenz stellen Albertis Romane durch semantische Markierungen her, die die Stadt alternierend in nur zwei ,Zustnden‘ zeigen. Einerseits figuriert die Stadt als Raum der unbndigen Energie, der produktiven Hast und Betriebsamkeit, als Exzellierplatz des Willens, der die Reichtmer, die sie ihm gewhrt, unablssig vermehrt. Wenn der Mediziner Breitinger zu Beginn des zweiten Teils von Wer ist der Strkere? durch Berlin schreitet, tritt ihm nicht eigentlich ein stdtischer Raum entgegen, sondern eine emblematische Struktur, als deren subscriptio Energie und Kraft, Bewegung und Vitalitt als reine Qualitten hervortreten: Wie geblendet von der Herrlichkeit dieses weiten ausgedehnten Bildes hielt Breitinger den Fuß an. Ueberall, wohin er blickte, Bewegung, Leben, rstiges Vorwrtsstreben, berall der Kampf des eindringenden besseren Neuen 135 Conrad Alberti: Schrçter&Co. Roman, Leipzig 1893, 78. 136 Ebd., 78 f.

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gegen das staubig gewordene Alte! […] Jeder suchte hier Erfolge, jeder jagte dem Glck nach, jeder kmpfte sich in anhaltendem Streben empor, klammerte sich mit allen Krften an die Planken, die auf dem Ocean des Lebens umherschwammen, und rang sich gegen Wind und Wellen durch bis zur Kste […]. Ueberall siegte die Kraft, der Muth, die Ausdauer, die Emsigkeit […]. Er schritt weiter. Im hellsten, freudigsten Sonnenschein lag Berlin vor ihm, wie eine geschmckte Braut. Welch eine wunderbare, gewaltige Stadt, welch ein Kmpfen, Streben, Arbeiten allenthalben! Nur hier konnte wahres Verdienst, echte Kraft sich emporringen, zu der Stelle, die ihr gebrte!137

Solchen Bildern der reinen Energie stehen andererseits Bilder entropischer Verausgabung und Erstarrung entgegen. In einem Moment, in dem Breitingers berufliche Plne an der beharrlichen Ignoranz des akademischen Betriebs scheitern, transformiert sich die Stadt in einen Zeichenraum der Ermdung und der gebremsten Energie. Statt energetischer Produktivitt und reprsentativer Architektur wohnt der Leser einem Gang durch eine Architektur bei, die nur ihre planen Formen und verfallenden, kraftlos gewordenen Außenflchen sehen lsst: In schmutzigem Blaugrau schimmerte der Himmel hernieder, stechend brannte die Sonne, die mit falschen Blicken auf das ungeheure Husermeer Berlins hinunterschaute, die Granitplatten der Straßendmme, die Schieferdcher der himmelhohen Kaufhuser warfen die Gluthstrahlen unwillig zurck, der Kalkputz sprang von den Wnden, der Asphalt der Fahrdmme bltterte sich in kleinen Plttchen ab. […] Die Jannowitzbrcke, die Alexanderstraße, durch die sich die Wogen des Weltstadtverkehrs sonst besonders wlzten, lagen da wie die Gassen Pompejis, lautlos, menschenleer […] und selbst die Zge der Stadtbahn schienen heut schwerflliger auf ihrem hohen Damme entlangzurollen.138

Trotz der Simplizitt des Textes berlagern sich in ihm mehrere Erzhlfunktionen. Zunchst reproduziert die Passage einen genuin naturalistischen Typus der Stadtdarstellung. Seine zerspaltene Affektlage markiert gerade keine Individualerfahrung, sondern – bedenkt man die mehrheitlich nichturbane Herkunft der relevanten Autoren – viel eher ein generationelles Bewusstsein;139 fast alle Naturalisten schreiben diese von Neubeginn und Angst, von Beglckung und Trauma zugleich geprgte

137 Alberti: Wer ist der Strkere? [1888], II, 3 ff. 138 Ebd., II, 116 f. 139 Vgl. Jrgen Schutte/Peter Sprengel: Einleitung. In: Dies. (Hg): Die Berliner Moderne 1885 – 1914. Mit 60 Abbildungen, Stuttgart 1987, 13 – 94, 16.

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Stadttopik in ihre Texte ein.140 Sodann verdeutlichen die zitierten Passagen, in welchem Maße Großstadtdarstellung und Daseinskampf funktional ineinander greifen. Weitgehend unvermittelt kann nmlich „von der Ebene des Stadtbezugs auf die Ebene des Protagonistenbezugs gewechselt werden“141, weil die im ,Bild‘ versammelten architektonischen Zeichen und das Figurenbewusstsein denselben energetischen Zustnden folgen. Entsprechend durchwandern die Figuren einen Stadtraum, dessen Zeichen der internen Fokalisation entsprechen und der je nach dem erreichten Erzhlstand eine Architektur der Energie oder der Ermdung ,zeigt‘. Vor allem aber verschafft die Narration ihrem Willensgehalt auf diesem Weg stoffliche Ausdrucksqualitten, die sich zu stehenden Sinnbildern und erinnerungsfhigen Tableaus verdichten. Dabei handelt es sich in gewisser Weise um dysfunktionale Elemente, weil sie sich gegenber dem fortschreitenden Erzhlprozess tendenziell verselbstndigen und noch dort, wo sie Bewegung, Energie, Vitalitt symbolisieren sollen, Zge eines Tableaus gewinnen, das in seinen inneren Bezglichkeiten nicht eigentlich erzhlt werden kann. Auch wenn sie dem Erzhlprozess Momente von „signalartiger Deutlichkeit“142 verschaffen, wirken diese ,Embleme‘ wie Prparate einer begrifflichen Abstraktion, deren sinnbildhafte Abschließung ihrer Erzhlbarkeit zuwiderluft. Komplikationen dieser Art verweisen auf grundstzliche und tiefer liegende narrative und semiologische Probleme. Prziser formuliert deuten sie auf eine Zeichenordnung, die sich der Axiomatik von Ursprungsund Ableitungswelt, von ,prexistentem‘ Signifikat und ,sekundrem Signifikanten‘ tendenziell entzieht. Vielmehr folgt die Sinnkonstitution der Texte an diesen Stellen einer Zeichenordnung, in der denotative und konnotative Funktionen nach dem Muster einer Semiologie ineinander greifen, die Roland Barthes als Semiologie der Mythen beschrieben hat.143 Innerhalb der zitierten ,Sinnbilder‘ bilden die Zeichen, die der tiefenepistemologischen Struktur des Romans gemß eigentlich den Status 140 Vgl. die Erinnerungen Hauptmanns in Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend [1937]. In: Ders.: Smtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass. Bd. 7: Autobiographisches, Darmstadt 1962 [Centenar-Ausgabe Bd. 7], 451 – 1082, 1047. Insbesondere die naturalistische (Großstadt-)Lyrik besitzt in dieser Hinsicht ausgeprgt topische Zge. Vgl. fr einen berblick die Textsammlung von Jrgen Schutte (Hg.): Lyrik des Naturalismus, Stuttgart 1982. 141 Forderer: Die Großstadt im Roman, 124. 142 Ebd. 143 Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags [1957]. Deutsch von Helmut Scheffel, Frankfurt/M. 1964.

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einer sekundren Manifestation besitzen, eine primre semiologische Kette, auf die ihrerseits ein „sekundres semiologische[s] System“144 aufbaut. Alles, was auf der Ebene der Manifestation an Zeichenmaterial erscheint und das Figurenbewusstsein (,primre Signifikation’) bezeichnet – die reprsentative oder verfallende Architektur, der dynamische oder zum Erliegen gekommene Verkehr, die glanzvollen oder stumpf gewordenen Fassaden der Stadt –, bildet im erzhlten ,Sinnbild‘ ein Denotat, das von seinen Konnotationen (Kraft vs. Energie) parasitr berformt wird. Die Tendenz der Romane, den Willen als ihr narratives Substrat zu hypostasieren und in eine sinnbildhafte Prsenz zu bannen, ruht exakt auf dieser sekundren Bearbeitung einer in sich bereits bedeutenden semiologischen Kette. Was sich derart als unterschwellige Ambivalenz erweist, stellt sich, recht besehen, als mythologische bzw. ,mythogene‘ Tendenz der Romane heraus. Jeder Einzeltext innerhalb des Zyklus mndet in Mythen individueller und kollektiver Willensanstrengungen. Tatschlich lassen sich im Romanzyklus mindestens zwei solcher Mythenkomplexe ausmachen. Einen ersten wird man in einem Mythos der Rekreation sehen mssen. Angesichts des panoramatischen Zugs des ersten Teilbandes fllt auf, dass es allein Robert von Fhringhausen gelingt, einen Weg aus den bedrngenden Verhltnissen zu finden. In der Bahn seines als exemplarisch zu verstehenden Schicksals ist der gesamte erste Roman nach dem Schema einer ,siegreichen Flucht‘ organisiert, die den Binarismus seines fundierenden Narrativs – Triumph oder Niederlage – auflçst und dialektisch in sich zurckwendet. Die konzeptuelle Bewegung des Erzhlens geht nicht einfach in einer „den Verstdterungsprozess begleitende[n] Romantisierung“145 auf, an deren Ende der Text ,Stadt‘ durch ,Natur‘ und ,Kampf‘ durch ,Flucht‘ substituieren wrde. Vielmehr zielt der Umstand, dass sich Fhringhausen gegen Ende einer Afrikaexpedition anschließt, auf ein Moment der Rekreation, dessen Symbolgehalt gerade nicht in der Flucht vor dem Daseinskampf, sondern in dessen imaginrer Naturalisierung besteht. Als kulturferner Kampf soll er eine Wiedergewinnung all der Initiativkrfte leisten, die Fhringhausen im „Bann“ seiner „Willenlosigkeit“146 abhanden gekommen sind. Wenn sich Fhringhausen bislang der „unheimlichen Gewalt“, die die femme fatale Lucie Semisch ber ihn ausbt, ausgeliefert sah, so verspricht das im kolonialen Elan der 144 Ebd., 94. 145 Forderer: Die Großstadt im Roman, 120. 146 Alberti: Wer ist der Strkere? [1888], II, 111.

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1880er Jahre zum Greifen nahe Afrika eine Wiedergeburt seiner Willensenergie und seiner „mnnliche[n] Wrde“.147 In der Konsequenz dieses zum Gegenreich ausphantasierten Kolonialraums liegt es beschlossen, dass der Text seinem Narrativ eine doppelte Identitt geben muss: Einerseits ist der ,Kampf ums Dasein‘ ein soziales ,Gesetz‘ und damit, in dieser Kulturalitt, ein sich selbst entfremdetes Bild des Lebens; zum anderen ist er dort, wo ihn die Phantasie des Afrikareisenden imaginr re-naturalisiert, eine ursprngliche Form naturhafter Krfte, die sich in einem „fortdauernde[n] Strom“148 entußern. So wie sich Fhringhausen im großstdtischen Daseinskampf den „vergifteten Pfeilen“ der „Gesellschaft“ ausgesetzt sieht, so verspricht der elementare Kampf im kolonialisierten Afrika eine begehrte Bedrohung durch die „Speere[] halbnackter Wilder“149. Und so wie sich Fhringhausen im Traum kolonialer Herrschaft wieder aufrichtet, so schießen in das Bewusstsein dieser wieder gewonnenen Willensmchtigkeit Momente einer berbordenden, aber im Blick auf ihren Gehalt ,leeren‘ Aggressivitt ein. In dieser Leere ist die unbestimmte Sehnsucht nach „irgend eine[r] große[n] That“ aufbewahrt, mit der sich der „faule[], stinkende[] Friede“ der „Gesellschaft“150 radikal angreifen lsst. „War denn nicht“, heißt es, „irgendwo in der Welt ein Krieg, rang nicht irgendwo ein unterdrcktes Volk gegen einen wilden, berlegenen Barbaren mit allen Krften seines neu erwachten Volksgeistes?“151 Im Ergebnis ersetzt der Text das narrative Schema von Sieg und Niederlage durch eine Opposition von Kultur und Natur, von dekadenter Sozialitt und vitaler A-Sozialitt, und analog kann im großstdtischen ,Kampf ums Dasein‘ die Stelle des ,Siegers‘ nicht eigentlich besetzt werden, weil die in ihm wirkenden Energien kulturell entstellt sind. Kultur an sich durchkreuzt den Sinn, von dem erzhlt werden soll: Auch von 147 Ebd., I, 224. 148 Conrad Alberti: Die Alten und die Jungen. Sozialer Roman. 2 Bde., Leipzig 1889, Bd. 1, 80. 149 Alberti: Wer ist der Strkere? [1888], II, 351. 150 Ebd., II, 346 f. 151 Ebd. Diese Kolonialphantasien korrespondieren mit den frhen Kolonialisierungstendenzen des Reiches, das sich erst gegen Ende der 1890er Jahre um den Ausbau formeller Kolonialherrschaften bemht. Bis zu diesem Zeitpunkt sind die deutschen Kolonialinitiativen noch primr in den zahlreichen Kolonialgesellschaften (Deutscher Kolonialverein, 1882; Gesellschaft fr deutsche Kolonisation, 1884) organisiert, die nach 1880 entstehen. Vgl. Winfried Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 2005.

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dieser Uneigentlichkeit zeugen Albertis Romane, wenn sie das Soziale als Serie ubiquitrer Vertragsschlsse und Tauschbeziehungen imaginieren und damit die soziale Entstellung von Willensenergien als Schicksal von Kultur im Ganzen brandmarken. Mag die Gesellschaft vordergrndig ein „unverwstliches Feld der Thtigkeit“152 sein – ihre Energien sind zutiefst in die dekadenten Lhmungen der Kultur, in ihre korrumpierten Interessenkreise und vertraglichen Abstraktionen verstrickt und damit von einer eigentlichen Energie abgetrennt. „Nein“, heißt es gegen Ende des Romans, es gab nur eine thçrichte, niedertrchtige menschliche Gesellschaft, welche grundstzlich alles Neue, Reine, Heilige, das in ihre Mitte trat, begeisterte, befehdete, zu vernichten bemht war, um nicht aufkommen zu lassen, was ihr den Spiegel ihrer eignen Niedrigkeit vorhalten konnte […]. […] Brutale Energie, das nchterne, bourgeoise ,Nimm und Gieb‘ war das strkste Prinzip in dieser Welt, auf allen Gebieten, in der Zeit der Herrschaft des Geldschranks, des Angebots und der Nachfrage […].153

Wenn Robert von Fhringhausen schließlich an Bord eines Ozeandampfers die Fahrt in das koloniale Afrika antritt, dann betreibt der Roman nicht nur die Exilierung seiner Figur aus dem Sozialen in ein imaginres naturales Jenseits. Darber hinaus versammelt er ein diffuses, aber affektiv hoch aufgeladenes Assoziationsfeld aus Zeugung und Wiedergeburt, Revitalisierung und Taufe, Reinigung und Heilung. Insbesondere das Moment der Reinigung stellt die stdtische Gesellschaft unter das Bild einer mikrobischen Verseuchung, das Fhringhausens Willenslhmungen zu einem Szenario kultureller und sozialer Anomien vergrçßert. Nicht zuletzt strçmen in Reinigungsphantasien dieser Art regressive Affekte ein, die nach 1900 erhebliche nationalistische Schubenergien entfalten und jene Gesellschaftsfeindlichkeit begrnden, die zu einem weiteren Signum einer deutschen Unzeitigkeit werden:154 Er hlt sich fest an dem Luftschlot […] und mit krftiger, lustiger Stimme ruft er hinaus, als wolle er die Stimme der Elemente bertçnen: ,So recht! Noch einen Guss […]! Taufe mich, alter Meergott, bergieße mich ganz mit Deiner reinen, heiligen, ewigen Flut, durchdringe diese staubigen, verschossenen Gewnder bis auf den Kçrper! beize ihn vçllig aus, diesen Moderduft, den ich mit mir hinforttrage, diese Pilze und Sporen der alten, 152 Alberti: Die Alten und die Jungen [1889], II, 80. 153 Alberti: Wer ist der Strkere? [1888], II, 331 ff. 154 Vgl. Helmut Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus [1924]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Hg. von Gnter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Strçker, Frankfurt/M. 1981, 7 – 133.

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verpesteten, faulen, absterbenden Gesellschaft, […] daß ich auch nicht die kleinste Mikrobe aus der Atmosphre dieses giftschwangeren Bezirks mit hinbernehme […]‘.155

Der exklamatorische Gestus, mit dem dieser bertritt ins Bild gesetzt wird, ist mehr als eine der erkennbaren literarischen Unbeholfenheiten der naturalistischen Prosa. Nimmt man den aufflligen Tempuswechsel der Passage hinzu, so hat man es mit einer emphatischen Prsenz zu tun, die noch im evokatorischen Sprechpathos gegen die Vermittlungen der stdtischen Kultur zu Felde zieht. In gewisser Weise zielt der Romanschluss darauf, den ,Kampf ums Dasein‘ gegen sich selbst, genauer: gegen seine kulturierte Identitt zu richten, um einen ,reineren‘, sozial unvermittelten Kampf hervortreten zu lassen. Von dieser Schlussfgung aus erscheint das gesamte Geschehen des Romans wie eine einzige Verkennung: so als sei der soziale Kampf, von dem der Text bislang erzhlt hat, nur die Verkennung eines viel elementareren, eigentlichen Kampfes, in dem sich das Leben selbst ußert. Auch das ist der Sinn des naturalistischen Erzhlens: unter dem Gesellschaftlichen die (anderen) großen Transzendentalien des 19. Jahrhunderts – Leben und Natur – sichtbar zu machen.156 Ein weiterer Mythenkomplex fllt im zweiten Teilband des Zyklus, Die Alten und die Jungen, auf. Er lsst sich als Mythos nationaler Stiftung verstehen. Erzhlgegenstand des Romans ist auch hier ein existenzieller Kampf, allerdings einer, der sich zwischen der ,alten‘ Generation von 1848 und der ,jungen‘ von 1871 entfaltet und der in diesem Widerstreit einen Konflikt um die kulturelle Hegemonie im neu gegrndeten Reich entfesselt. Dabei richtet sich der „bis aufs ußerste“ gefhrte „Kampf“157 nicht nur in der idealisierten Wahrnehmung der jungen Komponistenboheme, der die Hauptfigur Franz Treumann angehçrt, sondern auch im unverhohlenen Ressentiment des Erzhlers gegen die Generation von 1848. Sie erscheint als dekadentes „Geschlecht der Phrasen, der Heuchelei, der Lge, das Freiheit schreit und Alles unterdrckt, was ihm nicht zu Willen ist“.158 Diese Ausgangskonstellation ruht ihrerseits auf einer 155 Alberti: Wer ist der Strkere? [1888], II, 359 f. 156 Vgl. Joachim Kpper: Vergas Antwort auf Zola. ,Maestro-Don Gesualdo‘ als ,Vollendung‘ des naturalistischen Projekts. In: Winfried Engler/Rita Schober (Hg.): 100 Jahre Rougon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte, Tbingen 1995, 109 – 136, 122. 157 Alberti: Die Alten und die Jungen [1889], I, 25. 158 Ebd., II, 142.

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vitalistischen Grunddichotomie: So wie die willensschwache Generation von 1848 gegen die willensstarke von 1870 steht, so stehen sich radikale Geschichtslosigkeit und ,treues‘ berlieferungsbewusstsein, haltlose Nervositt und beharrende Standfestigkeit, schrankenloser Liberalismus und ,befestigende‘ Nation gegenber. „[K]eine Erinnerung, keine Geschichte“, heißt es ber die grnderzeitliche Gegenwart, Nichts geworden und Alles gemacht. Und diese Menschen, die an einander vorber sausten, zu eilig um sich nur einen Blick der Neugier zu gçnnen, hohlwangig, blass, hager, mit grellen spitzen Stimmen, welche das Ohr peinigten, wiederholten mit ihren unzufriedenen, nervçsen Mienen immer nur das eine: ,Wir wollen Geld verdienen – alles Andere ist uns gleichgiltig und mag zu Grunde gehen … und Gottseidank keine Ueberlieferung nçthigt uns, die kostbare Zeit diesem Streben zu entziehen und thçrichten Trumen nachzulaufen.’159

Diese Grnderzeit, so lsst sich schließen, erblickt im Geld ihren Fetisch und im Eigennutz ihren mentalen Gehalt. Entsprechend durchwandert den Text das Leitmotiv einer ewigen „Melodie“160 ; allerdings handelt es sich um eine unartikulierte, phrasenlose Fgung, um eine Folge ohne „Harmonien“ und „Motive“ und damit um jene „unendliche Melodie“161 Wagners, die in ihrer Form- und Zsurlosigkeit als ewiger Aufschub figuriert. „Thçricht war“, lautet Treumanns Bilanz, wer in dem „wste[n], sinnlose[n] Durcheinander […] nach Motiven, nach Plan und Vernunft suchte.“162 Damit schafft der Roman hinsichtlich seiner Grunddichotomie qualitative Analogien und bergnglichkeiten, die insbesondere die Schlusskonstruktion in einen Gegensatz von Geld und Wille bzw. zur quivalenz von Geld und Willensschwche umgestalten. Schon die leitmotivische Figur der „unendlichen Melodie“ belegt, dass das ressentimentbesetzte Bild der Generation von 1848 aus einer ,charakterlosen‘ Semiotik entwickelt ist, die die arbitrre Bindungsweise des Geldes, sein haltloses Fließen und Zirkulieren, mit einem kontagiçsen Bildfeld konvergieren lsst, das sich in der „Berhrung“ mit der „eiterbeulige[n], verseuchte[n] Gesellschaft“163 der Reichsgegenwart einstellt. Im Geld wie 159 160 161 162

Ebd., I, 6. Ebd., II, 7. Ebd. Ebd., I, 7. Zum Zusammenhang von Nervositt, dcadence und ,Wagnerismus‘ vgl. Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europischen Literatur des Fin de si cle, Berlin, New York 1973, 91 ff. 163 Alberti: Die Alten und die Jungen [1889], II, 37.

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im Kontakt mit den Verworfenheiten der Grnderzeit wirkt dieselbe „Ansteckung“164 und bertragung, dasselbe ,entfrbende‘ Prinzip, das Qualitten und Werte nivelliert und damit der mentalen Disposition der 1848er-Generation entspricht. Allerdings erschçpft sich das mythische Projekt des Textes nicht in der Entgegensetzung zweier Generationen und ihrer hegemonialen Ansprche auf den Sinn der kulturellen Moderne. Genau besehen ruht der Roman auf einer Geschichtsteleologie, die den Widerstreit der Generationen auf ein diachrones Herkommen hin çffnet und das nationale Projekt der Jungen als renovatio der Konstellation von 1813 durchschaubar macht. Gegen die „krank[e] und morsch[e]“165 Generation von 1848 formiert sich „das Geschlecht von siebzig“166 nur insofern, als es eine in der nationalen Geschichte bereits vollzogene Grndung als Erbe und Auftrag ihrer eigenen Gegenwart behandelt: ,Das ist die alte famose Generation von 1813, die den Napoleon ,rausgeschmissen‘ und das deutsche Reich gegrndet hat. Immermehr sehe ich ein, dass wir die natrlichen Erben dieses Geschlechts sind […]. […] Den Sçhnen haben ihre Vter nichts auf den Weg geben kçnnen, den Enkeln haben die Alten ein kostbares Pfund geschenkt: nun ist es unsere […] Pflicht und Schuldigkeit, damit erst grndlich zu wuchern, und aus diesem rohen, unfertigen Militrstaate ein Reich der Cultur, der Kunst, der Freiheit, der Liebe zu machen‘.167

Der, der hier spricht, heißt nicht zufllig Franz Treumann. In gewisser Weise msste dieser ,Treumann’ gar nicht sprechen, weil sein Name dies bereits tut, in dem er im mythischen Bild deutscher Treue und Aufrichtigkeit all jene traditionalen Bindungen aufruft, die im Mythensystem des Kaiserreichs vom Erfahrungsdruck der realpolitischen Reichsgrndung entlasten sollen; vor allem die schnell einsetzende Mythisierung Bismarcks ist von Beginn an auf diese ,treuen‘ Bindekrfte verwiesen gewesen, weil sie den Modernisierungsschock insbesondere fr die traditionellen sozialen Eliten milderten und ihnen auf diesem Weg den (machtpolitisch wichtigen) Eintritt in das Bismarckreich erleichterten.168

164 165 166 167 168

Ebd. Ebd., II, 275. Ebd., II, 276. Ebd., II, 141 f. Vgl. Ingo Stçckmann: Bismarcks Antlitz. ber den lyrischen Gebrauchssinn deutscher Aufrichtigkeit. In: Text + Kritik. Zeitschrift fr Literatur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. H. 173 (I/2007): Benutzte Lyrik, 14 – 28. Zur Mythi-

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Albertis Roman macht dagegen deutlich, dass der Sinn der derart berufenen Treue in einer Art skularer translatio besteht, die das Projekt der deutschen Nation aus seiner geschichtlichen Latenz erlçst und im Akt einer ,eigentlichen‘ Reichsgrndung, die die reale gewissermaßen renoviert, zu sich finden lsst. Der mythische Sinn des Textes zielt insofern auf eine nochmalige, aber substantiell ,eigentliche’ Reichsgrndung, die die durch die Ereignisse von 1813 aufgegebene und 1848 unerlçst gebliebene nationale Teleologie in sich aufnimmt. Diese geschichtliche ,Bestimmung‘ zielt auf eine Rckerstattung bindender Orientierungen, die die modernen Mchte der geldfçrmigen Abstraktion und der werthaften Indifferenz bricht, um dieser Moderne ,neue‘ Werte – „Leidenschaft“, „Liebe“, „Vaterland“, „Ordnung“169 – an die Hand zu geben. Narrativ ist dieses nationale Grndungsprojekt, dessen massiver Antiliberalismus nicht zuletzt antritt, um „der Natter des Kapitalismus de[n] Kopf zu zertreten“170, einmal mehr durch die Ausdrucksqualitt des stdtischen Raums vermittelt. Wenn am Ende des Romans der soeben inthronisierte „junge Kaiser […] seine Hauptstadt begrßt[]“ und Treumann im selben „geschichtliche[n] Augenblick“171 das „Brandenburger Thor[]“172 passiert, transformiert sich die kapitalistische Metropole in ein Ensemble ruhevoller Baukçrper. Der Gang durch die Stadt folgt einem schweifenden Blick auf eine unbewegte Stadtarchitektur, deren monumentale Zeichen ihren ,nationalen Sinn‘ von sich aus preisgeben. Als „natrlicher Erbe“ der „Generation von 1813“ und „beseelt […] von demselben Willen“, der ihn mit seiner Generation verbindet, durchschreitet Franz Treumann einen Zeichenraum, der den wieder gewonnenen Willen zur Nation symbolisch adaptiert und in eine Formensprache bersetzt, die ebenso standfest ist wie die Mentalitt, die sie reprsentiert: Treumann durchschritt die ruhigen Sulenhallen des Brandenburger Thores. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne gossen rothflammendes Glanzlicht ber die Gçttin auf der Siegessule […], die cyclopischen Quadern des Reichstages, die hier aus dem Erdboden trotzig emporwuchsen. Alles in der Runde sprach hier von Sieg und Triumph und Kraft, jeder Stein erzhlte von einer gewonnen Schlacht […] und die Bume murmelten von den unsterblichen Thaten jenes dritten unlngst zur Ruh gegangenen Ge-

169 170 171 172

sierung Bismarcks vgl. Rolf Parr: ,Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!‘ Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks, Mnchen 1992. Alberti: Die Alten und die Jungen [1889], II, 284. Ebd. Ebd., II, 281. Ebd., II, 285.

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schlechts, als dessen Erben dieses neue sich betrachtete, weil es sich beseelt fhlte von demselben Willen.173

Auch dieses Sinnbild rekapituliert die vertrauten Strukturen, mit denen Alberti erzhlt: Auch hier adaptieren die architektonischen Zeichen einen Sinn, der ihnen voraus liegt, und auch hier steht der buchstblich zum „Quader“ materialisierte, nationale Wille einem Medium – dem Geld – gegenber, das die Qualitt des Medialen, nmlich Weitergabe und bertragung zu sein, am reinsten symbolisiert, um damit die Mentalitt der 1848er-Generation zu diskreditieren. Es gehçrt zur ressentimentalen Unschrfe des Textes, dass das mythische Bild der Nation trotz der geschichtlichen Tiefendimension, die es mit Blick auf die Generation von 1813 bemht, unspezifisch bleibt. Allerdings belegen Albertis Beitrge in der von der Michael Georg Conrad herausgegebenen Gesellschaft, dass Alberti auf ein „soziales Kçnigtum“ zielte, in dem sich monarchische, demokratische und feudale Momente zu einem ,csarischen‘ Modell der Nation zusammenfgen. In einer Gedenkadresse vom Juni 1888 an den verstorbenen Friedrich III. ist von einem „demokratische[n] Csarismus“ und einem „soziale[n] Kçnigtum“ die Rede, das „in gereinigter, edlerer Form“ eine „neue Staatsform“ begrnden soll.174 Auch diese „Staatsform“175 fhrt das unabgegoltene Projekt der deutschen Nation und die Inthronisierung Wilhelms II. zusammen. Dabei verbindet sich das demokratische „Interesse der Gesamtheit“ mit einem feudalen Ordnungsprinzip, das im soeben inthronisierten Kçnig seine leibhafte Reprsentation besitzt. Dieser Reprsentant findet die zwanglose Zustimmung seines Volkes – er wchst als „natrlicher Fhrer und Leiter“176 organisch aus dem kollektiven „Willen“ der Nation hervor –, und doch ist er eine „volle Kraft“177, die sich ber den geschichtlichen Auftrag erhebt, um dessen „Kulturarbeit“178 in einer singulren Willensleistung zu erbringen. Der Mythos vom willensstarken Kaiser zhlt zu den wenigen Wahrnehmungskontinuitten, mit denen sich naturalistische Autoren in ein Verhltnis zur eigenen Reichsgegenwart gesetzt haben. Eine identische 173 Ebd., II, 285 f. 174 Conrad Alberti: Der tote Kaiser. Zum 16. Juni. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift fr Litteratur und Kunst 3 (1889), 763 – 767, 766. Vgl. Kathrin Larson Roper: Conrad Albertis ,Kampf ums Dasein’. The Writer in Imperial Berlin. In: German Studies Review 7 (1984), 65 – 88, 79 ff. 175 Alberti: Der tote Kaiser [1889], 765. 176 Ebd., 766. 177 Ebd. 178 Ebd.

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Diskursstrategie findet sich in einer ebenfalls 1889 entstandenen Schrift Hermann Conradis, die in großer Nhe zu Albertis Roman Die Alten und die Jungen zunchst dieselbe generationelle Konstruktion bemht. Auch im Blick Conradis ist die Generation von 1848 zu einem „m a s c h i n a l e n B e a m t e n t u m “179 herabgesunken, whrend die „junge Generation“ eine „ganz a n d e r s geartete“, kulturstiftende „Kraft“180 trgt. Aus ihr wchst die „W i l l e n s n a t u r “181 Wilhelms hervor, dessen mythische Konstruktion wie eine Adaption thermodynamischer Metaphern wirkt: Alles an Wilhelm ist „Eigenwillen“182, „energische[s] Vorgehen“183, „Selbstbeherrschung“184, kurz: „Energie“185. Ideologisch verfolgt Conradis Schrift freilich ein ambivalentes Ziel. Denn die starke Individualitt stellt lediglich die Schauseite einer wilhelminischen Apologie dar, deren willensstarker Heroismus gerade keine konkreten politischen Bezge unterhlt. Vielmehr folgt sie einer „tragische[n]“186 Existenzform, die feudale Muster – der Reichskaiser als „Frst[]“187 – mit sthetischen Konstruktionsregeln verschmilzt, so dass die Person Wilhelms einen inneren Antagonismus zwischen „Erbe“ und „Wille“, zwischen „Tradition“ und „,Genie’“188 austrgt. Eine „tragische Figur“189 ist Wilhelm, weil er in Adaption von Diskursmustern, die an das antike (sophokleische) Drama erinnern,190 zwei antagonistische Prinzipien mit einander versçhnen muss, so dass die „ererbte Flle“ der „Tradition“ nicht mehr als Gegensatz zum „Willen“, sondern als dessen gewollter Gehalt erlebt wird; „ihr Inhalt“, so Conradi, „ist der in das zweite Unbewußtsein eingegangene

179 Hermann Conradi: Wilhelm II. und die junge Generation. Eine zeitpsychologische Betrachtung [1889]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Gustav Werner Peters. Bd. 3, Mnchen, Leipzig 1911, 307 – 446, 316. 180 Ebd. 181 Ebd., 325. 182 Ebd., 317. 183 Ebd., 318. 184 Ebd. 185 Ebd., 317. 186 Ebd., 323. 187 Ebd., 328. 188 Ebd., 329. 189 Ebd., 328. 190 Vgl. zu dieser vor allem an Sophokles orientierten Interpretationstopik im Gefolge der idealistischen und hegelianischen sthetik Ingo Stçckmann: sthetik. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. 3 Bde. Bd. 1: Gegenstnde und Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 2007, 465 – 491, 486 f.

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Wille“.191 Letztlich zielt diese Mythisierung, in der sich Wille und historisches Erbe als ihre wechselseitigen Gehalte erfahren, auf eine Versçhnung von politischer Tradition und Moderne, die das Reich und sein feudaler Reprsentant realisieren. Wie entsprechende Textzitate in Conradis Schrift ber Wilhelm II. und die junge Generation belegen, ruht der gesamte Mythenkomplex auf einem gemeinsamen Referenztext. 1888 publiziert Georg Hinzpeter, seit 1866 als Prinzenerzieher im Dienst der kaiserlichen Familie, eine Broschre unter dem Titel Kaiser Wilhelm II. Eine Skizze nach der Natur gezeichnet, die noch im Jahr der Erstverçffentlichung sieben Auflagen und in der Folgezeit zahllose Wieder- und Neuauflagen erlebt.192 Hinzpeters Broschre nutzt die dramatischen Ereignisse des Dreikaiserjahrs 1888, um aus der Erinnerung an eine 13 Jahre dauernde intime Nhe zum jungen Kaiser ein Bild zu zeichnen, das den im Untertitel annoncierten Naturalismus verfehlt und zugleich trifft. Sie verfehlt ihn, weil die „nach der Natur gezeichnet[e]“ Skizze keinen realen Souvern, sondern ein mythisches Subjekt konstituiert; sie trifft ihn, weil sie weniger einen Kaiser als eine thermodynamische „W i l l e n s n a t u r “193 portrtiert. Allerdings entfaltet Hinzpeters Schrift ihren Sinn nur fr diejenigen, die um das private Schicksal des Thronfolgers wissen und bereit sind, dieses Schicksal seiner çffentlichen Wahrnehmung zu Grunde zu legen. Dass Wilhelm wegen einer frhkindlichen Lhmung ber viele Jahre strapaziçse Therapien und Disziplinierungsmaßnahmen ber sich hatte ergehen lassen mssen, zhlt ebenso zum çffentlichen Bild des jungen Kaisers, wie der Umstand, dass dessen schwchliche Natur von Seiten der Eltern offenbar bewusst der kalvinistischen Hrte Hinzpeters ausgesetzt wurde.194 Fr Leser spterer Auflagen musste an diese ,weiche‘ und ,reaktive‘ Seite Wilhelms freilich nicht mehr erinnert werden, weil er sich fr sie lngst in jenen quecksilbrigen Neurastheniker verwandelt hatte, der seit Ludwig 191 Conradi: Wilhelm II. und die junge Generation [1889], 329. 192 Vgl. Dr. Georg Hinzpeter: Kaiser Wilhelm II. Eine Skizze nach der Natur gezeichnet [1888], Bielefeld 71888. Zu Conradis Hinzpeter-Referenzen vgl. Conradi: Wilhelm II. und die junge Generation [1889], 317 f.; zitiert werden die Seiten 4, 6, 10, 13 und 14 von Hinzpeters Broschre. Hinweise zu Hinzpeter gibt Wilhelm Hartau: Wilhelm II. in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1978, 16 – 20. 193 Conradi: Wilhelm II. und die junge Generation [1889], 325. 194 Vgl. Hartau: Wilhelm II., 19 f. Zeitnahe Einblicke in die Erziehung Wilhelms gibt Francis Ayme: Kaiser Wilhelm II. und seine Erziehung. Aus den Erinnerungen seines franzçsischen Lehrers, Leipzig 1898, 65 f.

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Quiddes anspielungsreichem Pamphlet Caligula (1894) unter Freunden wie Gegnern des Kaisers gngige Mnze war.195 Noch Joachim Radkaus Nervosittsstudie ist zu entnehmen, auf welch breiter, auch das engste Umfeld des Kaisers mit einbeschließender Basis diese çffentliche Konstruktion eines ebenso wankelmtigen wie reprsentationsschtigen Neurasthenikers erfolgte.196 Das alles markiert jenen historischen Wahrnehmungshorizont, den Hinzpeters mythische Strategie voraussetzt. Sie setzt einen Bildungsprozess der Willenskraft ins Bild, der den zunchst schwchlichen Kaiser durch seine Konzentrationsschwchen, Blasiertheiten und psychischen Zerstreuungsmomente hindurchfhrt. Was Hinzpeters vermeintlich naturnahes Bild skizziert, ist weniger die Mythologie eines Subjekts, als vielmehr die eines „Willens“197, der sich mit einer „das gewçhnliche Maß weit bersteigende[n] Arbeit“198 zu „einer Quelle von Kraft und Energie“199 lutert. Damit wirken noch in der mythologischen Konstruktion eines Kaisers, dem die Nation ihre Einigung verdanken soll, die energetischen Diskursregeln einer Pdagogik weiter, deren Subjekt in einem buchstblichen Sinn der Wille geworden ist: Aus der Verbindung von Welfischem leicht in Energie umgesetztem Starrsinn und Hohenzollernschem mit Idealismus gepaartem Eigenwillen wurde am 27. Januar 1859 ein menschliches Wesen geboren mit eigentmlich stark ausgeprgter Individualitt, welche durch nichts wirklich verndert selbst den mchtigsten ußeren Einflssen widerstehend in ihrer Eigenart sich konsequent entwickelt hat […]. Schon in dem wunderhbschen, sehr mdchenhaften Knaben, dessen Zartheit durch eine sehr peinliche Unbeholfenheit des linken Arms bis zur Schwche gesteigert wurde, frappierte der 195 Vgl. Ludwig Quidde: Caligula, Leipzig 1894 und dazu Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervositt. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Mnchen, Wien, 1998, 275 ff. 196 Vgl. Ebd. Wilhelms geistige Disposition ist schon zu Lebzeiten des Kaisers Gegenstand von zahlreichen populrwissenschaftlichen, psychopathologischen und medizinischen Studien, die mehrheitlich zu dessen 60. Geburtstag (1919) erscheinen Vgl. etwa Prof. HD. Friedlnder: Wilhelm II. Versuch einer psychologischen Analyse, Frankfurt 1919; Franz Kleinschrod: Die Geisteskrankheit Wilhelms II., Wçrrishofen 1919; Lutz Hermann: Wilhelm II. periodisch geisteskrank, Leipzig 1919; Paul Tesdorpf: Die Krankheit Wilhelms II., Mnchen 1919. Wie die Broschre Tesdorpfs belegt, stehen Spekulationen ber die Geisteskrankheit des Kaisers in engem Zusammenhang mit der Kriegsschuldfrage. Vgl. Ebd., 4. 197 Hinzpeter: Kaiser Wilhelm II. [1888], 10. 198 Ebd., 11. 199 Ebd.

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Widerstand, den jeder Druck […], das innere Wesen in eine bestimmte Form zu zwngen, hervorrief. […] Der von frhester Jugend […] zustrçmende berfluß von Vorstellungen und Empfindungen hat leicht eine gewisse Zerfahrenheit im Denken und Blasirtheit im Fhlen zur Folge. […] Nur die ußerste Strenge und das energische Zusammenwirken aller konkurrierenden Autoritten vermochte das Widerstreben zu berwinden, bis das erwachte Bewußtsein den eigenen Willen zum Beistand heranfhrte, womit dann jede Schwierigkeit bald behoben war.200

3. Enthllung, Umkehr, Naturalisierung. Der Wille und die Kulturentwicklung des 19. Jahrhunderts (Max Kretzer, Felix Hollaender, Kurt Grottewitz) Albertis Erzhlzyklus zehrt von der prosperierenden Tagseite der Grnderzeit. Mode, der vierte Teilband, handelt von der suggestiven Kraft der Warenwelt und der Verfhrbarkeit von Menschen, die in einem historischen Sinne zu Kufern werden. Maschinen, der sechste und letzte Teil des Zyklus, verweist schon im Titel auf eine berbordende Energetik, die sich im Text in ein Menschen, Produkte und Werkzeuge ineinander verschlingendes Feld metaphorischer Kraftentladungen umsetzt. Und noch der kammertonartige Zuschnitt des vierten Bandes, Das Recht auf Liebe, lokalisiert seine intimen Konflikte in einem Milieu, das vom berfluss des Geldes und von den Schauseiten der Grnderzeit geprgt ist. Solche prosperierenden Außenansichten, die in die Verworfenheiten der Zeit fhren sollen, haben nur wenig mit jener pauperistischen Milieunhe gemein, die die Forschung gewçhnlich zu den bewusstseinsgeschichtlichen Errungenschaften des Naturalismus zhlt.201 An ein konventionelles Naturalismus-Bild erinnert demgegenber das erzhlerische 200 Ebd., 4 f. 201 Vgl. Roy C. Cowen: Der Naturalismus. Kommentar zu einer Epoche, Mnchen 1973, 97 ff; Hanno Mçbius: Der Positivismus in der Literatur des Naturalismus. Wissenschaft, Kunst und soziale Frage bei Arno Holz, Mnchen 1980; ders.: Der Naturalismus. Epochendarstellung und Werkanalyse, Heidelberg 1982; Walter Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar 1998, 26 ff. Fr eine Analyse naturalistischer Milieudarstellungen, die ber die blichen Positivismus-Referenzen hinaus den sprachlichen Bedingungen ihrer literarischen Reprsentation nachfragt, vgl. Lothar L. Schneider: Die Konzeption der Moderne. Zu den literaturwissenschaftlichen Bedingungen naturalistischer Symbolizitt. In: Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne, Stuttgart, Weimar 1999, 234 – 250.

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Frhwerk Max Kretzers. In ihm – zu denken ist in erster Linie an die Romane Die beiden Genossen (1880) und Die Betrogenen (1882) – schreitet das von Kretzer wiederholt verwendete Erzhlschema des Daseinskampfes seine existenziellsten Seiten aus. Dass es sich um Texte eines Frhwerks handelt, bezeugen die zahlreichen Einflsse, die insbesondere Die Betrogenen wenig originell und in vielen Zgen kolportagehaft erscheinen lassen. Bereits die Milieubindung des Textes – erzhlt wird vom Schicksal dreier Maler, die im grnderzeitlichen Berlin einen existenziellen „Kampf“202 um ihr knstlerisches und wirtschaftliches berleben fhren – reproduziert Henri Murgers Scnes de la vie de bohme, die 1881 in einer deutschen bersetzung erschienen waren;203 andere, in den Erzhltraditionen des 19. Jahrhunderts verankerte Einflsse, etwa des Sittenromans, sind ebenso leicht nachweisbar.204 Allerdings sind es gerade diese Einflsse, die sich in Kretzers Roman zu einer recht eigenstndigen Perspektive auf sein Erzhlschema verbinden. Kaum eigenstndig ist es indes zunchst zu nennen, dass die Hauptfiguren genretypisch als willensschwache und willensstarke Naturen gekennzeichnet sind: Alexander Plagemann, der mit großen beruflichen Hoffnungen begonnen hatte und zum Musterzeichner in einer Teppichfabrik herabgesunken ist, scheitert; Hannes Schlichting, ein erfolgloser Heiligenmaler, der sich seinem Schicksal zunchst mit „eisernem Willen“205 widersetzt, resigniert; nur Oswald Freigang, ein Maler der modernen Arbeitswelt, der erkennbar Zge Adolf Menzels trgt,206 setzt sich mit der Beharrlichkeit seines „persçnlichen Willen[s]“207 gegen alle Widerstnde durch, um gegen Ende des Romans seinen Einzug in die Berliner Nationalgalerie zu erleben. Er „besaß“, so heißt es ber die Grnde von Freigangs unaufhaltsamen Aufstieg, „jene Zhigkeit und eiserne Ausdauer, die alle Hindernisse des Lebens machtlos machen und einen klaren Blick fr die nichtigsten Dinge schaffen.“208 Bemerkenswert ist an Kretzers frhem Roman vielmehr der Umstand, dass er sein Nar202 Max Kretzer: Die Betrogenen. Berliner Sitten-Roman. 2 Bde., Berlin 1882, Bd. 2, 214. 203 Vgl. Henry Murger: Sc nes de la vie de boh me [1850]. In: Ders.: Œuvres compl tes. Tome VIII, Gen ve 1971. 204 Vgl. Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900, 375 f.; Forderer: Die Großstadt im Roman, 178 ff. 205 Kretzer: Die Betrogenen [1882], I, 139. Vgl. auch Ebd., I, 261. 206 Vgl. Ebd., I, 8. 207 Ebd., I, 253. 208 Ebd.

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rationsschema von Beginn an jeder Erfahrungsnhe entrckt. Dass es sich um eine bewusste Erzhlstrategie handelt, belegen Kretzers sptere Romane, die mit erheblicher Przision die rapiden sozialen Vernderungen der Lebens- und Arbeitswelt verzeichnen.209 Der Text jedenfalls vollzieht diese Abtrennung des Erzhlschemas von seinen Erfahrungsgehalten auf dem Weg einer recht vordergrndigen Allegorisierung. Sie besteht darin, dass sie das Narrationsmuster des Daseinskampfes zu einer „Sage“210 ausfabuliert, die dem Text wie eine Exposition seines hermeneutischen Gehalts vorangestellt ist. Inhaltlich handelt es sich um eine Gleichniserzhlung, in der ein armer „Flickschuster“ seinen Nachbarn, einen „Knstler von der Palette“211, um sein vermeintlich eintrgliches Einkommen und die geringe Konkurrenz beneidet, der er sich ausgesetzt sieht. In einem Traum gestattet der Teufel dem Flickschuster, einen Blick in die zahllosen „Ateliers“ Berlins zu werfen: „Als es Nacht wurde, hatte der Flickschuster doch an tausend Knstler gezhlt, die halb versteckt fr die Außenwelt ein gar tristes Dasein fristeten. O, so viele Conkurrenten seines Nachbars hatte er nicht zu finden erwartet.“212 Die halb mrchenhafte, halb kolportagehafte Perspektive, die mit dem weltabgewandten Blick eines Trumers spielt, ist literarisch alles andere als bemerkenswert; sie gehçrt vielmehr zu den mitunter hilflos wirkenden Bemhungen Kretzers, den ,Kampf ums Dasein‘ erzhlerisch zu intensivieren. Wesentlich an diesem sagenhaften Kampf der „tausend Knstler“213 ist seine Verdinglichung zum klischierten Bild, d. h. zu einer literarischen Erfahrung, die das Bewegungsgesetz der Moderne und ihren existenziellen Willenskampf in literarische Archetypen verwandelt. Kretzers Roman lsst die programmatische Erfassung des modernen Lebenssinns, seine intendierte Zeitnhe, weitgehend in vorgefertigten Mustern aufgehen, und wenn Albertis Romanzyklus sein Narrationsschema unmittelbar in die Ausdrucksqualitten des stdtischen Raums 209 Andererseits neigen die Texte dazu, die Zeittendenzen, deren Erfahrung sie gestalten, laufend zu verschlagworten. Vgl. bspw. Kretzer: Meister Timpe [1889], 115: „Es war der große soziale Kampf des Jahrhunderts, in dem immer dasselbe Feldgeschrei ertçnte: ,Stirb du, damit ich lebe!‘“ oder Ebd., 123: „,Wir leben in einer Zeit, wo der Egoismus das Christentum immer mehr und mehr verdrngt. Es heißt nicht mehr ,Hilf deinem Nchsten‘, sondern ,Tçte deinen Nchsten‘; nicht mehr ,Lieber euch untereinander‘, sondern ,Frchtet euch voreinander‘.’“ 210 Kretzer: Die Betrogenen [1882], I, 134. 211 Ebd., I, 127. 212 Ebd., I, 133. 213 Ebd.

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prgt, dann zeigt sich der ,Kampf ums Dasein‘ bei Kretzer in den pittoresken Bildern, die seinen Sinn vorprparieren. Immer dort, wo er vom ,Kampf ums Dasein‘ spricht, ordnet der Text dem Handlungsgang ein entsprechendes Sinnbild zu, das die moderne Erfahrung in eine lngst vertraute Geschichte transkribiert. Wenn sich Plagemann und Freigang nach vielen Jahren zu Beginn des Romans zufllig in den Werkhallen der Teppichfabrik wieder begegnen, gestaltet sich Plagemanns Erzhlung vom aufreibenden Existenzkampf der Moderne zu einer Geschichte, die bereits Geschichte, d. h. gelebte Erfahrung, ist: Es war die alte Geschichte eines ehemals fr die hçchsten Ziele seiner Kunst begeisterten Jnglings, der mit vollen Segeln der Hoffnung in das Meer seiner Ideale hinausgesteuert war, bis sein Lebensschiff eines Tages an der gemeinen Klippe, die man Kampf ums Dasein nennt, hngen blieb und sich schließlich von der erlittenen Havarie nicht mehr befreien konnte.214

Moderne ist hier Archetypus: Alles, was der Text seine Figuren erleben und erzhlen lsst, ist bereits erlebte und gemachte Erfahrung, Ansicht und Exempel der immer gleichen historia der Moderne, die unvernderbar ist und die im Blick des Erzhlers an jeder Figur hervortritt, die er in seinen Fokus rckt. ber Maria Seidel, die ehemalige Geliebte eines Bourgeois und Mutter einer unehelichen Tochter, breitet Plagemann, trotz des Geheimnisses, das die Figur umgibt, eine „alte Geschichte“, deren individuelle Zge nur die Reminiszenz eines abstrakten Lebensgesetzes der Moderne darstellen: „Niemand wird aus diesem Weibe klug […]. […] Sie soll ein Kindchen haben, das sie bei fremden Leuten in Pflege gegeben hat – so sagt man jedenfalls. Es wird wohl die alte Geschichte sein, die ewig neu bleibt: Eheversprechen, Verfhrung, Gemeinheit eines Mannes – und dann Entsagung und Resignation […].“215 Reminiszenz ist diese „alte Geschichte“ aber auch, weil ihr Sinn immer aufs Neue erlebt und in dieser Reminiszenz zum eigentlichen Sinn der Großstadt wird: Wie Maria Seidel so nach den dunklen Husern, die sie anzuglotzen schienen, hinberstarrte, vernahm sie im Geiste so eine alte Geschichte, die ewig neu bleibt: ihre eigene. Sie kannte sie ganz genau, sie wollte sie nicht mehr hçren, aber sie konnte sich ihrer nicht entziehen – sie umbrauste ihre Ohren und nahm ihr ganzes Denken und Empfinden gefangen. Und eigene

214 Ebd., I, 11. 215 Ebd., I, 26 f.

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Phantasie und Erinnerung halfen dabei und ließen den Weg in die Vergangenheit in Minuten zurcklegen.216

In derartigen Vokalisierungen217 tritt der ,Kampf ums Dasein‘ als bewegende Energie der Moderne ebenso hervor, wie in den ,ekphrasischen‘ Momenten der Erzhlung, in denen der Erzhler immer wieder einen Blick auf die Gemlde Freigangs gestattet. Sie sind, analog zum willensstarken Charakter dieses Energetikers, schlichte Zeichen des thermodynamischen Zeitalters, die sich mit einer Bildsthetik verschwistern, die – wie der Erzhlerkommentar betont – „den Stempel lebenswahrer Realistik“218 tragen, bei genauerem Zusehen aber lediglich konventionalisierte Ikonographien aufruft: Hinter Freigang lag bereits […] gleich seinem Freunde Hannes eine harte Lehrzeit. Jetzt befand er sich bereits in jener Periode, in der der Knstler anfngt die Aufmerksamkeit des großen Publikums auf sich zu lenken. Die Zeit seiner fern von der glnzenden Welt getriebenen Studien hatte er vortrefflich auszunutzen verstanden. Ein ganzes Jahr hatten diese Studien gedauert, dann tauchten plçtzlich in den permanenten Ausstellungen […] jene charakteristischen Genrebilder auf, die den Stempel lebenswahrer Realistik […] trugen: Kneipen-, Straßen- und Werkstattscenen, in denen die blaue Blouse dominierte. Gemlde voll trefflichem Studium des Lebens und der Gewohnheit der Kreise, aus denen sie gleich einem Stck Natur herausgerissen waren […]. Es lag etwas in diesen Gemlden, das die Signatur unserer großen Zeit trug, des Lebens und Webens harter Arbeit, des Strebens nach gesellschaftlicher Gleichberechtigung des vierten Standes […]. Eine neue Welt der fixirten Darstellung war erschlossen, eine Welt, in welcher Dampf und Qualm die gigantischen Krfte waren, die tausendfltigen Triebrder zu jener rastlosen Thtigkeit in Bewegung setzen, die man schwere, saure Arbeit nennt.219

216 Ebd., I, 70 f. 217 Vgl. Max Kretzer: Zur Entwicklung und Charakteristik des ,Berliner Romans‘ [1885]. Zit. nach Brauneck/Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, 243 – 244, 244: „Fr den Romanschriftsteller liegt der Stoff sozusagen auf der Straße, erlernt er nur die Sprache, welche die Huserkolosse reden […].“ 218 Kretzer: Die Betrogenen [1882], I, 142. 219 Ebd., I, 141 f. Die Bilddarstellung ist selbstverstndlich keine „lebenswahre Realistik“ (Ebd., I, 142). Sie greift vielmehr auf konventionalisierte Ikonographien der Industriemoderne zurck, wie sie schon das frhe 19. Jahrhundert kennt. Vgl. Sigrid-Jutta Motz: Fabrikdarstellungen in der deutschen Malerei von 1800 bis 1850, Frankfurt/M. 1980, 15 ff; Klaus Herding: Industriebild und Moderne. Zur knstlerischen Bewltigung der Technik im bergang zur Großmaschinerie (1830 – 1890). In: Helmut Pfeiffer/Hans Robert Jauss/Fran-

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In solchen auktorialen Kommentaren besitzt der Text eine ,deiktische‘ Struktur, die dem Leser den fundierenden Sinn der Erzhlung fortwhrend ,zeigt‘. Auch der Blick des Erzhlers neigt dazu, die Nhe des naturalistischen Textes zur Arbeitswelt und ihren „gigantischen Krften“220 zu einem allegorischen Bild zu hypostasieren. Insbesondere der Erzhleingang erweist sich als eine kameraartige Sicht auf das industrielle „Babel“221 einer Teppichfabrik, die als ,Superzeichen‘ reiner Energie und in einem Wechsel zwischen Totale und Detail zu einem pittoresken Sinnbild ausgestaltet wird. In ihm tritt das „Stoßen und Drngen“222 der Arbeitswelt wie eine bilderzeugende Dynamik hervor, die fortwhrend Sujets und Ansichten des energetischen Milieus aus sich hervor treibt: Whrend des Zeitraums von zehn Minuten hatte sein Auge das Bild vor sich vollstndig erfasst: die zellenartig aneinandergeketteten einstçckigen Hallen, bedeckt mit treibhausartigen Dchern aus zolldickem, getrbten Glase, das jeden Einblick in das hundertfltige Weben und Leben unter ihm unmçglich machte; das vierstçckige Gebude dahinter; […] die dahinter liegende halb schmutzig-braun, halb saftig-grn erscheinende Wiesenflche, scharf begrenzt von der Silberfarbe der Spree, die sich dort in ihrer ganzen Breite ausdehnte. Ein Dampfer […] zog tiefe, dunkle Furchen, und sein Keuchen und Aechzen drang schwerfllig wie das Stçhnen eines kranken Riesen in gleichmßigem Takte herber. […] Nur dort […] zeigte sich in weiter Perspektive ein Theil Berlins mit seinen Schloten und Thrmen. Da dampfte und qualmte es, als stieße die Riesenstadt ihren Athem aus, erdrckt vom Lrm und der Arbeit des Tages. […] Wer dieses Stck des norddeutschen Babel sah […], der vernahm im Geiste das Tosen und Rollen der Rder, das Zittern der Huser, das Surren und Summen der rastlos bewegten Menge mit ihrem Stoßen und Drngen: jenes halb grollende, dumpfe Brausen, das wie ein halbunterdrckter, tausendfltiger Schrei nach tglichem Brode klingt.223

Die Passage verdeutlicht auch, dass sich der bilderzeugende Blick – hnlich wie in Albertis Romanzyklus – in zwei energetische Zustnde zerteilt, die die entropische Natur einem energetischen Stadtbild konfrontieren. Hier, im „Babel“ Berlin, ist alles Energie, Betriebsamkeit, vor allem aber ein Bild von Kampf und berwltigung, das sich semantisch analog zu den Elendsbildern verhlt, die der Text immer wieder aufsucht und die in der quasi-emblematischen Deutung des Industriebildes – von

220 221 222 223

Åoise Gaillard (Hg): Art Social und Art Industriel. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus, Mnchen 1987, 424 – 465, 446 ff. Kretzer: Die Betrogenen [1882], I, 142, II, 321. Ebd., I, 7. Ebd. Ebd., I, 4 ff.

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einem „tausendfltige[n] Schrei nach tglichem Brode“224 ist die Rede – antizipiert werden. In diesen Verbindungen schafft der Text durch seine energetische Metaphorik hindurch ein Netz von semantischen Bezglichkeiten, die den Erzhler ohne grçßere Widerstnde zwischen den verschiedenen Milieus und Lebenssphren wechseln lassen. Dabei erweist sich ihre Heterogenitt in dem Maße als vordergrndig, wie die Rume der Arbeit und die Elendsquartiere der Großstadt nur Adaptionen desselben existenziellen Prinzips sind. Die naturalistische Elendsschilderung ist bei Kretzer in pittoreske Ensembles eingelagert, deren Sinn sich in der Paradigmatik tendenziell gleichfçrmiger Zustandsbilder erschçpft, und analog erscheint das soziale Elend als Bild derjenigen, die im Daseinskampf ber zu geringe vitale Energien verfgt haben: Dort beugte sich mit schmerzenreichen Antlitz eine Mutter ber ihren Liebling, der in den letzten Zgen lag, hier stand ein graubrtiger alter Vater im schlichten Gewand mit gefalteten Hnden, thrnenden Auges auf sein Sçhnlein starrend, das soeben in den Hnden der barmherzigen Schwester verschieden war. Dort hatte man einen neuen Patienten in Tcher gehllt eingeliefert, Mutter und Schwester kssten und herzten ihn schluchzend beim Abschied, hier hatte eine der Wrterinnen vor einem Bettchen einem Elternpaar soeben die freudige Mitteilung gemacht, dass die Gefahr fr ihr Tçchterchen vorber sei, und ein Lcheln stillen Glckes auf Beider Antlitz gezaubert.225

Wie viele andere Romantexte aus der Frhphase des Naturalismus partizipieren auch Die Betrogenen an einer Poetik der Enthllung, die der Text ausdrcklich als Leistung des Erzhlers konturiert. Unter der bewegten Phnomenwelt tritt ihm, darin ganz in der Tradition des brgerlichen Realismus und seiner Dichotomie von ,Wesen‘ und ,Erscheinung‘,226 eine ,eigentliche‘ Realitt entgegen. Wenn Freigang seinen Blick durch die Fabrikhallen schweifen lsst, zielt der Visualismus des Textes auf ein Substrat, das unter der „Verwilderung“227 der Erscheinungen eine plastische Schçnheit sichtbar macht: Oswald Freigang war in seiner stummen Betrachtung nahe daran, sich […] philosophischen Betrachtungen hinzugeben, als seines Freundes Unterbre224 Ebd., I, 7. 225 Ebd., II, 213 f. 226 Zu den Kontinuitten dieses realidealistischen Dispositivs im Naturalismus vgl. Kolkenbrock-Netz: Fabrikation, Experiment, Schçpfung, 19 ff., Gerhard Plumpe: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Theorie des brgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 1985, 9 – 40, 19. 227 Kretzer: Die Betrogenen [1882], I, 7.

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chung der Atelierstille ihn daran erinnerte, daß es […] wieder nothwendig sei, einen Blick auf die Fabrikuhr zu werfen. Sie zeigte auf zehn Minuten vor Zwçlf. […] Dann begannen sich jene Steinzellen da drben zu entleeren und er konnte das Feld seiner realistischen Studien durch den Anblick eines Schwarmes Arbeiterinnen zur Genge erweitern. Vielleicht fand er unter ihnen irgend ein prchtiges Modell, dessen goldblondes Haar, dessen ebenmßiger Wuchs und plastischer Kçrper unter geistiger Verwilderung, unter verschossenen Tchern, geflockten Kleidern und verblichenen Taillen nicht gelitten hatten.228

Man wird die Grenzlinie, die den Naturalismus vom brgerlichen oder poetischen Realismus trennt, angesichts solcher Betrachtungen kaum in einer Opposition von Realidealismus und naturalistischer Mimesis ausmachen kçnnen. Ohnehin steht der frhe Naturalismus ganz in der Tradition des poetischen Realidealismus.229 Die Differenz betrifft vielmehr das Substrat, das die enthllenden Blicke des Erzhlers freilegen, und so muss auffallen, dass dem sthetischen Plastizismus Freigangs eine den Text unablssig begleitende Kraft der Verelendung an die Seite tritt. Was Kretzers Roman im enthllenden Blick des Erzhlers prpariert, ist eine ubiquitre Verelendungsenergie, die dem Leser eine ,andere‘, dem Blick entzogene und gewissermaßen abjekte Stadt vor Augen fhrt,230 in 228 Ebd., I, 7 f. 229 Vgl. Heinrich Hart: Die realistische Bewegung. Ihr Ursprung, ihr Wesen, ihr Ziel [1889]. In: Brauneck/Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, 118 – 128, 122: „Die Poesie ist […] eine hçhere Potenz des Seienden, als die Wirklichkeit, es berragt dieselbe in gleichem Maße, wie die Wirklichkeit den Traum […]. Beide, Traum wie Dichtung, beruhen auf der Wirklichkeit, insofern diese ihnen den Stoff liefert; whrend jene aber die Wirklichkeit verflscht […], wird sie von der Poesie dadurch erhçht, daß die Wahrheit, die als innerster Kern in der Wirklichkeit eingeschlossen liegt, aber von dem Wirrwarr der Erscheinungen verhllt wird, in der Dichtung licht und klar zum Vorschein kommt.“ Vgl. zu dieser „versçhnende[n] Tendenz des Realismus“ die explizit idealrealistische Position Bçlsches in ders.: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie [1887], 3 – 6, sowie zur Frhgeschichte des Naturalismus Lothar L. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. ber die Situierung der Literatur in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne, Tbingen 2005. 230 Vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt/M. 1999, 516 ff. Diese Enthllungsstruktur verweist auf die Tradition der Mysterienliteratur, die im Anschluss an Eug ne Sues beraus erfolgreiche Mystres de Paris (1842/43) auch in Deutschland vielfach Nachahmung findet. 1844 werden, wenn auch auf Berlin konzentriert, allein drei SueNachahmungen publiziert, die am Beginn einer bis zum Jahrhundertende nicht mehr abreißenden Folge solcher ,Mysterien‘ stehen. Vgl. Forderer: Die Großstadt

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der die zivilisatorischen Krfte wie geschwcht erscheinen. In ihren Manifestationen vollzieht sich eine Verwandlung des stdtischen Raums, die ihm eine „andere Physiognomie“231 verleiht, und entsprechend dient die Paradigmatik, mit der der Text die immer gleichen Bilder der moralischen Pauperisierung aufsucht, der Plausibilisierung eines ,kulturtheoretischen‘ Erklrungsmusters. Es besteht darin, die sichtbar gemachte Verelendung als Moment einer geschwchten Vitalkraft zu verstehen, die sich irreversibel vergesellschaftet hat. Nur der Erhrtung dieser kulturkritischen Spekulation dient der streifende Blick des Erzhlers, der den allgegenwrtigen und doch „geheimen Weg des Lasters“232 durch die Stadt verfolgt. Nur in einem Seitenblick sei vermerkt, dass zahlreiche naturalistische Romane solchen Wegen in die Verworfenheit folgen. In John Henry Mackays Zeitroman Die Anarchisten (1891) spaltet sich der Erzhlfokus in nur zwei narrative Zustnde: Entweder er richtet sich auf das unendlich ,proliferierende‘ Gesprch seiner bohemehaften Anarchisten, oder er lsst seine beiden Hauptfiguren – die Sozialisten Auban Carran und Otto Trupp – an den großen Strçmen teilhaben, mit denen die Verarmten ihren Weg durch die Elendsquartiere Londons antreten und der Stadt immer neue Spuren der Verelendung einzeichnen.233 Wilhelm Hegelers Roman Mutter Berta (1893) verwandelt die Verelendung seiner Hauptfigur in einen Mythos vom Tod der lebensspendenden Mutter; damit richtet sich der darwinistische Existenzkampf gegen seine eigene Grundbedingung: das Leben.234 Hier wie dort relativiert sich die naturalistische Sozialanalyse allerdings betrchtlich. In berdeutlicher Weise ruht Kretzers Verelendungsschema weniger auf sozialanalytischen Einsichten als vielmehr auf einem Schematismus, der die Romanfiguren danach anordnet, wie es ihnen gelingt, sich den verelendenden Einflssen der Stadt zu entziehen. Entsprechend stellen sich die verelendenden Krfte nicht als Folgemomente ungelçster sozialer Antagonismen, sondern als Verfhrungskrfte

231 232 233 234

im Roman, 183 – 190 und mit Hinweisen auf das entsprechende, heute kaum mehr bekannte Material (A. Brass, R. Lubarsch, A. Zapp) Manuel Kçppen: Das unterirdische Berlin oder die Geheimnisse der anderen Stadt. In: Knut Hickethier (Hg.): Mythos Berlin. Zur Wahrnehmungsgeschichte einer industriellen Metropole, Berlin 1987, 119 – 132, 124 ff. (Anm. 332 f.). Kretzer: Die Betrogenen [1882], II, 99. Ebd., I, 22. Vgl. John Henry Mackay: Die Anarchisten. Kulturgemlde aus dem Ende des 19. Jahrhunderts [1891], Leipzig 1992. Vgl. Wilhelm Hegeler: Mutter Berta. Roman, Berlin 1893, 228.

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schlichter „Laster[]“235 dar. Auf diesem Weg reduziert sich die gesamte soziale Analytik des Textes auf den Maßstab eines abstrakten Moralismus, der lediglich die Willensenergien evaluiert, mit denen sich einzelne Figuren gegen diese „Laster“ zur Wehr setzen. „Zweierlei hatten diese Mdchen“, heißt es, sobald sie bereits lngere Zeit nach der Fabrik gingen, gemein, das wie die Charakteristik ihrer Lebensart erschien: das gleich einer Dirne in die Stirn gekmmte kurzabgeschnittene Haar und Stiefeletten mit hohen Hacken. […] Sie und das Stirnhaar waren das Aushngeschild der moralischen Entwrdigung ihrer Besitzerinnen, das stumm aber schlagend auf den geheimen Weg des Lasters wies. Und unter diesen Frauensleuten […] tauchten jngere, vollere Gestalten auf: Mdchen mit noch halb kindlichen Gesichtern, an deren weiblichem Hauch die Fabrikatmosphre noch spurlos vorbergegangen war. […] Sie lachten noch hell und melodisch, nicht heiser und frech, wie die andern; sie ehrten noch ihr Geschlecht in ihren Bewegungen und verletzten das Auge nicht, wie jene […]. Und doch, wie lange wird es dauern, im Dampf und Qualm der Sle, Aug‘ in Aug‘ mit Mnnern – – . […] Lina Schmidt hatte sich in ihren besten Staat geworfen und htte in der enganliegenden Seidenrobe und dem schwarzen Hut mit großer blauer Feder beinahe wie eine vornehme Dame ausgesehen, wenn man an ihrem Gesicht nicht die geheime Dirne angesehen htte. Diese blassen durchsichtigen Zge, dieses breite, sinnliche Lachen, diese halbmatten frechblickenden Augen […] – gaben dem Antlitz jenen herausfordernden Anstrich, dem jede weibliche Wrde abhanden gekommen ist.236

Das umfngliche Zitat rechtfertigt sich dadurch, dass in ihm die Enthllungsstruktur des Textes besonders deutlich wird. Zum einen ist sie auf eine Semiotik verwiesen, die jede ußerlichkeit auf ihre determinierenden Substrate hin deutet; Signifikant und Signifikat sind hier – analog zu den semiologischen Funktionsbedingungen des Milieus – urschlich aufeinander bezogen. Zum anderen neigt dieser Blick dazu, Zeichen in eine akkumulative Logik einzuarbeiten, die von ersten Andeutungen auf die Folgerichtigkeit ihrer kulturellen Dynamik schließt. Und schließlich verweist der ganze enthllende Visualismus insofern auf die eminente Leistung des Erzhlers, als es sich um einen Deutungsvorsprung handelt, der den Erzhler von seinen Figuren dezidiert trennt. „Aber merkte denn dieser seelensgute Knstler“, kommentiert der Erzhler Schlichtings Liebe zu Jenny Hoff, eine der ,Gefallenen‘, „gar nicht, 235 Kretzer: Die Betrogenen [1882], I, 22. 236 Ebd., I, 21 ff. bzw. I, 246 f. Umgekehrt kann durch Zeichen ußerlicher Verelendung auf moralische ,Reinheit‘ geschlossen werden. Vgl. etwa Ebd., II, 197 f.

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daß sich dieses Mdchen wirklich nichts aus ihm machte? […] Vergaß er denn ganz und gar, daß er es hier mit einem Fabrikmdchen zu tun hatte […]? O, da hatte dieses junge Ding bereits in dem herrschenden Tone bedeutende Fortschritte gemacht.“237 Kretzers Roman lsst unterhalb dieses Erzhlschemas allerdings eine andere Erzhlfgung erkennen. Sie steht in keinem Gegensatz zum Enthllungsverfahren des Textes, sondern nutzt den Umstand, dass es zugleich einen illusionslosen Blick auf die wahren Verhltnisse gestattet. Vor allem fr Hannes Schlichting erweist sich der ,Kampf ums Dasein‘ als Erschließung einer solchen Wahrheit, die unter seinen Lebensillusionen bislang verborgen geblieben war und die ihn gegen Ende des Romans mit der Einsicht konfrontiert, dass seine Liebe zu Jenny Hoff einer ,Verelendeten‘ galt. Der Text bemht sich an dieser Stelle darum, den Eindruck zu erwecken, als habe Schillings spte Einsicht eine ungreifbare Bedrohung abgewendet, und analog zum Erzhlprogramm des Textes, ,alles sehen‘ zu wollen, wirkt diese Einsicht wie die berwindung einer Art epistemischer Blindheit: War er denn bisher blind gewesen, daß er nicht wußte, was aus diesem Mdchen geworden war? Und was er niemals sah, das sah er jetzt: dieses hßliche Lachen, das ganze Frivole der Bewegungen, und dieses dirnenartige Kleid, das vorn die Bste unanstndig wie in einem Tricot hervorpreßte, und auf dem Rcken eine Reihe herausfordernder, thalergroßer, hellleuchtender Hornknçpfe trug, die sich vom Nacken in den Wellenlinien des Kçrpers bis tief hinab fortsetzten. […] Freigang drckte ihm die Hand […]: ,Ich habe das vorausgesehen, Hannes, aber ich wollte nichts sagen. Danke Deinem Schçpfer, daß es so gekommen ist […].’238

Das trivialliterarische Affektschema ist an dieser Stelle unbersehbar. Dennoch verrt es – bedenkt man zumal, dass die frhere NaturalismusForschung an solchen ideologischen Zwiespltigen erheblichen Anstoß genommen hat239 – viel ber die Abwehrgesten, die den Naturalismus vor seiner programmatischen Nhe zur ,sozialen Frage‘ haben zurckschrecken lassen. Dass der Naturalismus in einem Phantasma restloser Sicht-

237 Ebd., II, 78. 238 Kretzer: Die Betrogenen [1882], II, 279. 239 Vgl. Klaus-Michael Bogdal: ,Schaurige Bilder‘. Der Arbeiter im Blick des Brgers am Beispiel des Naturalismus, Frankfurt/M. 1978; Helmut Scheuer: Einfhrung des Herausgebers. In: Ders. (Hg.): Naturalismus. Brgerliche Dichtung und soziales Engagement, Stuttgart 1974, 7 – 10, 9; Peter Brger/Christa Brger/ Jochen Schulte-Sasse: Naturalismus/sthetizismus, Frankfurt/M. 1979.

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barkeit ,alles‘ hat sehen wollen,240 bricht sich bei Kretzer an einem Blick, der sich von den Phnomenen fortlaufend abwendet. In Schlichtings resignativer Geste deutet sich, wie erwhnt, ein komplementres Erzhlmuster an. Hierbei handelt es sich um das Modell der ,Entsagung‘, das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem viel verwendeten Erzhlschema aufrckt241 und nach 1873 recht przise das pessimistische Zeitklima, wie es durch die ,Erlçsungsphilosophien‘ Eduard von Hartmanns und Schopenhauers geprgt wurde, in sich aufnimmt. Welche semantischen Legierungen Entsagung und Pessimismus, Schopenhauer, Hartmann und Nietzsche im naturalistischen Roman eingehen, belegt Felix Hollaenders 1896 erschienener Zeitroman Sturmwind im Westen. Der kaum je gelesene Text ist aus drei Grnden besonders signifikant. Erstens gestaltet er die Figuren von Resignation und Entsagung zu einem Narrativ der Umkehr um, das die Sujetfgung ,homçosthatisch‘ organisiert; Umkehr zielt hier auf einen Zusammenhang von urschlicher Verfehlung und schließlicher Restitution. Zweitens entfaltet sich der thesenhafte Text als unaufhçrliches Gesprch, dessen Paradigmatik als Diskursstreit zwischen „starken Naturen“ und Willens„Asketen“242 entfaltet wird. Und drittens entspricht der Roman nicht nur in seiner unmittelbaren Zeitnhe, sondern vor allem hinsichtlich seiner diegetischen Struktur und seiner Konfiguration dem Schema des naturalistischen Zeitromans. An die Stelle einer chronologisch strikt fortschreitenden Handlung tritt in Hollaenders Roman ein Wechselspiel von Handlung und reflektierendem Gesprch, wobei je nach gewhltem Fokus Handlung oder Gesprch in den Erzhlvordergrund treten und ihr Bezug so organisiert ist, dass der Disput deutend auf die Zeit bezogen ist. Diese Deutung vollziehen zwei Hauptfiguren – der nietzscheanische „Tatmensch“243 Regine Heller und der Willens-„Nazarener“244 Gent –, 240 Vgl. nochmals Vinken: Zola – Alles Sehen, Alles Wissen, Alles Heilen. 241 Vgl. Wolfgang Lukas: ,Entsagung‘ – Konstanz und Wandel eines Motivs in der Erzhlliteratur von der spten Goethezeit zum frhen Realismus. In: Michael Titzmann (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tbingen 2002, 113 – 149. 242 Hollaender: Sturmwind im Westen [1896], 79. – Der Text ist, so weit ich sehe, bislang unkommentiert geblieben. Hollaender (1867 – 1931) war Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin und Intendant in Frankfurt. 1920 wurde er Nachfolger von Max Reinhardt am Großen Schauspielhaus Berlin. Bis zur Jahrhundertwende schrieb Hollaender zahlreiche Romane und Novellen, die dem Naturalismus verpflichtet sind. 243 Ebd., 135. 244 Ebd., 47.

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die weniger psychologisierte Figuren als Trger reprsentativer Zeitstrçmungen bilden.245 Unter dem Text dieser in Thesen gekleideten Zeitnhe realisiert sich freilich eine zur Hypertrophie gesteigerte nervçse Kultur. Wenn sich das Gesprch zwischen Regine Heller und dem in entsagungsvoller Liebe gefangenen Gent als Austausch von Argument und Gegenargument entfaltet, dann wirken im Hintergrund dieses empfindsamen Seelentons die „entfesselten Instinkte[]“246 des nervçsen Zeitalters. In ihm ist der „Kampf zwischen den Starken und den Schwachen“247, in dem „Wille[] gegen Wille[] [galt]“248, zu einer infernalen Erregtheit gesteigert, die sich wie ein Sekundrtext zum Archetext der Beardschen Neurasthenie-Lehre verhlt. Alles in Hollaenders Zeitroman folgt dem Prtext Beards: die „entsetzlich nervçs[e]“249 Mentalitt der Mnner und die „hysterischen Weiberlaunen“250 der Frauen, das ewige Treiben der „Bçrse“251 und der „haute finance“252, die entfesselte Spekulation, die Vielzahl der zirkulierenden Meinungen, die die Presse hervorbringt,253 die gewachsene Menge und Intensitt der ,Kulturinhalte‘, die an der gebildeten „Verstandesfrau“254 Regine Heller den Zusammenhang von nervçser berreiztheit 245 Vgl. Peter Hasubek: Der Zeitroman. Ein Romantypus des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift fr deutsche Philologie 87 (1968), 218 – 245, 220 – 225 sowie in gattungsgeschichtlicher Perspektive Dirk Gçttsche: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im spten 18. und im 19. Jahrhundert, Mnchen 2001. 246 Hollaender: Sturmwind im Westen [1896], 170. 247 Ebd., 13. 248 Ebd., 21. 249 Ebd., 17. Zu den tiologischen Faktoren der modernen Zivilisation vgl. George M. Beard: American Nervousness, its causes and consequences. A supplement to Nervous Exhaustion (Neurasthenia), New York 1881, 96 – 192. Ein hnliches, aber komprimiertes Panorama entwirft Albert Moll: Der Einfluß des großstdtischen Lebens und des Verkehrs auf das Nervensystem. Sonderabdruck aus der Zeitschrift fr Pdagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene, Berlin 1902. Der Autor gehçrt zu den außerordentlich prominenten und einflussreichen Nervenrzten der Zeit. 250 Hollaender: Sturmwind im Westen [1896], 21. Vgl. Beard: American Nervousness [1881], 21. Vgl. zur „hysteria“ und den nervçsen „deseases of women“ Beard: American Nervousness [1881], VI (Preface) und 78 ff. 251 Hollaender: Sturmwind im Westen [1896], 12. 252 Ebd., 164. 253 Ebd., 166. Zur „periodical press“ vgl. Beard: American Nervousness [1881], VI (Preface) und 99. 254 Hollaender: Sturmwind im Westen [1896], 80. Zur „mental activity of women“ vgl. Beard: American Nervousness [1881], VI (Preface).

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und Weiblichkeit bloßlegt, und die unaufhçrliche bertragung von Geld, Aktien und Spekulationsobjekten. Fluchtpunkt dieser nervçsen Kultur der Mentalitten, Gerchte und Dinge ist die Erosion aller Bindungen und Unterscheidungen im Angesicht einer allgegenwrtigen „Kurssteigerung“: Das Publikum, durch die Presse ber die Großartigkeit und unzweifelhafte Gewinnbringung […] unterrichtet, hatte mit den entfesselten Instinkten des Geldhungers und der Habsucht auf die Emission der Aktien gelauert. Die großen und die kleinen Kapitalisten waren wie von einem Fieber gepackt, das stndlich mehr um sich griff. Die Kaufwut schien keine Grenzen mehr zu kennen. […] Bei den zahllosen Gerchten, die umherschwirrten, wurde das neueste immer von noch neuerem berholt. […] Denn solche goldne Gelegenheit, mhelos reich zu werden, wollte niemand sich entgehen lassen. Da waren alle Stnde eintrchtig nebeneinander vertreten, es gab keine sozialen Unterschiede mehr, es gab nur einen Hunger, den sie alle in gleichem Maße sprten: rzte und Anwlte, Kaufleute und Lakaien, arme Lehrer und Lehrerinnen, hohe Wrdentrger und mhselige, kleine Beamte, Gelehrte und Knstler.255

Von dem Hintergrund solcher Zeitbilder wirken die Gesprche der beiden Willenstheoretiker Gent und Regine Heller eigentmlich entrckt. Auch wenn in den Salonton dieser Dispute immer wieder Regine Hellers familire Situation und die geschftlichen Verstrickungen ihrer Brder Arthur und Felix eindringen, bewahren die Gesprche eine thesenhafte Abstraktion, die das Erçrterte auf eine ethische und damit im Wesentlichen zwischen Schopenhauer und Nietzsche verlaufende Fragestellung zuschneidet. Entsprechend zur Konfiguration und ihrer ber Kreuz gestellten Geschlechterpolaritt erweist sich der willensschwache und reaktive Gent als Vertreter einer asketischen Mitleidsethik, whrend Regine Heller dem naturalistischen Typus der willensstarken und autonomen Frau entspricht. Dass es sich hierbei um Typisierungen handelt, belegt bereits der Umstand, dass der Text lediglich die Konfiguration von Gerhart Hauptmanns Einsamen Menschen (1891) nachbildet; auch 255 Hollaender: Sturmwind im Westen [1896], 169 – 171. Die Parallelen zu einem Schlsseltext der Epoche – Friedrich Spielhagens Sturmflut von 1877 – sind an dieser Stelle unbersehbar, zumal die semantische Markierung im Romantitel – der ,Sturmwind‘ – dasselbe kollektivsymbolische Feld (Ostsee-Sturmflut von 1872, Bçrsenkrach von 1873) anspielt. Vgl. Axel Drews/Ute Gerhard: Wissen, Kollektivsymbolik und Literatur am Beispiel von Friedrich Spielhagens ,Sturmflut’. In: Edward McInnes/Gerhard Plumpe (Hg.): Brgerlicher Realismus und Grnderzeit 1848 – 1890, Mnchen, Wien 1996 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 6), 708 – 728, 713 ff.

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Hauptmann verkehrt die geschlechteranthropologischen Zuschreibungen, indem er die Charakteristika der Geschlechtswesen ,Mann‘ und ,Frau‘ wechselseitig aufeinander bertreten lsst, und auch Hauptmann stellt dem „reizbaren“256 Neurastheniker Friedrich Vockerath die „starke Individualitt“257 Anna Mahr gegenber, die „zh“ ihre „Ziele verfolgt“258. Ein bloßer Zeittyp ist Regine Heller aber auch, weil sie in einem ideellen Amalgam aus einem nietzscheanischen Vitalismus und einem an Stirner geschultem Kritizismus259 einer radikalen kulturellen Erneuerung das Wort redet, die recht genau Nietzsches Kampf der „Herrennaturen“260 entspricht, wie Regine Heller dem „Pessimisten“261 Gent erlutert: ,Und damit ist […] nicht Kulturniedergang, sondern -aufgang verknpft. Denn so innerlich Freie werden auch die Freiheit der anderen respektieren, deshalb, weil sie, mit den Dogmen und fixen Ideen einer verlebten Kultur fertig, notwendigerweise eine gewisse Bergeshçhe erreicht haben und, dem beengenden Tal entwichen, Freiluft atmen. Solche Herrennaturen werden nicht den Fuß auf den Nacken der anderen setzen – sondern sie emporzuheben suchen. Und in diesem Sinne werden sie sogar ethischer sein, als Sie, Herr Rechtsanwalt! In Parenthese, ich gehçre nicht zu diesen starken Naturen.‘ ,Doch, Sie gehçren dazu – Sie sicher!’262

Der Schematismus, der die Reden und Gegenreden der beiden Figuren bestimmt, nimmt dem „Priester der Askese“263 Gent die Mçglichkeit, zu einer Reaktion zu finden, die sich außerhalb der durch die weltanschaulichen Gegenstze des Romans vorgezeichneten Bahnen bewegt. Was Gent an Regine Heller in einer gewissermaßen metadiskursiven Wendung demgegenber bloßlegt, ist eine zeittypische Fehlentwicklung, die sich in den Vernderungen des weiblichen Geschlechtscharakters zeigt; ein Argument, dass sich dem Relevanzstreit um Pessimismus und Vitalismus, um individualistische Entsagung und kulturstiftenden Voluntarismus entzieht und stattdessen eine normative Geschlechteranthropologie sichtbar macht, in der die willensstarke „Verstandesfrau“264 256 Gerhart Hauptmann: Einsame Menschen. Drama [1891]. In: Ders.: Smtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass. Bd. 1: Dramen, Darmstadt 1966 [CentenarAusgabe Bd. 1], 167 – 258, 176. 257 Ebd., 206. 258 Ebd., 214. 259 Vgl. Hollaender: Sturmwind im Westen [1896], 78. 260 Ebd., 79. 261 Ebd., 81. 262 Ebd., 79. 263 Ebd., 48. 264 Ebd., 80.

3. Enthllung, Umkehr, Naturalisierung

109

kurzerhand zu einem polemischen Zerrbild der Kulturentwicklung vergrçßert wird: ,Mich dnkt, als ob Frauen Ihres Schlages in dem harten Ringen nach dem Geistigen, in dem Streben nach mçglichst weitem Umfassen alles Umfassenswerten, ihr bestes verlieren. Ich meine, diese geistigen Exerzitien gehen auf Kosten des feinen Inhalts Ihrer Seele. Ich gehçre zu diesen Philistern, gndige Frau, denen Angst ist vor der Verstandesfrau, denen am Weibe das Gemt die Sonne ist, wo sie sich wrmen mçgen.’265

Die Abwehrgeste einer „schwchliche[n] Seele“266 resultiert, darin liegt die Ambivalenz des Textes, nur vordergrndig aus einer Position der Unterlegenheit. Wenn auch Gent in den Disputen mit seiner intellektuell berlegenen Gesprchspartnerin fortwhrend seine Insuffizienz vor Augen gefhrt bekommt, so organisiert sich der Text um einen diskreten Pakt, den er zwischen dem Erzhler und seiner willensschwachen Figur schließt. Am Ende nmlich behlt der reaktive Gent, der Regine Heller schon frh eine „bittere Enttuschung“267 prognostiziert, Recht, und es wirkt wie eine diskrete Rache am berschssigen Vitalismus Regine Hellers, dass sie der Text durch ihre scheiternde Ehe und ihre glcklose Liebe zu Gent hindurch schließlich zu einer Umkehr nçtigt. Diese Umkehr verlangt ihr das Eingestndnis ab, im Namen eines nietzscheanischen Begriffs des Lebens und eines abstrakten Ideals des neuen Menschen das eigene Leben verkannt zu haben. Am Ende des Romans wird die Verstandesfrau mit der Einsicht konfrontiert, dass die Adolatrie der „starken Naturen“268, die in sich die „Ideen einer verlebten Kultur“269 radikal abgestoßen haben, zu einer verhngnisvollen Vereinseitigung des Lebens gefhrt hat: Sie entsann sich, daß er [Gent, I.S.] niemals den Anspruch erhoben, ein scharfer Denker zu sein […]. Ich habe nicht auf den neuen Menschen abonniert, hatte er einmal lchelnd geußert, das soll nicht Ironie sein, gndige Frau, nur die nchterne Erkenntnis eines Durchschnittswesens. Das hatte sie damals innerlich geschmerzt […]. Aber jetzt kam ihr das so dnkelhaft und tçricht vor – jetzt, wo die Einsamkeit ihr klar gemacht, daß neben geistiger Grçße noch etwas anderes zu Recht bestand: der sittlichkrftige Mensch. […] Pflicht … Liebe … Sittlichkeit – dem konsequenten

265 266 267 268 269

Ebd. Ebd., 45. Ebd., 79. Ebd. Ebd.

110

II. Daseinskmpfe

Denker lngst veraltete Begriffe, sie kehrten zu ihr zurck wie liebe, traute Kindermrchen.270

Die Umkehrfigur des Textes weist freilich in eine doppelte Richtung. Im Blick auf das Einzelschicksal Regine Hellers fgt sie sich in die zahlreichen Romane, die um 1900 die kulturelle Macht eines Geschlechtertextes vor Augen fhren, der die Verfehlungen des weiblichen Geschlechtscharakters in ebenso normalisierte wie entsagungsreiche Lebenslufe zurcklenkt. „Ich will nur noch meinem Kinde leben und der Erinnerung an Sie“271, lauten die letzten Briefzeilen Regine Hellers an das „Durchschnittswesen“272 Gent. Entsprechend durchziehen Restitutionen dieser Art zahlreiche Text der 1890er Jahre. In Gabriele Reuters Roman Ellen von der Weiden (1901) wird die Hauptfigur von Beginn an als Schreckbild „einer hysterischen Jugend“273 beargwçhnt und der Willensdisziplin eines Ehemanns unterstellt, der als Nervenarzt entsprechende Maßnahmen in Aussicht stellt. „Dergleichen Grbeleien“, lautet die Mahnung angesichts der knstlerischen Interessen, die die junge Frau ihrem Ehemann allmhlich entfremden, „werden bei Frauen leicht krankhaft und fhren zu einem melancholischen, zerfahrenen Wesen. Du solltest sie bekmpfen […].“274 Unterhalb des neurasthenischen Diskurses folgt der Text auch hier einer „Entsagung“275, die die Hauptfigur – nach den „Nervenexaltationen“276 einer außerehelichen Beziehung – in ein Leben zurckfhren, dem der Ausgleich zwischen den individuellen Leidenschaften und den regulativen Erwartungen des Sozialen glcken soll. Zugleich fhrt Hollaenders Roman in eine Richtung, die ber das Einzelschicksal seiner weiblichen Hauptfigur hinausweist. Es macht jedenfalls den tendenziçsen Charakter des Romans aus, dass er im Bild einer sich vitalistisch verfehlenden Weiblichkeit zugleich eine sich selbst verfehlende Kultur sichtbar macht, die der Text zur Umkehr zwingt, indem er an die Stelle einer aktiven kulturellen Selbsterneuerung symbolische Momente einer ,Bewahrung‘ setzt. Dass Regine Heller gegen 270 271 272 273 274 275 276

Ebd., 145. Ebd., 216. Ebd., 145. Gabriele Reuter: Ellen von der Weiden. Roman. Berlin o. J. [1901], 58. Ebd., 32. Ebd., 138. Ebd., 123. Die im Text ausgebreitete Symptomatik entspricht recht genau den ,unaufflligen‘ Formen weiblicher Willensschwche (Abulie). Vgl. Albert Moll: Das nervçse Weib [1898], Berlin 21898.

3. Enthllung, Umkehr, Naturalisierung

111

Ende erneut Zutrauen zu „lngst veraltete[n] Begriffen“277 findet, spricht die symbolische Sprache einer Kultur, die sich gegen die zeittypischen Ansprche ihrer vitalistischen Erneuerung zur Wehr setzt. Womçglich aber geht der Text in der Einsinnigkeit dieser ,Umkehr‘ nicht restlos auf. Mag die reaktive Haltung Gents mit dem impliziten Konservativismus des Textes konvergieren und Regine Heller zur Entsagung gençtigt werden – auch Gents Perspektive bezahlt ihre Beharrungskraft mit dem Verzicht auf die geliebte Frau. Unter dieser Geste des Verzichts, die die aktiven und reaktiven Figuren gegen Ende des Romans einander annhert, verzeichnet Hollaenders Roman symbolisch den psychoçkonomischen Preis, den der Einzelne in der kulturellen Moderne zu zahlen hat: die Trauer der Entsagung. Unter dem resignativen Ende dieses Textes findet Hollaenders Roman Anschluss an eine ,Tragçdie der Kultur‘, die sptestens um 1900 in einer sentimentalischen Tonlage die Verluste berechnet, die der Kulturprozess den angestammten Lebenszusammenhngen zugefgt hat. Wenn ein Großteil der naturalistischen Romanproduktion damit von den negativen Folgen angetrieben wird, die die moderne Kulturentwicklung produziert, dann machen sie in Kurt Grottewitz‘ Roman Eine Siegernatur (1892) einem ideologischen Projekt Platz, das mit geradezu brutalistischem Elan die Ansprche des elementar Strkeren vertritt und zum Gehalt der kulturellen Moderne erklrt. Nur mehr topisch heißt es ber den ehemaligen Gutsbesitzer und Bankrotteur Schneider, dass ihn „vor dieser neuen Zeit, die unbarmherzig hinwegtrat ber die Schwachen und Armen, [ein Grauen] faßte. Es lag etwas in der Gegenwart, was die Kleinen vernichtete und die Großen grçßer und grçßer machte.“278 Jenseits dieser Topik ist freilich die indolente Lust unbersehbar, mit der der Text sein Narrativ besetzt und zu einer Art ,wilder‘ Energetik ausphantasiert. In ihrer Konsequenz liegt es, dass der Text den Daseinskampf aus seinem stdtischen Schauplatz lçst und in die elementare Natur der 277 Hollaender: Sturmwind im Westen [1896], 145. 278 Kurt Grottewitz: Eine Siegernatur. Moderner Roman, Berlin 1892, 205. Grottewitz (1866 – 1905) zhlt, hnlich wie Hollaender, zu den ungelesenen und unkommentierten Autoren des Naturalismus. Bekannt ist er allenfalls als Initiator einer EnquÞte ber die Zukunft der deutschen Litteratur, die 1892 erschien und immerhin 74 Autoren der Zeit, darunter Nordau, Holz, Schlaf und Eduard von Hartmann, zu einer Reaktion veranlasste. Ab 1890 trat Grottewitz als Propagator eines ,Neu-Idealismus‘ hervor, der sich gleichermaßen gegen Naturalismus und Dekadenz richtete.

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„schsische[n] Ackerbaugegend“279 verlegt. Entsprechend episodisch bleiben die Bemhungen des Romans, seiner Handlung – immerhin scheint zu Beginn die „Bismarck’sche[] Zollpolitik“280 durch, auch die Sozialdemokratie findet eine Erwhnung – Zeitnhe und Aktualitt zu verleihen. Im Kern zielt der Text auf eine mythische Welt, in der nur elementare, d. h. willensstarke und willensschwache Figuren beheimatet sind und in der alles Handeln durch die elementaren Konstellationen bewegt wird, die die Willensnaturen zu einander einnehmen. Es liegt auf der Hand, dass der Text vor diesem Hintergrund einem entsprechend elementaren Erzhlverlauf folgt. Bereits der Titel Eine Siegernatur zitiert das fundierende Erzhlschema nur, um es in eine Geschichte vom unaufhaltsamen Aufstieg einer vor „berschwellende[m] Kraftgefhl“281 und „Mnnlichkeit“282, „Energie“283 und „lebenszh[er]“284 Herrschsucht strotzenden Willensnatur zu verwandeln. Im Mittelpunkt der Erzhlung steht der Großknecht Franz Bohle, der zunchst im Dienst des Großbauern Schultze ttig ist, sich aber durch ußersten Pragmatismus alsbald in den Besitz eines landwirtschaftlichen Großbetriebs bringt, dessen „alte Art der Bauernwirtschaft“285 er rasch modernisiert: Franz hatte das Prinzip der modernen Wirtschaftsweise bald erkannt. Es kam darauf an, auf der einen Seite die immer hçhere Lçhne fordernden Arbeiter entbehrlicher und deshalb gefgiger zu machen und auf der anderen Seite durch Massenherstellung die Produktion billiger und dadurch absatzfhiger zu gestalten. Er hatte große, weitgehende Plne, ber denen er Tag und Nacht brtete. […] Dann […] hob sich seine Brust in stolzem Selbstgefhl, man wrde staunen, wie er hçher und hçher stieg und aus der alten lndlichen Patriarchenwirtschaft eine moderne rationelle Produktion schuf, die ein ganz neues Aussehen hatte.286

So vertraut das semantische Material – etwa aus hnlich gelagerten Romanen von Wilhelm von Polenz (Der Bttnerbauer, Der Grabenhger) oder Annie Bock (Der Zug nach dem Osten) – ist, es erfhrt bei Grottewitz eine dezidiert nicht-sentimentalische Wendung. Was bei Polenz und Bock 279 280 281 282 283 284 285 286

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

1. 32. 14, 63. 10. 12. 9. 116. 113 f.

3. Enthllung, Umkehr, Naturalisierung

113

dazu dient, den tief greifenden Strukturwandel der landwirtschaftlichen Produktionsweisen zu veranschaulichen, fgt sich bei Grottewitz willig in die „rcksichtslosen Lebenstriebe“287, mit denen sich die aktiven und reaktiven Naturen in einem wortlosen Magnetismus der Krfte anziehen oder abstoßen. „Ihre Naturen waren ja doch freinander bestimmt, wie wahlverwandte Atome aneinander haften; sie zogen einander an, unwiderstehlich, wie magnetische Krfte zu einander stehen.“288 In diesem kalten Determinismus bildet der Text erkennbar jene Triebwelt nach, die Zolas Thrse Raquin 1867 zu einem Grundbuch des Naturalismus werden lsst, und analog schreitet auch Grottewitz‘ Text eine Welt elementarer Triebe aus, die die im Text bemhten voluntaristischen Kategorien eigentlich verfehlt, weil ein erklrter Wille bereits ein Zuviel an zivilisatorischer und bewusster Artikuliertheit bedeutet. Nur aus diesem Grund, und weniger aus den Bemhungen um eine differenzierte Figurenpsychologie heraus, zerteilen sich die Beziehungen, die Franz Bohle zu den Frauen seiner Umgebung unterhlt, in unterschiedliche Kraftrelationen. Seiner ersten Frau Laura tritt Franz Bohle als ein „rauher Charakter“289 gegenber, der auf nichts Rcksicht nahm und durch die Zgellosigkeit, mit der er seinen Trieben folgte, ihr Schrecken und Grauen einflçßte. Es war doch merkwrdig, wie ein solcher Mann ihr ganzes Wollen und Denken, ihre Vorstze und ihren Stolz, ihren Leib, ihr Gut, nach seinem Willen lenkte. Sie frchtete sich bisweilen vor ihm […] und sie konnte doch nicht anders, sie mußte alles bewundern, was er that, und was sie von ihm sah und hçrte: seine Herrschsucht und Gewaltthtigkeit, seine Rcksichtslosigkeit und seine khnen Lgen.290

Bohles Verhltnis zu seiner zweiten Frau Anna ist demgegenber von einer nachhaltigen Verweigerung geprgt. Allerdings ist das Subjekt dieser Verweigerung weniger Franz Bohle selbst, als seine „gesunde, krftige Natur“, die sich vor dem „krnkliche[n] Geschçpf“291 geradezu „empçrt[]“292. Solche Empçrungen stellen sich schließlich in den Begegnungen mit der Großmagd Marie ein; ihre Beziehung ist reine, triebhafte

287 288 289 290 291 292

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,

220. 218. 75. 25. 213.

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II. Daseinskmpfe

Energie, ein Kampf um „Herrschaft“293 innerhalb einer Wahlverwandtschaft der Krfte: Franz Bohle […] begehrte Marie, weil sie von allen begehrt wurde. Freilich, er empfand auch etwas wie eine unbewußte Hinneigung zu ihr, eine unter der Asche glimmende Leidenschaft fr sie, weil sie so stark und lebenszh war wie er selber. Indessen ußerte er niemals eine Empfindung ihr gegenber, wie er denn berhaupt jeder zarteren Regung bar zu sein schien. […] So behandelte er auch Marie nicht wie eine Geliebte, sondern wie etwas, ber das er seine Herrschaft auszuben entschlossen war.294

Textzitate dieser Art belegen, dass die Narration, trotz ihrer schematischen Anlage und der schlichten naturalen Mythen, die ihre Ereignisfolgen steuern, eine eigensinnige Stilebene kennt. Zum einen nmlich breitet sich in der Selbstbewegung der Willen, Triebe und Krfte eine Art intransitiver Erzhlgrammatik aus. Genau besehen gibt der Text seinem Geschehen einen berpersonalen Charakter, in dem sich Willen und Energien in einem Maße selbst bewegen, dass es auf die ihnen zugeordneten Figuren kaum mehr ankommt; zumindest erscheinen die Figuren nur mehr wie Korrelate in einer Grammatik der Krfte, die nicht notwendig auf eine narrative Konfiguration angewiesen ist. Zum anderen folgt der Text einem Prinzip der Hufung, das das immer gleiche Diskursmaterial versammelt und zu einer aufflligen Paradigmatik von Erzhlformeln anordnet. Fortwhrend schmelzen die erzhlte Welt und ihr vorgeblicher Phnomenreichtum auf die immer gleichen sprachlichen Formeln zusammen, so dass alle Phnomene, wenn sie der Erzhler nicht ausdrcklich als Symbole der „Erschlaffung“295 disqualifiziert, in einem „berschwellende[n] Kraftgefhl“296 aufgehen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Grottewitz‘ Erzhlverfahren von den Romanen und Romanzyklen Kretzers, Hollaenders und Albertis. Anders als dort unterliegen die transzendentalen Substrate des Willens und der Energie keiner symbolischen Aufbereitung in einer Diskursoberflche mehr, und entsprechend fungiert der Erzhldiskurs als ,Ort‘, an dem das Erzhlen (imaginr) unmittelbar mit seinen Transzendentalien konvergiert. Insofern erscheint Grottewitz‘ Roman als Vollendung und Endpunkt eines naturalistischen Projekts, das auf die unmittelbare Prsenz seiner epistemischen Transzendentalien zielt, um Texte als Orte 293 294 295 296

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

10. 9 f. 25. 14, 63.

3. Enthllung, Umkehr, Naturalisierung

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dieser Prsenz erscheinen zu lassen: Weil es in Grottewitz‘ Text keine transkriptiven Akte mehr geben soll, die fundierende Substrate in Diskursoberflchen berfhren, kann sich der naturalistische Text als Natur seiner voluntaristischen Transzendentalien (miss-)verstehen. Welche Konsequenzen diese Naturalisierung besitzt, belegt der Erzhlschluss, der das tiefenepistemologische Schema des sozialen Romans hinter sich lsst. An seine Stelle tritt eine tropische Bewegung, in der die semantischen Sphren von Natur und Kultur, von Wachstum und Produktion, von Mensch und Maschine wie in einem thermodynamischen Gestaltwandel laufend in einander berfhrt werden. Der gesamte Erzhlschluss, der sich zu einer triumphalen Allegorie der Moderne aufwirft, wirkt wie eine den Sinn der Moderne umarmende, thermodynamische ,Maschine‘, deren unaufhçrliche „Arbeit“297 Kçrper und Maschinen miteinander verschmilzt. Am Ende des Romans sind die vertikalen Dimensionen des Narrativs zugunsten einer lustvollen Phantasie getilgt, die durch Bohles Blick hindurch nur mehr entfesselte Produktivkrfte und maschinelle Energien vor Augen fhrt. Wenn es in dieser Energetik, der die „Unfhigkeit zum Leben“ als kardinale „Snde“298 der Moderne erscheint, eine Differenz zu anderen Spielarten desselben narrativen Grundschemas gibt, dann besteht sie darin, dass der Text nicht die „Wahrheit […] eines indifferenten […] Naturprozesses ohne Richtung und Ziel“299 enthllt, sondern den agonalen Sinn des technisch-industriellen Fortschritts restlos in sich aufgenommen hat: [D]ie Einfhrung dieser Maschinen war ihm [Franz Bohle, I.S.] nur die Einleitung zu einem großen maschinellen Betrieb der gesamten Landwirtschaft. Da gab es jetzt Mhmaschinen, Smaschinen, da gab es Dampfpflge, Kartoffellesemaschinen und so weiter. […] Er hatte eine Bewunderung fr alles, was Maschine hieß. Es war ihm wie etwas Geheimnisvolles, was in unserer Zeit zu stecken schien. Diese seltsamen, kunstvollen Gerte, die so gehorsam und pflichtgetreu ihre Arbeit verrichteten, erfllten ihn mit einer Hochachtung und erweckten in dem rauen Manne ein fast wehmtiges Gefhl der Teilhabe. Und manchmal war es ihm wie ein Prickeln und Jucken in den Adern, und dann sah er Dampf aus den Kesseln steigen und hçrte Rder rasseln und Treibriemen schwirren, und die ganze Zeit schien ihm wie verkçrpert in einer großen mchtigen Maschine. […] Und das schneidende Klingen der Sensen und das Rascheln der Sicheln vermischte sich mit dem lauten Klirren der Maschine. Es war, als wenn sich ein Kampf entspnne 297 Ebd., 115. 298 Ebd., 220. 299 Kpper: Vergas Antwort auf Zola, 130.

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II. Daseinskmpfe

zwischen diesen Tçnen […]. Wie der Vorbote einer neuen, anders gearteten Zeit leuchtete die rote Maschine herber ber die Ebene.300

4. Der Sinn des Jahrhunderts. Die Krankheit des Willens und die Undurchdringlichkeit des Symbolischen bei Max Nordau Max Nordau ist in die Literaturgeschichte vornehmlich als Theoretiker der Entartung eingegangen. Als Publizist, bersetzer und Zeitungskorrespondent zhlt Nordau seit den 1870er Jahren einerseits zu den wichtigsten Vermittlern der zeitgençssischen franzçsischen Literatur, andererseits richtet sich das Interesse des 1882 bei Jean-Martin Charcot promovierten Mediziners frhzeitig auf die noch junge franzçsische Psychiatrie, die – denkt man an Auguste Morels Trait des dgnrescences physiques, intllectuelles et morales de l’espce humaine 301 – fr die Ausbildung des europischen dcadence-Diskurses zentral gewesen ist.302 Nordaus Konzept der ,Entartung‘, das 1892/93 in dem voluminçsen kulturkritischen Pamphlet gleichen Titels zum Ausdruck kommt, belegt allerdings, dass literarische Phnomene und kulturpsychologische Symptome keine getrennten Sphren, sondern lediglich verschiedene Ansichten einer identischen Perspektive bilden, die im Begriff der Entartung auf eine umfassende Zeit- und Kulturdeutung zielt. Gleichwohl bereitet Nordau, so weit seine literarischen Texte literaturwissenschaftlich berhaupt zur Kenntnis genommen worden sind,303 300 Grottewitz: Eine Siegernatur [1892], 115 f., 220 f. 301 Vgl. B[enoit] A[uguste] Morel: Trait des dgnrescences physiques, intllectuelles et morales de l’esp ce humaine, Paris 1859. 302 Vgl. zum Stand der Forschung Dieter Kafitz: Dcadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2004. 303 Vgl. zur insgesamt berschaubaren literaturwissenschaftlichen Forschung Fischer: Fin de Si cle, 52 f.; ders.: Dekadenz und Entartung. Max Nordau als Kritiker des Fin de Si cle. In: Roger Bauer (Hg.): Fin de Si cle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1977, 93 – 111; Charles Bernheimer: Decadent Subjects. The Idea of Decadence in Art, Literature, Philosophy, and Culture in Fin de Si cle Europe, Baltimore, London 2002, 154 – 162; Petra Zudrell: Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum und Judentum, Wrzburg 2003, 192 ff. Informativ, aber in literaturwissenschaftlicher Hinsicht wenig erhellend ist Christoph Schulte: Psychopathologie des Fin de si cle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau, Frankfurt/M. 1997. Eine grundlegende Neueinschtzung Nordaus im

4. Der Sinn des Jahrhunderts

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an einem bestimmten Punkt Schwierigkeiten. Bereits die zeitgençssische Rezeption hatte bei Erscheinen seines Romans Die Krankheit des Jahrhunderts (1887)304 vermerkt, dass Nordaus konzessionslose Kritik des Naturalismus, die sich insbesondere gegen die an Zolas Romanwerk bloßgelegte Vereinseitigung der pathologischen Zeittendenzen richtete, in Widerspruch zur Perspektive des eigenen Romans geraten sei. Julius Brand, einer der ersten Rezensenten des Romans, erblickt 1888 in der Krankheit des Jahrhunderts nichts Geringeres als eine „Sensations-Litteratur“, die ihre eigenen kulturkritischen Voraussetzungen verfehlt habe: Bemerkenswert aber ist es und fr pessimistisch angelegte Leser sehr niederschlagend, daß der eingefleischte Gegner des pathologischen Romans, der einst grollenden Naturalisten zurief: sie sollten endlich einmal das Buch vom g e s u n d e n Menschen schreiben, selber einen die Pathologie schon an der Stirne tragenden Roman ,die Krankheit des Jahrhunderts‘ verbt hat … ,Jeglichem kommt sein Tag‘ – die Hauptsache ist nur, daß auch die modische Sensation davon ihr Teil bekçmmt. Und man muß sagen, in diesem Punkt hat sich auch der R o m a n z i e r Nordau nicht lumpen lassen.305

Tatschlich hatte Nordau – die Besprechung erinnert nicht ohne Hme daran – bereits in den Paradoxen von 1883 davon gesprochen, die zeitgençssischen „Berufsschriftsteller“ dazu berreden zu wollen, „statt des Buches vom kranken das Buch vom gesunden Menschen zu schreiben“306. Nordaus literarisches Projekt beruht damit auf einer normalistischen Diskurstaktik, die sich gegen die Deutungsansprche der „geistige[n] Pathologie“ mit dem Argument zur Wehr setzt, es handele sich statt „statistisch festgestellte[r] Massen-Thatsachen“ um „seltene[] Ausnahmeflle“, die der Schriftsteller allein zugunsten der gesunden „geistige[n] Physiologie“307 vorzufhren habe. Wie die Publikationsgeschichte seiner zwischen 1880 und 1890 mehrfach aufgelegten Essaysammlung Paris

304 305 306 307

Kontext der europischen dcadence unternimmt die im Entstehen begriffene Habilitationsschrift von Caroline Pross: Dekadenz. Narrative Selbstbeschreibungen der Frhen Moderne 1887 – 1924. Vgl. auch dies.: Die Kunst der Unterscheidung. Zur Darstellung von Anormalitt in der Erzhlliteratur des spten 19. Jahrhunderts. In: Maximilian Bergengruen/Roland Borgards (Hg.): Bann der Gewalt, Gçttingen 2009 [im Druck]. Der Text ist zunchst 1887 als unberechtigter Vorabdruck, 1889 schließlich in einer autorisierten Ausgabe erschienen. Vgl. Zudrell: Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau, 229. Julius Brand: Nordausche Sensations-Litteratur. In: Die Gesellschaft 4 (1888) H. 1, 89 – 90, 90. Max Nordau: Inhalt der poetischen Literatur. In: Ders.: Paradoxe, Leipzig 1885, 226 – 239, 239. Ebd.

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II. Daseinskmpfe

unter der dritten Republik belegt, hat Nordau dieses statistisch-normalistische Dispositiv308 bereits frh zur Grundlage seiner Naturalismus- und Zola-Kritik gemacht. Noch 1890, in der vierten Auflage der ParisSammlung, besteht Zolas „Unrecht“309 in den Augen Nordaus in der „unwahre[n] Verallgemeinerung“, mit der Zola die „Grundidee“ der „Vererbung“ als einer „pathologische[n] Ausnahmshrde“ zu einem „Bild allgemeiner Verhltnisse“310 vergrçßert habe. Aus heutiger Perspektive wird man freilich die Kontinuitten zu betonen haben, die durch die vordergrndigen Widersprche zwischen Nordaus ,kulturnormalistischer‘ Programmatik und seinem Romantext hindurch ausgemessen werden. Nordaus Werk zhlt, auch gegen seine angestammte und einseitige literaturhistorische Inanspruchnahme fr die ,Diskursivittsbegrndung‘ von Entartung und dcadence, zu den signifikantesten Belegen fr eine allmhlich in den Hintergrund tretende Trennungsgeschichte zwischen Naturalismus und dcadence. Mit Blick auf Die Krankheit des Jahrhunderts werden jedenfalls Verbindungslinien sichtbar, die es gegen die kanonische Literaturgeschichtsschreibung nahe legen, Naturalismus und dcadence strker von problemgeschichtlichen und sthetischen Gemeinsamkeiten her zu konzipieren.311 Auffllig ist vor diesem Hintergrund zunchst, dass sich Nordaus Krankheit des Jahrhunderts von demselben narrativen Projekt her schreibt, 308 Vgl. Jrgen Link: Versuch ber den Normalismus. Wie Normalitt produziert wird [1997], 3., erg., berarbeitete und neu gestaltete Aufl. Gçttingen 2006. 309 Nordau: Zola und der Naturalismus [1890], 157. 310 Ebd., 159. 311 Im historischen Feld werden die Gemeinsamkeiten ohnehin strker betont, als die Differenzen. So konstruiert Otto Harnack 1913 eine Art naturalistischer Immanenz der dcadence – bezeichnenderweise mit Hinweis auf den Verlust „der entschiedenen Willensakte“: „Wenn dieser Naturalismus in ,Vor Sonnenaufgang‘ noch als Ausdruck eines berstarken Wahrheitsstrebens erscheinen konnte, so machten sich doch bald in ihm Zge der Decadence geltend, indem nur die trbsten Strçmungen des Menschentums in hoffnungslosem Niedergang dargestellt und vor allem die Sprungfeder der Willensbettigung aus dem mechanischen Lebensgetriebe ganz ausgeschaltet wurde. Wenn man sogar so weit ging, im Drama, das seinen Wesen nach auf Kampf gestellt ist, es als einen Vorzug zu rhmen, daß es in seiner modernen Form der entschiedenen Willensakte entbehrte, so sprach sich darin ganz unzweifelhaft die Herrschaft der Decadence aus.“ Otto Harnack: Decadence. In: Deutsche Revue 38 (1913), 320 – 325, 324 (m. Hervorhg.). Bereits 1897 hatte Leo Berg der „Dcadence“ in einer naturalistischen Programmschrift einen eigenen Abschnitt gewidmet. Vgl. Leo Berg: Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst, Mnchen 1892, 101 – 107.

4. Der Sinn des Jahrhunderts

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das die im engeren Sinne naturalistischen Romane der 1880 und 1890er Jahre kennzeichnet. Auch die Krankheit des Jahrhunderts entfaltet ihr diagnostisches Potential im Zeitkolorit einer Reichsgegenwart, die in jedem zeitgeschichtlichen Detail, das die Narration zwischen August 1869 und Mai 1881 verzeichnet, einen ubiquitren ,Kampf ums Dasein‘ fhrt. Recht genau am Scheitelpunkt der beiden Bnde, die den Roman in eine auf- und eine absteigende Lebenskurve seiner willensschwachen Hauptfigur Wilhelm Eynhardt zerteilen, gestattet der Erzhler seiner Figur eine Reflexion, die die Bedingungen eines Lebens formuliert, zu dessen Wirklichkeit Eynhardt erst spt Zutritt findet: Jetzt erst lernte er das Leben kennen, und was er sah, gab ihm weder grçßere Freude am Dasein noch machte es ihn stolz darauf, ein Mensch unter Menschen zu sein. […] Wo nicht Mßiggang, Leichtsinn, Trunksucht die hilflose Armuth herbeigefhrt hatte, da war deren Quelle Unverstand oder mit anderen Worten ungengende Ausrstung im Kampf ums Dasein. […] Er fragte sich darum ernstlich, ob nicht die Natur selbst, indem sie ihm die Eigenschaften versagt, welche zum Siege im Kampf ums Dasein unentbehrlich sind, einen Theil der Menschheit zu Leid und Untergang verurtheilte. […] Ueberdies: war Wilhelm so sicher, daß er selbst zum Kampfe ums Dasein besser ausgerstet war als die Elenden, die untergingen […]. Wußte er, ob er im Stande gewesen wre, sein Brod zu verdienen, wenn ihm sein Vater nicht den stets gedeckten Tisch hinterlassen htte?312

Entschiedener noch als in Hermann Conradis Roman Adam Mensch (1889), berhaupt wohl in einer fr die deutsche Erzhlliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts singulren Weise handelt es sich bei Nordaus Roman um die zum Jahrhundertproblem vergrçßerte Geschichte eines Willensschwachen, der dem Leben in jeder nur denkbaren Hinsicht entrckt ist. Intellektuell hçchst begabt und mit einem bescheidenen elterlichen Erbe ausgestattet, siedelt Eynhardt zu Beginn des Romans nach Berlin um, um sich dort durch das immer gleiche Schicksal seiner Entscheidungsunfhigkeit treiben zu lassen. „Das entsprach“, versichert der Erzhler, „seinem passiven Wesen, welches vor krftigem Eingreifen in den Gang der Ereignisse zurckscheute […].“313 Pathologisch „thatlos“314, ohne „Willensanstrengung“315 und „Initiative“316, umgeht Eynhardt eine eintrgliche Heirat und vermeidet jedes feste Be312 313 314 315 316

Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 332, 334 ff. Ebd., I, 164. Ebd., I, 28. Ebd., II, 126. Ebd., I, 113.

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rufsverhltnis.317 „,Sie werden doch wohl bald auch eine Professur haben’“, lsst der Text zu Beginn einen auf „praktische Ziel[e]“318 eingeschworenen Kommerzienrat fragen: „,O nein’“, antwortet Eynhardt „lebhaft“, „,ich strebe keine an‘.“319 Auch Eynhardts Sympathien fr die Sozialdemokratie bleiben abstrakt und liefern lediglich Diskussionsstoff fr die umfnglichen weltanschaulichen Dispute, die den Text in die Nhe des Zeitroman-Schemas fhren. Jenseits ihres Gehalts, der sich – hnlich wie bei Hollaender – in der Deutung der ,Pessimisten‘ Schopenhauer und Hartmann erschließt, besteht der Sinn dieser Reden darin, ihre entschiedene Distanz zu den Herausforderungen des Daseinskampfes anzuzeigen. Entsprechend entfaltet sich Eynhardts Leben als Summe eines unablssigen Ausweichens vor dem Leben; so verweigert Eynhardt eine Duellforderung oder wird als „willenloses Spielzeug“320 der Zeitumstnde von 1870/71 vorzeitig aus dem Militrdienst entlassen. Ein groß angelegtes philosophisches Buchprojekt – eine „Geschichte der menschlichen Unwissenheit“321 – gewinnt nur schleppend Gestalt. Nach seiner Flucht aus Berlin verliert sich Eynhardt in einem nordfranzçsischen Seebad an eine exotische und „vampyrische[]“322 femme fatale 323, deren „eiserne[] Nerven und […] Ueberflle thierischer Lebenskraft“324 ihn allerdings schnell zum Rckzug nçtigen. Ebenso reaktiv und willenlos wie sein Leben ist schließlich sein Tod: Eynhardt, ber den der Erzhler bereits frh vermerkt, dass er „nicht schwimmen [konnte]“325, ertrinkt bei dem Versuch, den „urgesunde[n]“326 Sohn seines Freundes Paul Haber aus dem reißenden Wasser eines Flusses zu retten. „Was fehlte Eynhardt“, heißt es in einem nekrologartigen Schlussbrief, „um nicht nur ein harmonischer, sondern auch ein ntzlicher Mensch zu sein? Offenbar der Wille.“327 Vor diesem Hintergrund erweist sich die erzhlte Welt als strikt dualistisch. Zum einen soll auch bei Nordau der als oberflchenhaft 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327

Vgl., I, 294. Ebd., I, 27. Ebd., I, 26 f. Ebd., II, 34. Ebd., II, 181. Ebd., II, 70. Vgl. Ebd., II, 111. Ebd., II, 147. Ebd., II, 108. Ebd., II, 11. Ebd., II, 277.

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gedachte Erzhldiskurs auf eine Tiefenstruktur bewegender Krfte hin transparent sein; allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, vor dem Hintergrund eines anderen tiefenepistemologischen Modells. Zum anderen fgt sich die reaktive Figur Eynhardt auch hier in eine dualistische Konstellation aktiver und reaktiver Charaktere. Der Sinn der Narration stellt sich vor diesem Hintergrund dadurch her, dass die Erzhlung die Figurenopposition auf das tiefenepistemologische Modell des Romans abbildet und damit bewusst perspektivische Beschrnkungen hinsichtlich der Mçglichkeit produziert, das tiefenstrukturelle Substrat, auf das die Narration zielt, im discours hervortreten zu lassen. Noch vor den Details der Handlung markiert Eynhardts Willensschwche Problem und Grenze des epistemischen Projekts, das der Roman verfolgt: Gerade weil Eynhardt von den bewegenden Energien der Zeit abgeschnitten ist, produziert der Roman fortlaufend einen hermeneutischen Trbstoff, der sein eigenes Deutungsprojekt gegenber den verborgenen Energien und Krften des „Seienden“328 erschwert. Einerseits schließt Nordaus Roman sein episches Projekt mit den hermeneutischen Bemhungen seiner Hauptfigur zusammen, weil beide – tiefenstruktureller Romantext und Figur – darauf zielen, einen Durchgriff auf die sinnhafte Tiefe des (geschichtlichen) Geschehens zu gewinnen, und andererseits trennt die Erzhlung ihre Hauptfigur doch von einer entsprechenden ,Einsicht‘ ab. Was sich Eynhardt in der Konsequenz dieser narrativen Selbstdurchkreuzung zeigt, ist die bloße Kontingenz eines Geschehens, von dem der Text gleichwohl erzhlt, weil er ihm einen bewegenden Sinn unterstellt. Dass sich Nordaus Roman trotz seiner Zugehçrigkeit zum Erzhlschema des Daseinskampfes von den bisher thematisierten Romantexten unterscheidet, belegt der Umstand, dass sich der Text – wenn auch nicht restlos konsequent – eine Art genealogischer Tiefe zu geben versucht. Mag Nordaus Roman darin Anschluss an die zeitgençssischen Theorien der dgnrescence finden, und mag er damit ein narratives quivalent fr jene „große[] epische[] Vererbung“329 ausbilden, die Gilles Deleuze am Beispiel Zolas ausgemacht hat, so bleiben die entsprechenden Erzhlsignale doch vergleichsweise diskret; von dem Wiederholungszwang, der Zolas Romanwerk prgt, ist Nordaus Text deutlich unterschieden. Die Hinweise auf eine erblich begrndete Disposition Eynhardts beschrnken 328 Ebd., I, 177. 329 Vgl. Gilles Deleuze: Zola und der Riss. In: Ders.: Logik des Sinns [1969]. Aus dem Franzçsischen von Bernhard Dieckmann, Frankfurt/M. 1993, 385 – 397, 388.

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sich daher auf den aufreibenden Lebensweg des „schwermthigen“330 Vaters, der als „Kind blutarmer Eltern“331 schon frh seine Lebensenergien verbraucht hat, und auf eine zu einem „weltscheu[en] […] Mysticismus“332 neigenden Mutter, die wie der Vater aufgrund ihrer „von Natur aus schwache[n] Gesundheit“333 ebenfalls bereits verstorben ist: Wilhelm Eynhardt war ein Jngling von vierundzwanzig Jahren, schlank und schmal an Wuchs, mit einem auffallend schçnen Gesichte. Die Augen waren nicht groß, aber mandelfçrmig geschnitten, tief dunkel von sammtartigen Glanze und mit leicht verschleiertem, so zusagen nach innen gekehrtem Blick. […] Die stille Miene trug einen Ausdruck von Schwrmerei oder richtiger Weltabgewandtheit, etwas wie ein Abglanz der entsagenden Weisheit und leidenschaftslosen Friedlichkeit, die im Lande der Veden und Lotosblumen gedeiht. Wer ihn sah, fhlte sich mchtig angezogen, empfand aber halb unbewußt eine leise Besorgniß, ob diese reine, schçne Menschenerscheinung fr den Kampf ums Dasein nicht zu unkrftig organisiert sei. Auf der Universitt hatte er von den Kameraden wegen seiner weichen, unmnnlichen Physiognomie […] den Spitzname Wilhelmine erhalten.334

Die Charakteristik versammelt alles, was fr das ,epistemische‘ Projekt des Textes erforderlich ist: Ein Maß an zivilisatorischer und geistiger Verfeinerung, aus der zwar alle „Thierheit“335 getilgt ist, die Eynhardt aber zugleich von den Krften des ,Seins‘ rettungslos entfernten; eine schwchliche, zur Effeminierung neigende Konstitution, die „fr den Kampf ums Dasein“336 nicht gerstet scheint; vor allem aber die symbolisch zu verstehenden Charakteristika eines „Blick[s]“, der sich vor den Phnomen der ußeren Welt zurckzieht, um sich fortwhrend „nach innen“337 zu richten.338 330 331 332 333 334 335 336 337 338

Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 38. Ebd., I, 34. Ebd., I, 179. Ebd., I, 38. Ebd., I, 7 f. Ebd., I, 7. Ebd., I, 8. Ebd., I, 7. Der schematischen Konfiguration entsprechend stehen Eynhardt eine Reihe willensstarker und aktiver Naturen entgegen. Insbesondere Eynhardts langjhriger Freund Paul Haber figuriert als Inbegriff eines „krftigen, prosaisch gleichmßigen“ (I, 48) Menschen, der in einer „faustische[n] That“ (II, 50) noch ein brachliegendes „Oedland“ (I, 289) urbar macht. Den strikten Figurenantagonismus hatte schon Julius Brands Besprechung vermerkt: „Nordau geht von der – am geistvollsten von Schopenhauer formulierten These aus, es gebe zwei Sorten Menschen: Thatmenschen und Gedankenmenschen (Verkçrperung des Willens

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Wie kaum ein zweiter Roman aus dem naturalistischen Erzhlumfeld der 1880er Jahre ist Nordaus Krankheit des Jahrhunderts damit auf die epistemologischen Prmissen des realistischen Erzhlens verwiesen. Sie zielen bekanntlich darauf, die vordergrndige Unvereinbarkeit von realistischen und idealistischen Positionen dahingehend zu entkrften, dass dem kontingenten Realen eine ideale, d. h. sinnhafte Substanz unterliegt, die durch Akte einer idealrealistischen ,Luterung‘ als Essenz und Wesen dieses Realen hervortritt.339 Nordau selbst hat in seiner polemischen Auseinandersetzung mit Zola ausdrcklich diesen ,Idealrealismus‘ als verpflichtenden Standpunkt der literarischen Moderne markiert: „Von jeher haben sich Bierhaus-Aesthetiker damit vergngt, in der Kunst wie in der Literatur einen Realismus und einen Idealismus zu unterscheiden und die beiden Begriffe als Gegenstze gegeneinander zu halten. Diese Klassifikation ist aber von einer geradezu verblffenden Oberflchlichkeit und wer tiefer analysiert, findet nicht den geringsten wesentlichen Unterschied zwischen den Werken, die man realistisch, und denen, die man idealistisch nennt.“340 Wenn es damit zutrifft, dass in diesem realidealistisch gewendeten Hegelianismus der „primre knstlerische Akt“ in der oder des Talentes).“ Brand: Nordausche Sensations-Litteratur [1888], 90. – Die gesamte semantische Konzeption des Romans findet sich in gedrngter Weise in Nordaus Novelle Blasiert wieder, die am Beispiel Ludwigs von Hochstein-Falkenburg-Gerau, einem in die Kriegslandschaften des deutsch-franzçsischen Kriegs emigrierten alter ego Eynhardts, die Geschichte der Selbstermchtigung eines Willenskranken erzhlt. Am Ende, nachdem Ludwig den „Zweifelgeist“ mit Hilfe seines wieder erstarkten „Willen[s]“ besiegt hat, tritt er in ein rauschhaftes Gemeinschaftserlebnis ein, das Ludwig als „Auflçsung seiner Individualitt in eine Gesamtheit“ erlebt. Vgl. Max Nordau: Blasiert. In: Ders.: Seelenanalysen. Novellen, Berlin 1892, 31 – 61, 56 f. 339 Vgl. aus der Vielzahl der nachhgelianischen bzw. nachidealistischen sthetiken Max Schasler: Aesthetik als Philosophie des Schçnen und der Kunst. Erster Theil: Grundlegung. Kritische Geschichte der Aesthetik von Plato bis auf die Gegenwart. Zweite Abtheilung: Von Fichte bis auf die Gegenwart, Berlin 1872, Nachdruck Aalen 1971, 1125: „Bis hieher [Herbart, Schopenhauer, Kirchmann; I.S.] ist […] die Aesthetik gediehen, und die weitere Aufgabe derselben wrde nunmehr darin bestehen, den Gegensatz des abstrakten Idealismus und des abstrakten Realismus, die beide gegeneinander Recht haben, in der Art zu einer Ausgleichung zu bringen, daß Das, worin sie Recht haben, unter Eliminirung ihrer Einseitigkeit, in einer hçheren konkreten Einheit vermittelt werde. So ergiebt sich als Resultat […], daß […] das P o s t u l a t aufgestellt werde, den Standpunkt des Ideal-Realismus in formeller wie substanzieller Beziehung als denjenigen relativ hçchsten nher zu bestimmen, auf dem das neue System der Aesthetik zu begrnden sei.“ 340 Nordau: Zola und der Naturalismus [1890], 163 f.

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„Aufdeckung der von einer inessentiellen Schale eingehllten Essenz“341 besteht, dann ist damit zugleich Anspruch und Grenze der realistischen Epistemologie markiert. Eynhardt nmlich tritt die Welt wie ein „Text“342 entgegen, der gleichwohl unlesbar bleibt, weil das ,Gesetz‘ seiner Verknpfung nicht auf das von ihm bezeichnete Wesen hin transparent ist. „Auch ich“, bemerkt Wilhelm im Gesprch: ,suchte, wenn ich zeichnete und malte, die Natur mit voller Wahrheit wiederzugeben. Aber ich hatte dabei die Empfindung, einen Text in einer mir unverstndlichen Sprache abzuschreiben. Die Form, auch die sogenannte Zuflligkeit derselben, schien mir der nothwendige Ausdruck bestimmter innerer Verhltnisse der Dinge, die mir verborgen waren. In mir erwachte der Wunsch, hinter das Aeußere der Natur zu kommen, zu wissen, weshalb sie so und nicht anders aussieht. Ich wollte die Sprache verstehen lernen, deren Worte ich sklavisch kopierte, ohne ihren Sinn zu begreifen, und so wandte ich mich den Naturwissenschaften zu. […] Es sind da Krfte an der Arbeit, von denen wir Alle nichts wissen, die Kçnige und Minister so wenig wie wir. Was diese Krfte wollen und wohin sie streben, bleibt uns verhllt und wir sehen nur das Nchste ohne Zusammenhang mit den eigentlichen Ursachen und letzten Wirkungen.’343

In diesen Stçrungen der Bedeutungswelt dokumentiert Nordaus Roman eine Abweichung von den realidealistischen berzeugungen der 1850er Jahre. Sie besteht weniger in dem auch von Realisten geteilten Vorbehalt gegen eine „blinde Nachahmung der Natur“344, als vielmehr in der Konsequenz, die „Naturwissenschaften“ mit grçßerer Deutungskompetenz auszustatten. Eynhardt wertet damit eine Empirie auf, die dem Realismus vor allem im Umfeld der Grenzboten dazu diente, Erzhlformen zu denunzieren, deren ,experimentierendes‘ oder ,mikroskopierendes‘ Verfahren hinter Anspruch und Leistungskraft der realidealistischen 341 Ulf Eisele: Realismus-Theorie. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Vom Nachmrz zur Grnderzeit: Realismus 1848 – 1880, Reinbek 1982 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. von Horst Albert Glaser. Bd. 7), 36 – 46, 41. 342 Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 24. 343 Ebd., I, 24 f. und 101. Vgl. auch I, 314. 344 Ebd., I, 24. Vgl. Julius Hermann von Kirchmann: sthetik auf realistischer Grundlage. 2 Bde. Berlin 1868, Bd. 2, 267: „Die reale Welt, sowohl die natrliche, wie die des Handelns ist wohl die Quelle der realen Gefhle fr den Menschen; aber die Erfahrung zeigt, daß sie neben dem Bedeutenden auch des Gleichgltigen viel enthlt; daß das Seelenvolle durch das Gemisch mit Seelenlosem darin abgeschwcht ist […]. Die einfache Nachahmung des Realen wrde also das Ziel alles Schçnen nur mangelhaft erreichen. Soll dies voll geschehen, so muß das Prosaische, das Stçrende von dem Bilde ferngehalten und das Bedeutende in demselben gesteigert werden.“

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Verklrung zurckzufallen drohten.345 Vor allem die zeittypischen Auseinandersetzungen um die ,seelenlose’ Apparativitt der Photographie belegen eine tiefe Idiosynkrasie gegen diesen ,mechanischen’ Naturalismus, der, wie Fontane 1881 gegen Turgenev geltend gemacht hatte, die Dinge nur „ganz unverklrt […] wiedergibt“.346 Auch Nordau unterscheidet in dieser konventionalisierten ,Kunstideologie’347 von Wahrheit und Oberflche, von Kunst und technischer Reproduktion „geniale[] Dichter“, die „immer wahr“ sind, von „Durchschnitts-Skribenten“, die mit „peinlicher Aufmerksamkeit“ der „Methode des Photographen“348 folgen. Die programmatische Aufwertung der Naturwissenschaften bleibt in der Perspektive des Romans entsprechend Episode. In einer fr das realistisch-naturalistische Erzhlen kennzeichnenden Weise ruht Eynhardts Bemhung um die „Wahrheit“349 des Jahrhunderts auf einem Fetisch des Auges, dessen Blick in die Tiefe des geschichtlichen Sinns zum begehrten Gehalt all derer wird, die in den weitlufigen Gesprchen des Romans und den unaufhçrlichen Auseinandersetzungen um die Deutungskraft des philosophischen Pessimismus darum streiten, welche Position sich im Besitz dieses aufschließenden ,Sehens‘ befindet. Tatschlich versammeln sich die Anstrengungen des Nordauschen Schreibens um die epistemologischen Leistungen eines „genialen Auges“, das die „Wahrheit“350 der Zeit und das „Wesen der Erscheinungen“351 enthllt: Es ist eben ein Attribut des genialen Auges, das charakteristische Wesen der Dinge zu erfassen und festzuhalten, whrend das talentlose Auge an den Phnomenen blçde herumschaut, ohne zu sehen, was eigentlich an ihnen zu sehen ist. Das charakteristische Wesen der Dinge: darin liegt das ganze Geheimnis der poetischen Wirkung. Wer jenes trifft, der macht den Eindruck des Wahren; wer es nicht zu treffen oder plastisch herauszuarbeiten 345 Vgl. Wolfgang Rohe: Literatur und Naturwissenschaft. In: McInnes/Plumpe (Hg.): Brgerlicher Realismus und Grnderzeit 1848 – 1890, 211 – 241, 229. 346 Fontanes Briefe in zwei Bnden. Ausgew. und erlut. von Gotthard Erler. Bd. 2: Briefe 1879 – 1898, 41 f., 41 [an Emilie Fontane 24. 6. 1881]. Vgl. Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, Mnchen 1990. 347 Vgl. Kolkenbrock-Netz: Fabrikation, Experiment, Schçpfung, 19 ff.; Bogdal: ,Schaurige Bilder’, 38 ff. 348 Nordau: Zola und der Naturalismus [1890], 165. 349 Ebd., 159. 350 Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 24. 351 Ebd., I, 314.

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vermag, kann den Leser nicht berzeugen, in ihm nicht die Empfindung lebendiger Wirklichkeit erregen.352

Es gehçrt zu den Unschrfen des Romans, dass der Begriff des „genialen Auges“ genau besehen unzutreffend gewhlt ist. Denn in dem Maße, wie der „geniale[]“ Blick, der sich in den geschichtlichen Sinn der Zeit versenkt, den Charakter einer grundstzlichen Voraussetzungslosigkeit besitzen soll, in dem Maße befindet er sich in Widerspruch zu den ontologischen Trgerkonstruktionen des Textes. In einem przisen Sinn steht das enthllende „Auge“ den Phnomenen nicht ,absolut‘ und voraussetzungslos gegenber, sondern ist durch die gleiche ontologische Struktur mit dem Wesen der empirischen Phnomene verbunden. Die gesamte idealrealistische Epistemologie des 19. Jahrhunderts ruht auf einer ontologischen Entsprechung zwischen dem ,Wesen‘ des Seins und einem Visualismus, der diesem Wesen seiner eigenen Struktur nach analog ist; insofern enthllt das „geniale[] Auge“ Nordaus in den Momenten, in denen es das geschichtliche Wesen der Zeit „plastisch“353 aus den oberflchenhaften Erscheinungen herausarbeitet, lediglich die ontologische Struktur seiner eigenen ,Seinsweise‘. Der gesamte, so begehrte Visualismus des spteren 19. Jahrhunderts sieht nur, was ihm die unterstellte Struktur des Seins zu Sehen gibt, weil Blick und Reales, Auge und Sein ontologisch „als partiell identisch konzipiert“354 sind. In dieser Differenz zwischen „Schein[]“ und „wirklich Seiende[m]“355 besitzt der Roman einen systematischen Zug. Analog zu seinem Dualismus konstituiert der Roman eine doppelte Geschichte, die die historische Zeit in zwei unterschiedliche Modalitten ihrer sinnhaften Bewegung aufspaltet. Eine erste Geschichte zeigt sich auf der Ebene der erzhlten Zeit. Sieht man von den wenigen intradiegetischen Rckblicken ab, so entfaltet sich die Narration zunchst in der Chronologie der zeitgeschichtlichen Ereignisse zwischen 1869 und 1881. Auf diesem Weg verfolgt der Text die nationalen Gereiztheiten der Frankreich-Kriegs und die Euphorien der Reichsgrndung, aber auch ihre Kehrseiten: die Repressionen in der Gefolge des Sozialistengesetzes, die Nordau in eine bedrckende Atmosphre des kollektiven Misstrauens bersetzt,356 nicht 352 Nordau: Zola und der Naturalismus [1890], 165. Eynhardt selbst spricht vom „geschulte[n] Auge“. Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 25. 353 Ebd. 354 Eisele: Realismus-Theorie, 41. 355 Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 77. 356 Vgl. Ebd., I, 345 ff.

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zuletzt die hypernervçsen Zeitstimmungen, die den Grndungsschock wie in einer Art traumatischer Nachtrglichkeit heimsuchen. „Im neuen Reiche“, heißt es unter dem vielsagenden Titel einer „Unheimliche[n] Zeit“, war mittlerweile alles anders geworden. Man athmete mit beklommener Brust eine schwle Luft. Dem leuchtenden Morgenroth, das einen herrlichen Tag versprochen hatte, war grmliches Nebelwetter gefolgt und der blaue Himmel verschwand hinter dicken bleigrauen Wolken, die keinen trçstlichen Sonnenblick durchließen. […] Ueberall Haß, ueberall Erbitterung, ueberall ein wtender Hang, zu knebeln, zu mißhandeln, zu zerfleischen, und inmitten dieser Entfesselung der bçsesten Leidenschaften […] ein Aufblhen der Feilheit, der Gesinnungslosigkeit, des Streberthums […]. […] Der Frhling 1878 kam heran und brachte in einem Abstande von drei Wochen die beiden Anschlge auf das Leben des Kaisers. […] Es folgten unheimliche Tage […]. Eine moralische Seuche, die Denunzir-Wuth, verbreitete sich ber ganz Deutschland und drang in Htten und Palste. Man war weder im Familienkreise noch am Stammtisch des Wirthshauses, weder im Hçrsaal noch auf der Straße vor dem elenden Aufpasser sicher, der aus Fanatismus oder Dummheit […] ein bereiltes oder unvorsichtiges Wort auffschnappte, verdrehte, zurichtete und brhwarm dem Staatsanwalt zutrug […]. Es kamen Untergrnde der Menschennatur zum Vorschein […], daß man von dem nie fr mçglich gehaltenen Schauspiel die Augen entsetzt abwandte.357

Dieser denkbar un-ideale Text der nationalen Einigung, in den die Bigotterien der staatstragenden Krfte ebenso einstrçmen wie die kollektiven Hysterien im Gefolge der Attentate von 1878, macht deutlich, dass sich diese Geschichte nicht in die idealrealistischen Prmissen des Nordauschen Erzhlens fgt. Ganz im Gegenteil prsentiert sich der ausgebreitete Geschichtstext als Summe von kontingenten Ereignissen, deren „Zuflligkeit“ jeder „nothwendige Ausdruck“358 fehlt und die sich allenfalls zu einem unspezifischen Auf und Ab von Konsolidierung und Instabilitt anordnen. Ein entsprechend anderer Geschichtstext zeigt sich dort, wo der Text die Ebene der erzhlten Zeit verlsst. Dabei lsst sich der unterstellte Geschichtssinn in einem strikten Sinn nicht eigentlich erzhlen, sondern nur darstellen. In dieser Darstellung sind die weitlufigen weltanschaulichen Dispute aufgehoben, die Eynhardt mit seinem engen Freund Dr. Schrçtter, einem weltzugewandten Pragmatiker, fhrt und die sich in einen eigentmlich versponnenen Pessimisten-Zirkel fortsetzen. Nordau 357 Ebd., I, 339 f., 342, 358. 358 Ebd., I, 24 f.

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hat diese Pessimisten – neben Schrçtter treten der „Nihilist und Anarchist“359 Dr. Barinskoi, der „tiefdunkle[] Pessimist“ und „Possendichter“360 Herr von Mayboom und der „Autodidakt“361 Dçrfling auf – erkennbar als Schlsselfiguren angelegt. So verbergen sich vor allem in Dçrfling Zge des Schopenhauer-Apologeten Philipp Mainlnder. Wie Mainlnder, dessen Philosophie der Erlçsung 1876 erscheint, nimmt sich auch Dçrfling das Leben, nach dem er ein ominçses und seit „siebzehn Jahre[n] […] im Kopf getragen[es]“362 Buch unter dem Titel Philosophie der Befreiung zum Abschluss gebracht hat.363 Allerdings zeigt die Dis359 360 361 362 363

Ebd., I, 218. Ebd., I, 300 f. Ebd., I, 296. Ebd., I, 302. Vgl. Ebd. I, 326. – Philipp Mainlnder, eigentlich Philipp Batz, wird am 5. Oktober 1841 geboren und stirbt am 1. April 1876 durch Freitod, nach dem er unmittelbar zuvor sein zweibndiges philosophisches Hauptwerk Die Philosophie der Erlçsung in den Druck gegeben hatte. Das an Mythen reiche Leben Mainlnders findet – ebenso wie das heute außerhalb der Schopenhauer-Forschung vollstndig vergessene Werk – um die Jahrhundertwende recht reiche Beachtung, auch wenn sich seine çffentliche Wahrnehmung auf eine – von Mainlnder geteilte – Schopenhauer-Nachfolge konzentriert. Nordaus Nachbildung dieses „sßlichen Virginittsapostels“ (Nietzsche), insbesondere der Hinweis auf die 17 Jahre dauernde Entstehungszeit von Dçrflings Werk, entspricht dem Umstand, dass Mainlnder im Februar 1860 die Philosophie Schopenhauers entdeckt und seitdem mit der intellektuellen Aufarbeitung dieses Erweckungserlebnisses befasst ist, die 1875 mit der Arbeit an der Philosophie der Erlçsung zum Abschluss kommt. Die biographischen Details dieser rund 15 Jahre whrenden philosophischen Obsession, die 1876 – analog zur entropischen Verlaufsvorstellung der eigenen Erlçsungsphilosophie – in einen Zustand irreversibler Ermdung mndet, sind dokumentiert in: Philipp Mainlnder: Meine Soldatengeschichte. Tagebuchbltter. Hg. von Walther Rauschenberger, Berlin 1925 und Walther Rauschenberger: Aus der letzten Lebenszeit Philipp Mainlnders. Nach ungedruckten Briefen und Aufzeichnungen des Philosophen. In: Sddeutsche Monatshefte 9 (1911/12), 117 – 131, bes. 121 – 127. Einen prgnanten berblick ber Leben und Werk gibt Ulrich Horstmann: Der philosophische Dekomponist. Was Philipp Mainlnder ausmacht. In: Philipp Mainlnder: Vom Verwesen der Welt und andere Restposten. Eine Werkauswahl. Hg. und eingel. von Ulrich Horstmann, Waltrop, Leipzig 22004, 7 – 27. Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung Mainlnders vgl. Ludger Ltkehaus: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst, Zrich 1999, 243 – 263 und Friedhelm Decher: Der eine Wille und die vielen Willen. Schopenhauer – Mainlnder – Nietzsche. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung 25 (1996), 221 – 238. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Winfried H. Mller-Seyfarth (Hg.): Die modernen Pessimisten als dcadents – Von Nietzsche zu Horstmann.

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kussion dieses mythisierten „Buches“ im Zirkel der Pessimisten, dass Dçrflings philosophische Position Mainlnders Erlçsungsphilosophie keineswegs einsinnig nachbildet. Vielmehr versetzt sie deren Grundkonstellation, nach der sich das „Weltprinzip“ des Willens aus seiner anfnglichen „Einheit“ zu einer „Vielheit“364 agonaler Willen umgestaltet, mit dem Pessimismus Eduard von Hartmanns, in dem das „Bewusstsein“365 analog zu Hartmanns Hegelianismus seine eigene Selbstgewahrwerdung betreibt. „,Das heißt’“, lsst der Erzhler den verblfften Schopenhauer-„Verehrer“366 Eynhardt fragen, „,Sie behaupten, das ewige Weltprinzip schaffe Organismen, um sich zu objectiviren und so zum Bewusstsein seiner selbst zu gelangen.’“367 Man kçnnte an dieser Stelle weitere Referenzen und Referenzautoren namhaft machen, die in diesen philosophisch-pessimistischen Eklektizismus Eingang gefunden haben. Allerdings kommt es auf die Details dieser Referenzen nur in dem Maße an, wie sie sich ber ihre konzeptuellen Differenzen hinweg zu einer synthetischen Grundposition des Pessimismus aufwerfen lassen. Worauf der Text zielt, ist der Traumatisierungscharakter des Pessimismus, den Nordau in eine kulturelle Dimension vergrçßert. In ihm erscheint, wie Nordaus Vorwort zur Erstausgabe der Krankheit des Jahrhunderts belegt, die „Willenlosigkeit“ als symptomaler Kern einer Synonymreihe, die durch ihr Lexikon hindurch nur Ansichten ein und desselben kollektiven Zeitproblems abbildet: Wer nicht sieht, daß diese Krankheit der Pessimismus ist, fr den ,Weltverachtung‘, ,Abkehr von der Wirklichkeit‘, ,Quietismus‘, ,Willenlosigkeit‘, ,Thatenscheu‘, ,Buddhismus‘, ,Schopenhauerismus‘, ebensoviele Synonyme sind, der muß entweder das Buch sehr zerstreut gelesen haben oder berhaupt unfhig sein, eine allgemeine Zeiterscheinung in einem gegebenen Einzelfalle wiederzuerkennen.368

364

365 366 367 368

Texte zur Rezeptionsgeschichte von Philipp Mainlnders ,Philosophie der Erlçsung’, Wrzburg 1993. Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 306. Vgl. Philipp Mainlnder: Die Philosophie der Erlçsung. Erster Band. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Winfried H. Mller-Seyfarth [Nachdruck der 1. Aufl. Berlin 1876]. In: Ders.: Schriften. Hg. von Winfried H. Mller-Seyfarth. Bd. 1, Hildesheim, Zrich, New York 1996, 325. Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 307. Ebd., I, 179. Ebd., I, 308. Max Nordau: Vorwort. In: Ders.: Die Krankheit des Jahrhunderts, Leipzig 1889, XVII.

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Nordaus Konzeption ist an dieser Stelle erkennbar ambivalent. Einerseits legt der Text in die kulturellen Lhmungen der Willensschwche exakt jenen tiefendimensionalen Geschichtssinn, an dessen Prsenz er so außerordentlich interessiert ist. Wie der ressentimentale Blick auf die Selbstverstndigungen der Pessimisten belegt, handelt es sich um eine hegelianisch gewendete Willensmetaphysik, die Grundimpulsen der Philosophie des Unbewußten Eduard von Hartmanns nachgebildet ist. Wenn Eynhardt und Schrçtter ber den Sinn der bewegenden Krfte spekulieren, die dem eigenen Jahrhundert die „Gesetze“ seiner „Entwicklung“369 geben, sieht sich Eynhardt gençtigt, ein Bekenntnis zur Unbewusstseinsphilosophie Hartmanns abzulegen: ,In die Vçlkergeschichte sollte nur der eingreifen wollen, der die Gesetze kennt, die ihre Entwicklung bestimmen. Diese Gesetze aber kennt kein einzelner Mensch. […] Ich kann nur an das Dichterwort erinnern: Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben.‘ ,Wer schiebt also nach Ihrer Meinung?‘ ,Eine unbekannte innere, organische Kraft, welche alle Lebensußerungen der einzelnen Vçlker wie der Gesammtmenschheit bestimmt. Diese entwickelt sich, wie ein Baum wchst. Kein Einzelner kann da etwas hinzufgen oder wegnehmen, kein Einzelner die Entwicklung beschleunigen oder verlangsamen, ihr diese oder jene Richtung geben.‘ ,Mit einem Worte: die Philosophie des Unbewussten.‘ ,Allerdings.’370

In der Rckhaltlosigkeit, mit der Eynhardt seinen erkenntniskritischen Skeptizismus in die Philosophie des Unbewussten kleidet, verbirgt sich freilich eine gewisse Verlesung. Hartmanns beraus populre Philosophie – der Erstverçffentlichung der Philosophie des Unbewußten von 1869 folgen innerhalb der nchsten zwei Jahrzehnte weitere zehn Auflagen371 – stellt sich als der Versuch dar, Schopenhauers Metaphysik in zweifacher Hinsicht zu revidieren. Die erste dieser Revisionen zielt darauf, die von Schopenhauer getrennten rationalistischen und irrationalistischen Zweige des Idealismus erneut zusammenzufhren; entsprechend erscheint Hartmann der gesamte Weltprozess nicht ausschließlich als unbewusster Zwang eines blinden Willens, sondern als gnostischer Dualismus von 369 Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 242. 370 Ebd., 242 f. 371 1923 erscheint die 12. und bis heute letzte Auflage. Vgl. zur Publikationsgeschichte der Philosophie des Unbewußten Ludger Ltkehaus: Vorwort zur Neuausgabe. In: Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1869. Hg. von Ludger Ltkehaus, Hildesheim, Zrich, New York 1989, I-VI; Pauen: Pessimismus, 122; Kramer: Kultur der Verneinung, 121 f.

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Wille und Bewusstsein, von Unvernunft und Vernunft. Die zweite dieser Revisionen ist darauf gerichtet, Schopenhauers in die Leiberfahrung eingerckte Welt hegelianisch zu berschreiben und die Weltgeschichte analog zu Hegel als eine verzeitlichte Form der Selbstgewahrwerdung des Bewusstseins zu behandeln. Hegel und Schopenhauer sind in Hartmanns Erlçsungsphilosophie damit zu gleichen Teilen prsent, weil die Welt ihre Existenz aus einem anfnglichen Irrationalismus des Willens heraus empfngt, ber den die als Weltprozess entfaltete Vernunft schließlich ihre ,bewusstseinsphilosophische‘ Selbstaufklrung betreibt. Weil das „We s e n des Bewußtseins E m a n c i p a t i o n des Intellects vom Willen ist“, ist der „siegreiche Kampf des Bewußtseins gegen den Willen“ nicht nur ein „empirisch[es]“ Faktum, sondern bereits im Begriff des Bewußtseins „e n t h a l t e n “.372 Letztlich zielt der gesamte Gnostizismus der Hartmannschen Philosophie darauf, das Telos des Kulturprozesses als Sieg des reflektierenden Bewusstseins ber den Willen als Gehalt einer Erlçsung sichtbar zu machen, die von der schmerzhaften und illusionsgetrnkten Dynamik des Willens befreit. Am Ende der Weltgeschichte steht eine Menschheit, die die „Ziele der Geschichte“ in sich aufgenommen hat, um „als Majoritt des in der Welt thtigen Geistes den Beschluß [zu] fass[en], das Wollen aufzuheben“373 : [W]enn es […] im B e g r i f f des Bewußtseins liegt, die Emancipation des Intellects vom Willen, die Bekmpfung und endliche Vernichtung des Wollens zum Resultat zu haben, sollte es dann noch zweifelhaft sein kçnnen, daß das allwissende und Zweck und Mittel in Eins denkende Unbewußte das Bewußtsein e b e n n u r d e s h a l b geschaffen habe, u m d e n W i l l e n v o n d e r U n s e l i g k e i t s e i n e s Wo l l e n s z u e r l ç s e n , von der er selbst sich nicht erlçsen kann, – daß der E n d z w e c k des Weltprocesses, dem das Bewußtsein als letztes Mittel dient, d e r s e i , d e n

372 Hartmann: Philosophie des Unbewußten [1869], 632. 373 Ebd., 641. Insbesondere diese Vorstellung eines „g l e i c h z e i t i g e n g e m e i n s a m e n E n t s c h l u s s [es]“ der „Erdbevçlkerung“ (Ebd.) hat eine Reihe von Hartmann-Satiren provoziert, darunter etwa Robert Hamerlings bissige Verse ber einen hartmannianischen „Weltverchterkongreß“ (Robert Hamerling: Homunculus. Epos in zehn Gesngen [1888], Weitra 1993, 223). In Richard von Hartwigs „dramatischer Humoreske“ Welt-Ende wartet gar die Familie des Philosophieprofessors Negans zu Fßen einer Kolossalstatue Hartmanns auf das Signal eines „,Weltnegationstelephon[s]’“, dessen Klingeln an das Weltuntergangswort „Ich will mich nicht“ und damit an die kollektive Selbsterlçsung gemahnen soll. Vgl. Richard von Hartwig: Das Welt-Ende. Dramatische Humoreske. In: Die Gesellschaft 1 (1885), 242 – 250, 243.

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II. Daseinskmpfe

grçßtmçglichsten erreichbaren Glckseligkeitszustand, n  m l i c h d e n d e r S c h m e r z l o s i g k e i t , z u v e r w i r k l i c h e n ? 374

Es liegt in der axiologischen Struktur des Romans begrndet, dass auch diese Metaphysik des Verzichts die idealrealistische Intention der Erzhlung verfehlen muss. Denn der hegelianisierte Pessimismus, dem sich Eynhardt verschreibt, erklrt ausgerechnet jene Willenskrankheit zur bewegenden Kraft der Zeit, die der Roman (und sein Autor) eigentlich denunzieren. berhaupt prgt den Text insofern eine eigentmlich denormalisierende Energie, als die willensschwache Symptomatik Eynhardts dezidiert als „krankhafte Ausnahme“375 gelten soll, der Text aber andererseits – nicht zuletzt in der ungleichen Sympathielenkung zwischen der vergleichsweise differenziert gestalteten Figur Eynhardts und dem „Dutzendmensch“ Haber376 – von einer Krankheit spricht, die er selbst zur „Zeiterscheinung“377 und „Krankheit des Jahrhunderts“ vergrçßert. In gewisser Weise berkreuzen sich im Text eine normalistische Programmatik und eine de-normalisierende Erzhlenergie, die die intendierte Unterscheidungsreinheit der erzhlten Welt hintertreibt.378 Als besitze der Text in dieser Komplikation eine Art narrativer Unbewusstheit, bietet er in der Figur Schrçtters jene ,Stimme‘ auf, die den Text fortlaufend an sein eigentliches epistemisches Interesse erinnert.379 In die dualistische Figurenkonstellation fgt sich der als Armenarzt ttige Schrçtter in erster Linie durch eine auffllige epistemische Markierung ein. Anders als Eynhardt, dessen „weltferne Augen“380 die geschichtlichen Krfte verfehlen, verfgt der aktive Charakter Schrçtter ber „hervorblitzende blaue Augen, deren Blick bis zum Erdmittelpunkt zu bohren 374 Hartmann: Philosophie des Unbewußten [1869], 633. 375 Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 319. 376 Vgl. Fischer: Dekadenz und Entartung, 108. Nordaus Neigung, Haber und damit die „praktische Seite der Menschennatur […] ein wenig stark karikiert“ dargestellt zu haben, hat bereits die zeitgençssische Rezeption vermerkt. Vgl. Brand: Nordausche Sensations-Litteratur [1888], 90. 377 Nordau: Vorwort [1889], XVII. 378 Vgl. zu den programmatisch „vereinzelten Erscheinungen im Volksleben“ auch Nordau: Zola und der Naturalismus [1890], 159. Vgl. Pross: Die Kunst der Unterscheidung. 379 Narratologisch handelt es sich um eine der fr den Naturalismus kennzeichnenden Deckfiguren, die die Deutungsansprche des Erzhlers innerdiegetisch vertreten. Vgl. David Baguley: Naturalist Fiction. The entropic vision, Cambridge 1990, 95; Stçber: Vitalistische Energetik und literarische Transgression im franzçsischen Realismus-Naturalismus, 125. 380 Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 45.

4. Der Sinn des Jahrhunderts

133

schien“381. Das Bild ist bewusst gewhlt, weil es nicht nur einer unspezifischen ,Tiefe‘ Ausdruck verleiht, sondern gegen die ,Blindheit‘ aufgeboten wird, die Eynhardts Blick von den Zeitenergien abtrennen; insofern besitzt die Augen-Metapher im Falle Schrçtters eine unterschwellige metonymische Logik, weil sie den ,gesunden‘ Aktivismus der Figur aus einer ,Berhrung‘ bzw. ,Benachbarung‘ herleitet, die das erkennende Organ mit den erkannten Tiefenenergien verbindet und buchstblich in Kontakt hlt. Erst im Zuge dieser Metapher und Metonymie verbindenden Substantialisierung erschließt sich Schrçtter die Tiefendimension der geschichtlichen Zeit und damit die Gestalt jener Krfte und Energien, die der willensschwachen Blindheit Eynhardts verborgen bleibt. Wenn Nordaus recht schematische Konstruktion dennoch eine Ausnahme zulsst, dann betrifft sie jene Episode, in der Eynhardt und Schrçtter in einer fr das naturalistische Erzhlen bemerkenswerten Grundstzlichkeit Fragen der symbolischen Darstellung verhandeln und damit die Darstellungsleistungen des narrativen Textes selbst in Frage stellen. Anlass fr diese Diskussion des Symbolischen ist Eynhardts tiefer Vorbehalt gegen den Sinn kultureller Symbole wie „Fahne“ und „Kreuz“. Auf den ersten Blick mag die Episode, die im Erzhlprozess unmittelbar auf die historischen Ereignisse von 1870/71 folgt, wie eine der zahlreichen Momente der anti-militaristischen Kritik wirken, wie sie naturalistische Autoren vor allem in ihrem Vorbehalt gegen die nationalistischen Euphorien des Reichs artikuliert haben. Der Diskussionsverlauf belegt allerdings schnell, dass die bestrittenen Symbole als Problem von symbolischer Referenz im Ganzen zur Sprache kommen. Dabei entspricht es der Konstruktion des Romans auch an dieser Stelle, dass sich die Perspektiven Eynhardts und Schrçtters in unterschiedliche Ansichten desselben Problems zerteilen. Auch wenn Eynhardts Perspektive noch am ehesten einen antimilitrischen Impuls bewahrt, richtet sich seine Kritik des Symbols zunchst auf eine grundstzliche Inadquatheit zwischen den materialen Gestalten des Symbols und dem, was als seine Referenz erscheinen soll: Eines Vormittags […] trat der Regimentsadjutant ein und sagte ihm [Eynhardt, I.S.]: ,Eine frohe Nachricht! Sie haben das eiserne Kreuz! […] Im Vertrauen: es ging nicht ganz glatt, man hat es Ihnen belgenommen, daß Sie wegen der Fahne etwas zu lau waren. Aber die Art, wie Sie den Hauptmann im Kugelregen auflasen, war schneidig. Nehmen Sie mir die Frage nicht bel […], wie kommt es doch, daß Sie fr die Fahne nicht 381 Ebd., I, 136.

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II. Daseinskmpfe

versuchten, was Sie fr den Hauptmann thaten?‘ ,Das will ich Ihnen gern sagen. Der Hauptmann ist ein lebender Mensch und die Fahne ein bloßes Symbol. Ein Symbol scheint mir aber kein Menschenleben werth.’382

Das Gesprch macht mit dem unerwarteten Sachverhalt vertraut, dass Eynhardt in der Schlacht von Dijon einen Vorgesetzten aus einer bedrohlichen Situation gerettet hatte, ohne dass diese Rettung auch dem nationalen Symbol zu Gute gekommen wre, unter dessen gemeinschaftstiftendem Sinn Einzelne zu einem nationalen Kçrper zusammenfinden. Weil jedes Symbol, so lsst sich Eynhardts Vorbehalt verstehen, das Symbolisierte grundstzlich verfehlt, kann es zwischen einer „Fahne“ und einem „Menschenleben“ keine symbolische Entsprechung geben; beides – symbolisches Zeichen und symbolisch Bezeichnetes – sind von einem derart unterschiedlichen Gewicht, dass sich der Gebrauch von Symbolen unter der Hand zu einem kulturellen Tabu vergrçßert. Schrçtters Entgegnungen fallen erwartungsgemß grundstzlicher aus. „[]ber das, was Sie vom Symbol sagen, wre“, so Schrçtters Entgegnung im Gesprch mit Eynhardt, ,manches zu bemerken. Theoretisch haben Sie Recht, aber das praktische Leben gestattet Ihnen nicht, nach Ihren Anschauungen zu handeln. Denn Alles, was wir sehen und thun, ist ein Symbol, und wo soll man da die Grenze ziehen? Die Fahne ist eines, aber die Schlacht selbst ist es auch. Gewiß. Hçren Sie nur zu: da ringen zwei Heere um den Besitz eines Dorfes […]. Warum thun sie es? Weil der Besitz der Stellung ein Symbol ist, welches bedeutet, daß das eine Heer […] tchtiger ist als das andere und ihm deshalb seinen Willen aufnçthigen darf. Und in dieser symbolischen Handlung schlagen dreißigtausend Menschen einander todt und Sie sind auch darunter. Dabei hat man nicht einmal die Entschuldigung, daß man nach unbekannten Gesetzen gefllte weltgeschichtliche Urtheile vollstreckt […], denn im Gegensatz zu den […] nachherweisen Geschichtsschreibern glaube ich, daß die sogenannten Entscheidungsschlachten gar nichts entscheiden, daß sie Zuflligkeiten und ohne jeden Dauereinfluß auf die Vçlkergeschichte sind, die von ganz anderen Ursachen bestimmt werden. […] Nun sehen Sie: die Schlacht ist also bloß ein Symbol der augenblicklichen Volkstchtigkeit und sogar ein ganz unntzes Symbol, weil es schon fr die nchste Zukunft nichts beweist […].‘383

Schrçtters argumentative Strategie besteht darin, dass sie Eynhardts Vorbehalte nicht schlichtweg fr irrelevant erklrt. Vielmehr wendet er sie in eine Semiologie des Symbolischen, in der das symbolische Zeichen und das im Symbol Bezeichnete in dem Maße ununterscheidbar werden, 382 Ebd., I, 143. 383 Ebd., I, 145 f.

4. Der Sinn des Jahrhunderts

135

wie sich das eine in das andere fortwhrend verwandeln lsst. In gewisser Weise handelt es sich bei Schrçtters Symbolkritik um eine Kritik der semiologischen Funktion des Symbolischen – und dies in doppelter Hinsicht: Zum einen liegt es in der Struktur der symbolischen Referenz, dass ein beliebiges symbolisches Signifikat seinerseits in die Stellung eines symbolischen Signifikanten gerckt werden kann; eine „Grenze“, so vermutet Schrçtter, ist kaum zu ziehen, weil die „Fahne“384 im nationalen Text der Reichsgrndung ebenso ein „Symbol“385 ist, wie die „Schlacht“386, die vom Symbol der „Fahne“ eigentlich bezeichnet wird. Darin korrespondiert die ußerung mit der naturalistischen Symboltheorie im Ganzen: Wenn, wie Conrad Alberti 1890 in der szientifischen Sprache der Epoche ber das „Symbol“387 vermerkt, dass es auf eine „Verkçrperung des Naturgesetzmssigen […] in individueller Erscheinungsform“388 zielt, dann nimmt die Formulierung nicht nur die Hinterlassenschaften des goethezeitlichen Symboldenkens auf.389 Sie belegt auch, dass das naturalistische Symbol die Gestaltansprche von Form und Inhalt auf spezifische Weise aneinander vermittelt. Gerade weil Stoff und Gehalt in sthetischer Hinsicht quivalent sein sollen, soll sich in prinzipieller Weise auch jeder Stoff fr eine symbolische Darstellung eignen kçnnen. „Was der Dichter darstellt“, so Heinrich Hart, „ist ganz gleichgltig, es kommt allein darauf an, dass er es als Dichter darstellt.“390 384 385 386 387 388 389

Ebd., I, 146. Ebd. Ebd., I, 145. Conrad Alberti: Das Milieu. In: Ders.: Natur und Kunst [1890], 51 – 56. Ebd., 50. Vgl. zur sthetikgeschichte des Symbols im Gefolge von Goethezeit und Idealismus Michael Titzmann: Strukturwandel der philosophischen sthetik 1800 – 1880. Der Symbolbegriff als Paradigma, Mnchen 1978, 110 ff. sowie zur goethezeitlichen Herkunft des Begriffs ders.: ,Allegorie‘ und ,Symbol‘ im Denksystem der Goethezeit. In: Walter Haug (Hg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbttel 1978, Stuttgart 1979, 642 – 665. 390 Heinrich und Julius Hart: Fr und gegen Zola. In: Dies.: Kritische Waffengnge. Mit einer Einfhrung von Mark Boulby. Reprint der Ausgabe 1882 – 1884, New York, London 1969. H. 2 [1882], 44 – 55, 47. Bezugspunkt ist auch hier ein konventioneller Symbolbegriff: „[…] der Roman und nicht minder die Poesie berhaupt sucht im Individuellen das Allgemeine darzustellen und in Formen zu verkçrpern.“ Fr weitere Belege vgl. Bleibtreu: Die Revolution der Literatur [1886], 90 f.; Berg: Der Naturalismus [1892], 107 – 112; Wilhelm Bçlsche: Die Poesie der Großstadt. In: Magazin fr Litteratur 40 (1890), 622 – 625, 624: „Im Symbolischen […] fllt das Vereinzelte, das direkt und an sich formal Wirksame ganz von selbst fort vor der Forderung der Allgemeinheit.“

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II. Daseinskmpfe

„[R]ein stofflich betrachtet“, heißt es 1890 an anderer Stelle, „steht jedes natrliche Objekt, jeder Vorgang gleich hoch […].“391 Die zitierten ußerungen konturieren einen Darstellungsbegriff, in dem symbolische Ausdruckswerte Formen fr jeden beliebigen Inhalt bereitstellen, ohne dass eine bedeutungskonstitutive Differenz, ein sthetischer Wertgegensatz, sichtbar wre. Zwar soll jedes Stoffmoment, das symbolische Bedeutung gewinnt, nicht in seiner reinen Stofflichkeit verbleiben, und zwar soll das naturalistische Symbol Einzelmomente im Zeichenprozess hervorheben, aber diese Hervorhebung bleibt arbitrr, weil der Naturalismus, wie Albertis Ausfhrungen ber das Symbol belegen, „jede Erscheinung als Bild fr die andern, jede zu der andern in Beziehung setzen [kann]“392. Damit ist eine Semiologie markiert, in der jedes Moment der semiologischen Kette potentiell dieselbe Bedeutsamkeit gewinnt, wie jedes andere Signifikationsmoment derselben Kette auch. Entsprechend zielen auch Schrçtters Vorbehalte auf eine naturalistische Symbolpraxis, deren stoffliche Restriktionslosigkeit als Schwchung und ,Entfrbung‘ von Referenz im Ganzen gedeutet werden kann. Auch Schrçtter legt am buchstblich grenzenlosen Gebrauch kultureller Symbole wie „Fahne“ und „Schlacht“ eine gleitende Dynamik bloß, in der sich Referierendes und Referenz fortwhrend ineinander verwandeln kçnnen.393 Schrçtters Symbolkritik zielt darber hinaus auf einen zweiten Gesichtspunkt. Er betrifft die grundstzliche Intransparenz, die jedes symbolische Material von dem, was es bezeichnen soll, abtrennt. In einer fr den Roman selbst folgenreichen Weise lsst der Text seine Zentralfigur Schrçtter einen grundstzlichen Referenzverdacht aussprechen, der nicht nur die verhandelten nationalen Symbole, sondern die tiefenepistemologischen Intentionen des Romans selbst in Mitleidenschaft zieht. Denn Schrçtters Argument bemht den Gedanken, dass Symbole lediglich Verweisungen und Bezglichkeiten ausbilden, die keine referentielle Tiefendimensionen erschließen. Mag sich der (nationale) Text aus refe391 Alberti: Die zwçlf Artikel des Realismus [1890], 311 – 320, 319. 392 Alberti: Milieu [1890], 51. 393 Georg Simmel hat diese naturalistische Symbolizitt 1896 in verblffender begrifflicher bereinstimmung mit Albertis Rede vom naturalistischen „Pantheismus“ (Alberti: Milieu [1890], 51) als „sthetische[n] Pantheismus“ bezeichnet, weil in ihm, so Simmel, „jeder Punkt […] die Mçglichkeit der Erlçsung zu absoluter sthetischer Bedeutsamkeit“ berge. Georg Simmel: Soziologische Aesthetik [1896]. In: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 5: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900. Hg. von Heinz-Jrgen Dahme, Frankfurt/M. 1992, 197 – 214, 199. Vgl. dazu Kap. V. 6.

4. Der Sinn des Jahrhunderts

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renzdichten Symbolen speisen und seine denkwrdigen Ereignisse in das kulturelle Gedchtnis „symbolische[r] Metzeleien“394 einarbeiten – die symbolischen Referenzen stiften nur selbstbezgliche Verweisungen von (nationalem) Symbol zu (nationalem) Symbol, ohne dass das symbolische Material die bewegenden „Gesetze[]“395 und „Krfte“396 der Geschichte je erreichen kçnnte. Das gesamte epistemische Projekt des Textes, das im Gesprch durch das Exempel eines von Schlachten und „symbolischen Metzeleien“ illuminierten nationalen Geschichtstextes gefhrt wird, erweist sich in dem Maße als Verkennung seiner eigenen narrativen Mçglichkeiten, als sein symbolische Material, wie Eynhardt resigniert bemerkt, lediglich „ist, was es scheint“ – „es bedeutet sich selbst“.397 Am Ende dieser resignativen Einsicht in eine Selbstbezglichkeit ohne Tiefe, in ein Symbol ohne eigentliche Referenz und in eine Weltgeschichte aus „Zuflligkeiten“398 scheint es, als stoße der naturalistische Roman Nordaus seine eigene narrative Epistemologie in ein Symbolisches, das ebenso vielgestaltig wie intransparent, ebenso beweglich wie uneindeutig ist. Und ebenso scheint es zum Sinn dieser Resignation zu gehçren, dass der Text der diagnostizierten „Krankheit des Jahrhunderts“ – der Willensschwche – nur eine andere epistemische Gestalt gegeben hat: die Gestalt eines Symbolischen, das im Blick auf das, was es symbolisieren soll, undurchdringlich bleibt. Wenn der naturalistische Roman in der fortwhrenden Reproduktion seines tiefensemantischen Schemas mit der Prparierung eines transzendentalen Gehalts beschftigt gewesen ist, dann nimmt Nordaus Roman diese Mçglichkeit fr einen Moment in ein Symbolisches zurck, das außerhalb seiner Bezglichkeiten in eine blinde Tiefe starrt.

394 395 396 397 398

Nordau: Die Krankheit des Jahrhunderts [1888], I, 45. Ebd. Ebd., I, 101. Ebd., I, 146. Ebd.

III. Poetik der Tat 1. Apokrypher Avantgardismus. „Fhrerschaft“ und „Kunst-Wille“ bei den Brdern Hart und bei Leo Berg ber die Frhphase des deutschsprachigen Naturalismus ist die Literaturwissenschaft recht gut informiert. In erster Linie hngt dies mit dem verbreiteten Eindruck zusammen, dass die Erschließung dieser Phase keines gesonderten exegetischen Aufwands bedarf. Denn zum einen scheint die Selbstbeschreibung des Naturalismus im Namen ,der Moderne‘ bereits von sich aus so signifikant,1 dass der begriffsgeschichtliche Befund eine im engeren Sinne literaturhistorische Einschtzung des Sachverhalts unnçtig macht.2 Zum anderen lsst sich auf eine ganze Reihe manifestartiger Verlautbarungen verweisen, die zu Beginn der 1880er Jahre schnell aufeinander folgen und in ihrer Verbindung aus flamboyanter Polemik und hochfliegenden Aufbruchsmythen den Eindruck einer kohrenten Position vermitteln. Zwischen 1882 und 1884 erscheinen die sechs Hefte der Kritischen Waffengnge, mit denen die Brder Heinrich und Julius Hart jene ,jngstdeutsche‘ Opposition formieren, die in der Folgezeit – wenn auch mit unterschiedlicher Nhe zu den berzeugungen der Brder Hart – publizistisch ausgebaut wird. 1885 erscheinen die von Wilhelm Arendt und Hermann Conradi herausgegebenen Modernen 1

2

Vgl. die Thesen der freien literarischen Vereinigung ,Durch!‘ [1886]. In: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverstndnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Eingel. und hg. von Gotthart Wunberg, Frankfurt/M. 1971, 1 f. Zum frhnaturalistischen Neologismus ,die Moderne‘ vgl. Walter Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar 1998, 20 f. und Lothar L. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. ber die Situierung der Literatur in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne, Tbingen 2005, 216 – 224. Dort auch Hinweise zur Publikationsgeschichte der Durch!-Thesen. Der kurze Text ist in der lteren Literatur durchgngig auf das Jahr 1887 datiert worden. Vgl. Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933, 21. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernitt, Moderne. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. 4, Stuttgart 1978, 93 – 131, 120. Auch Gumbrecht gibt als Jahr der Erstverçffentlichung 1887 an.

1. Apokrypher Avantgardismus

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Dichter-Charaktere, zu denen Conradi ein aggressives Vorwort beisteuert;3 1886 folgen die Thesen der freien litterarischen Vereinigung Durch! und Karl Bleibtreus Revolution der Literatur,4 1887 schließlich Wilhelm Bçlsches als Prolegomena einer realistischen sthetik annoncierten Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. 5 Alle spteren Programmschriften – etwa die 1891 erschienene Kunst-Schrift von Arno Holz – stehen nicht mehr in der Kontinuitt der frhen naturalistischen Programmatik, zumal sich mit Holz ein Genrewechsel vom literaturkritischen Diskurstyp der Brder Hart zu einer Art szientifischer Experimentalreflexion vollzieht.6 Wenn es berhaupt signifikante Verbindungen zwischen dem frhen Naturalismus, der vor allem gegen Epigonen wie Heinrich Kruse oder Hugo Brger und Feuilletonisten wie Paul Lindau zu Felde zieht, und seiner spteren positivistischen Grundlegung gibt, dann liegen sie in der theoretisch nach wie vor unabgegoltenen Begegnung mit dem Werk Zolas; auch Holz‘ ominçses ,Kunstgesetz‘ ist ja zunchst als theoretischer Einspruch gegen Zola konzipiert. Und noch eines spricht fr die relative Kohrenz dieser Frhphase, bedenkt man den kollektiven Bewegungscharakter etwa der Durch!-Vereinigung: Fast alle der frhnaturalistischen Verlautbarungen ruhen auf einer Vielzahl persçnlicher Bekanntschaften und einem ausgeprgt gruppenspezifischen Engagement,7 das sich in 3

4 5

6 7

Vgl. Hermann Conradi: Unser Credo. In: Moderne Dichter-Charaktere. Hg. von Wilhelm Arent, Leipzig 1886, I-VII. Vgl. Gnther Mahal: Wirklich eine Revolution der Lyrik? berlegungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung der Anthologie ,Moderne Dichter-Charaktere’. In: Helmut Scheuer (Hg.): Naturalismus. Brgerliche Dichtung und soziales Engagement. Stuttgart 1974, 11 – 47 und Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933, 35 – 41. Vgl. Karl Bleibtreu: Die Revolution der Literatur [1886]. Mit erluternden Anmerkungen und einem Nachwort neu hg. von Johannes J. Braakenburg, Tbingen 1973. Vgl. Wilhelm Bçlsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen sthetik [1887]. Mit zeitgençssischen Rezensionen und einer Bibliographie der Schriften Wilhelm Bçlsches neu hg. von Johannes J. Braakenburg, Tbingen 1976. Vgl. Arno Holz: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze, Berlin 1891. Vgl. fr die Vereinigung Durch! Peter Wruck: Durch! [Berlin]. In: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bnde 1825 – 1933. Hg. von Wulf Wlfing, Karin Bruhns und Rolf Parr, Stuttgart, Weimar 1998, 83 – 87 sowie Katharina Guenther: Literarische Gruppenbildung im Berliner Naturalismus, Bonn 1972. Zu den spteren Entwicklungen im Umfeld der Friedrichshagener vgl. Rolf Kauffeldt/Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis, Mnchen 1994. Dem Bewegungscharakter des Naturalismus entspricht seine

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III. Poetik der Tat

Vereinsformen ausprgt und zudem das engere Feld der Literatur auf Akteure anderer professioneller Herkunft çffnet. Welchen Anteil die frhe Literaturwissenschaft – man denke an Eugen Wolff oder Adalbert von Hanstein8 – an der theoretischen Selbstverstndigung des Naturalismus, insbesondere hinsichtlich seiner Konjunktion mit der sthetischen Moderne, besitzt, ist seit langem bekannt.9 Es gehçrt zur Signatur des frhen Naturalismus, dass sich die weit reichendsten Ansprche an die kulturelle Leistungskraft der naturalistischen Bewegung mit der literaturkritischen und publizistischen Ttigkeit der Brder Hart verbinden. Allerdings wre es verfehlt, das Engagement der Kritischen Waffengnge mit der Inaugurierung einer nur literarischen Bewegung gleichzusetzen. Selbstverstndlich ist in den Kritischen Waffengngen von Literatur, mehr noch vom Theater die Rede, dennoch zielen die Texte auf die Bedingungen von Literatur, und d. h.: auf die Sphre der Kultur im Ganzen. Es gibt – um den Gang der folgenden Rekonstruktion anzudeuten – in den berlegungen der Brder Hart wie in den bemerkenswerten, gleichwohl bislang unerforschten Theorieschriften Leo Bergs einen apokryphen Avantgardismus, der im Vorfeld der entsprechenden historischen Entwicklungen bereits wesentliche Kennzeichen der avantgardistischen Kulturprojekte vorwegnimmt.10 Institutionalisierung in Zeitschriften, insbesondere durch Die Gesellschaft und die Freie Bhne. Vgl. hierzu Agnes Striedter: ,Die Gesellschaft‘. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeitschrift des frhen Naturalismus, Frankfurt/M., Berlin, New York 1985; Monika Dimpfel: ,Der Kunstwart’, ,Freie Bhne/Neue Deutsche Rundschau‘ und ,Bltter fr die Kunst’. Organisation literarischer ffentlichkeit um 1900. In: Dies./Georg Jger (Hg.): Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, Tbingen 1990, 116 – 197. 8 Vgl. Adalbert von Hanstein: Das jngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte. Mit 113 Schriftsteller-Bildnissen. Buchschmuck von Emil Bchner, Leipzig 1900. 9 Vgl. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik, 224. 10 Der avantgardistische Zug des frhen Naturalismus ist sporadisch vermerkt worden, allerdings immer auf die sprachliche Attitde beschrnkt geblieben. Demgegenber zielt das Folgende auf einen konzeptuellen Avantgardismus, der mehr ist als eine „revolutionre Gebrde“. Vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900. Von der Reichsgrndung bis zur Jahrhundertwende, Mnchen 1998, 108. Zum Avantgarde-Begriff vgl. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, 177 ff. – Zur Bedeutung der Kritischen Waffengnge fr die Geschichte der Literaturkritik im 19. Jahrhundert vgl. Russell A. Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgrndung und 1933. In: Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730 – 1980), Stuttgart 1985, 205 – 274, 219 ff. Eine den Kampf um Beteiligung am ,literarischen Feld‘ betonende Re-

1. Apokrypher Avantgardismus

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Im Falle der Kritischen Waffengnge ruht dieser Avantgardismus zunchst auf einer im intellektuellen Feld nach 1870/71 weitlufig geteilten Gegenwartsdiagnose. In ihrer Entschiedenheitsrhetorik korrespondiert sie mit dem zu Beginn der 1880er Jahre vernderten Sozialklima, das sich unter dem Eindruck der çkonomischen Depression und der wachsenden preußischen Reglementierung des Parteiensystems – 1878 war das ,Sozialistengesetz‘ in Kraft getreten, das bis 1890 immer aufs Neue verlngert werden sollte – deutlich auskhlte.11 Inhaltlich zielte die Diagnose der Harts auf die schmerzhafte Disproportion zwischen der ußeren Machtstellung des Reichs und seiner kulturellen Identitt. Noch 1898, im Rckblick und unter vernderten weltanschaulichen Vorzeichen, beklagt Heinrich Hart die tiefe Spaltung, die das Reich durchzog: Der gewaltige Umschwung in den politischen Verhltnissen, im nationalen Fhlen und Denken, den die Jahre 1866 und 1870 herbeigefhrt hatten, blieb die Literatur zunchst beinahe bedeutungslos. Wohl sprach sich hier und da die Erwartung aus, […] daß auch fr die Dichtung eine neue Blthezeit hereinbrechen werde […]. Aber in Wirklichkeit regte sich nichts. Die Literatur nahm keinen Aufschwung, im Gegenteil sie verflachte und versandete. Sie befruchtete sich nicht mit neuen nationalen Idealen […]. […] Und dasselbe Volk, das die Franzosen im Waffenkampf besiegt hatte, ließ sich unbedenklich mit einer Literatur abspeisen, die ihrem Wesen nach durchaus franzçsisch war […]. Das junge Geschlecht, das in diesen Tagen heranwuchs, empfand jenen Zustand mit heißer Beschmung und Empçrung. Es fhlte, daß ein klaffender Widerspruch bestand zwischen der ußeren Machtstellung des Reiches und seiner sthetischen Kultur.12

Unter dem nationalistischen Ton, der diesen Rckblick bruchlos mit den Beitrgen der 1880er Jahre verbindet, verbirgt sich eine doppelte Klage. Die eine zielt auf den Umstand, dass die politische Modernisierung Deutschlands keine entsprechende kulturelle Modernisierung bewirkt habe; Einheit besitzt die Nation nur in dem innerlichkeitslosen Sinn ihrer Verfassung, ohne dass das Vakuum an innerem Sinn kulturell kompenkonstruktion vor dem Hintergrund der Bourdieuschen Literatursoziologie liefert Christine Magerski: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfnge der Literatursoziologie, Tbingen 2004, 48 – 54. In beiden Fllen bleibt der konzeptuelle Avantgardismus der Harts unterbelichtet. 11 Vgl. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Mnchen 32001, 226 ff., 240 ff. 12 Heinrich Hart: Henrik Ibsen und die deutsche Literatur [1898]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Julius Hart. Bd. 4: Ausgewhlte Aufstze, Reisebilder, Vom Theater, Berlin 1907, 3 – 17, 4 f.

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siert worden wre. Weil das Reich nur dem „Stoffe“, nicht aber dem „Geist“ nach Realitt ist, ist es reine, ,arbitrre‘ Form, eine bloß ußerliche „Formengltte“ ohne „Tiefe“, „Gluth“ und „Grçße“.13 „Dem Sedan der sthlernen Waffen“, heißt es im vierten Heft der Waffengnge, „sollte das Sedan des Geistes auf den Fuß folgen […]. […] Eine politische Verfassung kann man ber Nacht gewinnen, eine nationale Wiedergeburt an G e i s t u n d S e e l e hingegen, darber gehen J a h r e hin.“14 Die andere, weniger explizite Klage, richtet sich auf die Qualitt dieser ausstehenden nationalen Vertiefung. Sie vollzieht sich, begrenzt durch das Spannungsfeld von ,Geist‘ und ,Form‘, indem die diagnostizierte „Formengltte“ von einer sthetischen Kultur berformt wird, die in die bloß formale Staatlichkeit „Geist“, d. h. Bindung und nationalen Gehalt hineintrgt. Damit bewegen sich die Harts im Vorstellungsbereich jener Kulturnation, wie sie sich im 18. Jahrhundert als universalistischer Begriff gegen die Verabsolutierung des Staatsdenkens ausgebildet hatte.15 Nation, so muss man die Kritischen Waffengnge verstehen, ist die Nation erst, wenn sie sich als Kultur, d. h. als jene bindende Lebenswirklichkeit realisiert hat, die „alle Erscheinungen verknpft“.16 „Alles spricht dafr“, heißt es im Erçffnungsstck der Kritischen Waffengnge ber die erwartete nationale Kultur, nur eins dagegen. Das eine ist unser Wille. Nein, wir wollen nicht fatalistisch an ein Unabwendbares glauben, wir wollen nicht mit Bewußtsein unsre Cultur verloren geben und ist gegen das Geschick kein Sieg zu erringen, – der Kampf ist unverwehrt.17

Man hat es in diesem „Idealismus des Wollens“18 bis in die Details seiner rhetorischen Struktur mit einer Bewegungstypik zu tun, die bereits im Titel des Auftaktbandes der Kritischen Waffengnge – „Wozu, Wogegen, 13 Heinrich und Julius Hart: Wozu, Wogegen, Wofr? In: Dies.: Kritische Waffengnge. Mit einer Einfhrung von Mark Boulby. Reprint der Ausgabe 1882 – 1884, New York, London 1969. H. 1 [1882], 3 – 8, 7. 14 Heinrich und Julius Hart: Das ,Deutsche Theater‘ des Herrn L’Arronge. In: Dies.: Kritische Waffengnge. H. 4. [1882], 3 – 69, 3 f. 15 Vgl. Otto Dann: Nationale Fragen in Deutschland: Kulturnation, Volksnation, Reichsnation. In: Etienne FranÅois/Hannes Siegrist/Jakob Vogel (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. und 20. Jahrhundert, Gçttingen 1995, 66 – 82. 16 Heinrich und Julius Hart: Wozu, Wogegen, Wofr? [1882], 5 (m. Hervorhg.). 17 Heinrich und Julius Hart: Wozu, Wogegen, Wofr? [1882], 6. 18 Heinrich und Julius Hart: Graf Schack als Dichter. In: Dies.: Kritische Waffengnge. H. 5 [1883], 3 – 64, 4.

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Wofr?“ – den agonalen Diskursraum der spteren Avantgardebewegungen erçffnet. Schon die Titelwahl der Kritischen Waffengnge besitzt unbersehbar einen avantgardistischen Zug.19 Er orientiert den Sachgehalt, also das, was im kairologischen Zeitverstndnis der Avantgarden ,auf dem Spiel steht‘, an der existenziellen Unterscheidung von Freunden und Feinden und strukturiert das nationale Projekt entlang von entsprechend elementaren Oppositionen: Willensschwche gegen Willensstrke, Aktivitt gegen Lhmung, Jugend gegen Alter, Gesundheit gegen Krankheit, Mnnlichkeit gegen Effeminierung, Dynamik gegen Erstarrung. Entsprechend legt die Mehrzahl der in den Kritischen Waffengngen versammelten Texte die Versuchung nahe, den artikulierten nationalen Gehalt in der Rhetorik seiner Rekurrenzen und Parallelismen aufgehen zu lassen. Der gesamte Voluntarismus dieser nationalen Avantgarde ist wesentlich ein sprachliches Moment vordergrndiger, aber auf Wirkung bedachter Insistenz: Den Freunden des Laissez faire aber sagen wir, es geschieht in menschlichen Dingen nichts von selbst, alles will erstrebt, erkmpft und gewollt sein und es wird sich einst zeigen, daß dieser Idealismus des Wollens das wahrhaft praktische ist. Warum? Weil er aus der inneren Zuversicht des K ç n n e n s entspringt. Ja, wir w o l l e n eine große, nationale Literatur, welche weder auf Hellenismus noch auf Gallicismus sich grndet, eine Literatur, welche, genhrt mit den Errungenschaften der gesammten m o d e r n e n Kultur, den Quell ihres Blutes in den Tiefen der germanischen Volksseele hat […]. Wir wollen eine Literatur, die eigenartig wurzelt und wipfelt, welche nicht immer wieder und wieder den ausgepreßten Ideen und Empfindungen unsrer Vter letzte magre Tropfen entkeltert, eine Literatur, welche w i r k t und nicht spielt. Wir wollen eine Literatur, welche nicht dem Salon, sondern dem

19 Darin korrespondieren die Kritischen Waffengnge mit lteren Zeitschriften, zum einen mit den Kritischen Gngen Friedrich Theodor Vischers, zum anderen mit Ludolf Wienbargs Aesthetischen Feldzgen. Zu Vischers Kritischen Gngen vgl. Leo Hans Wolf: Die sthetische Grundlage der Literaturrevolution der achtziger Jahre. Die ,kritischen Waffengnge‘ der Brder Hart, Phil. Diss. Berlin 1921, 12 und Kurt Tillmann: Die Zeitschriften der Gebrder Hart, Diss. Mnchen 1923, 91. Zu Vischer und Wienbarg vgl. außerdem Mark Boulby: Einleitung. In: Heinrich und Julius Hart: Kritische Waffengnge, III-LI, VIII und Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik, 194, Anm. 3. Einen Bezug zu Wienbarg stellen die Harts 1878 selbst her. Vgl. Heinrich Hart: Neue Welt. Literarischer Essay. In: Deutsche Monatsbltter. Centralorgan fr das literarische Leben der Gegenwart 1 (1878). Zit. nach Manfred Brauneck/Christine Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, Stuttgart 1987, 7 – 17, 9 f.

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Vo l k e gehçrt, welche erfrischt und nicht amusirt, welche f  h r t und nicht schmeichelt.20

Sprache ist hier, in den Auslufern einer das sthetische berschießenden Zeugungsmythologie – die Poesie msse „L e b e n zeugen“21, wie es an gleicher Stelle heißt – unmittelbar „That“22. Als „Fhrerin“ dieser „That“ soll eine Literatur auftreten, die in einem Feld kultureller Ungleichzeitigkeiten ihre eigene Position als „Vorhut“23 reflektiert und mit einem nationalen Kollektiv verbindet, das noch nicht existiert. Wenn es zutrifft, dass die Nation im literaturkritischen Diskurs der Harts im Kern als „Publikum“ vorgestellt wird, dem eine kollektive Bindung als nationales Publikum noch fehlt, dann erweist sich das Projekt der Kritischen Waffengnge als Problem einer Unvollstndigkeit, die als temporale Differenz zwischen „Vorhut“24 und „Hauptheer“25 entfaltet wird und die das „Hauptheer“ dazu verpflichtet, zur „Vorhut“ aufzuschließen. Kritik, so Lothar L. Schneider, „behauptet sich […] als Avantgarde eines Publikums, das erst geschaffen werden muss“.26 So wenig die diagnostizierte Situation mit den martialischen Tonlagen zu bewltigen ist, die die Kritischen Waffengnge kultivieren, so sehr besitzt der berufene „Idealismus des Wollens“27 eine systematische Qualitt. Er entspricht der futurischen Zeitordnung der nationalen Avantgarde, in dem er die kulturelle Unerflltheit der Nation mit dem aktivistischen Bild einer futurischen „That“28 verbindet, die sich ihrerseits als Erfllung der nationalen Kultur versteht. Insofern ist die an den Kritischen Waffengngen monierte „leere[] Anspruchsgeste“29 diesem Voluntarismus affin. Leere ist hier keine rhetorische Schwche, keine bloße ußerlichkeit, sondern eine notwendige Leere, die ,leer’ sein muss, damit 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Heinrich und Julius Hart: Graf Schack als Dichter [1883], 4. Ebd. Ebd. Heinrich und Julius Hart: Fr und gegen Zola. In: Dies.: Kritische Waffengnge. H. 2 [1882], 44 – 55, 55. Ebd. Ebd. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik, 213. Heinrich und Julius Hart: Graf Schack als Dichter [1883], 4. Ebd. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik, 213. Das Folgende ist in gewisser bereinstimmung mit den Ergebnissen von Schneider (Ebd., 193 – 215) formuliert, betont aber ber die Aporetik des Entwurfs hinaus die Bedeutung seiner kultursemiotischen und methodologischen Momente.

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in sie all jene Affektmomente einstrçmen kçnnen, die die Kritischen Waffengnge innerhalb der grnderzeitlichen Kultur positionieren. Entsprechend fllt sich die Leere des Entwurfs mit zahlreichen Feindkonstellationen auf, in denen die literarische Kultur der Grnderzeit in Form herausragender Einzelpersçnlichkeiten prsent ist; die Polemik richtet sich gegen Dramatiker wie den „Dutzendmenschen“30 Heinrich Kruse und die „literarische Krankheit“ Hugo Brger31, gegen den viel aufgelegten Lyriker und „klglichen Afterdichter“ Albert Trger32, gegen den feuilletonistischen „Fliegenfnger“ Paul Lindau33 und, wenn auch deutlich milder, gegen die Romanciers Friedrich Spielhagen und mile Zola.34 Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, die Details dieser Polemik nachzuzeichnen, da sie andernorts dokumentiert sind.35 Wichtiger ist die Qualitt dieser Feindkonstellation, die ber Einzelpersonen hinausreicht und daher eine geradezu kultursemiotische Qualitt gewinnt. Denn wenn es auch zutrifft, dass die Polemik der Kritischen Waffengnge einen Kurswechsel vom Feuilletonismus der 1860er und -70er Jahre zu einer sich als objektiv verstehenden Kritik vollzieht, so richtet sich der Vorbehalt doch gegen die tiefer liegende semiotische Struktur des verhassten Feuilletonismus. An ihm, d. h. an der „großen Menge“ der „fingerfertige[n] Reporter“ und „halbgebildete[n] Leitartikelschreiber“36, tritt eine haltlose Zirkulation der Zeichen hervor, die sich flchtig ber ihren Gegenstand hinwegbewegen und die sich zu immer neuen Zeichenschichten anreichern. In der Grundtendenz wirkt hier ein Motiv nach, das aus der (maßgeblich von Nietzsche) inspirierten Polemik gegen den Historismus stammt und an der grnderzeitlichen „Proletarierjournalistik“37 semiologisch dieselben Anreicherungen der Schrift und des 30 Heinrich und Julius Hart: Der Dramatiker Heinrich Kruse. In: Dies.: Kritische Waffengnge. H. 1 [1882], 9 – 58, 49. 31 Heinrich und Julius Hart: Hugo Brger. In: Dies.: Kritische Waffengnge. H. 3 [1882], 3 – 51, 5. 32 Heinrich und Julius Hart: Ein Lyriker  la mode. In: Dies.: Kritische Waffengnge. H. 3 [1882], 52 – 68, 55. 33 Heinrich und Julius Hart: Paul Lindau als Kritiker. In: Dies.: Kritische Waffengnge. H. 2 [1882], 9 – 43, 10. 34 Vgl. Heinrich und Julius Hart: Friedrich Spielhagen und der deutsche Roman der Gegenwart. In: Dies.: Kritische Waffengnge. H. 6 [1884], 3 – 74 und Heinrich und Julius Hart: Fr und gegen Zola [1882]. 35 Vgl. Boulby: Einleitung. In: Heinrich und Julius Hart: Kritische Waffengnge. 36 Heinrich und Julius Hart: Das ,deutsche Theater‘ des Herrn L’Arronge [1882], 63. 37 Ebd.

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Schreibens bloßlegt, die Nietzsches (frher) Vitalismus der Zweiten Unzeitgemßen Betrachtung am historischen Denken namhaft gemacht hatte.38 Noch der Kampf gegen die grnderzeitlichen Epigonen ruht auf dem polemischen Bild eines Literaturbetriebs, der in allen seinen systematischen Positionen, d. h. in Produktion (Autor und Werk), Rezeption (Leser bzw. Publikum) und Vermittlung (,Journalismus‘) derselben Zeichenbewegung aus Akkumulation und Verschiebung, aus „Anhufung“39 und „Zerstreuung“40, aus „Ueberwucherung“41 und Aufschub folgt: [E]s ist auch schon darauf hingewiesen, daß sich das Stammpublikum unserer Theater vor allem aus der Bçrsenaristokratie zusammensetzt und jenem philistrçsen Teil des Volkes, welcher von den Auffhrungen nur Zerstreuung nach des Tages Last und Mhen verlangt, nicht aber Sammlung und freudige Erhebung des Geistes. […] Eine solche Stammzuhçrerschaft heranzuziehen, wird eine wichtige Aufgabe bilden […]. […] Fast unsere gesammte Epigonendichtung ist ihrem Wesen nach nichts mehr, als ein zweiter Aufguß der klassischen, eine glatte, durch L e k t  r e vermittelte Reproduktion, nirgendwo ein urendlicher Naturlaut, nirgendwo lebendige Quelle.42

Auch dem Pathos der „That“43, das die Texte der Kritischen Waffengnge durchzieht, wchst damit ein Sinngehalt zu, der ber die aktivistischen Entschiedenheitssuggestionen hinausfhrt. Tat ist bei den Brdern Hart der Name fr eine semiotische Operation, die gegen die „Zerstreuung“ der grnderzeitlichen Textkultur ein Moment der „Sammlung“44 aufbietet. Darin besitzt der Tatbegriff von seiner nicht-rhetorischen Seite her ein geradezu methodologisches Gewicht, und es verwundert daher nicht, dass die „[w]ahre Kritik“45 der Kritischen Waffengnge vor allem darauf zielt, die kurrenten ,Meinungen‘ und ,Voten‘ des grnderzeitlichen Publikums zu distanzieren. „Das bloße Votum des Publikums wiederzugeben“, heißt 38 Vgl. Herbert Schndelbach: Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt/ M. 41991, 51 – 87, 83 ff.; Friedrich Jger/Jçrn Rsen: Geschichte des Historismus. Eine Einfhrung, Mnchen 1992; Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, 2., durchges. Aufl. Gçttingen 1994, 45 ff. 39 Heinrich und Julius Hart: Fr und gegen Zola [1882], 49. 40 Heinrich und Julius Hart: Das ,deutsche Theater‘ des Herrn L’Arronge [1882], 61. 41 Ebd. 42 Ebd. und Heinrich und Julius Hart: Fr und gegen Zola [1882], 54. 43 Heinrich und Julius Hart: Graf Schack als Dichter [1883], 4. 44 Heinrich und Julius Hart: Das ,deutsche Theater‘ des Herrn L’Arronge [1882], 61. 45 Ebd., 14.

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es im polemischen Blick auf Lindau und „das gewçhnliche Recensentenpack“46, die Gengsamkeit der Menge zu entschuldigen mit der Devise ,Was gefllt, ist gut‘, das eigne Urteil sich zu ersparen, weil das Publikum deutlich genug geurtheilt, das ist die Weise des kritischen Reporterthums, das nicht die Druckerschwrze werth ist, die es beansprucht. Die Kritik hat entweder den Zweck, einerseits die Subjektivitt des Knstlers zu mildern, andererseits das Publikum aufzuklren, seine Instinkte zu klaren Anschauungen zu gestalten, seine Triebe zu verwedeln, mit einem Worte, es sthetisch zu bilden […], – oder sie hat gar keinen Zweck […].47

Formulierungen dieser Art sind alles andere als originre Entwrfe des frhen Naturalismus. Vielmehr verweisen sie auf eine sthetische Bildung, die sich im Allgemeinen von Schiller, im Besonderen wohl von Schillers Brger-Rezension (1791) her schreibt.48 Allerdings zielt diese sthetische Bildung auf eine als „echte Wissenschaft“49 verstandene Urteilsbildung, d. h. auf ein geregeltes Verfahren der Wertungs- und Urteilsproduktion. An dieser Stelle mançvrieren sich die Kritischen Waffengnge freilich in eine konzeptuelle Unentschiedenheit. Sie besteht darin, dass die beiden diskurskonstitutiven Momente – die Methodologisierung der Kritik einerseits, ihre soziale Trgerschaft andererseits – im Diskurs fortwhrend als ihre wechselseitigen Voraussetzungen auftreten. Zwar gibt es eine explizierbare methodologische Dimension innerhalb des kritischen Diskurses, aber sie setzt ein soziales Substrat voraus, das durch die Verfahren der Urteilsgewinnung allererst erzeugt werden soll. Und weil umgekehrt das anvisierte soziale Substrat – das synthetische Publikum der Nation – kulturell (noch) nicht existiert, aber dennoch als Trger der „[w]ahre[n] Kritik“50 auftreten soll, kann nicht plausibel erklrt werden, wie sich diese „[w]ahre Kritik“ als Textpraxis kulturell etablieren soll. Auf der Seite der Methodologie postulieren die Kritischen Waffengnge zunchst eine Art genetischer Kritik; nicht das Urteil selbst, son-

46 Heinrich und Julius Hart: Paul Lindau als Kritiker [1882], 20. 47 Ebd., 14 f. 48 Vgl. Friedrich Schiller: ber Brgers Gedichte [1791]. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Begrndet von Julius Petersen. Bd. 22: Vermischte Schriften. Hg. von Herbert Meyer, Weimar 1958, 245 – 264. Vgl. dazu Gerhard Plumpe: sthetische Kommunikation der Moderne. Bd. 1: Von Kant bis Hegel, Opladen 1993, 107 ff. 49 Heinrich und Julius Hart: Paul Lindau als Kritiker [1882], 19. 50 Ebd., 14.

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dern seine Begrndung und nachschaffende Reproduktion stehen im Mittelpunkt: Das erste Axiom eines Gesetzbuches fr die Kritik sollte lauten: Das bloße Urtheil ist nichts, die Begrndung alles. Leider fehlt es uns noch an einer Geschichte der Kritik, wre sie da, so wrde sie erweisen, dass die Kritik nur zu jenen Zeiten segensreich gewirkt, wo sie den Ton nicht auf das ,das ist tchtig oder schlecht‘, sondern auf das ,warum ist es so‘ legte. Das bloße Urtheil ist nichts! […] Nein, der Zweck der Kritik […] wird nur dann erfllt, wenn der Kritiker das gesammte historische und sthetische Wissen seiner Zeit mit einer bedeutenden subjektiven Anschauungskraft vereinigt, wenn er aus jenem Wissen heraus sein Urtheil dem des Publikums als maßgebend gegenberstellt […]. Was hilft es mir, wenn der Kritiker versichert, ,nach meinem Geschmacke‘ ist die Stelle vorzglich, jene ,gefllt‘ mir weniger gut […], ich mçchte wissen, was ihn berechtigt, ber oder neben den des Recensirten zu setzen, um daraus das We r d e n seines Urtheils zu erkennen, um es n a c h s c h a f f e n d mit ihm zu erleben.51

Offenkundig hngt die Bildung der sthetisch integrierten Nation davon ab, wie es gelingt, das genetische Moment am Urteilsprozess, sein „We r d e n “52, hervorzuheben und fr einen kollektiven Nachvollzug transparent zu machen. In ihm synthetisiert sich die Nation zu einem homogenen Gebilde, weil sich diese sthetische Kompetenz an jedes Einzelsubjekt im kulturellen Feld vermitteln soll. Allerdings geht in diesen genetischen Prozess eine formalsthetische Zusatzbestimmung ein, die sich einerseits gegen ein unreflektiertes Primat des Stofflichen wendet, andererseits aber immer weiter von ihrer kulturellen Verwirklichung abtrennt. Denn gefordert ist eine formanalytische Kompetenz, die den Gehalt des Einzelwerks von dessen formaler Bewltigung abhebt und als gelungene quivalenz zwischen Stoff und Gestaltmomenten qualifiziert. Mit dieser Dialektik eines Gehalts, der sich in eine adquate, formaltechnische Behandlung einprgt, hatten die Brder Hart bereits 1877 Anschluss an die nachhegelianische sthetik Max Schaslers gefunden,53 und noch die Ausfhrungen der Kritischen Waffengnge, die 1882 Zola 51 Ebd., 16. 52 Ebd. 53 Vgl. Heinrich Hart: Die Entwicklung der Knste. In: Deutsche Dichtung. Organ fr Dichtung und Kritik 1 (1877). Zit. nach Manfred Brauneck/Christine Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, Stuttgart 1987, 3 – 7. Bezugspunkt ist Max Schasler: Aesthetik als Philosophie des Schçnen und der Kunst. Erster Theil: Grundlegung. Kritische Geschichte der Aesthetik von Plato bis auf die Gegenwart. Zweite Abtheilung: Von Fichte bis auf die Gegenwart, Berlin 1872, Nachdruck Aalen 1971, 61 – 68.

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gewidmet sind, zitieren Schaslers sthetik ausdrcklich mit Blick auf das Verhltnis von „objektive[m] Inhalt“ und seiner formalen ,Auffassung‘.54 In eine verwandte Richtung weist Julius Harts 1889 erhobenes Postulat, dass die „Kritik […] das Kunstwerk nicht bloß beschreiben, erlutern, zerlegen, seine Gesetze zu erkennen suchen, sondern es nachschaffen“55 soll. In diesem ,Nachschaffen‘ ist ein Bndel an formalanalytischen Kompetenzen aufgehoben, die – legt man die kulturkritische Diagnose der Kritischen Waffengnge zu Grunde – auf kein reales soziales Substrat zurckgreifen kçnnen. Ganz im Gegenteil richten sich die Kritischen Waffengnge auf einen leeren Ort, der zwar mit den Mitteln des reinen „Wollens“56 postuliert wird, aber in die Aporie mndet, die eigene kulturschçpferische Praxis durch die Leere ihres sozialen Entwurfs hindurch verfehlen zu mssen. Entsprechend wird man es als systematische Konsequenz werten mssen, dass das nationale Projekt letztlich auf den Maßstab einer „geistige[n] Aristokratie“57 zusammenschmilzt, die sich in der Abwehr kollektiver Ansprche gegen die originre Intention der Kritischen Waffengnge verschließt. Wenn es in ihnen einen ber die eigenen Aporien hinausreichenden Sinn gibt, dann den, dass sich die Selbsttransformation des Naturalismus in eine kulturelle Avantgarde als historisch verfrht erwies. Literaturgeschichtlich sind die vermerkten Zusammenhnge, ber die bekannte Zsur, die die Kritischen Waffengnge fr die Frhphase der literarischen Moderne darstellen hinaus, kaum vertraut. Immerhin verbindet sich mit den Brdern Hart eine signifikante generationelle Fluchtlinie, an der der zeittypische, wenn man so will: berindividuelle Weg der Naturalisten sichtbar wird: Fast alle Naturalisten beginnen in einer programmatischen Verknpfung von Urbanitt, Revolte und literarischem Neuanfang und fast alle, jedenfalls viele, kehren Ende der 1890er Jahre ihren Anfngen zugunsten einer vermeintlichen Gegenmoderne den Rcken.58 Sie reicht von Entwrfen einer alternativen Gemeinschaftlichkeit ber die bodennahe Heimatkunst (Michael Georg 54 Heinrich und Julius Hart: Fr und gegen Zola [1882], 47 f. 55 Julius Hart: Wie soll man eine Kritik lesen? In: Tgliche Rundschau vom 6.10.1889. Zit. nach Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik, 212. 56 Heinrich und Julius Hart: Graf Schack als Dichter [1883], 4. 57 Heinrich und Julius Hart: Das ,deutsche Theater‘ des Herrn L’Arronge [1882], 61. 58 Vgl. Wilhelm Bçlsche: Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur sthetischen Kultur. Mit Buchschmuck von John Jack Vrieslnder, Leipzig 1901.

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Conrad, Max Kretzer) bis zum spteren nationalsozialistischen Engagement (Max Halbe, Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf ) und bewahrt gerade darin auf vermittelte Weise die Ansprche der sthetischen Moderne.59 Dass die Brder Hart um 1900 eine ,Neue Gemeinschaft‘ proklamieren, die sich zunchst als Sammelbecken ehemaliger Naturalisten, gestrandeter Sozialdemokraten und richtungsuchender Anarchisten (Paul Kampffmeyer, Gustav Landauer, Erich Mhsam) versteht,60 belegt nochmals, in welchem Maße der Naturalismus eng mit jenen Bemchtigungen des Lebens verbunden ist, die die lebensreformerischen und avantgardistischen Bewegungen nach 1900 einleiten. Auch die sporadisch vermerkte Nhe einzelner Autoren zum Nationalsozialismus besitzt bewusstseinsgeschichtliche wie sthetische Voraussetzungen im Naturalismus, die alles in allem noch wenig erforscht sind.61 Dass ber diese Zusammenhnge so wenig bekannt ist, hngt freilich auch damit zusammen, dass einzelne Autoren aus dem Geflecht der Gruppenbildungen und ihrer zum Teil sektiererischen Dynamik kaum aufzutauchen vermçgen. Offensichtlich neigen die Sezessionen der frhen Moderne – anders als die kanonischen Bewegungen der Klassischen Moderne – dazu, ihre Akteure fr den historischen Blick gewissermaßen unsichtbar zu machen. Zu den in diesem Sinne Unbekannten zhlt der Literaturkritiker Leo Berg. Berg gehçrt als geistiger Schler des Mediziners Konrad Kster, der seit 1883 auf die Wiederbelebung der deutschen Studentenschaften hinarbeitete, und als frher Weggefhrte des Neuphilologen Eugen Wolff zum Grndungsmittelpunkt der Durch!-Bewegung, der er vor allem das theoretisch-programmatische Profil gab. Tatschlich bezeugen Bergs umfangreichere Schriften (Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst [1892], Der bermensch in der modernen Literatur. Eine Kapitel zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts [1897]) 59 Vgl. Kap. IV. 60 Vgl. Eva-Maria Siegel: High fidelity. Konfigurationen der Treue um 1900, Mnchen 2004, 177 – 194; Ernst Ribbat: Propheten der Unmittelbarkeit. Bemerkungen zu Heinrich und Julius Hart. In: Wissenschaft als Dialog. Studien zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hg. von Renate von Heydebrand und Klaus Gnther Just, Stuttgart 1969, 59 – 82. 61 Am umfassendsten erforscht in dieser Hinsicht ist bislang Johannes Schlaf. Vgl. Dieter Kafitz: Johannes Schlaf – Weltanschauliche Totalitt und Wirklichkeitsblindheit. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Naturalismus-Begriffs und zur Herleitung totalitrer Denkformen, Tbingen 1992, 236 – 265. Primr biographisch orientiert ist Ulrich Erdmann: Vom Naturalismus zum Nationalsozialismus? Zeitgeschichtlich-biographische Studien zu Max Halbe, Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf und Hermann Stehr, Frankfurt/M. 1997.

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ein erhebliches theoretisches Talent, das deutlich aus dem Niveau der sonstigen programmatischen Verlautbarungen des Naturalismus herausragt. Nach seinen Anfngen als Redakteur von Ksters Zeitschriften im Umfeld der Reformburschenschaften62 und seinem Engagement in der Vereinigung Durch! vollzieht Berg eine Wende zur Philosophie Nietzsches, die sich ab 1889, also noch im Vorfeld der erst zu Beginn der 1890er Jahre breit einsetzenden literarischen Nietzsche-Rezeption, in einer Reihe von Essays niederschlgt.63 Nicht zuletzt zhlt Berg zu den wichtigen Vermittlern der theoretischen berlegungen Zolas; ab 1893 legt Berg mehrere bersetzungen vor, die 1904 erstmals auch Zolas Schrift ber den roman exprimental zugnglich machen, nachdem eine 1892 angekndigte bertragung nicht zustande gekommen war.64 Die Nhe Bergs zu den hier interessierenden Zusammenhngen ergibt sich aus einer auch bei Berg manifesten berschreitung des Naturalismus auf semantische und affektçkonomische Figuren, die nach 1900 in die historischen Avantgardebewegungen Eingang finden und bei Berg im Begriff des ,Kunst-Willens‘ zusammengefhrt werden.65 Die entsprechenden berlegungen finden sich in Bergs Naturalismus-Schrift von 1892, die neben einer Reihe Naturalismus-typischer Probleme ein umfngliches Kapitel ber den Willen in der Kunst enthlt; dass dieses Kapitel rund 100 Seiten innerhalb des auf 240 Seiten bemessenen Gesamtumfangs ausmacht, belegt, welche Bedeutung Berg dieser willenstheoretischen Begrndung beigemessen hat. Sie scheint umso gewichtiger, als sich die Grundtendenz der Naturalismus-Schrift nicht auf eine der in den 1890er Jahren gehuft auftretenden ,berwindungen‘ der naturalistischen Bewegung richtet. Ausgangspunkt von Bergs Programmatik ist ein Rckgang auf die sthetische Tradition Kants bzw. Schillers und ihrer 62 Vgl. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik, 233 ff. Zum Verhltnis von Reformburschenschaften, Nationalismus und Patriotismus vgl. Peter Sprengel: Zwischen Literaturrevolution und Tradition. Weckrufe an die Nation. Zu einem Topos der patriotischen Lyrik im Frhnaturalismus. In: Ders.: Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne, Berlin 1993, 79 – 90, 85 ff. 63 Vgl. nur Leo Berg: Friedrich Nietzsche. Studie. In: Deutschland 9 (1889), 148 ff., 168 ff.; ders: Friedrich Nietzsche. Ein Essay. In: Die Gesellschaft 6 (1890), 1415 – 1428. 64 Vgl. mile Zola: Der Experimentalroman. Eine Studie. Autorisierte bertragung, Leipzig 1904 und mile Zola: Der naturalistische Roman in Frankreich, o.O. 1893. Berg bleibt als bersetzer in beiden Fllen ungenannt. 65 Vgl. Wolfgang Ullrich: Kunstwollen. Wenn ,Kunst‘ nicht mehr von ,kçnnen‘ kommt. In: Ders.: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frankfurt/M. 2005, 189 – 208.

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in der Kategorie der ,Interesselosigkeit‘ vollzogenen, transzendentalphilosophischen Begrndung. Berg wendet den Begriff allerdings philosophiegeschichtlich kaum zutreffend in einen „Indifferentismus“66, der nicht mehr – wie bei Kant – der Freigabe gegeneinander differenzierter Urteilshorizonte dient, sondern willensenergetisch berformt wird. Vor diesem Hintergrund erscheint das Einzelwerk als ein agonales energetisches Kontinuum, das insofern ber seine Grenzen hinausreicht, als es den Rezipienten gegen seinen Willen durch Sinnmomente fhrt, die sich im Deutungsstreit um das Werk als hegemonial erweisen wollen. Bergs Konzeption zielt auf eine Grundlegung des naturalistischen „Kunstwerk[s]“ in einem thermodynamischen „W i l l e n s z e n t r u m “67, das in der Begegnung des Rezipienten mit Autor und Werk „eine Kraft gegen die grçßere Kraft“68 fhrt. Unbersehbar wirkt hier ein nietzscheanischer Impuls, der Nietzsches spte Thermodynamik des Willens69 rezeptionssthetisch reformuliert und in einen Kampf agonaler Sinnperspektiven versetzt. Wie „Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuben“70, so unterliegt auch die Werk-Interpretation einem Geltungskonflikt, in dem der „fremde“ Autor- bzw. Werkwille auf den „Gegenwillen“71 des Beobachters trifft und seine Ansprche durchzusetzen versucht.72 Es liegt in der agonalen Struktur dieses ,Werkwillens‘ begrndet, dass sich die Haltungen zum Werk in einer agonalen Opposition zwischen passivem Genuss und aktiver Kritik, zwischen „Genossenen“ und „Kritiker[n]“73, verhrten: 66 Leo Berg: Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst, Mnchen 1892, 150. 67 Ebd., 147. 68 Ebd., 153. 69 Vgl. Gnter Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin, New York 1984 und Kap. I. 70 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. November 1887 – Januar 1889. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 13, Berlin, New York 1980, 261. 71 Berg: Der Naturalismus [1892], 151. 72 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 – Herbst 1885. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 12, Berlin, New York 1980, 140: „In Wahrheit ist I n t e r p r e t a t i o n e i n M i t t e l s e l b s t , um H e r r  b e r e t w a s z u w e r d e n “. Vgl. zu diesem ,Willen zur Interpretation’, der fortwhrend auf Hegemonie zielende Deutungsperspektiven aus sich entlsst, Gerhard Plumpe: sthetische Kommunikation der Moderne. Bd. 2: Von Nietzsche bis zur Gegenwart, Opladen 1993, 68 – 75. 73 Berg: Der Naturalismus [1892], 151.

1. Apokrypher Avantgardismus

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,S c h ç n ist, was o h n e I n t e r e s s e gefllt‘, sagt Kant, und es haben es alle Philosophen gesagt. Was ist das Ideal unserer Aesthetik? Der Indifferentismus des Knstlers! […] Schiller […] und die Kant-Hegel’sche Aesthetik will vor Allem die Freiheit des Zuschauenden, Zuhçrenden gewahrt wissen. Wie? Dem Schaffenden sollte die Freiheit des Willens wegdisputiert werden, damit sie dem Aufnehmenden gewahrt bleibt?! Durch jeden Affect, durch jede Leidenschaft, durch jeden Willen […], kurz jedes energische Ja und energische Nein in der Kunst muss sich der Zuhçrer oder Zuschauer einen Eingriff in die Freiheit seines Willens gefallen lassen. Es gibt Dichtungen – ich erinnere bloß an Grabbe – durch welche der Autor unsere Seele gleichsam mit Tigerkrallen anpackt. Und uns bleibt nichts brig, als uns entweder ganz der Gewalt dieses Raubtier-Knstlers hinzugeben […] oder den Kampf mit diesem Raubtiere aufzunehmen. Das heisst: wir mssen entweder Geniessende (in Wirklichkeit sind wir die Genossenen) oder Kritiker sein; ich will sagen, dem Willen des Knstlers einen Gegenwillen entgegen stellen. […] Man kmpft also jedesmal fr und gegen eine Willkr, nmlich fr die eigene und gegen die fremde. Eben weil man selbst Wille ist und so den Willen, der in jedem Gesetz, jeder Regel, Konvention, Sitte lebet, am tiefsten empfindet.74

Man hat es an dieser Stelle, in der der Kritiker als strkere „Willensdyname“75 aus dem Kampf der Geltungen hervortritt, mit einer der buchstblichsten Applikationen thermodynamischer Denkfiguren zu tun, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Das naturalistische Werk ist hier ohne jeden Rest aus dem Vorstellungshaushalt des physikalischen Arbeitsbegriffs, d. h. von der Bestimmung her entwickelt, dass Arbeit immer dort geleistet wird, wo mechanische und im weiteren Sinne auch psychodynamische Energien einen Widerstand berwinden. Wenn noch Psychologen der Jahrhundertwende der Frage nachgehen, wie „der Wille mechanische Arbeit“76 leistet, dann handelt es sich lediglich um eine Parallelbildung zu einem Arbeitsbegriff, der im 18. Jahrhundert aus der mechanistischen Theorie des Kraftwechsels geboren wurde.77 In einer 74 Ebd., 150 – 152. 75 Ebd., 152. 76 Vgl. A.[lbert] Adamkiewicz: Wie verrichtet der Wille mechanische Arbeit? In: Zeitschrift fr klinische Medizin 45 (1902) H. 2, 29 – 50. Vgl. auch Wilhelm Bergmann: Selbstbefreiung aus nervçsen Leiden [1911], Freiburg 51922, 101. 77 Vgl. etwa Lazare Carnot: Essais sur les Machines en general, Dijon 1783. Carnot nimmt eine Idealmaschine an, in der sich eine antreibende und eine widerstndige Kraft – eine force sollicitante und eine force rsistante – proportional zu einander verhalten. Beide Krfte leisten, indem sie eine abstrakte Bewegungsquantitt – einen moment d’activit – konsumieren, Arbeit. Vgl. Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermdung und die Ursprnge der Moderne. Aus dem Amerikanischen von Erik Michael Vogt, Wien 2001, 59 f.; Elizabeth R.

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III. Poetik der Tat

Wendung gegen die gesamte sthetische Tradition erscheint das Werk bei Berg daher nicht mehr lnger als Substrat einer Schçpfung, sondern als berwindung eines in die sthetische Semiose eingelagerten Widerstands. Genau besehen aber privilegiert diese Thermodynamik des Kunstwollens jenen ersten, anfnglichen Zeitpunkt, der den Prozess der zeichenhaften Verweisungen anstçßt und das Werk als Serie immer weiterer semiotischer Bezglichkeiten entfaltet. In energetischer Hinsicht ist dieser initiale Moment, von dem aus der gesamte Verlauf der semiotischen Verdichtungen seinen Anfang nimmt, zugleich der Moment der „grçsste[n] Kraftleistung“78. Entsprechend nimmt sie in dem Maße ab, wie sich die Zeichen in den wachsenden Limitierungen ihrer Bezglichkeiten bewegen und allmhlich immer weniger Energie zu ihrer ,Fhrung‘ durch den Verknpfungsprozess zur Verfgung steht: D i e K u n s t k o m m t nicht v o m K ç n n e n . […] Die grossen Kunstwerke sind nicht von den grossen Kçnnenden, sondern von den grossen Wollenden geschaffen worden […]. […] Km’s auf ’s Kçnnen allein an, wie namentlich auch von den Knstlern selbst immer behauptet wird, dann mssten – ganz zu geschweigen [sic] davon, dass auch schließlich das Kçnnen erst die Folge eines grossen Wollen ist – dann mssten […] allein die am besten Kçnnenden das Grçsste leisten […]. […] Die leicht Begabten und gut Kçnnenden sind selten die Schaffenden unter den Knstlern. […] Denn […] in der Kunst ist am Anfang der Wille. Jede erste That ist daher auch immer die wichtigste, der Schwung, der das Rad in’s Rollen bringt, die grçsste Kraftleistung. Spter, wenn Alles ringsum seine Bahnen abzulenken, seine Schwingungen zu hemmen sich abmht, und dies um so sicherer erreicht, je heimlicher, zrtlicher, demtiger es seinem Lauf entgegenkriecht, und die Hand langsam erlahmt, die es in Bewegung erhlt – dann werden die Thaten des Knstlers langsamer, gleichgiltiger, mechanischer und immer ohnmchtiger.79

So weit dieses Moment eines zu berwindenden Widerstands auch Bergs sthetik des „K  n s t l e r w i l l e n s “80 grundiert, zielt die entsprechende Produktionssthetik allein auf das Maß der zur Verfgung stehenden Willenskraft. So erweisen sich in Bergs Willensenergetik „gerade die schlechtest Beanlagten“ als diejenigen, die „das Grçsste schaffen“, weil sich bei ihnen – anders als im Falle der „leicht Begabten und gut Kçnnenden“ – „ihre Willenskraft um so hçher anspornt, je mehr Widerstand Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850 – 1915, Freiburg/Br., Berlin 2006, 119 ff. Zum Arbeitsbegriff vgl. Ebd., 122. 78 Berg: Der Naturalismus [1892], 156. 79 Ebd., 155 f. 80 Ebd., 157.

1. Apokrypher Avantgardismus

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sie zu berwinden haben“81. Naturalistische Autoren sind ,Kçnnende‘, weil sie – energetisierte technai ihres Willens – schlechterdings ,Wollende‘ sind: In den so oft nachgeplapperten Stzen, wie ,Ibsen will das Wahre‘, ,Byron die Freiheit‘ u.s.w., betont man regelmßig falsch die Worte: ,Wahre‘, ,Freiheit‘ u.s.w., man betone aber das ,Will‘, und Alles, war vordem lcherlich und schief war […] – jetzt erhlt es einen ganz anderen, einen weit tieferen Sinn. ,Ibsen w i l l das Wahre‘, Zola w i l l desgleichen, Byron w i l l die Freiheit u.s.w.82

Auf den ersten Blick mag es scheinen, als vertreibe Bergs thermodynamische Sprache endgltig all das mythische Schweigen, das seit dem 18. Jahrhundert am Grund der sthetischen Produktion ruht, und all das gnoseologische Dunkel, das das Genie seither umgibt. Auf den zweiten Blick erweist sich auch die vermeintlich zeitgemße Sprache der Thermodynamik als zutiefst mythologisch.83 Ausgehend von der Frage, welchen „Zweck“ das „Kunstwerk“84 besitze, fhrt Berg eine Unterscheidung ein, die das Werk zum bloßen „Effekt“85 eines eigentlichen Schaffens depotenziert. Was der „tragische Knstler“86 im Verhltnis zu seinem Werk vollzieht, ist eine Art energetischer Transsubstantiation, eine Form des umwandelnden ,Selbstumschaffens‘, die nicht mehr lnger auf die Gestalt des Werks zielt, sondern auf den „tragischen Knstler“ als „Mensch“.87 In einem Moment, in dem der berlieferte Werkbegriff damit offenkundig delegitimiert wird, gehen Sinn und Funktion des Werks in einem symbolischen Tausch auf, der die gestaltenden Energien, die bislang im Werk gebunden waren, auf den Schaffenden selbst richtet, der sich seinerseits symbolisch auf die Umgestaltung von „Volk“ und „Zeit“88 bezieht. Damit wandelt sich Bergs Thermodynamik des Willens in ein mytho-historisches „Schauspiel“, das sich symbolisch um den „Vogel Phçnix“89 rankt, um die diskursiven Positionen im traditionellen sthetikdiskurs neu verteilen: Wenn das Werk im Bild der „Flamme“90 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Ebd., 155. Ebd., 166 f. Vgl. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Berg: Der Naturalismus [1892], 173. Ebd., 174. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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III. Poetik der Tat

nur mehr in den Ekstasen seines energetischen Verbrauchs prsent ist und der „tragische Knstler“91 durch die „Aschenreste“92 des Werks hindurch seiner erneuernden Selbstzeugung beiwohnt, dann bleibt der „Wissenschaft“ nur mehr, jene „Totenfakel“93 zu tragen, die diese Bewegung des Lebens illuminiert: Das Kunstwerk ist also keineswegs der Zweck des Kunstschaffens. Es ist nicht einmal das Beste am Knstler. Es ist das, was er von sich stçsst, der Ballast seines Geistes, seine Seelen-Sekremente, oder wenn dies schçner klingt: die Flamme, die entsteht, wenn der Exclusiv-Stoff sich in ihm entzndet hat. Dass diese Flamme nun wieder Leuchte einem kommenden Geschlechte wird, ist aber erst die Folge und nicht die Ursache des KunstSchaffens. Seinem eigenen Zeitalter wenigstens nicht zur Freude. Der tragische Knstler bedeutet jedenfalls immer die grosse Not und Gefahr seines Volkes […]. […] Kurz, um dies alles in einem Wort zusammen zu ziehen: D i e K u n s t i s t d i e F l a m m e , i n d e r s i c h e i n Vo l k o d e r e i n Z e i t a l t e r s e l b s t v e r b r e n n t […]. Und ist dem so, was ist denn aber das Geschaffene? Was schafft der Knstler, wenn sein Werk nur ein Effekt seines Schaffens ist? Er schafft sich selbst, aus sich einen neuen Menschen, und mit sich sein Volk und mit seinem Volke seine Zeit – d. h. eine neue Zeit. Das Schauspiel des Vogel Phçnix. Zweck und Absicht ist weder das Werk noch die Form, noch der Stoff und die Idee. Zweck und Absicht ist der Mensch selber, er ist die geheimste, die eigentliche Hinter-Absicht.94

In einer fr die sthetische Tradition des 19. Jahrhunderts singulren Weise fhrt Bergs „W i l l e z u r K u n s t “95 zu jener diskursgeschichtlichen Trennungsszene zurck, an der „K u n s t u n d L e b e n “ als „Gegenstze[]“96 gedacht worden sind. Weil allerdings die „n e u e K u n s t g e g e n d i e a l t e , d a s m o d e r n e L e b e n w i d e r d a s a l t e “ tendiert, empfinde man „ganz richtig, dass die neue Kunst dem Leben an die Wurzel geht.“97 Bergs Diagnose von der voluntaristischen Wiedereinholung des Lebens durch eine Kunst, die ihm Ordnung und Halt, Gestalt und Form gibt, dokumentiert, dass der breite Forschungskonsens, die literarische Nietzsche-Rezeption der Jahrhundertwende habe mehr zu Nietzsches „Missverstndnis“ als zu dessen „Verstndnis“98 beigetragen, mit signifikanten Ausnahmen zu rechnen hat. Vielmehr muss sich der 91 92 93 94 95 96 97 98

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 173 f. Ebd., 210. Ebd., 206. Ebd., 208. Bruno Hillebrand: Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen, Gçttingen 2000, 51.

1. Apokrypher Avantgardismus

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Eindruck einstellen, dass Leo Berg zu den wenigen Nietzsche-Lesern des 19. Jahrhunderts zhlt, die sich auf der Hçhe einer Sptphilosophie bewegen, die sich als dezidiert nach-metaphysisch verstanden hat und daraus entsprechende Konsequenzen fr die Diskursmçglichkeiten der sthetik zog.99 Im Kern handelt es sich um die Einsicht in die grundstzliche Fiktionalitt aller Aussagen ber Wesen und Struktur des Seins, so dass – dies markiert Nietzsches tief verwurzelten Anti-Hegelianismus – in der Kunst keine Gestalt des Geistes mehr erkannt werden kann. Philosophie ist in dieser nach-metaphysischen Phase eine Philosophie der perspektivischen Sinnentwrfe in einen offenen Horizont, der diese Entwrfe jeder Rckendeckung in einem ontologischen Seinssinn entkleidet und in einen agonalen Geltungskampf entlsst. Nietzsches Philosophie kennt vor diesem Hintergrund zwei sthetische Strategien: Zum einen eine sthetik der bejahenden, ,gesunden‘ Daseinsbewltigung, in der die „Lust am Dasein“, d. h. die berzeugung, dass „das Leben“, „wie es auch sei, […] gut ist“, als eminente „Lehre der Kunst“100 erscheint. Im Schein der Kunstwerke sind nach Nietzsche keine Er-Scheinungen eines Geistigen mehr aufgehoben, sondern allein jene schçnen Fiktionen im Dienst des Lebens, die es „absichtlich […] mit Lgen [umspielen]“101, um es im schçnen Schein zu sich zu bringen. Zum anderen (und wichtiger) eine sthetik der Lebenskunst, die dezidiert als Ende der Werkkunst gedacht ist. Wenn Nietzsche in einem Nachlassfragment „[a]n Stelle des Genies […] den Menschen, der ber sich selbst den Menschen hinausschafft, [setzt]“, dann ist damit in dem Maße ein „neuer Begriff der Kunst“ entworfen, wie er sich „gegen die Kunst der Kunstwerke“102 richtet. Nietzsches nach-sthetische sthetik zielt auf eine ,große Substitution‘, in der die sthetischen Potentiale der Kultur nicht mehr in Kunstwerke, sondern in die Gestaltung des Lebens entußert werden sollen. ,Lebenskunst‘ ist eine Kunst nach der Werk-Kunst, d. h. eine 99 Vgl. zu dieser Zsur in der sthetischen Tradition Plumpe: sthetische Kommunikation der Moderne 2, 68 ff. und Ingo Stçckmann: sthetik. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. 3 Bde. Bd. 1: Gegenstnde und Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 2007, 465 – 491, 489. 100 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister [1879/80]. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 2, Berlin, New York 1980, 185. 101 Ebd., 146. 102 Friedrich Nietzsche: Umwertung aller Werte. Aus dem Nachlass hg. von Friedrich Wrzbach. 2 Bde. Bd. 2, Mnchen 1969, 544.

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III. Poetik der Tat

Kunst der bindenden, stilfhigen Konventionen, die der Inkommensurabilitt der alten Geniesthetik die Fhigkeit zu perspektivischen, aber dezidiert kommensurablen Selbstbindungen entgegensetzt: G e g e n d i e K u n s t d e r K u n s t w e r k e . – Die Kunst soll vor Allem und zuerst das Leben v e r s c h ç n e r n , also u n s selber den anderen ertrglich, womçglich angenehm machen […]: […] sie […] schafft Formen des Umgangs, bindet die Unerzogenen an Gesetze des Anstandes, der Reinlichkeit, der Hçflichkeit, des Redens und Schweigens zur rechten Zeit. Sodann soll die Kunst alles Hssliche v e r b e r g e n oder u m d e u t e n , jenes Peinliche, Schreckliche, Ekelhafte, welches trotz allem Bemhen immer wieder, gemss der Herkunft der menschlichen Natur, herausbrechen wird […]. Nach dieser grossen, ja bergrossen Aufgabe der Kunst ist die sogenannte eigentliche Kunst, d i e d e r K u n s t w e r k e , nur ein A n h  n g s e l […].103

Was als Gehalt des „K  n s t l e r w i l l e n s “104 bei Leo Berg erscheint, ist ein Nietzscheanismus, der auf verblffende Weise sichtbar macht, wo die konzeptuellen und affektiven Wurzeln der spteren Avantgardebewegungen liegen: In einem Willen, der seiner eigenen Vergesellschaftung zustrebt, weil er in die grenzenlose Flle des Wirklichen und Mçglichen fortan kommensurable Bindungen und stilfhige Fixierungen treibt. Stil, Bindung, Kommensurabilitt sind im Bergschen „K  n s t l e r w i l l e n [ ] “105 keine Attribute von Kunstwerken mehr, sondern sichtbare Prgungen der Kultur, die ihre Schçnheit nicht mehr in der Flle der von ihr abgesonderten Werkgebilde erblickt: D e r W i l l e z u r K u n s t . Der Satz, dass die Kunst das Leben verschçnt, ist sogar im buchstblichen, im realen Sinne des Wortes richtig. […] Ein Volk oder ein Individuum, das die Schçnheit ernstlich und energisch will, will sich am Ende, und gerade sich selbst auch schçn. Indem es an sich knstlerisch arbeitet und das Hssliche ignoriert oder bekmpft, verschçnt es thatschlich auch sein Leben.106

Unter der Hand verwandelt sich die als „Psychologie der modernen Kunst“ in Bewegung geratene Theorie des Naturalismus in die historische Notwendigkeit, die Kunst ber sich hinaus und in die Gestaltung des Lebens zu treiben. Und kaum mehr diskret, vielmehr mit unbersehbarer „Lust“107 an einem Habitus exekutorischer Entschiedenheit schreibt sich 103 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister [1879/ 80], 453 f. 104 Berg: Der Naturalismus [1892], 157. 105 Ebd. 106 Ebd., 210. 107 Ebd., 232.

1. Apokrypher Avantgardismus

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Bergs Naturalismus-Studie schließlich in einen Text um, der alle diskursiven Positionen spterer Avantgarde-Manifeste bereits systematisch besetzt. Ein unmittelbarer Nietzsche-Reflex ist es noch, wenn Berg Nietzsches Anthropologie der Starken und Schwachen, der Aktiven und der Reaktiven aufnimmt und in die avantgardistische Asymmetrie der „Vorgeschrittensten“ und der „Zurckgebliebensten“108 verwandelt. berhaupt besteht der latent Gewaltbereitschaft signalisierende Zeitkern des Textes darin, die sptzeitliche Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, ihre „Dcadence“109, imaginr in ein Feld kmpferischer Energien zu transformieren. In ihnen erscheint ein indolenter „Jger-Knstler“110 als derjenige, der sich das „Volk“ als „Stoff“111 seiner Gestaltung unterwirft, aber dennoch zugleich seinen „Willen“ auf den „Kunst-Willen“112 anderer treffen lsst, um immer hçhere kulturelle Gestaltungsansprche hervorzutreiben. In der Logik dieser berbietung einander widerstreitender „Kunst-Willen“ liegt es, dass der moderne Knstler fortwhrend seine eigene „Selbst-Zerstçrung“113 betreibt, so als habe er den radikalen Zeitbezug der Avantgarde in ein Selbstverhltnis bersetzt, das jederzeit bereit ist, den eigenen geschichtlichen ,Auftrag‘ als erfllt anzunehmen. „[F]hre Krieg mit dir selber“, heißt es als „R e g e l f  r K r i t i k e r “114 : Wenn man heute so oft Mnnlichkeit und Kraft von der Kunst fordert […], so sollte man vor allem daran mitarbeiten helfen, die Kunst aus der Passivitt herauszuheben, sie von der Knechtschaft des Stoffs und des Zuschauers zu befreien, ihre Aktivitt und Aggressivitt erhçhen. Publikum und Stoff sind immer nur das Wild, welches der wilde Jger-Knstler zu Tode hetzt […]. Fr den Knstler giebt es allemal nur zwei Gattungen von Menschen: Die Grenzen der Menschheit: Die Vorgeschrittensten und die Zurckgebliebensten, eine Gemeinde der freisten Geister und – das Volk. Dies ist ihm Stoff, wie ihm jene Norm. […] Also Publikum ist das Volk dem Knstler nur in einem bestimmten Sinne, in Folge seiner Passivitt, sowie die Gemeinde der Vorgeschrittensten und Vornehmsten, die selbst wieder einen Kunst-Willen haben, auf den ein anderer Wille wie ein Stein auf einen anderen Stein stossen und wirken kann, in ihrer Aktivitt das eigentliche Kunst-Publikum bildet.115 108 109 110 111 112 113 114 115

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,

228. 77. 227 228. 229. 234. 227 – 229.

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III. Poetik der Tat

Es ist keine bertreibung zu behaupten, dass Bergs Vitalismus des „grosse[n]“116 und „starke[n] Wille[ns]“117 letztlich darauf gerichtet ist, den „Krieg“ zu einer ußeren Realitt der Kultur wie zu einer inneren Realitt des neuen Menschen werden zu lassen, zu einem agonalen kulturellen Bewegungsmodus, der „jede berkommene Form“118 zugunsten apriorischer „T h a t s a c h e n d e s L e b e n s “119 tilgt, wie zu einem Selbstverhltnis, in dem sich die Subjekte zu lustvollen Ttern im Namen des Lebens ermchtigen. Dass sie sich, wie es in eigentmlicher Vorwegnahme Jngerscher Stilvorlieben heißt, „schmerzlos Zhne auszuziehen“120 gedenken, zhlt ebenso zu den Suggestionen dieses „t h a t k r  f t i g e [n]“121 Naturalismus, wie die Evokationen einer Sprache, die in der hypertrophen berzeugung gesprochen wird, dass das vom Willen bewegte Wort unmittelbar Tat sein kçnnte: Alle Gitter niederreissen! Jede Realitt in Freiheit setzen, sei es auch nur um des Experiments willen! Jede Kanal-Verstopfung verhten! Ein freies, frisch cursierendes Leben herstellen!122

2. „Propaganda der That“. Karl Bleibtreus Heroismus Tat ist ein pathetisches, existenzielles Wort. Seiner Herkunft treu, lebt es in einer Sphre hoher, nicht alltglicher Bedeutsamkeit, in einer Sprache, in der Dichter und Philosophen der berzeugung folgen, dass sich eine Tat ber die Befangenheiten des Lebens erheben kçnnte, um dieses Leben zu erneuern oder gar Leben zu ,stiften‘. Taten sind Momente schçpferischer, zeugender, rekreativer Emphase, die einer gesonderten, sich ihrerseits aus den alltglichen Redeweisen erhebenden Sprache bedarf, um als Tat berhaupt erkannt zu werden. Wer diese Sprache spricht, lebt in der Gewissheit, dass die Sprache, die der Tat Gestalt und Realitt gibt, selbst unmittelbar Tat werde. Die Sprache der Tat verweigert die Trennung, die zwischen Wort und Handlung, zwischen Sagen und gelebter oder ,erscheinender‘ Prsenz verluft. Und nicht zuletzt aktualisiert die Tat ein semantisches Feld, in dem Vorstellungen von Heroismus und 116 117 118 119 120 121 122

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

185. 229. 231. 241. 242. 239. 241.

2. „Propaganda der That“. Karl Bleibtreus Heroismus

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Entschiedenheit, von Grçße und Selbstbehauptung, von Opferbereitschaft und Unterwerfung beheimatet sind. Die Formulierungen verdecken freilich, dass in jede Rede von der Tat zwei Prmissen eingehen. Zum einen setzt die Tat einen Willen voraus, der die Tat begrndet. Es liegt auf der Hand, dass dieser Zusammenhang von Wille und Tat fr das ausgehende 19. Jahrhundert eine kaum zu berschtzende Attraktivitt besessen hat. Wenn die individuellen Leiden, die sich in den neurasthenischen und nervçsen Diagnosen der Zeit zu einer gesamtkulturellen Pathologie verdichten,123 darin bestehen, dass Handlungsabsichten laufend von einer Schwchung der Entschlusskraft zu Nichte gemacht werden und in eine Vielzahl von Handlungsimpulsen zerlaufen,124 dann markiert die Tat ein Versprechen – das Versprechen nmlich, dass nur entschiedenes Handeln die eigenen Lhmungen berwindet; insofern bilden Taten emphatische Realisierungen des Willens. Schon dieser Zusammenhang deutet an, dass in die Tat ein momentaneistischer Sinn und damit zugleich ein genuin modernes Verstndnis von Zeit eingeht. Taten besitzen eine eigene, moderne Zeitlichkeit, weil sie Momente einer geradezu epiphanischen Plçtzlichkeit125 und Augenblicksnhe sind, in deren radikaler Diskontinuitt etwas erfahrbar wird, was sich ansonsten nicht ,zeigt‘. Zum anderen verweist die Tat darauf, dass ihre Prsenz auf das Engste mit einer Poetik der Prsenz verbunden ist. In der Tat realisiert sich das fr die literarische Moderne so prekre Unterfangen, ,etwas‘ zur Anwesenheit, zur Prsenz zu verhelfen und damit vor allem die Modalitten dieser Prsenz, ihre zeichenhaften und figuralen Ordnungen zu betonen.126 123 Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervositt. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. Mnchen, Wien 1998. 124 Vgl. zu diesem Zusammenhang von Willensschwche und ,innerem‘ Sinn Kap. I und Kap. V. 125 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plçtzlichkeit. Zum Augenblick des sthetischen Scheins [1981]. Mit einem Nachwort von 1998, Frankfurt/M. 41998 und die verwandten berlegungen in ders.: Das absolute Prsens. Die Semantik sthetischer Zeit, Frankfurt/M. 1994. Auf Bohrers Analysen wird zurckzukommen sein. 126 Vgl. zum Prsenzproblem der Moderne Erich Kleinschmidt: Gleitende Sprache. Sprachbewusstsein und Poetik in der literarischen Moderne, Mnchen 1992. Die entsprechenden Thesen kçnnen sich auf einen Grundtext der Epoche – Hofmannsthals Chandos-Brief – sttzen, der das Phnomen bekanntlich beredt zum Ausdruck bringt. Vgl. etwa Andreas Hrter: Der Anstand des Schweigens. Bedingungen des Redens in Hofmannsthals ,Brief ’, Bonn 1989 sowie allgemein Dirk Gçttsche: Die Produktivitt der Sprachkrise in der modernen Prosa, Frankfurt/M. 1987. Fr entsprechende Revisionen der literarischen Moderne vgl.

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III. Poetik der Tat

Das bisher Gesagte soll lediglich den systematischen Horizont verdeutlichen, dem die folgenden Analysen als Kontext dienen. Aus diesem Grund ist an dieser Stelle auch keine philosophische oder zeichentheoretische Reflexion des Prsenzproblems beabsichtigt,127 geschweige denn eine Einbindung des Textmaterials in eine das Verhltnis von Zeichen und Realitt, Text und Wirklichkeit organisierende oder ,vermittelnde‘ Referenz.128 Wenn die hier interessierenden Texte Realitt in den Blick nehmen oder der Tat Bedeutung und Wirkung fr eine außersprachliche Wirklichkeit unterstellen, dann handelt es sich um eine imaginre Leistung, deren Struktur primr dadurch determiniert wird, welche Gattungsprferenz gewhlt wurde. Vor allem die ab 1890 in das gattungsgeschichtliche Bewusstsein tretende Dramaturgie des Einakters besitzt hier eine ganz eigene Signifikanz (vgl. III. 3). Entsprechend zielt das Folgende darauf, historische Beispiele fr einen Strang der literarischen Moderne namhaft zu machen, der mit dem Anspruch auftritt, ber die Arbitraritt der Bezeichnungsprozesse hinweg Momente einer sinnerfllten Prsenz zu behaupten. Wenn sich, wie Georg Braungarts Studie ber den Leibhaften Sinn zu entnehmen ist, moderne Prsenzeffekte in der Anschaulichkeit und wahrnehmbaren Gegenwrtigkeit des Leibes zeigen,129 dann neigen die Texte des Naturalismus namentlich im Drama dazu, Prsenz auf ihre zeitlichen Bedingungen hin sichtbar zu machen. Literaturgeschichtlich verbindet sich damit die Behauptung, dass der Naturalismus all das affektive und ideelle Material prfiguriert, auf das die Klassische Moderne im Zeichen solcher Figuren wie Tat, Opfer, Entscheidung oder Gewalt zurckgreifen wird, ohne dass es sich um eine bewusste Anknpfung handelt. Sollte sich diese Kontinuitt, die mit Blick auf Nietzsche durchaus vertraut ist,130 erhrten lassen, so ließen sich wesentliche Begrndungsmomente der Klassischen Moderne auf eine bislang unvertraute naturalistische Vorgeschichte hin çffnen.

127 128 129 130

dagegen Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tbingen 1995, 1 ff. und die Beitrge in Uwe Hebekus/Ingo Stçckmann (Hg.): Die Souvernitt der Literatur. Zum Totalitren der Klassischen Moderne 1900 – 1933, Mnchen 2008. Vgl. Martin Seel: sthetik des Erscheinens, Mnchen 2000. Vgl. aus der Perspektive der analytischen Philosophie Wulf Kellerwessel: Referenztheorien in der analytischen Philosophie, Stuttgart, Bad Cannstatt 1995. Vgl. Braungart: Leibhafter Sinn. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Zur Vorgeschichte des Plçtzlichen. Die Generation des ,gefhrlichen Augenblicks’. In: Ders.: Plçtzlichkeit, 43 – 67, 45 und jngst Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, Mnchen 2007.

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Allerdings wird man mit dem Einwand rechnen mssen, die eigentliche Konjunktur von Tat und Opfer beginne erst mit der Klassischen Moderne131 und setze sich schließlich – mit verhngnisvollen Konsequenzen fr die intellektuelle Kultur der Weimarer Republik – vor allem in die „kulturkonservativen Positionen“132 der 1920er Jahre fort. Mit Carl Schmitt, Ernst Jnger oder Martin Heidegger ließen sich, ungeachtet aller Unterschiede im Detail, in der Tat Kronzeugen fr die entsprechende historische Konjunktion benennen.133 Gegen eine solche exklusive Bindung der Tat an die Klassische Moderne spricht allerdings der Blick derjenigen, die – wie der 1888 geborene Erich Rothacker – an der Geistesgeschichte eines Jahrhunderts interessiert gewesen sind, dem sie selbst entstammten und dem sie einen Großteil ihres philosophisch-intellektuellen Rstzeugs verdankten. Ausdrcklich spricht Rothacker in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften von einem „neuen politischen Weltbild[]“, das im Zeichen der „Tat“ und des „W i l l e n [s]“ bereits im 19. Jahrhundert entstanden sei: Will man den Einfluß des neuen politischen Weltbildes auf die Geisteswissenschaften in einer knappen Formel zusammenfassen, so kann man sagen: an die Stelle einer Metaphysik des organisch wachsenden Vo l k s g e i s t e s trat mit sich steigernder Entschiedenheit eine Geschichtsphilosophie des H e l d e n . Die Zeit gehorchte damit einem Strukturgesetz des Geistes, dem etwa auch Carlyle folgte, als ihm die ,Tat‘ […] die Stelle des ,Glaubens‘ einzunehmen begann. Mit Notwendigkeit zog jetzt die Wendung zum W i l l e n , das neue Ideal des Handelns und der aktiven Teilnahme am Staatsleben: die Bewertung des ttigen I n d i v i d u u m s nach sich. […] So verband sich mit dem neuen Erlebnis des çffentlichen Wesens eine neue R e l i g i o n d e s , g r o ß e n M a n n e s ‘ . 134

131 Fr diesen Zusammenhang vgl. Hans Richard Brittnacher: Erschçpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de si cle, Kçln, Weimar, Berlin 2001. 132 Horst Thom: Das Ich und seine Tat. berlegungen zum Verhltnis von Psychologie, sthetik und Gesellschaft im Drama der Jahrhundertwende. In: Karl Richter/Jçrg Schçnert/Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770 – 1930, Stuttgart 1997, 323 – 353, 323, Anm. 2. 133 Vgl. Christian Graf von Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung ber Ernst Jnger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958 und jngst Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jnger und Friedrich Georg Jnger 1920 – 1960, Gçttingen 2007, 35 ff. 134 Erich Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften [1920], 2., photomech. gedruckte, durch ein ausfhrliches Vorw. erg. Aufl. Tbingen 1930, 184 f.

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III. Poetik der Tat

Wie so oft artikuliert sich eine diskursgeschichtliche Konjunktion vor allem durch die Widerstnde hindurch, die ihr die Zeitgenossen entgegengesetzt haben. 1891 bemerkt Kurt Grottewitz, Propagandist eines antidekadenten ,Neu-Idealismus’, dass der „Kultus der Persçnlichkeit […] von Tag zu Tage [wchst]. Individualismus, Charakter, Eigenart werden die schlagendsten Schlagwçrter.“135 1905 diagnostiziert Leo Berg einen „Hçhenwahn“136, der sich – „endemisch“137, wie es heißt – zu einer „modernen Krankheit“138 ausgewachsen und vom „i n d i v i d u e l l e [ n ] G r ç ß e n w a h n “139 ber einen „K l a s s e n - und B e r u f s w a h n “140 schließlich zum „Grçßenwahn einer ganzen Epoche“ – dem „Z e i t w a h n “141 – vergrçßert habe. Drei Jahre zuvor hatte Hans Landsberg den „Naturalismus“ fr einen „Grçßenwahn“ verantwortlich gemacht, dem man „berall“ begegne: Man begegnet berall einem krankhaft bis zum Grçßenwahn gesteigerten Selbstbewußtsein. Traut man den Worten der jungen Dichter, so war ber Nacht ein Heer von Individualitten entstanden, so groß wie es selbst der khnste Kulturphantast nicht zu trumen wagte. Thatschlich war ber dem Individualittsrausch die anschauliche Erkenntnis dieses Begriffs verloren gegangen. […] Dieser Scheidungsprozeß, durch den Naturalismus vorbereitet, hatte zweifellos sehr schlimme Folgen. Unter den jungen Dichtern grassierte die Kraftmeierei. Ihr berspanntes Selbstgefhl, das fr den echten Egoismus noch nicht reif war, ließ sie sich fhlen als bermenschen und Halbgçtter.142

Insbesondere innerhalb der Nietzsche-Rezeption verknpfen sich ab 1890 die zunchst noch mehrheitlich befremdeten Wahrnehmungen Nietzsches mit immer neuen Diagnosen seines „Grçßenwahns“143 und seiner „Großmannssucht“144 ; insofern ließe sich leicht weiteres Belegmaterial fr 135 Kurt Grottewitz: Der Kultus der Persçnlichkeit. In: Freie Bhne 2 (1891) H. 1, 233 – 236, 233. 136 Leo Berg: Hçhenwahn. In: Aus der Zeit – Gegen die Zeit. Gesammelte Essays, Berlin, Leipzig, Paris 1905, 369 – 379, 369. 137 Ebd., 375. 138 Ebd., 369. 139 Ebd., 370. 140 Ebd., 374. 141 Ebd., 376. 142 Hans Landsberg: Friedrich Nietzsche und die deutsche Literatur, Leipzig 1902, 47, 98. 143 Detlev Liliencron an Michael Georg Conrad [Brief vom 15. 4. 1889]. Zit. nach: Bruno Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. 1: Texte zur Nietzsche-Rezeption, Tbingen 1978, 64. 144 Gottfried Keller an Emil Kuh [Brief vom 18. 11. 1873]. Zit. nach Ebd., 56.

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eine eigentmlich ambivalente Situation beibringen, in der Tatkraft und Selbstermchtigung, so positiv sie in einem bestimmten kulturellen Feld konnotiert werden, an anderer Stelle Symptome eines bedenklichen ,Hçhenwahns‘ darstellen. Offenkundig befinden sich kollektiv dimensionierte Pathologien hinsichtlich ihrer diskursiven Erzeugung in einem Verhltnis der Substitution zu einander: So zutreffend es ist, den Widerstand gegen den diagnostizierten „Grçßenwahn“ geistesgeschichtlich auch als Reaktion auf die grnderzeitliche Mentalitt zu verstehen,145 so unbersehbar ist es, dass all die tatkrftigen Ermchtigungen des Willens, die sich eigentlich auf die Bewltigung der diagnostizierten Schwchungen richten, als ebenso pathologisch gelten, wie die Symptome, die sich im Gefolge von Nervositt und Neurasthenie einstellen. Nicht zuletzt verweist der „Grçßenwahn“ auf dieselben Modalitten der sozialen ,Ansteckung‘, die das spte 19. Jahrhundert schon an Hysterie und Neurasthenie bloßgelegt hatte.146 Insofern ist es mentalittsgeschichtlich gesehen geradezu ein zeittypischer Zug, dass die Tat vor allem die Dramatik zwischen etwa 1885 und 1900 prgt – mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem Geschichtsdrama und dem Einakter – und in dieser Konstellation in das in aller Regel kaum beachtete naturalistischen Frhwerk von Autoren fortwirkt, die – wie Schnitzler, Rilke oder Hofmannsthal – gewçhnlich der Klassischen Moderne zugerechnet werden. Man wird diese Kontinuitt als Hinweis darauf werten mssen, dass der Naturalismus fr die Klassische Moderne in einer bestimmten Hinsicht horizontbildend gewirkt hat,147 zumal die sthetische Moderne auch an der Vielzahl jener autoritren Ermchtigungen teilhat, die einen Ausweg aus den sozialen Orientierungsverlusten und der zur Krise dramatisierten Kontingenz ihrer Ordnungen suchen. Es gehçrt zur historischen Spezifik dieser Moderne, dass sie mit diesem Grundproblem ontologischer Kontingenz nicht nur im romantischen Sinne ,ironisch’148 verfhrt, sondern autoritativ sein 145 Vgl. Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900, 102 – 107; Richard Hamann/Jost Hermand: Grnderzeit, Berlin 1965. 146 Vgl. Elaine Showalter: Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien. Aus dem Amerikanischen von Anke Caroline Burger, Berlin 1997. 147 Dies unterscheidet das Folgende von der thematisch nahe stehenden Studie Hans Richard Brittnachers: Erschçpfung und Gewalt, die sich auf den entwickelten Problemstand der Klassischen Moderne konzentriert. 148 Vgl. Matthias Schçning: Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen Athenum und Philosophie des Lebens, Paderborn 2002, 9 – 55.

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III. Poetik der Tat

Ende herbeischreibt,149 indem sie diese kontingente Grundprmisse ihrer eigenen Seinsweise gegen sich selbst wendet. ,Klassische Moderne‘ meint die im Namen einer neuen Totalitt vorangetriebene Beseitigung aller offenen Mçglichkeitshorizonte, die den kontingenten Grund des modernen Sozialen immer aufs Neue bekrftigen. Damit trennt sich die Klassische Moderne nicht zuletzt von jenen Wahrnehmungstraditionen, mit denen das liberale 19. Jahrhundert Sache und Begriff der Moderne primr als çkonomisch-technische Modernisierung oder als Zuwachs von Individualisierung und Differenzierung gefasst hatte. Fr den Diskurs der Klassischen Moderne ist es bezeichnend, dass sie aus einer fundamentalen tabula rasa ihrer Gegenwart zugleich offensive Akte sozialer Grndungen ableitet, von denen aus das Soziale zum Gegenstand elementarer Formbarkeit erklrt werden kann – eine Formbarkeit, die ihren programmatischen Anspruch, Kontingenz zu tilgen, durch das ,Zeigen‘ ihrer voluntaristischen Selbstermchtigung vergrçßert. Gerade weil die Kontingenz des Sozialen zur Grundbedingung der Moderne zhlt und doch zunehmend als Ausdruck einer krisenhaften Epochensituation erscheint,150 erscheint die Tat als symbolische Geste, die den Vielsinn der Meinungen und des ,ewigen Gesprchs‘ aktivistisch beendet. In diesem Sinne ist die Klassische Moderne als Projekt einer Rckerstattung jener Lebenstotalitt zu verstehen, die von den fortgeschrittenen Differenzierungsprozessen der Moderne, aber auch der Vielfalt ihrer konkurrierenden Deutungsdiskurse restlos aufgezehrt schien. Dass der „Geist“, wie Gottfried Benn im Blick auf den „Realittszerfall“ der Weimarer Zeit 149 Vgl. Michael Makropolous: Haltlose Souvernitt. Benjamin, Schmitt und die Klassische Moderne in Deutschland. In: Manfred Gangl und Grard Raulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt/M., New York 1994, 145 – 159. Zum Begriff der ,Klassischen Moderne‘ aus historischer Perspektive vgl. Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987, 11 sowie zum Zusammenhang von moderner Kontingenz und „totalitrer Versuchung“ Ebd. 236 ff. 150 Vgl. nur Gottfried Benn: Bekenntnis zum Expressionismus [1933]. In: Ders.: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einfhrung hg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt/M. 1989, 261 – 274, 265 ff.: „Wirklichkeit, das waren Parzellen, Industrieprodukte, Hypothekeneintragungen, alles was mit Preisen ausgezeichnet werden konnte bei Zwischenverdienst. […] Der Geist hatte keine Wirklichkeit. […] – Das war 1920 bis 25, das war die untergangsgeweihte Welt, das war der Betrieb, das war der Funktionalismus, reif fr den Sturm, der dann kam […]. […] [M]an kann sich unsere innere Lage gar nicht final und kritisch genug vorstellen […].“

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betonte, „keine Wirklichkeit [hatte]“151, zhlt insofern zur Kehrseite eines Modernismus, dessen absolut „[n]eue Wirklichkeit“152 das Kontinuum berlieferter Ordnungen radikal sprengen wollte. Gleichwohl mssen die naturalistischen Texte, um die es im Folgenden gehen wird, von der Zumutung entlastet werden, sie kçnnten dem entwickelten Stand der Klassischen Moderne in sthetischer und problemgeschichtlicher Hinsicht entsprechen. Auch an dieser Stelle geht es nicht um eine ,Rettung‘ der Texte, sondern um eine genetische Fragestellung, die an horizontbildende Vorleistungen erinnert. Tatschlich verdeckt die Holzschnittartigkeit, wie sie etwa die Dramatik Karl Bleibtreus prgt, die behaupteten Kontinuitten auf den ersten Blick eher, als dass sie sie sichtbar machte. Dennoch besitzt die Tat als Handlungsmuster, das den Vielsinn von Handlungsmçglichkeiten radikal beschrnkt und das ewige Gesprch der Ansichten beendet, schon in seiner frhen naturalistischen Gestalt eine ebenso passgenaue wie reduktionistische Lçsungskapazitt fr die Kontingenzprobleme der Moderne. Ganz offenkundig besteht die historische Attraktivitt der Tat in der ihr eigenen Dialektik, mit der sie ein geradezu berschssiges Problemgewicht aufnimmt, d. h. sich einem Kontingenzproblem stellt, das an die ontologischen Grundlagen der Moderne reicht, und dennoch eine ,Lçsung‘ bereitstellt, in dem sie sich als ,Riss‘ in das Kontinuum der Deutungen und Ansichten senkt. Taten im emphatischen Verstndnis des Wortes vollziehen einen abrupten Wechsel vom Diskurs zur Aktivitt, vom Wort zur Handlung, und sie beherbergen einen Gehalt, der gegenber dem in heterogene diskursive Positionen zerteilten Sinn der Moderne ein Versprechen auf einen integralen (sozialen) Sinn mitfhrt; auch darin besitzt die Tat einen geradezu transzendentalen Status. Entsprechend lsst der Heroismus der Texte kaum Raum fr eine differenzierte Figurenpsychologie. Tatfiguren sind Figuren von provokanter, ein-sinniger Simplizitt und darin einerseits ,schwache‘ und unterkomplexe Figuren. Andererseits aber legen sie in der Abspaltung innerer Konflikte und ambivalenter Welterfahrungen einen Persçnlichkeitskern frei, der ansonsten unsichtbar bliebe. Gerade weil Tatfiguren vollstndig in einem substantiellen Willen aufgehen, erleben sie sich fortwhrend als ihr eigener Gehalt, der Wille und Subjekt identifiziert. In einem gewissen Sinn sind sie damit totale Charaktere, weil sie keine Trennungen hinsichtlich ihres Selbst- wie Weltbezugs kennen. Noch 151 Ebd., 265. 152 Ebd., 266.

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III. Poetik der Tat

darin, dass das obsessive Beharren auf der Tat in den Rcken einer Sozialwelt gert, die sich der Handlungsautonomie tatmchtiger Subjekte gegenber unzugnglich zeigt,153 geraten Tatfiguren in eine absichtsvolle Ferne zu den anthropologischen Entwicklungen der Zeit. Selbstverstndlich wirkt an dieser Stelle eine hegelianische Hinterlassenschaft.154 Im Allgemeinen nmlich reproduzieren die Figuren, ganz unabhngig davon, ob sie sich durch dramatische oder narrative Konfigurationen bewegen, Zge des „ideale[n] Individuum[s]“155, das die Hegelsche sthetik als Analogie des ,poetischen‘ „Weltzustande[s]“156 verstanden hatte. Kennzeichnend fr dieses „ideale Individuum“ ist eine Totalitt des Charakters, in der Empfindung und Handlung, Wille und Tat noch ungetrennte Momente derselben substantiellen Individualitt sind. Whrend die Moderne die Entzweiungen ihres zur ,Prosa’157 gewordenen Weltzustandes zugleich zur schmerzvollen Realitt des Subjekts erklrt, in dem sie das „sittlich[e]“ bzw. „substantielle[] Ganze“ von den „persçnlichen Zwecken und Verhltnissen“158 des Individuums abtrennt, erscheint der heroische Charakter noch als geschlossene Totalitt, die die sittlichen Ansprche in sich aufnimmt, ohne dass die aufnehmende Subjektivitt einen partikularen Standpunkt bedeutete: Die wahre Selbstndigkeit besteht allein in der Einheit und Durchdringung der Individualitt und Allgemeinheit, indem ebenso sehr das Allgemeine durch das Einzelne erst konkrete Realitt gewinnt, als das einzelne und besondere Subjekt in dem Allgemeinen erst die unerschtterliche Basis und den echten Gehalt seiner Wirklichkeit findet. […] [I]nsoweit dem Ideal 153 Die kulturkritischen (Julius Langbehn) und soziologischen (Simmel) Spielarten dieses Befundes referieren gleichermaßen auf die sthetik Hegels, die der Diagnose die bleibendste Kontur gegeben hat. Vgl. die viel zitierten Stze ber die „[g]egenwrtige[n] prosaische[n] Zustnde“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen ber die sthetik I-III [Werke Bd. 13 – 15]. Bd. 13, Frankfurt/M. 1970, 253 f.: „So kann denn berhaupt in unserem gegenwrtigen Weltzustande das Subjekt allerdings nach dieser oder jener Seite hin aus sich selber handeln, aber jeder Einzelne gehçrt doch, wie er sich wenden und drehen mçge, einer bestehenden Ordnung der Gesellschaft an und erscheint nicht als die selbstndige, totale und zugleich individuell lebendige Gestalt dieser Gesellschaft selber, sondern nur als ein beschrnktes Glied derselben. Es handelt deshalb auch nur als befangen in derselben, und das Interesse an solcher Gestalt wie der Gehalt ihrer Zwecke und Ttigkeit ist unendlich partikulr.“ 154 Vgl. Thom: Das Ich und seine Tat, 329. 155 Hegel: Vorlesungen ber die sthetik I [Bd. 13], 238. 156 Ebd., 235. 157 Vgl. Ebd., 253. 158 Ebd., 247.

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Freiheit und Selbstndigkeit der Subjektivitt zukommt, insoweit darf die umgebende Welt der Zustnde und Verhltnisse keine fr sich bereits unabhngig vom Subjektiven und Individuellen wesentliche Objektivitt haben. Das ideale Individuum muß in sich beschlossen, das Objektive muß noch das Seinige sein und sich nicht losgelçst von der Individualitt der Subjekte fr sich bewegen und vollbringen, weil sonst das Subjekt gegen die fr sich schon fertige Welt als das bloß Untergeordnete zurcktritt.159

Subjektivitt bedeutet hier ein sich selbst bewusstes Willenssubjekt, das einen substantiellen Zweck verfolgt und diesen Zweck als substantiellen und objektiven weiß und will; die Subjektivitt ist gewissermaßen nur die objektiv durchtrnkte Form, in der sich das objektive Interesse realisiert. Im Einklang mit diesen Bestimmungen hat Horst Thom fr das Drama der Jahrhundertwende geschlossen, dass das Tatsubjekt einen Zweck ausagiere, „der in sich berechtigt und nicht einfach nur durch die persçnliche Leidenschaft legitimiert ist.“160 Genau aber an dieser objektivsubjektiven Einheitsform ist mit Blick auf die naturalistischen Texte eine Zsur auszumachen. Ihre Modernitt besteht darin, dass sie diese Einheitsform – blickt man auf die im Kern auffllig verwandten Geschichtshelden, ,bermenschen‘ und Renaissancesubjekte, die im Fin de sicle eine modische Konjunktur erleben werden – an einem bestimmten Punkt der Sujetbildung aufbrechen und in einem Willen verschlingen, der das objektiv-sittliche Moment der hegelianischen Tradition ablegt. Ihr gegenber produzieren die naturalistischen Dramen und Romane eine intensive, ,große‘ Tat, die nur mehr durch den heroischen Willen der Individualitt gedeckt ist. Fast alle der Geschichtsdramen Karl Bleibtreus zielen auf diese Produktion der Tat und damit auf ein konnotatives Feld, das in der Abspaltung eines historischen oder sonst wie substantiellen ,Auftrags‘ die nur mehr sthetische Abkunft und Begrndbarkeit der Tat vor Augen fhrt.161 159 Ebd., 237 f. 160 Thom: Das Ich und seine Tat, 329. 161 Vgl. zum Geschichtsdrama Elfriede Neubuhr: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Geschichtsdrama, Darmstadt 1980, 1 – 37 und Wolfgang Struck: Konfigurationen der Vergangenheit. Deutsches Geschichtsdrama im Zeitalter der Restauration, Tbingen 1997, 1 – 13. Die gattungssystematischen Probleme des Geschichtsdramas, die Struck (Ebd. 4 f.) markiert, kçnnen hier unbercksichtigt bleiben, weil eine gattungstheoretische Fragestellung nicht beabsichtigt ist. Allerdings sind die Schwchen der von Neubuhr angeregten Unterscheidung zwischen einem „historische[n] Drama“, das seine „Bestimmung vom Stoff her“, und einem „geschichtsdeutenden Drama“, das seine „Bestimmung vom Anliegen des Dichters/vom ,Zweck‘ der Dichtung her“ (Neubuhr: Einleitung, 5) gewinnt,

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III. Poetik der Tat

Im Falle der Bleibtreuschen Texte handelt es sich um die literaturgeschichtlich frhesten Dokumente dieser Konjunktion. Ein Blick in das umfangreiche erzhlerische, dramatische und essayistische Werk muss allerdings den Eindruck vermitteln, dass Heldentum und Tatkraft geradezu eine lebenslange Obsession Bleibtreus gewesen sind;162 dem bewunderten Napoleon hat Bleibtreu – neben dem Drama Schicksal (1888) – allein zwischen 1885 und 1905 sieben monographische Darstellungen gewidmet.163 berhaupt gibt es im Falle Bleibtreus einen systematischen Zusammenhang zwischen heroischem Bewusstsein, Pathos der Tat und Willensstrke einerseits und Textoberflchen andererseits, die ihren Gegenstand schon durch ihre schiere Umfnglichkeit hindurch nachbilden. 1888 hat Bleibtreu unter dem Titel Grçßenwahn einen dreibndigen Roman publiziert, der auf rund 1400 Seiten eine Summe der psychopathologischen Hinflligkeiten seiner Zeit versammelt. Dass im Erzhlverlauf gerade der entschiedenste Kritiker des epochalen Grçßenwahns einer haltlosen Bismarckverehrung verfllt, verweist auf den konzeptuellen Zirkel des Textes, der den verspotteten Heroismus nicht anders zu bekmpfen vermag, als mit den Mitteln eines mythischen ,Helden der Tat‘.164 Welche absichtsvollen reduktionistischen Zge die Berufung auf die Tat besitzt, belegt insbesondere Bleibtreus Roman Propaganda der That. 1890 erschienen, versetzt der Text die thematischen Konstellationen der zwischen 1885 und 1889 entstandenen Geschichtsdramen des Autors in die unmittelbare Gegenwart, um aus ihr die Ansprche einer Tat abzuleiten, die die Moderne zu einer neuen Gesellschaft befreit. Dabei nimmt der Roman gewisse Brche in der Narration in Kauf, um schon auf der Darstellungsebene ein aktivistisches Moment zu realisieren, das die Narration gegen Ende recht abrupt in einen manifestartigen und propagandanahen Duktus mnden lsst. Erzhlt wird eine kolportagehafte Geschichte um einen Rachemord, der durch Ereignisse motiviert wird, die zu Beginn der Erzhlhandlung bereits sechs Jahre zurckliegen. evident. Im ersten Fall msste das Stoffkriterium eigens geprft werden, im zweiten Fall ist eine Absichtsunterstellung am Werk, die nicht gattungssystematisch, sondern nur hermeneutisch behauptet werden kann. 162 Fr biographische Informationen vgl. Gustav Faber: Carl Bleibtreu als Literaturkritiker, Berlin 1936, 19 ff. und Johannes J. Braakenburg: Nachwort zur Neuausgabe. In: Bleibtreu: Die Revolution der Literatur [1886], 99 – 107. 163 Vgl. das Verzeichnis bei Falk Harnack: Die Dramen Carl Bleibtreus. Eine dramaturgische Untersuchung, Berlin 1938, 143 f. 164 Vgl. Karl Bleibtreu: Grçßenwahn. Pathologischer Roman. 3 Bde., Leipzig 1888.

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Entsprechend besteht der narrative Sinn des Textes zunchst in der Erhellung dieser Vorgeschichte, dann schließlich in einer Verschwçrung, die – wie sich zeigt – im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Vorgeschichte steht. Motivisch entspricht diese Vorgeschichte einer zeittypischen „Affaire“165 um Ehre und Satisfaktion.166 Anders, als es die Offiziersehre vorsieht, hat Hauptmann Baron Ryburg auf die „groben Injurien“167 eines „Einjhrigen“ nicht mit einer Duellforderung reagiert, sondern „den arroganten Patron […] dem Staatsanwalt“168 bergeben. In die weitlufige Diskussion dieser „Affaire“, die den berlebten Standesdnkel der preußischen Offizierkorps sichtbar machen soll, bricht die Nachricht ein, dass Ryburg „e r m o r d e t “169 worden sei. Wie die Narration im Folgenden sichtbar macht, handelt es sich bei Ryburgs Mçrder um den totgeglaubten „Einjhrigen“ Ernst Stahl, der sich mit der in Genf lebenden Anarchistin Olga gegen Ryburg verschworen hatte. Bezeichnenderweise ist Olgas Hass auf Ryburg ebenfalls durch einen Ehrengesichtspunkt motiviert; von „Ryburg um meine Ehre betrogen“, bekennt Olga in vertraulichen Gesprch mit Stahl „durchfuhr mich wie ein Blitz der Gedanke, ein Werkzeug meiner Rache zu finden in dem Unglcklichen, den Ryburgs Perfidie in seiner brgerlichen Laufbahn vernichtet.“170 So kolportagehaft der Roman seinen Gegenstand aufbereitet, er ist in seiner schlichten Affektfhrung eng auf das ideologische Projekt des Textes bezogen. Gerade weil beide Biographien ihre Beschdigungen durch die alten Ehrengesichtspunkte und die Maßstbe der „brgerlichen Laufbahn“171 erhalten haben, kann der Roman beides als eine ideologische Formation brandmarken, die nicht nur Teil und Ausdruck der 165 Karl Bleibtreu: Die Propaganda der That. Sozialer Roman, Leipzig 1890, 13. 166 Vgl. Ute Frevert: Ehrenmnner. Das Duell in der brgerlichen Gesellschaft, Mnchen 1991. 167 Bleibtreu: Die Propaganda der That [1890], 14. Die Konstellation entspricht der (literarisch vielfach thematisierten) widersprchlichen Rechtssituation des Duells im ausgehenden 19. Jahrhundert. Einerseits wird das Duell bereits ab 1850 ber alle regionalen Rechtskreise hinweg strafrechtlich kodifiziert, andererseits bleibt es eine berkonstitutionelle Strafmaterie, in die die Sondernormen der satisfaktionsfhigen Eliten eingehen. Vgl. Peter Dieners: Das Duell und die Sonderrolle des Militrs. Zur preußisch-deutschen Entwicklung von Militr- und Zivilgewalt im 19. Jahrhundert, Berlin 1992, 98 ff. und 211 f. 168 Bleibtreu: Die Propaganda der That [1890], 15. 169 Ebd., 19. 170 Ebd., 71. 171 Ebd.

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III. Poetik der Tat

berlebten Tradition des 19. Jahrhundert ist. Sie ist – zumindest fr diejenigen, die seine ,Kulturlgen‘ im Handstreich beenden wollen – zugleich ein Gesichtspunkt, an dem sich die „That“172 legitimiert, weil sie allein im Namen des „starke[n] Geist[es]“, und nicht im Namen eines „Rechtsstaat[s]“173 ergeht, der das Leben auf dem Weg einer fortwhrenden Intervention reguliert und in seinen Institutionen entkrftet. Entsprechend verluft die Konfliktfhrung nicht mehr durch die berlebten Normen des Ehrenstandpunkts, sondern im Zeichen eines anarchischen Rechts, das zu seiner Begrndung ausschließlich die vitalen Interessen des Lebens heranzieht. Das gesamte, vordergrndig auf Enthllung bedachte Gesprch zwischen Stahl und Olga dient der Propaganda einer „That“, die sich gegen die kulturellen Entstellungen des Lebens richtet und auf von dort aus auf eine ,Verrechtlichung‘ zielt, die sich am substantiellen Recht des Lebens bemisst. Auch hier steht, wie an anderer Stelle, ein Amalgam aus Stirnerschem Anarchismus und nietzscheanischem Vitalismus bereit,174 um noch Moral und Gewissen als Funktionen der nivellierenden Beherrschung des Lebens zu entlarven. „[S]ollten sie zufllig Gewissensbisse haben?“, fragt Olga den ,Tter’ Stahl, ,Keine Spur. Was ich that, war mein Recht. Aber –‘ ,Frchten Sie sich?‘ ,Nein. Was so erbittert, ist einfach der bçse Wille, der uns allerorts entgegentritt. Der Rechtsstaat kann die Menschen nicht in Frieden lassen, wegen der winzigsten Lappalie mischt er sich in Alles, zieht die Stirn in gravittische Falten, belstigt mit tausend Formalitten.‘ ,Mit einem Wort, Sie fhlen sich bedrckt in Ihrer Selbstherrlichkeit des Individuums, und Sie fhlen sich s c h w a c h , trotzdem Sie sich s i c h e r fhlen.‘ ,Ja, Sie sind eben die Sibylle, der starke Geist. Nun, so erlassen Sie einen Spruch, um mich zu strken.‘ ,Mit grçßtem Vergngen‘, sagte sie kalt. ,Will man la Napoleon sich durchsetzen, so thue man’s auch ganz! Wenn Danton die Septembermorde inszenierte, so konnte das entschuldigt werden. Es wurde erst zum unshnbaren Verbrechen fr ihn selbst, als er die damit bernommene Verpflichtung nicht erfllte, sondern faul erschlaffte […]. Wenn hingegen Napoleon tausend Enghiens ermordet htte, so b e w i e s er sein Recht dazu durch seine Thaten. […].‘ ,[…] Wenn man also gewaltthtig sich durchsetzt, gilts nur zu beweisen, daß man dazu berechtigt sei? Aber wie?‘ Olga versetzte ruhig: ,Indem man n i c h t grbelt und fantasiert wie Sie. Das Recht des Strkeren ist die wahre Moral. Wird man besiegt, hat man Unrecht, aber auch nur dann!’175 172 173 174 175

Ebd., 73. Ebd., 70. Vgl. Kap. II. 3. Bleibtreu: Die Propaganda der That [1890], 69 – 71, 112.

2. „Propaganda der That“. Karl Bleibtreus Heroismus

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Bis zu einem gewissen Punkt kçnnte die Perspektive der beiden Tter, denen der Text eine anarchistische Weihe verleiht, als exzentrischer Standpunkt erscheinen. Allerdings besteht der Sinn des Romans darin, die erzhlte Geschichte in ein Exempel zu verwandeln, das geradezu als Symptom einer geschichtlich-epochalen Bewegung erscheinen soll. Zielt die eigene „That“, wie Olga bekrftigt, nicht auf „den Einzelnen, sondern [auf ] die Gesellschaft“176, so tritt die „That“ als Prolepse einer kulturellen Transformation auf, die – auch dies eine Nietzsche-Reminiszenz – an den geradezu klimatischen Vernderungen, an den ,berladungen‘ der historischen „Luft“ mit „elektrischen Stoffen“177, sprbar wird. „Wahr!“, ruft der ebenfalls an Standeskonflikten gescheiterte Staatsanwalt Arthur von Helder im Gesprch mit Olga und Ernst Stahl aus, ,Eine dumpfe Ahnung durchzieht die Welt, daß eine neue Ordnung der Dinge sich ankndigt‘, trumerisch, halblaut murmelte er: ,Ja, dmmernd ringt sie sich empor aus dem kreisenden Schoße der Zukunft.‘ […] ,Die allgemeingltigen Interessen bestehen fort‘, bemerkte Stahl seht triftig […]. ,Und was folgern Sie daraus?‘ fragte Helder gespannt. ,Was man will, was jeder will. Die drohendsten Ereignisse jagen einander, wie unheilschwangere symbolische Denkzeichen, berall Grenzsteine einer neuen Epoche, ununterbrochen heimgesucht von fernem Donnergrollen, leisen Rucken vor einem allgemeinen Erdbeben.‘ ,Ja, es liegt in der Luft wie ein Gewitter‘, sagte Helder, indem er trb nickte, ,die Luft ist berladen mit elektrischen Stoffen, dem Leben der europischen Gesellschaft steckt eine fieberhafte Unruhe im Blut.’178

Je mehr Stimmen der Roman zu einer derartigen Diagnose versammelt, desto deutlicher soll der geahnte Sinn der Zeit hervortreten. Allerdings lsst der Roman diesen Sinn nicht lediglich ,geschehen‘. Sein Aktivismus zielt vielmehr darauf, den Sinn der Zeit auf dem Weg eines in die Narration eingelagerten Diskurswechsels in die erzhlte Welt hineinzuholen. Wenn Stahl und Olga zuletzt eine „Bergschlucht“179 aufsuchen und damit perspektivisch eine symbolische Hçhenposition einnehmen, dann gewinnt der Text alle Zge einer Verkndigung, einer manifestartigen Texthandlung, in der dem Erkannten und ,Gesehenen‘ unmittelbar 176 Ebd., 73. 177 Ebd., 83. Vgl. zu Nietzsches Klima-Obsessionen Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1888/89]. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6, Berlin, New York 1980, 255 – 374, 281 f. 178 Bleibtreu: Die Propaganda der That [1890], 82 f. 179 Ebd., 119.

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„grosse Entschlsse“180 folgen. Am Ende, wenn Olga und Stahl sich selbst zum neuen Menschen umgebildet haben – ber Stahl heißt es, dass „er ber sich selbst hinauswuchs“181 –, fhrt sie der Weg „thalwrts“182, um den „Keim der neuen Menschen“ in die verwandlungsbereite Kultur „hinberzutragen“183. Aufstieg und Abstieg, Hçhe und Niederung sind hier rumliche Metaphern fr eine Zeitstelle, in der sich Entschluss und Tat imaginr nicht voneinander trennen lassen. Es liegt nahe, dass sich diese topologische Konstruktion, die Hçhe und Einsicht, „berblick, Umblick, N i e d e r b l i c k “184 zum Gesichtspunkt eines einsichtigen Sehens erklrt, von Nietzsche her schreibt, zumal die motivischen Parallelen zum ,Weg‘ Zarathustras evident sind. Auch Zarathustra, der „seine Heimat verließ“, „ging in das Gebirge“, um „seines Geistes und seiner Einsamkeit“185 zu genießen, und auch Zarathustra steigt nach Verlauf von zehn Jahren „das Gebirg“ wieder „abwrts“186, um den „hçheren Menschen“ seinen „Rundgesang“187 zu singen. Noch Nietzsches Erweckungserlebnis vom August 1881, nach dem sich der „Ewige-Wiederkunfts-Gedanke“188 in der Bergwelt Sils-Marias – „,6000 Fuß von Mensch und Zeit’“189 – einstellte, ist ein mythisches Erlebnis der Hçhe und der Hçhenposition, in der sich selbst gewhlte Abgeschiedenheit und berlegene Einsicht zu einer heroischen Geste der stiftenden Tat verbinden: Wenn Nietzsche-Zarathustra die Bergwelt verlsst, verschmelzen Tat und kulturelle Stiftung in einem Akt. Im Blick auf die Schlusspassage von Bleibtreus Roman hat man es allerdings mit der fr den Naturalismus insgesamt bezeichnenden Eigentmlichkeit zu tun, dass der Sinngehalt von Nietzsches Sptphilosophie kaum begriffen wird, whrend ihre sprachlichen Gesten, der ganze aktionale Zusammenhang von Sprache, 180 181 182 183 184

185 186 187 188 189

Ebd., 122. Ebd., 124. Ebd., 125. Ebd., 124. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886]. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 5, 2., durchges. Aufl. Berlin, New York 1988, 9 – 243, 132. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch fr Alle und Keinen [1883 – 1885]. In: Ders.: Smtliche Werke in 15 Bnden. Hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 4, Berlin, New York 1980, 11. Ebd., 12. Ebd., 403. Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1888/89], 335. Ebd.

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Verkndigung und Tat, fortwhrend nachgebildet werden.190 Dass Bleibtreu 1897 gegen den „baaren Widersinn der Nietzsche’schen […] Verbrechertheorie“191 polemisiert, gehçrt zu den Blindheiten einer Rezeption, die den Gehalt dieser Philosophie verfehlt, um deren rhetorische Dimension, ihren aktivistisch-dynamischen Tatcharakter, umso intensiver zu nutzen.192 Im Hçhenblick der Bleibtreuschen ,Tter‘ verbinden sich entsprechend Momente miteinander, die allesamt auf ein aktionistisches Verhltnis zur Zeit gerichtet sind: die berwindung all der Deutungen und Interpretationen, mit denen die Philosophen das Leben verfehlt haben, weil „Schaffen und That“ das einzige „Weltgeheimnis“193 bilden; ein herausgehobener Zeitpunkt, in dem „grosse Entschlsse“194 gefasst werden, und eine neue Anthropologie, in der ein „geistiger Hermaphrodit“195 die angestammten kulturellen Unterscheidungen hinter sich lsst: Nach kurzem Schweigen hob er [Stahl, J. S.] an: ,So ist denn alles Vorber […]. Siehst du, das Schicksal will uns wohl, es rcht uns. Wir sind die neuen Menschen, das neue Geschlecht, das dem alten den Garaus macht.‘ ,So? Wenn Dir so leicht ums Herz, dann frisch auf! Strz dich in den Strudel! Sieh, da unter dir liegt die Welt!‘ […] ,Nicht fr mich. Ich sehe nur Wunden und Schwren. Und brigens, was soll’s! Was will man denn noch! – Und was will ich! Als ob man einen freien Willen htte.‘ ,Laß die Phrase der Schwachkçpfe! Die Unfreiheit des Willens ist nur der Instinkt und die Freiheit des Willens soll sich eben daraus emporringen als Ve r n u n f t . […]‘ ,Was soll das heißen!‘ ,Nur das: Hegel und Schopenhauer knabbern am Weltgeheimnis herum – das Schaffen und die That aber sind das Weltgeheimnis, Christus und Shakespeare bewußt, Napoleon und Cromwell unbewußt.‘ ,Was gilt das mir‘, seufzte er erschçpft. ,Ich bin nicht Schopenhauer, ich bin nicht Napoleon.‘ Olga lchelte. ,Das mein ich auch nicht. Aber man kann große Entschlsse fassen, als ob man’s wre.‘ […] Ein Anflug 190 Im Blick auf diese rhetorisch-aktionale Dimension handelt es sich um vorlufige Formulierungen. Auf sie wird noch zurck zu kommen sein. 191 Karl Bleibtreu: Byron der Uebermensch, sein Leben und sein Dichten, Jena 1897, 90. Vgl. auch Ebd., 103. 192 So noch Stanislaw Przybyszewskis Einschtzung, dass „der erkenntnistheoretische Teil in Nietzsches Werken vom geringsten Werte“ sei. Stanislaw Przybyszewski: Zur Psychologie des Individuums I. Chopin und Nietzsche [1891]. In: Ders.: Studienausgabe. Werke, Aufzeichnungen und ausgewhlte Briefe in acht Bnden und einem Kommentarband. Hg. von Michael M. Schardt. Bd. 2: Erzhlungen 2, Essays. Hg. und mit einer Nachbemerkung von Walter Fhnders, Paderborn 1991, 99 – 121, 119. 193 Bleibtreu: Die Propaganda der That [1890], 122. 194 Ebd. 195 Ebd., 124. Vgl auch Ebd., 87.

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dsterer Begeisterung ergriff die Seele des Unglcklichen, die ber sich selbst hinauswuchs. […] – – ,Laß uns gehen.‘ Und beide gingen thalwrts.196

Werkbiographisch nimmt die Propaganda der That Motive auf, die Bleibtreu zwischen 1885 und 1889 in vier Geschichtsdramen entfaltet hatte. Bleibtreu steht damit am Beginn einer literarischen Reihe, die unter Aufnahme von zeittypischen Ikonographien der ,historischen Grçße‘, wie sie bei Thomas Carlyle (On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History),197 Ralph Waldo Emerson (Representative Men)198 und Jacob Burckhardt (Die historische Grçße)199 greifbar waren, um das Bild des geschichtsmchtigen Tatmenschen kreist.200 Historische Grçße in diesem Sinne konnte weitgehend unterschiedslos an Napoleon, Oliver Cromwell, Nero, Catilina und Cesare Borgia, nicht zuletzt an Autoren wie Dante, Shakespeare und Byron abgelesen werden, auch wenn die Interpretationen des Sachverhalts maßgeblich von Nietzsche geprgt wurden. So schien Nietzsche Carlyles „herozentrische[s] Geschichtsbild“201 lediglich ein Rckfall in eine als Heroismus verkleidete Theologie zu sein, whrend sich geradezu identifikatorische Bemerkungen ber Emerson, dessen Apologie der „Verachtung von Sicherheit und Bequemlichkeit“202 Nietzsches Dekadenzkritik außerordentlich nahe stand, bereits seit der dritten Unzeitgemßen Betrachtung finden.203 196 Ebd., 120 ff. 197 Vgl. Thomas Carlyle: Helden und Heldenverehrung. bersetzt und eingel. von Egon Friedell, Mnchen 1914, 261. Der Text geht auf Vorlesungen zurck, die Carlyle im Mai 1840 in London gehalten hat und die seit 1853 auch in einer deutschen bersetzung greifbar waren. 198 Vgl. Ralph Waldo Emerson: Heroismus [1841]. In: Ders.: Essays. Erste Reihe. Ins Deutsche bertragen und hg. von Harald Kiczka, Zrich 1982, 189 – 205. Dem Essay von 1841 folgte 1845/1850 die umfangreiche Studie Representative Men. Seven Lectures on the Uses of Great Men, 1876 schließlich eine Betrachtung ber ,Grçße‘ (Letters and Social Aims). Ab 1858 bzw. 1876 waren die genannten Essaysammlungen auch auf Deutsch greifbar. Eine bersetzung der Representative Men erfolgte allerdings erst 1895. 199 Vgl. Jacob Burckhardt: Die Individuen und das Allgemeine (Die historische Grçße). In: Ders.: ber das Studium der Geschichte [1905]. Der Text der ,Weltgeschichtlichen Betrachtungen‘ auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hg. von Peter Ganz, Mnchen 1982, 377 – 405. 200 Vgl. Bettina Plett: Problematische Naturen? Held und Heroismus im realistischen Erzhlen, Paderborn, Mnchen, Wien, Zrich 2002. 201 Ebd., 49. 202 Emerson: Heroismus [1841], 195. 203 Vgl. die an Identifikation grenzenden ußerungen Nietzsches ber Emerson in Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Anfang 1880 – Sommer 1882.

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Bleibtreus Dramen sind von diesen Auseinandersetzungen unberhrt. Sie greifen lediglich in einem erkennbaren, zum Teil offen ausgestellten Synkretismus auf sie zurck, ohne ihren konzeptuellen Differenzen Rechnung zu tragen. Carlyle, Emerson, Nietzsche und Burckhardt bilden fr Bleibtreu ein materiales Feld, das sich zu berhistorischen Ansichten von Tatmchtigkeit und Willenskraft synthetisieren lsst. Ohnehin hat sich Bleibtreu als Begrnder eines entsprechenden dramatischen Heldengenres verstanden und dabei lediglich eine Ausnahme – Grabbes Hannibal – zugestanden. „Nie vor mir“, vermerkt Bleibtreu 1898, „sind historische Grçßen als Tathelden in realistischer Gestalt vorgefhrt, Grabbes ,Hannibal‘ ausgenommen.“204 Allerdings ist der proklamierte Realismus nicht buchstblich zu verstehen. In Schwundstufen entspricht er, wie so oft an den bergangsstellen zwischen brgerlichem Realismus und Naturalismus,205 einer In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 9, Berlin, New York 1980, 68 und Friedrich Nietzsche: Unzeitgemße Betrachtungen. Drittes Stck: Schopenhauer als Erzieher [1874]. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1, Berlin, New York 1980, 335 – 427, 426. Diese und andere ußerungen sind auch versammelt bei Gerard Visser: Nietzsches bermensch. Die Notwendigkeit einer Neubesinnung auf die Frage nach dem Menschen. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung 28 (1999), 100 – 124. Nietzsche hat Emersons Essays zudem umfnglich exzerpiert. Vgl. die „Exzerpte aus Emersons ,Essays’“ [Anfang 1882]. In: Nachgelassene Fragmente. Anfang 1880 – Sommer 1882. In: Ders.: Smtliche Werke. Bd. 9, 666 – 672. Carlyle dagegen erscheint Nietzsche als „abgeschmackter Wirrkopf“ (Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], 195), den das „Bedrfnis der Schwche“ (Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum [1888/89]. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6, Berlin, New York 1980, 165 – 254, 236) treibe. Vgl. dazu Ernst von Wiecki: Carlyle’s ,Helden‘ und Emerson’s ,Reprsentanten’, mit Hinweis auf Nietzsche’s ,bermenschen’. Kritische Untersuchungen, Kçnigsberg 1903. 204 Zit. nach Harnack: Die Dramen Carl Bleibtreus, 32 (m. Hervorhg). Die Bemerkung unterschlgt die gewichtigen Vorleistungen durch die entsprechenden problemgeschichtlichen Konstellationen der Weimarer Klassik, etwa im Blick auf Schillers Wallenstein-Trilogie oder Goethes Faust. Zu Schiller vgl. Jeffrey Barnouw: Das ,Problem der Aktion‘ und ,Wallenstein’. Aus dem Englischen bers. von Dagmar Barnouw. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), 330 – 408, 331 ff.; Dieter Borchmeyer: Macht und Melancholie. Schillers Wallenstein, Frankfurt/M. 1998, 50 ff. und jngst Josef Vogl: ber das Zaudern, Zrich, Berlin 2007, 39 ff. 205 Vgl. Kap. II.

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ideal-realistischen Programmatik, die „aus den nackten Thatsachen gleichsam die Quintessenz, den tieferen Sinn der Erscheinungsformen [abstrahirt]“.206 Wenn es dennoch einen vergleichsweise ,handgreiflichen‘ Realismus in Bleibtreus Geschichtsdramen gibt, dann besteht er darin, dass die Texte in aller Regel ausgewhlten Momenten der Ereignisgeschichte folgen. Im Falle des ersten Dramas, einem Napoleon-Schauspiel unter dem Titel Schicksal, entspricht die weitgehend konventionelle Fnfaktigkeit erkennbar dem Schema von Aufstieg und Fall. Die ersten drei Akte spielen im Paris des Jahres 1796 und spiegeln Napoleons rasanten Aufstieg in den Krisen- und Radikalisierungsjahren der Republik, die die heroischen Ereignisse von Toulon 1793, Napoleons Ernennung zum Oberbefehlshaber des Inneren und seine Heirat mit Josefine de Beauharnais umfassen. Der vierte Akt spielt dagegen im Paris des Jahres 1809 und zeigt Napoleon auf dem Hçhepunkt einer Machtentfaltung, die souvern und ungefhrdet die europischen Krfteverhltnisse diktiert. Recht unvermittelt trgt sich der letzte Akt im Malmaison des Jahres 1815 zu. Er zeigt Napoleon „matt und gebrochen“207, als einen Tathelden, ber den die Geschichte hinweg gegangen ist.208 Bleibtreus Text stellt zunchst nichts anderes dar, als den Versuch einer ußersten symbolischen Kraftentfaltung, die sich Napoleon, wie der Text allmhlich verdeutlicht, als eines Mediums bedient. Bevor allerdings dieser ,mediale‘ Charakter des Tathelden sichtbar wird, entfaltet der Text einen unaufhçrlichen Diskurs ber Willensstrke und Tatkraft. „Dein

206 Karl Bleibtreu: Der Dmon. Tragçdie in fnf Akten [1887]. In: Ders.: Vaterland. Drei Dramen, Leipzig 1887, 145 (Vorwort). 207 Karl Bleibtreu: Schicksal. Schauspiel in fnf Akten, Leipzig 1888, 109. Der Text erschien 1885 zunchst als Manuskriptdruck, der bereits in den 1930er Jahren nicht mehr aufzufinden war. 1888 folgte eine um die Ereignisse von 1815 erweiterte Neufassung unter demselben Titel, die 1889 unverndert in die Ausgabe der dramatischen Werke aufgenommen wurde. 1896 folgte eine letzte (dritte) Bearbeitung unter dem Titel Der bermensch, die den dargestellten Zeitrahmen wieder enger fasst und mit Napoleons Trennung von Josefine (1809/10) endet. Eine Auffhrung der bis 1888/89 ausgearbeiteten Textfassung ist fr den 30. 1. 1890 (Freiburg) belegt. Die Auffhrung ist – unter anderem in Conrads Gesellschaft – positiv besprochen worden. Vgl. zur verwickelten Bearbeitungsgeschichte des Textes Harnack: Die Dramen Carl Bleibtreus, 31 – 36. Hinweise zur Urauffhrung finden sich Ebd., 125. Im Folgenden wird die erweiterte Fassung von 1888 zu Grunde gelegt. 208 Vgl. Volker Ullrich: Napoleon, Reinbek b. Hamburg 2006, 29 – 34, 97 – 102, 132 – 136.

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Wille hob die Welt aus den Angeln“209, heißt es ber die Geschichtsmchtigkeit Napoleons, und: „So ungeheuerlich ist Deine Persçnlichkeit, daß Du willenlos wie durch Magie die Menschen mit Dir schleppst“.210 Auf diesem Weg lsst das Drama die Tatkraft seines Helden primr besprechen und in einer Vielzahl von „Stimmen“211, die im Verlauf des zweiten Aktes durch die Einblendung der Volksmassen zudem einen akklamatorischen Charakter gewinnen, rhetorisch produzieren. Zwar gibt der Text Napoleon selbst breiten Raum fr statuarisch vorgetragene Verlautbarungen, dennoch ist die Emphase der „That“212 in erster Linie ein Effekt rhetorischer Verfahren. Durch die prtendierte Dynamik einer von Taten vorangetriebenen Geschichte bewegt sich eine paradigmatische Logik, die das dramatische Syntagma mit nur minimal variierten sprachlichen Ansichten von „Energie“213, „Kraft“214 und „Entschlossenheit“215 besetzt. Taten sind im Drama kaum prsent, sondern werden durch erinnertes Reden, das das Geschehen mythisch vergrçßert,216 vergegenwrtigt oder sind auf Handlungen verwiesen, die dramaturgisch nicht realisiert sind.217 Vor allem die radikale Gewalt, die Napoleon wie einen Physiker der revolutionren Kriegsfhrung erscheinen lassen und mit einer historisch beispiellosen Entschiedenheit auszeichnen soll, ist im Kern programmatische Rede: Bonaparte (tritt auf ). Man muß in Masse vorbrechen. Das ist mein Grundsatz. Aus diesem ergibt sich alles. Meine Prinzipien sind klar wie Rechenexempel. Wenn man eine Festung belagert, muß man sein Feuer gegen einen Punkt vereinigen. […] Die Kraft einer Armee wird ausgedrckt durch die Masse, multipliziert mit der Schnelligkeit. – Man soll eine Schlacht nicht liefern, um sie zu gewinnen, sondern um die Vernichtung des Feindes zu erzielen.218

Die Grundstze, die der Text hier vortragen lsst, bleiben Rede, Rhetorik, Verlautbarung. Was der Text zeigt, sind symbolische Stellvertretungen 209 210 211 212 213 214 215 216

Karl Bleibtreu: Schicksal [1888], 96. Ebd., 98. Ebd., 39. Ebd., 45, 58. Ebd., 43, 57. Ebd., 62 Ebd., 42. Vgl. etwa die ußerungen Junots ber Napoleons heroischem Handeln vor Toulon Ebd., 18. 217 Vgl. So spielt sich die Niederschlagung der revolutionren Massen im BhnenOff ab. 218 Bleibtreu: Schicksal [1888], 12.

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historischer Taten, d. h. große Auftritte, in denen der Auftritt selbst, seine exklamatorische Rhetorik, von Bedeutung ist.219 Strukturell wird dieser Auftritt als signifikanter „Augenblick“220 und „Wendepunkt“221 verstanden, als ein Moment, der in die diskontinuierliche Geschichtszeit der Revolution einen seinerseits diskontinuierlichen Moment einbrechen lsst. Wenn der Konvent im zweiten Akt von den rebellierenden Massen bedroht wird und sich im Hintergrund der Szenerie die terreur der Jakobinerherrschaft abzeichnet, die einen letzten Radikalisierungsschritt der Revolution einleitet, dann suggeriert die Szene, dass Napoleons Auftritt die revolutionre Dynamik der Zeit durchbricht und in einem historischen „Wendepunkt“ zu Ruhe und Stabilitt fhrt: Talleyrand. Wer bleibt uns denn also in dieser Gefahr? Bonaparte (sich plçtzlich erhebend und an die Brstung tretend). Ich! (Großer Tumult hinter der Scene. Ruf: ,Wer, was?‘) Josefine (auffahrend). Mein Gott, der kleine Korse! (Man hçrt die Glocke des Prsidenten.) Barras. Zur Ordnung! Ruhe! Wer hat da gerufen? Bonaparte (aufrecht stehen bleibend). Ich, der General Bonaparte. (Im Convent, vor und hinter Scene Rufe durcheinander: ,Bonaparte?‘ ,Wer ist das?‘ ,Ein ganz obscurer Mensch!‘ ,Kann man ihm vertrauen?‘). Duroc (begeistert). Ha, das ist der Augenblick! Das der Wendepunkt! Ich sehe alles. (Der Lrm dauert fort).222

Dieser wie ,von außen‘ einbrechende Auftritt Napoleons ist freilich kein voraussetzungsloses Geschehen. Vielmehr folgt die Ermchtigung, mit der der Tatmensch Napoleon den „[d]urcheinanderredenden“223 Sinn der revolutionren Zeit an sich zieht und in seinem „Wille[n]“224 sistiert, einer Prfiguration, die andeutet, in welchem Maße die Tatemphasen des „Held[en]“ und „Heiland[s]“225 von literarischen und textuellen Erfahrungen vermittelt sind. Dass der geschichtsmchtige „Augenblick“, wie Napoleon gegenber Duroc betont, „da [ist], wenn man ihn braucht und wenn er kommen s o l l “226, ist eine Lehre, die Napoleon einem theatra219 Fr eine Dramaturgie des ,großen’ Auftritts bzw. der ,großen’ Szene vgl. Juliane Vogel: Die Furie und das Gesetz. Zur Damaturgie der ,großen Szene’ in der Tragçdie des 19. Jahrhunderts, Freiburg/Br. 2002. 220 Bleibtreu: Schicksal [1888], 41. 221 Ebd. 222 Ebd., 40 f. 223 Ebd., 32. 224 Ebd., 96. 225 Ebd., 43. 226 Ebd., 24.

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lischen „Bild“227 verdankt, dessen Sinn sich ihm ebenfalls in „e i n e m Augenblick“228, wie in einer Epiphanie, ,zeigt‘ und den er lediglich nachzubilden hat: Bonaparte (eifrig). […] Ja, Csar! Als ich zuerst sein Bild vor meinem Geiste sah, wie er, Sieger bei Pharsalus, in e i n e m Augenblick sich der ganzen Welt offenbarte, das war mir, als ob der Vorhang des Allerheiligsten zerrisse und ich die Gçtter leibhaft wandeln she.229

Es sind Augenblicke, die Augenblicke (fort-)zeugen, und es sind historische Tter, die die Tatkraft ihrer Vorgnger beerben, weil sich ihr Tun in einem an Offenbarung grenzenden Moment zeigt. Der ganze Momentaneismus, der das Stck durchzieht, ist damit auf Voraussetzungen bezogen, die die Auftritte und Handlungen Napoleons in einer theatralen Rollenhaftigkeit rckversichern. berhaupt bricht sich die proklamierte Unvordenklichkeit der Tat an einer zeitlichen Ekstase, die die großen geschichtlichen Momente – vor allem Napoleons triumphale Rckkehr nach Paris und die Friedensschließung mit sterreich im Jahr 1809 – erinnernd dehnt und zu einem „Jahrhundert des Ruhms“230 werden lsst, so dass dem dynamischen Aktivismus der Taten Formen der kulturellen Aufbewahrung und des Gedenkens entgegengestellt werden. Den analysierten Zwiespltigkeiten entspricht eine fr Bleibtreus Geschichtsdramen im Ganzen bezeichnende Ambivalenz. Sie betrifft die Frage, wer eigentlich Subjekt und Urheber der Tat ist. Wenn der Sinn der Tat darin besteht, in eine rettungslos kontingente Zeit Ordnung und Notwendigkeit hineinzutragen, dann muss sich die Tat ihrerseits als Substrat einer objektiven Notwendigkeit erkennen lassen. In dieser Hinsicht entsprechen Bleibtreus Dramen jenem idealen Individuum, dessen Handeln Hegel gegen die Zuflligkeiten und Beliebigkeiten individueller Leidenschaften verschlossen hatte. Wenn sich Napoleon von Beginn an unter den „Stern“231 seines Lebens stellt, dann ist damit eine schicksalhafte Zeit bemessen, die das Leben des Einzelnen unter das Diktat der Notwendigkeit stellt. „Man muß der Mann seines Schicksals sein“232, bekrftigt Napoleon, und noch im Rckblick Josefines de 227 228 229 230 231 232

Ebd., 25. Ebd. Ebd. Ebd., 82. Ebd., 68, 102. Ebd., 78. Vgl. auch Ebd., 104: „Napoleon: ,Aber eines Gewissens bedarf ich nicht. Denn ich habe einfach mein Schicksal zu erfllen.’“

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III. Poetik der Tat

Beauharnais tritt Napoleon im Zeichen der „Erfllung seiner Sendung“ auf, „Sieg und Ruhm“233 in der Geschichte zu stiften. „So ist denn Alles zu Ende“, klagt Napoleons Mutter Ltitia am Ende des Dramas, „Unaufhaltsam riß Dein Dmon Dich dahin.“234 Hier wie auch anderer Stelle folgen Bleibtreus Geschichtsdramen einer ,daimonologischen‘ Selbstdeutung. Als daimon, als gçttlicher Geist, gelten seit der Antike nicht eigentlich Gçtter, sondern Heil oder Unglck bringende Krfte; insofern ist der Dmon als energetisches Bild treffend gewhlt. Auch Napoleon steht im Bann eines solchen daimons, eines ,Zuteilers‘, der Glck und Unglck, Erfolg und Scheitern gibt, und auch Napoleon muss daher glauben, sein Dmon sei sein individuelles Schicksal, das ihn lenkt, so lange es sich auf seiner Seite befindet.235 Nur diese ,daimonische‘ Rckbindung gibt der Tat jene Notwendigkeit und substantielle Objektivitt, die ihr ihr Hegelianismus garantiert, und so findet der Einzelne einen unverrckbaren Ort in der geschichtlichen Zeit: als Starker, Aktiver und Herrscher ber den geschichtlichen Moment, der lediglich bewirkt und auslçst, was ihm schicksalhaft vorgegeben ist. Als Konsequenz dieser Konstellation ist der gesamte, nur wenige Druckseiten umfassende fnfte Akt des Dramas zu verstehen. Er zeigt die Beteiligten – Napoleon, seine Mutter Ltitia und Carnot – in einem Zustand energetischer Erschçpfung. Napoleon spricht nur mehr „matt und gebrochen“, „dster“ und „halb schaudernd“.236 Die Funktion dieses Finales besteht darin, Napoleons Lage nach seiner geschichtlichen „Sen233 Ebd., 104. 234 Ebd., 109. 235 Unter den daimones, die keine gesonderte kultische Verehrung genießen, werden nur selten die olympischen Gottheiten verstanden. Ihrer (ungesicherten) Etymologie (von gr. da o: teilen, verteilen) gemß spielen sie eine Rolle bei der Zuteilung des Schicksals. Die Vorstellung, dass der individuelle Charakter eines Menschen sein daimon sei, geht auf Heraklit zurck, tritt aber erst in der klassischen Periode deutlicher hervor (Pindar, Sophokles, Euripides, Platon). Nach Hesiod werden die toten Helden des Goldenen Zeitalters durch Zeus in daimones verwandelt, die den Menschen Glck oder Unglck bringen. Vgl. Art. Dmonen. In: Der neue Pauly. Enzyklopdie der Antike. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Bd. 3: Cl-Epi, Stuttgart, Weimar 1997, 258 – 264, 261 f.; Art. Daimon. In: Reclams Lexikon der Antike. Hg. von M.C. Howatson, Stuttgart 1996, 156 f.; Herbert Nowak: Zur Entwicklungsgeschichte des Begriffs Daimon. Eine Untersuchung epigraphischer Zeugnisse vom 5. Jahrhundert vor Christus bis zum 5. Jahrhundert nach Christus, Diss. Bonn 1960. 236 Bleibtreu: Schicksal [1888], 109.

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dung“237 zu reflektieren und als jene ,daimonologische‘ Leere aussprechen zu lassen, aus der sich der Wille der Geschichte zurckgezogen hat. Entsprechend erweist sich die Szene als reine Stasis; in ihr geht es allein darum, die historische Situation desjenigen zu beleuchten, von dem sich die ,daimonische‘ Energie abgewendet hat. In ihrem Rcken lsst sie einen Helden der „That“238 zurck, der wieder wird, was er vor seiner ,daimonischen‘ „Sendung“ gewesen ist. „Ich beuge mich“, so Carnot im Ton des ,daimonischen‘ Unheils, „der Majestt des Unglcks. Du bist nicht mehr der Kaiser Napoleon, Du bist wieder der General Bonaparte.“239 Mit dem Verweis auf eine ,daimonische‘ Wende im Schicksal des Helden deutet sich freilich noch ein anderer Sinn an. Wenn die Taten Napoleons „Augenblick[e]“240 und „Wendepunkt[e]“241 von eminentem Sinne gewesen sind, weil sie sich aus der Kontingenz der revolutionren Ereignisse herausgehoben haben, dann schließt das Stck in einer anders gearteten Zeitfigur. „So verbindet sich Alles“, resmiert Napoleon, „in rthselhaftem Kreislauf“242, und weil sich in dieser zyklischen Zeit die Zeitstellen von „Anfang und Ende“243 miteinander verbinden, besser: sich wechselseitig enthalten, stellt die Zeit des „Kreislauf[s]“ das ußerste Gegenber des augenblickhaften Sinns dar, der sich im ekstatischen Moment der Tat gezeigt hatte. Das letzte Wort des Dramas ist einer ,leeren‘ Wiederkehr, einem entropischen „Kreislauf“, vorbehalten, in dem sich das Prsenzversprechen der Tat in eine unterscheidungslose ,Stellung‘ der Zeitmomente zurckgezogenen hat.244 Das alles ist fraglos recht konventionell und appelliert in seinen mythischen Unterstrçmen an die ubiquitre Mythenpolitik, mit der das Kaiserreich seine çffentliche Legitimation betrieb.245 Bleibtreus Dramen, 237 238 239 240 241 242 243 244

Ebd., 104. Ebd., 58. Ebd., 108. Ebd., 41. Ebd. Ebd., 107. Ebd. Zur Figur der zyklischen Zeit vgl. Gerhard Plumpe: Zyklik als Anschauungsform historischer Zeit. In: Jrgen Link/Wulf Wlfing (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhltnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, 201 – 225. 245 Vgl. Wulf Wlfing/Karin Bruns/Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen 1798 – 1918, Mnchen 1991, 3 f.; Rolf Parr: ,Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!‘ Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks, Mnchen 1992, 58 ff.; Andreas Dçrner: Politischer Mythos und symbolische

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die sich – je nach gewhltem Stoff – in die weltgeschichtlichen Ermchtigungen Napoleons, in eine machtbesessene Renaissance (Der Dmon, 1889) oder in die historischen Auseinandersetzungen zwischen Sachsen und Normannen (Harold, der Sachse, 1887; Ein Faust der That, 1889) versenken, konnten jedenfalls in ihrem preußischen Subtext verstanden werden, ohne dass Napoleon, Cromwell oder Cesare Borgia Pickelhauben htten tragen mssen. Was Julian Schmidt 1878 ber das vernderte politische Klima, das Carlyles Heroismus gnstiger war als je zuvor, zu Bedenken gibt, gilt cum grano salis auch fr Bleibtreus Geschichtsdramen. „Wir Deutsche“, heißt es in den Portrts aus dem 19. Jahrhundert, verstehen jetzt besser als vor zwanzig Jahren, was sich Carlyle unter Heldentum dachte […]. Das Reich der mondbeglnzten Zaubernacht liegt weit hinter uns; wir leben in einer Fieberhast der Geschichte. […] [P]hysisch und geistig werden uns jeden Augenblick die Huser ber dem Kopf abgebrochen, nichts steht fest auf seinem Boden. […] Gegen diesen Atomismus des Gedankens hat Carlyle khn entschlossen die Fahne des Idealismus aufgepflanzt, und das Wesen des Guten, Rechten und Schçnen seinen endlichen Beziehungen wieder entrckt. Mir scheint der Tag gekommen, wo auch fr uns Deutsche seine Schriften eine tiefere Bedeutung gewinnen werden.246

So zutreffend Schmidts Aktualisierung heroischer Deutungsmuster ist, er verkrzt deren literarische Anverwandlungen um eine Bewegung, die im heldischen „Idealismus“ des „Guten, Rechten und Schçnen“247 nicht aufgeht. Denn unter dem mythischen Text des ,daimonischen‘ Schicksals zeichnet sich in Bleibtreus Napoleon-Drama eine andere Form der Bemchtigung der Geschichte ab. Mag sich Napoleon als „letzte[r] Rçmer“ und als spter Abknftiger des „wahren Geschlecht[s] der Csaren“248 fhlen – als eigentlicher Gehalt des Textes erscheint ein Stiftungsgedanke, der sich aus dem Kontinuum seiner schicksalhaften Abkunft lçst. Der eigentliche voluntaristische Kern des Dramas besteht in einer „That“, die sich als eigentliche Tat gegen die providentielle „Sendung“ profiliert und jener „persçnliche[n] Leidenschaft“249 nachgibt, die im Hegelianismus des idealen Helden als Verfehlung der geschichtlichen Objektivitt verbannt war. Weil Josefine zwar Napoleons „Stern“ darstellt, ihm aber, wie

246 247 248 249

Politik. Der Hermann-Mythos: Zur Entstehung des Nationalbewusstseins der Deutschen, Reinbek 1996, 43. Julian Schmidt: Thomas Carlyle. In: Ders.: Portrts aus dem 19. Jahrhundert, Berlin 1878, 80 – 180, 160. Bleibtreu: Schicksal [1888], 107. Ebd., 93. Thom: Das Ich und seine Tat, 329.

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Napoleon betont, „den Sohn versagte, dessen ich bedarf“250, vollzieht Napoleon im Verlauf des vierten Akts die Trennung von diesem „Stern“, um in der Ehe mit der çsterreichischen Kaisertochter Marie Antoinette eigenmchtig eine Dynastie zu begrnden:251 Napoleon (stolz). Ich selbst bin das Schicksal, das Alles bezwingt und beherrscht. Ltitia. So? Warum glaubst Du dann noch an Glck und Stern? Napoleon. An meinem Stern, ja. Ltitia. So nanntest Du ja Josefine. Napoleon. Die Sterne wechseln. Josefine’s Stern war der meine. Er ist es nicht mehr. Ltitia. O mein Sohn, versuche nicht das Glck! Das ist gottlos. Napoleon. Pah, pah, man komme mir nicht mit dem Heil meiner armen Seele! Fr mich besteht die Unsterblichkeit in der Spur, die ich auf Erden hinterlasse. Ltitia. Ja wohl, die Unsterblichkeit Deiner Macht … davon trumst Du. Darum verlugnest Du Deine ganze Vergangenheit, brichst mit allen Traditionen […]. Napoleon (betroffen). Wohl wahr. Aber was Tradition, was Revolution! Damit zu brechen ist gerade mein Wille. Meine Dynastie soll so legitim werden wie die lteste Europas.252

Die Konstellation, die aus diesem eminenten „Wille[n]“ resultiert, ist denkbar zwiespltig. Einerseits vollzieht sie eine Abtrennung von den objektiven Gehalten, die im providentiellen Tatschema des „Stern[s]“253 und des „Schicksal[s]“254 aufgehoben sind. An seine Stelle tritt eine dynastische Grndung, die sich aus allen bestehenden Traditionen gelçst hat, um sich einer narzisstischen Selbstanschauung hinzugeben. Nichts anderes kommt in den „Ruhmesthaten“255 Napoleons zum Ausdruck, als ein fortwhrender Selbstgenuss, ein erregter Blick, der sich selbst begehrt und der sich in der gestifteten Genealogie immer wieder selbst begegnen 250 Bleibtreu: Schicksal [1888], 96. 251 Vgl. Harnack: Die Dramen Carl Bleibtreus, 34. 252 Bleibtreu: Schicksal [1888], 95 (m. Hervorhg.). Die Metaphorik des schicksalhaften „Sterns“ geht auf Christian Dietrich Grabbes Drama Napoleon oder die hundert Tage (1831) zurck. Dort bekennt Napoleon im ersten Aufzug, dass es „das Schicksal war“, das ihn „bezwungen“ habe. Im dritten Aufzug ist von Josephine als „gute[m] Stern“ die Rede. Vgl. Christian Dietrich Grabbe: Napoleon oder die hundert Tage. Ein Drama in fnf Aufzgen [1831]. Nachwort von Alfred Bergmann, durchges. Ausgabe Stuttgart 1985, 36 bzw. 78. 253 Bleibtreu: Schicksal [1888], 95. 254 Ebd., 96. 255 Ebd., 97.

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will. „Du beschftigst Dich bloß noch mit der Betrachtung Deiner eignen Grçße“, wirft Duroc Napoleon vor. „Es sieht immer aus, als ob Du einsam zwischen Deinen Ruhmesthaten spazieren gingst.“256 Andererseits scheinen sich Kontingenz und Willkr dieser Tat insofern zu relativieren, als sie auf eine „Dynastie“ zielt, die „so legitim werden [soll], wie die lteste Europas“.257 Traditionsstiftung bedeutet auch inmitten einer Tat, die sich gegenber einer schicksalhaften „Sendung“258 fr autonom erklrt, ein Versprechen auf Ordnung und Notwendigkeit, und doch besteht diese Ordnung allein in der narzisstischen Ordnung des Blicks und der Anschaubarkeit, mit der die Glieder der gestifteten Dynastie ihren Stifter zu spiegeln und sichtbar zu reproduzieren haben. Weil das gesamte Ordnungsverlangen des Traditionsstifters eine Ordnung der selbstbezglichen „Betrachtung“259 ist, zielt die Tat nur auf den Blick desjenigen, der sich selbst genießt. Im Ergebnis muss dieser Selbstgenuss eine andere Abkunft besitzen, als Taten, die sich in einem berindividuellen Schicksal beglaubigen. Die unterschwellige Modernitt von Bleibtreus Geschichtsdramen besteht darin, dass sie diese Substantialisierung nur mehr sthetisch-literarisch leisten. Napoleons „That“ ist vollstndig aus Nachbildungen textueller Erfahrungen und Metaphern literarischer Zeugung gewonnen, so dass sich das Traditionsverhalten dieses „letzte[n] Rçmer[s]“260 als zutiefst sthetisch erweist. Bereits im ersten Akt gibt sich Napoleon im Gesprch mit Josefine de Beauharnais als Werther-Enthusiast zu erkennen, der sich identifikatorisch an Werthers „Leidenschaft“ und der „Qual unbefriedigter Existenz [berauscht]“.261 Entsprechend ist der mehrfache emphatische Bezug auf Plutarch nur vordergrndig in der Absicht gesprochen, die eigene Person in das legitimatorische Kontinuum der „Rçmer“ und des „Alterthums“262 einzuschreiben. Vielmehr macht der Text deutlich, 256 257 258 259 260 261

Ebd. Ebd., 95. Ebd., 104. Ebd., 97 (m. Hervorhg.). Ebd., 93. Ebd., 16. Zur Werther-Rezeption im naturalistischen Drama vgl. Dieter Martin: ,Ein Buch fr Schwchlinge’. ,Werther’-Allusionen in Dramen des Naturalismus. In: Zeitschrift fr deutsche Philologie 122 (2003) H. 2, 237 – 265. Martin beschrnkt sich allerdings auf Holz/Schlafs Familie Selicke und Hauptmanns Vor Sonnenaufgang. 262 Bleibtreu: Schicksal [1888], 60.

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dass es sich in der Apologie der „große[n] Menschen“263, wie sie Napoleon an Plutarch abliest, um eine Bibliotheksphantasie handelt, d. h. um eine Identitt, die sich dem akkumulierten Sinn von Texten verdankt: „Was wollen Sie?“, fragt Napoleon Talleyrand gereizt, Das ist der Plutarch. Das sind große Menschen, das sind Rçmer. Ihr wollt Rçmer sein und seid Bastarde des Alterthums. Kleine Menschen, kleinliche Rechner, niedrige Seelen. Mir ekelt. […] (Schmeißt Talleyrand das Buch vor die Fße.) Talleyrand. General, Sie treten mit einer Sicherheit auf – Bonaparte. Ja, ich trete auf und werde Alles zertreten, was mir hinterrcks ein Bein stellt. […] Ich bin ein Enthusiast, ich hasse alle Phrasen, alle Bemntelungen, alle Fuchsschliche. […] Weil ich nicht schmeicheln und scherwenzeln kann, verleumdet man mich. Doch getrost, ich erhebe mich an den Helden des Plutarch.264

In gewisser Weise ist der Hinweis auf diesen Heroismus, der aus einer „Bibliothek“265 gezeugt wurde, nicht erforderlich. Wer, wie Bleibtreu, Plutarch als literarische Referenz des Heldentums verwendet, bewegt sich im ausgehenden 19. Jahrhundert insofern in einer intertextuellen Relation, als schon Ralph Waldo Emersons Essay ber den Heroismus den eigenen Heroismus im Wesentlichen aus Plutarch-Lektren gewonnen hatte. „[W]enn wir die Literatur des Heroismus erforschen, werden wir bald auf Plutarch stoßen. […] [I]ch muss meinen, wir verdanken ihm vielmehr als all den brigen lteren Schriftstellern. Jede seiner ,Lebensbeschreibungen‘ ist eine Widerlegung der Mutlosigkeit und Feigheit […]. Ein wilder Mut, ein Stoizismus […] des Blutes leuchtet in jeder Anekdote auf […].“266 Es liegt in der Logik dieses Lektreverkehrs, dass sich die intertextuellen Bezge in einem Maße amalgamieren, dass Eigenes und Fremdes tendenziell ununterscheidbar wird. Bezeichnenderweise sind die zahlreichen Carlyle-Zitate, die Bleibtreus Revolution der Literatur durchziehen, nicht zu ermitteln, obwohl Bleibtreu sie ausdrcklich als Zitate ausweist.267 Demgegenber besitzt der literarische Text durchaus eine Erinnerung an den sthetischen Grund des Tatsubjekts, in dem er es aus einer Textmetapher hervorgehen lsst. Wenn Napoleon Rechenschaft ber seine 263 264 265 266 267

Ebd. Ebd. Ebd. Emerson: Heroismus [1841], 194. Vgl. Bleibtreu: Revolution der Literatur [1886], 115.

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politischen Plne ablegt – „[m]ir fehlt der Orient“, heißt es „visionr“268 –, dann erinnert ihn Ltitia an eine Heldengeburt, die neben der kreatrlichen eine buchstblich textualistische Dimension besessen hatte: Napoleon (zrtlich). Mutter der Helden! Ich bin Dein Sohn! Ltitia. Das bist Du. Mitten im Kriege gebar ich dich, auf einem Teppich … noch weiß ich’s wie heut‘ … drauf die Kmpfe der Griechen und Trojaner eingestickt. Napoleon. Ja wohl. ich habe der Wiege Ehre gemacht. Dichtete mir eine Iliade zurecht, mein eigner Homer und Achill zugleich.269

Die literarisch-sthetische Geburt des Tathelden vollzieht sich auf dreifache Weise.270 Erstens kommt das tatmchtige Subjekt zur Welt, in dem es auf einem symbolischen „Teppich“ geboren wird, der sich durch sein angestammtes Bildfeld hindurch (textus bzw. textura) als textuelles Gewebe zu erkennen gibt. Napoleons Geburt ereignet sich als ebenso buchstbliche wie metaphorische Geburt auf einem ,Grund‘ von Zeichen, die sich zu einem Gewebe literarisch-sthetischer Bedeutung zusammenschließen. Zweitens trgt dieses Gewebe distinkte Signifikanten; der „Teppich“ der mythischen Geschichte stellt nicht nur in sich eine textura von Bedeutungen dar, sondern er ist darber hinaus, wie in einer ersten Zeichenschicht, bereits von Bildern mythischer Auseinandersetzungen beschrieben. In einer doppelten Sinnrichtung spiegeln sie die mythopoetische Abkunft des Tathelden und prfigurieren – zugleich – seine knftige Verwandlung in einen sthetischen Text. Drittens macht Napoleon seiner „Wiege“ insofern „Ehre“, als er sich durch die imitatio eines mythischen Textes eine (,zweite‘) „Iliade zurecht“ dichtet; damit versichert er sich eines zutiefst sthetischen Selbstverhltnisses, das ihn Autor – „Homer“ – und Werk – „Achill“ – zugleich sein lsst. Bleibtreus Text muss als eine fortwhrende Wiederholung dieser sthetisch-literarischen Geburt verstanden werden. Nur sie erklrt den hohen Anteil an Theaterszenen, Deklamationen und Schauspielen, die insbesondere die ersten beiden Akte prgen und den gesamten geschichtlich-politischen Diskurs des Dramas dem Muster des theatralen Spiels nachbilden. Genauer gesagt ereignet sich Napoleons wiederholte sthetische Zeugung an jenem ,Ort‘, an dem sich Politik und Theater, 268 Bleibtreu: Schicksal [1888], 93. 269 Ebd., 92. 270 Vgl. zum Metaphernspektrum von Kreation, Zeugung und Geburt Christian Begemann/David E. Wellbery (Hg.): Kunst, Zeugung, Geburt. Theorien und Metaphern sthetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg/Br. 2002.

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Geschichte und theatrale Deklamation ineinander verwandeln und auf diesem Weg als verwandt erweisen. Wenn der Schauspieler Talma ankndigt, „den Leuten ein Stck aus meiner neuen Rolle vor[zuspielen]“271 und schließlich, mit den Insignien des politischen Souverns – „Purpurtoga“ und „Lorbeerkranz“272 – angetan, Voltaire deklamiert, zeigt sich, dass sich der deklamierte Text um ein Csarentum rankt, das Napoleon als „Rolle“273 nur nachzubilden hat; allenthalben sind Napoleons Verlautbarungen in einer sprachlich-rhetorischen Deixis realisiert, die in der eigenen Rede immer auf die Prsenz der redenden Person verweist: Talma. Nun, ich spiele heut den Leuten ein Stck aus meiner neuen Rolle vor – ,Der Tod des Csar’s‘ von Voltaire. Bonaparte (eifrig). Ah, Csar! Gut. Die Bhne sollte die Schule der Kçnige und der Vçlker sein. Das ist das Hçchste, was der Dichter erreichen kann. […] Talma (der ihn beobachtet hat). Bravo, Csar! Und darum bin ich eben Dein Schuldner: Ich hab‘ Dich studirt – fr meine Rolle. […] Barras. Meine Damen und Herren […] ein seltener Kunstgenuß steht uns bevor. Unser Talma wird eine Stelle seiner neuesten Rolle […] vortragen: ,Der Tod Csar’s.‘ […] Bonaparte ([…] Fr sich). Auch eine Rolle. – Nun, ich wollt‘ daß ich, die Nachwelt vorempfindend, mitanhçren kçnnte, wie ein Dichter, der groß sein mßte wie Corneille, mich dereinst empfinden, denken und sprechen lassen wird. […] Talma (declamirend). Den Sulla ehrte des Dictators Name […]. Und darum muß ein neuer Name nun Das neue Herrscherrecht gebhrend zieren: Ein grçßrer Name, einst gehaßt in Rom, Doch von dem ganzen Erdkreis nun begehrt. […] Ich Csar, Ich kann’s und will’s, doch heiße nicht Monarch. […] Bonaparte (halblaut). Ich Csar, ich kann’s und will’s. Josefine (sich lebhaft umwendend) Wie sagen Sie? Bonaparte (ruhig). Ich spiele die Rolle mit. […] Talma. Rom fordert einen Herrn. […] So unterwerft euch denn dem großen Mann, Den euch das Schicksal hat als Herrn bestimmt! (Er streckt den Arm unwillkrlich auf Bonaparte aus. Im selben Moment ein greller Blitzstrahl, der diesen vom Fenster aus beleuchtet. Donner. […]) Barras. Brillant, magnifique! Ein Knalleffekt mit Feuerwerk. Bravo, Csar!

271 Bleibtreu: Schicksal [1888], 25. 272 Ebd., 26. 273 Ebd.

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[…] Bonaparte (scharf und bestimmt). Das ist kein Donner, das sind Kanonen.274

Der Sinn dieser Deklamation besteht nicht nur darin, Schauspiel und politische Realitt in eine Verhltnis wechselseitiger Nachahmung zu versetzen – immerhin studieren Talma und Bonaparte ihre Rollen am jeweiligen Gegenber –, sondern vor allem darin, dass sie, wie ihre Einbettung in das dramatische Spiel zeigt, einen bergang in die revolutionre Realitt bewerkstelligt. Was die Zuschauer im Stck zunchst als Effekte einer gelingenden Illusion von „Donner“ und „Blitzstrahl“275 missverstehen, erweist sich schließlich als handgreifliche Realitt von „Kanonen“276, die in das Deklamationstheater das ,Theater‘ der Revolution einbrechen lassen und damit jenen Ort markieren, an dem Napoleon seine deklamatorische Erzeugung verlsst, um als Tatsubjekt in die geschichtliche Realitt einzutreten. Geistesgeschichtlich bilden Motive dieser Art einen Teil jener oberflchlichen Nietzsche-Rezeption, die den Naturalismus insgesamt prgt. Wie die verwickelte Entstehungsgeschichte der Bleibtreu-Dramen belegt, fhrte Bleibtreu die dritte, 1896 publizierte Fassung des NapoleonDramas unter dem vernderten Titel Der bermensch, ohne dass sich fr ihn daraus Widersprche mit der eigenen Polemik gegen Nietzsche ergeben htten. Was Bleibtreu anbelangt, so lassen sich diese Widersprche allerdings leicht erklren. Sie stehen im Kontext einer primr an Verschlagwortungen und ihren konnotativen Ableitungen orientierten Nietzsche-Wahrnehmung. Zwar gibt es im Unterschied zu den Autoren der Klassischen Moderne wie Hofmannsthal, Rilke, George, Thomas Mann oder Musil, die Nietzsche erst nach 1890 kennen lernen,277 unter Naturalisten einer vergleichsweise frhe, d. h. im Wesentlichen auf die 1880er Jahre zu datierende Rezeption – Hermann Conradi erwhnt Nietzsche 1887,278 Michael Georg Conrad bereits 1881 und 1883,279 274 275 276 277

Ebd., 25 – 27. Ebd., 27. Ebd. Vgl. Hillebrand: Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen, 149 und Richard Frank Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867 – 1900, Berlin, New York 1974, 273 – 276. 278 Vgl. Hermann Conradi: Phrasen. Roman, Leipzig 1887, 43, wo identifikatorisch von den „Jnger[n] Nietzsches“ die Rede ist. Bereits 1886 war Conradi in Leipzig einem privaten Lesezirkel beigetreten, in dem u. a. Nietzsches Geburt der Tragçdie

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Johannes Schlaf 1886/87280 –, aber sie verluft noch primr entlang des berwltigenden Stilerlebnisses, das Nietzsches Philosophie darstellt.281 Dennoch besitzt die Rede vom bermenschen fr die Figur der Tat einen systematischen Kern; er fhrt nur eher von Nietzsche weg, als auf ihn zu. Dass der bermensch zu den gelufigen Schlagworten des ausgehenden 19. Jahrhunderts zhlt, bezeugt schon der Umstand, dass der Begriff schnell Gegenstand seriçser wortgeschichtlicher Untersuchungen wird. 1901 erçffnet die von Friedrich Kluge herausgegebene Zeitschrift fr Deutsche Wortforschung ihren ersten Band mit einer „wortgeschichtliche[n] Skizze“ von Richard M. Meyer, die dem bermenschen gewidmet ist.282 1897 publiziert Leo Berg eine Studie, die unter dem Titel Der bermensch in der modernen Litteratur vordergrndig ein Kapitel aus der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts schreiben will, tatschlich aber eine „Genealogie“283 verfolgt, die den Begriff auf seine transzendentalphilosophischen Ursprnge hin rekonstruiert. Entsprechend erscheint Nietzsche lediglich als ein Synthetiker, der die „Motive“, die „im Einzelnen vorher (bei Kierkegaard, Stirner, Renan, Carlyle, Lagarde u.d.a.) zu den Ideen des neues Adels, der starken Individualitt, des neues Heros

279

280 281 282

283

gelesen wurde. Dass Conradi, wie Paul Ssymank suggeriert, schon 1883/84 Jenseits von Gut und Bçse gelesen haben soll, ist demgegenber unhaltbar, da der Text erst 1886 erschien. Vgl. Paul Ssymank: Leben Hermann Conradis. In: Hermann Conradis Gesammelte Schriften. Hg. von Gustav Werner Peters, Mnchen, Leipzig 1911, Bd. 1, XVII-CCLIV. Vgl. Michael Georg Conrad: Madame Laetitia! Neue Pariser Studien, Leipzig o. J. [1883], 289 f. Conrads Selbstaussagen zufolge hat er bereits in „den Wintern 1880 – 82 […] in Paris […] Vortrge in franzçsischer und deutsche Sprache“ gehalten, darunter Vortrge „ber Richard Wagners Meistersinger, ber Schopenhauer (mit Herbeiziehung der Nietzscheschen berhmten Unzeitgemßen) […]“. Michael Georg Conrad: Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann. Erinnerungen zur Geschichte der Moderne, Leipzig 1902, 60 f. Vgl. Johannes Schlaf: [Rezension] ,Jenseits von Gut und Bçse‘ von Fr. Nietzsche. Leipzig 1886. In: Allgemeine Deutsche Universitts-Zeitung 1 (1887) Nr. 2, 22. Vgl. nur Wilhelm Weigand: Welt und Weg. Aus meinem Leben, Bonn 1940, 14 f., 244; Berg: Nietzsche [1889], 148 f. Vgl. Richard M. Meyer: Der bermensch. Eine wortgeschichtliche Skizze. In: Zeitschrift fr Deutsche Wortforschung 1 (1901), 3 – 25. Immerhin konzediert Meyer, dass der Begriff, wenn er von „N i e t z s c h e “ auch „nicht erfunden“ worden sei, aber doch „zu ganz neuer Bedeutung gebracht“ (Ebd., 7) worden ist. Meyers Skizze verwendet schon eine Reihe lterer Arbeiten zum Thema. Vgl. Ebd., 7 ff. Leo Berg: Der bermensch in der modernen Litteratur. Ein Kapitel aus der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Paris, Leipzig, Mnchen 1897, VII.

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fhrten“284, verschmilzt und in dieser Form „als Mensch der Zukunft“285 behandelt. Demgegenber zielt Bergs „Genealogie“ des bermenschen, der auch bei Berg im Zeichen der „That“286 und des „grosse[n], feste[n] und reine[n] Willen[s]“287 auftritt, auf die Freilegung eines transzendentalphilosophischen Fundaments, das sich in erster Linie aus „Kants ideale[m] Subjektivismus“288 und Fichtes absolutem „Ich“289 speist. Konzeptuell gehen in die Genealogie des bermenschen damit zwei fundamentale bewusstseinsphilosophische Bestimmungen ein. Zunchst Kants Unterscheidung zwischen dem empirischen und dem reinen bzw. transzendentalen Bewusstsein: Whrend das „empirische Bewußtsein“ aufgrund der Dynamik „verschiedene[r] Vorstellungen […] zerstreut und ohne die Beziehung auf die Identitt des Subjekts“290 bleibt, leistet die reine Apperzeption jene „t r a n s z e n d e n t a l e E i n h e i t [ … ] , durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird.“291 Im Kern liegt Bergs Genealogie ein nichtempirisches Bewusstsein zu Grunde, das auf dem Weg der „R e f l e x i o n “292 eine Anschauung seiner eigenen synthetischen Leistung gewinnt und sich selbst als jenes initiierende Handlungssubjekt reflektiert, das die verschiedenen Vorstellungen begrifflich zusammenfhrt.293 Zum anderen wirkt bei Berg die Bestimmung der Fichteschen Wissenschaftslehre nach, dass der „absolut-erste[], schlechthin unbedingte[] Grundsatz alles menschlichen Wissens“ als jene „Tathandlung“ zu verstehen ist, „die unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewußtseins nicht vorkommt,

284 285 286 287 288 289 290

Ebd., 68. Ebd., 69. Ebd. Ebd., 64. Ebd., 266. Ebd., 4. Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft [1781]. In: Ders.: Werkausgabe III: Critik der reinen Vernunft 1. Hg. von Wilhelm Weischedel, Zrich 1977, 137. 291 Ebd., 141. 292 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798]. In: Ders.: Werkausgabe XII: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pdagogik 2 / Register zur Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel, Zrich 1977, 397 – 690, 416. 293 Vgl. Immanuel Kant: Logik [1800]. In: Ders.: Werkausgabe VI: Schriften zur Metaphysik und Logik 2. Hg. von Wilhelm Weischedel, Zrich 1977, 417 – 582, 524: „R e f l e x i o n , d.i. die berlegung, wie verschiedene Vorstellungen in Einem Bewußtsein begriffen werden kçnnen“.

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noch vor vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewußtsein zum Grunde liegt […]“.294 Darin besitzt Bergs Rekonstruktion eine Rckbindung an jene Erblasten der nachkantischen Psychologie, die sich der Naturalismus als seinen ,transzendentalen‘ Horizont aneignet und die in ihrer experimental- und assoziationspsychologischen Wendung nicht mehr auf die apriorische Einheit des Bewusstseins setzen konnte. Was das ausgehende 19. Jahrhundert im Begriff des Willens namhaft macht, ist gerade die Einsicht in den „fortschreitenden Zusammenbruch von Kants transzendentalem Standpunkt und seinen synthetischen Apriori-Kategorien“295. Man muss Bergs Genealogie, die ihren Anfang nicht zufllig mit dem durch „E m a n u e l K a n t “ geborenen „G o t t d e s m e n s c h l i c h e n B e w u ß t s e i n s “296 nimmt, daher als den Versuch verstehen, im Schlagwort des bermenschen nochmals die Kontur eines mit sich identischen Subjekts sichtbar zu machen, das seine Einheit durch die Prsenz aller seiner Bewusstseinsmomente erzeugt. Die gesamte, so reduktionistisch anmutende Emphase der Tat wre dann nur ein in die Außenwelt gespiegelter Selbstbezug des Subjekts, der sich in willensmchtigen Handlungen Ausdruck und Anschauung verschafft. Dass der dem Naturalismus eng verbundene Dramatiker Paul Ernst 1898 berlegungen ber Das Drama und die moderne Weltanschauung mit dem Bekenntnis erçffnet, dass er „an eine transcendentales Erkenntnis und an ein transcendentales Subjekt [glaube], vom dem unser empirisches Subjekt nur ein schwaches Symbol ist“297, belegt den Zusammenhang nochmals von einer Seite, die die „naturalistische[n] Technik“298 allmhlich bereits veralten sieht. 294 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift fr seine Zuhçrer [1794]. Einleitung und Register von Wilhelm G. Jacobs, 4., im Nachtrag zur Bibliographie erw., ansonsten unvernd. Aufl. Hamburg 1988, 11. Vgl. auch Ebd., 16: „Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermçge dieses bloßen Setzens durch sich selbst […]. Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Ttige, und das, was durch die Ttigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und Tat sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung […].“ 295 Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho, Frankfurt/M. 2002, 23. Vgl. Kap. I. 296 Berg: Der bermensch in der modernen Litteratur [1897], 3. 297 Paul Ernst: Das Drama und die moderne Weltanschauung [1898] in: Ders.: Der Weg zur Form. sthetische Abhandlungen vornehmlich zur Tragçdie und Novelle, Berlin 1906, 13 – 32, 31. 298 Ebd., 32.

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Bleibtreus entstehungsgeschichtlich erstes Drama innerhalb der Reihe seiner Geschichtsdramen zeigt die gleichen Grundzge wie sein Napoleon-Drama, sucht aber mit der Hauptfigur Cesare Borgia einen anderen historischen Schauplatz auf. 1882 entstanden, steht Der Dmon am Beginn einer Entwicklung, die ab 1890 mit Rilke, Wilhelm Weigand, Ricarda Huch, Schnitzler und Thomas Mann das im Fin de sicle so beliebte Genre des Renaissancedramas einleitet.299 Wenn sich der Begriff auch nur zçgerlich durchsetzt,300 so bringt das Genre in den drei Jahrzehnten zwischen 1890 und 1920 eine unberschaubare Vielzahl von Texten hervor,301 die sich allesamt um einschneidende Bildungs- und Leseerlebnisse herum organisieren. Bekanntlich beruht der obsessive ,Renaissancismus‘ der Jahrhundertwende in erster Linie auf der Lektre kulturgeschichtlicher Panoramen, unter denen Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance nur das bekannteste ist;302 fast alle Renaissance-begeisterten Autoren sind zunchst Leser einschlgiger Standardwerke. So berichtet 299 Vgl. zur zeittypischen Konjunktur der Renaissance Walter Rehm: Der Renaissancekult um 1900 und seine berwindung [1929]. In: Ders.: Der Dichter und die neue Einsamkeit. Aufstze zur Literatur um 1900. Hg. von Reinhardt Habel, Gçttingen 1969, 34 – 77; Lea Ritter-Santini: Maniera Grande. ber italienische Renaissance und deutsche Jahrhundertwende. In: Viktor Zˇmegacˇ (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Kçnigstein/Ts. 1981, 242 – 274; August Buck (Hg.): Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann, Tbingen 1990. Einen Forschungsberblick sowie eine systematische Aufarbeitung des ,Renaissancismus‘ liefert Gerd Uekermann: Renaissancismus und Fin de Si cle. Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende, Berlin, New York 1985, 3 – 41. Dass Bleibtreus Dmon am Beginn der Renaissancedramatik der Jahrhundertwende steht, betont schon Rehm: Der Renaissancekult um 1900 und seine berwindung, 51. 300 Ausnahmen bilden Carl Albrecht Bernoullis Herzog von Perugia (1910) und Bleibtreus sptes Schauspiel Die Herzogin (1913), die beide als Renaissancedrama ausgewiesen sind. Vgl. Uekermann: Renaissancismus und Fin de Si cle, 31 f. 301 Zwischen 1870 und 1890 sind nicht weniger als 50 Einzeltitel nachweisbar, bis 1910 vervierfacht sich die Zahl. Vgl. die Titelaufnahmen bei Uekermann: Renaissancismus und Fin de Si cle, 17 ff., 32, 293 – 314. Fr einen exemplarischen berblick ber den Textbestand vgl. Rehm: Der Renaissancekult um 1900 und seine berwindung, 51 ff. 302 Die Kultur der Renaissance ging aus Burckhardts Baseler Vorlesungen der Jahre 1858 und 1859 hervor. 1860 erschienen, war dem Text zunchst keine breitere Resonanz beschieden. Bis 1885 erlebte der Text nur drei weitere Auflagen (1869, 1877/78, 1885), zwischen 1896 und 1919 dann allerdings in kurzer Folge acht Neuauflagen (1896, 1897, 1899, 1901, 1904, 1908, 1913, 1919). Vgl. Ewert Marten Janssen: Jacob Burckhardt und die Renaissance. Jacob Burckhardt-Studien. 1. Teil, Assen 1970, 249.

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Arthur Schnitzler ber die Vorbereitungen zu seinem Renaissancedrama Der Schleier der Beatrice 1898 an Hofmannsthal, dass er zunchst „ein bißchen Burckhardt, Gregorovius, Geiger lesen will […].“303 Adolf Bartels bezieht sich 1893 und 1894 in den Vorarbeiten zu seinem Schauspiel Der Sacco nicht nur auf Burckhardt, sondern auch auf Ferdinand Gregorovius, Ranke und Alfred von Reumont; Bezugnahmen dieser und anderer Art geben beinahe alle Autoren von Renaissancedramen preis.304 Damit ist das Renaissancedrama ein von Bildungserfahrungen determiniertes und buchstblich erlesenes Genre. Immerhin reichen diese Leseerfahrungen noch in das Reiseverhalten der Intellektuellen hinein, die unter dem Eindruck ihrer Burckhardt-Lektren recht abrupt dem klassischen Italien den Rcken kehren, um sich, wie Gerhart Hauptmann 1897 gegen das italienische „Behagen“305 Goethes vorbrachte, an den von „Greuel, Grauen, Schrecken und finstere[r] Schicksalsgewalt“306 getrnkten Renaissance-Zentren zu berauschen. Bleibtreus Dmon erweist sich vor diesem Hintergrund geradezu als Text- und Quellenmontage,307 wie sich in ihm berhaupt Ereignisge303 Arthur Schnitzler an Hugo von Hofmannsthal [Brief vom 10. 7. 1898]. In: Hugo von Hofmannsthal – Arthur Schnitzler: Briefwechsel. Hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler, Frankfurt/M. 1964, 105. Ferdinand Adolf Gregorovius (1821 – 1891) war Historiker, Romanautor, Dramatiker und bersetzer, Ludwig Geiger (1848 – 1919) Kultur- und Literaturhistoriker, zudem Verfasser eines 1882 erschienenen kulturgeschichtlichen Panoramas unter dem Titel Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland. 304 Vgl. Adolf Bartels: Rçmische Tragçdien, Mnchen 1905, VIII. Die Emphase versammelt sich allerdings schwerpunktmßig um Burckhardts Kultur der Renaissance. Max Halbe ist der Text noch 1935 ein literarisches „Elementarereignis“ (Max Halbe: Jahrhundertwende. Geschichte meines Lebens 1893 – 1914, Danzig 1935, 249), Thomas Mann hlt ihn 1900 fr „großartiges Material“ (Thomas Mann an Heinrich Mann [Brief vom 25. 11. 1900]. In: Ders. – Heinrich Mann: Briefwechsel 1900 – 1949. Hg. von der Deutschen Akademie der Knste zu Berlin, 2., erw. Aufl. Berlin, Weimar 1969, 6). Fr einen berblick ber das um 1900 greifbare kulturgeschichtliche und kunsthistorische Material jenseits von Burckhardt (Hermann Grimm, Ludwig Geiger, Carl Stegmann, Walter Pater, Karl Vosler, Heinrich Wçlfflin u. a.) vgl. Uekermann: Renaissancismus und Fin de Si cle, 28 f. 305 Gerhart Hauptmann: Italienische Reise 1897. Tagebuchaufzeichnungen. Hg. von Martin Machatzke, Frankfurt/M. u. a. 1976, 99 [Eintragung vom 15. 3. 1897]. 306 Ebd., 100. 307 Vgl. Karl Bleibtreu: Der Dmon [1887]. Das Vorwort (Ebd., 145 f.) nennt als Quellen Jacob Burckhardt, Hermann Grimm, Alfred de Musset und Niccol

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schichte und historische Spekulationen miteinander vermischen. Insbesondere das zentrale Motiv des Stcks, Cesare Borgias Kampf fr die Einigung Italiens, ist historisch nicht verbrgt und einer Quelle ganz anderer Herkunft – dem Principe Machiavellis – entnommen.308 ber das „tiefere Problem“ des Stcks hatte Bleibtreu zudem vermerkt, dass es aus dem unlçsbaren „Verhltnis der That-Helden zu den Kunst-Helden“309 erwachsen sei. Entsprechend stehen sich Machtpolitiker wie Cesare Borgia und Machiavelli einerseits, Knstler wie Leonardo, Raffael und Michelangelo gegenber. Vordergrndig tritt die dargestellte Renaissancewelt damit in eine politische und eine sthetisch-knstlerische Sphre auseinander. Dennoch sind beide Welten darin zutiefst miteinander verwandt, dass sie agonalen Gesetzen des Kampfes und des Machtstrebens folgen. Whrend sich die Knstler im zweiten Akt in einem existenziell aufgeladenen Wettstreit begegnen, den ein genretypisch dmonisierter Raffael fr sich entscheidet, erscheint der „That-Held“ Borgia auf dem Hçhepunkt des Dramas inmitten einer nchtlichen Versammlung der platonischen Akademie, um im Kostm Raffaels Maria von Urbino zu entfhren. Csar betrachtet diesen Raub, der dem Text als Inbegriff renaissancehafter Kaltbltigkeit dient, als entscheidende Bedingung fr die Einigung Italiens, weil Machiavelli, der ein eigenes Einigungsinteresse verfolgt, diese Einigung gerade in der Verbindung der Huser Orsini und Urbino zu erzielen hofft. Auch wenn der Raub Marias gelingt, endet das Drama mit dem Freitod Csars; Italien bleibt unerlçst, weil der historische Moment fr eine nationalstaatliche Einigung noch fern ist. So offenherzig Bleibtreu seine Quellen bloß gelegt hat, Gewicht und Struktur ihrer Einflsse mssen sich mit der Selbstwahrnehmung Bleibtreus keineswegs decken. Dass Bleibtreu seinen Tathelden Csar Burckhardts „meisterhafte[r] ,Geschichte der Renaissance’“310 nachgebildet Machiavelli. Der Text ist bereits 1882 entstanden, aber erst spter – zunchst 1887 in der (hier zu Grunde gelegten) Dramensammlung Vaterland, dann 1889 in den dramatischen Werken – verçffentlicht worden. Eine Auffhrung ist nicht belegt. Vgl. Harnack: Die Dramen Carl Bleibtreus, 43. 308 Vgl. Niccol Machiavelli: Der Frst. Aus dem Italienischen von Friedrich von Oppeln-Bronokowski. Mit einem Nachwort von Horst Gnther, Frankfurt/M. 1990, 121 f. [Kap. XVVI]. Zu der von Beginn an stattfindenden ,Arbeit am Mythos‘ Cesare Borgia vgl. Marion Hermann-Rçttgen: Die Familie Borgia. Geschichte einer Familie, Stuttgart, Weimar 1992, bes. 174 ff. sowie hinsichtlich der biographischen Fakten Ebd., 178 ff. 309 Bleibtreu: Der Dmon [1887], Vorrede 146. 310 Ebd., 145.

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haben will, ist angesichts der Tatsache, dass Burckhardt auf einen allseitig gebildeten „u o m o u n i v e r s a l e “311 zielte, wenig plausibel, zumal die entsprechenden Ikonographien des „teufelsmßig-gçttlich[en]“312 bermenschen viel eher bei Nietzsche als bei Burckhardt zu studieren waren. Nietzsches Moral der kalten, auf die Steigerung der eigenen Willensmacht bezogenen virtu erscheint Borgia als „Raubthier“ und „Raubmensch[]“313 ; als „hçhere[r] Mensch, als eine Art bermensch“314, der „unsterblich gesund, unsterblich heiter und wohlgerathen“315 sei, weil er zu den „großen V i r t u o s e n des Lebens gehçrt“, deren „Selbstherrlichkeit den schrften Gegensatz zum Lasterhaften und ,Zgellosen‘ abgiebt“.316 Im Antichrist markiert der in der Maske des „P a p s t [es]“ imaginierte „tropische Mensch“317 Cesare Borgia den ußersten Gegensatz zum Christentum: „[I]ch sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wunderbar paradox zugleich, dass alle Gottheiten des Olymps einen Anlass zu einem unsterblichen Gelchter gehabt htten – C e s a r e B o r g i a a l s P a p s t … Versteht man mich? … Wohlan, das wre der Sieg gewesen, nachdem i c h heute verlange –: damit war das Christentum a b g e s c h a f f t !“318 Damit kleidet Bleibtreu den naturalistischen Tatmenschen in zeittypischer Weise in das indolente Gewand des Renaissance-Menschen.319 Verbindungen zwischen den zum Teil recht heterogenen Quellen und Mustern, die in seine Kontur eingehen, werden durch eine Sprache der Willensenergie und der Tatkraft geschaffen, die zum Teil unter ausdrcklichem Bezug auf den Satz von der Erhaltung der Energie greifbar 311 Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch [1860]. In: Jacob Burckhardt-Gesamtausgabe. Bd. 5. Hg. von Werner Kaegi, Berlin, Leipzig 1930, 99. 312 Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum [1888/89], 251. 313 Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], 117. 314 Friedrich Nietzsche: Gçtzen-Dmmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert [1889]. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6, Berlin, New York 1980, 55 – 161, 136. 315 Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum [1888/89], 224. 316 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 – Anfang Januar 1889. 2. Teil: November 1887 – Anfang Januar 1889. In: Ders.: Smtliche Werke. Bd. 13, 72. 317 Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], 117. 318 Nietzsche: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum [1888/89], 251. 319 Vgl. Rehm: Der Renaissancekult um 1900 und seine berwindung, 48 f.

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ist. Noch Burckhardts sptere berlegungen ber Die historische Grçße geben sich in dem energetischen Holismus, mit dem sie „in einzelnen Individuen“ eine „concentrirte[] Weltbewegung“320 ausmachen, als Sprache einer „enorme[n] Willenskraft“321 zu erkennen, die in den Ekstasen einzelner weltgeschichtlicher Momente Individualitt und Totalitt, Besonderes und Allgemeines in einem „Gesammtwillen“322 zusammenfhrt: scheint zu sein daß sie einen Willen vollzieht der ber das Individuelle hinausgeht, und der je nach dem Ausgangspunct als Wille Gottes, als Wille Gesammtheit, als Wille eines Zeitalters bezeichnet wird. Hierzu bedarf es eines Menschen, in welchem Kraft und Fhigkeit von unendlich vielen concentrirt ist. Dieser Gesamtwille kann sein: ein bewußter: das Individuum vollzieht diejenigen Unternehmungen, Kriege und Vergeltungsacte, welche die Nation etc. haben will: Alexander nimmt Persien – oder ein unbewußter: das Individuum weiß was die Nation eigentlich wollen mßte und vollzieht es; die Nation aber erkennt dieß spter als richtig und groß an; Caesar unterwirft 323

Schon Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien prpariert ihr ,transzendentales Signifikat‘ des „vçllig ausgebildete[n] Menschen“324 als ein „Einzelne[s]“, das aus einem „Zeugenverhçr ber das Allgemeine“325 hervorgeht. Entsprechend erweisen sich die Ansichten des machtgierigen Renaissance-„Tyrannen“326 und „Gewaltmenschen“327 nicht nur als Momente einer „welthistorischen Fgung“, in der aus der wechselseitigen Aushçhlung von Imperium und Sacerdotium die rationalisierten Ansprche radikal innerweltlicher Herrschaft erwachsen.328 Sie bilden auch

320 Burckhardt: Die Individuen und das Allgemeine (Die historische Grçße) [1905], 377. 321 Ebd., 381. 322 Ebd. 401. 323 Ebd. 324 Linda Simonis: Genetisches Prinzip. Zur Struktur der Kulturgeschichte bei Jacob Burckhardt, Georg Luk cs, Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin, Tbingen 1998, 43. 325 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte [1898 – 1902]. Bd. 1. In: Jacob Burckhardt-Gesamtausgabe. Bd. 8. Hg. von Felix Sthelin und Samuel Merian, Berlin, Leipzig 1930, 2. 326 Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch [1860], 96. 327 Ebd., 101. 328 Vgl. Wolfgang Hardtwig: Jacob Burckhardts ,Kultur der Renaissance‘ und Max Webers ,Protestantische Ethik’. Ein Vergleich. In: Buck (Hg.): Renaissance und

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das Ergebnis einer kulturgeschichtlichen Methodologie, die die „hçchst intensive Willenskraft“ der Renaissance-„Persçnlichkeit“329 aus den rhetorischen Verfahren der amplificatio und der hyperbolischen Steigerung – der gradatio und der climax – herleitet, indem sie das Einzelne stets auf eines Allgemeines verweisen lassen.330 Wenn Leo Berg 1897 konstatiert, dass die „Geschichte des bermenschen bei den J u n g d e u t s c h e n beinahe die Geschichte ihrer Bewegung [ist]“331, dann stellen sich bermenschentum und Naturalismus wie konzeptuelle Spiegelflchen zu einander, zumal Berg die „Frsten, Knstler und Gelehrten der Renaissance“ als „Modelle dessen“ behandelt, „was man heute vom bermenschen trumt“.332 Conrad Alberti verwandelt die Renaissance als Epoche der „große[n] Thaten“333 1892 in eine historische Allegorie des ersten thermodynamischen Hauptsatzes, der Alberti als sthetisches „Grundprinzip“334 dient. Entsprechend ist in dieser energetisierten Renaissance alles „Ueberschuß von geistiger und sinnlicher Kraft“335, „hçchste[] Lebensußerung“336 bzw. „hçchste[] Kraftußerung“337 und – in großer Nhe zu Julius Robert Mayers Begriff des energetischen ,Auslçsens‘ – eine rckhaltlose „Auslebung“338 der Willenspersçnlichkeit. Noch bevor das Fin de sicle seine Hinflligkeiten in die Dialektik von Ermdung und Grausamkeit, von Dekadenz und Gewalt kleidet,339 vollzieht der Naturalismus damit eine Aneignung der Renaissance durch einen Materialismus hindurch, der die Literatur der Zeit in der neuzeitlichen Energieerhaltungsproblematik fundiert und als aktivistische Emphasen von Wille und Tat figurieren lsst. Anders als es Arbeiten zum

329 330

331 332 333 334 335 336 337 338 339

Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann, 13 – 23, 15. Vgl. Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch [1860], 97. Ebd., 102. Vgl. Simonis: Genetisches Prinzip, 46. Vgl. zu Burckhardts kulturgeschichtlicher Methode auch Peter Ganz: Burckhardts ,Kultur der Renaissance’. Handwerk und Methode. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988) H. 1, 24 – 59, 74. Berg: Der bermensch in der modernen Litteratur [1897], 173. Ebd., 78 f. Conrad Alberti: Die Renaissance. In: Ders.: Natur und Kunst. Beitrge zur Untersuchung ihres gegenseitigenVerhltnisses, Leipzig 1890, 177 – 186, 182. Alberti: Die zwçlf Artikel des Realismus. In: Ebd., 313. Alberti: Die Renaissance, 177. Ebd., 185. Ebd., 184. Ebd., 183. Vgl. Brittnacher, Erschçpfung und Gewalt; Uekermann: Renaissancismus und Fin de Si cle.

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Zusammenhang von Ermdung und Gewalt um 1900 bzw. zur Renaissancebegeisterung im Fin de sicle nahe legen, sind die in Frage stehenden Konjunktionen bereits im Naturalismus greifbar, und entsprechend tritt Bleibtreus Csar Borgia als Propagandist eines tatkrftigen Selbstverhltnisses auf. Ausgestattet mit „Nerven von Stahl“340 wirft sich Csar zum Muster einer Selbstbeherrschung auf, die Kaltbltigkeit, Gewaltbereitschaft und Tatkraft virtuos miteinander verbindet. „Nun wohl“, bekennt Csars Schwester Lucrezia, „ich liebe die starken Seelen, und mich vor Strkeren, als ich bin, zu beugen, ist mir eine hçhere Wollust, als Schwchlinge zu Werkzeugen meiner Leidenschaft herabzuwrdigen.“341 Analog verhalten sich Szenen, die die „vulkanische Urkraft“342 des Tathelden nicht nur in den Auftritten Csar, sondern vor allem in den rituellen Redeschlssen sichtbar machen, mit denen der Text das Sprachhandeln seines Helden phrasiert. Wenn Borgia im fnften Akt seinen „letzten Willen“343 verkndet, lsst der Text Maria von Urbino – der Regieanweisung gemß „bebend“ – ausrufen: „Das ist ein Mann!“344 Wie in Bleibtreus Napoleon-Drama sind auch Csars Auftritte im Wesentlichen deiktische Sprachhandlungen, die dazu dienen, die sprechende Figur zu bezeichnen. Wenn Maria von Urbino in den zahlreichen sprachlichen Pathosgesten des Stcks nach dem historischen Augenblick fragt, in dem der „Mann des Schicksals“ Italien „errettet“, antwortet Csar lakonisch: „Er sitzt neben dir.“345 Einmal mehr handelt es sich um sprachliche Evokationen, die weniger die „Thaten“346 Borgias sichtbar machen, als ihre Besprechungen und rhetorischen Akklamationen. Ihnen entspricht es, dass sich in letzter Konsequenz die Zeugungsverhltnisse zwischen Persçnlichkeit und Tat verkehren: „Das ist mein Stolz“, ruft Csar, „Ich bin nicht der Sohn von Peter und Paul, ich bin der Sohn meiner Thaten.“347 Noch in dieser Zeugungsmythologie zielt Csar auf die Stiftung einer nationalen „Einheit“348, die gegen die Machtansprche Frankreichs, die partikularen Bewegungen der regionalen Dynastien und die weltlichen 340 341 342 343 344 345 346 347 348

Bleibtreu: Der Dmon [1887], 269. Ebd., 245. Ebd., 294. Ebd., 291. Ebd., 282. Ebd., 231. Ebd., 265. Ebd. (m. Hervorhg.). Ebd., 156.

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Interessen des Papstes verteidigt werden muss. Vor allem aber muss, wie Csar betont, der in Machiavellis eigenen Machtinteressen liegenden Verbindung der „zwei mchtigsten rçmischen Geschlechter“349 – der Orsinis und der Urbinos – entgegenwirkt werden: Csar. Der Bund der zwei mchtigsten rçmischen Geschlechter bedeutet das Neu-Erstarken jener vermaledeiten Kleinstaaterei, der Duodez-Souvernitt, die ich mit Feuer und Schwert zu vernichten strebe. Schon seh ich sie alle wieder auftauchen nach meinem Tode […], diese Colonna’s, Malatesta’s, Vitelozzo’s und wie sie alle heißen, diese Nero’s en miniature, die das Volk gemeinsam knechten und das Aufkommen des Brgerstandes, der Arbeit und der Gesittung niederdrcken, zugleich die Sicherheit der Großstaaten bedrohend. […] Weg mit der Fremdherrschaft! Italien fr die Italiener!350

Wie angedeutet, ist das nationalistische Interesse, das den Text bewegt, historisch nicht verbrgt. Mit der Auffassung, dass „Cesare Borgia […] Ordnung in die Romagna gebracht“ und „sie geeinigt“351 habe, hatte vielmehr Machiavellis Principe 1516 seinen eigenen nationalen Interessen Ausdruck gegeben, und noch Burckhardts kulturgeschichtlicher Blick sah die „tieffsten Plne“352 Cesare Borgias in der „gehofften Herrschaft ber Italien im allgemeinen“353. Wie in Bleibtreus Napoleon-Drama bildet auch dieses Einigungsinteresse die Gestalt einer ,daimonologischen‘ Sendung. Schon der Titel des Dramas signalisiert eine schicksalhafte Geschichtszeit, die im Handeln ihrer Tter zunchst nur einen geschichtlichen Willen ausagiert. Nichts anderes bedeutet jener „Dmon“, der – wie Maria von Urbino im Gesprch mit Borgia bemerkt – als „andere Stimme, eine fremde“ spricht und der – wie Borgia selbst bekennt – „zur G r ç ß e , zur S e l b s t e r f  l l u n g “354 mahnt: Csar. […] Ich bin ein Rçmer. Maria. Was meint Ihr? Eure Gestalt scheint zu wachsen, Eure Brust sich auszudehnen. Ist das eine andere Stimme, eine fremde, die aus Euch redet? Csar (ernst). Das ist – mein Dmon. Maria. Das war wohl nicht der ,Dmon‘ des Sokrates. Zur Tugend hat er Euch nie gemahnt. Csar. Mahnt der Dmon den Gesalbten des Herrn, den Dichter und Propheten zur Tu g e n d ? Nein, zur G r ç ß e , zur S e l b s t e r f  l l u n g .355 349 350 351 352 353 354 355

Ebd., 283. Ebd., 283 und 285. Machiavelli: Der Frst, 82. Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch [1860], 83. Ebd., 84. Bleibtreu: Der Dmon [1887], 282. Ebd.

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„S e l b s t e r f  l l u n g “, von der Csar ebenso pathetisch wie moralfern spricht, ist in Bleibtreus Drama zugleich der Name fr einen historischen Augenblick, in der sich die unabgeschlossene Geschichte der Nation erfllt. Im dmonischen Tter realisiert die geschichtliche Zeit jene nationale Teleologie, die sich von sich aus nicht zur Erfllung bringen kann und die so lange unerfllt bleiben muss, wie sie von Csar nicht als Auftrag erkannt und ins Werk gesetzt wird. Letztlich aber bezeichnet diese Geschichtszeit einen Sinnmodus, der gegen die Kontingenz moderner Zeiterfahrungen gerichtet ist. Sein ausgeprgter Chiliasmus lsst das nationale Einigungsgeschehen, das im Widerstreit der Machtinteressen wie in „Taumel“356 versetzt wirkt, als eine unverrckbar vorgegebene Zeit erscheinen, als Vollzug einer ordnenden Unentrinnbarkeit, die die Zeitspanne zwischen der nationalen ,Sendung‘ und ihrer finalen Erfllung auch hier ,daimonologisch‘ interpretiert. Vor diesem Hintergrund besteht, um der Argumentation fr einen Moment voraus zu greifen, der eigentliche Sinn des Stcks darin, dass es die Zeitstelle, in der sich der geschichtliche Sinn und der Tter, der ihn aus seiner Latenz erlçst, begegnen sollen, in zwei gegenlufige Tendenzen auflçst. Subjektiver Lebenssinn und objektiver Geschichtssinn treten in einer fundamentalen temporalen Verfehlung auseinander, und es ist diese Verfehlung, die dem dmonischen Tter Csar letztlich einen Platz außerhalb der geschichtlichen Teleologie zuweist. – Zunchst aber ist festzuhalten, dass der Text fr die geschichtliche Latenz, in die er das nationale Projekt taucht, ein sinnflliges Bild bereithlt. Es besteht in einem formlosen „Mamorblock“357, der seit „uralten“ Zeiten die „fr unmçglich gehaltene Aufgabe“ darstellt, aus ihm ein „Bildwerk loszuschlen“. Die gewhlte sthetische Metaphorik macht deutlich, dass das intendierte „Bildwerk“ das Werk der Nation selbst ist. „Ein Symbol Italiens soll das sein?“ fragt Rafael und fhrt fort: O wo ist der Mann, der es emporrttelt, wie hier aus scheinbar unbehaubarem Marmor ein neuer Meister die neue Skulptur siegreich hervorlockte? Solch ein vergeblich durch die Jahrhunderte hin gewlzter Marmorblock ist auch Italien. Wer wird die zersplitterte, hilflos unbehilfliche, Masse zu einem Staate modeln und hmmern? Csar (von rechts). Hier ist er. – Mit Blut und Eisen!358

356 Ebd., 203. 357 Ebd., 218. 358 Ebd., 217 f.

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Der vordergrndige Sinn des Marmorblocks richtet sich auf die Gestaltlosigkeit, die den italienischen Nationalstaat prgt und die in Analogie zu sthetischen Gestaltbegriffen auf ihre Formung drngt.359 Implizit verweist das Bild auf einen von Bleibtreu selbst zum „tiefere[n] Problem“360 des Stcks erklrten Zusammenhang. Denn offenbar fhrt der sthetisch-politische Doppelsinn des Marmorblocks das zunchst unlçsbare „Verhltnis der That-Helden zu den Kunst-Helden“361 insofern einer Lçsung zu, als er sthetisches und Politisches zu verwandten Momenten von Gestaltbarkeit erklrt. Kunstwerk und Nation folgen denselben Imperativen der Gestaltbildung, und es liegt in der aktionistischen Sinnrichtung des Bildes, dass diese Gestaltbildung nicht als Prozess, sondern als Tat vorgestellt wird, die die im nationalen Werk wirkende Formlatenz schlagartig in Form setzt. Man wird die Vordergrndigkeit des gewhlten metaphorischen Materials als Teil eines ideellen Feldes werten drfen, das im ausgehenden 19. Jahrhundert von der Vorstellung bewegt wird, sprachliches Handeln kçnnte unmittelbares Tathandeln sein. In einer vergleichsweise rudimentren Gestalt ist dieser Zusammenhang zwischen einem eminenten Wort und einer erlçsenden Tat in Bleibtreus Geschichtsdramen immer dort realisiert, wo sie ihre Tatsubjekte mit demonstrativem Gestus in den theatralischen Raum stellen und sie in der berzeugung, historisch ,an entscheidender Stelle‘ zu stehen, ihre eigene (kçrperliche) Prsenz besprechen lassen. „Wo du stehst“, verkndet Lucrezia apodiktisch, „bist du Herr“.362 „Hier steh ich“, lsst Csar verlauten, „auf mein Schwert gesttzt […], ich der ich stolz und starr, auf mich selbst allein gestellt, eine wirkliche Welt im Busen trage.“363 Formulierungen dieser Art behaupten eine substantielle Wirklichkeit, eine „wirkliche Welt“, die die historische Gegenwart ontologisch zu einem bloßen Schein, zu einem „Taumel“364 der Referenz erniedrigt. Ihr gegenber bringt die Tat des „Thathelden“365 insofern Heil, als sie die Unstetigkeiten, die Un-Wirklichkeit des geschichtlichen Moments mit substantiellen Bindungen durchsetzt. Der 359 Vgl. Klaus Stdtke: Form. In: sthetische Grundbegriffe. Historisches Wçrterbuch in sieben Bnden. Hg. von Karlheinz Barck. Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2001, 462 – 494, 463 f., 466. 360 Bleibtreu: Der Dmon [1887], Vorrede 146. 361 Ebd. 362 Ebd., 216. 363 Ebd., 220. 364 Ebd., 203. 365 Ebd., Vorrede 146.

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gesamte exklamatorische Duktus der Geschichtsdramen lebt von einer Sprache, die der Vorstellung nachhngt, dass es in ihr eine Bedeutungswelt geben kçnnte, die – mehr als nur Worte – Wirklichkeit stiftet. Das obligate „hier“, mit dem Csar auf die Frage antwortet, wer die „zersplitterte, hilflos unbehilfliche“ Wirklichkeit „modeln und hmmern“366 wird, ist ein Sprachakt, der der heillosen Not der Zeit nicht nur mit dem Versprechen entgegentritt, Wirklichkeit zu schaffen, sondern im Sprechen imaginr bereits ,stiftend‘ in die Wirklichkeit eintritt. Auf dem Hçhenkamm des ausgehenden 19. Jahrhunderts lsst sich diese Ungeduld gegenber einer von der Wirklichkeit abgetrennten Sprache bei Nietzsche studieren. Auch Nietzsche teilt die Sehnsucht nach einem Wort, das die Zsur zwischen Rede und Handlung tilgen kçnnte. Entsprechend kreist Nietzsches aphoristische Sptsprache um eine Ekstase des Worts, die den Klangkçrper des Zeichens nicht mehr lnger als verhallenden Sinn, sondern als eine Energie der Sprache betrachtet, die in die Wirklichkeit eingreift. „[I]ch erachte jedes Wort fr unntz geschrieben, hinter dem nicht eine solche Aufforderung zur That steht“, heißt es 1887/88. Insbesondere das „C o m m a n d o “367 markiert ein Wollen, dass immer schon „E t w a s - w o l l e n “368 ist und insofern nicht einfach referiert oder bezeichnet, sondern ein Reales mitfhrt, indem es die aufeinanderfolgenden, sich gewissermaßen dehnenden Zeitstellen von psychischer Intention, artikulierter Rede und „Auslçsung“ einer Handlung zur Deckung bringt: ,wollen‘ ist nicht ,begehren‘, streben, verlangen: davon hebt es sich ab durch den A f f e k t d e s C o m m a n d o ’s . es giebt kein ,wollen‘, sondern nur ein Etwas-wollen: man muß nicht das Ziel auslçsen aus dem Zustand: wie es die Erkenntnißtheoretiker thun. ,wollen‘, wie sie es verstehn, kommt so wenig vor, wie ,Denken‘: es ist eine reine Fiktion. dass E t w a s b e f o h l e n wird, gehçrt zum Wollen […]. Jener allgemeine S p a n n u n g s z u s t a n d , vermçge dessen eine Kraft nach Auslçsung trachtet – ist kein ,Wollen‘.369

In das philosophisch bislang vollstndig fehl gedeutete Geschehen der Sprache bricht mit Nietzsche eine Wortpoetik ein, die – anders als es die Sprachkrisen der Moderne nahe legen – von der zeittypischen Verzweif366 Ebd., 220. 367 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 – Anfang Januar 1889. 2. Teil: November 1887 – Anfang Januar 1889. In: Ders.: Smtliche Werke. Bd. 13, 54. 368 Ebd. 369 Ebd.

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lung an der Arbitraritt des (poetischen) Zeichens unberhrt ist.370 Arbitraritt ist hier als Problemstellung nicht eigentlich gegenwrtig, weil sie in den Grenzen eines Referenzproblems verbleibt, das mit Nietzsche in ein ontologisches Problem der Sprache im Ganzen umgeschrieben wird. Wenn es zu den Einsichten der antiken Rhetorik, die dem Altphilologen Nietzsche vertraut war, zhlt, dass es Sprachhandlungen gibt, die ihrer spezifischen (,energetischen‘) Abkunft nach (energeia; actus, motus, animus) mehr sind, als ,bloße‘ zeichenhafte Abbildungen durch Sprache und insofern geradezu ,zur Tat schreiten‘, dann vergrçßert Nietzsche den Zusammenhang dahingehend, dass er das verbum unmittelbar actus sein lsst.371 Entsprechend hat Nietzsche seinen Zarathustra als ,dionysischen‘ Ort einer solchen Verwandlung von referentiellen Beziehungen in dynamische Beziehungen verstanden; Beziehungen, in denen Worte unmittelbar sind und als stiftende Kraft wirken: „es ist vielleicht berhaupt nie Etwas aus einem gleichen berfluss von Kraft heraus gethan worden. Mein Begriff ,dionysisch‘ wurde hier h ç c h s t e T h a t ; an ihr gemessen erscheint der ganze Rest von menschlichem Thun als arm und bedingt.“372 „Nur e i n e m “, so bemerkte Hermann Conradi 1886, „gelang die Tat: N i e t z s c h e . – Er hat das d r i t t e Testament geschrieben.“373 – Dionysisch, so muss man diese wahnhaften Grenzgnge verstehen, sind Nietzsches Texte, weil in ihnen eine verwandelnde Kraft, eine energetische und aus reinem berfluss geborene Ekstase des Worts wirkt, die insofern in das Wesen des Worts eingreift, als es seine Wirkung aus der Sphre der bloßen Bezeichnung erlçst und zur „h ç c h s t e [n] T h a t “374 werden lsst. Nicht nur aber wandelt sich das Wort zur „That“, es ist zugleich eminenter Moment einer Ranglehre von substantiellen Handlungen, deren Bedeutungshçhe es offensichtlich dominiert, weil es auf eine substantiell ,noch hçhere‘ Tat nicht berschritten werden kann. Nur 370 Etwa, wie Erich Kleinschmidt fr die europische Jahrhundertwende konstatiert hat, im Sinne einer „Sprachpraxis, die sich zwar als eigenschçpferisch verstand, gerade dadurch aber die reale Beziehung zu den Signifikaten aufs Spiel setzte.“ Vgl. Kleinschmidt: Gleitende Sprache, 72. 371 Vgl. Rdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tbingen 1990, 230; Heinrich F. Plett: Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungssthetik im Zeitalter der Renaissance, Tbingen 1975, 40, 73, 187. 372 Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1888/89], 343. 373 Brief Conradis an [?] Blume vom 14.7.1886. Zit. nach Ssymank: Leben Hermann Conradis, CLX. 374 Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1888/89], 343.

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in diesem Sinne ist schließlich Nietzsches spter „E n t s c h l u ß “ zu verstehen, dass „nicht mehr Zarathustra“, sondern „Ich [reden] will“.375 Am Ende erlçst sich ein Text, der durch die Stimme einer Figur von der Stiftung eines bindungsgebenden Kultus gesprochen hatte, zur Wirklichkeit setzenden Stimme eines Autors, der Realitt stiftet, in dem er selbst spricht.376 Bleibtreus naturalistische Heldendramen bleiben von dieser Reflexionshçhe freilich unberhrt. Aber sie haben Anteil an einer frhen Wirkungsgeschichte Nietzsches, der sich die rhetorische Dimension seiner Texte, ihr aktionistischer Gestus, nicht als bloße ußerlichkeit, sondern als ihr eigentlicher Gehalt mitteilt. Nietzsches Texte wirken auch bei Bleibtreu als ein materiales Feld von Affektwerten und tropischen Bewegungen, als ein bindungsgebender „Stil“, der, weil er mehr ist, als nur ein charaktervolles Schreiben, vergessen hat „zu berreden“ und stattdessen „befiehlt“ und „w i l l “.377 Stil ist in Nietzsches Verstndnis „wirkliche Convention“378, d. h. bindende bereinkunft ber das, was einer Kultur Grenze und Gesetz, dem Leben Ordnung und Distinktion gibt. Auch in dieser Hinsicht bewegt sich Bleibtreus dramatische Rhetorik durch das Vorstellungsfeld eines Worts, das sich nicht mehr daran beruhigt, nur Wort zu sein. Insbesondere Der Dmon ist als Kommentar zu dieser chiliastischen Sehnsucht zu verstehen, freilich als ein zutiefst melancholischer. Denn Csars nationale Plne mssen, wie angedeutet, scheitern, weil seine weltgeschichtliche Verfrhung, die den richtigen Zeitpunkt zwischen erlçsender Tat und historischem Augenblick verfehlt, Wort und Tat auseinander treibt. Was immer Csar sagt, es gert in den 375 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Frhjahr 1884 – Herbst 1885. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 11, Berlin, New York 1980, 83. 376 Vgl. zum gesamten Komplex Schlaffer: Das entfesselte Wort, 150 – 159. 377 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 – Anfang Januar 1889. 2. Teil: November 1887 – Anfang Januar 1889. In: Ders.: Smtliche Werke. Bd. 13, 247. 378 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1869 – Ende 1874. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 7, Berlin, New York 1980, 685 (m. Hervorhg.). Vgl. zu Nietzsches ,großem‘ Stil Schlaffer: Das entfesselte Wort, 186 und Peter L. Oesterreich: Der große Stil? Nietzsches sthetik der Macht-Beredsamkeit und ihre ethische Fragwrdigkeit. In: Josef Kopperschmidt/Helmut Schanze (Hg.): Nietzsche oder ,Die Sprache ist Rhetorik’, Mnchen 1994, 159 – 169, 160 f. Zum werkgeschichtlichen Kontext vgl. Plumpe: sthetische Kommunikation der Moderne 2, 74 f.

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Abgrund eines geschichtlichen Moments, fr den der richtige Augenblick noch nicht gekommen ist, weil, wie Csar gegenber Maria von Urbino beklagt, das erlçsende „Stichwort […] noch nicht gesprochen [war]“: Csar (aus der Nische unter dem Gemlde die Platte mit den Glsern und dem Giftflschchen hervorziehend). Ich darf nicht leben bleiben […]. Es ist zu spt. Ich bin mde. Und noch mehr – der Dmon hat mich getuscht. Wohl war ich zu der Rolle geboren, die ich spielte – aber mein Stichwort war noch nicht gesprochen. Kennst du das furchtbarste aller Schicksale? Z u f r  h geboren zu sein, um Aeonen zu frh.379

Strukturell ist an dieser Stelle derselbe krisenhafte Moment erreicht, um den schon Bleibtreus Napoleon-Drama gekreist hatte. Wie der Subtext der Passage verdeutlicht, erscheint die Krise auch hier als Moment einer radikalen Ermchtigung. Weil Csars geschichtliche Verfrhung eine Shne verlangt, und weil Maria von Urbinos bevorstehende Heirat eine weitere dynastische „Zersplitterung“380 Italiens bedeuten wrde, mssen sie in den Augen Csars beide ein „Shnopfer“381 fr ihr Volk erbringen: Csar. Entkomme ich und wird diese neue Verbindung gestiftet, so werden sich Florenz und Ihr, die neue Macht, an die Franzosen anschließen, wodurch die andern Kleinen, zur Eifersucht gereizt und ihrer Existenz bedroht, Euch an meiner Stelle als Verschlinger frchtend, in die Arme Spaniens getrieben wrden. […] Maria (verwirrt). Eine dstere Ahnung bemchtigt sich meiner. Dmon was willst Du von mir? Csar (wrdevoll). Deinen freiwilligen Tod. Freue sich deine Seele, o Rçmerin! Ich erkor dich als Shnopfer fr dein Volk. Heiter sollst du sterben – nicht nur, um dort die Zukunft Italiens zu retten und den Mann, den du liebst – sondern um dein Vaterland vor dir selber zu retten. […] Deine dir selbst so verhaßte, aber unvermeidliche Vermhlung mit Orsini – weißt du, was sie bedeutet? […] Die Zersplitterung deines Vaterlandes – das bezweckt dein Leben, das kann dein Tod verhindern.382

Man hat es an dieser Stelle mit zwei komplementren Figurationen des Opfers zu tun. Die erste der beiden zielt auf den Umstand, dass Csars Opfer aus dem Kontinuum seiner dmonischen Sendung ausbricht und damit allererst einer ,eigentlichen‘ Tat Raum gibt. Die Einsicht, dass die geschichtliche „Stunde der Erfllung“383 noch aussteht und Csars Lebenszeit verfehlen wird, htte Csar auch als geschichtlich gewollte Ent379 380 381 382 383

Bleibtreu: Der Dmon [1887], 284. Ebd., 283. Ebd. Ebd., 285, 282 f. Ebd., 285.

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III. Poetik der Tat

mchtigung seiner Person anerkennen kçnnen. An dieser Stelle aber erhebt Csar Einspruch, und erst dieser Augenblick profiliert eine Tat im eigentlichen Wortsinn. Sie begrndet sich als Ermchtigung gegenber einer Providenz, deren berautonome Zeitlichkeit Csar nicht anerkennt, um sie einem eigenen, prsentischen Zeitsinn zu unterwerfen. Weil der geschichtliche Augenblick seiner Tat ausbleibt, bietet der Text ein Substitut auf, das in der Figur des Opfers einerseits den Sinn der in der Geschichte aufgehobenen nationalen Einigung fortsetzt, andererseits aber in einem ekstatischen Moment das Kontinuum dieser Geschichtsteleologie einem heterogenen Zeitbewusstsein unterwirft. Die zweite der beiden Figurationen kreist um die Figur des Opfers selbst und damit um einen archaischen Moment, der die geschichtliche Situation einer Vernderung, einem Mysterium von Erneuerung und Transformation zufhrt. Erstens nmlich wehrt es, in dem Marias Tod ein Erstarken der dynastischen Machtansprche verhindert, den haltlosen „Taumel“384 der sozialen Verhltnisse ab. Das Opfer erscheint als ein beschwichtigender Riss in der Ordnungslosigkeit der kulturellen Bezge und als jene machtvolle Abwehr, die die Ansprche des Sozialen gegen ihre laufende Erosion bewahrt. Weil sich das „Shnopfer“385 ausdrcklich auf eine Abwehr der immer weiter fortschreitenden nationalen Desintegration richtet, vollzieht es sich als ritueller Moment, in dem symbolisch die Einheit der nationalen Gemeinschaft erscheinen soll; Opfer ist hier momenthafte und symbolische Prsenz einer sonst nicht zugnglichen Ungeschiedenheit. Zweitens gelangen Opfer und Tat an dieser Stelle zur Deckung; sie sind im Blick auf denjenigen, der sich zum Opfer, genauer: zum Selbstopfer entschließt, Zeichen ein und desselben, intensiven „Willen[s]“386. Darin ist Bleibtreus Opfervorstellung einem christologischen Denken des Opfers verhaftet, und so verluft durch den Archaismus, den Bleibtreus Drama zitiert, ohne das Opfer, wie es die Klassische Moderne betreiben wird, antikisierend zu berschreiben, eine christliche Opfertheologie,387 die Opfertter und Opfermaterie, Opfernden und Geopferten konvergieren und in dieser Konvergenz den Selbstbezug des im Opfer Ttigen erscheinen lsst. 384 385 386 387

Ebd., 203. Ebd. Ebd., 291. Vgl. Hildegard Cancik-Lindemaier: Opferphantasien. Zur imaginren Antike der Jahrhundertwende in Deutschland und sterreich. In: Der altsprachliche Unterricht 30 (1987) H. 3, 90 – 104, 97 ff.

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In letzter Konsequenz dient das Opfergeschehen, das sich gegen Ende des Textes zum Mythos einer aufhaltenden Tat und einer vorlufigen Rettung aufwirft, dazu, jene „Thatkraft“388 und jenen „Willen“389 zu restituieren, den die dmonische Zeit der Geschichte in Mitleidenschaft gezogen hatte. Dass Csars Opfergang darauf gerichtet war, „das Erstarken der kleinen Tyrannen zu hindern“390, wie Michelangelo fr die Zusehenden und Beiseitestehenden verkndet, lsst die Nation ebenso als Begnstigten des Opfers erscheinen, wie denjenigen, der durch das Opfer ging, um sich seiner „Thatkraft“ zu versichern. Und wenn Csar kurz vor seinem Tod einen „letzten Willen“391 und ein „Testament“392 verkndet, verewigt sich der Wille des „That-Helden“393 im Gedchtnis derjenigen, die sich seiner erinnern werden. Auch darin besteht die Funktion des naturalistischen Opfers, dem die Klassische Moderne in den Entfesselungen ihrer Opfergewalt nur nachfolgen muss: dass sich der Tatkrftige schließlich selbst dem Gedchtnis der Gemeinschaft bergeben kann. Noch das Erinnern der anderen ist seine Tat.

3. Tat, Entscheidung, Opfer. Die Augenblicke des Lebens und der naturalistische Einakter (Georg Hirschfeld, Alexander L. Kielland, Rilke, Schnitzler) Im Blick Conrad Albertis erscheint das moderne Drama 1890 in einem eigentmlichen Zwielicht – ein Zwielicht, das insbesondere auf „Bjçrnson und Ibsen“ fllt, weil beide „zweifellos große Dichter, aber unglckliche Dramatiker“394 seien. Die Bemerkung richtet sich nur vordergrndig auf das Werk von Einzelautoren, sondern legitimiert sich an einer Grundtendenz der Gattung. Was sich an Bjçrnson und Ibsen zeigt, ist eine allgemeine Krise des Dramas, die in der wachsenden Inadquatheit zwischen der dramatischen Form und den modernen Lebensgehalten aufgebrochen sei. Albertis Beobachtung bewegt sich damit in388 389 390 391 392 393 394

Bleibtreu: Der Dmon [1887], 293. Ebd., 291. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., Vorrede, 146. Alberti: Roman oder Drama? In: Ders.: Natur und Kunst [1890], 223 – 238, 227.

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III. Poetik der Tat

nerhalb einer hegelianischen Perspektive, die die Geschichtlichkeit der sthetischen Formen an der Fhigkeit bemisst, noch eine adquate Gestalt des modernen Geistes sein zu kçnnen. Entsprechend ruinçs ist Albertis Bilanz, denn offenkundig stellt das Drama „keine den Anforderungen der modernen Zeit mehr entsprechende Kunstform“395 dar: Das moderne Leben ist nicht dramatisch und vertrgt nach seinen ernsten Seiten hin keine dramatische Darstellung. Ihm fehlt das Unentbehrlichste, Notwendigste […]: das dramatische Heldentum. Unser Leben kennt keinen dramatischen Helden, ja berhaupt keine dramatischen Gestalten mehr. […] Die Tragçdie nimmt […] die freie Selbstbestimmung des Menschen als selbstverstndlich an, sie glaubt, daß es in der Macht des Menschen liegt, sich Freuden oder Leiden, Glck oder Elend zu verschaffen. […] Darum ist jede faktische Beschrnkung des freien Willens, sei es nun durch Schicksalsbestimmungen […] oder Vererbung geistiger und kçrperlicher Eigenschaften dem Wesen der dramatischen Kunst widersprechend, […] darum ist fr unsere Zeit, welche das Gesetz der Vererbung anerkennt, welche dem Einfluß kçrperlicher, lokaler, klimatischer und vieler anderer Besonderheiten auf das Seelenleben des Menschen so viele Macht zugesteht, die Tragçdie […] nicht geschaffen.396

Bemerkenswert ist an diesen Formulierungen nicht ihr konventionalisierter Hegelianismus, sondern der Umstand, dass sie eine literaturwissenschaftliche Nachgeschichte besitzen, die sich in den 1950er und -60er Jahren zu einer geradezu autoritativen Theorie des modernen Dramas weitet. Wer Peter Szondis einflussreiche Studie unter diesem Titel Revue passieren lsst,397 wird zu dem Befund gelangen, dass sich zwischen Alberti und Szondi ein diagnostisches Netz von bemerkenswerter geistesgeschichtlicher Kontinuitt spannt. Alberti wie Szondi treffen sich in der Einsicht, dass die „Entwicklung in der modernen Dramatik vom Drama selber wegfhrt“398, weil die dramatische Form fr ihren zeitgemßen Gehalt unerreichbar geworden ist. So habe die Moderne einen dem Drama wesensfremden „Zusammenhalt des Disparaten durch das epische Ich“ erzwungen, whrend der „Determinismus“ die geistige Kontur der „Epoche“ um 1890 geprgt habe und damit das moderne Drama zum „Drama des unfreien Menschen“399 habe werden lassen. 395 Ebd., 228. 396 Ebd., 228 f. 397 Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas 1880 – 1950 [1956], Frankfurt/M. 1963. 398 Ebd., 13. 399 Ebd., 93.

3. Tat, Entscheidung, Opfer

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Szondis Bestimmungen sind allesamt von kanonischem Rang, zumal fr die Form des Einakters, die wie kein anderes dramatisches Genre die umfassende Referenzkrise der poetischen Zeichen um 1900 markiert. Tatschlich erlebt das Genre seit 1890 eine recht unvermittelte Konjunktur, die in ihrer bloßen Quantitt400 August Strindbergs historisches Wort, der „Einakter“ stelle „die Formel des kommenden Dramas“401 dar, beglaubigt, wenn auch Strindbergs Schrift ber Den Einakter nicht eigentlich das Genre, sondern Illusionsprobleme des Dramas thematisiert, die Strindberg schon 1889, im Vorwort zu Frçken Julie, zu einem Theater der „Suggestionen“ und „Gedankenbertragung[en]“402 gefhrt hatten. Als „Formel des kommenden Dramas“403 hat sich die Einakter-Forschung, nach einer zunchst zçgerlichen Entdeckung des Genres, inzwischen sichtbar belebt. Sie ist im Kern durch zwei Aufflligkeiten gekennzeichnet. Die erste betrifft eine Art kongruenter Differenzierung des Gattungsprofils bei wachsender historischer Erschließung der Textbestnde. Allerdings hat man es an dieser Stelle nicht mit einem schlichten Defizit der Forschung, sondern mit der Schwierigkeit zu tun, wie sich gattungssystematische und gattungshistorische Perspektiven verbinden lassen, zumal sich die Texte hufig im Einklang mit den von den Einzelautoren gewhlten Gattungstraditionen zu recht eigenstndigen Korpora verbinden, die ihrer systematischen Vergleichbarkeit im Wege stehen.404 Schnitzlers vielgestaltige Einakterproduktion ist kaum ohne das 400 Eine Aufstellung der um 1890 erschienenen Einakter findet sich bei Diemut Schnetz: Der moderne Einakter. Eine poetologische Untersuchung, Bern, Mnchen 1967, 23 f. Die Liste ist auch mit Blick auf die Autoren der ,ersten Reihe‘ (Schnitzler, Hofmannsthal, Rilke) unvollstndig, erklrt sich aber durch das gattungssystematische Interesse der Studie. 401 August Strindberg: Der Einakter [1889]. In: Ders: Elf Einakter. Verdeutscht von Emil Schering, Mnchen, Leipzig 71917, 323 – 342, 340. Vgl. Schnetz: Der moderne Einakter, 24. – Dem entspricht eine wachsende theoretische und programmatische Begleitung des Phnomens. Vgl. etwa Georg Wittkowski: Dramen in einem Akte. In: Bhne und Welt 4 (1902) H. 2, 857 – 866, der bereits den naturalistischen Einakter und das Frhwerk Schnitzlers und Hofmannsthals in den Blick nimmt. Vgl. auch Rudolph Lothar: Der Einakter. In: Das litterarische Echo 5 (1903), 802 – 805. 402 August Strindberg: Vorwort zur Erstausgabe [1888]. In: Ders.: Frulein Julie. Ein naturalistisches Trauerspiel. bersetzt von Christel Hildebrandt. Nachwort von Ruprecht Volz, Stuttgart 2003, 5 – 21, 11. 403 Strindberg: Der Einakter [1889], 340. 404 Vgl. zur Gattungspoetik des Einakters Alfred Apsler: Der Einakter-Zyklus, Diss. Wien 1930; Gustav Plessow: Das amerikanische Kurzschauspiel zwischen 1910 und 1930, Halle 1933; Bernhard Ulmer: The One-Act Play in German Lite-

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III. Poetik der Tat

Konversationsdrama und das Feld der kleinen komischen Genres wie Posse, Travestie, Proverbe oder Farce zu verstehen, whrend das weitgehend unbekannte Einakterfrhwerk Rilkes deutliche Anregungen aus

rature. Paper read at the 12th. Annual Foreign Language Conference, University of Kentucky 1959; Schnetz: Der moderne Einakter; Heidemarie Roth: Der Einakter um die Jahrhundertwende und seine literaturgeschichtlichen Voraussetzungen, Diss. Wien 1971; Brigitte Schultze: Studien zum russischen literariˇ echov, Wiesbaden 1984; Hans-Peter schen Einakter. Von den Anfngen bis A.P. C Bayerdçrfer: Die neue Formel. Theatergeschichtliche berlegungen zum Problem des Einakters. In: Geschichte und Dramaturgie des Operneinakters. Hg. von Winfried Kirsch und Sieghart Dçhring, Laaber 1991, 31 – 57; Brigitte Schultze: Vielfalt von Funktionen und Modellen in Geschichte und Gegenwart: Einakter und andere Kurzdramen. In: Winfried Herget/Dies. (Hg.): Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische und funktionale Horizonte, Tbingen, Basel 1996, 1 – 29; Hans-Peter Bayerdçrfer: Einakter mit Hilfe des Wrfels? Zur Theatergeschichte der Kleinen Formen seit dem 18. Jahrhundert. In: Ebd., 31 – 57. Ein Problem von eigenem Gewicht stellt das Verhltnis zum lyrischen, mit Einschrnkungen auch zum intimen Drama dar, da sich bestimmte Strukturmomente berschneiden. Vgl. hierzu Peter Szondi: Das lyrische Drama des Fin de Si cle, Frankfurt/M. 1975 und Ingo Stçckmann: Das innere Jenseits des Dialogs. Zur Poetik der Willensschwche im intimen Drama um 1900 (Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf ). In: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81 (2007) H. 4, 584 – 617. Zur Einakterproduktion einzelner Autoren im hier relevanten literaturgeschichtlichen Kontext, namentlich zu Schnitzler, Hofmannsthal und Rilke, vgl. Friedbert Aspetsberger: ,Drei Akte in Einem’. Zum Formtyp von Schnitzlers Drama. In: Zeitschrift fr deutsche Philologie 85 (1966), 285 – 308; Hans-Peter Bayerdçrfer: Vom Konversationsstck zur Wurstelkomçdie. Zu Arthur Schnitzlers Einaktern. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), 516 – 575; Gerhard Kluge: Die Dialektik von Illusion und Erkenntnis als Strukturprinzip des Einakters bei Arthur Schnitzler. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), 482 – 505; Alfred Doppler: Die Form des Einakters und die Spielmetapher bei Arthur Schnitzler. In: Ders.: Wirklichkeit im Spiegel der Sprache. Aufstze zur Literatur des 20. Jahrhunderts in sterreich, Wien 1975, 7 – 30; Gunter Selling: Die Einakter und die Einakterzyklen Arthur Schnitzlers, Amsterdam 1975; Hartmut Scheible: Im Bewusstseinszimmer. Arthur Schnitzlers Einakter. In: Text und Kontext 10 (1982), 220 – 288; Gerhard Neumann: Proverb in Versen oder Schçpfungsmysterium? Hofmannsthals Einakter zwischen Sprech-Spiel und Augen-Blick. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 1 (1993), 183 – 234; Helga Schiffer: Die frhen Dramen Arthur Schnitzlers. Dramatisches Bild und dramatische Struktur, Amsterdam 1994. Einen berblick ber den Stand der Forschung gibt Ulrike Kienzle: Theorie des einaktigen Schauspiels im literaturwissenschaftlichen Schrifttum. In: Geschichte und Dramaturgie des Operneinakters, 17 – 29.

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dem naturalistischen Milieudrama empfngt.405 Hofmannsthals Einakter wiederum greifen in ihrer Traditionsaneignung weit in die europische Vormoderne zurck.406 Nicht zuletzt haben die gattungsgeschichtlichen Differenzierungen der jngeren Zeit den Blick dafr geschrft, dass eine ganze Reihe von „gattungsgeschichtlichen Rahmen-Thesen“407 zu revidieren sind; dies betrifft die vermeintliche historische Voraussetzungslosigkeit des Genres, die sich an der Vielzahl der dramatischen Kurzformen vor allem des 18. Jahrhunderts relativiert,408 wie die Notwendigkeit, die primr dramaturgischen Untersuchungen um theatergeschichtliche Befunde erweitern zu mssen.409 Die zweite Aufflligkeit betrifft den unbefragten Konsens, mit dem der Einakter in der Referenzproblematik der Jahrhundertwende lokalisiert wird. Offenbar steht und fllt die Reputation des Einakters mit einer Problemhçhe, der das referentielle ,Fremdwerden‘ der Dinge und der Welt zur kanonischen Bedingung sthetischer Modernitt geworden ist.410 Hans-Peter Bayerdçrfers berzeugung, der Einakter bilde das „Symptom“ der „allgemeine[n] Sinn- und Wahrnehmungskrise der Jahrhundertwende“411, begleitet die gesamte Forschungsgeschichte des Einakters, unabhngig davon, ob gattungssystematische oder gattungshistorische Interessen im Vordergrund stehen. Grundstzlich neigt der Einakter zur Betonung der Situation vor der Handlung, zum Verlust des Dialogischen und der offenen Konfliktfhrung, zu einer a-kausalen 405 Vgl. zu Schnitzler Bayerdçrfer: Vom Konversationsstck zur Wurstelkomçdie, 523; zu Rilke Ursula Mnchow: Das ,tgliche Leben’. Die dramatischen Experimente des jungen Rilke. In: Rilke-Studien. Zu Werk und Wirkungsgeschichte, Berlin, Weimar 1976, 9 – 52; Monika Ritzer: Dramatische Dichtungen. In: Manfred Engel (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach, Stuttgart 2004, 264 – 282. 406 Vgl. Neumann: Proverb in Versen oder Schçpfungsmysterium?, 187 ff. 407 Bayerdçrfer: Die neue Formel, 33. 408 Vgl. Yksel Pazarkaya: Die Dramaturgie des Einakters. Der Einakter als eine besondere Erscheinungsform im Drama des 18. Jahrhunderts, Gçppingen 1973 und im Anschluss Kienzle: Theorie des einaktigen Schauspiels im literaturwissenschaftlichen Schrifttum, 23. 409 Vgl. Bayerdçrfer: Die neue Formel, 37. 410 Vgl. Hans Joachim Piechotta: Einleitung: Die Differenzfunktion der Metapher in der Literatur der Moderne. In: Ders./Ralph-Rainer Wuthenow/Sabine Rothemann (Hg.): Die literarische Moderne in Europa. Bd. 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende, Opladen 1994, 9 – 67, v. a. 9 – 12. 411 Bayerdçrfer: Einakter mit Hilfe des Wrfels?, 53. Vgl. auch Neumann: Proverb in Versen oder Schçpfungsmysterium?, 183 ff.

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Handlungsfhrung wie zu einer Psychologisierung, die die lteren mimetischen Ansprche des Dramas in die sprachlosen Innenwelten eines impressionistischen Bewusstseins zurcknimmt.412 Das aufgeblendete Forschungspanorama hat an dieser Stelle die Funktion, einen Gesichtspunkt zu markieren, der in den bisherigen Fragestellungen keine Aufmerksamkeit gefunden hat. Ausgangspunkt der folgenden Analysen von ausgewhlten naturalistischen Einaktern ist die These, dass der ausgeprgte Momentaneismus des Genres nicht nur fr die markierten Referenzkrisen aufnahmebereit ist, sondern – im Gegenteil und zunchst abstrakt formuliert – als formale Funktion fr eine augenblickshafte Rckerstattung von Prsenz dient. Jedes semantisch kontrollierte Sprechen ber eine Krise muss schließlich auch die ,rekreativen‘ Dimensionen, d. h. den Entscheidungscharakter des Begriffs bercksichtigen und sich damit fr eine Handlungsfhrung çffnen, die gerade auf die Reterritorialisierung von Reprsentationsmçglichkeiten zielt. In dieser Verknpfung von temporaler Ereignishaftigkeit und ereignishafter Sinnflle besitzt der Einakter eine Affinitt zu Reflexionsfiguren, die, wie Tat, Opfer und Entscheidung, ihrerseits bereits eine ,dramatisierte‘ Zeitlichkeit besitzen. Insofern ist die Forderung der historischen Gattungstheorie, die „Gestalt des […] Einakters als Funktion seiner Thematik“413 zu verstehen, zu relativieren, weil thematische Gehalte wie Tat und Entscheidung nicht sinnvoll aus einem Gegensatz von „Thematik“ und „Gestalt“ begriffen werden kçnnen. Tat und Entscheidung sind ihrer gehaltlichen Dimension nach vielmehr selbst figurale Qualitten, weil sie sich gegenber einer kontinuierlichen Zeit diskontinuierlich verhalten. In einem spezifischen Sinne bilden Tat und Entscheidung Figuren fr Zeit,

412 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas 1880 – 1950, 92 f.; Walter Hçllerer: Warum dieses Buch gemacht worden ist. In: Spiele in einem Akt. 35 exemplarische Stcke. Hg. von Walter Hçllerer in Zusammenarbeit mit Marianne Heyland und Norbert Miller, Frankfurt/M. 1961, 546 – 559, bes. 548 – 550; Schnetz: Der moderne Einakter, 27 – 31; Bayerdçrfer: Vom Konversationsstck zur Wurstelkomçdie, 519; Kluge: Die Dialektik von Illusion und Erkenntnis als Strukturprinzip des Einakters bei Arthur Schnitzler, 484 bzw. 491; Scheible: Im Bewusstseinszimmer, 220 ff.; Neumann: Proverb in Versen oder Schçpfungsmysterium?, 183; Schultze: Vielfalt von Funktionen und Modellen in Geschichte und Gegenwart, 15 bzw. 17. 413 Kluge: Die Dialektik von Illusion und Erkenntnis als Strukturprinzip des Einakters bei Arthur Schnitzler, 494.

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weil sie Bedingungen fr eine Strukturierung von Zeit festlegen und damit Zeit in eine spezifische sinnhafte Erfahrung berfhren.414 Die Differenzierung ist an dieser Stelle erforderlich, weil sie deutlich macht, dass der Einakter keineswegs einfach einen Gehalt aufnimmt, den er der Spezifik seiner Handlungsstruktur nur amalgamiert. Vielmehr trifft an die Stelle der sequentiellen Dialektik, wie sie fr die klassische Dramaturgie kennzeichnend war, die Konzentration auf eine Zeitstelle, von der aus Zeit – legt man den Erlebnishorizont der Figuren zu Grunde – anders als bisher strukturiert und begriffen werden kann. Tatschlich ist die Insistenz, mit der die naturalistischen Einakter um Lebensentscheidungen und Taten kreisen, die das Kontinuum des Bisherigen durchbrechen, als Versuch verstehen, den Augenblick ihrer Verwirklichung als einen Moment von eminenter Flle hervorzuheben. Entsprechend konfiguriert der Einakter das „Momentane […] auf das Ganze“415 des Lebens hin, aber – anders als es Gerhard Neumann fr die Einakter Hofmannsthals gezeigt hat – nicht in seiner „nicht auflçsbaren Spannung“416, sondern als Bezglichkeit, in der der Lebensmoment das Lebensganze sinnhaft in sich aufnimmt. Das Verhltnis von „Zeitpunkt und Lebensganzem“417, das sich im „,Augen-Blick’“418 zur temporalen Grundform des Einakters konfiguriert, zeugt gerade von der sinnhaften Bezglichkeit beider Momente: Weil das Lebensganze momenthaft im Augenblick der Tat oder der Entscheidung aufgeht und weil sich – umgekehrt – der Augenblick der Tat auf das Ganze des Lebens bezieht, markiert der Einakter die Grundstruktur von Referenz, in dem er in einer Art dramatischer Synekdoche Lebensmoment und Lebensganzes auf einander bezieht. Sie verhalten sich wie die beiden Seiten einer Einheit, deren Sinn sich nur in der Bezglichkeit und im Verhltnis ihres wechselseitigen Verweisens herstellt. 414 Die Formulierung ist am rhetorischen Begriff der Figur orientiert und meint im allgemeinsten Verstndnis eine Struktur, die die Art und Weise der Bedeutungserzeugung im Text festlegt. Vgl. auch die verwandten, die Differenz von fixierbarem Zeitpunkt und ,einbrechendem‘ Augenblick zu Grunde legenden berlegungen bei Hans Hollnder: Augenblick und Zeitpunkt. In: Ders./ Christian W. Thomsen (Hg.): Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt 1984, 7 – 21, 18 f. 415 Neumann: Proverb in Versen oder Schçpfungsmysterium?, 184. 416 Ebd. 417 Ebd., 185. 418 Ebd.

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In dieser Hinsicht erweist sich der Einakter als Moment eines lebensphilosophischen Aufbruchs, dem freilich gerade sein Unmittelbarkeit versprechendes Zentralkonzept – das Leben – zum Problem wird.419 Dass Tat und Entscheidung, erst recht in ihrer radikalisierten dezisionistischen Form, zu den ideologischen Weiterungen von lebensphilosophischen Impulsen zhlen, die im spten 19. Jahrhundert wurzeln, belegen die Entwicklungen der 1920er Jahre wie die mehrheitlich lebensphilosophische Sozialisation ihrer Autoren, die auf ausgeprgte Nietzsche- und Bergson-Lektren zurckblicken kçnnen.420 Frhe Konstellationen einer solchen sthetisch gewendeten Philosophie des Lebens lassen sich gerade am naturalistischen Einakter nachweisen. Sie zielen auf einen Vorstellungsgehalt, der im Namen des zur transzendentalen Bedingung vergrçßerten Lebens als Dialektik von Verfehlung und Erlçsung, von immer gleicher Erfahrung und radikaler Diskontinuitt gedacht wird. Mit Blick auf die hier relevanten Texte mssen entsprechend zwei Formen dieser ,Transzendentalitt‘ unterscheiden werden. In einer ,schwachen‘ Struktur zielt der Einakter auf einen Augenblick, der lediglich einen Riss in der begreifenden Auffassung des Lebens darstellt. Gegenber dem bisher gelebten Leben erhebt sich ein momentanes Verstehen, das das Kontinuum des vertrauten Lebens als Missverstndnis entlarvt und das Leben in seiner ,eigentlichen‘ Bedeutung hervortreten lsst.421 Die ,starke‘ Struktur dieser ,Transzendentalitt‘ dagegen zielt auf die Stiftung eines neuen, mindestens aber wieder erstarkten Lebens; insofern geht in sie all das konzeptuelle Material ein, das dem Naturalismus im Namen des neuen Menschen einen ebenso vitalistischen wie lebensreformerischen Zug gibt. ,Neues‘ Leben heißt hier vor allem, die Lhmungen und Befangenheiten zu berwinden, die die Allgegenwart der Traditionen und akkumulierten Erfahrungen produziert und die der 419 Vgl. Wolfdietrich Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900 [1967]. In: Zˇmegacˇ (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, 18 – 48; Angelika Ebrecht: Das individuelle Ganze. Zum Psychologismus der Lebensphilosophie, Stuttgart 1992, 9 ff. und Schndelbach: Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 174 ff. 420 Vgl. Thom: Das Ich und seine Tat, 323; Krockow: Die Entscheidung. 421 Gegenber der Geschichtskategorie des Ereignisses, die an dieser Stelle nahe liegt, ist zu betonen, dass der Augenblick des Einakters keine Unverfgbarkeit, keinen kontingenten ,Einbruch’, meint. Vielmehr meint er eine Peripetie, eine Art metabol des Verstehens, in deren Umschlag ein eigentlicher, bislang verstellter Sinn hervortritt. Vgl. zu einem ereignisbasierten Verstndnis des sthetischen Augenblicks Horst Turk: Die Kunst des Augenblicks. Zu Schillers ,Wallenstein’. In: Hollnder/Thomsen (Hg.): Augenblick und Zeitpunkt, 306 – 324, 306 f.

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Naturalismus in einen Generalaffekt gegen das Geschichtliche und Kulturelle wendet; noch 1889 polemisiert Hermann Conradi mit kulturkritischem Elan gegen die „aufgeschichtete Summe der Gewesenheiten“.422 In einem bestimmten Strang der naturalistischen Einakter soll sich das Leben kurzerhand in bereinstimmung mit sich selbst bringen: Wenn das bisherige Leben nur die Schwchung seiner vitalen Substanz bedeutet hatte, dann soll das neue Leben die Tilgung dieser Lhmungen als seine Voraussetzung kenntlich machen.423 Symbolisch agiert der Einakter damit eine Modernittsfigur aus, die ihren modernen Gehalt gerade aus der strukturellen Tilgung und epochalen Amnesie von Vergangenheit hervorgehen lsst. Die Konstellation bewegt sich in großer Nhe zu dem, was Karl Heinz Bohrer ber Struktur und Semantik der „sthetischen Zeit“ bzw. des „sthetischen Scheins“ entwickelt hat.424 Auch Bohrer zielt auf eine ber die „Reduktion von Zeit auf einen Zeit-Punkt“425 vermittelte Prsenzerfahrung, und auch Bohrer bindet diese Prsenz an eine „formale[] […] Inkommensurabilitt“, die den Erfahrungsgehalt von Prsenz nicht einfach als kognitiv-diskursive ,Sache‘ mitteilt, sondern in die Spezifik „eines eigenen sthetischen Zustands“426 verlegt. Allerdings sind diese Prmissen ausdrcklich in den Kategorien „einer Autonomie des sthetischen“427 formuliert. Bohrers berlegungen richten sich auf eine dezidierte Abwehr von sthetischen Funktionalisierungen, die sich von Schiller ber die Romantik bis Peter Szondi und Hans Robert Jauss „Einsichten in die Geschichte“428 versprechen und insofern „[h]erme422 Hermann Conradi: Wilhelm II. und die junge Generation. Eine zeitpsychologische Betrachtung [1889]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Gustav Werner Peters. Bd. 3, Mnchen, Leipzig 1911, 307 – 446, 329. 423 Vgl. fr die Erzhlprosa der Zeit Marianne Wnsch: Das Modell der ,Wiedergeburt‘ zu ,neuem Leben‘ in erzhlender Literatur 1890 – 1930. in: Karl Richter/ Jçrg Schçnert (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess. Walter MllerSeidel zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1983, 379 – 408. 424 Vgl. die beiden Aufsatzsammlungen Bohrers: Plçtzlichkeit. Zum Augenblick des sthetischen Scheins und ders.: Das absolute Prsens. 425 Bohrer: Zur Vorgeschichte des Plçtzlichen. Die Generation des ,Gefhrlichen Augenblicks’, 43. 426 Bohrer: Zeit und Imagination. Das absolute Prsens der Literatur. In: Ders.: Das absolute Prsens, 143 – 183, 165. 427 Ebd., 144. Vgl. auch Ebd., 7, wo es Bohrer darum zu tun ist, die „Grenze des sthetischen Phnomens gegen das nicht-sthetische“ zu verteidigen. 428 Bohrer: Zeit und Imagination, 147.

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neutische Erkenntnis“ als „historische Erkenntnis“429 betreiben. Demgegenber geht es Bohrer um transzendierende Momente eines kontemplativen sthetischen Bewusstseins, das sich aus der nicht-sthetischen Zeiterfahrung heraushebt.430 Die Spezifik der naturalistischen Einakter besteht allerdings darin, dass an ihnen die gegenlufigen Hermeneutiken von geschichtlichem und sthetischem Zeitbewusstsein nicht sinnvoll weiter verfolgt werden kçnnen. Vielmehr muss die Analyse eine gewissermaßen dritte Position beziehen. Sie verbindet Bohrers Einsichten in die Spezifik sthetisch erzeugter Zeiterfahrungen mit einem Referenzgesichtspunkt, der die Texte (und sei es auch nur imaginr) in einem Außersthetischen – dem Leben und seinen Erneuerungen – finalisiert. Auch an dieser Stelle bewegt sich der Naturalismus – wie in einem paradoxalen Grenzgang – mit den Mitteln des sthetischen auf eine Prsenz zu, die die Konventionen autonomer sthetischer Zeichenverwendungen hinter sich lsst. Wenn das Leben als das ,eigentliche‘ Textsignifikat des Einakters auftritt, dann zeigt der Naturalismus an, dass sich seine Emphase des Augenblicks an einer imaginren Grenze bewegt, hinter der das Leben selbst liegt. 1894 debtiert der erst 21jhrige Georg Hirschfeld beraus erfolgreich mit einem Einakter unter dem Titel Zu Hause. Hirschfelds „Schauspiel in einem Akt“ ist leicht als Nachbildung einer dramatischen Grundkonfiguration zu entziffern, die schon Hauptmanns frhe naturalistische Dramen – insbesondere Vor Sonnenaufgang und Das Friedenfest – prgten. Die berdeutliche Nhe zu einem eingestandenen Vorbild hat Hirschfelds frhe Erfolge freilich nicht geschmlert; Hauptmann soll Hirschfeld als einzigen ernsthaften Konkurrenten betrachtet haben, und noch Rilke hat Hirschfeld bewundert und mehrfach dessen persçnliche Nhe – zunchst in Prag, dann in Mnchen – gesucht.431 Tatschlich gibt sich das Stck primr als Fortschreibung naturalistischer Handlungsmotive zu erkennen. Zunchst variiert der Text ein prominentes naturalistisches Motiv – die Rckkehr des Sohnes in eine zum regressiven „Sumpf“432 entartete Familie –, die dem Heimkehrer schließlich den „Entschluß“433 nahe legt, eine „nderung“434 der Ver429 Ebd. 430 Vgl. Ebd, 153 ff. 431 Informationen zu Hirschfeld finden sich in: Einakter des Naturalismus. Hg. von Wolfgang Rothe, Stuttgart 1973, 211 – 213. 432 Georg Hirschfeld: Zu Hause. Schauspiel in einem Akt [1893]. In: Einakter des Naturalismus, 45 – 82, 74. 433 Ebd., 79.

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hltnisse herbeizufhren. Als naturalistisch erweist sich zudem die ausgeprgte Milieubindung, vor allem aber die Art und Weise, wie das Stck die soziologistischen und biologistischen Implikationen des Naturalismus miteinander verbindet. Wie schon in Hauptmanns Friedensfest erscheint die Familie als eine Degenerationsgemeinschaft, die ihren Zusammenhalt allein noch in den Gemeinsamkeiten ihren degenerativen Lhmungen findet. Bezeichnenderweise endet die Dramenhandlung, ohne dass deutlich wrde, ob und wie Ludwig Doerges den Bann der Dekadenz durchbrechen wird. Auf den ersten Blick stellt sich Hirschfelds Einakter damit wie ein Arsenal eingefhrter naturalistischer Motive dar. Beinahe topisch wirkt die Insistenz, mit der beinahe alle Figuren in das zeittypische Gewand neurasthenischer Zerstreuungen und psychosomatischer Leiden gekleidet werden: Frau Doergens, eine hypnotische, allerdings in die Jahre gekommene femme fatale, bewegt sich in unablssig „nervçs[en]“435 Zustnden durch das Geschehen, ihr Sohn Arthur, ein mit neunzehn Jahren bereits „arg verlebte[r]“436 Parven, wirkt in seinen gegenlufigen Handlungsimpulsen zwischen „lstern[er]“437 Erregung und Apathie438 wie eine Allegorie der nervçsen Gereiztheit, zumal er sich in seiner „hypermodern[en]“439 Kleidung schon symbolisch auf der Hçhe eines nervçsen Habitus bewegt.440 Doergens senior erinnert in vielem an Hauptmannsche Vorbilder; wie Dr. Scholz (Das Friedensfest) erscheint auch Doergens „[v]erfallen“, sein „gelblich[er] [Teint]“441 verweist auf chronische Erkrankungen und auch Doergens trgt in seiner Ausdrucksweise – gemß Regieanweisung „spricht“ er „fahrig“ und „verwirrt“442 – Zge aphasischer Symptome.443 Das ganze Ausmaß der degenereszenten Entfremdung, die die Familie kennzeichnet, zeichnet sich ab, wenn Doergens seinen Sohn Ludwig, der nach „drei Jahre[n]“444 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443

Ebd., 77. Ebd., 48, 50, 57, 60. Ebd., 54. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd. Ebd. Entsprechend betreibt Arthur auch Bçrsengeschfte. Vgl. Ebd., 79. Ebd., 57. Ebd. Vgl. Gerhart Hauptmann: Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe [1890]. In: Ders.: Smtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass. Bd. 1: Dramen, Darmstadt 1966 [Centenar-Ausgabe Bd. 1], 99 – 165, 113. 444 Hirschfeld: Zu Hause [1893], 67.

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Ttigkeit als „praktischer Arzt“445 in Straßburg in das Haus der Eltern zurckkehrt, nicht wieder erkennt. „Noch’n Gast“ glaubt Doergens vor sich zu haben, wenn er seinen Sohn „mit blçdem, licht-verwirrten Blick“446 begrßt, whrend Trudchen, die junge Tochter der Familie, „langsam“447 und „[f ]r immer gelhmt“448 „zerfllt“449. Dramaturgisch besitzt die Rckkehr Ludwig Doergens in das elterliche Haus zunchst die Funktion, Klarheit ber die familiren Verhltnisse zu schaffen. Durch die „ußerlich unbefangen[e]“450 Situation der Familie hindurch bewegt sich ein Verfallsgeschehen, dass die Familie auch in moralischer Hinsicht als jenen dekadenten „Sumpf“451 entlarvt, der in der analytischen Struktur des Einakters als deren „Wahrheit“452 hervortritt. „Noch einen Tag lnger“, bekennt Doergens mit Blick auf die außerehelichen Beziehungen seiner Frau wie mit Blick auf die haltlosen Verschwendungen, „eine Stunde lnger – nein! Dann wr‘ es vorbei gewesen.“ Doergens. […] wir leben in einem Sumpf … ich kann’s ja nich mehr aufbringen, was gebraucht wird … schon lange nich mehr – und da geht’s denn immer tiefer, immer tiefer … Rauskommen kann ich nich mehr … immer geben … den ganzen Tag lauf ich rum … wie’n Hund … bezhme mir nich das Geld zur Pferdebahn … um was zu verdienen … und abends … wenn ich’n paar Groschen habe … dann muß ich abliefern … wie’n Betteljungen… Dann muß ich liebenswrdig sein mit den Schmarotzern, die sie sich einladet … dann muß ich mde wie’n Hund die Nchste durchsitzen … und komm ich ins Bett … dann hlt mich die Sorge wach … bis ich wieder raus muß … raus in die Klte … am frhen Morgen. Das sind unsere Verhltnisse! Das sollte ich Dir sagen! Das!453

Das, was hier „mit mhsam ringender Stimme“454 vorgetragen und im Text nur noch rudimentr als zusammenhngende ußerung kenntlich gemacht wird, setzt sich in der Erwartung der Mutter fort, dass Ludwig, der seine medizinischen Kenntnisse als Praktikant zunchst noch erwei445 446 447 448 449 450 451 452 453 454

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.

49. 67. 66. 68. 66. 63. 74. 73. 74.

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tern mçchte, „jetzt schon praktizieren“455 solle. „Was verdienen sollst du“, lautet die Erwartung, „Arzt bist du jetzt, Empfehlungen hast du – nun laß dich hier nieder und bring dir was ein!“456 Der haltlose Materialismus, der der Mutter in den Mund gelegt wird, zielt freilich nicht auf eine weitere moralische Diskreditierung der Verhltnisse, sondern auf eine semantische Verdichtung, die als Moment der Verdichtung selbst lesbar werden soll. Das gesamte Stck bewegt sich von Beginn an auf einen Augenblick zu, in dem das gelebte Leben im Bewusstsein einer Figur als radikale Verfehlung begriffen und diese Verfehlung zugleich in einen Moment von „Entschluß“457 und „Opfer“458 berfhrt wird. „Nie war mir“, bekennt Ludwig „leichenblaß“, „meine Aufgabe so klar wie gerade jetzt.“ Ludwig. Unser Leben muß anders werden. Und es wird anders werden. Wo sollte das sonst hinaus? Vertrau mir nur, Papa – du bist als – – ich werde fr eine nderung sorgen. […] (wendet sich zu Frau Doergens). Mama, eh‘ unsre Gste wieder reinkommen, mçchte ich dir den Entschluß mitteilen, den ich gefaßt habe. […] Ich sehe, was bei dem jetzigen Leben aus uns geworden ist. Papa ist so furchtbar verndert – ich kann es gar nicht sagen. Und ihr beide, du, Mama, und Arthur – ihr seid auch ganz anders, als ich euch in der Erinnerung hatte. […] Eigentlich ist es gegen mein Gefhl … aber da wir uns berhaupt nicht so leicht zu verstehen scheinen, will ich dir sagen, was ich will. Ich will, daß dies – Vegetieren aufhçrt, ich will, daß wir freinander, nicht fr den Genuß leben! […] Frau Doergens (ironisch). Du willst viel. Ludwig (zusammenzuckend). … Ich denke nicht. Im Vergleich zu dem, was ich dafr biete … Ich gebe ja alles, was ich habe. Meine ganze Kraft. Und verlangen tu ich dagegen nur, daß ein geordnetes, zufriedenes Familienleben anfngt.459

In gewisser Weise zielt die gesamte, fr den Naturalismus so bezeichnende degenereszente Motivik auf die Profilierung einer Formteleologie, die ihre beiden Zeitfiguren – Entscheidung und Opfer – als eigentlichen Gehalt des dramatischen Geschehens gewichtet. Bevor die Dekadenz in Gestalt des betont „treuherzig[en]“460 Hausfreunds Schlçsser das letzte Wort behlt, produziert der Text eine Situation, die dem verfehlten Leben das 455 456 457 458 459 460

Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

71. 79. 77. 77 – 81. 82.

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III. Poetik der Tat

Pathos einer Lebensaufgabe entgegenhlt. Sie besteht darin, dass der heimgekehrte Sohn von seinen eigenen Bedrfnissen absieht – „Ich werde […] schriftlich arbeiten und außerdem Assistenzart sein“461, lautet Ludwigs Entscheidung –, um den familiren „Sumpf“ wieder in ein „geordnetes, zufriedenes Familienleben“ zu lenken. Jenseits des persçnlichen „Opfer[s]“, das Doergens senior nicht „annehmen“462 will, zeichnet sich damit kein gehaltliches, sondern ein formales Problem ab. Es besteht darin, dass Hirschfelds Text zwei dramatische Bewegungsrichtungen mit einander konfrontiert, die den Sinn des Einakters als Sinn seiner Form erfahrbar machen; dass sich das Stck in einem offenen Ende verliert, entspricht nur dieser Doppelstrebigkeit. Tatschlich muss der gesamte rcit von kulturellem Verfall und anthropologischer Entartung primr als Problem seiner Darstellbarkeit begriffen werden. Lçst man sich von ihren kulturdiagnostischen Ansprchen, so bilden Degeneration und Entartung lediglich ein Verlaufsschema, das, bedenkt man zumal seinen genealogischen Subtext, eine Kette von ereignislosen Wiederholungen darstellt; insbesondere das naturalistische Erzhlen hat es mit dem Problem zu tun, dass sich das ,Ereignis‘ der Degeneration mit jeder weiteren Reprise innerhalb des genealogischen Schemas in ein prekres Nicht-Ereignis verwandelt.463 In dieser Hinsicht entfaltet sich Hirschfelds Einakter als Kryptodramaturgie eines Geschehens, das das immer gleiche Ereignis der Degeneration auf sein Syntagma abbildet und so fortwhrend symbolische Reproduktionen ausschreibt. Gegen diese Reproduktivitt profiliert Hirschfelds Einakter einen „Entschluss“, dessen Pathos darauf zielt, die Kette der Ereignislosigkeiten zu durchbrechen und als ein von „Kraft“ und Erneuerung wieder erstarktes Leben umzuschreiben: Nichts anderes bedeutet es, „wieder zu Hause“464 zu sein, als auf die Kraft eines „Opfer[s]“465 zu vertrauen, dass sich zumutet, das Leben aus dem Bann seiner Verfehlungen herauszufhren. Drei Jahre vor Hirschfeld war bereits Alexander Lange Kielland mit einem Einakter unter dem Titel Auf dem Heimwege hervorgetreten. 1890 in der Freien Bhne uraufgefhrt, belegt der Umstand, dass das „Charakterbild in einem Akt“ gemeinsam mit der Familie Selicke von Arno 461 Ebd., 77. 462 Ebd. 463 Vgl. Riccardo Nicolosi: Der Degenerationsroman. Wissen und Erzhlen im Russland der 1880er Jahre. Habilschrift, Manuskript Konstanz 2008. 464 Hirschfeld: Zu Hause [1893], 82. 465 Ebd.

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Holz und Johannes Schlaf zur Auffhrung gelangte, die erhebliche Wertschtzung, die Kielland als Reprsentant des ,nordischen Naturalismus‘ in Deutschland lange Zeit genoss.466 Wie der Untertitel des Stcks andeutet, versteht sich Kiellands Einakter als Zustandsbild, das sich – hnlich wie Hirschfeld – durch das semantische Feld von Heimat und Fremde, von Nhe und Ferne bewegt. Auch Kiellands kurzer Text hat damit Anteil an jenem familialen Mythos von Auszug und Einkehr, der dem Naturalismus dazu dient, die vielfltigen Beschdigungen der Familie in einem Bild von Verfehlung und schließlicher Umkehr zu beschwichtigen. Entsprechend verdichtet sich das Geschehen des Einakters zu einem Purgatorium einer inneren Entscheidung, die den aus „Charakterschwche“467 straffllig gewordenen Harald Nordahl, zunchst, d. h. nach dem Nordahl Buße im „Zuchthaus“468 getan hat, in die ,Heimat‘ seiner Familie zurckfhrt, um ihn schließlich in eine imaginre Fremde ausziehen zu lassen. Dieser mythische Text, der mit der Ambivalenz von echter und falscher Reue spielt, zentriert sich um einen Augenblick, in dem Nordahl unter der Anleitung seiner Frau im emphatischen Sinne „versteh[t]“469. Auf den wenigen Seiten des Textes zielt der Einakter auf eine ,Hermeneutik‘ des Lebens, die sich willig unter die inneren Nçtigungen einer „Reue“ stellt, die die moderne Kultur nur verfehlen kann. Echte Reue, die sich den Einzelnen „selbst wieder finde[n]“470 lsst, muss sich – wie Frau Nordahl gegen die Kulturlgen von Staat und Kirche hervorhebt – in den Regeln der institutionalisierten Buße, ihren ußerlichen Gesetzen verfehlen, weil die Hllen der staatlichen und kirchlichen Intervention an das Selbstverhltnis des Menschen nicht heranreichen: Frau Nordahl (fhrt heftig empor). Lge […]! […] Glte es, ein Mittel zu erfinden, um den Willen bei jeder Versuchung zu lhmen, man kçnnte kein sichereres Mittel finden, als dieses: bestndig dem Menschen vorzuwim466 Vgl. Einakter des Naturalismus, 213 f. Die Urauffhrungsmatinee in der Freien Bhne ist u. a. auch von Theodor Fontane besprochen worden. Fontane hielt Kiellands Einakter wegen seiner „verschrobenen Tendenzen“ allerdings fr „Mumpitz“. Vgl. Theodor Fontane: Holz/Schlaf: Die Familie Selicke; Kielland: Auf dem Heimwege [8. 4. 1890]. In: Ders.: Theaterkritiken. Bd. 4: 1884 – 1894. Hg. von Siegmar Gerndt. Mit einem Nachwort von Karl Richter, Mnchen 1979 [Werke und Schriften Bd. 33], 229 – 232, 232. 467 Alexander L.[ange] Kielland: Auf dem Heimwege. Charakterbild in einem Akt [1890]. Aus dem Norwegischen bersetzt von Emma Klingenfeld. In: Einakter des Naturalismus, 29 – 44, 43. 468 Ebd., 30. 469 Ebd., 44. 470 Ebd.

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mern: ,Ach, wir sind alle so schwach!‘ Durch die Verdrehung einer schçnen Lehre baut man eine Brcke […] hinber zum Verbrechen. Und auf demselben Wege fhrt man den Verbrecher zurck durch halbe Reue zu einer halb-ehrlichen Gesellschaft. Darum ist die Kluft zwischen einem ehrlichen Mann und einem Schwindler fast ausgefllt in unserer çffentlichen Moral […]. Charakterschwche, die Verbrechen zur Folge hat, wie das meines Mannes, ist nur ein trauriger Beweis dafr, wie eine schlaffe Nachsichtsmoral vermag, die besten Anlagen zugrunde zu richten.471

Der lebensreformerische Elan dieser ußerungen472 kann sich seiner agonalen Logik nach nur an einem Augenblick beschwichtigen, in dem sich Nordahl – im Rcken seiner kulturellen Existenz – einer ,echten‘ Buße ausliefert. Wenn der Vorhang fllt, hat sich Nordahl durch die existenzialistische Hrte seiner Frau hindurch auf einen Moment zu bewegt, in dem der Sinn eines Lebens, das sich in den Lgen der „çffentlichen Moral“473 bislang verfehlt hat, schlagartig als unzureichend begriffen wird. Auch bei Kielland konfiguriert sich der Einakter zu einer augenblickshaften Zsur der Entscheidung, die als Riss durch den Sinn der Kultur verluft und die insofern auf einen substantiellen Neuentwurf des Menschen nach der Kultur zielt. Es gehçrt zur Emphase dieses verstehenden Moments, dass die semantischen Konstellationen des Textes schließlich ber Kreuz geraten: Wenn die Logik der Kultur darin besteht, den Menschen durch die „Reue […] einer halb-ehrlichen Gesellschaft“474 471 Ebd.,42 f. 472 Kielland befindet sich damit im Fahrwasser der zeittypischen Bemhungen um eine ,ethische Kultur’, die sich gegen brgerliche und christliche Moraltraditionen richtet. Wichtige Vorbildfunktionen gehen von den englischen Societies for Ethical Culture aus, die ab 1892 in Deutschland vergleichbare Vereinsgrndungen (Verein fr ethische Kultur, Ethischer Konzil) anregen. Der dritte und vierte Jahrgang der Freien Bhne widmet der ethischen Bewegung 1892 ausfhrliche Stellungnahmen, darunter Beitrge von Heinrich Hart, Wilhelm Bçlsche, Christian von Ehrenfels und Willy Pastor. Zu den aufflligen persçnlichen Verflechtungen, die Grndungen wie die Gesellschaft fr ethische Kultur und den Ethischen Klub mit der Durch!-Vereinigung und ihrer Nachfolgegruppe, dem Friedrichshagener Dichterkreis (ab 1890), verbinden (Bruno Wille, Wilhelm Bçlsche, Heinrich und Julius Hart), vgl. Gertrude Cepl-Kaufmann/Rolf Kauffeldt: Friedrichshagener Dichterkreis. In: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bnde 1825 – 1933, 112 – 126, 113; dies.: Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis, Mnchen 1994; Karin Bruns: Ethischer Klub [Berlin]. In: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bnde 1825 – 1933, 91 – 95. 473 Kielland: Auf dem Heimwege [1890], 43. 474 Ebd.

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hindurch in die Heimat seiner Familie zurckzufhren, dann bewegt sich der neue Mensch aus der Fremde der Kultur in die Heimat eines Selbstverhltnisses, das Reue gerade im Bruch mit der Familie, d. h. in der Tilgung aller sozialen und kulturellen Bezge zeigt. Erst in diesem Moment, der die „Charakterschwche[n]“475 der modernen Kultur hinter sich lsst, ist der Mensch auf einem „Heimweg“ zu sich selbst: Frau Nordahl (halblaut). Doch noch ist nicht alles verloren […]. (Indem sie sich plçtzlich gegen Nordahl wendet, fhrt sie mit vernderter Stimme fort.) Denn du hast nicht bereut! – Httest du bereut in Kummer und Scham, dann wr ich die letzte, die du aufgesucht. In den fernsten Erdenwinkel httest du dich verkrochen, froh, im verborgenen fr diejenigen arbeiten zu drfen, die du so grausam betrogen. Und wenn du dann dich so elend gefhlt, dass du an deine unschuldigen Kinder, an dein rechtschaffenes Weib nicht httest denken kçnnen, ohne zu errçten […] – dann htt‘ ich meine kleine Schar um mich gesammelt und wre fortgeeilt […] zu dir, geliebter Mann! […] Und darum kmpf ich diesen harten Kampf fr dich, kmpfe dafr, dass du dich selbst wieder findest […]! Nordahl (macht einen Schritt nach der Ausgangstr). Marie! Jetzt versteh ich dich. – Ich danke dir! Frau Nordahl (ihm entgegengehend). Ich hab ihn wiedergewonnen! Nordahl (vor ihr niederkniend). Vergib, vergib! […] (gegen die Tr gehend). Leb wohl, Marie! Lebt alle wohl! […] (Die Kinder weinen.) Frau Nordahl. Leb wohl! – Bald sehen wir uns wieder! […] Otto (Frau Nordahl hastig bei der Hand fassend). Mutter, Mutter! Soll er denn jetzt wieder von uns reisen? Frau Nordahl (streicht ihm bers Haar). Nein, mein Junge! Jetzt ist dein Vater auf dem Heimwege. Der Vorhang fllt. 476

Wie verdeckt die Textkonstellationen der Frhen Moderne fr den heutigen Blick verlaufen, bezeugt der erhebliche Anteil, den das dramatische Frhwerk Rilkes an den hier beschriebenen Konstellationen besitzt. Schon Rilkes Wertschtzung fr Hirschfelds Dramatik, der er 1897 eine eigene Besprechung widmet,477 weist in diese Richtung. Rilke hat seine kaum ein Jahrzehnt umfassende dramatische Produktion (1894 – 1901)

475 Ebd. 476 Ebd., 43 f. 477 Vgl. Rainer Maria Rilke: Georg Hirschfeld und Agnes Jordan [1897]. In: Ders.: Schriften. Hg. von Horst Nalewski. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bnden. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Flleborn, Horst Nalewski und August Stahl. Bd. 4, Frankfurt/M., Leipzig 1996, 43 – 51.

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allerdings recht schnell aus seinem ,gltigen‘ Werk verbannt,478 und die Literaturwissenschaft hat diese Selbstverbannung dankbar aufgenommen, weil sie sie von der Frage entlastet hat, wie ein offenkundig zweitrangiges Frhwerk zu bewerten ist, dass sich selbst in den historischen Auslufern des Naturalismus lokalisiert hat.479 Wie die Korrespondenzen, vor allem aber die frhen programmatischen Stellungnahmen zeigen, hat sich Rilke in den 1890er Jahren alle wesentlichen Tendenzen des deutschsprachigen Naturalismus erschlossen; die Lyrikanthologie Moderne Dichtercharaktere war ihm vertraut, ebenso Michael Georg Conrads „Realistisches Wochenblatt“ Die Gesellschaft, darber hinaus hat er die bis 1900 erscheinenden Dramen Hauptmanns sowie einzelne Texte von Arno Holz und Johannes Schlaf gut gekannt. Persçnliche Beziehungen verbanden Rilke mit Max Halbe, Gabriele Reuter und Michael Georg Conrad, hnliche Bewunderung wie fr Hirschfeld hegte er fr Detlev Liliencron.480 Anders als im Falle Schnitzlers oder Hofmannsthals ist Rilkes ausgeprgtes Interesse am Einakter indes kaum dazu verwendet worden, Rilkes dramatisches Frhwerk mit den Tendenzen der literarischen Mo-

478 Sehr grundstzlich bereits 1907, dann aus Anlass einer vom Insel-Verlag geplanten Sammlung von frhen Texten (1921) und schließlich nochmals 1922. Vgl. die bei Sascha Lçwenstein: Poetik und dichterisches Selbstverstndnis. Eine Einfhrung in Rainer Maria Rilkes frhe Dichtungen (1884 – 1906), Wrzburg 2004, 14 f., dokumentierten brieflichen ußerungen. Eine vglw. diskrete Distanzierung findet sich allerdings schon in einem Brief an die Mutter vom Dezember 1896, wo es heißt, dass „ich [R.M.R., I.S.] ber das Ungesunde, Zersetzende meines ,Sturm und Drang‘ hinaus bin, ohne dabei der Jugend jubelhelles Junifeuer eingebßt zu haben […]“. Brief an die Mutter vom 8.12.1896. Zit. nach dem editorischen Kommentar in Rainer Maria Rilke: Smtliche Werke. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 8: Frhe Erzhlungen und Dramen. 2. Hlfte, Frankfurt/M. 1961, 1050. 479 Vgl. Irina Frowen: ,Die Szenerie war Abschied’: Theater und Schauspiel im Kontext des Rilkeschen Werkes. In: Patterns of Change. German Drama and the European Tradition. Essays in Honour of Ronald Peacock. Edited by Dorothy James and Silvia Ranawake, New York, Bern, Frankfurt/M., Paris 1990, 207 – 213, 208; Klaus Siebenhaar: ,Die neue dramatische Schulung.‘ Rainer Maria Rilke und das Berliner Theater um 1900. In: Bltter der Rilke-Gesellschaft 23 (2000): Berlin – Wien. Stationen der Moderne, Stuttgart 2000, 26 – 33, 27 f.; Mnchow: Das ,tgliche Leben’, 9, 11; Ritzer: Dramatische Dichtungen, 264. 480 Vgl. die in den von Horst Nalewski herausgegebenen vierten Band der Werke aufgenommenen frhen Schriften, die das Spektrum von Rilkes Kenntnissen belegen. Hinweise gibt auch Mnchow: Das ,tgliche Leben’, 12.

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derne in Einklang zu bringen.481 Dabei htte schon der Titel des ersten, 1896 uraufgefhrten Einakters – „Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens …“ – als Hinweis auf eine Zeitproblematik verstanden werden kçnnen, die in ihrer Sinnrichtung genuin modern ist. Durch ihren anspielungsreichen Titel hindurch – er zitiert die Gebetsformel, die in der rçmisch-katholischen Liturgie seit dem Mittelalter den Schluss des Ave Maria bildete482 – zielt die „Szene“ genretypisch auf einen herausgehobenen Moment, der die Bedeutungsflle des Lebens von seiner Grenze her, dem Tod, erschließt. Motivisch teilt der Text die topischen Zge, die auch Hirschfelds und Kiellands Einakter als naturalistisch ausweisen; hier wie dort verbinden sich Milieudarstellung, Dialektnachbildungen und elliptische Satzfrakturen zu einem Elendsbild, das seinen vordergrndigen Sinn in der Sentenz ausspricht, dass sich „Eine“, die „wovon zu nagen hat“, sich „auch den Luxus gçnnen [kann]“, „eine Tugend zu halten“.483 Schon die Textkunst des frhen Rilke lsst ahnen, dass die Einakter nicht in jenen sozialkritischen Deutungsritualen aufgehen, die den Naturalismus von Beginn an begleiten.484 Vielmehr haben sich die ußerlichkeiten des Naturalismus beim frhen Rilke bereits zum Zitat und zu ihrer eigenen historischen Reminiszenz gewandelt. Alles, was in Rilkes 481 Dies zeigt sich noch dort, wo das Frhwerk, wie bei Lçwenstein: Poetik und dichterisches Selbstverstndnis, explizit thematisch ist, aber auf das lyrische Werk beschrnkt bleibt, um auf diesem Weg eine implizite Kontinuitt mit Rilkes ,Reife’-Werk herstellen zu kçnnen. 482 Vgl. den editorischen Kommentar in Rilke: Smtliche Werke, Bd. 8, 1050. 483 Rainer Maria Rilke: ,Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens … ’. Szene [1896]. In: Ders.: Smtliche Werke, Bd. 8, 775 – 796, 787. Der Text ist zuerst im zweiten Heft (April 1896) der von Rilke herausgegebenen Zeitschrift Wegwarten erschienen, 1921 nochmals in der erwhnten Sammlung Aus der Frhzeit R.M. Rilkes. Vgl. Aus der Frhzeit R.M. Rilkes. Vers, Prosa, Drama (1894 – 1899). Hg. von Fritz Adolf Hnich, Leipzig 1921, 101 – 123. Die Urauffhrung des Stcks fand am 6. August 1896 am Deutschen Volkstheater in Prag statt. Der Umstand, dass der Einakter berhaupt aufgefhrt wurde, ist offenkundig auch der Grund, warum der Text, anders als andere Einakter Rilkes, in die spteren Werkausgaben des Insel-Verlags (1955 – 1966 und 1996) aufgenommen wurde. Vgl. die editorischen Kommentare in Rilke: Smtliche Werke, Bd. 8, 1033 – 1040, 1048 ff. und in Rainer Maria Rilke: Prosa und Dramen. Hg. von August Stahl. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bnden. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Flleborn, Horst Nalewski und August Stahl. Bd. 3, Frankfurt/M., Leipzig 1996, 1059 f. 484 Vgl. Thorsten Stegemann: Literatur im Abseits. Studien zu ausgewhlten Werken von Rainer Maria Rilke, Hermann Sudermann, Max Halbe, Gottfried Benn und Erich Kstner, Stuttgart 2000, 15; Mnchow: Das ,tgliche Leben’, 20.

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III. Poetik der Tat

Einaktern an die lteren Gegenstndlichkeiten des Naturalismus erinnert, bewegt sich bereits auf der Grenze zu einer Symbolizitt, die sich in einer Gegenbewegung zur Detailtreue des Naturalismus auf deren Abstraktionen konzentriert und damit einen gewissermaßen elementaren Sinn hervortreten lsst. Wenn die zum Teil parallel zu den Einaktern entstehenden „Psychodramen“ (1894/95), erst recht die lyrisierten und ins rituelle Schweigen emigrierenden Fassungen der Weißen Frstin (1898, 1904) nur mehr als symbolische Gebilde zu lesen sind, dann spalten Rilkes Einakter die konventionellen naturalistischen Darstellungstechniken insofern bereits ab, als sie auf eine andere Zeichenordnung zielen. Entsprechend markiert der Zitatcharakter der naturalistischen Sprache in den Einaktern eine Situation, die durch ihren Naturalismus hindurch Momente einer elementaren und bedeutenden Erfahrung des Lebens prpariert, und es sind diese Momente, die die programmatischen Texte derselben Werkphase mit der Zumutung belasten, das individuelle Lebenserlebnis zur Wieder-Vergegenwrtigung einer ehemals ,gemeinsamen‘ Abkunft aller auszugestalten. Um die inneren Entscheidungen und tatkrftigen Momente, um die Rilkes frhe Einakter kreisen, ordnet sich eine Mytho-Poetik des Lebens an, die den bedeutenden Lebensmoment des Einzelnen auf die imaginre Gegenwart eines „den Menschen berhaupt Gemeinsames“ hin çffnet.485 In entsprechender Weise hat man auch Rilkes „Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens …“ als symbolische Struktur zu verstehen. Der Text verwendet eine an Holz/Schlaf und Hauptmann geschulte Szenerie, in der das materielle Elend der Hauptfiguren – im Mittelpunkt stehen die todgeweihte Frau Grtner und ihre beiden Tçchter Helene und Trudi – eine fr den Naturalismus typische Zwangssituation erzeugt. Determiniert durch die materielle Abhngigkeit von Lippold, dem Vermieter der Familie Grtner, gibt sich Helene, die ltere Tochter, Lippold hin, um den drngenden Mietforderungen entkommen zu kçnnen. In der buchstblichen „Stunde des Absterbens“ bekennt Frau Grtner, dass sie einst „den Lippold gern g’habt“ hat und Lippold aus diesem Grund der leibliche „Vater“486 Helenes ist. In dieser kalkulierten Verfehlung zweier Lebensmomente, die sich im Inzestmotiv zu einer fatalen Konsequenz zusammenschließen, zeigt sich, dass es keinen Ausweg aus den Verfehlungen geben wird. 485 Rainer Maria Rilke: [1900]. In: Schriften, 161 – 172, 165. 486 Rilke: ,Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens …‘ [1896], 795.

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Dramaturgisch ist auch dieser Einakter als Doppelstruktur komponiert. Dem analytischen Enthllungscharakter der Szene,487 die allmhlich Aufschluss ber die Verstrickungen der Familie gibt, steht ein Augenblick gegenber, der als Entscheidung und Opfer einen Ausweg aus der Situation bewerkstelligen soll. Im inneren Kampf der lteren Tochter produziert der Text eine Opfersituation, deren handgreifliche Realitt in der andeutungsreichen Stille der Regieanweisungen zum Ausdruck kommt: Helene wirr, von Schluchzen unterbrochen: O mein Gott, mein Gott, was soll ich tun …. gib mir nur, nur jetzt Hilfe …. laß mich jetzt nicht verzweifeln …. Ich opfere mich ja …. Mein Leben opfer ich gern. Aber meine Tugend, Gott …. Gott …. das kann …. das kann ja nicht sein …. Sei doch barmherzig, ich war …. ja fromm …. Gott, Gott! […] – Strzt davon, man hçrt den Schritt hastigen treppabwrts, dann eine Tre gehen, zuschlagen, dann wird es still …. Indessen ist das Kerzenstmpfchen auf dem Tische verloschen. Die Bhne ist ganz finster. 488

Fr sich genommen fungiert das Opfer, zu dessen erlçsender Kraft Helene im ußersten Moment einer existenziellen Entscheidung Zuflucht findet, als Augenblick einer Beschwichtigung, die der Familie ber die Not der unmittelbaren Gegenwart hinweghilft. Auch hier ist das Selbstopfer, wenn auch nur noch in den Restbestnden seines christologischen Sinns, eine Tat, die primr die anderen begnstigt, und dass Helene ausdrcklich „nur, nur jetzt Hilfe“489 erfleht, macht ein Zeitbewusstsein sichtbar, das ganz in der Gegenwart eines Entschlusses aufgeht, der von sich selbst absieht. Wenn es dennoch eine Komplikation in dieser Szene gibt, dann die, dass Helenes Opfer, das eine Lçsung aus den familialen Verstrickungen ins Werk setzen soll, gegen seine Intention als fortgesetzte Schuld entlarvt wird. Helenes Opfergang nimmt die opfertheologische Vorstellung der Wandlung auf, transformiert sie aber so, dass der Sinn des Opfers nur das Verschuldungsgeschehen der Vergangenheit bekrftigt und verstrkt. Wie in einer Art subvertierendem sacrificium berschreibt der Text das Opfer mit einem inzestuçsen Geschehen, das den Opfergang immer weiter in das Verschuldungsgeschehen der Familie hineintreibt. So versetzt das Stck seine dezisionistische Zeitstruktur in ein eigentmliches Zwielicht. Denn die schuldbewusste Enthllung der Mutter verfehlt den Opfergang der Tochter. Weil die Enthllung zu spt eintritt, 487 Vgl. Ebd., 793. 488 Ebd., 791, 793. 489 Ebd., 791.

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III. Poetik der Tat

richtet sich die Opfertat Helenes gegen ihren intendierten Sinn, und man muss die inzestuçse Beschdigung der Opferhandlung entsprechend als das nehmen, was sie symbolisch ist: als eine durch den inzestuçs wieder eingesetzten Vater hindurch laufenden Kommentar zu den Mçglichkeiten, einem in den Lhmungen der Vergangenheit befangenen Leben zu entkommen. Insofern zielt Rilkes Einakter keineswegs auf eine inzestuçse Wiedererstattung des Vaters, sondern auf die Unmçglichkeit, aus dem Bann von Verhltnissen auszubrechen, die durch eine bermchtige und immer wieder in sich selbst zurckkehrende Vergangenheit (Inzest) geschaffen worden sind. Lange vor den radikalen Geschichtstilgungen der Klassischen Moderne kann man diesen historischen Lhmungen in fast allen spteren Stcken Ibsens beiwohnen – gleich ob es sich um das Ausgeliefertsein an eine degenereszente Genealogie (Gengarere) handelt, um die mythische Macht von ,Geschichts-Orten’ (Rosmersholm) oder um eine Gegenwart, die in einem thatre d’absence von der bermacht der allgegenwrtigen Toten dominiert wird (Hedda Gabler). In Hedda Gabler steht der weiblichen Hauptfigur der Sammler Dr. Jørgen Tesman entgegen, der in einer grellen berzeichnung der historistischen Mentalitt mit dem Archivieren von Dingen und dem Kommentieren von Schriftstcken befasst ist.490 Den Spuren des abgelebten Lebens entspricht eine Zeit ewiger Wiederholung, die in der Konservierung fremder Lebenszeugnisse das eigene Leben verrinnen lsst. Wenn Hedda in Eilerts vermeintlichem Selbstmord eine „große Tat“ erblickt, die „vor Schçnheit strahlt“491, dann rckt diese Tat nicht nur zum Zeugen des Willens auf, der die Zirkulationen der historistischen Schrift unterbricht, sondern zu jenem Akt, in dem das Leben in einem dionysischen Moment zu seiner Gestaltbarkeit finden soll. In Rosmersholm steht dem symbolischen Geschichtsort, der die Protagonisten im Zeichen von „Stammbumen“ und „Ahnentafeln“492 490 Die an dieser Stelle ausgeprgte Nhe Ibsens zur Historismuskritik von Nietzsches Zweiter Unzeitgemßer Betrachtung ist immer wieder vermerkt worden. Eine unmittelbare Einflussnahme ist allerdings nach wie vor nicht nachweisbar. Vgl. Matthias Strßner: Flçte und Pistole. Anmerkungen zum Verhltnis von Nietzsche und Ibsen, Wrzburg 2003. 491 Henrik Ibsen: Hedda Gabler. Schauspiel in vier Akten [1890]. Aus dem Norwegischen bersetzt von Christel Hildebrandt. Nachwort von Helmut Bachmaier, Stuttgart 2001, 99. 492 Henrik Ibsen: Rosmersholm. Schauspiel in vier Akten [1886]. Aus dem Norwegischen bertragen von Hans Egon Gerlach. Nachwort von Aldo Keel, Stuttgart 2003, 16.

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vollstndig in die akkumulierten historischen Erfahrungen einschließt, der „freie, khne Wille“493 Rebekkas gegenber. Geradezu abstrahiert, d. h. auf die reine Situation der Entscheidung reduziert, scheint der Zusammenhang von Wille und Tat in einem der rtselhaftesten Texte Ibsens, der Fruen fra havet. Es gehçrt zur Logik dieses Textes, dass die Situation der Entscheidung und des „freien Willens“494 umso reiner hervortritt, je unwirklicher das symbolische Geschehen ist, das sich zwischen den elementar Starken und Schwachen des Stcks entspinnt. Ellida, ein dem Leben fremdes Elementarwesen, steht zwischen Wangel, ihrem durch Vertrag legitimierten Ehemann, und dem mit hypnotischer Willenskraft begabten „Amerikaner“, und sie entkommt der Situation nur kraft einer „Entscheidung“, die, um Entscheidung sein zu kçnnen, eine „Wahl“495 besitzen muss. Insofern verluft durch den europischen Naturalismus eine problemgeschichtliche Kontinuitt, die sich – verkrzt formuliert – auf den modernittstrchtigen Austausch von Leitbegriffen richtet; Naturalismus meint, auf einer abstrakten Ebene betrachtet, eine konzeptuelle Bewegung von ,Geschichte‘ zu ,Leben‘. Wenigstens rudimentr scheinen durch Rilkes zweiten, zwischen 1896 und 1897 entstandenen Einakter Konstellationen hindurch, die in vielem an Ibsen erinnern.496 Als Mtterchen muss sich gegen Ende Helene Eltz, die Ehefrau des Privatbeamten Dr. Frank Eltz, bezeichnen lassen, weil sie fr den vitalen bermut, den ihr Ehemann unter dem Eindruck ihrer jngeren Schwester Martha entwickelt, kein Verstndnis aufbringt. Am Ende, wenn Frank und Martha gemeinsam durch die Wohnung „tollen“497, bricht die in ihrem „spießbrgerliche[n] Wohnzimmer“498 493 Ebd., 92. 494 Henrik Ibsen: Die Frau vom Meer. Schauspiel in fnf Akten [1888]. Aus dem Norwegischen bersetzt von Christel Hildebrandt. Nachwort von Anni Carlsson, Stuttgart 2004, 90, 102. 495 Ebd., 82. 496 Allerdings hat sich „Ibsens Majestt“ Rilkes eigener Aussage zufolge erst im Zusammenhang mit seinem Malte-Roman (1906) erschlossen. Vgl. Rainer Maria Rilke an Clara Rilke [Brief vom 29. 5. 1906]. In: Ders.: Briefe aus den Jahren 1904 – 1907. Hg. von Ruth-Sieber Rilke und Carl Sieber. In: Gesammelte Briefe in 6 Bnden. Bd. 2, Leipzig 1939, 144 – 149, 148. 497 Rainer Maria Rilke: Mtterchen. Drama [1898]. In: Ders.: Smtliche Werke. Bd. 8, 797 – 811, 810. Der Text ist zuerst im 2. Jahrgang (Januar 1898) der Monatsschrift fr Neue Litteratur und Kunst (Berlin) erschienen und wie der Vorgngertext 1921 in die Sammlung Aus der Frhzeit R.M. Rilkes aufgenommen worden. Vgl. Aus der Frhzeit R.M. Rilkes, 190 – 205. Eine Auffhrung ist nicht belegt. Aus Skizzenbchern des Mnchner Winters 1896/97 lsst sich schließen,

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III. Poetik der Tat

gefangene Frau „wie verwundet“ in „wildes Weinen“499 aus. Was sich vom Ende des kurzen „Dramas“ her als indolente Rache des Lebens an denjenigen zu erkennen gibt, die seine Ansprche in ihren Erstarrungen – Helene sitzt laut Regieanweisung „wie erstarrt und gealtert an ihrem Platz“500 – verfehlen, fhrt der Einakter mit systematischer Konsequenz durch. Wie in Ibsens Hedda Gabler organisiert sich das Stck entlang der Oppositionen von Leben und (symbolischem) Tod, von Vitalitt und Ermdung, von erregenden „Blle[n]“501 und immer gleichen „Amtsstunden“502. Entsprechend besteht Helenes bevorzugte Beschftigung in der Herstellung „falsche[r] Blumen“503 – Bild fr die Surrogate des ungelebten Lebens. „Es ist ja schrecklich“, klagt Frank, Dieses ewige monotone Einerlei in den vier Wnden. Es macht ja ganz stumpfsinnig. Es ist krankhaft. Da muß erst jemand Gesunder von draußen kommen, daß mans merkt, wie verstumpft und versauert man ist …504

Alles an Rilkes Einakter ist ein sptes naturalistisches Selbstzitat. Dass „erst jemand […] von draußen kommen [muß]“, der die Ermdungen des Lebens sichtbar macht, zitiert den fr das naturalistische Drama bezeichnenden ,Boten aus der Fremde‘, der – wie etwa in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang – die eingelebten Beziehungen und erstarrten Verhltnisse aufbricht. Dass sich Martha an „Eisfeste[n]“ und „Blle[n]“505 berauscht und „in neckischer Tanzpose“506 auftritt, um ihren in „Pedanterie[n]“507 gefangenen Schwager in einen „Ehrenkavalier“508 zu verwandeln, wirkt wie eine Erinnerung an jene skandalçse „Tarantella“509,

498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509

dass die Szene ein Jahr vor ihrer Erstverçffentlichung entstanden ist. Ob der Text, hnlich wie der folgende Einakter Hçhenluft (1897), ursprnglich zu einem verschollenen Dramenzyklus unter dem Titel Mutter zhlte, ist ungewiss. Vgl. den editorischen Kommentar in Rilke: Smtliche Werke. Bd. 8, 1033 – 1040, 1050 f. Rilke: Mtterchen [1898], 797. Ebd., 811. Ebd. Ebd., 808. Ebd., 807. Ebd., 801. Ebd., 808. Ebd. Ebd., 809. Ebd., 797. Ebd., 808. Henrik Ibsen: Nora (Ein Puppenheim). Schauspiel in drei Akten [1879]. Aus dem Norwegischen bertragen von Richard Linder. Nachbemerkung von Aldo Keel, Stuttgart 2002, 64 f. Vgl. Wolfdietrich Rasch: Tanz als Lebenssymbol im

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mit der Ibsens Nora 1879 die Last ihrer Verstrickungen und die ihrer Vergangenheit hinwegtanzte. Helene dagegen gibt das Bild einer Neurasthenikerin ab, die sich von „Kopfschmerzen“510 geplagt und „nervçs“511 „[immer] ganz krank“512 fhlt. Dass sich auch Rilkes Mtterchen „[k]urz vor Weihnachten“513 zutrgt, greift zudem eine Motivlage auf, die schon Hauptmann (Das Friedensfest), Ibsen (Nora) und Holz/Schlaf (Die Familie Selicke) verwendet hatten. Eine Motivlage im brigen, die das gesamte oppositionelle Geflecht des Textes in sich aufnimmt und damit in zwei Ansichten zerlegt. Wie in Rilkes Vorgngertexten fungiert das Weihnachtsfest zunchst als Bild fr eine Gemeinschaft, die im Zeichen der Geburt Christi ihre unverbrchlichen Loyalitten aufbewahrt, um sogleich in all jene Konflikte zu geraten, die sich um 1900 vor allem zwischen den Vtern und den Sçhnen zutragen.514 Gegenber diesem Bild einer unauslçschlichen Entzweiung lotet Rilkes Einakter einen anderen, zweiten Sinn aus. Er zielt, kurz gesagt, auf ein Fest des Lebens, d. h. auf jenen Moment des Erkennens und Verstehens, in dem sich Frank Eltz dem Leben zurckgibt. Wenn Eltz am Ende des Geschehens Martha „erhitzt“ und „selig lachend“ bzw. „leuchtend“515 anblickt, dann treten Verstehen und vitaler Entschluss, begreifender Blick und Tat zusammen. In einem hçchst dynamischen Augenblick, der die Mçglichkeit des Lebens wie seine Verfehlung in sich zusammenschließt, tritt der Einakter damit in zwei gegenlufige Momente auseinander: Whrend Martha und Eltz den szenischen Raum verlassen – „beide“ gehen „lachend“516 ab – und damit die semiotischen Bezglichkeiten des Theaters – Bhnenbild, Dialog, szenischer Raum – insgesamt hinter sich bringen, um symbolisch in ihr ,neues‘ Leben aufzubrechen, lsst die Szene eine sprachlose Figur zurck, die, wie

510 511 512 513 514

515 516

Drama um 1900. In: Ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufstze, Stuttgart 1967, 58 – 77. Rilke: Mtterchen [1898], 803. Vgl. Ebd., 801. Ebd., 800. Ebd., 801. Ebd., 797. Vgl. Helmut Scheuer: Generationskonflikte im naturalistischen Familiendrama. In: York-Gotthart Mix (Hg.): Naturalismus, Fin de si cle, Expressionismus 1890 – 1918, Mnchen 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 7), 77 – 91 und Walter Erhart: Familienmnner. ber den literarischen Ursprung moderner Mnnlichkeit, Mnchen 2001, 353 – 400. Rilke: Mtterchen [1898], 811. Ebd.

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III. Poetik der Tat

der Zuschauer, nur mehr „lausch[en]“ und „zuschauen“517 kann. Der gesamte, wie in einer atemlosen Beschleunigung sich vollziehende Schluss erlebt sich als Augenblick von hçchster Authentizitt: hier eine Authentizitt, die das ,neue‘ Leben in den eruptiven Moment eines Aufbruchs zwingt; dort eine Authentizitt, die nur mehr einen wortlosen, auf die reine Prsenz des Kçrpers verwiesenen Schmerzausdruck kennt: Frank hastig. […] Er springt auf und umfaßt Martha. Martha entreißt sich ihm mit einem Schrei, jagt kichernd durchs Zimmer. […] Helene […] sieht den beiden eine Weile matt lchelnd nach, wird dann sehr ernst und kreischt endlich hßlich und heiser: Aber Frank! Martha Frank abwehrend: Pst! Wir drfen nicht so tollen. Bei Helene hinkniend: Wir sind schon brav. Atemlos: Nicht wahr, Frank? Und weißt du was jetzt? Christbaum putzen. Frank erhitzt, selig lachend: Famos, komm, komm! […] Helene kopfschttelnd: Kinder! Martha neigt sich nochmals zu Helene: Bçse? Ja, wir sind rechte, echte garstige Kinder. Und du bist das kluge, kluge Mtterchen, gelt? – Nicht bçs sein, Mtterchen. Kinder sind wieder sehr brav Frank lachend: Und wie! Martha kßt Helene auf die Stirn: Und du kommst zuschauen, ja? Sie legt ihren Arm in den Franks und schmiegt sich an ihn; Frank sieht sie leuchtend an. Martha: Wir rufen dann. Beide lachend links ab. Helene sitzt wie erstarrt und gealtert an ihrem Platz. Sie lauscht hinein. Pause. Dann hçrt man rufen. Martha unter Kichern: Mtterchen! Pause Frank im Baß, bermtig: Mtterchen! Helene lauscht, zuckt wie verwundet zusammen, schlgt die Hnde vors Gesicht und bricht in wildes Weinen aus. 518

Kein Fest des Lebens, aber ein Fest der Entscheidung, ein altes, berlebtes, in falschen Voraussetzungen befangenes Leben berwunden zu haben, steht im Mittelpunkt von Rilkes drittem Einakter Hçhenluft. 519

517 Ebd. 518 Ebd., 810 f. 519 Der Text ist seiner Widmungstrgerin, Mathilde Nora Goudstikker, am 25. 4. 1897 bersandt worden. Da Entwrfe und Selbstzeugnisse fehlen, ist anzunehmen, dass das Stck unmittelbar vor dem 25. 4. 1897 entstanden ist. Die Handschrift des Textes wurde von Anton Kippenberg erst im Februar 1927 aus dem Besitz Mathilde Goudstikkers fr das Rilke-Archiv erworben. Gedruckt wurde der Text erstmals 1961 in Bd. 8 der Werkausgabe. Eine Auffhrung ist nicht belegt. Vgl. den editorischen Kommentar in Rilke: Smtliche Werke.

3. Tat, Entscheidung, Opfer

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1897 entstanden, nimmt der kurze Text erneut die Weihnachtssituation auf, um mit der neunundzwanzigjhrigen Anna Stark eine Figur vor Augen zu fhren, deren „ruhige[r] klare[r] Blick“ und deren „weiße[], wnschelose[] Hnde“ in „Alle[m]“ das „berwundenhaben“520 verraten sollen. Die Konstellation des Stcks variiert die Struktur der bisherigen Einakter insofern, als es sein Geschehen nach einer Entscheidung lokalisiert, diese Entscheidung aber wiederholt, in dem es seine Protagonistin nochmals denselben leidensreichen Weg begehen lsst, den sie bereits gegangen ist. Mathilde Nora Goudstikker, der Widmungsadressatin des Stcks, hatte Rilke im April 1897 einen Vierzeiler beigelegt, der das Stck entsprechend als symbolischen Weg auf „alltagsfremden Pfaden“ kenntlich macht.521 In der Realitt des Stcks hat sich die unverheiratete Mutter eines sechsjhrigen Sohnes in ein hochgelegenes Mansardenzimmer zurckgezogen, um ihren Bruch mit der Welt der Eltern auch symbolisch auszutragen. Ihre erneute Entscheidung gegen eine Rckkehr in die Welt der „[g]esellschaftlichen Rcksicht“522 fllt, weil sie ihr Bruder Max, ein „gewesener Offizier“523, in das elterliche Haus zurckholen mçchte – allerdings aus Motiven, die allein die prtendierte „Ehrenhaftigkeit“ ihrer brgerlichen Herkunft betreffen. „Weißt du“, betont Max, „Papa ist pensionierter Staatsbeamter, ich war Offizier – und dann hat man ja auch seinen Verkehr; man darf die Leute nicht brskieren.“524 Die Figur, die hier im Namen ußerlicher Rcksichtnahmen spricht, besitzt die Funktion, das Schicksal der Schwester nochmals vorzufhren. Gegenber dem stillen Ernst Annas gibt sich Max als Vertreter eines milieutypischen Vergngens zu erkennen, das sich – „so en passant“ – an einer Vielzahl „kleine[r] Geschichte[n]“ erfreut. „Habe da wieder so kleine Geschichte gehabt. Weißt du: Mdel. Gott, so en passant … Ganz nettes Ding. Blutjung. – Mna also bischen Vergngen – und Schluß. Und das nimmt das Ding krumm und geht ins Wasser.“525

520 521 522 523 524 525

Bd. 8, 1033 – 1040, 1051 f. sowie Mnchow: Das ,tgliche Leben’, 26; Einakter des Naturalismus, 217. Rainer Maria Rilke: Hçhenluft. Ein Akt [1897]. In: Einakter des Naturalismus, 144 – 157, 145. Der Text ist bei Mnchow: Das ,tgliche Leben’, 26 wiedergegeben und lautet: „Viele mssen mhsam empor / Zu den alltagsfremden Pfaden / Gçttliche gehen in lchelnden Gnaden / Frh durch der Freiheit flammendes Tor.“ Rilke: Hçhenluft [1897], 156. Ebd., 145. Ebd., 155 f. Ebd., 152.

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III. Poetik der Tat

Die Konstellation gehçrt zur Topik jenes Kleine-Leute-Elends, mit dem der Bhnen-Naturalismus der frhen 1890er Jahre seine sozialkritischen Interventionen formuliert hatte. Auf sie kommt es, schon angesichts des im Stck selbst reflektierten Wiederholungscharakters, nicht an, sondern allein auf die symbolische Struktur, die Rilkes Text in Variation des vorangegangen Einakters entfaltet. Hatte die zentrale Entscheidungssituation in Mtterchen dazu gefhrt, dass der symbolische Raum der Lebensverweigerung und der imaginre, ins Ortlose fhrende Raum des wieder gefundenen Lebens in ein ,Innen‘ und ,Außen‘ auseinander treten, so setzt Rilkes Hçhenluft dieselbe semantische Struktur in eine symbolische Topographie um, in der sich Hçhe und Tiefe, Offenheit und Enge, Leben und Konvention oppositionell gegenberstehen. Anna Stark figuriert als eine metaphorische Strke der Entscheidung, die gegen die Widerstnde und die „drckende Schwere“526 des in Konventionen erstarrten Lebens eine ,Hçhe‘ aufsucht, in der es gelingt, die Lhmungen dieses Lebens abzustreifen. Das Stck bemisst diesen ,Aufstieg‘ daran, wie Anna Stark die Sprache des Sozialen kaum mehr versteht. Fast scheint es, als lausche sie nur noch dem milden, wortlosen „Frieden“, der sie in der Hçhe umfngt und der sie von der Erreichbarkeit der sozialen Sprache endgltig abgetrennt hat: Anna (unvermittelt) Ich glaube, ich werde auch die Eltern nicht mehr verstehen. […] Ich versteh euch alle nicht … (als htte sie nicht gehçrt) Es muß eine ganz andere Luft sein da unten in euren Husern. Eine drckende Schwere. Ich weiß nicht, ich bin sie entwçhnt. Ich kann mich nur wie im Traum erinnern, daß ich sie einmal geatmet habe. Das ist lang. – Und dann: bei euch sieht man in die Mauern hinein und – in die Nachbarfenster. Hier aber – schau – weit, weit ber alle Dcher. Und der Himmel ist viel nher hier. Nachts glaub ich oft, ich kçnnt‘ mir mit der Hand die Sterne holen. – Es ist alles anders hier. Hier herauf geht man nur durch großes Leid. Man stirbt dann entweder hier oben, oder – man berstehts. Und wenn mans bersteht, dann ist man mde und mild und friedlich wie nach einer schweren Krankheit. Und dann hat man lauter Verzeihen und Gte in sich – und man versteht nicht mehr das da unten – man ist so … so ber alles Leid hinaus …527

Das neue Leben, so ist die wie halbbewusst vorgetragene ußerung zu verstehen, kennt die Wohnungen und Huser „da unten“528 nicht mehr, vielmehr wohnt es in Hçhen, zu denen nur einzelne Zutritt haben. Al526 Ebd., 154. 527 Ebd., 153 f. 528 Ebd., 154.

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lerdings macht die ußerung auch deutlich, dass sie in der starren Opposition von Niederung und Hçhe nicht restlos aufgeht. Die Sprache des eruptiven Glcks, mit dem Martha und Frank Eltz in Mtterchen den Aufbruch in das Leben vollziehen, ist nicht die Sprache dieser traumverhangenen und ans Lyrische grenzenden Symbolik, in der eine „Hand die Sterne“ zu „holen“529 glaubt. Offenbar ist die Entscheidung fr ein neues Leben nicht ohne die theologischen Implikationen denkbar, die den Weg in die Hçhe mit den Zeichen eines „große[n] Leid[s]“ umgeben. Die gesamte Imagination dieses Wegs ist ein Christus-naher und auf Erlçsung zielender Leidensweg, den nur Wenige und – legt man Rilkes Vierzeiler zu Grunde – nur „Gçttliche“ gehen. Die gesamte Konstellation ist damit erkennbar vieldeutig, jedenfalls lagern sich an Rilkes Hçhenluft recht heterogene semantische Bewegungen an – Elendstopik, Emphase des Lebens, Leidenstheologie –, deren Beziehung der Text nicht restlos aufklrt. Hermeneutisch liegt es daher nahe, Rilkes zeitgleich zu den Einaktern entstandene programmatische Texte mit zu bercksichtigen. Dabei belegt die bereits erwhnte Hirschfeld-Rezension vom Oktober 1897, dass Rilkes frhe Dramenpoetik auf einen Begriffs des Lebens zielt, der sich – ausgestattet mit dem Nimbus von Vertiefung und Verinnerlichung – als Erleben begreift. Rilkes Kritik an dem ehemals bewunderten Hirschfeld entspricht diesen Vorgaben: Hirschfeld Schwche sei es, das Schicksal seiner Agnes Jordan wie in einer Art historistischer Geschichtstreue in einen „kulturgeschichtliche[n] Anschauungsunterricht“ verwandelt und damit in einer innerlichkeitslosen Zeit verloren zu haben: Dieser beste Besitz Hirschfelds ist etwas Intimes […]. Von dem kçnnen wir aber in einem Stck, bei dem die immer grauer werdenden Haare in Begleitung der von 1865 bis 1896 wechselnden Moden das Wichtigste sind, nichts erfahren. Es bleibt kein Raum dafr, denn im ersten Akt mssen wir die Leute, und zwar Leute von anno 1865 kennen lernen […], und in den folgenden Aufzgen mssen wir die Leute von 1865 in den Kleidern von 1873, 1882 und 1896 suchen […]. Seltsam, das tut er zu einer Zeit, da wir doch ein paar dramatische Erfahrungen haben, die nicht ganz wertlos sind. Da wir zum Beispiel wissen […], daß wir das Hauptgewicht unserer Betrachtungen nicht mehr auf die Zuflle richten, die die Menschen von Außen anrhren, und es fr wertvoller halten, den stillen und heimlichen Schicksalen ihres leisen Erlebens nachzugehen, und daß dieses Erleben zeitlos ist wie der Traum, nicht gebunden an Jahre […]. […] Wie unbersehbar, 529 Ebd.

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III. Poetik der Tat

wie steppentraurig htte das Los des gequlten Weibes gewirkt, wenn wir ihre Seele in einem Akt htten altern sehen […].530

Bekanntlich verdankt sich Rilkes frhes Seelenpathos, das das Seelische an dieser Stelle „in einem Akt htte ltern sehen“ wollen, der emphatischen Rezeption Maeterlincks, dessen essayistisches und dramatisches Werk fr die Entwicklung des Dramas um 1900 wichtige Impulse gegeben hat.531 Wesentlich ist an Rilkes Ausfhrungen aber, dass sie die Form des Einakters an jenes „leise[] Erleben“ binden, das sich gegenber den „Zuflle[n]“ des ußerlichen Schicksals in eine Sphre eigentlicher Bedeutsamkeit vertieft. Gegen die „Zuflle“ des historisch dokumentierten Lebens bietet Rilke ein Er-Leben auf, dass die ußerlichen Konstellationen auf eine innere Gegenwart hin berschreitet, in der sich ein einzelner Lebensmoment als erfllter Augenblick des Lebensganzen erweist und eine ihm gemße sthetische Form findet.532 Man kann diese Emphase des Erlebnisses noch in den Marginalien zu Friedrich Nietzsche nachweisen, die unter dem Eindruck von Nietzsches Tragçdien-Schrift entstanden sind. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine recht eigensinnige Rezeption des ,Dionysischen‘, die alles vordergrndig Rauschhafte und Ekstatisch-Irrationalistische abstreift. Dionysisch ist eine Bhnenhandlung, die sich – in großer Nhe zu Rilkes Hirschfeld-Kritik – in ein „Erlebnis“533 vertieft, diese Vertiefung aber dadurch intensiviert, dass sie das Erlebnismoment in einer Art Bedeutungsekstase ber den individuellen Lebenssinn hinaus hebt und auf die Gegenwart eines gemeinsamen Erlebens hin transzendiert: Es tut not, eine solche Handlung auf die Bhne zu stellen, durch die ein in der Erfahrung und im Gefhl jedes Einzelnen mçgliches Erlebnis angeregt wird, das in seiner Gewaltsamkeit die Menge der Zuschauer wie ein großer Griff zusammenfaßt. Das anregende Ereignis muß unabhngig von dem Stand der dargestellten Personen, dem Milieu und der Zeit der Handlung auf einer zweiten idealen Bhne vor sich gehen, die sich als Schauplatz jenes Wiedersehens darstellt, welches die befreiten, in der Steigerung hnlich gewordenen Seelen der Zuschauer miteinander feiern. […] Etwas den Men530 Rilke: Georg Hirschfeld und Agnes Jordan [1897]. In: Schriften, 48 f. 531 Vgl. zu Rilkes Maeterlinck-Rezeption Hans W. Panthel: Rainer Maria Rilke und Maurice Maeterlinck, Berlin 1973; Monika Ritzer: Maeterlinck-Rezeption. In: Rilke-Handbuch, 271 – 276. 532 Vgl. Rainer Maria Rilke: Demnchst und gestern [1897]. In: Schriften, 52 – 55, 53 f. 533 Rainer Maria Rilke: [1900]. In: Schriften, 161 – 172, 164.

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schen […], den Menschen berhaupt Gemeinsames muß hinter der Handlung, wie eine verbindende Erinnerung, die sie alle einer gemeinsamen Kindheit sich besinnen heißt, aufstehen […].534

Ekstatisch, so wird man diese frhe Mythologie Rilkes zu verstehen haben, ist die „Auferstehung des Dionysos“535 im Sinne einer augenblickshaften Erfahrung, die die Einzelnen, in dem sie sie aus ihren kulturellen und sozialen Bezglichkeiten befreit, verhnlicht und vergemeinschaftet. Weil das dionysische „Erlebnis“ in sich bereits eine universale Bedeutungsqualitt besitzt, stiftet es eine Art sinnhafter ,Kommunion‘, in deren ,festlichem‘ Vollzug eine imaginre Wiederbegegnung der durch die Moderne Vereinzelten stattfindet. Auf eine verblffende Weise durchzieht Rilkes dionysische Poetik des Dramas damit eine mythisch-sentimentalische Hintergrundkonstruktion, die das im Drama vertiefte „Erlebnis“ zum Medium einer kollektiven „Erinnerung“, einer festlichen Rckerstattung einer ehemals gemeinsamen Erfahrung vergrçßert. Was in der mythischen Geschichte entsprechend einmal „Kindheit“536 war – ein „den Menschen berhaupt Gemeinsames“537 –, reaktualisiert ein dionysischer Erlebniskern, dessen universale Kraft zur Ansprache die getrennten und zerstreuten Individuen der Moderne sinnhaft erlçst, weil sich das „Bedeutende“ und „Erlçsende“ nicht mehr in der „verhltnismßig zuflligen Szene“, sondern in der wieder vergegenwrtigten „gemeinsamen Kindheit“538 der „Menschen“ ereignet. In seiner dionysischen Weiterung steht die Emphase des Lebensaugenblicks, wie sie der naturalistische Einakter betreibt, am Beginn einer jener neuen Mythologien, die im bedeutenden Erlebnis alle Trennungen und Zerwrfnisse der Moderne beschwichtigen wollen.539 Im Oktober 1905 erhlt Otto Brahm, Grnder der Freien Bhne, die das Berliner Theaterleben seit 1889 mit Ibsen und Hauptmann vertraut macht, einen Brief Arthur Schnitzlers. „Der Einakterzyklus“, heißt es dort im Ton einer halb ernsten, halb unernsten Selbstbezichtigung, sitzt tief in meinem Wesen (was ich gar nicht so scherzhaft meine). Sehen Sie sich nur einmal meine Stcke darauf hin an: viele meiner Akte sind so 534 535 536 537 538 539

Ebd., 164 f. Ebd., 165. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Manfred Frank: Gott im Exil. Vorlesungen ber die neue Mythologie. 2. Teil, Frankfurt/M. 1988.

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vorzglich in sich geschlossene Stcke, wie es keinem meiner mehraktigen Stcke im Ganzen zu sein gelingt. Statt festaneinandergefgte Ringe einer Kette stellen meine einzelnen Akte mehr oder minder echte, an einer Schnur aufgereihte Steine vor – nicht durch verhakende Notwendigkeit aneinandergeschlossen, sondern am gleichen Bande nachbarlich aneinandergereiht.540

Die von Koketterie nicht ganz freie ußerung kann nicht darber hinweg tuschen, dass sie etwas Richtiges trifft. Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor der Moderne hat Schnitzler, der ,Meister der kleinen Form‘, seine literarischen Energien auf den Einakter verwendet. 30 der 47 verçffentlichten Theaterstcke Schnitzlers sind Einakter, 20 davon sind zu Zyklen zusammengefasst und nur 10 als Einzelwerke in den Werkausgaben greifbar.541 Schon dieser Sachverhalt macht deutlich, dass sich die Formprobleme des Einakters im Falle Schnitzlers verstrken, weil sie die Einzelform mit der Frage belasten, wie sie an eine bergreifende Formintention vermittelt werden kann. Schnitzlers Neigung, die Einzelstcke zu Zyklen zusammen zu fassen, steht damit in Widerspruch zu einer Selbsteinschtzung, die gerade die zyklische Bindung misslingen sieht, weil sich nur eine Art serieller „Schnur“ ergibt, die ohne „verhakende Notwendigkeit“ bleibt. Schnitzlers Selbstwahrnehmung, die sich der Tendenz nach bereits 1893 in der Korrespondenz mit Hofmannsthal abzeichnet,542 ist geeignet, die historischen Vorbehalte gegenber dem Einakter wie die auf ihn gemnzte literaturwissenschaftliche Krisenrede (Szondi) zu besttigen. Den gesamten, rund zwei Jahrzehnte umfassenden Briefwechsel mit Otto Brahm durchzieht ein mal stiller, mal lauter Zweifel hinsichtlich des 540 Arthur Schnitzler an Otto Brahm [Brief vom 1. 10. 1905]. In: Der Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm. Vollstndige Ausgabe. Hg., eingel. und erlut. von Oskar Seidlin, Tbingen 1975, 201 – 205, 203. 541 Vgl. Christa Melchinger: Illusion und Wirklichkeit im dramatischen Werk Arthur Schnitzlers, Heidelberg 1968, 112. 542 Arthur Schnitzler an Hugo von Hofmannsthal [Brief vom 2. 8. 1893]. In: Hugo von Hofmannsthal – Arthur Schnitzler: Briefwechsel, 42: „Was ich zunchst schreiben werde, ist unklar – am liebsten eins meiner im Umriß fertigen 3aktigen Stcke; aber ich stehe der dramatischen Kunst unglaublich mutlos gegenber; ja ich hatte in der letzten Zeit oft die Empfindung, daß ich berhaupt nie ein gutes Stck werde schreiben kçnnen. Gestalten u. Scenen, einzelne, wren da; aber mir ist, als htt‘ ich jedes strategische Talent verloren. Vielleicht hatt‘ ichs auch nie – und hab nur aus meinen kleinen Schmerzen die großen Dreiakter machen kçnnen […].“

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„dramatischen Grundmangel[s]“543, den Schnitzler sich selbst gegenber empfindet, und tatschlich moniert der Bhnenpraktiker Brahm immer dann, wenn es um die szenische Realisierung seiner Einakter geht, kompositorische Schwchen und einen grundstzlichen Zug zum „AntiDramatische[n]“544. Dann ist davon die Rede, dass ein „krftiger Akzent des Abschlusses“545 fehle, dass die „Theaterwirkung in der vorliegenden Form problematisch“546 sei oder dass das „Verschrobene der Idee“ einen entsprechend „abgehackte[n] Schluß“547 mit sich bringe. Schnitzlers „undramatische Weltanschauung“548 hat – anders als Rilkes frhe Einakterexperimente – eine reichhaltige Forschung produziert. Konsens besteht darber, dass sich die Mehrzahl der bis etwa 1900 entstandenen Einakter und Einakterzyklen in eine deterministische549 bzw. „prpsychologisch-,naturalistische‘ Phase“550 fgen und damit weltanschauliche Positionen der Zeit spiegeln. hnlich konsensuell stellt sich die Einschtzung der Formproblematik dar. Sieht man vom AnatolZyklus ab, wird den Zyklen nur eine geringe „Formgeschlossenheit“ zugestanden, weil das „Einzelstck[]“ gegenber der zyklischen Integration zu „grçßere[r] Eigenstndigkeit“ tendiert.551 Diese Einschtzung klingt schließlich noch dort durch, wo das Problem in die „Abspiegelung der episodischen Lebensform“ der Moderne verwandelt wird, die sich in der losen Zyklusstruktur eine „adquate dramatische Darstellungsform“ verschafft habe.552 543 Arthur Schnitzler an Otto Brahm [Brief vom 16. 3. 1908]. In: Der Briefwechsel, 255 – 257, 256. 544 Otto Brahm an Arthur Schnitzler [Brief vom 11. 10. 1901], 99. 545 Otto Brahm an Arthur Schnitzler [Brief vom 13. 9. 1901], 92 – 95, 93. 546 Otto Brahm an Arthur Schnitzler [Brief vom 11. 10. 1901], 100. 547 Otto Brahm an Arthur Schnitzler [Brief vom 17. 12. 1901], 104. 548 Arthur Schnitzler an Otto Brahm [Brief vom 16. 3. 1908], Ebd., 256. 549 Vgl. Schiffer: Die frhen Dramen Arthur Schnitzlers, 2. Dort (Ebd., 2 – 9) auch ein berblick ber die entsprechende Forschung. 550 Wolfgang Lukas: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lçsung im Werk Arthur Schnitzlers, Mnchen 1996, 17. Vgl. auch Ernst L. Offermanns: Arthur Schnitzlers Dramatik. In: Walter Hinck (Hg.): Handbuch des deutschen Dramas, Dsseldorf 1980, 327 – 342, 329, der mit dem Versiegen der „Einakterproduktion“ die „zweite dramatische Schaffensphase“ auf 1904 datiert. 551 Melchinger: Illusion und Wirklichkeit im dramatischen Werk Arthur Schnitzlers, 109. Von einem „lockeren Verband[]“ der „Gruppen“ spricht auch Michaela L. Perlmann: Arthur Schnitzler, Stuttgart 1987 (= SM 239), 37. 552 Offermann: Arthur Schnitzlers Dramatik, 328.

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So zutreffend die Hinweise auf die Homologien zwischen einer disparat gewordenen Erfahrungswirklichkeit und den episch-seriellen Formentwicklungen um 1900 sind,553 in der Wahrnehmung der Zeitgenossen tritt primr die irritierende Formpoetik der Schnitzlerschen Einakter hervor. Dass Brahm 1901 die ,Verschrobenheit‘ ihrer Dramaturgie hervorhebt, korrespondiert mit einer ußerung des Ibsen- und Nietzsche-Apologeten Georg Brandes, der Schnitzlers Einakter im Mrz 1899 als „verdammt knstlich, so ,ausklamstirt’“ bezeichnet hatte.554 ußerungen wie diese sind als symptomatische Reaktionen zu begreifen, da durch die suchenden Formulierungen hindurch ein sthetizismus zur Sprache kommt, der sich offenbar gerade durch seine formale Artifizialitt einprgt. So deutet der in den Jahren 1900 und 1901 entstandene Einakterzyklus Lebendige Stunden 555 bereits in seiner Titelgebung an, dass sich in ihm erneut eine Poetik des Augenblicks, der ,erfllten Stunde‘, mit einer entsprechend verdichteten syntagmatischen Struktur verbindet. Wenn es auch zutrifft, dass die vier Texte ihre thematische Klammer durch die „verschiedenen Facetten von Kunst und Leben“556 erhalten, so besteht ihr innerer Zusammenhang doch primr in der Konfiguration einer momentaneistischen Zeitstruktur mit einem Leben, das das Maß seiner ,lebendigen‘ Prsenz von einem entsprechend erfllten Augenblick her empfngt.557 Auch bei Schnitzler stellt der Einakter eine sthetisch-literarische Konfiguration des Lebens dar.

553 Vgl. Bayerdçrfer: Vom Konversationsstck zur Wurstelkçmodie, 519: „die Krise des Konversationstheaters ist unmittelbar als gesellschaftliche Krise zu interpretieren“; Kluge: Die Dialektik von Illusion und Erkenntnis, 484: „berkommene Formen und Motive sind […] darauf hin zu untersuchen, ob und in welcher Weise sie aus der eigentmlichen Bewusstseinslage des Menschen um 1900 zu begreifen sind“. 554 Georg Brandes an Arthur Schnitzler [Brief vom 10. 3. 1899]. In: Georg Brandes und Arthur Schnitzler. Ein Briefwechsel. Hg. von Kurt Bergel. Mit zwei Tafeln, Bern 1956, 74. 555 Vgl. Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzhlenden Schriften und dramatischen Werken, Mnchen 1974, 169 – 176. 556 Perlmann: Arthur Schnitzler, 37; Melchinger: Illusion und Wirklichkeit im dramatischen Werk Arthur Schnitzlers, 109. 557 Zu Schnitzlers Poetik des Augenblicks vgl. die lteren Studien von Bernhard Blume: Das nihilistische Weltbild Arthur Schnitzlers, Stuttgart 1936, 20 ff. und Erhard Friedrichsmeyer: Zum ,Augenblick‘ bei Schnitzler. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF XVI (1966), 52 – 64.

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Dass, wie Gerhard Kluge behauptet hatte, „die Lage“, in der sich die Figuren befinden, „unabnderlich“ ist und dass „[n]ichts […] das vorliegende Faktum umstoßen oder rckgngig machen [kann]“558, ist schon fr den ersten Text des Zyklus – Lebendige Stunden – nicht haltbar. Zunchst verweist bereits der Titel des Einakters darauf, dass sein Zustandscharakter durchbrochen werden soll. Seiner Struktur nach erweist sich der Text als dialogisches Thesenstck, das auf den ersten Blick in den widerstreitenden Argumenten aufgeht, die sich um die Deutung eines existenziellen Sachverhalts – einem als „Opfertod“559 intendierten Freitod – bemhen. Heinrich, ein seit „zwei, drei Jahren“560 in die Schaffenskrise geratener Literat und Sohn der erst vor kurzem verstorbenen Hofrtin, kehrt von einer lngeren Reise zurck und trifft auf Anton Haushofer, dem langjhrigen Lebensgefhrten der Hofrtin. Im Gesprch, das allmhlich die lang gehegten Aversionen der beiden Protagonisten sichtbar macht, konfrontiert Haushofer den jungen Literaten, der bislang angenommen hatte, die Mutter sei eines natrlichen Todes gestorben, mit der Einsicht, dass sie nur aus dem Leben geschieden ist, weil sie ihre Krankheit fr die lang anhaltende Schaffenskrise des Sohnes verantwortlich gemacht hat. „Verstehst du’s wirklich nicht?“, fragt Haushofer gereizt, Daß dich ihre Krankheit in deinem Beruf gestçrt hat, daß du nicht mehr hast arbeiten kçnnen – daß du Angst bekommen hast, es ist fr immer aus mit deinem Talent – daß du – du! Der Gequlte, der Gemarterte, der Ruinierte warst – das hat sie gesehen und darum …561

Wenn Heinrich „den Tag“ ersehnt, „da ich wieder fhig sein werde, etwas Ordentliches zu schaffen wie frher einmal“562, und diejenigen beneidet, deren Trauerarbeit sie „[…] in ihren Beruf, in ihre Kunst [hinauszuretten]“563 vermag, weist Haushofer das gesamte Pathos des „Gestalten[s]“564 mit dem Argument zurck, dass auch das „Gestalten“ die „Toten“565 nicht wiedererweckt. Damit sind die widerstreitenden Positionen markiert, und 558 Kluge: Die Dialektik von Illusion und Erkenntnis, 497. 559 Arthur Schnitzler: Lebendige Stunden [1901]. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. 2. Abteilung: Die Theaterstcke in vier Bnden. Bd. 2, Berlin 1912, 326 – 342, 341. 560 Ebd., 334. 561 Ebd., 340. 562 Ebd., 338. 563 Ebd., 337. 564 Ebd. 565 Ebd.

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doch erschçpft sich die Dialektik des Textes nicht in der Reproduktion einer um 1900 eingespielten Kunstsemantik, die in ihrer Konfrontation von sthetizismus und Ethik zahlreiche Autoren der Zeit – man denke nur an das Frhwerk Thomas Manns – prgt. Strukturell luft diese Konfrontation vielmehr auf einen „Augenblick“566 zu, in dem die Erçffnung Haushofers selbst das Gewicht einer Tat besitzt, weil sie – wie Heinrich anklagt – gegen den „Wille[n]“567 der Hofrtin verstçßt. So zielt der Text nicht auf eine „Extremform“ des analytischen Dramas, in dem lediglich die „Vergangenheit […] einsichtig gemacht [wird]“568, sondern auf eine Entscheidung, die im Dienst einer folgenreichen Interpretation des Lebens steht. Dass Heinrichs Leben nach den Enthllungen durch Haushofer knftig unter der Last einer kaum zu bewltigenden Wahrheit steht, ist einem „Augenblick“569 geschuldet, in dem Haushofer als Tter an einer Lebensinterpretation schuldig wird, deren Illusion er durchbricht: Haushofer. […] Da! Nimmt einen Brief aus der Tasche. Lies! lies! Da! Der Brief ist bei klarem Bewußtsein geschrieben […]. Am letzten Abend hat sie ihn geschrieben. Und eine halbe Stunde nachher … Ja, lies … da drin steht’s … weil sie dich leiden gesehen hat – sie dich – sie dich – darum ist sie fortgegangen vor der Zeit – darum ist sie gestorben! Heinrich. Sie haben durch Ihre Verfgung den ganzen Sinn dieses freiwilligen, dieses Opfertodes zerstçrt. I h r Wille war es nicht, daß ich mich als Mçrder fhlen, als ein Verdammter auf der Welt herumgehen sollte! Und Sie werden vielleicht spter selbst empfinden, daß Sie nicht nur an mir, sondern auch an ihr ein Unrecht begangen haben, das beinah das meine aufwiegt.570

Es ist entscheidend, diesen ins Schuldhafte und vermeintlich Unabgeltbare gleitenden Konflikt um einen letzten Willen nicht in der Sphre der Schuld zu belassen. Sie erweist sich angesichts der inkommensurablen Ansprche zwischen dem Willen einer Toten (Heinrich) und der Verantwortung gegenber einer zu enthllenden Wahrheit (Haushofer) ohnehin als ambivalent. Dass sich Haushofer einer Verfehlung schuldig gemacht hat, ist ebenso einsichtig, wie sein Argument, seine widersetzliche Enthllung habe allein dazu gedient, Heinrich erneut zu seiner Kunst befreien zu wollen, zumal sich diese Intention eigentlich im Einklang mit dem „Opfertod[]“ der Hofrtin whnen kann. „Ich nehm’s auf 566 567 568 569 570

Ebd., 335. Ebd., 341. Selling: Die Einakter und Einakterzyklen Arthur Schnitzlers, 133. Schnitzler: Lebendige Stunden [1901], 335. Ebd., 341.

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mich“, konzediert Haushofer. „Ich hab‘ es dir sagen drfen, dir schon. Du wirst dich nicht lnger als Schuldiger fhlen – nein! Du wirst dich aufraffen! leben! gestalten!“571 Was die ambivalente Verschuldungssemantik schließlich produziert, ist die Frage, was unter einer „[l]ebendige[n] Stunde[]“572 berhaupt zu verstehen sei: Haushofer. Heinrich! […] Was ist denn deine ganze Schreiberei, und wenn du das grçßte Genie bist, was ist sie denn gegen so eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in der deine Mutter hier auf dem Lehnstuhl gesessen ist und zu uns geredet hat, oder auch geschwiegen – aber da ist sie gewesen – da! und sie hat gelebt, gelebt! Heinrich. Lebendige Stunden? Sie leben doch nicht lnger als der letzte, der sich ihrer erinnert. Es ist nicht der schlechteste Beruf, solchen Stunden Dauer zu verleihen, ber ihre Zeit hinaus. – Leben Sie wohl, Herr Haushofer. Ihr Schmerz gibt Ihnen heute noch das Recht, mich mißzuverstehen. Im Frhjahr, wenn Ihr Garten aufs neue blht, sprechen wir uns wieder. Denn auch Sie leben weiter.573

Die argumentativen Positionen, die die letzten vernehmbaren Worte des Stcks bilden, bereiten interpretatorisch zunchst wenig Schwierigkeiten, weil sie in zwei inkommensurable Deutungen auseinander treten. Whrend Haushofer die Unerreichbarkeit einer „lebendige[n] Stunde“574 durch die Kunst betont und ihr allenfalls den Status eines Surrogats zugesteht, beharrt Heinrich Haushofers Emphase der gelebten Prsenz gegenber – „aber da ist sie gewesen – da! und sie hat gelebt, gelebt!“ – auf einer ,eigentlichen‘ Prsenz, die gegenber der Flchtigkeit des gelebten Moments die bewahrende Kraft der Kunst aufbietet. Leben, „lebendige Stunden“, so muss man Heinrichs sthetizismus verstehen, finden nur in der sthetischen Struktur Bedeutung und Dauer, und weil nur Dauer Prsenz garantiert, erweisen sich fr Heinrich Kunst und gelebter Moment als ebenso inkommensurabel wie fr Haushofer, wenn diese Trennung auch durch eine andere, nicht weniger unberbrckbare Inkommensurabilitt verluft. Am Ende dieses Deutungsstreits um die Frage, wie sich das Leben zu seiner bedeutenden Prsenz bringen kann, steht zwar eine offene Situation, die ber die argumentative Bewltigung des Stcks hinausreicht. Dennoch kennzeichnet Heinrichs Position eine unterschwellige Verfehlung des verhandelten Problems. Denn Heinrichs Pldoyer fr eine Be571 572 573 574

Ebd. Ebd., 342. Ebd., 341 f. Ebd., 342.

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wahrung des Lebens im sthetischen verliert sich, ohne dass Haushofer noch Gelegenheit htte, auf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen, in der Aporie zwischen „Augenblick“575 und „Gestalten“576, zwischen Lebensmoment und sthetischer Dauer. Schnitzlers Lebendige Stunden operieren mit einer Poetik des Augenblicks, die ihre Bedeutung aus der ,reinen‘ Augenblicklichkeit des Lebensmoments selbst bezieht. Leben geht hier vollstndig in einem sich selbst bedeutenden Moment auf, in einer augenblickhaften Prsenz, in der sich das Leben, von keinen Zeichen unterbrochen, selbst begegnet. Wenn es ein argumentatives Gewicht in Haushofers Emphase gibt, hinter der die Ansprche des stheten zurck stehen mssen und die nicht zuletzt eine Emphase der sprachlichen Periode ist, in die sich Haushofers Argument kleidet, dann besteht sie in jener tautologischen Evokation, die lediglich konstatieren kann, dass „gelebt, gelebt!“577 wird.578 Pauline, die Frau eines prominenten Schriftstellers, zweifelt, ob sie dem Drngen ihres Verehrers Leonhard, den sie in einer Gemldegalerie trifft, nachgeben soll oder nicht. Einerseits kçnnte die Affre zu einer endgltigen Trennung von ihrem Mann Gottfried fhren, andererseits kçnnte sie Gottfried als Stoff dienen, zumal am Vorabend unter großem Erfolg ein Theaterstck aufgefhrt wurde, dass die angespannte Ehesituation fr jeden sichtbar zum Inhalt hatte. „Sie und ihr ganzes Schicksal“, beklagt Leonhard, hat fr „Herr[n] Gottfried“ nichts „anderes zu bedeuten […], als eine Gelegenheit, seinen Witz oder meinethalben sein Genie zu zeigen. […] [J]eder wußte, es ist die, die da oben in der Loge sitzt.“579 Die Auseinandersetzung fhrt Pauline zum Bild eines „unbekannte[n] Maler[s]“580, in dessen Renaissance-Welt sich Pauline allmh575 576 577 578

Ebd., 335. Ebd., 337. Ebd., 342. Der Ausgang des Gesprchs selbst legt zunchst keine Bevorzugung der einen oder anderen Position nahe. Gleichwohl ist der Prfstein der Argumentation die ,lebendige Stunde‘ eines Lebensaugenblicks, d. h. die Suggestion, die Bedeutung des Lebens stelle sich in der Prsenz seiner erfllten Augenblicke her. Ohne dass der Text diese Konsequenz zieht, liegt es in seiner Sinnrichtung (und der des gesamten Zyklus), diese Prsenz des Moments gegenber der Kunst, die den Augenblick gewissermaßen ,de-prsentiert’, zu privilegieren. 579 Schnitzler: Die Frau mit dem Dolche [1901]. In: Ders.: Gesammelte Werke. 2. Abteilung. Bd. 2, 343 – 369, 348 f. Zur Entstehung vgl. Urbach: SchnitzlerKommentar, 169 – 170. 580 Schnitzler: Die Frau mit dem Dolche [1901], 346.

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lich hineintrumt. In einer „rasche[n] Verwandlung“581 finden sich die Figuren in einer historisch entrckten Szenerie wieder, die die Bildsituation der Frau mit dem Dolche nachbildet: Pauline hat sich in Paola, die Gattin des Malers Remigio, verwandelt und unterhlt eine Beziehung zu dem Malerlehrling Lionardo, der – wie der Leonhard der Rahmenhandlung – Widerwillen gegenber der Allmacht des Ehemannes empfindet. Als Remigio heimkehrt, gesteht ihm Paola ihre Beziehung zu Lionardo; Remigio nimmt das Gestndnis ungerhrt zur Kenntnis. Als Lionardo darauf hin Rache schçrt, ersticht ihn Paola. Damit findet die Traumhandlung zu einer Situation, die dem des Bildes entspricht:582 Im Mord ,schenkt‘ Paola Remigio jene lang ersehnte Inspiration, die ihn das begonnene Bild endlich vollenden lsst.583 In einer abrupten Rckverwandlung der Szene begreift Pauline, dass sich ihre anfngliche Vermutung, ihr „ganzes Leben“ habe „keinen andern Sinn“584, als Gottfried als Quelle der Inspiration zu dienen, zutreffend gewesen ist. Nicht „mit dem Ausdruck der Liebe, sondern der Entschlossenheit“585 gibt sie sich Leonhard schließlich hin, um ihrem Mann auch knftig ein „Stachel seiner Kunst“586 zu sein. Der „Kern“ dieses auf den ersten Blick zeittypisch verfremdeten Einakters besteht, wie Hans Peter Bayerdçrfer zutreffend bemerkt hat, in einem „Moment der Entscheidung“.587 Anders als im Erçffnungsstck des Zyklus betrifft diese Entscheidung nicht die Ermchtigung zu einer ,anderen‘ Interpretation des Lebens, sondern das Leben selbst. Als ,lebendige Stunde‘ soll in der Frau mit dem Dolche ein Moment hervortreten, der als intensiver „Augenblick“ der „Entschlossenheit“588 den lhmenden Mçglichkeitscharakter einer bestimmten Lebenssituation beendet. Schnitzlers Rckzug in eine stilisierte Renaissance-Szenerie geht 581 Ebd., 355. 582 Vgl. die Regieanweisung Ebd., 368: „In diesem Augenblick sieht Paolo genau so aus, wie auf dem Bild in der ersten Szene, den Dolch in der Hand und den Blick auf den toten Lionardo gerichtet.“ 583 Vgl. die Regieanweisung Ebd., 356: „Sie [Paola, I.S.] geht an Lionardo vorbei […] langsam bis zur Staffelei, entfernt leicht den Schleier vom Bild. Es ist das gleiche, wie in der vorigen Szene, nur noch nicht vollendet, insbesondere fehlt der ausgestreckte Arm und die Hand, die den Dolch hlt.“ 584 Ebd., 348. 585 Ebd., 369. 586 Ebd., 358. 587 Bayerdçrfer: Vom Konversationsstck zur Wurstelkçmodie, 554. 588 Schnitzler: Die Frau mit dem Dolche [1901], 350.

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damit keineswegs in einer bloßen „Kostmierung“589 auf. Was immer die im Stck vergegenwrtigte Renaissance an atmosphrischem Kolorit bereitstellen mag, sie dient in ihrer Stilisierung allein dazu, jenen „feste[n] Wille[n]“590 zur Geltung zu bringen, dessen dezisionistische Kraft aus der Renaissance-Welt in die Realitt der Rahmenhandlung bertreten soll. Vor allem aber schafft sie durch das Spiel im Spiel Spiegelungs- und Wiederholungsverhltnisse, deren kalkulierte Bezglichkeiten an den ,ausklamstierten‘ Zug erinnern, den Brandes Schnitzler gegenber moniert hatte. Whrend das Stck auf der Ebene seiner konzeptuellen Bewegung zwischen den Polen von Kunst und Leben eine Entscheidung zugunsten der Kunst fllt und insofern mehr als nur eine „Lçsung der erotischen Problematik“591 herbeifhrt, besitzt die Traumsequenz einen deterritorialisierten Status. Allerdings betrifft er nicht primr die gewhlte Renaissance-Szenerie, sondern ihre sthetische Faktur, ihren stilisierten Charakter. Zunchst ist die Traumsequenz zwar durch die Begehung einer Gemldegalerie realistisch motiviert; was sich in ihr ereignet, ist als Bewusstseinsgehalt einer am dramatischen Geschehen beteiligten Figur entzifferbar, die sich in die Betrachtung eines Bildes versenkt. Dennoch hebt sich das Spiel im Spiel aus der realistischen Rahmenhandlung insofern heraus, als es in die dramatische Zeitfgung eingreift und in die epische Technik der Zeitsuspension wechselt. Fr die Dauer der Traumhandlung steht die Ereigniszeit des Dramas still, damit sich in ihrem Rcken jenes symbolische Geschehen ereignen kann, das sich schließlich wieder in die Realitt der Rahmenhandlung zurckverwandeln kann. Diese Verwandlung in eine zweite diegetische Ebene, deren Realitt restlos aus dem narrativen Gehalt eines Bildes erzeugt worden ist, markiert das Drama durch das wiederholte Luten von „Mittagsglocken“592, deren Klang den Moment der „Verwandlung“ von einer dramatischen in eine epische Zeitstruktur anzeigt.593 Nicht zuletzt erweist sich der stilisierte Charakter der eingelegten Szene an der jambischen Verssprache, die sich von der Prosarede der Rahmenteile deutlich abhebt.

589 Perlmann: Arthur Schnitzler, 77. 590 Schnitzler: Die Frau mit dem Dolche [1901], 347. 591 Melchinger: Illusion und Wirklichkeit im dramatischen Werk Arthur Schnitzlers, 110. 592 Schnitzler: Die Frau mit dem Dolche, [1901], 354 bzw. 368. 593 Vgl. Bayerdçrfer: Vom Konversationsstck zur Wurstelkçmodie, 555.

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In einer fr den Einakter der Jahrhundertwende bezeichnenden Weise liegt das Sinngeschehen auch an dieser Stelle in seiner literarisch-sthetischen Faktur. Inhaltlich besitzt Schnitzlers Frau mit dem Dolche kaum mehr Signifikanz, als an jenen Kunst/Leben-Dichotomien teilzuhaben, die um 1900 das Feld fr eine hoch aufgeladene Selbstfestlegung der sthetischen Existenz bilden, und insofern wrde Schnitzlers Einakter in einer prekren Selbstauslieferung an die Kunst enden. Man muss, um zu einem angemessenen Verstndnis des Textes zu gelangen, demgegenber das immanente Formproblem des Einakters in den Blick rcken. Seine dezisionistische Struktur gewinnt der Text jedenfalls nicht aus einem propositionalen Gehalt, der als „Entschluss“ aus den Reden und Ansichten der Figuren hervortritt, sondern aus einer kalkulierten Verschrnkung von diegetischen Ebenen, die sich als Ebenen unterschiedlicher stilisierender Verdichtung erweisen und die die Figur der Entscheidung aus einer Sphre gesteigerter Stilisierung herleitet. Der innere Sinn des Einakters besteht darin, den Augenblick der Entscheidung durch eine sthetisch ebenso verdichtete wie in ihrer sthetizitt distanzierte Sphre zu prfigurieren und damit zu einer ,Hypothese‘ ber die sthetische Abkunft seines dezisionistischen Gehalts zu gelangen: Wenn die Lebendigen Stunden das Leben in seiner Augenblicksflle aus einer entschiedenen Ferne zur Kunst verstanden hatten, dann markiert Die Frau mit dem Dolche ein Pathos der Entscheidung, das sich im Einklang mit seiner sthetischen Abkunft weiß. In einem Moment, in sich dem Tat und Entscheidung an ihrer sthetischen Herkunft legitimieren, beginnt auch das Leben zum Gegenstand einer sthetisch-dezisionistischen Verfgbarkeit zu werden.

IV. Wille zur Gemeinschaft 1. Soziologie der Willenspersçnlichkeit Warum es lohnend sein kann, den Blick auf die frhe Moderne zurckzuwenden, wird deutlich, wenn man die Vielzahl der mentalen Regungen zu erfassen versucht, die sich im Gefolge des wachsenden sozialen Innovationsdrucks am Ende des 19. Jahrhunderts einstellen. Das „nervçse Zeitalter“1 ist, ungeachtet seiner Dominanz in der Selbstwahrnehmung der Epoche, nur eine Form, in der die Moderne ihre Grundwidersprche verarbeitet. Gleichwohl hat diese Prdominanz ihre Grnde. Forschungsgeschichtlich besitzt der Zusammenhang von Nervositt und Moderne zunchst den Vorzug einer berwltigenden Belegflle, die hinter dem textuellen Diskurs eine reale Leidenserfahrung sichtbar macht. Darber hinaus gestattet er es, den Blick auf ein Feld historischer Erkrankungen zu richten, das im Vorfeld Freuds lange Zeit kaum prsent gewesen ist. Fr eine literarische Diskursgeschichte des Willens ist es dagegen aufschlussreich, dass sich unter dem Eindruck der Modernisierung eine andere, nicht-nervçse mentale Struktur abspaltet.2 Sie erlebt 1 2

Richard von Krafft-Ebing: Ueber gesunde und kranke Nerven [1885]. 6. unvernderte Aufl. Tbingen 1909, 7. Vgl. aus der umfnglichen Forschung zum Zusammenhang von Nervositt und Fin de sicle, zu dem das Folgende einen Kontrapunkt setzt, Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervositt. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Mnchen, Wien 1998, 357 ff.; Volker Roelcke: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im brgerlichen Zeitalter (1790 – 1914), New York, Frankfurt/M. 1999; Ursula Link-Heer: Nervositt und Moderne. In: Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne, Stuttgart, Weimar 1999, 102 – 119; Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermdung und die Ursprnge der Moderne. Aus dem Amerikanischen von Erik Michael Vogt, Wien 2001, 175 ff.; Marijke Gijswijt-Hofstra/Roy Porter (Hg.): Cultures of Neurasthenia. From Beard to the First World War, Amsterdam, New York 2001; Paul Lerner: Hysterical Men. War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany 1890 – 1930, Ithaca, London 2003; Hans-Georg Hofer: Nervenleiden und Krieg. Modernittskritik und Krisenbewltigung in der çsterreichischen Psychiatrie 1880 – 1920, Wien 2004, 175 ff. Fr den gegenwrtigen Erkenntnisstand vgl. Petra Kuhnau: Auch eine Geschichte der Brder Buddenbrook. Zur Dialogizitt von Hysterie und Neurasthenie in Thomas Manns Roman. In: Scientia Poetica 9 (2005), 136 – 174. Eine weitere Publikation zum Thema befindet sich

1.Soziologie der Willenspersçnlichkeit

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den Willen weder als rastlose Energie noch als entropische Zersetzung von Handlungszielen und Weltorientierungen, sondern als Rckhalt eines Eigensinns, der den unaufhaltsamen Modernisierungsprozessen gegenber Widerstand leistet. In einem zentralen Strang kreist der naturalistische Roman um eine Konfiguration, die am Beispiel ,großer Einzelner‘ und willensmchtiger Persçnlichkeiten all das verteidigt, was der Modernisierungsprozess an traditionalen Lebenszusammenhngen und Sozialformen ausscheidet und zu historischen Relikten erklrt. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als gehe dieser Heroismus zu weiten Teilen in den mentalen Signaturen der Grnderzeit auf, zumal die Zusammenhnge zwischen realistischen Erzhltraditionen und grnderzeitlichem Heldenbewusstsein seit langem vertraut sind.3 Allerdings sind die Willenspersçnlichkeiten des Naturalismus nur unvollstndig von einer Attitde heldischer Vereinzelung her zu begreifen. Sie sind vielmehr auf ein Gegenber bezogen, zu dem sie eine geradezu vegetative Bindung unterhalten. Naturalistische Willenspersçnlichkeiten, wie sie im Mittelpunkt von Texten Max Kretzers, Wilhelm von Polenz’, Peter Roseggers oder Ernst von Wildenbruchs stehen, sind in eine organische Gemeinschaft, ein ,Herkommen’, eingelassen, als deren kreatrliche Reprsentanten und heroische Bewahrer sie erscheinen. „Ihr Mann“, heißt es ber Johannes Timpe, „ist ein Charakter, und solche Leute bleiben ihrer Gesinnung treu. Das ist gerade wie mit dem Stahl aus einem Guß, er bricht, aber er lßt sich nicht biegen.“4 – „Er war“, so vermerkt der Erzhler ber Traugott Bttner, „gebunden in seinem Willen an Taten und Absichten seiner Vorfahren. Ohne sich dessen selbst recht bewußt zu sein, ließ er sich leiten von frommer Rcksicht auf Wunsch und Willen jener Entschlafenen, die fr ihn Gegenwrtige waren. […] Je mehr er seine Krfte nachgeben fhlte, desto verzweifelter versteifte er sich darauf, seinen Willen durchzusetzen.“5 – „So sank“, heißt es bei Peter Rosegger, „Zweig um Zweig, Ast um Ast – Glied um Glied von der Gemeinde Altenmoos.

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4 5

im Erscheinen. Vgl. Maximilian Bergengruen/Klaus Mller-Wille/Caroline Pross (Hg.): Neurasthenie. Die moderne Krankheit und die Literatur der Moderne, Freiburg/Br. 2009 (im Druck). Vgl. jngst Bettina Plett: Problematische Naturen? Held und Heroismus im realistischen Erzhlen, Paderborn, Mnchen, Wien, Zrich 2002, 69 ff. Zum Begriff der Grnderzeit vgl. Richard Hamann/Jost Hermand: Grnderzeit, Berlin 1965; Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900. Von der Reichsgrndung bis zur Jahrhundertwende, Mnchen 1998, 102 ff. Max Kretzer: Meister Timpe. Sozialer Roman [1888]. Berlin 1927, 174. Wilhelm von Polenz: Der Bttnerbauer. Roman [1895]. Leipzig o. J., 105.

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IV. Wille zur Gemeinschaft

Jakob Steinreuter stand fest. Er ließ keinen neuen Brauch in sein Haus. […] Er blieb bei der angestammten Einfachheit in allem.“6 – „Auch Jochen war ein echter Tuleveit in seinen Anlagen, sparsam […] mit den Worten, jedem Scheinwesen abhold, ein schlichter, ernster, in sich gekehrter Charakter. […] Trotzig kmpfte er gegen die Schwche der Jahre an […]; das gehçrte zu seinem Eigensinn“.7 In allen Texten dieser Art steht es stets außer Frage, dass der topische Eigensinn der Figuren auf ein gewissermaßen weltloses Beharren gerichtet sein kçnnte.8 Ihr Wille zielt vielmehr auf das Gegenwrtighalten einer sozialen Abkunft, die noch keine Trennungen und Zerteilungen kennt und daher ein Selbstverhltnis errichtet, das die Willenspersçnlichkeiten davor schtzt, die eigene Identitt in die Beliebigkeit wechselnder Anschauungen und Haltungen zu zerstreuen. In diesem Sinne sind willensstarke Figuren wie Traugott Bttner (Der Bttnerbauer), Johannes Timpe (Meister Timpe) oder Jakob Steinreuter (Jakob der Letzte) gerade von den Erfahrungen der nervçsen Kultur abgetrennt. Wenn der nervçse Wille die Mçglichkeiten des eigenen Handlungssinns unendlich vervielfacht und gerade dadurch lhmt, so zieht der soziale Roman des Naturalismus den mçglichen Weltsinn auf einen Punkt zusammen, den der Wille unablssig bejaht.9 Es ist fr die wenig bersichtliche literarische Situation der frhen Moderne bezeichnend, dass sich eine programmatische Ausarbeitung dieser Zusammenhnge weniger im Naturalismus als im Kontext der Heimatkunstbewegung findet.10 ber Nhe und Ferne beider Bewe6 Peter Rosegger: Jakob der Letzte. Eine Waldbauerngeschichte aus unseren Tagen [1887]. Mnchen o. J. [1979], 87. 7 Wilhelm von Polenz: Der Grabenhger. Roman in zwei Bnden. Berlin 1898, Bd. 1, 267 ff. 8 Vgl. Karl Wagner: Eigensinn und Untergang. Zur Erfahrung der Moderne bei Kretzer, Rosegger und Polenz. In: Eijiro Iwasaki (Hg.): Begegnung mit dem ,Fremden’. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo. Bd. 2, Mnchen 1991, 177 – 183. 9 Die zeitgençssische Rezeption des naturalistischen Romans hat diese Konstellation frh registriert. ber Polenz’ Bttnerbauer vermerkt Heinrich Ilgenstein 1904, dass die Hauptfigur des Romans „[w]ie ein Riese […] unter den dekadenten, feinfhligen, hypernervçsen Helden unserer modernen Romane“ erscheint. Heinrich Ilgenstein: Wilhelm von Polenz. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Gegenwart, Berlin 1904, 38. 10 Vgl. die noch immer maßgeblichen Arbeiten von Karlheinz Rossbacher: Programm und Roman der Heimatkunstbewegung [1974]. In: Viktor Zˇmegacˇ (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Kçnigsstein/Ts. 1981, 123 – 144; ders.: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart 1975; ders.: Heimatkunst der frhen

1. Soziologie der Willenspersçnlichkeit

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gungen soll hier nicht im Detail entschieden werden; immerhin reichen eine Reihe naturalistischer Texte, etwa Romane von Wilhelm von Polenz (Der Bttnerbauer, Der Grabenhger) oder Hermann Sudermann (Frau Sorge), unmittelbar in die Heimatkunst hinein. Fr einen Parteignger der Heimatkunst wie Adolf Bartels steht diese Verbindung bereits 1899 in dem Maße außer Frage, wie der „deutsche intime Naturalismus“ – anders als das „dichterische Reporterwesen Zolas“ – die „Eindrcke“ der Dinge „bis ins Feinste“ in sich aufgenommen und damit den „bergang zur Heimatkunst“11 vollzogen hat. Sieht man davon ab, dass sich das Argument in der ansonsten blichen Diskreditierung des Naturalismus als Literatur „berreizter Kçpfe“12 und „Nerven-Phantastiker“13 recht unorthodox ausnimmt, so verrt es doch einiges ber mçgliche Wahlverwandtschaften zwischen zwei sthetisch-lebensreformerischen Programmen, die – denkt man nur an die kontrre Einschtzung der Großstadt14 – vordergrndig kaum Berhrungen miteinander unterhalten. Tatschlich muss man sich von Einzelelementen des programmatischen Materials lçsen und dessen tiefere symbolische und affektive

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Moderne. In: York-Gothart Mix (Hg.): Naturalismus, Fin de Sicle, Expressionismus 1890 – 1918, Mnchen 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 7), 300 – 313. Zu Peter Rosegger vgl. Karl Wagner: Die literarische ffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Volksschriftsteller Peter Rosegger, Tbingen 1991. Adolf Bartels: Heimatkunst [1900]. In: Erich Ruprecht/Dieter Bnsch (Hg.): Jahrhundertwende. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890 – 1910, Stuttgart 1970, 333 – 339, 336. Auch Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman, 31, betont, dass der „Naturalismus […] von der Heimatkunst gar nicht so weit entfernt“ sei. Ernst Wachler: Die Luterung deutscher Dichtkunst im Volksgeiste. Eine Streitschrift, Berlin 1897, 26. Fritz Lienhard: Sommerfestspiele [1900]. In: Ders.: Neue Ideale, Leipzig, Berlin 1901, 219 – 233, 232. Bekanntlich verdichtet sich der Vorbehalt der Heimatkunst gegen die Stadt unter der Losung ,Los von Berlin’. Vgl. Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman, 29 ff. Andererseits hat sich die Heimatkunst immer wieder darum bemht, auch das großstdtische Leben als ein heimatliches Moment zu integrieren. Das nahe liegende Argument lautet, dass die Stdte „Heimat Hunderttausender“ (Ferdinand Gruner: Heimatkunst [1901]. In: Ruprecht/Bnsch (Hg): Jahrhundertwende, 356 – 360, 359) seien. In der literarischen Praxis mssen entsprechend stdtische Rume hervortreten, die aus der ,großen Stadt’ wie Residuen eines zivilisatorisch noch unberhrten Lebens hervortreten. Kretzers Meister Timpe hat in diesem Sinne immerhin die Zustimmung von Adolf Bartels als der Heimatkunst „halb und halb“ zugehçrig gefunden. Adolf Bartels: Zur Heimatkunst. In: Deutsche Heimat 6 (1902/03) H. 1, 193 – 196, 194.

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IV. Wille zur Gemeinschaft

Struktur aufsuchen, um zu sehen, dass der naturalistische Roman und die Programmatik der Heimatkunst gleichermaßen um ein Ideal organischer Gemeinschaftlichkeit kreisen. Insofern verbirgt sich in der vordergrndig sthetisch programmierten Opposition der Heimatkunst gegen das „ganze[] naturalistisch-symbolistisch-dekadente[] Litteraturdrama“, das „wesentlich in den Nerven und im Verstand [saß]“15, der Aufstand gegen die soziale Moderne im Ganzen. Sie entlarvt sich in der Verschrnkung von nervçser Willensschwche und dem Primat sthetischer Formtechniken als das, was sie in den Augen der Heimatkunst ist: bloße, ephemere ,Kultur’, die die traditionellen Bindungen in den nervçsen Hinflligkeiten der Zeit nivelliert und den Willen zur Gestaltung des Lebens aufgegeben hat: Laßt uns wieder das H e r z , den W i l l e n , die P h a n t a s i e , die echte und blutvolle L e i d e n s c h a f t , kurz: d e n g a n z e n , reichen, lebenskrftigen Menschen zu Ehren bringen. Poesie ist […] in Gestalten sich ausstrçmender berschuß an Lebenskraft. […] Wir mssen uns nicht nur sthetisch erweitern […]: diese Erweiterung setzt eine ethische und menschliche Erneuerung voraus.16 Ich mçchte nur, daß nach so viel Betonen der ußeren, knstlerischen Technik […], wobei die Nerven allzu viel mitsprachen, endlich wieder die organischen Grundlagen aller Kunst und Poesie, alles Geisteslebens und aller Kultur erkannt, empfunden, beachtet wrden: nmlich der M e n s c h s e l b s t , die Art seines Vo l k e s und seine in ihm wirksame G o t t e s k r a f t .17

Der Anteil Nietzsches an Formulierungen dieser Art ist unbersehbar, wie sich der gesamte Komplex leicht in die breite Front der konservativen Kulturkritik, die ihrerseits nicht ohne nietzscheanische Begleitargumente denkbar ist, einfgen lsst.18 Dass auch der ,Rembrandt-Deutsche‘ und Nietzsche-Enthusiast Julius Langbehn der Heimatkunstbewegung vorgearbeitet hat, ist hierfr ein sprechender Beleg.19 Autoren wie Lienhard 15 16 17 18

Lienhard: Sommerfestspiele [1900], 232. Ebd., 233. Fritz Lienhard: Vorwort. In: Ders.: Neue Ideale, unpag. Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888]. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6, Berlin, New York 1980, 9 – 54, 38 f. 19 Vgl. Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen [1890]. Autorisierte Neuausgabe. Geordnet und gesichtet nach Weisungen des Verfassers, Leipzig 1922. Auf den ersten Blick scheinen Nietzsche und die Heimatkunstbewegung unvereinbar. Lienhard erscheint Nietzsche als „berreizte[r] Einsied-

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jedenfalls folgen Nietzsches Dekadenz-Diagnosen, um im Rekurs auf romantische Organizitts-Vorstellungen den Willen der Persçnlichkeit – auch dies eine nietzscheanische Wendung – als Quantum auszulassender Kraft gegen das Kulturbel der Neurasthenie zu mobilisieren. So forciert antimodern und kulturfeindlich sich die Autoren der Heimatkunst dabei geben, so unbersehbar ist, dass sie die Willenspersçnlichkeit aus modernen thermodynamischen Hintergrundenergien speisen. Es gibt in den entsprechenden Texten einen energetischen Bildhaushalt, der deutlich macht, dass sich die Persçnlichkeit in ihrer „konkreten Energie“20, d. h. in der ungebrochenen Einheit ihrer „Willens- und Charakterkraft“21 erleben soll, so als zehre sie von unerschçpflichen Ressourcen, die ihr ein fortwhrendes, „thatenfrisches Sich-Ausleben“22 ermçglichen. Damit bildet die „Vollkraft“23 der Willenspersçnlichkeit den intensivsten Kontrast zu all jenen Sozialcharakteren – den Nervçsen, Zerstreuten, Suggestiblen und Blasierten (Simmel) –, die im Zeichen der Nerven eine demokratisierende Gemeinschaft der unterschiedslos Gleichen und Erschçpften

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ler“ (Lienhard: Jahrhundertwende [1899], 264) und als Exponent einer „Unnatur“, die das zeitgençssische „Nerven- und Seelenleben[]“ hervorbringe (Friedrich Lienhard: Friedrich Nietzsche. In: Der Trmer 3 (1900) H. 1, 2 – 10, 5). Andererseits ist der Persçnlichkeitskult der Heimatkunst kaum ohne Nietzsche und die Verschlagwortungen seiner Philosophie denkbar, wie sie vor allem durch Langbehn vermittelt worden sind. Vgl. Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman, 42, sowie zu Langbehn Bernd Behrendt: Zwischen Paradox und Paralogismus. Weltanschauliche Grundzge einer Kulturkritik in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts am Beispiel August Julius Langbehns, Frankfurt/M. u. a. 1984. F. Heman: Persçnlichkeit. In: Der Trmer. Monatsschrift fr Gemt und Geist 8 (1904) H. 2, 145 – 153, 149. Fritz Lienhard: Heimatkunst [o.J.]. In: Ders.: Neue Ideale, 188 – 200, 194. Fritz Lienhard: Jahrhundertwende. Eine ethische Betrachtung [1899]. In: Ders.: Neue Ideale, 259 – 271, 264. Es wre genauer zu prfen, ob diese Energetik nicht einen gewissen Zusammenhang zwischen Nietzsche und der Heimatkunst erkennen lsst. Insbesondere die Vorstellung des „Sich-Ausleben[s]“ erinnert an die thermodynamischen Kontexte des ,Willens zur Macht’ und dessen Verankerung in der physikalischen Konzeption des „auslassen[s]“ von Kraft, wie sie Nietzsche von Julius Robert Mayer (ber Auslçsung, 1876) bernommen hatte. Vgl. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Juli 1882 – Herbst 1885. 2. Teil: Frhjahr 1884 – Herbst 1885. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 11, Mnchen 1980, 222. u. ç. Vgl. Wolfgang Mller-Lauter: ber Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretation 1, Berlin, New York 1999, 120 f., Anm. 103 und Kap. I. Fritz Lienhard: Persçnlichkeit und Volkstum – Grundlage der Dichtung [1894]. In: Ders.: Neue Ideale, 1 – 14, 14.

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IV. Wille zur Gemeinschaft

eingehen. Es ist ein Pathos der „aristokratischen“24 Erhebung und des entschiedenen, „willenstrotzig[en]“25 Beharrens, das die „Stillen im Lande“, die „Einsiedler“, „Idealisten“26 und „große[n] Mnner“27, umgibt und die sich mit Bezug auf ihren „eigenste[n], selbstbewußte[n] Willen“28 geradezu „rcksichtslos im Einsetzen ihrer Kraft“ geben, „wo es sich um Fçrderung einer Idee handelt, die sich mit ihren Ideen deckt“.29 Systematisch hat dieser persçnlichkeitsgetrnkte Voluntarismus mehr zu bedeuten, als seine agonalen Energien gegen all das zu richten, was die moderne Kultur an dekadenten Schwchungen bereithlt; ihre Diskreditierung ist, bedenkt man den angedeuteten kulturkonservativen Kontext der Heimatkunst, jedenfalls recht unspezifisch. Der Einspruch, den Heimatkunst und Naturalismus im Namen der Persçnlichkeit erheben, ist vielmehr darauf gerichtet, dass sie als ungeteilte Existenz erscheint. Weil nur die Persçnlichkeit im Angesicht des modernen „Gewirre[s] von Mçglichkeiten“30 ein „Gefhl fr das Ganze“31 bewahrt, verweist sie als organisches Wesen auf jenen grçßeren sozialen Organismus, als dessen natrliche Prokreation sie erscheint und zu der sie in dem Maße ein metonymisches Verhltnis besitzt, wie sich dieser grçßere Organismus „konzentrisch“ als „ein weiterer Ring“ um den „innere[n] Ring“ der

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Lienhard: Jahrhundertwende [1899], 260. Lienhard: Heimatkunst [o.J.], 191. Lienhard: Jahrhundertwende [1899], 260. Lienhard: Persçnlichkeit und Volkstum [1894], 13. Heman: Persçnlichkeit [1904], 146. Lienhard: Jahrhundertwende [1899], 261. Insgesamt speist sich die Willenspersçnlichkeit aus drei Elementen: Neben der energetischen Entfaltung von Kraft wirkt in ihr ein Magnetismus, dessen „Fluidum […] sthlende und belebende Kraft“ (Lienhard: Heimatkunst [o.J.], 197) ausstrçmt. Vgl. auch Lienhard: Persçnlichkeit und Volkstum [1894], 14: „Es wre eine herrliche Volkserziehung, wenn z. B. von der Bhne herab wie ein magnetischer Strom von einer kçniglichen Persçnlichkeit ausstrçmte.“ Zudem ist die Willenspersçnlichkeit von einer quasi-messianischen Naherwartung umgeben. Wie Lienhard: Heimatkunst [o.J.], 193 betont, ist mit dem „Erscheinen einer vornehmen und großen Persçnlichkeit“ zu rechnen. Von Ferne erinnert diese Konstruktion – setzt man den messianischen Charakter der Persçnlichkeit beiseite – an die Fhrerfigur der zeitgençssischen Massenpsychologie. Auch von ihr geht ein „magnetische[r] Zauber“ aus, der ihrem „persçnlichen Nimbus“ geschuldet ist. Gustave Le Bon: Psychologie der Massen [1895]. Mit einer Einfhrung von Helmut Dingeldey, Stuttgart 1973, 95. 30 Lienhard: Jahrhundertwende [1899], 266. 31 Ebd., 261.

1. Soziologie der Willenspersçnlichkeit

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Persçnlichkeit „ansetzt“32 : die Gemeinschaft. Sie ist nach Auffassung von Peter Rosegger jenes organische Substrat, das naturwchsig aus der Persçnlichkeit hervorgeht und sich – im Unterschied zu allen ,gemachten‘ Sozialformen wie Nation, Kirche oder Partei – in ihr ebenso natrliches „Recht“33 setzt: als Recht, die irreduzible Einmaligkeit dieser Persçnlichkeit zu wahren und gerade aus der Irreduzibilitt ihres Unterschiedenseins einen sozialen Kçrper hervorgehen zu lassen, der jeden Einzelnen dadurch integriert, dass er ihm unverwechselbare Orte im Ganzen anweist. Gesellschaftsbildung erscheint als „natrlicher Vorgang“34, dem gegenber die Persçnlichkeit einen geschichtlich wie substantiell vorgngigen Status besitzt. Dennoch aggregieren sich die Persçnlichkeiten zum Ganzen des sozialen Kçrpers, weil dieses Ganze eine Trennung von der Einzelpersçnlichkeit nicht kennt. Es tritt ihr weder als bloßes „Prinzip“35 entgegen, noch unterwirft es sie einem teilenden oder dienenden Verhltnis bloßer Zwecke. Selbstverstndlich handelt es sich in dieser Parasoziologie der Persçnlichkeit um ein weiteres Kapitel in der langen nachromantischen Trennungsgeschichte von naturhaft-organischen und abstrakt-mechanischen Sozialformen.36 Auch Roseggers Ausflle gegen die „idealen Ganzheiten der menschlichen Gesellschaft“37 ruhen auf einem Vorbehalt gegenber ,mechanischen‘ Verbnden; sie alle sind gemachte und bloß „zufllige“38 Formen, die auf Akte kulturaler Grndungen verweisen und daher den Status einer in knstlichen und abstrakten „Begriff[en]“ ge-

32 Lienhard: Persçnlichkeit und Volkstum [1894], 7. 33 Peter Rosegger: Das Recht der Persçnlichkeit [1899]. In: Ruprecht/Bnsch (Hg): Jahrhundertwende, 329 – 332, 330. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Vgl. Ahlrich Meyer: Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie. In: Archiv fr Begriffsgeschichte XIII (1969), 128 – 199; Ernst-Wolfgang Bçckenfçrde/Gerhard Dohrn-van Rossum: Organ, Organismus, Politischer Kçrper. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. 4, Stuttgart 1978, 519 – 622; Andreas Gçbel: Naturphilosophie und moderne Gesellschaft. Ein romantisches Kapitel aus der Vorgeschichte der Soziologie. In: thenum. Jahrbuch fr Romantik 5 (1995), 253 – 286; Ethel Matala de Mazza: Der verfasste Kçrper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg/Br. 1999. 37 Peter Rosegger: Das Recht der Persçnlichkeit [1899], 330. 38 Ebd.

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IV. Wille zur Gemeinschaft

fangenen fictio iuris besitzen, whrend sich die „Wesenheit“39 des organischen Kçrpers in den Teilungen und Unterscheidungen der Begriffe verfehlen muss: Seit einem Jahrhundert ward Europa von dem Ideale der Freiheit beseelt. Doch außer im wirtschaftlichen Leben, wo die Freiheit manches baute und manches zerstçrte, ist sie nie eigentlich zum Durchbruch gekommen. […] In dem Maße, als der Mensch nach außen sich frei entwickelte, wurde er im Innern unfrei, das Individuum lçste sich in der Masse auf. Und schon hat sich die Richtung berlebt, an Stelle des Ideals der Freiheit tritt das der Gleichheit. Die Prinzipien der Freiheit erlauben es der Person, persçnlich sein zu drfen. Das Prinzip der Gleichheit hebt das Recht der Persçnlichkeit auf. Die ganze Menschengesellschaft wird nicht etwa als organischer Kçrper gedacht mit Haupt und Gliedmaßen, an welchem jeder Einzelne in Teil, ein Glied ist, sie wird […] eher […] als eine mathematische Ganzheit gedacht […]. […] Eine solche Ganzheit ist die Kirche, ihre einzelnen Mitglieder sind unter sich gleich und gelten persçnlich nichts. […] Eine solche Ganzheit ist die Nation […]. Eine solche Ganzheit ist die Partei […]. Der Einzelne dient der Gattung? Nein, der Mensch dient dem Prinzipe. Man sollte glauben, daß bei solcher Selbstentußerung der Person zu Gunsten des Prinzips das Prinzip siegen mßte. […] Ich glaube […], daß das Prinzip ber den Mensch niemals […] siegen wird. Denn der Mensch ist der Strkere und mit ihm das Recht das Erstgeburt. Er war ein Individuum, bevor es eine Gesellschaft gab, eine Persçnlichkeit, bevor es ein Prinzip gab. […] Wenn im Einzelnen die Erkenntnis wachgerufen wrde, daß der mçglichst uneigenntzige Anschluß an die Ganzheit sein Vorteil ist, weil er in der Ganzheit den Hort findet […] – so wre […] fr das Prinzip der Ganzheit eigentlich genug gethan.40

2. Gemeinschaft statt Gesellschaft. Der naturalistische Roman, die frhe Soziologie und die sentimentalische Moderne Es fllt nicht schwer, den am Komplex der Heimatkunstbewegung entwickelten Zusammenhang zwischen der Willenspersçnlichkeit und der organischen Gemeinschaft in einer Vielzahl naturalistischer Romantexte nachzuweisen. Sie wirken, zumal in der vordergrndigen hnlichkeit ihrer Erzhlverlufe, wie Domizile, die die Erinnerung an die Gemeinschaft bewahren sollen. In Max Kretzers Roman Meister Timpe gelangt eine Handwerksgemeinschaft zur Darstellung, die alle Zge eines altstndischen Hauszusammenhanges besitzt. In ihr wirkt ein ungebroche39 Ebd. 40 Ebd., 330 f.

2. Gemeinschaft statt Gesellschaft

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nes Versprechen auf personale Unmittelbarkeit und reziproke Bindung der Subjekte, auf eine interaktionelle Nhe, deren Horizont alle Einzelpersonen insofern organisch inkludiert, als sie immer schon Teil des Sozialverbandes sind. Auch wenn der Text ein Gedchtnis fr den Zeitpunkt besitzt, in dem die Arbeitsverhltnisse geschlossen wurden, werden die formellen Beziehungscharakteristika dennoch eigentmlich marginalisiert und von einem familialen Kontinuum berwçlbt, in dem Arbeit nicht als Arbeit, sondern als gemeinschaftliches Leben entworfen wird; Reproduktion und Leben sind in ihm bis in die Zeitrhythmen hinein identisch. Den Gliedern der Gemeinschaft ist diese gemeinschaftliche Zeit daher auch in den kçrperlichen Versehrungen eingezeichnet, die alle in gleicher Weise zeigen und die die vielen Kçrper symbolisch dadurch zu einem Kçrper verschmelzen, dass er von den gleichen Malen lang whrender und mhseliger handwerklicher Arbeit getroffen ist. Timpes Reproduktionsgemeinschaft ist daher eigentlich eine Lebensgemeinschaft, weil in ihr alle formellen Bindungen in die Homogenitt eines gemeinsamen Willens und gemeinsamer berzeugungen zurcktreten. Mçgen die einzelnen Glieder der Gemeinschaft durchaus eigene Zge tragen, so verschleifen die immer gleichen Lebens- und Zeitrhythmen tendenziell doch alle Unterschiede: Es war nahe an ein Uhr. In der Werkstatt hatten die Gesellen sich nach und nach eingefunden, um die Arbeit wieder aufzunehmen. An dem geçffneten Flgel des einen Fensters saß Thomas Beyer, der lteste Gehilfe Timpes. Seit fnfzehn Jahren stand er bereits an ein und derselben Drehbank. Er war ein hagerer, starkknochiger Mann von etwa 40 Jahren und wohnte mit seiner Schwester zusammen, die ihm die Wirtschaft fhrte. […] Da er berdies mit allen Verhltnissen des Hauses vertraut war, in Abwesenheit seines Arbeitgebers dessen Geschfte wahrnahm, so wurde er von ihm mehr als ein Kamerad als wie ein Untergebener betrachtet. […] [Timpe und Beyer lenken das Gesprch auf Timpes Geschftskonkurrenten Ferdinand Friedrich Urban.] Urban sei ein ganz geriebener Junge, meinte Leineweber aus Braunschweig, ein kleiner, schmchtiger Mensch, der sich die Brust an der Drehbank ruiniert hatte […]. Und Leitmann, ein bereits graubrtiger Geselle, der frher einmal selbstndig gewesen war und durch das viele Treten der Drehbank einen hinkenden Gang bekommen hatte, kannte ihn schon seit der Zeit, als sein ganzes Geschft aus zwei winzigen Zimmern bestand […]. Das sei vor zwanzig Jahren gewesen, als die ovalen Bilderrahmen zum erstenmal auf der Drehbank hergestellt wurden.41

41 Kretzer: Meister Timpe [1888], 30 f.

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Gemeinschaften dieser Art, die im Falle Kretzers von einem urchristlich grundierten Handwerkerkommunismus getragen werden,42 besitzen keine Geschichte, genauer: sie entfalten sich als Kontinuum eines in Vergessenheit geratenen bzw. nicht mehr genau zu bestimmenden Anfangs einerseits und einer Gegenwart andererseits, in der die soziale berlieferung als unmittelbare Gegenwrtigkeit nachwirkt. Es zhlt zu den Eigenheiten dieses Romangenres, dass es scharfe Zsuren in der Zeitfgung, etwa die narrative Markierung eines Anfangs, vermeidet und im Rckblick suggeriert, alles sei immer schon so gewesen, wie es der auktoriale Blick des Erzhlers bzw. die von ihm in aller Regel kaum differenzierte Figurenrede verbrgt.43 Und so wie die dargestellte Gemeinschaft in temporaler Hinsicht keine Zsuren kennt, so kennt sie im Blick auf die, die ihr zugehçren, nur inkludierende Verhltnisse, wenn auch die Texte von Unterschieden in der Hierarchie und dem Ort, der dem Einzelnen im gemeinschaftlichen Verband zukommt, gerade nicht absehen. ber die husliche Gemeinschaft Jakob Steinreuters vermerkt der Erzhler, dass er mit ihr – anders als mit den „Dienstboten“, die ihm im Laufe der Zeit „[…] abspenstig geworden [waren]“ – „um so heimlicher“ zusammen lebte: Den alten Luschelpeterl, der schon ber dreißig Jahre im Haus war, achtete er wie ein Oheim, und von dem jungen Knecht, dem Bertl, den er erst vor kurzen ins Haus genommen, verhoffte er einen auf weitere dreißig Jahre. Der Jakob sah auf Fleiß und Treue, berbrdete keinen mit Arbeit, duldete aber auch keinen Mßiggang. Er gab jedem das Seine, und jeden, der in seinem Haus lebte und arbeitete, rechnete er wie zu seiner Familie.44

Der Anspielungshorizont solcher Passagen ist im 19. Jahrhundert vertraut. Zunchst sind sie auf eine Romantik und Realismus umspannende Erzhltradition hin transparent, die – von E.T.A. Hoffmann (Meister Martin der Kfner und seine Gesellen, 1819) und Ludwig Tieck (Der junge Tischlermeister, 1836) begrndet – ber Otto Ludwig (Zwischen Himmel 42 Vgl. Ebd., 123, 162, 192. Die Apologie dieses skularisierten Christentums, das an die urchristlichen Anfnge der Arbeiterbewegung erinnern soll und im Text Timpes Altgesellen Beyer in den Mund gelegt ist, sttzt sich im Wesentlichen auf Wilhelm Weitling: Evangelium des armen Snders [1845]. Hg. von Waltraud Seidel-Hçppner, Leipzig 1967. Vgl. auch Friedrich Engels: Zur Geschichte des Urchristentums [1894/95]. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 22, Berlin 1963, 447 – 473, 449. 43 Zu den Zeitstrukturen des Heimatromans vgl. Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman, 149 ff. 44 Rosegger: Jakob der Letzte [1887], 88.

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und Erde, 1856) und Stifter (Der Nachsommer, 1858) in den Naturalismus weitergefhrt wird und in deren Mittelpunkt die vorindustrielle Gesellschaft steht; insofern bilden die Romane von Kretzer, Polenz, Rosegger und anderen keineswegs den Beginn, sondern – sieht man von einem kurzen Aufleben der sozialen Thematik in der Weimarer Republik ab45 – den Schlusspunkt der entsprechenden Erzhltradition.46 Zum anderen wirkt in ihnen ersichtlich das Modell des ,ganzen Hauses‘ nach, wie es im Kontext der von Wilhelm Heinrich Riehl begrndeten Volkskunde und ihrer Idee einer „konservativen Vergesellschaftung“47 greifbar ist. Auch das ,ganze Haus‘ zielt auf eine – in der Perspektive Riehls allerdings eigentlich bereits vergangene – Vergemeinschaftung, die nicht nur mehrere Generationen integriert, sondern ihre beheimatende Kraft ber Blutsverwandtschaften hinaus auch auf jene „freiwilligen Genossen“ ausdehnt, die sich den Reproduktionsnotwendigkeiten und Wertbesetzungen der „sozialen Gesamtpersçnlichkeit“48 des Hauses unterstellen: Die moderne Zeit kennt leider fast nur noch die ,Familie’, nicht mehr das ,Haus’, den freundlichen, gemtlichen Begriff des ganzen Hauses, welches nicht bloß die natrlichen Familienmitglieder, sondern auch alle jene freiwilligen Genossen und Mitarbeiter der Familie in sich schließt, die man vor alters mit dem Worte ,Ingesinde‘ umfasste. In dem ,ganzen Hause‘ wird der Segen der Familie auch auf ganze Gruppen sonst familienloser Leute erstreckt, sie werden hineingezogen, wie durch Adoption, in das sittliche Verhltnis der Autoritt und Piett.49

45 Vgl. Dieter Mayer: Max Kretzer: ,Meister Timpe’ (1888). Der Roman vom Untergang des Kleinhandwerks in der Grnderzeit. In: Horst Denkler (Hg.): Romane und Erzhlungen des Brgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, 347 – 361, 357. Das gilt insbesondere fr Kretzers frhe Romane. Vgl. zu den z. T. erheblichen Auflagenzahlen – Meister Timpe erlebt noch 1950 eine 12. Auflage – Gnther Keil: Max Kretzer. A Study in German Naturalism. New York 1928, Neudruck New York 1966; Pierre Angel: Max Kretzer. Peintre de la socit berlinoise de son temps, Paris 1966. 46 Vgl. Gçtz Mller: Nachwort. In: Max Kretzer: Meister Timpe, Stuttgart 1976, 289 – 309, 294 ff.; Martin Swales: Epochenbuch Realismus. Romane und Erzhlungen, Berlin 1997, 163 ff. 47 Friedhelm Lçvenich: Verstaatlichte Sittlichkeit. Die konservative Konstruktion der Lebenswelt in Wilhelm Heinrich Riehls ,Naturgeschichte des Volkes’, Opladen 1992, 11. 48 Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie [1854]. Stuttgart, Berlin 131925, 165. 49 Ebd., 164.

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Auch das ,ganze Haus‘ erscheint als generische Formvariation einer (Willens-)Persçnlichkeit, die die in ihr Inkludierten homogen wollen und handeln lsst und insofern nur substantielle, d. h. nicht-aufkndbare Beziehungen kennt. Riehls „soziale[] Gesamtpersçnlichkeit“ verwirklicht in dem Maße eine reale Sittlichkeit, wie sie sich als von der Natur ins Recht gesetzte begreift und nicht als juridische, d. h. auf dem Weg begrifflicher Fiktionen hergestellte Konstruktion. Was das ganze Haus insofern und ber den Zusammenhalt des Mehrgenerationenverbandes oder des Meister-Lehrling-Verhltnisses hinweg nach innen bindet, ist ein ursprngliches Prinzip affektiv gewollter Naturalverhltnisse, die erst die Moderne, vor allem die durch sie entfesselte Geldwirtschaft, einholen wird: Bei vielen deutschen Bauerschaften ist der einzige Umstand, ob das ganze Haus einschließlich des Gesindes an e i n e m Tische sitzt, gerade maßgebend fr die Beantwortung der Frage, ob das Gesindeverhltnis dort schon ein rein rechtliches geworden oder ob es noch ein teilweise patriarchalisches sei, ob die alten Sitten berhaupt verschwunden sind, oder ob sie festgehalten und fortgebildet sind. […] Frher hielt das Band, welches den Lehrling an den Meister fesselte, oft fr das ganze Leben fest. Der Meister stand auch dann noch als Patriarch dem Lehrling gegenber, wenn dieser lngst selber Meister geworden war. […] Weil der Lehrling dem Hause des Meisters w i r k l i c h angehçrt hatte, darum nur konnte sein Verhltnis zu jenem immer ein kindliches bleiben. […] Das Gesinde soll im ,ganzen Hause‘ sein Schicksal als eins erkennen mit dem des Herrn. […] In einem bloßen Vertrags- und Mietsverhltnis hatten jene Dienstboten zu ihrer Herrschaft gewiß nicht gestanden, sondern auch zugleich in einem gemtlichen.50

In gewisser Hinsicht ist an Riehls Ausfhrungen weniger die ,propositionale‘ Dimension, also das Gesagte und Gemeinte signifikant, als der sentimentalische Zug seiner Darstellung. Denn das ,ganze Haus‘ ist nur als das prsent, was es einmal war: ein Versprechen auf interaktionelle Nhe und auf einen substantiellen Willen, der als Band wechselseitiger emotionaler Zuwendungen den genossenschaftlichen Kçrper durchzog und gegenber den zuflligen Vertragsverhltnissen der modernen Welt einte. Insofern besteht die Funktion derart patriarchalischer Lebensformen fr den naturalistischen Roman nicht nur im materialen Aspekt des ,ganzen Hauses’, sondern vielmehr in der Verlaufsform seiner Verfallsgeschichte. 51 Was den sozialen Roman mit derartigen Vorstellungsbildungen 50 Ebd., 168 ff. 51 Dieser Verfall setzt sich im Zusammenhang von Architektur und ,Sitte’ fort. Whrend das ,ganze Haus’ „berall n a c h i n n e n g e k e h r t “ ist, wird das

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verbindet, ist die narrative Fgung, die die Disjunktion zwischen einer organisch-homogenen und einer mechanisch-abstrakten Sozialwelt zu einer Geschichte vom irreversiblen Verlust eines ehemals ganzen sozialen Kçrpers ausgestaltet. Aus diesem Grund besitzen die analeptischen Rckblicke am Beginn der Romantexte, die in die historisch-familiale ,Tiefe‘ der Hauptfiguren vordringen, nicht nur die Funktion, die Idylle einer einstmaligen sozialen Natur aufzurufen, die den modernen Verhltnissen – in aller Regel handelt es sich um die Enteignung von Grund und Boden (Polenz, Rosegger) oder den wachsenden Konkurrenzdruck durch industrielle Fabrikproduktion (Kretzer, Wildenbruch) – kontrastiert wird. Sie sollen vor allem Mçglichkeiten eines Konflikts, genauer: eines in die generationelle Abfolge eingelagerten Potentials fr konflikthafte Verschuldungen bereitstellen, die im Roman als Verlust der organischen und als ,Sieg‘ der modern-abstrakten Verhltnisse verzeitlicht werden kçnnen. In Kretzers Meister Timpe wird dieses Verschuldungspotential dadurch erzeugt, dass der genealogische Text des Romans Großvater, Vater und Sohn Timpe heterogene Welthaltungen, Anschauungen und Wertbesetzungen reprsentieren lsst, die der Erzhlprozess zu zunehmend unberbrckbaren Gegenstzen vergrçßert: Der dreiundachtzigjhrige Greis vertrat eine lngst vergangene Epoche: jene Zeit nach den Befreiungskriegen, wo nach langer Schmach das Handwerk wieder zu Ehren gekommen war und die deutsche Sitte aufs neue zu herrschen begann. […] Johannes Timpe hatte in den Mrztagen Barrikaden bauen helfen. Er war gleichsam das revoltierende Element, das den Brger als vornehmste Sttze des Staates direkt hinter den Thron stellte und die Privilegien des Handwerks gewahrt wissen wollte. Und sein Sohn vertrat die Generation der beginnenden Grnderjahre, die nur danach trachtete, auf leichte Art Geld zu erwerben und die Gewohnheiten des schlichten Brgertums dem Moloch des Genusses zu opfern. Der Greis stellte die Vergangenheit vor, der Mann die Gegenwart und der Jngling die Zukunft. Der erste verkçrperte die Einfalt, der zweite die biderbe Geradheit des Handwerkmannes […] und der dritte die große Lge unsrer Zeit […].52 moderne Haus analog zur „Krisis im Familienleben […] gegen die Straße offener“ (Ebd., 186). Insbesondere der brgerliche Salon, dessen „Schmuck […] nicht mehr […] durch eine feste, langsame und organisch[e] […] Sitte“, sondern durch den Wechsel von „Mode und persçnlicher Laune“ charakterisiert ist, dient der „nichtsnutzige[n], soziale[n] Fiktion“ der „Gesellschaft“ (Ebd., 195). Formulierungen dieser Art lassen ahnen, wie viel das Tçnniessche Schema von ,Gemeinschaft’ und ,Gesellschaft’ Riehl verdankt. 52 Kretzer: Meister Timpe [1888], 24. Das genealogische Schema findet sich auch in Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 37 und Polenz: Der Grabenhger [1897], I, 217 – 224.

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Auffllig an diesem genealogischen Panorama ist zweierlei. Zunchst die Tatsache, dass die derart eingeleitete Romanhandlung eigentlich keine symbolische Dimension besitzt; der Erzhler entfaltet vielmehr unverzglich ihre innere Hermeneutik, indem er das, was erzhlt werden soll, als sein unmittelbares Signifikat auftreten lsst. Dieses Signifikat ist ein moralisch berformter Verfallsprozess, der die soziale Modernisierung als Korruption der ehemals „biderbe[n] Geradheit“ und „Einfalt“ der Vter durch die „Lge“ der Jetztzeit imaginiert und durch einen auktorialen Erzhler beglaubigt. Vor allem aber wird sichtbar, dass der soziale Roman seine Erzhlverlufe im Kern dadurch erzeugt, dass er eine diachrone Achse (Befreiungskriege, Achtundvierzigerrevolution, Grnderjahre) auf eine syntagmatische Erzhlachse abbildet. Der fortschreitende Erzhlprozess leitet den Verlust des organischen Verbandes dann aus einem Verschuldungszusammenhang her, der seinerseits in den gegenlufigen Wertorientierungen und heterogenen Willen der Figuren begrndet ist. Diese Willen sind insofern dichotomisch angeordnet, als sich die Figuren ihrem gemeinschaftlichen Herkommen gegenber entweder als Bewahrer oder berwinder verhalten. „Das sind alte Anschauungen“, lsst Kretzer den Altgesellen Beyer ber seinen Meister sagen. „Sie sind nicht fortgeschritten in ihren Ansichten […]“.53 „,Ich kann’s ja begreifen’“, gesteht ein ehemaliger Gutsbesitzer Traugott Bttner im Angesicht der fortschreitenden Landregulierungen, daß Sie an Ihrem Eigentum hngen. […] Man hngt an der eigenen Scholle, ich weiß das aus eigener Erfahrung. Und das Herz blutet einem, lieber mçchte man sich einen Finger von der Hand hacken lassen, als einen Acker weggeben vom ererbten Grund und Boden. […] [M]an kann darin aber auch zu weit gehen, ich meine, in jenem Festhalten. Dann wird eben Starrkçpfigkeit und Vernarrtheit daraus. […] [W]enn Sie sich auf Ihren Willen versteifen, […] werden Sie sich nicht halten kçnnen auf Ihrem Gute.54

Man kann dieses hermeneutische Schema, das die Hauptfiguren zu willensstarken Bewahrern in einem tragischen Existenzkampf vergrçßert und das den Texten wie ein geschichtsphilosophisches Substrat eingezeichnet ist, an fast allen hier relevanten Romantexten nachweisen. In Kretzers Meister Timpe wirkt es durch den allmhlichen Verlust der altstndischen Handwerkerideale hindurch, wie ihn der Roman am Beispiel des 83jhrigen Greises Ulrich Gottlieb Timpe, dem Sohn Johannes Timpe 53 Kretzer: Meister Timpe [1888], 32. 54 Polenz: Bttnerbauer [1895], 59.

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und dem Enkel Franz Timpe veranschaulicht. Dabei fgt sich die erzhlte Zeit zu einer abwrtsgerichteten Verlaufskurve, die die ußere Zeit zwischen der Grnderphase und der nachfolgenden Rezession in der inneren Geschichte der familialen Gemeinschaft spiegelt: Die Modelle des Drechslermeisters Timpe sind zunchst weit ber das eigene Stadtviertel hinaus berhmt – ihre Originalitt, in der sich Handwerk und Kunst auf solitre Weise durchdringen, hat immerhin die Kronprinzessin auf sie aufmerksam werden lassen –, noch stiftet das Haus der Vter den Zusammenhalt der drei Generationen, der Gesellen und Lehrburschen, und noch erfreut sich der Handwerksbetrieb einer leidlichen Auftragslage, wenn auch der Konkurrenzdruck durch die benachbarte Fabrik stetig wchst.55 Am Ende, nachdem Timpes Sohn Franz die vterlichen Originale zur Herstellung von Urbans Industriekopien entwendet hat, fhrt Johannes Timpe, vereinsamt und den modernen Entwicklungen gegenber verstndnislos, selbst Akkordarbeit fr ein Mçbelmagazin aus, um 55 Die Erzhlkonstellation entspricht recht genau der Situation des Kleinhandwerks im 19. Jahrhundert. Das im Text erwhnte „Magazin“ verweist auf eine nach 1850 neuartige Produktionsform, die Zge von Warenhaus und Manufaktur mit einander kombiniert und vor allem in Berlin einen rasanten Aufstieg erlebt. Der einzelne Handwerker untersteht dabei einem einzigen Arbeitgeber, bleibt aber in einer Art dezentraler Fabrikation, d. h. unter Aufrechterhaltung des eigenen Betriebs, formal selbstndig. Bemerkenswert ist auch, dass sich Kretzers Text in aufflliger Nhe zu den ersten, groß angelegten nationalçkonomischen Studien bewegt, die die Lage des Kleinhandwerks unter dem Gesichtspunkt seiner „Konkurrenzfhigkeit gegenber der Großindustrie“ beschreiben. Wenn es auch çkonomische und produktionstechnische Grnde sind, die das Handwerk zunehmend verdrngen, so verschrft sich die Situation vor allem durch den Eigensinn der Handwerker: „Seit dem Eindringen des Kapitalismus in unser Gewerbe hat die Berliner Tischlerei eine ungeheure Ausdehnung angenommen. Der eigentliche Kleinbetrieb ist im Rckgang begriffen […]. Der Verfall des Kleinbetriebs lsst sich nicht statistisch erfassen und zahlenmßig zum Ausdruck bringen. Die verhltnismßig geringe Verminderung der absoluten Zahl der Kleinmeister darf ber das Elend ihrer Lage nicht tuschen. Relativ wenige kçnnen sich entschließen, auf die Meisterschaft zu verzichten; mit verzweifelter Energie suchen sie ihre Selbstndigkeit zu bewahren und als Flickmeister und Hausindustrielle sich durchzuschlagen […]. Aus diesen außergewçhnlichen Hilfsmitteln erklrt sich zum Teil die erstaunliche Zhigkeit, mit der sich das Kleinhandwerk […] am Leben erhlt.“ Paul Voigt: Das Tischlergewerbe in Berlin. In: Untersuchungen ber die Lage des Handwerks in Deutschland mit besonderer Rcksicht auf seine Konkurrenzfhigkeit gegenber der Großindustrie. Bd. 4: Kçnigreich Preußen, Zweiter Teil, Leipzig 1895, 323 – 498, 491 f. (m. Hervorhg.).

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schließlich den eigenen Untergang herbeizufhren.56 Lediglich eine Variation desselben Stoffs stellt Ernst von Wildenbruchs Schauspiel Meister Balzer dar, allerdings mit der berraschenden Pointe, dass der Uhrmachermeister eine unerwartete symbolische Aussçhnung mit der Moderne vollzieht, in dem er als „Werkfhrer“57 in die auch hier rumlich nahe gelegene Fabrik eintritt. In Polenz‘ Bttnerbauer resultiert der Untergang des traditionellen Sozialverbands aus Erblasten, die durch die erzwungene Erbteilung des vterlichen Gutes entstanden sind und die Traugott Bttner unter dem Druck der Geschwister abtragen muss. In der kurzen Zeitspanne von nur zwei Jahren verstrickt sich Traugott Bttner nicht nur rettungslos in die Fallen des stdtischen Finanzkapitals, sondern verliert zudem sein Gut, seine Familie und schließlich sein Leben, dem der Roman in einer fr das Genre typischen Pathosgeste – Traugott Bttner whlt den Freitod in einem erinnerungstrchtigen Kirschbaum – ein Ende setzt. Nicht nur in der historischen Tiefendimension, die den Untergang der traditionellen Sozialformen in einen urschlichen Zusammenhang mit den Folgelasten der Bauernbefreiung versetzt, berhrt sich Polenz‘ Bttnerbauer mit Roseggers Jakob der Letzte. 58 Auch in Ro56 Der Erzhlprozess wird von den rapiden grnderzeitlichen Vernderungen des Berliner Stadtbilds begleitet. Hervorstechendstes Erzhlmotiv ist der leitmotivisch wiederkehrende Bau der Stadtbahn, die in den 1870er Jahren begonnen und 1882 vollendet wurde. Der Text mndet daher auch in ein allegorisches Schlussbild, in dem sich der „Qualm“ der soeben erçffneten „Stadtbahn“ (Kretzer: Meister Timpe [1888], 228) und des brennenden Handwerkerhauses metonymisch berhren, um das Auseinandertreten der „alte[n]“ und der „neue[n] Welt“ (Ebd.) zu symbolisieren. Entsprechend trgt das im „Osten[] von Berlin“ angesiedelte Stadtviertel zu Beginn alle Zge eines „patriarchalischen“ (13) Raums, in dem sich die „berbleibsel aus alter Zeit“ beharrlich „erhalten haben“ (12), um im Erzhlverlauf allmhlich seine organische Physiognomie zu verlieren. Sichtbar wird dieser Prozess darin, dass Timpes Haus inmitten der wachsenden Neubauten wie ein „alter Sonderling“ wirkt, „der der Neuerung trotzt“ (120). Man kann dieses Erzhlsignal im brigen durch eine ganze Reihe spterer naturalistischer Romane verfolgen. Vorbild ist Zolas 1883 erschienener Roman Au bonheur des dames, in dem das Motiv in der Konfrontation der expandierenden modernen Warenhausarchitektur mit der des alten Kleinhandels bereits Verwendung findet. Vgl. mile Zola: Das Paradies der Damen [1883]. Aus dem Franzçsischen von Hilda Westphal. Mit einem Nachwort von Gertrud Lehnert, Frankfurt/M. 2004, 127. Vgl. auch Kap. II. 2. 57 Vgl. Ernst von Wildenbruch: Meister Balzer. Schauspiel in vier Akten [1893]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10. Zweite Reihe. Dramen. Berlin 1916, 381 – 536, 413. 58 Vgl. Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 234: „Wo lag der Anfang des Unglcks? […] War vielleicht jenes große Ereignis der Bauernbefreiung im Anfang des

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seggers „Waldbauerngeschichte“ vollzieht sich der Untergang des patriarchalischen Sozialverbands als Folge eines ganzen Bndels an Modernisierungsfaktoren, die der Roman mit erheblicher sozialgeschichtlicher Przision entfaltet:59 Verantwortlich hierfr ist der schleichende Verlust jenes „Eigensinns“60 der Gemeinschaft, zu dessen ,letztem‘ Bewahrer Jakob Steinreuter wird. Zum anderen bewirken die massiven çkonomischen Belastungen der Großbauern – vornehmlich die aus der Bauernbefreiung resultierenden Ablçseverpflichtungen, aber auch der gestiegene Kreditbedarf infolge des importbedingten Preisverfalls auf den Altmrkten – eine buchstbliche „Auswanderungspest“61, die Steinreuters Dorf Altenmoos allmhlich entvçlkert. Damit entleert der Text den symbolischen Kçrper der Gemeinschaft in einer beinahe handgreiflich zu nennenden Weise. Und wie in Polenz‘ Bttnerbauer Grund und Boden in die Hnde des jdischen Finanzkapitals geraten, so gelangen die Gter von Altenmoos schließlich in den Besitz ungarischer Spekulanten, die sich die Hinterlassenschaften der patriarchalischen Gemeinschaft parasitr einverleiben. ber alle Details hinweg und auch dort, wo – wie in Wildenbruchs Meister Balzer – einzelne Texte Momente einer Versçhnung von Tradition und Moderne erkennen lassen, wirkt ein und dasselbe narrative Schema. Stets steht der gemeinschaftsfçrmigen Nahwelt ein soziales Aggregat gegenber, das die ehemals direkten Beziehungen unterbricht und in vielfach vermittelte Relationen auflçst. Alle Texte konfrontieren das Schicksal ihrer Willenspersçnlichkeiten mit ,klassisch‘ zu nennenden Modernisierungssyndromen: Die genossenschaftliche Ethik des Handwerks weicht einer kapitalistischen Mentalitt, die sich der „freien Konkurrenz“62 hingibt; der ehemals ,ganze‘ Produktionsprozess zerluft in ,entfremdete‘ maschinelle Teilttigkeiten, denen das „ungeheure Heer der Proletarier“

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Jahrhunderts […] zu spt eingetreten? War dieser mchtige Ruck nach Vorwrts nicht mehr imstande gewesen, das Bauernvolk aus der Jahrhunderte alten Gewçhnung an Unselbstndigkeit und Knechtseligkeit herauszureißen? Oder war die Aufhebung der Frone zu schnell, zu unmittelbar gekommen? Hatte sie den Bauern nur ußerlich selbstndig gemacht […]?“ Vgl. zur Bauernfreiung Friedrich Ltge: Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frhen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2., verbess. und stark erw. Auflage Stuttgart 1967, 201 ff. Vgl. zu den Verhltnissen in sterreich nach 1848 Ltge: Geschichte der deutschen Agrarverfassung, 261 ff. Rosegger: Jakob der Letzte [1887], 196. Vgl. auch Ebd., 149. Ebd., 80. Kretzer: Meister Timpe [1888], 107.

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und „Fabrikarbeiter“63 entspricht; die berkommenen Absatzstrukturen, die unmittelbar zwischen huslicher Produktion und Verkauf verlaufen, werden durch „Fabriken“64 und Mrkte mit grçßerer Fernwirkung ersetzt; die durch Arbeit substantiell begrndete Bindung an den eigenen Besitz weicht ,arbitrren‘ Vertragsprinzipien; das Kunsthandwerk verwandelt sich in einen „allgemeinen Broterwerb“, in dem der „Dutzendpreis“65 und das eigenschaftslose Geld regieren; die beharrende Bindung an Grund und Boden schließlich wird in den begrifflichen Fiktionen des modernen Rechts, insbesondere des verhassten „Romanismus“66, entwesentlicht.67 Letztlich wohnt all diesen Erzhlmotiven eine Vorstellung von Modernisierung inne, die deren Teilverlufe nur als Abbauprozesse direkter Strukturiertheit zugunsten von Formen indirekter Strukturiertheit fassen kann. Alle diese Texte sind um ein soziales Aggregat organisiert, das gemeinschaftsfçrmige Charakteristika besitzt und damit in eine bislang gnzlich unerforschte Nhe zum Vorstellungshaushalt der frhen Soziologie (Tçnnies, Simmel, Durkheim, Weber) rckt. Die Beweislast der folgenden Abschnitte (3.–8.) liegt in der schrittweisen Entfaltung der These, dass sich der naturalistische Roman und die frhe Soziologie, zumindest so weit sie ihren Kern in Konzepten „socialer Differenzierung“ (Simmel) findet, an einer gemeinsamen Disjunktion von ,Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft’68, von ursprnglich-organischen und abstrakt-mechanischen Vergesellschaftungsformen orientieren und insofern ein sentimentalisches Moderneschema ausbilden. Georg Simmels „sociale Differenzierung“, die das Individuum aus der „primitiven Gruppe“69 lçst und 63 64 65 66 67

Ebd., 108. Ebd., 107. Ebd., 105. Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 235. Entsprechend ließe sich die Homologie der Texte auch ber oppositionelle Konzepte – Beharrung vs. Bewegung, Raum vs. Zeit, Arbeit vs. Geld, Eigentum vs. Vertrag etc. – erfassen. Vgl. Karl Heinz Stierle: Die Struktur narrativer Texte [1977]. In: Karl Wagner (Hg.): Moderne Erzhltheorie. Grundlagentexte von Henry James bis zur Gegenwart, Wien 2002, 293 – 319, 306 f. 68 Vgl. Ferdinand Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie [1887]. Nachdruck der achten Aufl. 1935, Darmstadt 42005. 69 Georg Simmel: ber sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen [1890]. In: Ders.: Aufstze 1887 – 1890. ber sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892). Hg. von HeinzJrgen Dahme. In: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 2, Frankfurt/M. 1989, 109 – 421, 139.

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zum „Schnittpunkt“ heterogener „socialer Fden“70 vereinzelt, folgt diesem Schema ebenso wie Emile Durkheims Unterscheidung zwischen „mechanischer“ und „organischer“ Solidaritt, die der historischen Differenz zwischen vormodernen socits primitives und modernen arbeitsteiligen socits suprieures entspricht.71 Noch Max Webers zwischen 1892 und 1899 publizierte nationalçkonomische Arbeiten zum Untergang der genossenschaftlichen Gutswirtschaft reproduzieren dieses Muster und treffen sich darin mit der Prosa von Wilhelm von Polenz, die dieselben Vorgnge zur gleichen Zeit thematisiert.72 70 Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 158. 71 Vgl. Emile Durkheim: ber soziale Arbeitsteilung. Studie ber die Organisation hçherer Gesellschaftsformen [1893]. Mit einer Einleitung von Niklas Luhmann und einem Nachwort von Hans-Peter Mller und Michael Schmidt, Frankfurt/ M. 21988, 156 ff., 237 ff. 72 Das Folgende richtet sich weder auf die ,ganze’ Moderne, noch auf die Gesamtheit ihrer theoretischen ,Beobachtungen’ (Luhmann), noch auf generalisierbare Aussagen ber die Moderne. Im Zentrum steht ausschließlich die Genese eines diskursiven Schemas, das im historischen Feld als ,(soziale) Differenzierung’ auftritt und in seiner Affinitt zum naturalistischen Roman auf literarische ,Analogien’ hin transparent gemacht werden kann. Zur sozialen Differenzierung als bis heute theoriekonstitutivem Zentralkonzept der Soziologie vgl. nachdrcklich Klaus Lichtblau: Zum Stellenwert der sthetisch-literarischen Moderne in den kultursoziologischen Gegenwartsanalysen von Georg Simmel und Max Weber. In: Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne, Stuttgart, Weimar 1999, 52 – 68, 53. Vgl. darber hinaus Reinhard Bendix: Tradition and Modernity Reconsidered. In: Comparative Studies in Society and History 9 (1967), 292 – 346; Johannes Berger: Modernittsbegriff und Modernittskritik in der Soziologie. In: Soziale Welt 39 (1988), 224 – 235; ders.: Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr unterstellt? In: Leviathan 24 (1996), 45 – 62; Gerhart von Graevenitz: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Konzepte der Moderne, 1 – 16; Alois Hahn: Einleitung. In: Ebd., 19 – 26: ders.: Theorien zur Entstehung der Moderne. In: Philosophische Rundschau (1984), 178 – 202; Niklas Luhmann (Hg.): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985; Wolfgang Zapf: Die soziologische Theorie der Modernisierung. In: Soziale Welt 26 (1975), 212 – 226. Fr einen berblick ber die Theoriebeziehungen zwischen den frhen Soziologen vgl. die Beitrge in HeinzJrgen Dahme/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt/M. 1984; Otthein Rammstedt (Hg.): Simmel und die frhen Soziologen. Nhe und Distanz zu Durkheim, Tçnnies und Max Weber, Frankfurt/M. 1988 und exklusiv mit Blick auf Simmel Klaus Christian Kçhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt/M. 1996. In begriffsgeschichtlicher Hinsicht sei festgehalten, dass das sozialtheoretische Konzept ,der Moderne’ sachlich, aber nicht hinsichtlich der Begriffsverwendung durch die soziologischen Klassiker gedeckt

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3. Soziologische Trauerarbeit. ber den „gesetzmßig-normalen Prozess des Verfalles aller Gemeinschaft“ Die Fragestellung zielt damit weder auf eine mit literarischen Affinitten angereicherte Entstehungsgeschichte der Soziologie in der Spur ihrer Klassiker und klassischen Texte,73 noch auf eine Perspektive, die nach der „Glaubwrdigkeit […] literarischer Darstellungen […] aus einer soziologischen Perspektive“ fragt.74 Zudem ist das Folgende weder an den institutions- und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, noch an den im ist. Wie Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt/M. 1996, 36 ff. gezeigt hat, wird der Begriff der Moderne weder von Tçnnies noch von Weber verwendet. Wenn er – wie etwa bei Simmel – dennoch Verwendung findet, bezeichnet er keinen im engeren Sinne soziologischen oder sozialtypologischen Sachverhalt, sondern die „spezifisch sthetischen Erfahrungsgehalte der sthetischliterarischen Moderne“ (Ebd., 39, Anm. 22). Insofern meint ,Moderne’ an dieser Stelle einen Beobachtungsbegriff, der das beschriebene Verstndnis sozialer Modernitt, wie es die soziologische Tradition im Anschluss an die Klassiker gebildet hat, als deren gemeinsame Theorieanstrengung fassen soll. 73 Fr Einzelkonstellationen vgl. etwa Rolf Fechner (Hg.): Der Dichter und der Soziologe. Zum Verhltnis zwischen Theodor Storm und Ferdinand Tçnnies, Hamburg 1985; Edith Weiller: Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen. Stuttgart, Weimar 1994. – Der Zusammenhang zwischen ,sthetischer Kultur’ und moderner Lebenswelt ist inzwischen ein viel beforschtes Feld. Vgl. jeweils mit Blick auf Simmel und Weber Lichtblau: Zum Stellenwert der sthetisch-literarischen Moderne in den kultursoziologischen Gegenwartsanalysen von Georg Simmel und Max Weber. In: Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne, 55 ff. und Linda Simonis: Reflexionen der Moderne im Zeichen von Kunst. Max Weber und Georg Simmel zwischen Entzauberung und sthetisierung. In: Ebd., 612 – 632, 615 ff. Vgl. insbesondere zu Simmel Sibylle Hbner-Funk: sthetizismus und Soziologie bei Georg Simmel. In: Hannes Bçhringer/Karlfried Grnder (Hg.): sthetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, Frankfurt/M. 1976, 44 – 58; David Frisby: Sociological Impressionism. A Reassessment of Georg Simmel’s Social Theory, London 1981; Sibylle Hbner-Funk: Die sthetische Konstituierung gesellschaftlicher Erkenntnis am Beispiel der ,Philosophie des Geldes‘. In: Dahme/Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne, 183 – 201; Klaus Lichtblau: sthetische Konzeptionen im Werk Georg Simmels. In: Simmel Newsletter 1 (1991), 22 – 35; Felicitas Dçrr: Die Kunst als Gegenstand der Kulturanalyse im Werk Georg Simmels, Berlin 1993; Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, 203 ff. 74 So im Blick auf die Romanliteratur des 19. Jahrhunderts der Entwurf von Helmut Kuzmics/Gerald Mozeticˇ : Literatur als Soziologie. Zum Verhltnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit, Konstanz 2003, 259.

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engeren Sinne disziplinengeschichtlichen Ermçglichungsbedingungen der frhen Soziologie interessiert. Dass ihre Formationsphase von Schulenbildungen und akademischen Gegnerschaften,75 die zum Teil unter çffentlicher Beteiligung ausgetragen worden sind, begleitet wurde, ist Publikationen zur Wissenschaftsforschung zu entnehmen.76 Dass es darber hinaus signifikante Brche in den geistesgeschichtlichen Hçhenbahnungen des 19. Jahrhunderts gegeben hat, die Konsequenzen fr das Methodologisierungsniveau der soziologischen Theoriebildung besaßen, ist in Einzelstudien zu Ferdinand Tçnnies, Georg Simmel oder Max Weber wiederholt hervorgehoben worden. Tatschlich bestehen ja Zusammenhnge zwischen der mentalen Verarbeitung der çkonomischen Entwicklungen ab 1872/73 (,große Depression‘) und dem Brchigwerden von Fortschrittsannahmen, wie sie noch die ltere Soziologie eines Auguste Comte und – wenn auch bereits evolutionistisch entteleologisiert – eines Herbert Spencer getragen hatten.77 Dass es schließlich Korrespondenzen zwischen Literatur und Soziologie als konkurrierende Deutungsdiskurse der modernen Industriegesellschaft gegeben hat, ist seit lngerem in der Rede von den „drei Kulturen“ verfestigt, zumal sich mit ihrer Hilfe nationaltypische Besonderheiten in der Disziplinentwicklung ausmachen ließen.78 Die folgenden berlegungen rcken demgegenber einen bislang unerschlossenen Gesichtspunkt in den Mittelpunkt. Sie gehen von der Beobachtung aus, dass ein bestimmter Strang des sozialen Romans par75 Vgl. bspw. zu den Richtungskmpfen um die neue Sorbonne zwischen Emile Durkheim, Gabriel de Tarde und Charles Pguy Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankfurt/M. 1985, 59 ff. und 71 ff. 76 Vgl. Wolf Lepenies: Einleitung. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identitt der Soziologie. In: Ders. (Hg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identitt einer Disziplin. Bd. 1, Frankfurt/M. 1981, I-XXXIV, I. 77 Vgl. Heinz-Jrgen Dahme: Der Verlust des Fortschrittsglaubens und die Verwissenschaftlichung der Soziologie. Ein Vergleich von Georg Simmel, Ferdinand Tçnnies und Max Weber. In: Rammstedt (Hg): Simmel und die frhen Soziologen, 222 – 274, 225 ff.; Cornelius Bickel: Ferdinand Tçnnies’ Weg in die Soziologie. In: Ebd., 86 – 162, 89 f.; ders.: Ferdinand Tçnnies. Soziologie als skeptische Aufklrung zwischen Historismus und Rationalismus, Opladen 1991, 87 ff.; David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin. Aus dem Englischen von Adriane Rinsche, RhedaWiedenbrck 1989, 13 ff. 78 Fr die genuin deutsche Opposition von gesellschaftsferner Dichtung und ,bloßer’ Literatur vgl. Lepenies: Die drei Kulturen, 265 ff.

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allel zur frhen Soziologie insofern an Vorstellungsbildungen ber die Moderne beteiligt ist, als er die in ihm dargestellte Modernisierung der Gesellschaft als Umbau von organischen zu mechanisch-abstrakten Sozialformen gestaltet. Die Kategorie des ,Sentimentalismus‘ ist dabei weder als Ausdruck einer hermeneutischen Intention zu verstehen, die zu einem ,neuen‘ oder ,besseren‘ Verstndnis der soziologischen Klassiker fhrte, also die frhe Soziologie in toto als ,sentimentalisch‘ einstufte, noch als Name fr eine verborgene ideologische Funktion, die an der frhen Soziologie ein entsprechend konservatives oder gegenmodernes Bewusstsein aufdeckte. Gemeint ist lediglich ein Sinnschema, das fr den Konzeptaufbau der frhen Soziologie wesentlich ist und an ihm analytisch isoliert werden kann – auch dort, wo sich die frhe Soziologie auf die positiven Folgeeffekte der Moderne, d. h. etwa auf ihre strukturellen Freiheitsgewinne und gewachsenen Interdependenzen, richtet.79 Gleichwohl lagert sich an diese Disjunktion der Sozialformen ein Affektpotential an, das die Gemeinschaft – man ist versucht zu sagen: unauslçschlich – im Willen ihrer heroischen Bewahrer verankert. Gemeinschaft ist im sozialen Roman nicht nur die Markierung eines narrativen Anfangs, der im fortschreitenden Erzhlprozess allmhlich zerstçrt wird, sondern der Signifikant fr einen sozialen Ursprung, der – anders als die Abstraktionen der modernen Gesellschaft – gewollt und begehrt wird. Was sich im Willen der Persçnlichkeit als dessen einziger ,Gehalt‘ realisiert, ist das ihm aufgegebene Wahrheitsbeharren der Gemeinschaft, die der modernen „Lge“80 entgegensteht. In einem gewissen Sinne sind all die großen Persçnlichkeiten und standhaften Bewahrer, die im Zentrum des naturalistischen Romans stehen, lediglich Teilallegorien und Personifikationen ein und desselben Willens, der fortwhrend eine als 79 Die Nhe zur Schillerschen Kategorie ist insofern intendiert, als dieser ,Sentimentalismus’ nur aus der Perspektive einer Moderne artikuliert werden kann, der das, was ihr als ,ursprngliche’ soziale Erfahrung vorausgegangen ist, als konstitutiv vergangen erscheint. Aus diesem Grund ist der Modus des ,Sentimentalischen’ Erinnerung oder, so fern dieser Erinnerung eine Artikulation zukommt, Erzhlung. Vgl. zu Schillers Begriff des ,Sentimentalischen’ Friedrich Schiller: ber naive und sentimentalische Dichtung [1795]. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Begrndet von Julius Petersen. Bd. 20: Philosophische Schriften. 1. Teil, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962, 413 – 503, 431. – Fr methodologische Anregungen und Hinweise zum Verhltnis von literarischen und kulturellen Narrativen danke ich Albrecht Koschorke (Konstanz). 80 Kretzer: Meister Timpe [1888], 159.

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ursprnglich auratisierte soziale Erfahrung begehrt und gegen den symbolischen ,Feind‘ der gesellschaftlichen Modernisierung verschließt. Wollte man den Zusammenhang theoretischer fassen, so msste man von einer spezifisch literarischen Fundierung der Sozialwelt in Bewusstseinsdispositionen und d. h.: in Akten eines gleichgerichteten und beharrenden Willens sprechen. In nichts anderem, also in der Rckrechnung aller „soziale[n] Gebilde“ auf die vorgngige „psychische[] Substanz“81 des „menschlichen Willens“82, besteht der methodologische Impuls der Tçnniesschen Soziologie, und auch Georg Simmels Theorem der „socialen Kreise“, das in sachlicher Hinsicht in die Figur der „socialen Differenzierung“, in methodologischer Hinsicht in die Konstitution der ,formalen Soziologie‘ fhrt, ruht auf einem apokryphen voluntaristischen Konstruktionsstrang. – Doch das sind voraus greifende berlegungen, auf die noch eigens und systematisch zurckzukommen sein wird. Zunchst soll der Gedanke entfaltet werden, dass die Disjunktion von ,Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft’, wie sie im sozialen Roman und in den Theorieentwrfen der frhen Soziologie gleichermaßen prsent ist, unterschiedlich gewichtige Anschlussprobleme erzeugt, je nachdem, ob sie literarisch oder im Kontext von Wissenssystemen Verwendung findet. Zumindest fr die Soziologie stellt sich das theoriegeschichtlich weitlufig vorgeprgte Problem, wie typologische und historische Begriffsdimensionen miteinander vermittelt werden kçnnen. Denn eine Theorie der Sozialwelt, deren unterstellte Einheit in die doppelte Realitt eines ursprnglichen sozialen Organismus und einer mechanischen Sphre der Gesellschaft auseinander tritt, muss plausibel machen kçnnen, wie sich beide Vergesellschaftungsweisen zueinander verhalten, will die Konstruktion nicht unterstellen, dass sie beide zugleich soziale Wirklichkeiten sind. Ausgehend von der Frage, wie Vergesellschaftung zu denken ist, fhren daher alle zunchst typologisch gemeinten Antworten unweigerlich in eine quasihistorische Problemstellung, die den Stand der in der Moderne erreichten Sozialwelt aus einer ihr vorgngigen sozialen Erfahrung heraus (re-)konstruiert. Wie der naturalistische Roman gert auch die Soziologie von Beginn an in den darstellungstechnischen Zwang, ein imaginres Voraus der Moderne, eine ursprngliche ,Erfahrung‘ zu ersinnen, aus der sie ihr eigenes Gewordensein entfalten kann. Zumindest so weit die Moderne als Ergebnis eines evolutionren Verlaufs zur Sprache kommt, 81 Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], XXXIV (Vorrede zur 2. Auflage 1912). 82 Ebd., 73.

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bençtigt ihre soziologische Rekonstruktion eine soziale Natur, in der noch all das lebendig ist, was buchstblich ,am Anfang‘ gewesen ist und dem dennoch, d. h. aus der Perspektive der sich von ihrem imaginren Ursprung fortwhrend ,historisch‘ distanzierenden Moderne, nur mehr der Status eines Relikts, einer nur erzhlerisch zu bewerkstelligenden Erinnerung zuwchst. Kategorien wie soziale ,Differenzierung‘ (Simmel), ,Arbeitsteilung‘ (Durkheim) oder ,Rationalisierung‘ (Max Weber) wren dann lediglich Begriffe, die dieser unhintergehbaren Narrativitt einen Namen geben. Man kann diesen theorieimmanenten Zwang, die Konstitution der Sozialformen in Verlufe wachsender struktureller Abstraktion umgestalten und damit in eine quasi-geschichtsphilosophische Problemstellung mnden zu mssen, in berdeutlicher Weise an den Ambivalenzen studieren, mit denen Ferdinand Tçnnies „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ als „Grundbegriffe der reinen Soziologie“83 konstruiert. Denn einerseits sollen die Begriffe in einer neuartigen Vermittlung von „Naturrecht“ und „historischer Rechtsschule“84, von „rationale[r]“ und „historische[r]“85 Theorie, aus all jenen „falschen“ Anschauungen gelçst werden, die Staat und Gesellschaft in ein Verhltnis organischer Entwicklung zueinander setzen.86 Organisch ist in Tçnnies‘ Verstndnis allein die Gemeinschaft, 83 So der sptere Untertitel der 2. Auflage von 1912. Der Text hat – bei geringen inhaltlichen Vernderungen der spteren Auflagen (81935) – zunchst eine Reihe von Umorientierungen erfahren. Der erste Entwurf, der 1881 ursprnglich als Kieler Habilitationsschrift vorgesehen war, firmiert noch als „Theorem der Kultur-Philosophie“ und findet erst 1925 Eingang in die gesammelten Studien und Kritiken. Vgl. Ferdinand Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Theorem der Kultur-Philosophie [1881]. In: Ders.: Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung, Jena 1925, 1 – 33 und dazu Peter-Ulrich Merz-Benz: Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tçnnies’ begriffliche Konstitution der Sozialwelt, Frankfurt/M. 1995, 182 ff. Der zweiten Auflage der heute bekannten Fassung ist 1887 eine erste Auflage mit dem Untertitel „Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen“ vorausgegangen. Vgl. Ferdinand Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887. 84 Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], XXVI. 85 Ferdinand Tçnnies: Zur Einleitung in die Soziologie [1899]. In: Ders.: Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung, 65 – 74, 70. 86 Vgl. Ebd., 70: „Meine Theorie stellt ußerlich als eine Verbindung der entgegengesetzten organischen und mechanischen, der historischen und rationalen, sich dar.“ Vgl. auch Ferdinand Tçnnies/Friedrich Paulsen: Briefwechsel 1876 – 1908. Hg. von Olaf Klose, Eduard Georg Jacoby und Irma Fischer, Kiel 1961,

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whrend Staat und Gesellschaft, vor allem in den durch sie ins Werk gesetzten Vertragsverhltnissen, mechanische und willkrlich ,gesatzte‘ Aggregate darstellen.87 Andererseits sollen beide Begriffe „rein als Konstruktionen beurteilt werden“; ihre „Anwendbarkeit auf die Wirklichkeit“ ist ihnen „nur akzidentell“88 und dient – weil sie bloße „Artefakte des Denkens“ sind – dazu, „das Verstehen“ einer von ihnen kategorial geschiedenen „Wirklichkeit zu erleichtern“89. Und einerseits verluft durch die unterstellte Einheit der Begriffsbildung eine nachhaltige Zsur, wenn die Gemeinschaft auf die „genetische Klassifikation ihrer Gestalten“ – „Haus, Dorf, Stadt“ – zielt, whrend die „,Theorie der Gesellschaft’“ ein „reines Gedankending“90 darstellt; andererseits handelt es sich um soziale Verbindungen innerhalb einer Verfallsgeschichte, an deren Ende alle gemeinschaftlichen Beziehungen getilgt und nur mehr gesellschaftliche realisiert sind. Geschichte erscheint daher als „Bewegung der fortschreitenden Gesellschaften“91 und als jene „natrliche Entwicklung“92, die aus naturhaft-organischen willkrlich-mechanische Sozialverbnde hervorgehen lsst. „Der Begriff ,Gesellschaft’“, so vermerkt Tçnnies noch 1899 lapidar, „bezeichnet […] den gesetzmßig-normalen Prozeß des Verfalles aller Gemeinschaft.“93 Fraglos dokumentiert die Vielzahl der begrifflichen Konstruktionsweisen zunchst Unsicherheiten in der Kategorienbildung einer noch

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101 f. [Brief vom 9. 1. 1881]: „Ich […] will nur mitteilen, daß ich unter dem Titel ,Gemeinschaft und Gesellschaft’ den Gegensatz behandle, welche die Neueren (Stein, Gneist usw.) als den von Staat und Gesellschaft, wie ich meine, liberalistisch falsch behandelt haben […].“ Vgl. Tçnnies: Zur Einleitung in die Soziologie [1899], 70: „Insofern daher als dies die einfache Bestimmung der Gesellschaft ist: den friedlichen Verkehr der Menschen zu ermçglichen, so ist der Staat nichts als die Gesellschaft selber, welche sich als eine einzelne Person den (natrlichen) einzelnen Personen gegenberstellt.“ Tçnnies/Paulsen: Briefwechsel, 273 [Brief vom 28. 12. 1889]. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 113. Tçnnies: Zur Einleitung in die Soziologie [1899], 67. Zu den „Gestalten“ der Gemeinschaft vgl. auch Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 211 ff. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 159. Tçnnies: Zur Einleitung in die Soziologie [1899], 74. Ebd., 71 (m. Hervorhg.). An anderer Stelle hat Tçnnies diesen Verfallsprozess im Sinne primrer und sekundrer Differenzierungen umakzentuiert: „Seine [d.i. das Zeitalter der Gemeinschaft, I.S.] ganze Entwicklung ist auf eine Annherung zu Gesellschaft hin gerichtet; wie aber andererseits die Kraft der Gemeinschaft auch innerhalb des gesellschaftlichen Zeitalters […] sich erhlt und die Realitt des sozialen Lebens bleibt.“ Ebd., 217.

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jungen Disziplin; zumindest sind sie frhzeitig bemerkt und in der Frage zusammengefhrt worden, wie – soll die Sozialwelt tatschlich als gesetzmßig-evolutionrer Prozess gedacht werden – der mechanische Status der Gesellschaft aus dem organischen Wesen der Gemeinschaft hervorgehen kann. Schon 1889 hatte Emile Durkheim in einer Rezension von Gemeinschaft und Gesellschaft betont, dass das, was als mechanisch und naturvergessene Kultur endet, nicht aus Organischem resultieren kann: Wie der Autor glaube ich, daß es zwei große Arten des sozialen Zusammenschlusses gibt […]. Wie er gehe ich davon aus, daß die Gemeinschaft das Ursprngliche, die Gesellschaft das Abgeleitete ist. […] Ist es im brigen wahrscheinlich, daß die Entwicklung ein und desselben Wesens, nmlich der Gesellschaft, organisch beginnt, um am Ende in einen puren Mechanismus zu mnden? Zwischen diesen beiden Seinsmodi besteht ein derartiger Bruch, daß man nicht sieht, wie sie Teil einer gleichen Entwicklung sein sollten. Die Theorien von Aristoteles und Bentham in dieser Weise zu versçhnen, heißt nichts anderes, als Gegenstze nebeneinander zu stellen. Man muß sich entscheiden: Wenn die Gesellschaft ursprnglich eine Naturerscheinung ist, dann bleibt sie dies bis zum Ende ihres Lebensweges.94

Aus der Distanz ist Durkheims Argwohn symptomatisch. Denn die unberbrckbare Zsur zwischen zwei idealtypischen Begriffen, die gleichwohl in einem prozesshaft gerichtetem Verhltnis zu einander stehen, lenkt die Beobachtung auf den Umstand, dass die Konstruktion antithetischer Vergesellschaftungsformen nicht ohne erzhlerische Vermittlungen denkbar ist und die angenommene Einheit der Sozialwelt unweigerlich evolutionre Implikationen besitzt. Wollte man an den Be94 Emile Durkheim: [Gemeinschaft und Gesellschaft nach Tçnnies]. In: Ders.: ber Deutschland. Texte aus den Jahren 1887 bis 1915. Hg. von Franz Schultheis und Andreas Gipper. Aus dem Franz. bers. von Andreas Gipper, Konstanz 1995, 217 – 225, 224 f. Durkheim selbst verwendet die Leitbegriffe des Organischen und Mechanischen bekanntlich gegenlufig zu Tçnnies. Grund ist Durkheims zum Zeitpunkt der Schrift ber soziale Arbeitsteilung (1893) noch weitgehend ungebrochenes Vertrauen in die Integrationskraft der arbeitsteiligen Industriegesellschaft, die sich im Gegensatz zu den mechanischen Sozialformen durch ein hçheres Maß an organischen Solidarkrften auszeichnet und in einem quasi-systemtheoretischen Sinn Integration durch Differenzierung hervortreibt. Die (latent) optimistische Sinnrichtung der Arbeitsteilung, die mit der Studie ber den Selbstmord (1897) allmhlich hinter die Analyse sozialer ,Anomien’ zurck tritt, ist auch der Grund, warum Durkheim an dieser Stelle, trotz des prinzipiell gleichen Diskursschemas, unbercksichtigt bleibt. Vgl. grundlegend Hartmut Tyrell: Emile Durkheim – Das Dilemma der organischen Solidaritt. In: Luhmann (Hg.): Soziale Differenzierung, 181 – 250, 182.

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grndungstexten der frhen Soziologie versuchsweise und in Anlehnung an erzhlanalytische Termini eine histoire- von einer discours-Ebene unterscheiden, so wrde man auf der Ebene des discours fortwhrend auf Indexikalisierungen von Zeit und Vergangenheit, auf grammatikalische Nicht-Mehr-Konstruktionen und analeptische Erzhlsignale stoßen. Sie besitzen die Funktion, einen Ausgangszustand, einen sozialen Ursprung, narrativ in einen durch Zeit vernderten, spteren Zustand zu berfhren, in dem der Ursprung der derart geschichtlich entfalteten Sozialwelt nicht mehr prsent sein kann. Im Anhang von Gemeinschaft und Gesellschaft heißt es: […] so beobachteten wir bei den historischen Vçlkern aus ursprnglichen gemeinschaftlichen Lebensformen und Willensgestalten den Entwicklungsprozeß der Gesellschaft und gesellschaftlichen Krwillensgebilde, aus der Kultur des Volkstums die Zivilisation des Staatstums. […] Zwei Zeitalter stehen mithin, um diese gesamte Ansicht zu beschließen, in den großen Kulturentwicklungen einander gegenber: ein Zeitalter der Gesellschaft folgt einem Zeitalter der Gemeinschaft.95

Entstehungsgeschichtlich ist die Abfassung von Gemeinschaft und Gesellschaft bezeichnenderweise von Beginn an mit einem modernisierungsgeschichtlichen Interesse verbunden gewesen.96 Wie die im Briefwechsel mit Friedrich Paulsen minutiçs dokumentierte Textentstehung zeigt, hat Tçnnies die spteren „Grundbegriffe der reinen Soziologie“ bereits 1879 aus „einem langen Bildungsprozeß“ hervorgehen sehen wollen, der – zunchst an die „Geschichte der Gemeinschaften“ gebunden – aus ihnen heraus und in einen, wie es geradezu skularisationstheoretisch heißt, „verweltlichten Sinn[]“97 fhrt. 1882 bemerkt Tçnnies, dass er „die […] Gedanken nicht los [werde]“, „aus den Elementen“ der „Begriffe von Gemeinschaft und Gesellschaft die Philosophie der Geschichte aufzubauen.“98 Und noch 1890 konzediert er gegenber Paulsen, dass die „Idee eines typischen historischen Verlaufes“ fr die Antithetik von Gemeinschaft und Gesellschaft „notwendig“99 sei. Nimmt man die Beobachtungen ber die narrativen Implikationen der Tçnniesschen Begriffsbil95 Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 209, 217. 96 Dies betont auch Merz-Benz: Tiefsinn und Scharfsinn, 22: Tçnnies’ Interesse galt „von Anfang an […] der Denkbar- und Darstellbarmachung des Hervorwachsens der modernen Industriegesellschaft aus den Sozialformen des Mittelalters.“ 97 Tçnnies/Paulsen: Briefwechsel, 61 f. [Brief vom 30. 10. 1879]. 98 Ebd., 147 [Brief vom 26. 1. 1882]. 99 Ebd., 275 f. [Brief vom 19., 20., 24. 1. 1890].

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dung mit den zitierten Selbstaussagen zusammen und belastet den angestrengten Begriff der Geschichtsphilosophie lediglich mit der Einsicht in die Temporalitt sozialer Kategorien, dann werden die diskursiven Parallelen zum sozialen Roman offenkundig. Gerade weil soziale Modernisierung konstitutiv auf eine Darstellung als Prozess bezogen ist, scheint es, als gingen in die Konstitution der Tçnniesschen Sozialformen weniger erfahrungsfçrmige Substrate – Substrate einer wirklichen und anfnglichen Welt – ein, als vielmehr Darstellungszwnge, die den disjunkten Status der Begriffe aus nicht explizierten narrativen Grnden allererst herleiteten. In gewisser Hinsicht sind es diese methodologischen Probleme in der Konstitution eines typologisch-systematisch gemeinten, aber, gewissermaßen gegen die Intention verlaufend, nur narrativ darstellbaren Begriffspaares, die die Affinitt der frhen Soziologie zum sozialen Roman (mit)begrnden. Tatschlich ist die Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft, lsst man das Problem ihrer ,entwicklungsgeschichtlichen‘ Vermittlung fr einen Moment außer acht, leicht als Serie von immer weiteren Disjunktionen rekonstruierbar, die den Grundgegensatz der primren Vergemeinschaftungsformen in die Totalitt der Sozialwelt und ihrer vielfltigen Sinndimensionen ausdehnen und damit gewissermaßen Weltmaterial versammeln, das den thematischen Orientierungen des naturalistischen Romans entspricht. Jede soziale Verbindung, so lautet zunchst die „allgemeine Bestimmung der Hauptbegriffe“, wird entweder als reales und organisches Leben begriffen – dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung – dies ist der Begriff der Gesellschaft. […] Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben […] wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die ffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde. […] Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorbergehendes und scheinbares. Und dem ist es gemß, daß Gemeinschaft selber ein lebendiger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefakt verstanden werden soll.100

Gemeinschaft, so lsst sich Tçnnies‘ dichotomische Begriffswelt rekapitulieren,101 ist der Name fr die „[g]egenseitig-gemeinsame, verbindende 100 Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 4. 101 Vgl. die bersichtstafeln in Ebd., 158 und 216 f. Fr eine (wohl unfreiwillige) Reproduktion desselben tabellarischen Schemas unter dem Gesichtspunkt von „Vertrauens- und Risikoumwelten in vormodernen und modernen Kulturen“ vgl.

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Gesinnung“102 des organischen Zusammenlebens. Seine „Ordnung“ grndet in einem „natrliche[n] Recht“, das als Summe von gewohnheitsmßigen und gemeinschaftlich gewollten „Pflichten und Gerechtsamen“103 jedem Rechtssystem voraus liegt. Ihre biologische Substanz besitzt die Gemeinschaft in der „metaphysischen“ Kosubstantialitt „der Leiber und des Blutes“104, ihre psychische Substanz in der Form des differenzlosen „Wesenwillens“105, in dessen gleichgerichteten Akten die Gemeinschaft sich selbst innerlich bejaht. Gesellschaft dagegen umfasst die Summe der mechanischen, d. h. ,gemachten‘ Vertragsbeziehungen; sie verdinglichen die Sozialwelt im rational wgendem und berechnenden „Krwillen“ zu endlosen Sequenzen von Zweck-Mittel-Relationen, in denen die vereinzelte Person nur mehr als persona und juristische „Fiktion“106 zur Geltung kommt. Gemeinschaft ist damit all das HeimlichVertraute, Substantiell-Dauernde und Organisch-Naturhafte, das im Namen der Gesellschaft als irreversibler Verlust und unwiederbringlich Ursprngliches erscheint. Dass Tçnnies dieses dichotomische Schema mit einer weiteren Dichotomie – der von „status“ und „contract“, wie er sie Henry Sumner Maines Schrift Ancient Law (1861) entnommen hatte – berformt, hat einen doppelten Sinn: Zum einen sind beide Begriffe – analog zur Antithetik von Gemeinschaft und Gesellschaft – Antworten auf die Frage, wie soziale Kohsion im Sinne bleibender Vergesellschaftungsformen zu denken ist – Maine spricht vom „tie between man and man“ –, zum anderen markieren auch sie Anfangs- und Endpunkte innerhalb einer als historisch vorgestellten „Bewegung der fortschreitenden Gesellschaften“.107

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Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. bers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1995, 128, wo die traditionellen und lokalen Bindungen der Vormoderne den „entbetteten abstrakten Systemen“ der Moderne entgegengestellt werden. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 17. Ebd. Ebd., 154. Ebd., 73. Ebd., 149. Ebd., 159. Vgl. Henry Sumner Maine: Ancient Law. Its Connection with the early History of Society and its Relation to modern Ideas [1861]. With an Introduction by Sir Charleton Allen, London 1959, 140 f.: „Starting, as from one terminus of history, from a condition of society in which all the relations of Persons are summed up in the relations of Family, we seem to have steadily moved towards a phase of social order in which all these relations arise form the free agreement of Individuals. […] If then we employ Status […] to signify these personal conditions only […], we may say that the movement of the progressive

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Wenn Ferdinand Tçnnies in die Ideengeschichte der Soziologie als Begrnder zweier „Hauptbegriffe“108 eingegangen ist, dann besitzt Georg Simmels Entwurf der ,formalen Soziologie‘ eine hnliche Bedeutung fr die Methodengeschichte des Fachs. Allerdings kreuzen sich in der ,formalen Soziologie‘ – gegen den primr systematischen Zug des Begriffs – methodologische und modernisierungsgeschichtliche Aspekte. In dieser Verschrnkung sind sie Anschauungsweisen einer identischen, durch die Moderne selbst hervorgebrachten Problemlage. Sinnfllig wird dieser Zusammenhang vor allem dadurch, dass dem formalen Charakter der soziologischen Begriffsbildung eine Gegenstandsseite entspricht, die im Konzept der „socialen Differenzierung“109 Einsichten in den historischen Verlauf der Gesellschaftsentwicklung gewinnen und dennoch Konsequenzen aus der ,formalen‘ Konstitution ihrer Begriffe ziehen will. Formal ist Simmels Soziologie, weil sie – wie alle frhen Soziologen – auf den als unspezifisch verschrienen Gesellschaftsbegriff verzichtet und stattdessen „dynamische[]“110 Momente der Vergesellschaftung in den Blick rckt.111 In dieser Umakzentuierung liegt der Gedanke beschlossen, dass die theoretische Konstitution der Sozialwelt einen spezifischen „Standpunkt“112 erfordert, von dem aus Aussagen ber das Soziale getroffen werden kçnnen, die im Sinne eines „Specifisch-Gesellschaftliche[n]“ nicht lediglich mit dem synthetisierten „Material“ anderer „Wissenschaften“ – etwa „mit den Ergebnissen der Geschichtsforschung, der Anthropologie“ oder „der Statistik“ – identisch sind.113 Aus diesem Grund kann die Soziologie nicht mit einem bereits vorausgesetzten „Gesellschaftsbegriff“, den auch andere Wissenschaften zugrunde legen, „beginnen“114, sondern muss den Blick auf die unterschiedlichen „For-

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societies has hitherto been a movement from Status to Contract.“ Der Text liegt seit lngerem auch auf deutsch vor. Vgl. Henry Sumner Maine: Das alte Recht/ ,Ancient Law’. Sein Zusammenhang mit der Frhgeschichte der Gesellschaft und sein Verhltnis zu modernen Ideen. Hg. und bers. von Heiko Dahle, BadenBaden 1997, 114. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 4. Grundlegend in Simmel: ber sociale Differenzierung [1890]. Ebd., 129. Zur Kritik des Gesellschaftsbegriffs vgl. Dahme: Der Verlust des Fortschrittglaubens und die Verwissenschaftlichung der Soziologie, 255 f. Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 117. Von einem „sociologischen Standpunkte“ hatte, wenn auch mit anderen Konsequenzen, 1885 schon Ludwig Gumplowicz: Grundriß der Sociologie. Wien 1885, 72, gesprochen. Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 116. Ebd., 131.

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men“115 richten, in denen sich Vergesellschaftung vollzieht. Vergesellschaftung ruht nach Simmel auf der „Wechselwirkung“ von „Teile[n]“116, die die Gesellschaft, die „gegenber“ diesen „realen Wechselwirkungen […] nur sekundr“117 ist, allererst konstituieren. Wo dies methodologisch gelingt, hat sich eine „Sociologie in engerer Bedeutung“, eine „eigentliche Sociologie“118, etabliert, die weder nach den persçnlichen Motiven, Interessen und Wertbesetzungen der handelnden Individuen, noch nach dem „Wesen“119 des Sozialen an sich fragt. Beiden, wie man sagen kçnnte, ,verstehenden‘ Perspektiven hlt die formale Soziologie das Interesse an den vorgngigen Wechselwirkungsrelationen entgegen, die die Handlungssequenzen der Individuen annehmen und die eine spezifisch soziale Form, eine Gestalt, ausbilden, die wieder erkennbar wird und – wichtiger – „ein objektives Gebilde zustande bringt“, das eine gewisse Unabhngigkeit von den einzelnen daran teilhabenden Persçnlichkeiten besitzt. Wo eine Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren, wenngleich einzelne Mitglieder ausscheiden und neue eintreten; wo ein gemeinsamer ußerer Besitz existiert, dessen Erwerb und ber den die Verfgung nicht Sache eines Einzelnen ist; wo eine Summe von Erkenntnissen und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die durch die Teilnahme der Einzelnen weder vermehrt noch vermindert werden, die, gewissermaßen substantiell geworden, fr jeden bereit liegen, der daran teilhaben will; wo Recht, Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, denen jeder sich fgt und fgen muß, der in ein gewisses rumliches Zusammensein mit andern eintritt – da berall ist Gesellschaft […].120

Es sind diese objektiven sozialen Gestalten, die methodologisch als spezifischer Gegenstand der formalen Soziologie erscheinen sollen und die dennoch nicht ohne eine sie tragende Temporalstruktur denkbar sind. 115 Simmel: Das Problem der Sociologie [1894]. In: Ders.: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900. Hg. von Heinz-Jrgen Dahme. In: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 5. Frankfurt/M. 1992, 52 – 61, 54 (m. Hervorhg.). 116 Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 129. 117 Ebd., 130. 118 Simmel: Das Problem der Sociologie [1894], 53, 54 (m. Hervorhg.). 119 Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 130. 120 Ebd., 133. Zur Begrndung der formalen Soziologie und den Implikationen des Simmelschen Form-Begriffs vgl. die lteren Untersuchungen von Maria Steinhoff: Die Form als soziologische Grundkategorie bei Georg Simmel. In: Kçlner Vierteljahreshefte fr Soziologie 4 (1924/25), 214 – 259 und Hans Joachim Lieber/Peter Furth: Zur Dialektik der Simmelschen Konzeption einer formalen Soziologie. In: Kurt Gassen/Michael Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, Berlin 1958, 39 – 59.

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IV. Wille zur Gemeinschaft

Auch Simmels formale Fassung der Sozialwelt, die sich einer zeitindifferenten soziologischen Morphologie verschreibt, muss konzedieren, dass ihre „Formen der Vergesellschaftung“121 nicht außerhalb von Zeit und Geschichte denkbar sind. Daher oszilliert die Darstellungsdimension der formalen Soziologie zwischen zwei Zustnden, je nach dem, was sie im Blick auf ihre Gestalten betonen, genauer: ob sie an ihnen einen bloßen „Material“- oder einen ,eigentlichen‘ „Form“-Aspekt freilegen will. In der gewissermaßen theorieoffziellen Fassung kommt es auf historische Indexikalisierungen zunchst nicht an; wichtig ist allein der formalsoziologische Konstruktionsgesichtspunkt, der Vergesellschaftung jenseits ihrer „besonderen Ursachen“122 und „historischen Erscheinung[en]“123 in den komplementren Modi von „Gleichheit“ oder „Heterogenitt“124 rekonstruiert: Gesellschaft im weitesten Sinne ist offenbar da vorhanden, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten. Von der ephemeren Vereinigung zu einem gemeinsamen Spaziergang bis zu der innigen Einheit einer Familie oder einer mittelalterlichen Gilde muß man Vergesellschaftung der verschiedensten Grade und Arten konstatieren. Die besonderen Ursachen und Zwecke, ohne die natrlich nie eine Vergesellschaftung erfolgt, bilden gewissermaßen den Kçrper, das Material des socialen Prozesses; daß der Erfolg dieser Ursachen, die Fçrderung dieser Zwecke gerade eine Wechselwirkung, eine Vergesellschaftung unter ihren Trgern hervorruft, das ist die Form, in die jene Inhalte sich kleiden […]. In der einzelnen historischen Erscheinung ist freilich Inhalt und gesellschaftliche Form thatschlich verschmolzen […]. Allein diese unmittelbare Ineinsbildung von Inhalt und Form, wie sie in der historischen Wirklichkeit vorliegt, verhindert nicht die wissenschaftliche Sonderung beider; so betrachtet die Geometrie die bloße rumliche Form der Kçrper […].125

Auf diesem ,geometrischen‘ Weg trennt Simmel sekundre Materialgesichtspunkte von primren Gesichtspunkten der sozialen Gestaltbildung ab; historische Aggregate sind lediglich das „Material“, das sich in großer bereinstimmung mit der Begriffstraditionen in eine Form „kleidet“ und 121 122 123 124 125

Simmel: Das Problem der Sociologie [1894], 54. Ebd. Ebd., 56. Ebd., 55. Ebd., 54, 56. Diese Verbannung der „Geschichtlichkeit […] aus dem Denkansatz der Soziologie Simmels“ betonen schon Lieber/Furth: Zur Dialektik der Simmelschen Konzeption einer formalen Soziologie, 50 f. Die „Dialektik“ des Formbegriffs sehen die Autoren darin, dass der vermeintlich form-lose, „historisch-konkrete“ Inhalt „selbst schon ein durch Abstraktion Formalisiertes“ (51) ist.

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sich eine typisierbare, d. h. mit anderen Formen vergleichbare Gestalt gibt. Im formalsoziologischen Blick auf die Gestalten der Vergesellschaftung treten, anders formuliert, die „besonderen“ Umstnde der Gestaltbildung wie auch alle Fragen, die nicht ihre typologische Verwandtschaft, sondern ihre ,genetischen‘ Entwicklungszusammenhnge betreffen, zurck. Nur deswegen erscheint die „mittelalterliche Gilde“, die die formale Soziologie heuristisch ihrer „historischen Erscheinung“126 entkleidet, in demselben begrifflich-systematischen Kontinuum, in dem auch ein „gemeinsamer Spaziergang“ oder die „innige Einheit der Familie“ zur Sprache kommen. Andererseits ist das Zentralkonzept der formalen Soziologie, die „sociale Differenzierung“, konstitutiv auf einen genetischen Zusammenhang verwiesen. Er durchzieht die Achse der gesellschaftlichen Formgestalten mit einem diachronen Strang, der die Formtypen temporal rckbindet und mit Erzhlmomenten anreichert, die – wie im Falle von ,Gemeinschaft’ und ,Gesellschaft’ – die Disjunktion zweier Zustnde als Narration ihres ,Auseinanderhervorgegangenseins‘ gestalten. Dies belegt schon der Umstand, dass Simmels Argumentation stets eine „primitive[] Gruppe“127 voraussetzen muss, von deren geringer Differenzierung aus alle folgenden Formbildungen ihren Anfang nehmen. Genau besehen erzhlt Simmels „sociale Differenzierung“ zwei, wenn auch nur analytisch zu trennende Geschichten: Zunchst die des modernen Individuums, dass aus der anfnglichen, „vçlligen Einheitlichkeit mit seiner Gruppe“128 gelçst wird und seinen Sozialbezug nur mehr ber temporre Inklusionen in die differenzierten „sociale[n] Kreise“129 organisieren kann. Dieser Status des Individuums als bloßem „Schnittpunkt socialer Fden“130 lsst die moderne Individualitt nur mehr eine quantitative Bestimmtheit finden:131 Zunchst nmlich erhlt die Persçnlichkeit eine unvergleichliche Sttze darin, daß ihr fr jede Seite ihres Wesens, fr ihren Beruf wie fr ihre Liebhabereien […] genossenschaftliche Anlehnungen geboten sind. Die enge 126 Simmel: Das Problem der Sociologie [1894], 56. 127 Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 139. Vgl. auch Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe [1892/93]. Bd. 2. Hg. von Klaus Christian Kçhnke. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 4, Frankfurt/M. 1991, 380. 128 Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 146. 129 Ebd., 237. 130 Ebd., 158. 131 Ebd., 146.

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Bindung an enge Kreise, die dem Individuum frherer Zeiten einen Rckhalt […] bot, lçst sich mehr und mehr; die selbstndige moderne Persçnlichkeit, inmitten der ungeheuren Ausdehnung der umgebenden Gesellschaft […], fllt der frheren Verfassung gegenber einer gewissen Vereinsamung anheim und entbehrt mehr und mehr der einengenden, aber sttzenden Heimathlichkeit […]. Der Mensch als ganzer ist […] isolierter als je, der Totalitt seines Wesens fehlt der Halt, den die primitivere Sozialform ihm verlieh […].132 Die Zahl der verschiedenen Kreise nun, in denen der Einzelne darin steht, ist einer der Gradmesser der Kultur. […]. Hieraus ergeben sich nun vielerlei Folgen. Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehçrt, bilden gleichsam ein Koordinatensystem, derart, daß jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt. […] Denn einerseits findet der Einzelne fr jede seiner Neigungen und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor […]; andererseits wird das Specifische der Individualitt durch die Kombination der Kreise gewahrt, die in jedem Fall eine andere sein kann.133

Auf der Kehrseite desselben „Entwickelungsprozess[es]“134 trgt sich die Geschichte des Sozialen im engeren, man ist versucht zu sagen: ,eigentlichen‘ Sinne zu. In ihr mndet auch Simmels Soziologie in all die modernen Erzhlungen vom Zuwachs an strukturellen Interdependenzen, Fernwirkungen, Abstraktionen und Vermittlungen, die im Sentimentalismus der frhen Soziologie von der Sphre des bloß Gesellschaftlichen zeugen und in der entfrbenden Dynamik des Geldes ihr zentrales Medium finden: Wenn die Sociologie den Gegensatz der neueren Zeit, insbesondere gegen das Mittelalter, in eine Formel bringen wollte, so kçnnte sie es mit der folgenden versuchen. Im Mittelalter findet sich der Mensch in bindender Zugehçrigkeit zu einer Gemeinde oder zu einem Landbesitz, zum Feudalverband oder zur Corporation; seine Persçnlichkeit war eingeschmolzen in sachliche oder soziale Interessenkreise, und die letzteren wiederum empfingen ihren Charakter von den Personen, die sie unmittelbar trugen. Diese Einheitlichkeit hat die neuere Zeit zerstçrt. […] Die mittelalterliche Corporation schloß den ganzen Menschen in sich ein; die Zunft der Tuchmacher war nicht eine Association von Individuen […], sondern eine Lebensgemeinschaft […]. Um so sachliche Interessen sich die mittelalterliche Association auch gruppieren mochte, sie lebte doch ganz unmittelbar in ihren Mitgliedern, und diese gingen rechtlos in ihr auf.135 132 133 134 135

Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft 2 [1892/93], 380. Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 239, 240, 244. Ebd., 141. Georg Simmel: Das Geld in der modernen Cultur [1896]. In: Ders.: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900, 178 – 196, 178 ff. Diesen Zusammenhang lçst das Geld in zweifacher Weise auf: Zum einen, indem die „Geldzahlung“ (185)

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Man muss lediglich die Begriffe austauschen, um zu sehen, dass Simmels berlegungen strukturell demselben Erzhlschema verpflichtet sind, das es innerhalb der Soziologie mit den Tçnniesschen Grundbegriffen, außerhalb ihrer selbst mit den Erzhlverlufen des sozialen Romans verbindet. Auf der Ebene des zur Veranschaulichung dienenden Weltmaterials handelt es sich auch hier um die Darstellung eines organischen Ursprungs, der rumlich-lokale Bindungen, naturale Zeitrhythmen, gleichgerichtete Interessen und eine persçnlich-sachliche „Einheitsform“136 in die Imagination eines mit sich identischen Lebenszusammenhangs lenkt. Auf der Ebene der Darstellung folgt Simmel den diskurstypischen anachronischen Signalen, mit denen die soziale Differenzierung ihre immanente Zeitlichkeit als Konstruktionen eines NichtMehr (Gemeinschaft) bzw. eines Noch-Nicht (Gesellschaft) gestaltet. berhaupt unterhlt Simmels formale Soziologie insofern enge Verwandtschaften zu narrativen Strukturen, als sie ihrer zeitlich unbewegten Formenlehre Anschauungsmaterialen an die Seite stellt, die die sozialen Gestaltmomente diachron entfalten. Wollte man eine derartig exemplarisch organisierte Darstellung strker systematisch fassen, so htte man es mit all jenen Formen einer illustrierenden Evidenzproduktion zu tun, die Wissen und Erzhlen im 19. Jahrhundert wenigstens phasenweise wieder

die „individuelle[] Frbung“ (184) der „Persçnlichkeit“ scharf gegen ein Medium differenziert, das sich „von jeder inneren Beziehung zum Individuum gelçst“ (185) hat; zum anderen, indem das Geld Interaktionen verdichtet, die sich zu gleichsinnigen Handlungsketten zusammenschließen und damit ein „gemeinsames Interessen-Niveau fr alle Menschen“ (183) herstellen. Entsprechend hat Simmel eine sentimentalische Interpretation des Sachverhalts mit dem Argument abgewehrt, dass das Geld – gewissermaßen auf der Kehrseite seiner Entfremdungseffekte – „unvergleichlich mehr Verknpfungen zwischen den Menschen stiftet, als sie je in den von den Associations-Romantikern gerhmtesten Zeiten des Feudalverbandes oder der gewillkrten Einung bestanden“ (183). So weit sich an dieser Stelle ein Widerspruch andeutet, wird man Intention und Darstellungsmaterial unterscheiden mssen: Auch wenn Simmel eine dezidiert nichtsentimentalische Interpretation beabsichtigt, so bleibt die Darstellung aber doch konstitutiv auf Material verwiesen, das sentimentalisch ,gerichtet’ ist. Fr eine entsprechend nicht-entfremdungstheoretische Rekonstruktion vgl. Birgitta Nedelmann: Geld und Lebensstil. Georg Simmel – ein Entfremdungstheoretiker? In: Jeff Kintzel/Peter Schneider (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes, Frankfurt/M. 1993, 398 – 418, 400 ff. 136 Simmel: Das Geld in der modernen Cultur [1896], 180.

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strker zusammenrcken.137 ber die wachsenden sozialen Fernwirkungen im Prozess der sozialen Differenzierung heißt es beispielsweise: Wenige Beispiele werden fr diesen an sich einleuchtenden Vorgang gengen. Whrend ursprnglich in den Znften der Geist strenger Gleichheit herrschte […], – war es doch auf die Dauer nicht mçglich, diesen Zustand der Undifferenziertheit aufrecht zu halten. Der durch irgendwelche Umstnde reich gewordene Meister wollte sich nicht mehr in die Schranken fgen, nur das eigene Fabrikat zu verkaufen […]. Indem er […] das Recht dazu […] gewann, mußte ein Doppeltes eintreten: einmal mußte sich die ursprnglich homogene Masse der Zunftgenossen mit wachsender Entschiedenheit in Reiche und Arme, Kapitalisten und Arbeiter differenzieren […]. Andererseits aber wurde durch diese Umgestaltung ein weiteres Hinausgreifen ber das bisherige Absatzgebiet gegeben; dadurch, daß der Producent und der Hndler […] sich voneinander differenzierten […], wurden frher unmçgliche kommerzielle Anknpfungen erzielt. Die individuelle Freiheit und die Vergrçßerung des Betriebes stehen in Wechselwirkung. […] Die Geschichte der Bauernbefreiung zeigt z. B. in Preußen einen in dieser Beziehung hnlichen Prozeß.138

4. Der Wille und die Konstitution der Sozialwelt Wenn es, wie hier mehrfach vorgeschlagen, einen Zusammenhang zwischen den historischen Schwierigkeiten in der soziologischen Begriffskonstitution und dem gibt, was die frhe Soziologie an Aussagen ber den Prozess der Modernisierung vorzutragen hat, dann lsst sich das Fortwirken des sentimentalischen Moderneschemas noch etwas spezifischer fassen. Denn genau besehen çffnen sich die methodologischen Probleme, die sich Tçnnies wie Simmel stellen, in zwei komplementre Richtungen. An Tçnnies wurde sichtbar, dass die systematisch intendierte Kategorienfindung immer dort in eine geschichtsphilosophische Problemstellung zurckgleitet, wo die gefundenen „Grundbegriffe“ auf einer ihnen logisch vorausliegenden Zeitlichkeit – erst die organische Ursprnglichkeit der Gemeinschaft, dann die mechanische Sphre der Gesellschaft – aufruhen. 137 Vgl. zum Spektrum der entsprechenden Entwicklungen Karl Richter/Jçrg Schçnert/Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften, Stuttgart 1997; Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tbingen 2002; Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Brgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche ffentlichkeit 1848 – 1914. 2., erg. Aufl. Mnchen 2002. 138 Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 170 f.

4. Der Wille und die Konstitution der Sozialwelt

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In eine andere Richtung verlaufen die Konstitutionsprobleme der ,formalen Soziologie’. Sie hat es nicht nur damit zu tun, dass ihre formalen Kategorien diachrone Hintergrundannahmen bençtigen, sondern dass ihr modernisierungsgeschichtlicher Gehalt – also all das, was an der Moderne an fragmentierenden Effekten beobachtbar ist – in die methodologische Konstitution der Theorie hineinreicht. Es gibt in ihr geradezu isomorphe, sich wechselseitig elaborierende Effekte zwischen der ,sentimentalischen‘ Diagnostik der Theorie – Verlust von Totalitt, ,Polykontexturalisierung‘ der Welt, Fragmentierung des Individuums in den heterogenen „socialen Kreisen“ – und ihrer epistemologischen Situation: So wie das Soziale in die Heterogenitt seiner Sphren und das Individuum in die Vielzahl seiner partialen Inklusionen zerfllt, so tritt dem formalsoziologischen Blick nicht mehr die Totalitt der Gesellschaft entgegen, sondern lediglich der qualitative (nicht: quantitative) Ausschnitt, den die methodologische Konstruktion isoliert, indem sie „das bloß gesellschaftliche [d.h. formale, I.S.] Moment aus der Totalitt […] des Geschehens in der Gesellschaft […] zu gesonderter Betrachtung aus[lçst]“.139 In gewisser Hinsicht scheint die Methodologie damit nur Konsequenzen aus dem Sentimentalismus zu ziehen, den sie auf der modernisierungsgeschichtlichen Gegenstandsebene antrifft, und insofern erhellen sich die methodologische und die modernisierungsgeschichtliche Dimension der formalen Soziologie in einem gemeinsamen sentimentalischen Strukturmoment: Die Auflçsung der Gesellschaftsseele in die Summe der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber liegt in der Richtung des modernen Geisteslebens berhaupt; das Feste, sich selbst Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft und Bewegung aufzulçsen und in allem Sein den historischen Proceß seines Werdens zu erkennen. […] Ein in sich vçllig geschlossenes Wesen, eine absolute Einheit ist die Gesellschaft nicht […]. Sie ist gegenber den realen Wechselwirkungen der Teile nur sekundr, […] und zwar sowohl sachlich wie fr die Betrachtung.140 139 Simmel: Das Problem der Sociologie [1894], 57. 140 Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 130. hnliches gilt fr Simmels ,tragischen’ Kulturbegriff. Sieht man davon ab, dass die „Tragçdie der Kultur“ von sich aus bereits eine sentimentalische Semantik anzeigt, dann erscheint auch Simmels Kulturbegriff nur als weitere semantische Transformation ihrer Methodologie. Den Unterschied zur Moderne der „socialen Differenzierung“ wird man darin sehen mssen, dass das diachrone Nacheinander von frher (primitiver) und spterer (differenzierter) Sozialform im Falle des Kulturbegriffs zu einer „Wachstumsdifferenz“ von objektiven und subjektiven Kulturgehalten umgestaltet wird: Die objektiven Kulturmomente besitzen gegenber dem

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IV. Wille zur Gemeinschaft

Tatschlich muss sich der Eindruck einstellen, dass der methodologische Differenzierungszwang, den die „Richtung des modernen Geisteslebens“ der „Betrachtung“ vorgibt, ein systematisches Problem eigenen Gewichts bildet. In den Tçnniesschen Grundbegriffen kehrt diese sentimentalisch getroffene Methodologie insofern wieder, als Tçnnies in der Sphre des Gesellschaftlichen noch die wissenschaftlichen Begriffe von den modernen Abstraktionen in Mitleidenschaft gezogen sieht. Im Kern handelt es sich um das – auch in Simmels Soziologie des Geldes greifbare – Argument, dass der Siegeszug der modernen Geldwirtschaft ein universales quivalenzprinzip aus sich entlassen hat. Dieses Prinzip treibt „Geld“ und „objektiven Wert“141 immer weiter auseinander, vor allem aber setzt es die „entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge“142 miteinander in Beziehung. Tçnnies berschreitet diesen Abstraktionsprozess dahingehend, dass er Erkenntnis- und Warenform, Begriff und Geld, als Weisen der „abstrakten Vernunft“143 in Analogie zueinander bringt. Wie das Geld – „Durchgangspunkt fr Gter, ohne selbst ein Gut zu sein“144 – keine innere Beziehung zu seinem werthaften Gegenstand unterhlt, so sind auch die modernen wissenschaftlichen Begriffe von einer Referenz auf Wirkliches ihrer Tendenz nach entkleidet; sie sind, „gleich dem Gelde“, in ihrem Innersten zutiefst arbitrr – und damit zutiefst gesellschaftlich:

141 142 143 144

,subjektiven Geist’ nicht nur ein Zuviel an akkumulierten Sinngehalten, ihr Zuwachs verluft zudem schneller, als sie die subjektive Sphre aufnehmen und sich sinnhaft anverwandeln kann; insofern bergreift der Kulturbegriff zwei heterogene Zeithorizonte, die als ,tragische’ Trennung eines (wiederum: ehemals) einheitlichen Sachgehalts erlebt werden: „Die Entwicklung der modernen Kultur charakterisiert sich durch das bergewicht dessen, was man den objektiven Geist nennen kann, ber den subjektiven, d. h., in der Sprache wie im Recht, in der Produktionstechnik wie in der Kunst, in der Wissenschaft wie in den Gegenstnden der huslichen Umgebung ist eine Summe von Geist verkçrpert, deren tglichem Wachsen die geistige Entwicklung der Subjekte nur sehr unvollstndig und in immer weiteren Abstand folgt.“ Georg Simmel: Die Großstdte und das Geistesleben. In: Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden 9 (1903), 185 – 206, 203. Vgl. auch Simmel: Persçnliche und sachliche Kultur [1900], In: Ders.: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900, 560 – 582, 562 ff. und den spteren locus classicus Simmel: Der Begriff und die Tragçdie der Kultur [1911]. In: Ders.: Philosophische Kultur. ber das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essays mit einem Vorwort von Jrgen Habermas, Berlin 1983, 195 – 219, 198 ff. Georg Simmel: Zur Psychologie des Geldes [1889]. In: Ders.: Aufstze 1887 – 1890, 49 – 65, 55. Simmel: Das Geld in der modernen Cultur [1896], 192. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 73. Simmel: Zur Psychologie des Geldes [1889], 55.

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Die Gesellschaft produziert ihren eigenen Begriff als Papiergeld und bringt ihn in Umlauf […]. Die gilt, insofern als der Begriff des Wertes dem Begriffe der Gesellschaft als notwendiger Inhalt ihres Willens inhriert. Denn Gesellschaft ist nichts als die abstrakte Vernunft. […] Die abstrakte Vernunft in einer speziellen Betrachtung ist die wissenschaftliche Vernunft, und deren Subjekt ist der objektive Relationen erkennende, d. h. der begrifflich denkende Mensch. Und folglich verhalten sich wissenschaftliche Begriffe […] wie Waren innerhalb der Gesellschaft. Sie kommen zusammen im System wie Waren auf dem Markte. Der oberste wissenschaftliche Begriff, welcher nicht mehr den Namen von etwas Wirklichem enthlt, ist gleich dem Gelde. Z.B. der Begriff Atom oder der Begriff Energie.145

Formulierungen dieser Art legen es nahe, die methodologischen Probleme in der begrifflichen Erfassung der Sozialwelt mit einem um 1900 zeittypischen Zuwachs an Referenzproblematik, mit einem epochalen ,Fremdwerden‘ der Dinge und der Welt, in Verbindung zu bringen. Das wrde eine verborgene sthetische Dimension der soziologischen Theoriebildung freilegen. David Frisby hat seine in diesem Sinne an Baudelaire orientierte Rekonstruktion der kulturellen Moderne als Artikulation einer fr Simmel, Kracauer und Benjamin gleichermaßen verpflichtenden Grunderfahrung der Fragmentierung angelegt – einer Fragmentierung, die nicht mehr von einer „Analyse der Gesellschaft als Ganzer“146 ausgehen und daher nur noch die „offensichtlichen Bruchstcke[] der gesellschaftlichen Wirklichkeit“147 versammeln kann. Dem wren ohne grçßere Widerstnde literaturwissenschaftliche Einsichten in sthetische Krisenfiguren an die Seite zu stellen, ber deren genuin moderne Struktur weitgehend Konsens besteht, weil sie allesamt um Figuren der (bestrittenen) Referenz und der sinnhaften Totalitt kreisen.148 145 146 147 148

Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 39. Frisby: Fragmente der Moderne, 13. Ebd., 14. Vgl. nur Erich Kleinschmidt: Gleitende Sprache. Sprachbewusstsein und Poetik in der literarischen Moderne, Mnchen 1992, der sich wie Frisby auf Baudelaire bezieht, den entweder „geschichtstheoretischen“ oder „kunsttheoretischen“ Anschlssen an Baudelaire aber den Blick auf die „vorgngige Materialitt“ der Texte wieder erçffnen mçchte (9 f.). Sie besteht im „Modell einer Sprache, die nicht Ordnung schaffen will, sondern sich als freier semantischer Erlebnisfluss […] versteht (170).“ Vgl. fr hnlich einschlgige Bestimmungen der literarischen Moderne um und nach 1900 auch Graevenitz: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Konzepte der Moderne, 2 („Dezentrierung, Fragmentierung, Dereprsentation, Entmimetisierung“); Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – sthetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, Mnchen 2004, 143 ff. („Entgrenzung der Sprache“) und 153 ff. („Entgrenzung der Form“);

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Nun gibt es keinen hinreichenden Grund, Legitimitt und Brauchbarkeit derartiger Epochensynthesen kategorisch in Frage zu stellen. Ihnen muss lediglich eine strker epistemische bzw. diskursgeschichtliche Fassung gegeben werden, um sehen zu kçnnen, in welchem Maße Selbstbeschreibungen der sozialen Moderne um 1900 als Fundierung der Sozialwelt in Dispositionen des Willens organisiert werden. An dieser Verankerung – dies haben die bisherigen Analysen gezeigt – haben die frhe Soziologie und der soziale Roman des Naturalismus gleichermaßen ihren Anteil, und es wird im Folgenden darum gehen, die Spezifik dieser ,sentimentalischen‘ Diskursrelation im Blick auf ihre affektiven und psychoçkonomischen Fundamente weiterzuverfolgen. Dabei soll zum einen sichtbar werden, dass die frhe Soziologie – ber die einschlgigen willenstheoretischen Konzeptionen bei Tçnnies hinaus – den Differenzierungsprozess der sozialen Sphren auf heterogen gegeneinander gefhrte „Wollungen“ (Simmel) sttzt; zum anderen, dass dieser methodische Voluntarismus im naturalistischen Erzhlen einen konfliktbesetzten Weltbezug ausbildet, der sich die Gemeinschaft in der Gemeinschaft als ihr eigener symbolischer Genuss, als Lust ihrer Selbstverzehrung, wieder begegnen lsst. Welche konstruktive Leistung eine modernisierungsgeschichtlich phrasierte Theorie des Willens besitzen kann, zeigen Tçnnies‘ berlegungen zum Verhltnis von Wesenwillen und Krwillen, die der Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft bekanntlich eine voluntaristische Zweitfassung geben. Auf den ersten Blick handelt es sich um Wechselbegriffe, je nachdem, ob die Kategorienbildung von einer sozialtypologischen zu einer mental-psychologischen Konstruktion oder von dieser in Richtung auf eine typologische Konstruktion verluft. Im ersten Falle stellen „Wesenwille“ und „Krwille“ mentale Substrate der beiden Vergesellschaftungsformen dar, im zweiten Fall bilden „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ typologische Derivate einer voluntaristischen Grunddichotomie, die sich in den beiden sozialen Aggregaten ,reale‘ Supplemente schafft. Bei genauerem Zusehen aber besteht ein spezifisches Vorgngigkeitsverhltnis zwischen psychologischer und sozialtypologischer Begriffsbildung. Tçnnies denkt die Sozialwelt als Erscheinungsweisen des menschlichen Bewusstseins; sie sind gewissermaßen ,Emanationen‘ eines Hans Joachim Piechotta: Einleitung: Die Differenzfunktion der Metapher in der Literatur der Moderne. In: Ders./Ralph-Rainer Wuthenow/Sabine Rothemann (Hg.): Die literarische Moderne in Europa. Bd. 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende, Opladen 1994, 9 – 67.

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Primats des Psychischen, der sich wie eine „Substanz“ zum „Artefakt“149 verhlt: „Alle sozialen Gebilde sind Artefakte von psychischer Substanz, ihr soziologischer Begriff muß zugleich psychologischer Begriff sein.“150 In der Konsequenz dieser psychischen Fundierung der Sozialwelt liegt es beschlossen, dass in ihr nur bejahende Verhltnisse wirken. Dies gilt selbst im Falle des wesentlich auf Trennung und „Entzweiung“151 beruhenden Krwillens. Diese auf den ersten Blick spannungsreiche Konstruktion ist deswegen haltbar, weil Tçnnies – den Kontraktualismus in der sozialphilosophischen Tradition Hobbes‘ in einen sozialpsychologischen Zusammenhang berschreibend – auch die gesellschaftlichen Verhltnisse, ungeachtet ihres antagonistischen Charakters, insofern als bejahend fasst, als sie in ihrer Existenz grundstzlich anerkannt werden. In diesem Sinn, der den Hobbeschen status civilis in einen Modus faktischer Zustimmung verwandelt, ruht auch die Sphre der Gesellschaft, die ihre Grenzen in der Gesamtwirklichkeit der Vertragsbeziehungen findet, auf einem nichtkontraktualistischen Element, das der Mçglichkeit von Vertrgen vorausliegt; sie sind – gewissermaßen ,unterhalb‘ ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit – in einer grundstzlichen Bereitschaft zur Annahme des Gegenbers fundiert.152 Fr den Wesenwillen wie fr den Krwillen gilt daher, dass das Soziale – noch jenseits seiner Formen – der unmittelbar gewollte Inhalt des Willens ist. In analytischer Hinsicht ist die Sozialwelt daher auch in die „Sukzession von Willensakten“153 dekomponierbar, wie es Tçnnies aus der Schopenhauerschen Metaphysik des Willens herleitet, ohne freilich deren metaphysische Implikationen zu teilen.154 In der „subjektiven Wirklichkeit“, so Tçnnies, gibt es nur „psychische Realitt und psychische Kausalitt“.155 In welchem Maße Schopenhauer in Tçnnies‘ Konstruktionen nachwirkt, zeigt der Umstand, dass das Schopenhauersche Apriori des Leibes die Analogie vorgibt, nach der Tçnnies seinen sozialpsychologischen 149 150 151 152

Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], XXXIV. Vgl. Merz-Benz: Tiefsinn und Scharfsinn, 305. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 112. Hierzu wie zu Tçnnies’ Hobbes-Rezeption vgl. Bickel: Ferdinand Tçnnies, 58 ff., 70 ff. 153 Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 75. 154 Vgl. Bickel: Ferdinand Tçnnies, 89. Details zu Tçnnies’ Schopenhauer-Rezeption finden sich bei Jrgen Zander: Sozialgeschichte des Willens. Arthur Schopenhauer und die Anfnge der deutschen Soziologie im Werk von Ferdinand Tçnnies. In: Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 583 – 592. 155 Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 74.

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Willensbegriff konstruiert. Er wird zunchst ber den Umweg des Organismus begriffen, so dass der Wille unter dem Gesichtspunkt seiner psychischen Realitt erscheint: „[…] der organische Wille oder Geist ist der Organismus selber. Der Wille erhlt sich wie der Organismus, seiner Form nach, indem er seine Materie wechselt.“156 Diese organische Fundierung ist freilich keine beliebige Schopenhauer-Reverenz. Sie besitzt insofern einen systematischen Status, als sie den Willen und die in ihm aufgehobene Einheit der Sozialwelt in einen Entwicklungszusammenhang berstellt, der den Krwillen in onto- und phylogenetischer Hinsicht aus dem ihm ,geschichtlich‘ vorausliegenden Wesenwillen hervorgehen lsst. Hervorgetrieben wird dieser Abspaltungsprozess aus einer inneren Zsur des Willens, die ihn aus seiner ursprnglichen Einheit mit dem Denken lçst. Wesenwille ist daher – wie die ihm entsprechende Sphre der Gemeinschaft – noch organisch-substantielle Einheit seiner psychischen Elemente, die die zunehmend ungebundene Rationalitt des Krwillens nicht mehr ist: Der Begriff des menschlichen Willens […] soll in einem doppelten Sinne verstanden werden. […] Da alle geistige Wirkung als menschliche durch die Teilnahme des Denkens bezeichnet wird, so unterscheide ich: den Willen, sofern in ihm das Denken, und das Denken, sofern darin der Wille enthalten ist. […] Wesenwille ist das psychologische quivalent des menschlichen Leibes, oder das Prinzip der Einheit des Lebens […]. Krwille ist ein Gebilde des Denkens selber […]. Aber Wesenwille beruhet im Vergangenen und muß daraus erklrt werden, wie das Werdende aus ihm: Krwille lßt sich nur verstehen durch das Zuknftige selber, worauf es bezogen ist.157

Es fllt nicht schwer, auch diese Begriffskonstruktion am Leitfaden einer sentimentalischen Grammatik des Verlusts zu rekonstruieren. Auch das Schema von Wesenwille und Krwille entfaltet das Differenzierungsgeschehen wie in einer sozialpsychologischen Allegorisierung als Grundmythos der Moderne: Aus einem psychischen Kontinuum, in dem Wille und Denken noch als ursprngliche Ganzheiten aufgehoben sind und damit das psychische quivalent zur organischen Ganzheit der Gemeinschaft bilden, verselbstndigen und ,entmischen‘ sich die intellektualen Elemente bis zu einem Punkt, an dem sie gewissermaßen von Außen an den ehemals einheitlichen Komplex herantreten. Dabei verkehrt der Differenzierungsprozess die Inklusionsverhltnisse: Im Kr156 Tçnnies-Nachlass [11. 9. 1884]. Zit. nach Bickel: Ferdinand Tçnnies, 87, Anm. 6. 157 Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 73.

4. Der Wille und die Konstitution der Sozialwelt

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willen geht der Wille vollstndig in seinen intellektualen Elementen auf, im Wesenwillen sind beide Substrate, trotz ihrer fortschreitenden Differenzierung, fr ihre organische Gesamtsubstanz noch gleichermaßen erreichbar. Und wie diese Kontextur ihre Vermçgen zunchst noch bindet und dann ,kr-willig‘ gegeneinander differenziert, so sind in der Dichotomie von Wesenwille und Krwille unterschiedliche Reproduktivittsweisen ihrer gesellschaftlichen Substrate angelegt: Whrend der Wesenwille seine Ttigkeit aus der geschichtlichen Tiefe des sozialen Zusammenhangs gewinnt, weil jeder Einzelakt bejahend auf das gemeinschaftliche Substrat bezogen ist, konstituieren die heterogenen Akte des Krwillens den sozialen Zusammenhang als einen immer nur zuknftigen Horizont. In den endlosen Sequenzen der Vertragsschlsse und Tauschakte stellt sich eine Sphre des Gesellschaftlichen her, die auf nichts ihr Vorgngiges zurckgreifen kann und nur im ,Prsentismus‘ des gesellschaftlichen Tauschgeschehens fundiert ist. In der „Gesellschaft“, so Tçnnies, „finden […] keine Ttigkeiten statt, welche aus einer a priori und vorhandenen Einheit abgeleitet werden kçnnen […]“158. Gegenber der Kohrenz des gemeinschaftlichen Wesenwillens konstituiert der Krwille soziale Einheit damit auf dem Weg fortschreitender Tauschprozesse, und es ist allein ihre episodische Dauer, die die ,kr-willigen‘ Interessen fr jene Momente homogenisiert, in denen es ein ihnen gegenber bergreifendes vertragliches Interesse, ein „gemeinsame[s] Gebiet[]“159, gibt. Insofern betreibt der Krwille eine nachhaltige Entsubstantialisierung des Sozialen: Zum einen, indem der „Tauschwille“ lediglich ein angenommener bzw. „fingiert[er]“160 Wille ist, der als Kohrenzunterstellung eine psychisch-motivationale ,Begleitung‘ des Tauschgeschehens darstellt; zum anderen, indem er in den Episoden der Tauschakte eine fortlaufende Selbstberschreitung des gesellschaftlichen Zusammenhangs anstçßt:161

158 159 160 161

Ebd., 34. Ebd., 35. Ebd., 34. Diese innere Struktur verbindet den Wesenwillen in gewisser Weise mit Schopenhauers Willensbegriff. Auch Schopenhauers Willensmetaphysik ruht auf einer dynamischen Zeitlichkeit, die aus dem bestndigen Wechsel von Begehren und Befriedigung, Mangel und Erfllung resultiert und die das Leben daher nur als Leiden erfahren kann. In gewisser Weise spiegelt der Wesenwille die Desintegrationserfahrungen des Schopenhauerschen Willens in das Soziale ab, indem er dessen leidvolle Wunschdynamik in die unablssige Rekonfiguration von sozialen

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IV. Wille zur Gemeinschaft

[E]s muß […] verstanden werden, daß jeder Akt des Gebens und Empfangens […] einen sozialen Willen implicite voraussetzt […]; so daß der Tausch selber, als vereinigter und einziger Akt, Inhalt des fingierten Sozialwillens ist. In bezug auf denselben Willen sind die ausgetauschten Gter oder Werte gleich. Die Gleichheit […] ist gltig fr die beiden Subjekte, insofern als sie, in ihrer Einigkeit, es gesetzt haben; daher auch nur fr die Dauer des Tausches, nur in bezug auf den Zeitpunkt des Tausches.162

Man kçnnte an derartige Formulierungen in einem engeren Sinne sozialpsychologisch anschließen; so als artikuliere die Tçnniessche Willenstheorie eine nicht weiter ausgearbeitete Einsicht in die psychischen Mechanismen, die „Entmutigungsschwellen“163 fr soziales Handeln herabsenken, in dem sich Einzelne in der gemeinsamen „Fiktion“164 eines wechselseitigen Handlungsinteresses, eines entsprechend „fingierten Sozialwillens“165, begegnen. Und man kçnnte darauf verweisen, dass ein bestimmter Strang moderner Sozialtheorien ihren Ausgang gerade von einer derartigen, an der „Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation“166 geschulten Entmutigungsproblematik nimmt, indem sie auf der Unmçglichkeit, moderne Soziabilitt auf eine ihr vorgngige (und nicht in sich selbst prozessierte) Einheit sttzen zu kçnnen, beharrt. Aber das hieße vermutlich, das sentimentalische Schema der frhen Soziologie lediglich in einer anderen, vordergrndig Sentimentalismus-freieren Theoriesprache zu reproduzieren.167 Schon aus historischen Grnden liegt es daher nahe, im Horizont der frhen Soziologen zu verbleiben. Immerhin gibt er den Blick auf einen ber Tçnnies hinausreichenden voluntaristischen Theoriestrang frei, der dem kanonisierten Bild Georg Simmels eine spezifische Facette hinzugewinnt. Denn die Vorstellung „socialer Kreise“, die das moderne Individuum zu einem nur noch quantitativ bestimmten „Schnittpunkt“

162 163 164 165 166 167

Handlungsprozessen bersetzt. Vgl. zu den sthetischen Implikationen des Schopenhauerschen Willensbegriffs und seiner Zeitlichkeit Kap. I. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 35. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, 218 ff. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 34. Ebd., 35. Niklas Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Ders.: Soziologische Aufklrung. Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, 25 – 34. Vgl. fr Luhmann Albrecht Koschorke: Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie. In: Ders./Cornelia Vismann (Hg.): Widerstnde der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999, 49 – 60, 59 f.

4. Der Wille und die Konstitution der Sozialwelt

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werden lassen, besitzen aufschlussreiche Wurzeln in Simmels moralwissenschaftlichen berlegungen, die 1892/93 in Buchform erscheinen, konzeptionell aber bis in die Mitte der 1880er Jahre und damit vor die Schrift ber „sociale Differenzierung“ zurckreichen.168 Dass es sich nicht nur um eine frhere, sondern konzeptionell anders gelagerte Theorieschicht handelt, belegt der Umstand, dass der im engeren Sinne soziologische Gedanke der Differenzierung sozialer Kreise ebenso wie der quantitativen Bestimmtheit ursprnglich aus einer Konflikttheorie ethischer Pflichtansprche erwchst, deren Widerstreit Simmel – im Unterschied zu lteren, vor allem ,empiristischen‘ Traditionen der Moralphilosophie – nicht auf dem konventionellen Weg einer Hierarchisierung dieser Pflichtansprche lçst. Vielmehr erlebt der Pflichtkonflikt eine grundstzliche Normalisierung, in dem er zur dauerhaften sozialen ,Form‘ des Individuums erklrt wird. In ihm durchkreuzen sich – wenn auch in unterschiedlichen Graden und Intensitten – fortwhrend Pflichtansprche, die psychisch als „entgegengesetzte Wollungen“169 erlebt werden: Wird die Pflicht berhaupt erst von der Thatsache aus verstndlich, daß der einzelne Mensch in Beziehungen zu anderen Einzelnen und zu Kreisen steht, so die Kollision der Pflichten dadurch, daß es fr ihn eine Mehrheit derartiger Beziehungen giebt, und daß die Interessen der Individual- oder Kollektivwesen, zu denen er sittliche Beziehungen hat, irgendwie voneinander unabhngig sind. Angesichts dieser […] Divergenz zwischen den Interessen der Individuen ist es merkwrdig, daß man die Entgegengesetztheit der Interessen innerhalb des Individuums so wenig beachtet hat. Die bloße Thatsache, daß der Einzelne doch, in hçheren Kulturen, an einer ganzen Reihe von Kreisen beteiligt ist, die eine relative Selbstndigkeit gegeneinander besitzen, htte auf das Problem der entgegengesetzten Wollungen in ihm fhren mssen […].170

Man kann an dieser Stelle darauf verzichten, die minutiçsen Unterscheidungen zwischen „Sollen“, „Mssen“ und „Wollen“ nachzuvollziehen.171 Auch Simmels moralphilosophische Konstruktion ruht auf einer sentimentalischen Gestaltung von Zeit, die die quantitativen Fragmentierungen der „Persçnlichkeit“ der „primitivere[n] Sozialform“172 noch vorenthlt, whrend erst die „ungeheure[] Ausdehnung“ der „Gesell168 169 170 171 172

Vgl. Kçhnke: Der junge Simmel, 190 ff. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft 2 [1892/93], 355 (m. Hervorhg.). Ebd., 353 ff. Vgl. Ebd., 354. Ebd., 380.

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IV. Wille zur Gemeinschaft

schaft“173 und die wachsende sachliche Interdependenz ihrer „Kreise“ derartige Zerspaltungen erzeugen: Alle Gegenbewegungen innerhalb des Kulturprozesses kommen hier zu Worte, wo ihre Kreuzung im Einheitspunkte des Ich in Frage steht. Die primitive Einfachheit der Gruppe weicht einer innerlichen Mannigfaltigkeit, und zwar durch das Zusammenwirken der Arbeitstheilung und der quantitativen Ausdehnung der Gruppe. […] Hier zeigt sich also das eigenthmliche Verhltnis, daß die Differenzirung der sozialen Kreise, vom Kulturfortschritt ebenso getragen wie sie ihn trgt, einerseits offenbar zu immer hufigeren Konflikten Veranlassung geben muß, weil die Kreise immer unabhngiger von einander werden, andrerseits gerade die Individualisirung, d. h. die scharf charakterisirte Persçnlichkeit, herausarbeitet […]. Auf diesem Wege wird der Konflikt geradezu zur Schule, in der sich das Ich bildet. […] Daß es aber zu diesem Konflikt jetzt gekommen ist, beweist eine außerordentliche Hçhe der moralischen und intellektuellen Kultur.174

So weit diese sentimentalische Trgerkonstruktion ethisches Wollen zu einem modernen Problem erklrt, weil der Konflikt der „Wollungen“ die primitive Gruppe aufgrund ihrer dichten Dependenzstrukturen noch nicht trifft, scheint die Wollung ihrer inneren Struktur nach – anders als die Dichotomie von Wesenwille und Krwille – keine ,Geschichte‘ zu besitzen. Allerdings unterliegt auch der „menschliche Wille“175 insofern einer spezifischen Zeitlichkeit, als Simmel den Zusammenhang von ethischen Pflichtansprchen und den auf sie bezogenen „Wollungen“ zu einem durch Konventionalisierung befçrderten Naturalisierungsprozess ausgestaltet. In ihm treten – wie in einer Bildungsgeschichte des Willens – zunehmend alle ursprnglichen Momente des ußerlichen Zwangs und der normativen Pflichterwartung zurck, um die Pflichtgehalte auf dem Weg ihrer wachsenden Internalisierung, die die Zwangsmomente allmhlich abstreift und immer weniger sprbar werden lsst, in „freiwillige[n]“176 Bejahungen mnden zu lassen. Die Paradoxie dieser ethischen De-Normativierung des Willens besteht darin, dass sie in dem Maße kulturell induziert ist, wie sittliche Imperative ,von Außen‘ an das Individuum herantreten, dieser kulturelle Prozess aber insofern als „natrliche[r] Prozeß“ erscheinen soll, als er ein anfngliches „Mssen“ zu einem „freiwillige[n] Wollen“177 naturalisiert. In gewisser Weise reproduziert 173 174 175 176 177

Ebd. Ebd., 378, 381 ff. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft 1 [1892/93], 67. Ebd. Ebd.

5. „Lust-Elemente“ der Gemeinschaft

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noch dieses Internalisierungsschema den sentimentalischen Zug der frhen Soziologie, bersteigt ihn aber auf einen Prozess hin, der seine eigene Kulturalitt verdeckt, indem er ihn als – freilich erzeugte, zweite – Natur imaginiert: Eine tief gegrndete Zweckmßigkeit in unserer Natur bringt es […] zuwege, daß der Zwang, der unsern Willen ursprnglich durch ußere Macht beherrschte, sich allmhlich in autonomen Willen verwandelt; die Widerstnde, welche in uns jener Macht entgegenwirken, werden so oft gebrochen, bis sie sich berhaupt nicht mehr erheben. […] Unzhlige Beobachtungen lehren uns, daß sich der menschliche Wille garnicht anders verhlt, als der eines zu zhmenden Thieres, das zuerst nur durch Zaum und Peitsche gehalten und getrieben werden konnte, schließlich aber beides nicht mehr bedarf, sondern ganz von selbst die Gangart oder die Arbeit leistet, der es sich vordem widersetzte. Wie sich Geschmack und Kçrperverfassung an eine Nahrung, die ihnen zuerst widerstand, anpassen, wenn der Mangel an anderer ausschließlich auf sie anweist, so paßt sich auch der Wille an das Mssen derart an, daß der Zwang berflssig wird.178

5. „Lust-Elemente“ der Gemeinschaft. Selbstgenuss, Verschuldung, Feindschaft Auf verschiedenen Wegen wchst dem Willen damit eine modernisierungsgeschichtliche Implikation zu. Sie verdoppelt den in eine Evolution disjunkter Sozialgestalten eingelagerten Modernisierungsprozess, um ihm auf dem Weg einer ebenfalls sentimentalisch gerichteten ,Geschichte‘ eine sozialpsychologische bzw. affektgenetische Fundierung an die Seite zu stellen. Vor allem die organischen Verbandsformen ruhen auf einem Willen, dessen substantielle Ungeschiedenheit der Struktur der Gemeinschaft geradezu metonymisch entspricht. Im Wesenwillen Tçnniesscher Provenienz reproduziert sich – gleich ob es sich um die ,Form‘ des „Volksgeistes“ oder um die „Bande der Blutsverwandtschaft“179 handelt – die ungeschiedene Ganzheit des Sozialen im Modus seiner strukturanalogen psychischen Bejahung. Insofern ist der „Wesenwille“ eigentlich eine Metonymie des Sozialen im Zustand seiner angenommen Ursprnglichkeit.180 178 Ebd. 179 Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], XXXIV. 180 Nicht in Kategorien des Willens, aber in verwandten Kategorien ,gefhlter’ Solidaritt auch bei Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], 140: „Je einfacher die realen und idealen Krfte sind, die eine Gemeinschaft zusam-

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IV. Wille zur Gemeinschaft

Unter diesem Parallelismus affektiver und sozialer Substrate verbirgt die frhe Soziologie, verfolgt man sie ber ihre kanonischen Texte hinaus, eine weitere Sinnsphre, die sie aufs engste mit dem sozialen Roman verknpft. Offenkundig ist die sozialpsychologische Konstruktion wie die erzhlerische Realisierung von Gemeinschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die Annahme eines affektiven Selbstverhltnisses verwiesen, in dem sich Gemeinschaften als sich selbst wollende, begehrende, lustbesetzte erleben kçnnen. Diese „Lust-Elemente“181 behaupten sich zunchst in dem allgemeinen Sinn, dass Willensakte auf Zielbildungen verweisen, deren Erfllung in Lustregungen finalisiert sind. „Wollen“, so Tçnnies, „entspringt“ wesentlich „aus Wnschen, das Wnschen aus Lust- oder Unlustgefhlen“.182 Schon im Umfeld der Habilitationsschrift von 1881 hatte Tçnnies betont, dass „alle bewußten Willensentschlsse oder Handlungen des Menschen […] verursacht durch die Vorstellung einer Lust oder eines Nutzens [sind], welcher dem Wollen daraus erfolgen werde […].“183 Vor allem aber schreiben sich diese „Lust-Elemente“ von einer ,historischen‘ Konstruktion her, in der das „Wollen“ einmal mehr in eine anfngliche Einheit von organischen Lustmomenten und einen spteren Zustand auseinander tritt, der diese ursprngliche Gefhlseinheit zunehmend zweckrational berformt. Man kann diese lusttheoretischen Fundierungen an der vergleichsweise wenig beachteten, aber das Tçnnies-Bild erheblich bereichernden Preisschrift ber Die Tatsache des Wollens nachzeichnen. Entstehungsgeschichtlich reicht sie auf das Jahr 1899 zurck, nimmt aber konzeptionell erkennbar Impulse der lteren Dichotomie von Wesenwille und Krwille auf.184 Unverndert gegenber Gemeinschaft und Gesellschaft ist die doppelte Konstruktion ihrer Begriffe als systematische und zugleich genetisch-historische Phnomene. Ausgangspunkt der Begriffskonstruktion ist die Bestimmung, dass der Wille einerseits einen „Zweck“, andererseits eine Vielzahl von „Mitteln“ bergreift, die mit diesem Zweck verbunden sind. Im ,anfnglichen‘ „organischen“ Wollen sind Zweck und Mittel

181 182 183 184

menbinden, welche die wesentlichen Lebensbeziehungen der einzelnen einschließt, desto enger und solidarischer ist der Zusammenhang zwischen diesen und dem Ganzen […].“ Ferdinand Tçnnies: Die Tatsache des Wollens [1899]. Aus dem Nachlass hg. und eingel. von Jrgen Zander, Berlin 1982, 81. Ferdinand Tçnnies: Die große Menge und das Volk [1920]. In: Ders.: Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung, Jena 1926, 277 – 303, 277. Zit. nach Bickel: Ferdinand Tçnnies, 75, Anm. 26. Vgl. Tçnnies: Die Tatsache des Wollens [1899]. Vgl. zu den Umstnden der Textentstehung die Einleitung des Herausgebers in Ebd., 11 – 37, 12 f.

5. „Lust-Elemente“ der Gemeinschaft

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zwar unterschieden, aber insofern nicht eigentlich getrennt, als sie Teile einer Gesamtttigkeit sind, in der die nicht-selbstndigen, assoziativ mitgewollten Ttigkeiten, die einem Zweck dienen, gegenber diesem Zweck nicht differenziert sind. Das sptere, ausdrcklich auf die Sphre des Gesellschaftlichen bezogene „rationale Wollen“ dagegen unterliegt – wie der Krwille – dem abstrakten Denken; es zerteilt „Zweck und Mittel“ zu einer „mechanischen Opposition“, weil es – vor allem in den „Tauschakte[n]“ der „Gesellschaft“ – Ttigkeiten in ein heterogenes Verhltnis zu einem Produkt, Arbeit in ein entsprechend heterogenes Verhltnis zu einem Gegenwert setzt. Die im engeren Sinne lusttheoretischen Implikationen verlaufen entlang derselben Zsur: Im „organischen Wollen“ sind alle Ttigkeiten, auch wenn in ihnen Unlustmomente enthalten sein mçgen, prinzipiell lusterfllt. Wie der soziale Organismus der Gemeinschaft, der durch die Summe gleichgerichteter Willen bejaht wird, geht der „organische Wille“ in der Gesamtheit seiner noch ,gemischten‘ Lust- und Unlustmomente auf. „Das Wollen des Typus A“, so Tçnnies, „ist das natrliche Ergebnis des gesamten Gefhlslebens“. Gegenber dieser Totalitt des Gefhlskomplexes beginnt das „rationale Wollen“ allmhlich Lust und Unlust zu entmischen, indem es sie auf die getrennten Momente von Zweck und Mittel bertreten lsst – etwa in der Weise, dass ein lustbesetzter Zweck nur mithilfe von Mitteln erreicht werden kann, die ihrer affektiven ,Frbung‘ nach unlustbesetzt sind, zumal die vielfach vermittelten Relationen moderner Tauschprozesse entsprechend gedehnte Handlungssequenzen ausbilden, die die Lustbesetzung tendenziell zurcktreten lassen: Im Typus A also ist die ganze Konzeption, auch wenn sie in Zweck und Mittel aufgelçst wird, notwendigerweise mit angenehmen Gefhlen verbunden, ist ,lustbetont‘; denn die Konzeption eines Zweckes ist es immer, und die des Mittels kann nicht so davon losgerissen werden, daß sie nicht daran Anteil htte, oder sogar einen Gegensatz dazu darstellte. Im Typus B hingegen stehen sich Konzeption des Zweckes und Konzeption des Mittels von vornherein isoliert gegenber. Es ist daher denkbar, daß die letztere mit unangenehmen Gefhlen verbunden (,unlustbetont‘), oder daß sie wenigstens als gleichgltig und doch gewollt wird. Wir sagen, daß sich das Denken aus den organischen Verbindungen losreißt […]. Wenn nunmehr, fr die neuen Formen des Wollens, Zweck allein bestimmend und ,maßgebend‘ wird, so ist dabei zu erinnern, daß die Idee des Zweckes auch im Typus A mitwirksam ist, wenn auch mit viel geringerer Macht […]. Sie ist eben dort der allgemeinen Idee der Einheit […] untergeordnet […].185 185 Ebd., 71 bzw. 75.

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IV. Wille zur Gemeinschaft

Auch hier, in den Innenbereichen eines zweckrational zugerichteten Willens, wirkt eine Trennungsgeschichte nach, die den ,sentimentalischen‘ Mythos vom Schwinden der Flle und der Prsenz in eine Geschichte von der irreversiblen Tilgung der Lustelemente des Lebens verwandelt. Mit der Gabe und dem Fluch der Abstraktion treten Lust und Ttigkeit in einen „Widerstreit“186, der nicht nur beides zunehmend einander entfremdet, sondern der in der rationalen Scheidung von Lust und Unlust selbst jene große Unlust erzeugt, die die Moderne auf ihren freudlosen Grundaffekt herab stimmt. Moderne ist im Tçnniesschen Voluntarismus wesentlich Trauer ihrer Unlust: Die Scheidung der Lust von der Ttigkeit, die sie erzeugt, ist […], je mehr die Ttigkeit eine menschliche, d. h. von Denken erfllte, desto mehr eine unnatrliche, ein Produkt der Abstraktion, die das Ganze nicht als Ganzes aufzufassen vermag; in ihrem Ganzen ist Lust und Unlust, Genuß und Schmerz, in notwendigem und unauflçsbarem Widerstreit, eben darum sich gegenseitig bedingend, enthalten.187

Was die Moderne aus dem Kontinuum eines einheitlichen Gefhlskomplexes in den ewigen Widerstreit ihrer Lust- und Unlustelemente zersetzt, lenkt die Gemeinschaft in den organischen Zusammenhang ihrer Gefhlsmomente, die noch als un-entmischte Ganzheit von Lust und Unlust wirken. Der tiefere Impuls der Tatsache des Wollens besteht insofern darin, die Gemeinschaft im Ganzen und ausschließlich als Lust, genauer: als ungeschiedene Einheit von Lust und Unlust, zu denken. Wenn Gemeinschaft damit wesentlich als Lust figuriert, dann gewinnen die Tçnniesschen Bestimmungen des „vertraute[n], heimliche[n], ausschließliche[n] Zusammenleben[s]“188 einen Sinn, der die innere psychische Realitt von Gemeinschaften erhellt. Lust ist in ihnen in einer grundstzlichen Weise die Form ihrer innerlichen Selbstbejahung. Gemeinschaften „genießen sich selbst“189, sie sind wesentlich auf Affektmodalitten bezogen – Vertrautheit, Nhe, Wrme, ,Heim-Lichkeit‘ –, mit denen sich Gemeinschaften in sich selbst wieder begegnen: Gemeinschaften genießen sich in erster Linie selbst. Genauer gesagt: Sie genießen ihren Fetisch, ihr Symbol. Gemeinschaftshandeln ist im Kern autophagisch, selbstfresserisch. Die Identitt von Gemeinschaften ist das 186 187 188 189

Ebd., 87. Ebd. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 4. Wolfgang Eßbach: Gemeinschaft – Rassismus – Biopolitik. In: Wolfgang Pircher (Hg.): Das Fremde – der Gast, Wien 1995, 19 – 35, 23.

5. „Lust-Elemente“ der Gemeinschaft

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Hauptding, auf das sich die Begierde richtet. […] Im Genuss des gemeinschaftlichen Dings […] wird die Rivalitt ein Stck weit befriedet und ins Außen geschoben, wo die Anderen sind. Die Anderen sind stets die, die anderes und anders genießen.190

Formulierungen dieser Art sind erkennbar an einer dekonstruktivistischen ,Veruneigentlichung‘ sozial(theoretisch)er Begriffe interessiert, und man wird daher sorgsam unterscheiden mssen. Dass „Gemeinschaften […] im Kern imaginierte Gemeinschaften“191 sind, muss gegen keine Empirie ausgespielt werden, weil Modernediskurse, zumindest die der hier interessierenden Art, diese Uneigentlichkeit von sich aus preisgeben. Gemeinschaften sind als Erfahrungssubstrat von sozialer Ganzheit historisch ungedeckt und fungieren, gegen die in ihr behauptete Ursprnglichkeit, in zeitlogischer Hinsicht als eine nachtrgliche gesellschaftliche Konstruktion, in narratologischer Hinsicht als ein notwendiges Erzhlkorrelat, mit dem Modernisierungsprozesse allererst darstellbar werden. In diesem Sinne besitzen Gemeinschaften einen supplementren Status: Gemeinschaft ist der Name fr den Verlust eines Ursprungs, der nie stattgefunden hat und deshalb konstitutiv auf das verwiesen ist, was sich an seine Stelle setzt (Gesellschaft).192 Und auch Reflexionen ber den 190 Ebd., 23 f. 191 Ebd., 22. Vgl. zur Konstruktion der Gemeinschaft als ursprngliche, aber verloren gegangene Erfahrung des Sozialen Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft. Aus dem Franzçsischen von Gisela Febel und Jutta Legueil, Stuttgart 1987, 26 ff.; Etienne Balibar/Immanuel Wallerstein: Rasse – Klasse – Nation. Ambivalente Identitten, Hamburg 1990, 115; Hinrich Fink-Eitel: Gemeinschaft als Macht. Zur Kritik des Kommunitarismus. In: Micha Brumlik/ Hauke Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993, 306 – 322, 308 f. 192 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie [1967]. bers. von Hans-Jçrg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/M. 51994, 250. – Der Hinweis auf die dekonstruktivische Kategorie des ,Supplements’ ist nicht eigentlich erforderlich. Wie Peter Szondi fr einen Grundtext der Moderne-Reflexion – Schillers Schrift ber naive und sentimentalische Dichtung – nachgewiesen hat, verdanken sich die Begriffe des ,Naiven’ und ,Sentimentalischen’ begriffsgenetisch derselben inversen Struktur: Das Naive (als die geschichtlich ,ursprngliche’ Erfahrung) bedarf zu seiner Genese des Sentimentalischen; insofern ist das Naive aus dessen Erfahrung gezeugt. Begriffslogisch handelt es sich entsprechend um keine strukturell gleichwertigen Begriffe, sondern um eine Art Selbstunterscheidung bzw. Selbstabspaltung des ,Sentimentalischen’ in Richtung auf ein vermeintliches Frheres – das ,Naive’ –, das sich aber ,zeitlich’ gesehen gleichursprnglich zum Begriff des Sentimentalischen verhlt. Mit anderen Worten: ,Naiv’ kann nur das sein, was das ,Sentimentalische’ glaubt, was es ist. Vgl. Peter Szondi: Das Naive ist das

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IV. Wille zur Gemeinschaft

ontologischen Status der Gemeinschaft, die den dekonstruktivistischen Elan mit berechtigtem Hinweis auf den „realen“, gewissermaßen re-ontologisierenden „Kern“ ihres „Genießens“193 bremsen, bleiben letztlich dem Widerstreit zwischen Dekonstruktion und Ontologie verhaftet.194 Gleichwohl besitzt die Kategorie des Genießens einen recht przisen analytischen Sinn. Denn sie erinnert ihrer etymologischen Herkunft nach an einen, wenn man so sagen kann, ,oikologischen‘ Affektkomplex, der Aspekte der huslichen Wirtschaft und des gemeinsamen Verzehrs zusammenfhrt und den Lebensvollzgen der Gemeinschaft als ihr Lustmoment zuschreibt. ,Genießen‘ meint, folgt man dem Deutschen Wçrterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, „gemeinsame nutzniessung“ bzw. „nutzniessung aller art, besonders in gemeinschaft“195 und zielt – in Parallele zu Tçnnies – auf „lust“ und „nutz“.196 Diesen gemeinschaftlichen Sinn teilt das Genießen mit dem „genosse[n]“197: „genosze, sind eigentlich die, welche eines gewinns, einer nutznieszung als gemeinschaft genieszent, ausgegangen von dem begriff des gemeinschaftlichen unter-

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Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung [1972]. In: Ders: Schriften II. Essays: Satz und Gegensatz, Lektren und Lektionen, CelanStudien. Hg. von Jean Bollack, Frankfurt/M. 1978, 59 – 105, 74, wo es heißt, dass „das Naive zu seiner Genese des Sentimentalischen bedarf, dass in der Moderne auch das Naive eine sentimentalische Vergangenheit hat, ohne die es nicht htte werden kçnnen (und demnach definitorisch: nicht wre), was es ist: das Naive.“ Slavoj Zˇizˇek: Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Bçse – Vom Begehren des ethnischen ,Dings’. In: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, 133 – 164, 137. Insofern ist die hier anvisierte Frage nach der narrativen Erzeugung der Gemeinschaft auch als Mçglichkeit zu verstehen, den Konflikt zwischen ,realistisch’ontologischen und dekonstruktivistischen Gemeinschaftskonzepten zu unterbrechen. Gegenber der Dekonstruktion ist zudem zu betonen, dass ihr Negationsbeharren, das sich immerfort an der prinzipiellen Dekonstruierbarkeit einer gegebenen Prsenz erhrtet, nichts ber die kulturelle Funktionsweise dieser Prsenz besagt. Gemeinschaften berleben ihre prinzipielle Dekonstruierbarkeit auch dort, wo ihre ,ontologische Grundlosigkeit’ unbestritten ist – nicht zuletzt in einem Erzhlzusammenhang, der ihre ,Prsenz’ bençtigt, um die Moderne kulturell artikulationsfhig zu machen. Deutsches Wçrterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Vierten Bandes Erste Abtheilung. Zweiter Theil: Gefoppe – Getreibs. Bearbeitet von Rudolf Hildebrandt und Hermann Wunderlich, Leipzig 1897, 3451. Ebd., 3581. Ebd., 3455.

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nehmens […].“198 Genießen in diesem Sinne ist in der Sphre der Gesellschaft nicht denkbar, weil sie die Einheit von Lustbesetzung und gemeinschaftlichem Vollzug auflçst. Auch in dieser Differenz ist Gesellschaft der Name fr all das, was das heimliche und vertrauensvolle (Selbst-)Genießen der Gemeinschaft bedroht.199 Man wird den sozialen Roman des Naturalismus vor diesem Hintergrund als Anstrengung verstehen mssen, diesen Selbstgenuss der Gemeinschaft fortwhrend neu und anders zu erzhlen. Und wenn der soziale Roman Momente dieses Genießens erzhlt, so umgibt er sich auf dessen Kehrseite mit einem Abwehrzauber, der die Gemeinschaft zugleich gegen ihre gesellschaftliche (Selbst-)Entfremdung verschließt. Narrativ wird dieses Selbstgenießen der Gemeinschaft ber Figuren metonymischer Wiederholung organisiert. Immer wieder fhren die Texte ihre Protagonisten in Situationen, in denen sie ,Dinge‘ oder ,Teile’, die in einer rumlichen, jedenfalls motivierten Beziehung zur Gemeinschaft stehen, zeigen. Tatschlich ist der soziale Roman auf weiten Strecken ein Roman des Besprechens, mehr noch des Vorzeigens und ostentativen Emporhaltens all jener Dinge, die in den Augen der Zuschauenden auf die Gemeinschaft verweisen und sie – wie ein Fetisch – in sich wiederholen und aufbewahren sollen. Genießen ist damit wesentlich reflexiv, also 198 Ebd., 3456. 199 Die Formulierungen kçnnten den Eindruck nahe legen, es gehe um einen Begriff des ,Genießens’, wie er in der Lacanschen Psychoanalyse und, daran anschließend, bei Zˇizˇek und Eßbach Verwendung findet. ,Genießen’ – jouissance – wird dort auf die berschreitung des Lustprinzips und ,des Gesetzes’ bezogen. Demgegenber soll der Begriff hier lediglich eine semantische Struktur bezeichnen, die in der Wiedereinfhrung der Gemeinschaft in die Gemeinschaft besteht. Genießen ist daher (1.) von einer Struktur der Wiederholung her gedacht und durch entsprechende Tropen struktureller Gleichartigkeit bzw. ,Berhrung’ (Metonymie, Synekdoche) charakterisiert. Eine gewisse Besttigung erhlt dieser Zusammenhang von Genießen und Wiederholung von Freuds Theorie des Witzes her. Freud hatte dort die Vermutung geußert, dass der Ausfall von „Genußmçglichkeit[en]“ aus der „mangelnde[n] Neuheit“ resultiert, die die „Wiederholung des Witzes“ fr den „Hçrer“ erzeugt. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten [1905]. In: Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Bd. IV: Psychologische Schriften, Frankfurt/M. 1970, 9 – 219, 145 (m. Hervorhg.). Genießen meint (2.) eine spezifische Form der Grenzverstrkung, mit der die Gemeinschaft all das abwehrt, was sich ihren Lustbesetzungen nicht fgt und daher als ,Feind’ erscheint. Im Ergebnis ist auch der Feindbezug lustvoll, weil er ber den Umweg der Feindschaft eine Selbstanschauung der Gemeinschaft in der Gemeinschaft erzeugt.

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metonymische oder isomorphe Wiederholung: Wieder-Zeigen und Wieder-Sagen. Wenn Jakob Steinreuter zu begreifen beginnt, dass die anhaltende Landflucht durch das Geld, das Einzug in Altenmoos hlt, ausgelçst wird, mndet der Text in eine auffllige Mahnung an die Nachkommenschaften: ,Ist das der Mann mit den Tausendern gewesen?‘ fragte der Knabe […]. Der Jakob wendete sich und ging mit dem Knaben zwischen den grnenden Haferfeldern hin. […] Nun hob er eine Erdscholle auf und betrachtete sie sinnend. […] ,Das ist unser Tausender mein Kind’, sagte der Vater. ,Der kann nicht zerreißen und nicht verbrennen. Zu Mehl kann ich ihn zerreiben, in die Luft kann ich ihn streuen und ist doch nicht umzubringen.’200

Die „Erdscholle“, darauf zielt die Suggestion der Passage, ist die Gemeinschaft, weil sie nicht nur in einem metonymischen Verhltnis zu ihr steht, sondern weil der Blick, der sich auf sie konzentriert, dieselben Beharrungsenergien an ihr bloßlegt, die die Willenspersçnlichkeiten und Bewahrer auf die bedrohte Gemeinschaft richten. In Wildenbruchs Meister Balzer ist die Gemeinschaft des Uhrmachermeisters fortwhrend um die Besprechung und das Anschauen der Uhren versammelt. Genauer gesagt handelt es sich um das Vernehmen der Gemeinschaft, die sich im ebenmßigen „Ticktack“201 der Uhren selber belauscht und in einem regressiv-verstndnislosen Genießen ihrer eigenen ,Schçnheit‘ begegnet. „Hçrst Du das“, fragt Balzer seine Tochter Lotte: Lotte Ticktack – ticktack. Balzer Das ist ihre Seele, verstehst du? Und die macht ihr der Uhrmacher; und darum ist sein Beruf ein hoher Beruf, ja, man kann fast sagen, etwas Heiliges. Was sagt die Motte dazu? Lotte Die hçrt bloß zu. Balzer Versteht sie’s auch? Lotte Weiß nicht – aber es ist schçn.202

In Kretzers Meister Timpe ist es einmal mehr das Sehen, das sich die Gemeinschaft selbst sehen und wieder erkennen lsst. Vordergrndig verweist Timpes ritualisierter Rckzug auf „Franzens-Ruh“, eine erhçhte 200 Rosegger: Jakob der Letzte [1887], 23. 201 Wildenbruch: Meister Balzer [1893], 391. 202 Ebd.

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„Warte“203 im heimatlichen Garten, auf einen residualen Ort, in dem die Gemeinschaft noch als ungebrochene Idylle wirkt. In der Hauptsache aber markiert „Franzens-Ruh“ einen buchstblichen ,Sehe-Punkt’, der Gemeinschaft und Gesellschaft in der Differenz zwischen dem organisch gewachsenem Raum des Handwerkerviertels und dessen industriellen Zurichtungen scheidet und in Beziehung setzt. Erst in dieser Differenz kann sich die Gemeinschaft selbst in den Blick nehmen, weil der stdtische Raum, der sie umgibt, allmhlich alle Zge der industrialisierten Sphre der Gesellschaft annimmt, und entsprechend wird dieser auf sich selbst bezogene Blick durch die getrennten optischen Erfahrungen von Weite und Enge, Offenheit und Begrenzung hindurch konstituiert: War die Luft besonders rein, so erlangte Timpes Blick eine unbegrenzte Weite. […] Und ber diese weltstdtische Szenerie, die Zickzacklinien ins Unendliche sich zu verlngern schien, breitete sich das letzte matte Rot der herniedergesunkenen Sonne aus und hllte Natur und Menschen in einen warmen, zarten Purpurflimmer. Wie oft hatte sein Auge sich an diesem Bilde gelabt, und wie oft waren die Eindrcke gleich Schemen entschwunden, wenn er sein Gesicht dem Nachbargrundstck zugewandt hatte. Dort der lachende Sonnenschein, die unbegrenzte Freiheit des Blickes, der Reiz einer eigentmlichen Landschaft, und hier, Hand in Hand mit dem Zerstçrungswerk der Menschen, der Aufbau steiler Wnde, die das Licht des Himmels nahmen.204

Selbstverstndlich ist all das – wie auch in Wildenbruchs Meister Balzer – in eine aggressive Ideologie des Kleinhandwerks eingebunden, in der sich handwerkliche Ttigkeit und sthetische Originalitt, Notwendigkeit und Schçnheit, zu einer Aura von Ursprnglichkeit verbinden, die der Moderne unzugnglich bleiben soll.205 In Meister Timpe umgibt der Text diese Aura mit einem symbolischen Raum, in dem sich das „Allerheiligste“206 der Gemeinschaft zutrgt. Hier, in Timpes „Arbeitsstube“207, entstehen jene Modelle, in deren Einzigartigkeit die Gemeinschaft ihre 203 Kretzer: Meister Timpe [1888], 57. 204 Ebd., 59. 205 Vgl. zu den standesethischen und ideologischen Elementen des alten Handwerks Jrgen Bergmann: Das Berliner Handwerk in den Frhphasen der Industrialisierung, Berlin 1973, 5 ff., 102 ff. Die sthetischen Implikationen des Handwerks sollen den Sachverhalt verdeutlichen, dass das Handwerk von bloßen Wirtschaftsgesichtspunkten her nicht zu verstehen ist. Handwerk ist bei Kretzer, Wildenbruch und anderen zunchst ,Ttigkeit’ und doch mehr als das, nmlich ein unverußerlicher Weltsinn, der auf seinem So-Sein beharrt. 206 Kretzer: Meister Timpe [1888], 41. 207 Ebd.

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,Natrlichkeit‘ erblickt und zu deren quasi-arkanem Bezirk niemand Zutritt besitzt: Hier stand seine Drehbank, hier pflegte er allein zu sinnen und zu schaffen. Selbst die Gesellen hatten hier keinen Zutritt; sie mußten vorher anklopfen, wollten sie den Meister sprechen. Wenn mit Thomas Beyer eine Ausnahme gemacht wurde, so geschah es nur, weil dessen Treue und Ehrlichkeit seit langer Zeit erprobt waren.208

Der Text zielt an dieser Stelle darauf, die Wertbesetzungen, die ausschließlich dem Altgesellen Beyer den Eintritt in das Innerste der Gemeinschaft gestatten, so hervorzuheben, dass ihr Bruch im weiteren Erzhlverlauf umso deutlicher hervortritt. Wie angedeutet, rckt der Text ein Vergehen in den Mittelpunkt, das den Verfall der Handwerksgemeinschaft dadurch personalisiert, dass er durch Verschuldungen einzelner Figuren in Gang gesetzt wird. Beinahe alle Texte folgen diesem Erzhlschema, indem sie vor allem die Sçhne aus dem Kontinuum der Solidaritten und Ehrbegriffe ausscheren lassen, mit denen sich die Gemeinschaft gegen die „Lge“209 der Moderne behauptet. In den Bann dieser Lge geraten all diejenigen, die durch Diebstahl und Veruntreuung, durch betrgerische Geschftspraktiken und Vertragsschlsse Zerwrfnisse einleiten, die quer durch den symbolischen Kçrper der Familie verlaufen. In Kretzers Meister Timpe ist es der eigene Sohn, der das handwerkliche Ethos an das gesellschaftliche Prinzip der Massenfertigung verrt, indem er die Modelle des Vaters stiehlt und dessen Konkurrenten Urban zur Verfgung stellt. Schon in einem frheren Roman Kretzers ist es ein Sohn, dessen Veruntreuung des vterlichen Geschftskapitals eine çkonomische Krise auslçst, die das eigentliche Erzhlmotiv – den „Sturmwind des Sozialismus“ – zu einem bloßen Symbol degradiert. Tatschlich sinkt der Sozialismus, der die Klassengegenstze in den Augen des Kommerzienrats Sonderthum immer weiter verschrft, zu einem bloßen Symptom herab, an dem der schuldhafte Grundwiderspruch der Moderne ablesbar sein soll. Auch hier wirkt eine nur symbolisch zu verstehende Erzhlung, die im Spekulations- und Amsierdrang, in den Massenbewegungen, Streikauflufen und ideologischen „Aufhetzereien“210 der Zeit lediglich Symptome eines am Grund der Moderne ruhenden Prinzips der Entzweiung sieht. „,Was hat es nun gentzt’“, muss sich der entlarvte Sohn fragen lassen, 208 Ebd. 209 Ebd., 24. 210 Max Kretzer: Im Sturmwind des Socialismus, Berlin, Leipzig 1884, 23.

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daß ich wie rasend arbeiten ließ; was hat es gentzt, daß ich, um die Ehre unseres Hauses zu wahren, die hunderttausend Taler rein zum Fenster hinausgeworfen habe […]. Mit Fingern wird man hinter mir her zeigen und sagen: Das ist der Kommerzienrath Sonderthum, der hat es durch seinen Reichthum bis zum Bettler gebracht. Und all, all dieses namenlose Unglck hat der lderliche Lebenswandel jenes Menschen veranlaßt, der mein Sohn und Compagnon ist, jetzt aber in meinen Augen ein nichtswrdiger Bube!211

In Hermann Sudermanns Erfolgsstck Die Ehre ist es der haltlose Materialismus, mit dem die Kleinbrger Heinecke widerstandslos die „Schande“212 ihrer jngsten Tochter Alma hinnehmen. Alma ist ein illegitimes Verhltnis mit dem Sohn des Kommerzienrats Mhlingk, Curt Mhlingk, eingegangen, der seinerseits keine Anstrengungen unternimmt, das standestypische plaisir in legitime Bahnen zu lenken. Der heimgekehrte Sohn der Heineckes, Robert, mobilisiert im Folgenden die traditionelle Ehrenfrage, scheitert aber an der Allmacht des Geldes, wenn der Kommerzienrat die Ansprche der verletzten „Jungfrauenehre“213 mit einem Abstandsgeld begleichen will. In der traditionsreichen Konfrontation von Ehre und Geld, von traditionellem Standesbewusstsein und Moderne, schreibt das Drama eine sentimentalische Bewegung aus, in der die ehemals gesicherten und ausdruckshaften Verhaltensweisen der Ehre allmhlich selbst den Charakter formaler Rckerstattungen und ,farbloser Auszahlungen‘ gewinnen.214 Nicht die Familie selbst dient als Schauplatz all dieser Entfremdungen, sondern die in ihr angelegte symbolische Ordnung. berdeutlich wird dies in Wildenbruchs Meister Balzer. Hier richtet sich das geballte Ressentiment des Hausvaters gegen einen Bruch, den kein realer, sondern ein symbolischer Sohn einem symbolischen Vater gegenber vollzieht. „Dass ich sie lieb habe, wie einen Sohn seinen Vater“215, muss Otto Mhlich, Balzers Geselle, nicht eigentlich betonen, weil sich die Schuld dieses Sohnes, sein Auskommen in der benachbarten Fabrik zu suchen,

211 Ebd., 190 f. 212 Hermann Sudermann: Die Ehre. Schauspiel in vier Akten [1891]. Nachwort von Bernd Witte, Stuttgart 1982, 78. 213 Ebd., 87. 214 Vgl. Ingo Stçckmann: Ausgemnztes Verhalten. Naturalismus und Moderne in Hermann Sudermanns ,Die Ehre’. In: Zeitschrift fr Germanistik NF 3 (2004), 491 – 505, 504. 215 Wildenbruch: Meister Balzer [1893], 509.

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gegen den symbolischen Organismus der Familie richtet, an der er als „Verrter“216 schuldig wird Man kann diesen Grundmythos der Verschuldung, die den Genuss der Gemeinschaft stçrt und unterbricht, auch in den Seitenstrngen und Episodenbildungen der Erzhlverlufe verfolgen. Ein vergleichsweise perspektivisch angelegter Roman wie Polenz‘ Grabenhger erzhlt den Verfall der patriarchalischen Genossenschaften, wie sie die preußischen Ostprovinzen im 19. Jahrhundert prgen, gewissermaßen mehrfach; er pluralisiert das in der historischen ,Tiefe‘ wirksame Geschehen in Form hnlicher Geschichten, je nachdem, welche Figuren und welche sozialen Milieus innerhalb des entfalteten Sozialpanoramas im Mittelpunkt stehen. Allerdings ist es keine Beliebigkeit, dass das Zerwrfnis der Generationen niemanden hrter trifft, als den großen ,Bewahrer’ Jochen Tuleveit, dessen Sohn Karl nach einem lngeren Aufenthalt in Berlin nach Grabenhagen zurckkehrt und dort moderne Wirtschaftsprinzipien heimisch machen mçchte. „Als nun der Karl von der Anstalt zurckgekehrt, auf dem vterlichen Hofe seine eben erworbenen Kenntnisse zur Anwendung bringen wollte, kam es zwischen Vater und Sohn zu Meinungsverschiedenheiten, aus diesen wurde Streit und aus dem Streit vçlliges Zerwrfnis.“217 Nimmt man die bisherigen Beobachtungen zusammen, so wird man drei Gesichtspunkte festhalten kçnnen: 1. Der soziale Roman entfaltet den Prozess der Modernisierung im Wesentlichen durch Mythen schuldhafter Entzweiung. Verstrkt wird dieser Verschuldungsmythos dadurch, dass zahlreiche Texte ihr Personal mit Vorgeschichten ausstatten, in denen die antagonistischen Figuren eine gemeinsame soziale bzw. familire Herkunft besitzen. Solche Beziehungsrelikte sind immer dort greifbar, wo der schuldhafte Konflikt zwischen Vtern und Sçhnen aufbricht, aber auch dort, wo gemeinsam geteilte Traditionen von einzelnen aufgekndigt werden, wo Klassengegenstze aus ursprnglichen klassenbergreifenden Loyalitten hervorbrechen oder – wie etwa in den Texten, in denen das Schema des Bildungsromans durchscheint – ehemalige Freundschaften im Erzhlprozess zu Feindschaften umgedeutet werden. Die Funktion dieser Vorgeschichten besteht offenkundig darin, die Moderne nicht ,von außen‘ in das Sozialkontinuum der Gemeinschaft einbrechen zu lassen, sondern die ihr feindliche Sphre der Gesellschaft narrativ aus ihr selbst herzuleiten. 216 Ebd., 511. 217 Polenz: Der Grabenhger [1897], I, 272.

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2. Die berformung der Erzhlverlufe mit Verschuldungsmythen folgt nicht nur einem ideologischen Interesse der Texte und ihrer Autoren, die im naturalistischen Roman im brigen nur schwer von ihren Erzhlerinstanzen zu unterscheiden sind.218 Sie resultiert auch aus Problemen der erzhlerischen Darstellung, d. h. aus dem Bemhen, Ausgangs- und Endzustnde des modernisierungsgeschichtlichen (Sub-)Textes narrativ zu motivieren. Verschuldungen ,erklren‘ den Prozess, in dessen Verlauf die Gemeinschaft ihre historische Niederlage erlebt, und lassen sich zu einer Gestaltung von Zeit verwenden, in der ein abstrakter Prozess Eigenschaften eines intentionalen und personalisierbaren Geschehens (zurck-)gewinnen kann. In dieser Perspektive wirken die Romantexte wie Großallegorien der Moderne, in deren konzeptueller Bewegung der modernisierungsgeschichtliche Text als ihr Signifikat hervortritt. 3. Der Modernisierungsprozess wird auf der Ebene der Konfiguration ausnahmslos familial codiert, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zum einen insofern, als die Verschuldung den symbolischen Kçrper der Familie durchluft und deren erzhlte Gegenwart zu einem Entzweiungszustand gestaltet; zum anderen insofern, als das genealogische Kontinuum, in dem die Figuren stehen, im Moment des schuldhaften Vergehens durchbrochen wird. Wer sich, wie die naturalistischen Sçhne, schuldig macht, hebt den bislang unbefragten Horizont der Wertbesetzungen, Gewohnheiten und Ehrbegriffe auf. Und schließlich bildet das Verschuldungsgeschehen vornehmlich eine paternale Geschichte; stets tritt es in die bergabe des gemeinschaftlichen ,Herkommens‘ genau an jener Stelle ein, an der die Sçhne das Erbe der Vter und Vorvter weiterzufhren haben. Offenbar ist der narrative Text der Moderne, ohne dass dieser Gesichtspunkt systematisch weiter entfaltet werden kçnnte, ein mnnlicher Text.219 Es gibt vor diesem Hintergrund immer wieder narrative Strategien, die das Deutungsmuster der Verschuldung verstrken und zum eigentlichen Text der Erzhlung werden lassen. In Meister Timpe rhrt dieses Erzhlschema an die innere Motivation des Erzhlverlaufs selbst. Vor218 Vgl. dazu Gnter Helmes: Der ,soziale Roman‘ des Naturalismus. Conrad Alberti und John Henry Mackay. In: Mix (Hg.): Naturalismus, Fin de Sicle, Expressionismus 1890 – 1918, 104 – 115, 107. 219 Vgl. zur narrativen Struktur von Mnnlichkeit im 19. Jahrhundert Walter Erhart: Familienmnner. ber den literarischen Ursprung moderner Mnnlichkeit, Mnchen 2001.

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dergrndig ist Timpes geschftlicher Ruin eine Konsequenz der betrgerischen Geschftspraktiken seines Konkurrenten Urban. Die innere Zeitfgung des Romans dokumentiert aber, dass der Zusammenhang zwischen dem Diebstahl und Timpes Insolvenz allenfalls lose geknpft ist. Zunchst datiert der Text Timpes vage ausgesprochene Vermutung, Urban habe seine Modelle „mit den blichen Vernderungen nach den Vorbildern in den Lden angefertigt“220, innerhalb der erzhlten Zeit auf den Februar 1875. Timpes Vermutung zielt damit auf einen generellen, in den Geschftskonventionen der Zeit verankerten Sachverhalt,221 der das eigene Scheitern nicht unmittelbar mit dem Verhalten Urbans verbindet. Erst im Winter 1877 entdeckt Timpe schließlich den ersten Diebstahl des Sohnes;222 in diesen rund drei Jahren vollzieht sich aber der eigentliche wirtschaftliche Ruin der Handwerksgemeinschaft. Zudem errichtet der Text einen Motivstrang, der den Verlust des alten Sozialverbandes mit gesellschaftlichen Aufstiegsambitionen in Einklang bringt, die Timpe selbst zu Beginn der Romanhandlung verfolgt: Mit diesem Flecken Erde hatte Johannes Timpe seine besonderen Plne, ber die er nur zu gern mit seinem Sohne sprach. Da schwirrten die Worte: ,Anbauen … Kleine Fabrik errichten … Das Geschft kaufmnnisch betreiben … Seinen Sohn zum Kompagnon machen … Neues Vorderhaus errichten …‘ durch die Luft, so daß Franz seinem Vater mit dem grçßten Interesse zuhçrte, denn man schilderte ihm das Element, in dem er sich einst zu bewegen gedachte.223

Wenigstens imaginr gleicht sich Timpe jenem gesellschaftlichen Prinzip an, das sich im eigenen ressentimentalen Blick als Ursache fr den spteren Untergang entpuppt. Und schließlich reichen Timpes finanzielle Schwierigkeiten bis zu einem Zeitpunkt zurck, der vor der Erzhlhandlung liegt und an dem er, wie der Erzhler erlutert, „eine Hypothek auf sein Haus“ hatte „eintragen lassen“, um „neue Drehbnke anzuschaffen und eine alte Schuld zu tilgen“.224 Es bleibt daher die Frage, welche Funktion Handlungselemente und analeptische Konstruktionen besitzen, die das suberlich gehegte Verschuldungsschema des Textes durchkreuzen und die willensstarken ,Bewahrer‘ in ein eigentmliches 220 Kretzer: Meister Timpe [1888], 130. 221 Einen einheitlichen Patentschutz gibt es in Deutschland erst mit der Einrichtung des Reichspatentamtes 1877. 222 Kretzer: Meister Timpe [1888], 133 ff. 223 Ebd., 23. 224 Ebd., 171.

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Zwielicht rcken.225 Fraglos ist es zutreffend, dass der Erzhler „das in Urban personifizierte Unternehmertum auf einer moralischen Ebene […] treffen“ mçchte.226 Allerdings fgt dies der ohnehin moralisch ausgedeuteten Erzhlwelt des Textes keinen eigenen Gesichtspunkt hinzu. Man muss daher vielmehr annehmen, dass der Sinn dieser Ambivalenzen auf das Verschuldungspotential des Textes zielt, also darin besteht, Verschuldung und Genealogie so zu verknpfen, dass der in den Erzhlprozess eingelagerte modernisierungsgeschichtliche Text als Akkumulation von Schuld erkennbar wird. Dieser Akkumulationsprozess verstrkt die berfhrung von Gemeinschaft in Gesellschaft, weil er die feindlichen Prinzipien der gesellschaftlichen Sphre wie proleptische Spurenelemente in die zeitliche Tiefe der Gemeinschaft hineinreichen und die Verschuldung auch auf jene Figuren bertreten lsst, die spter als ,Bewahrer’ der Gemeinschaft auftreten. Wenn die Sphre der Gemeinschaft damit eine Art ,verunreinigte’ Herkunft besitzt, dann bençtigt sie erzhlerische Mechanismen, die den Antagonismus zur Sphre des Gesellschaftlichen wiederherstellen und bekrftigen. Diese Rekonstruktion von antagonistischen Verhltnissen wird in naturalistischen Texten durch Feindkonstellationen geleistet, die den Hauptfiguren durchweg Gegenspieler an die Seite stellen. Vor allem aber sind sie in den affektiven Lustmomenten verankert, die das Genießen der Gemeinschaft unter umgekehrten Vorzeichen in ressentimentalen Regungen wiederholen. Wie die ,tragischen‘ Romanschlsse zeigen, ist die Gemeinschaft noch im Moment ihres Untergangs wesentlich Affekt und „Haß“227 auf das, was sie gefhrdet. Einzelne Texte sind daher auch nicht dagegen geschtzt, ihre ressentimentale Dynamik in omnipotente Phantasien und Drohgebrden umzusetzen. In Wildenbruchs Meister Balzer dient ein ominçses „Schlagwerk“ dazu, anzudeuten, was die Przisionsarbeit des alteingesessenen Uhrhandwerks auch vermag: Balzer Wie ich Euch einmal vorgelesen habe, erinnerst du dich – aus der Zeitung – 225 Tatschlich erweist sich Meister Timpe seinem Sohn Franz gegenber immer wieder als bemerkenswert durchsetzungsschwach. Der Text lßt die programmatische Willensstrke der Figur damit tendenziell vor dem intimen Raum der Familie halt machen. Ihr Eigensinn richtet sich primr ,nach außen’, d. h. in die gesellschaftliche Sphre, gegen die die Willenspersçnlichkeiten den gemeinschaftlichen Zusammenhang verteidigen. 226 Gnter Helmes: Max Kretzer ,Meister Timpe’. In: Der Deutschunterricht 40 (1988) H 2: Naturalismus. Hg. von Helmut Scheuer, 51 – 63, 63. 227 Kretzer: Meister Timpe [1888], 121, 192.

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[…] von einem Mann, der einen Kasten auf ein Schiff gebracht hatte? Und in dem Kasten war eine Sprengladung? Und bei der Ladung war ein Schlagwerk – Otto Damit das Schiff in die Luft gehen sollte. Balzer Natrlich. […] Denn ich nehme an, daß es ein Uhrmacher war, der das Schlagwerk gemacht hatte – einer, der sein Handwerk versteht. Otto Aber – Meister Balzer Balzer Weiß schon, was du sagen willst […]; aber sei ruhig, das kann ich noch; so ein Schlagwerk krieg‘ ich noch fertig; auf die Minute soll’s einschlagen; auf die Sekunde und Zehntel-Sekunde! […] Und daß sie mir das Ding auf die Erde fallen lassen, das soll mir auch nicht passieren; ich selber trage es hinber. Otto Wo denn – hinber? […] Die – Fabrik? Balzer Du hçrst ja nicht hin – seit ’ner halben Stunde spreche ich doch davon. Und dann stellen wir das Schlagwerk so ein; […] daß es in der Nacht losschlgt, […] whrend sie sich wlzen auf ihren Geldscken […]. Wird ein Spaß, Junge […]! Hier am Fenster sitzen wir, gucken hinber und freuen uns […] und dann zhlen wir […] – und nu ist die Zeit da – und nu holt der Hammer aus – und nu fllt er auf die Patrone und nu steigt eine feurige Lohe drben auf […] und das Dach fliegt auseinander, und in der Lohe fliegen die Arme, die Beine, die Kçpfe […] !!228

In gewisser Weise vergrçßern die naturalistischen Texte all das regressiv,heimliche‘ Begehren, das im Wesenwillen Tçnniesscher Provenienz aufgehoben ist und dessen Verschließungen symbolisch in entsprechenden Raumstrukturen zum Ausdruck kommen. Wenn die gesellschaftliche Moderne eine „grenzenlose Welt“229 erzeugt, dann entspricht sie zum einen jener un-heimlichen „Fremde“230, von der Tçnnies‘ Sphre der Gesellschaft zeugt; zum anderen verweist sie auf ein unzeitgemß gewordenes Bewusstsein, das sich in den symbolischen Begrenzungen des Hauses, das der Gemeinschaft als ruhender Ort dient, verschließt: 228 Wildenbruch: Meister Balzer [1893], 502 f. 229 Kretzer: Meister Timpe [1888], 199. 230 Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 4.

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Timpe fhlte sich beruhigt. […] Eine nicht mehr erwartete Kraft war ber ihn gekommen: einer jener tatenlustigen Augenblicke in der Erschlaffungsperiode eines Menschen, wo der Mut zu neuer Arbeit, zu einem neuen Leben sich zu regen beginnt. Es war gleichsam ein Trotz, ein riesenstarkes Aufbumen […]. Er wollte dieses Haus hier, in dem er geboren war, in dem drei Generationen seines Namens gehaust hatten, als seine Burg betrachten, deren Besitz er gegen die Außenwelt verteidigte.231

Formulierungen dieser Art, in denen sich die „Innerlichkeit des d e u t s c h e n H a u s e s “232 mit den „Mchte[n] des sozialen Beharrens“233 trifft, lassen sich leicht in die Vielzahl der antimodernen Regungen einreihen, die das 19. Jahrhundert seit der Jahrhundertmitte, in gewisser Weise wohl schon seit der Politischen Romantik, begleiten und die sich um die Jahrhundertwende zu kulturkonservativen und vçlkischen Positionen verdichten. Und man muss lediglich Riehls nostalgische Ausfhrungen ber die beharrenden Krfte, die symbolischen konomien des sozialen Romans und die ressentimentalen Bemerkungen miteinander in Verbindung setzen, mit denen Tçnnies den „Bauern“ und den „Hndler“ als Allegorien von Wesen- und Krwille fasst,234 um die Identitt einer verstreuten und doch homogenen ideologischen Formation in den Blick zu rcken. Je widerstandsloser sich die Texte diesen Konstellationen berlassen, desto deutlicher tritt hervor, in welchem Maße sie sich mit Erzhltraditionen, die in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts ausgebildet werden, in Einklang befinden. Gerade weil in den hier verhandelten Texten Gustav Freytags Soll und Haben nicht nur in einer Hinsicht nachwirkt, bndelt sich die gesamte ressentimentale Dynamik in einem Vorbehalt gegen ,das Jdische‘.235 Es sind in aller Regel jdische Cliquen, die Land und Boden aufkaufen, das charakterlose Geld in Umlauf bringen und gutglubige Bauern in Rechtsgeschfte verstricken, deren abstrakter Sinn ihnen verschlossen bleibt. In gewisser Weise reprsentiert das Jdische 231 232 233 234 235

Kretzer: Meister Timpe [1888], 187. Riehl: Die Familie [1854], 183. Ebd., 158. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 141. Fr eine neuere Freytag-Lektre, die den lteren ideologiekritischen durch einen jngeren Normalismus-Diskurs ersetzt, vgl. Benno Wagner: Verklrte Normalitt. Gustav Freytags ,Soll und Haben’ und der Ursprung des ,Deutschen Sonderwegs’. In: Internationales Archiv fr Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39 (2005) H. 2, 14 – 37. Zu den Motivtraditionen, die Freytags Erfolgsroman mit dem realistischen und naturalistischen Erzhlen verbinden, Swales: Epochenbuch Realismus, 90 ff., 163 ff.

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eine bestimmte Semiotik, die sich komplementr zur Semiotik des Geldes verhlt: beides sind Namen fr eine unaufhaltsame Zirkulation, fr ein ewiges Gleiten der Worte und Dinge, fr eine fortwhrende bertragung von Eigenem und Fremden. Entsprechend rhren all die tragischen Entfremdungen, die die großen Einzelnen in den Rcken der gesellschaftlichen Moderne treiben, von diesen ,jdischen‘ bertragungen her, in denen nichts an seinem Ort bleibt: Die von Edmund Schmeiß versprochenen Dnge- und Kraftfuttermittel trafen in einem großen Brettwagen auf dem Bttnerschen Gehçft ein. Der Fuhrmann bergab einen Lieferschein, der am Kopfe die Firma Samuel Harrassowitz trug. Der Bttnerbauer begriff nicht, was das heißen solle. Er hatte doch mit Edmund Schmeiß verhandelt und nicht mit Harrassowitz. […] Der Fuhrmann ließ sich Empfangnahme vom Bauern quittieren und bergab dann einen Brief. Darin bekannte Samuel Harrassowitz, Bezahlung fr gelieferte Dnge- und Kraftfuttermittel durch ein von Herrn Edmund Schmeiß an seine Order remittiertes Akzept des Bauerngutsbesitzers Traugott Bttner in Halbenau empfangen zu haben. Der Bttnerbauer stand ratlos vor dem Papiere. Was bedeutete nun das wieder? Wieviel schuldete er nun eigentlich und fr was? Und wessen Schuldner war er?236

Erzhlmotive dieser Art sind Teile eines modernen Antisemitismus, dessen Produktionsgeschichte bekanntlich weit in das 19. Jahrhundert zurckreicht. Er ist an dieser Stelle nur von Interesse, weil er einen besonders herausgehobenen Schauplatz fr die regressiven Phantasiebildungen darstellt, mit denen die Bewahrer der Gemeinschaft ihren gesellschaftlichen ,Feinden‘ gegenbertreten. Wenn es zutrifft, dass dem Antisemitismus an zentraler Stelle die Angst zugrunde liegt, den gefhrlichen ,Fremden‘ in seinem Assimilationsbegehren nicht mehr erkennen zu kçnnen,237 dann dokumentieren die naturalistischen Texte gerade das gegenteilige Verfahren. Sie sind nachhaltig damit beschftigt, den ,gesellschaftlichen‘ Feind als Feind und damit die feindliche Sphre des Gesellschaftlichen erkennbar zu machen. Das gilt zunchst fr das Arsenal an physiognomischen und habituellen Stereotypen, das wiederholt aufgerufen wird, um die Konfigurationen der Texte stabil zu halten. Das gilt vor allem aber fr die weitlufig eingestreuten Wiederholungsfiguren, die die Feindschaft der sozialen Sphren symbolisch reproduzieren. Solche Wiederholungen begleiten Erich von Kriebow, den „Grabenhger“, durch das eigene Lebensschicksal hindurch. Gemß den Erzhlimplika236 Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 126. 237 Sander Gilman: Jdischer Selbsthass. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Frankfurt/M. 1993, 95 ff.

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tionen des Bildungsromans, der in Polenz‘ umfangreichem Text in Umrissen greifbar wird, begegnet Kriebow den Vertrauten aus Kinder- und Jugendtagen immer wieder; im Falle des Juden Isidor Feige zunchst als Erinnerung an den unauslçschlichen Eindruck, den dessen Vater auf ihn gemacht hatte, dann als Rckblick auf die gemeinsam verbrachte Gymnasialzeit und schließlich als Blick auf einen ußerlich vernderten Menschen, der als Bankier von den Enteignungen der Großgrundbesitzer profitiert. Dennoch bleibt Feige unter dem Geschftsgebaren des weltlufigen Finanziers als das erkennbar, was er seiner ,Natur‘ nach ist. Dieser fr die symbolische konomie des Textes konstitutive Erkennbarkeit entspricht auf der Seite der gemeinschaftlichen Bewahrer ein Wiederholungshandeln, das das gesellschaftliche Prinzip des Geldes buchstblich ,bei den Ohren‘ fassen will: Den Grabenhger machte der ungewohnte Anblick unwillkrlich stutzen, er blieb stehen, las die Firma: ,Isidor Feige.‘ Er konnte sich noch recht gut des alten Handelsmannes Abraham Feige entsinnen […]. Mit seinem schmutzstarrenden Kaftan, den langen graugelben Locken, den tiefliegenden Eulenaugen und der Habichtsnase, hatte er dem Knaben einen unauslçschlichen Eindruck gemacht. Abraham war also wohl gestorben, und dies hier war Feige junior. Seiner entsann sich Kriebow erst recht vom Gymnasium her […]. Isidor Feige war trotz seines kurzgehaltenen Haares und seiner modernen Kleidung die verjngte Ausgabe des alten Abraham. Kriebow erkannte sofort das Lcheln wieder, und die Ohren – wie oft hatte er die in seinen Fusten gehabt. […] Kriebow sagte […]: er sei jetzt nicht in der Lage, zu empfangen […]. Feige lchelte mit jenem zudringlichen Grinsen, dessen sich Kriebow noch von der Schule her erinnerte […]. Der Grabenhger fhlte ein Zucken in den Fingern nach jenen Ohren hin, die ihm so wohlbekannt vorkamen.238

6. Die Sprache der Gemeinschaft. Der Tod der Zeichen im Naturalismus Die zahlreichen Romanprojekte naturalistischer Autoren haben sich vielfach an dem Anspruch messen lassen mssen, den ihnen das Romanwerk Zolas vorgegeben hatte. Der Vergleich ist durchweg nicht gnstig fr den deutschen Naturalismus ausgegangen; zu offensichtlich ist das Missverhltnis zwischen dem Wortreichtum und der sthetischen Qualitt der entsprechenden Texte. Allerdings besitzt ihr auffllig para238 Polenz: Der Grabenhger [1897], I, 175 und 201.

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taktisches Erzhlen ein Korrelat auf der Seite des Erzhlten selbst. Zumindest die hier relevanten Texte umkreisen in der erzhlerischen Konstitution der Willenspersçnlichkeiten ein Sprechen, das auf paradoxe Weise nicht spricht. Genauer gesagt scheint dieses beharrliche Schweigen weniger das Sprechen ersetzen zu wollen, als vielmehr lautloser Vollzug einer ,eigentlichen‘ Rede zu sein, die keiner Worte bedarf, weil die Verstndigung auf andere, in der ,Natur‘ der Gemeinschaft liegende Weise bereits hergestellt ist. ber die Familie Traugott Bttners weiß der Erzhler zu berichten, dass es jedem Einzelnen schwer fiel, „sich gegen“ den anderen „offen auszusprechen“: Die Bttners waren darin eigentmliche Kuze. Nichts wurde ihnen schwerer, als sich gegen ihresgleichen offen auszusprechen. Oft wurden so die wichtigsten Dinge wochenlang schweigend herumgetragen. […] Vielleicht, weil jedes die innersten Regungen und Stimmungen des Blutsverwandten zu genau kannte und seine eigenen Gefhle von ihm gekannt wußte.239

Bemerkenswerterweise ist auch der Erzhler lediglich auf Vermutungen angewiesen, um dem Verhalten der „eigentmliche[n] Kuze“ eine gewisse Plausibilitt abgewinnen zu kçnnen; selbst der zeittypische Hinweis auf den Determinismus des Bluts fllt halbherzig genug aus. Man hat es an dieser Stelle mit dem seltenen Fall zu tun, dass der Erzhler hinter seiner ansonsten unbestrittenen auktorialen Deutungskompetenz zurcktritt und den Eigentmlichkeiten seiner Figuren gegenber eine gewisse Ratlosigkeit dokumentiert. Aufs Ganze besehen stellt sich der Zusammenhang als ein systematisches Erzhlinteresse der Texte heraus. Allerdings hngt dieser ins Schweigen emigrierte Heroismus nicht mit Eigentmlichkeiten einzelner Figuren zusammen. Schweigen oder Beinahe-Schweigen ist auf paradoxe Weise vielmehr die wesenhafte, natrliche Art der Gemeinschaft zu sprechen. In den lakonischen Mitteilungen der großen Einzelnen, die an den Rndern der Rede immer ,zu wenig‘ sagen und doch in suggestiver Weise auf ein Eigentliches im Ungesagten verweisen, artikuliert sich ein tiefer Vorbehalt gegenber der Sprache. Sprechen, vor allem begriffliche Sprache, erscheint als Mitteilungsweise der gesellschaftlichen Sphre und damit als zutiefst arbitrre Verlautbarung, in der Dinge und Worte nicht beieinander sind. Die Gemeinschaft dagegen bedarf keiner eigentlichen Verstndigung; sie versteht sich durch eine gemeinsame Bedeutungswelt hindurch, die im Sprechen schlechterdings verußert und ihrer Sub239 Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 22.

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stantialitt beraubt wrde. Insbesondere in den Romanen der Heimatkunst finden sich immer wieder Passagen, die in dem Maße Verstndigung durch Nicht-Verstndigung herstellen, wie die Beteiligten im stillen Konsens der Gemeinschaft vorverstndigt sind: Es war ihm [Peter Nockler, I.S.] gleich wohler. Er saß wieder mal mit Leuten zusammen, die auf dem gleichen Boden gewachsen waren. Da war gleich eine Einheit. Das war alles von gleicher Art. Da war nichts zu verbinden, nicht zu bewundern, da war nichts Neues. Das hatte alles den gleichen Grundton. Anschauungen, Fhlen, Wnschen, Beurteilen, es ging nach der gleichen Richtung. Oder wo nicht, man verstand auch das Abweichende sofort. Da war nichts zu erfassen erst und zu begreifen. Da ging’s einem selbst gleich aus dem Herzen, ohne Erklrung und erst ,Sichdreinfinden‘.240

Es liegt in der referentiellen Leere solcher Situationen, dass sich die Figuren in ihnen nichts bermitteln; von einem Gesprch berichtet der Text nichts, zumal er den Inhalt des Gesagten nur in den Erzhlerparaphrasen reprsentieren kann. Dabei wird der ,Gehalt’, den der Erzhler prpariert, nicht nur ausschließlich gefhlt und empfunden, er verweist auch auf semantische Substrate – „Einheit“ und „gleiche[] Art“ –, die die Gemeinschaft bezeichnen. Eine gewisse Variation dieses ,Sprechens‘ stellen Situationen dar, in denen die Gestik des Gesagten das eigentlich Gesagte dominiert. Bis in die typographische Struktur der Texte und ihre Absatzmarkierungen hinein erstreckt sich ein Sprachgestus, in dem sich der Sinn des Gesagten weniger im Kontinuum der Rede, als im elliptischen Gestus des Schweigens und Wiederansetzens der Rede reprsentiert. Dieser Sinn zielt auf nichts anderes als auf Markanz und wortlose Tiefe, auf Endgltigkeit und Entschiedenheit, die der Sprache ihre Vieldeutigkeit nehmen soll. Im lakonischen Sprechen der Gemeinschaft vollzieht sich daher kein Abwgen, kein Rsonnieren, sondern allein der entschiedene Gestus, der das Sprechen einfrbt und phrasiert. Und wenn es eine referentielle Dimension in dieser Sprache gibt, dann ist es die, dass sich der Gestus des Sprechens zutiefst im Einklang mit dem Charakter des Sprechers befindet. Weniger das Gesagte, als die Modulationen des Gesagten, ihre Aussparungen und endgltigen Verlautbarungen, verraten, dass es sich um den unverrckbaren Willen einer Persçnlichkeit handelt, deren Entschiedenheit gerade im Verzicht auf (,zu viel‘) Sprache zum Ausdruck kommt. In Gustav Frenssens Jçrn Uhl vollzieht sich die Trennung der Hauptfigur von ihren Verwandten in einer parataktischen 240 Wilhelm Holzamer: Peter Nockler. Die Geschichte eines Schneiders, Leipzig 1902, 79.

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Grammatik, in der, wie Karlheinz Rossbacher treffend hervorgehoben hat, „jeder einzelne dieser Stze“ ein „Schlusssatz“241 sein kçnnte: Er [Fiete Krey, I.S.] starrte in das Wasser; dann ging er langsam weiter hinauf. Als sie oben auf der Hçhe angekommen waren, sagte er: ,Nun geh‘ nach Hause. Ich will jetzt allein weitergehen.’ Da ging Jçrn ohne Hndedruck und ohne Abschiedswort ber die Heide. Fiete Krey aber blieb oben in der drren Heide stehen. Als Jçrn sich umsah, stand er wie ein schwarzer Pfahl am Horizont. Langsam kehrte Fiete Krey sich um und ging wieder in die Mulde hinunter.242

Fast scheint es, als wiederhole der Text in den Unterbrechungen des Sprechens jene affektiven Spaltungen, die die organische Gemeinschaft vom Mechanismus der Gesellschaft trennen. Und fast scheint es so, als vollziehe der Sprachgestus des Textes eine symbolische Vergemeinschaftung derjenigen, die ber den heim-lichen und dennoch schmerzhaften Sinn derartiger Situationen vorverstndigt sind, whrend fr alle anderen das Gesagte ,zu wenig sagt‘ und daher nur einen Riss in der Verstndigung darstellen kann. In den wenigen sprachprogrammatischen ußerungen der Heimatkunst erheben sich Sprachgestiken dieser Art geradezu zu einer Transzendenz des Sprachlichen. In ihr erscheint Sprache als „Dickicht“243, das die Kommunion der Geister verhindert. Nur im „Jenseits der Sprache“ kçnnen, wie Friedrich Lienhard 1904 aus Anlass von Fritz Mauthners Kritik der Sprache betont, Bedeutung und Verstndigung beheimatet sein. In der Sprache verharren sie demgegenber gewissermaßen in den Netzgittern der Stellvertretungen, weil Sprache auf Zeichen und damit auf eine arbitrre Relation verwiesen ist, die wie „eine Ziffer im Kataloge ein Bild bezeichnet“.244 Weit entfernt von aller modernistischen Sprachskepsis zielt Lienhard mit Maeterlinck auf ein stilles Jenseits der Sprache, das auf paradoxe Weise ,unter‘ oder ,hinter‘ ihr liegt und das in seinem forcierten Irrationalismus eine tiefe, reiche, ,volle‘ Kommunikation der Persçnlichkeiten freilegt: Whrend noch Schiller die bescheidenen Worte spricht („An den Dichter“): ,Laß die Sprache dir sein, was der Kçrper den Liebenden. Er nur Ist’s, der die Wesen trennt, und der die Wesen vereint –, 241 Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman, 220. 242 Gustav Frenssen: Jçrn Uhl. Roman [1901], Berlin 1905, 116. 243 Friedrich Lienhard: Jenseits der Sprache. In: Der Trmer 7 (1904) H. 1, 111 – 113, 112. 244 Ebd., 111.

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sucht uns der moderne Maeterlinck durch folgende Betrachtung ber den Wert des ,Schweigens‘ zu berraschen: ,Man muß nicht glauben, daß die Sprache jemals […] der wirklichen Mitteilung zwischen den Wesen diene. Die Worte kçnnen die Seele nur in der gleichen Weise vertreten, wie z. B. eine Ziffer im Kataloge ein Bild bezeichnet; sobald wir uns aber wirklich etwas zu sagen haben, sind wir gezwungen zu schweigen […].‘ Maeterlinck fhlt […] richtig; er will sagen: in den Pausen zwischen dem Wortschwall […] stellt es sich am besten heraus, wie zwei Menschen aufeinander wirken. Aber dies ist kein ,Schweigen’, dies ist eine feinere, leisere Art der Sprache: es ist die whrend des ußeren Schweigens erst recht sprbare i n n e r e S c h w i n g u n g […].245

Lienhard bewegt sich hier an einem Fluchtpunkt von recht unterschiedlichen Gemeinschaftsdiskursen, deren gemeinsamer Vorbehalt gegenber begrifflicher Sprache um 1900 geradezu obsessiv zu Tage tritt. All die Heimlichkeit, der ganze ungebrochen-vertraute Sinn der Gemeinschaft grndet in einem schweigenden Einverstndnis, das keiner Sprache bedarf. Was in der Gemeinschaft wirkt, ist nach Auffassung von Ferdinand Tçnnies „Verstndnis“246 – stillschweigendes, unbefragtes Einvernommensein, das keine Ab-Sprachen und keine Verabredungen kennt, keiner Vertrge und Konventionen bedarf, um die Einzelnen zu substantiellen Beziehungen anzuhalten. „Gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung, als eigener Wille einer Gemeinschaft, ist das, was […] als Verstndnis (consensus) begriffen werden soll. Sie ist die besondere soziale Kraft und Sympathie, die Glieder eines Ganzen zusammenhlt.“247 Gerade weil die Gemeinschaft auf vor-vertraglichen Bindungen beruht, wrden Begriffe, die in die Sphre der Verabredungen gehçren, ein gesellschaftliches Moment in die Gemeinschaft hinein tragen, das ihr „dauernde[s] und echte[s] Zusammenleben“248 auf ein arbitrres Prinzip hin berschritte. Gesellschaftliche Sprache ist fr Tçnnies schlechterdings ein feindliches System „verabredeter, willkrlicher Zeichen“249, dessen Teilhabe an den vertraglichen Einigungen der gesellschaftlichen Sphre in die Sprache zurckwirkt und sie zu einem Medium sozialer Fiktionen werden lsst. Stillschweigen kann es in der Gesellschaft daher nur als akzidentelles Schweigen, als Schweigen aus Anlass einer „fingiert[en]“250 Unterstellung von sozialen Einigungen oder als 245 246 247 248 249 250

Ebd., 111 f. Tçnnies: Gemeinschaft und Gesellschaft [1887], 18. Ebd., 17. Ebd., 4. Ebd., 19. Ebd., 34.

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Schweigen ber den Mechanismus der geschlossenen Vertrge hinweg geben, whrend das Stillschweigen der Gemeinschaft reales Einverstndigtsein, einen „consensus“, zum Ausdruck bringt: Verstndnis ist demnach der einfachste Ausdruck fr das innere Wesen und die Wahrheit alles echten Zusammenlebens, Zusammenwohnens und -wirkens. Daher in erster und allgemeinster Bedeutung: des huslichen Lebens […]. Das stillschweigende Einverstndnis […] ber Pflichten und Gerechtsame, ber Gutes und Bçses, kann wohl einer Verabredung, einem Vertrage verglichen werden; aber nur, um sogleich den Kontrast desto energischer hervorzuheben. Denn so kann man auch sagen: der Sinn von Worten sei gleich demjenigen verabredeter, willkrlicher Zeichen: und ist gleichwohl das Gegenteil. Verabredung und Vertrag ist Einigung, die gemacht, beschlossen wird; ausgetauschtes Versprechen […]. Diese Einigung kann auch unterstellt werden, als ob sie geschehen sei, wenn die Wirkung von solcher Art ist; kann also per accidens stillschweigend sein. Aber Verstndnis ist ihrem Wesen nach schweigend; weil ihr Inhalt unaussprechlich, unendlich, unbegreiflich ist.251

Wenn „Verstndnis“ also die Art und Weise darstellt, in der die Gemeinschaft – durch die Abstndigkeit von Sprache hindurch – ihre Bindekrfte aufbewahrt, dann unterhalten die naturalistischen Texte ein spezifisches Verhltnis zu dieser Konstellation. Leicht ließen sich zunchst all diejenigen Figuren aufrufen, die nicht nur die Teilhabe an Sprache verweigern, sondern denen Sprache als Ausdruck kaum zur Verfgung steht und die ihren beharrlichen Weltsinn in eine hnlich beharrliche Wortkargheit lenken. Wie in einer Substitutionshandlung gewinnen diese schweigenden Willenspersçnlichkeiten ihre Prsenz allein durch ihre machtvolle Kçrperlichkeit, in dem sie ebenso unverrckbar und standfest auftreten wie ihre Ansichten und berzeugungen: Ein wenig kahler noch und hagerer war Jochen Tuleveit geworden, sonst war er ganz der alte geblieben mit seinem kernhaften Schdel, dem schmalen Munde und der mchtigen Bartkrause unter dem trotzigen Kinn. […] Ob Jochen Tuleveit ber seinen Besitz durch Testament verfgt, und was er da bestimmt habe, wußte niemand. Er sagte darber nichts, trug das, wie so vieles, im Busen verschlossen. […] Jochen Tuleveit glich einem jener alten wetterharten einzelstehenden Bumen; den Winden ist es nicht gelungen den moosbedeckten knorrigen Stamm zu werfen, nur die Krone haben sie ihm zerzaust […].252

Man wird diese Sprachverweigerung mitsamt ihrer beharrenden Kçrperlichkeit einmal mehr nicht ohne das regressive Moment verstehen 251 Ebd., 18 f. 252 Polenz: Der Grabenhger [1897], I, 44, 276.

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kçnnen, das sie kennzeichnet. Wie eine Sprache ,klingt’, die die Ursprnglichkeit und Naturnhe der Gemeinschaft reprsentiert, zeigt sich in der Exposition von Wildenbruchs Drama Meister Balzer. Weit davon entfernt eine dramatische Problemexposition zu sein, stçßt sie ein familiales Rollenspiel an, in dem Vater und Tochter den Genuss ihrer huslichen Intimitt, die ganze intensive Vertrautheit dieser Nahwelt, in ein infantiles Lautspiel bersetzen, das vordergrndig nichts eigentlich bedeutet. Im primitiven Reimspiel von „Lotte“ und „Motte“, von „Marmotte und Otte“, besttigt sich die familiale Gemeinschaft insofern selbst, als sie die Unmçglichkeit, dass Lotte bei ihrer Geburt auch ein Junge htte werden kçnnen, dem infantilen Reimspiel selbst berantwortet: Balzer (ohne aufzusehen) Ist das die Lotte? Lotte Es ist die Lotte. Balzer (nach einer Pause) Oder die Motte? Lotte Vielleicht auch die Motte. Balzer (nach abermaliger Pause) Etwa gar die Marmotte? Lotte Es wird die Marmotte sein. […] Balzer (wie vorhin) Lotte – ? Lotte Hm? Balzer Was will denn die Motte? Lotte Dabei sein. Balzer Wo dabei? Lotte Bei Vater und Otte. Balzer Weiter nichts? Lotte Ist genug. Pause Balzer Lotte?

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Lotte Hm? Balzer Warum bist du denn kein Junge geworden? Lotte Weil ich dann nicht Vaters Motte sein kçnnte.253

Es entspricht diesem ,anfnglichen‘ Sprachbewusstsein, dass es mit Redetabus und Verboten durchsetzt ist. Die Grenzen der Gemeinschaft sind hier eminente Redegrenzen, an denen die Moderne geradezu verschwiegen wird, weil der Wille des Hausvaters die profanen Verlautbarungen aus der gesellschaftlichen Sphre tabuisiert: Otto Zehn Meilen im Umkreis wissen die Leute, was es heißt, wenn einer eine Uhr hat, die Meister Balzer gemacht hat. Balzer Ist schon gut. Lotte Laß ihn doch erzhlen, Vater! Otto Und sogar in Berlin kennen Sie Euch recht gut. Balzer Was weißt denn du davon. Otto Na – so viel weiß ich doch, daß der Berliner Herr, der die Uhrenfabrik hier angelegt hat – Balzer (steht plçtzlich auf ) Davon sei still! Otto Wie der sich auf den Kopf stellen wrde vor Vergngen, wenn Meister Balzer in seine Fabrik eintrte. Balzer Davon soll nicht gesprochen werden in meinem Haus! Niemals! Otto Ich sage ja nur – Balzer Niemals! Und niemals!254

Letztlich markiert dieses gemeinschaftliche Sprachverbot, wollte man seine konzeptuelle Stoßrichtung strker referenztheoretisch fassen, zwei gegenstzliche Momente in der Organisation von Referenz. Gemeinschaft ist dann der Name fr Unmittelbarkeit, Prsenz und ,direkte‘ Referenz, 253 Wildenbruch: Meister Balzer [1893], 385 ff. 254 Ebd., 382. Vgl. auch 407 f.

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Gesellschaft der fr Vermittlung, Arbitraritt und Abstraktion. An diesem Punkt versammelt sich der ganze „Trotz und Eigensinn“255 der naturalistischen Persçnlichkeit. Sie zielt, vor allem in ihrem Vorbehalt gegen begriffliche Sprache, darauf, Abstraktionen zu tilgen, die im Wesen symbolischer Ordnungen liegen und die das Prinzip der Gesellschaft in die gemeinschaftliche Sinnsphre hineinreichen lassen. Nachweisbar ist das zunchst an der Verweigerung, mit der die großen Einzelnen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen zurckweisen und geradezu in eine Schriftangst verwandeln, die tief in die Generationen hineinreicht: In dem Vater des jetzigen Bttnerbauern erreichte die Familie einen gewissen Gipfelpunkt. […] Als der alte Mann ziemlich plçtzlich durch Schlagfluß starb, fand sich kein Testament vor. Als echtem Bauern war ihm alles Schreibwesen vom Grunde der Seele verhaßt gewesen. Gegen Gerichte und Advokaten hatte er ein tiefeingefleischtes Mißtrauen. […] Auch schien jede Erbbestimmung unnçtig, weil als selbstverstndlich angenommen wurde, daß, wie seit Menschengedenken, auch diesmal wieder der lteste das Gut erben werde, und daß sich die brigen Geschwister murrlos darein finden wrden.256

Der Text ist an dieser Stelle erkennbar darauf angelegt, das tragische Geschehen, das Traugott Bttner heimsucht, in einer gewissermaßen subsidiren Verschuldung der Vter und Vorvter zu verankern;257 in dieser inneren Motivation, die noch den sakrosankten Begriff des Erbes in Mitleidenschaft zieht, ist nicht nur dieser Text vielschichtiger, als man es vom naturalistischen Roman gemeinhin annimmt. Denn die çkonomischen Schwierigkeiten Traugott Bttners resultieren aus Forderungen, die aus der gewohnheitsmßigen Erbregulierung der Familie erwachsen und die ihrerseits nur laut werden kçnnen, weil die Regeln der Erbfolge zu 255 Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 138. 256 Ebd., 37. An anderer Stelle heißt es: „Der Bttnerbauer berhrte den Brief wie alles Geschriebene mit besonderer Vorsicht, ja mit einer Art von Scheu“ (Ebd., 27). Im Grabenhger richtet sich ein diffuser Verdacht gegen das Lesen: „,Ja ja, mit dat Lesen!’ meinte der Alte seufzend. ,Dat Lesen ist dor all Schuld an. Gegen dat Schrieben, dor heff ich nicks dorwedder, werst dat Lesen! Dor warden de besten Ld rappelkçpsch von.’“ Polenz: Der Grabenhger [1897], I, 124. „Das Schreiben“, heißt es ber den Landrat von Ruhbeck, „war nie seine starke Seite gewesen“ (Ebd., 153). 257 Explizit heißt es: „Oder lag die Schuld nicht tiefer und ferner? Reichte sie nicht zurck ber die sechzig Jahre dieses Lebens in die Zeiten der Vter und Vorvter?“ Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 233.

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keinem Zeitpunkt in einem schriftlichen Testament festgehalten worden sind. So weit der naturalistische Roman also Ursachen fr den Modernisierungsprozess namhaft macht, sollen Vermittlungen, Abstraktionen, vor allem: begriffliche Fiktionen ins Auge treten. Auf diesem Weg halten nicht nur die topisch gebrandmarkte Bauernbefreiung, sondern die Gesamtheit der Rechtsentwicklungen des 19. Jahrhunderts Einzug in den sozialen Roman. Insbesondere Wilhelm von Polenz‘ Ressentiment richtet sich gegen das, was im 19. Jahrhundert polemisch „Romanismus“ heißt und im Verdacht steht, das eingelebte und im Herkommen verankerte deutsche Gewohnheitsrecht verdrngt zu haben. Allerdings ist dieser Vorbehalt gegen die rçmische Rechtstradition weder ein originrer Gedanke des sozialen Romans, noch berhaupt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wenn auch derartige Impulse in der zeitgençssischen Rechtswissenschaft, vor allem im Kontext der Genossenschaftstheorie (Georg Beseler, Otto von Gierke), erneut eine gewisse Rolle spielen.258 Fluchtpunkt dieses Vorbehalts sind die Widerstnde, die sich bereits im Gefolge der Historischen Rechtsschule gegen die Rezeption des rçmischen Rechts entwickelt und um das Argument versammelt hatten, wesentliches Recht kçnne nur organisch gewachsenes, in Sitte und Gewohnheit gegrndetes Recht sein.259 Schon 1828 hatte Jacob Grimm an zentraler Stelle des sich formierenden juristischen Germanismus die eigene Rechtsgegenwart als 258 Vgl. fr das Beispiel Otto von Gierke Felix Schikorski: Die Auseinandersetzung um den Kçrperschaftsbegriff in der Rechtslehre des 19. Jahrhunderts, Berlin 1978, 173 ff. Gierkes Vorbehalte, die als Versuch einer Neubestimmung der juristischen Persçnlichkeit zu werten sind, entznden sich in der Hauptsache am fiktionalen Status des rçmischrechtlichen Personenbegriffs. Gegen ihn behauptet Gierke zum einen, dass Person und Persçnlichkeit keine reinen Schçpfungen des objektiven Rechts, sondern substantiell rechtsvorgngig sind und insofern gegebenenfalls als Gebot der Rechtsidee anerkannt werden mssen; zum anderen, dass der rçmische Personenbegriff den Rechtsanspruch der persona auf dem Weg einer Abstraktion auf das vereinzelte Individuum beschrnkt hat. Interessant ist Gierkes Bestimmung, dass Rechtsfhigkeit und Rechtspersçnlichkeit nur „Willensverkçrperungen“ zukommen soll; insofern ist der Personenbegriff aus einer Attribution auf einen vorgngigen Willensgrund gewonnen: „Es existiert […] zunchst nur die geschichtliche Tatsache, daß bestimmte Willensverkçrperungen Recht haben.“ Otto von Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 2: Geschichte des deutschen Kçrperschaftsbegriffs [1868]. Unvernderter photomechanischer Nachdruck der ersten Ausgabe, Darmstadt 1952, 25. 259 Vgl. Peter Bender: Die Rezeption des rçmischen Rechts im Urteil der deutschen Rechtswissenschaft, Frankfurt/M. u. a. 1979, 54 ff.

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Gegenwart abstrakter Formalisierungen im Zeichen kçrperloser Begriffe und uferloser „acten“ beklagt: Wer wollte, im vergleich mit den zurckgedrckten keimen, mit den halberschloßnen blten des deutschen, die berlegenheit des rçmischen [rechts, I. S.] verkennen? allein dieses hat einen hauptmangel, es ist uns kein vaterlndisches, nicht auf unserm boden erzeugt und gewachsen, unserer denkungsart in wesentlichen grundzgen widerstreitend und kann uns eben darum nicht befriedigen. […] Bis zur abschaffung der todesstrafe hat sich all unsere bildung noch nicht erheben kçnnen, fast nur fr feigheit und diebstal, weil diese verbrechen çffentlich verabscheut waren, kannte sie das rohe alterthum. Statt seiner persçnlichen bußen haben wir unbarmherzige strafen, statt seiner farbigen symbole stçße von acten, statt seines gerichts unter blauem himmel qualmende schreibstuben […]. Eintçniger mattheit gewichen ist die individuelle persçnlichkeit, die krftige hausgestalt des alten rechts.260

An solche, einmal mehr sentimentalischen Verfallsgeschichten, in denen die Fiktionen der Begriffe und Schriften die „farbigen symbole“ eines als ursprnglich gedachten Rechts verblassen lassen, hat der soziale Roman im ausgehenden 19. Jahrhundert nur anschließen mssen. Auch er kreist um den Gedanken, das rçmische Recht betreibe eine ,Ent-Wesentlichung‘ der Rechtsverhltnisse. Insbesondere die ubiquitren (privatrechtlichen) Mçglichkeiten des Vertragsschlusses stiften rechtliche Verhltnisse um den Preis, dass sie nur „vorbergehende“261, gewissermaßen innerlichkeitslose Relationen errichten. Wenn „Tatsache und Recht“262, wie Traugott Bttner den Korruptionen des „Romanismus“ vorhlt, in diesem Sinne auseinander treten, Sache und Begriff der Rechtsverhltnisse also durch keine innere Beziehung mehr aufeinander verwiesen sind, dann scheinen allein noch arbitrre, „kçrperlose“263 Setzungen das Leben zu bestimmen. In ihnen wirken „[a]bgezogene Begriffe“264, die alle berlieferten sozialen Beziehungen und Eigentumsverhltnisse an die weltlosen Abstraktionen des „verstandesmßigen Formalismus“265 aus260 Jacob Grimm: Deutsche Rechtsalterthmer. Dritte Ausgabe, Gçttingen 1881, XVI (Vorrede). 261 Johann Caspar Bluntschli: Deutsche Staatslehre und die heutige Staatenwelt. Ein Grundriß mit vorzglicher Rcksicht auf die Verfassung von Deutschland und sterreich-Ungarn. 2., umgearb. Aufl. der ,deutschen Staatslehre fr Gebildete’, Nçrdlingen 1880, 25. 262 Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 235. 263 Ebd., 233. 264 Ebd., 236. 265 Ebd., 237.

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liefern. Was im buerlichen Herkommen noch unmittelbar Recht begrndete – die kçrperliche Arbeit – und insofern durch die angeeignete Natur selbst ins Recht gesetzt wurde, zerluft in der Moderne in eine Serie fiktionaler und schriftlich kodifizierter Rechtstitel. Wie eine universale Trope mindert der Romanismus, der von weit her kommt und den Anfang der modernen Entzweiungen bildet, alle eigentlichen Beziehungen fortwhrend zu uneigentlichen herab: Wo lag der Anfang des Unglcks? […] War da nicht in unser Volksleben ein Feind eingedrungen, […] der mit noch so derben Fusten nicht aus dem Vaterlande getrieben werden konnte, weil er kçrperlos war, ein Prinzip, eine Lehre, ein System, aus der Fremde eingeschleppt, einer Seuche gleich: der Romanismus. War denn nicht der deutsche Bauer frei gewesen ehemals? […] In jenen natrlichen, urwchsigen Zeiten […] war Besitz und Eigentum noch eins; Tatsache und Recht fielen da zusammen. Wer den Boden dem Urwalde abrang, der erwarb ihn, machte ihn zu seinem Eigen. […] Und nun drang ein fremder Geist […] ein und verwirrte und verkehrte diese einfachen erdgewachsenen Verhltnisse. Abgezogene Begriffe, aus einer toten Kultur gesogen, wurden an die Stelle des selbstgeschaffenen, gut erprobten deutschen Rechtes gesetzt. […] So hatte sich das undeutsche Recht mit seinem […] verstandesmßigen Formalismus wie ein Lavastrom ber die heimischen Einrichtungen ergossen […], die grnende Freiheit des buerlichen Ansiedlers auf Nimmerwiederkehr vernichtend. […] Denn der Begriff des rçmischen Eigentums lief dem schnurstracks zuwider, was fr den deutschen Ansiedler gegolten hatte. Nun wurden in trocken formalistischer Weise Recht und Tatsache getrennt. Fortan konnte einem ein Stck Land gehçren, der nie seinen Fuß darauf gesetzt, geschweige denn, eine Hand gerhrt, um es durch seine Arbeit zu seinem Eigen zu machen. Jetzt gab es gar viele Rechtstitel mit fremdklingenden Namen, kraft deren einer Eigentum erwerben und verußern konnte. Den Ausschlag gab nicht mehr die lebendige Kraft des Armes, sondern erklgelte, in Bchern niedergeschriebene, tote Satzung. Am Grund und Boden konnte fortan Eigentum entstehen durch Eintragung in Bcher.266 266 Ebd., 233 ff. Reflexionen dieser Art stehen im aufflligen Gegensatz zum Charakter der Figur. Ausdrcklich vermerkt der Erzhler, dass „[d]er Bttnerbauer […] von der Geschichte und Entwicklung seines Standes nichts [wußte]“ (Ebd., 237). Solche Widersprche in der Charakterzeichnung zielen darauf, das Figurenbewusstsein mit auktorialem Wissen anzureichen, um einen eigentlich metadiegetischen Deutungshorizont in die Diegese integrieren zu kçnnen. Diese Ambivalenz macht zudem die Naturalismus-typische Affinitt von Erzhler und Autor bzw. Figur und Autor strukturell einsichtig, die unter den ideologiekritischen Vorzeichen der lteren Naturalismusforschung immer wieder behauptet worden ist. Vgl. Josef Pol cˇek: Zum ,hyperbolischen’ Roman bei Conradi, Conrad und Hollaender. In: Helmut Scheuer (Hg.): Naturalismus. Brgerliche Dichtung und soziales Engagement, Stuttgart 1974, 68 – 92, 78 und, differen-

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7. Patriarchalischer Sinn und Werteautonomie. Wilhelm von Polenz und Max Weber in Ostelbien Das alles besitzt im ausgehenden 19. Jahrhundert eine, wie mehrfach angemerkt, sozialgeschichtliche Dimension. Wenn die Naturalismusforschung ihre Vorbehalte gegenber dem naturalistischen Roman wenigstens in einem Aspekt zurckzustellen bereit war, dann gerade mit Blick auf diese Welthaltigkeit und Realittsnhe der entsprechenden Texte.267 Dass sie in einer Form uneigentlicher Moderne an der Ausbildung eines genuin modernen Diskurses ber die Moderne beteiligt sind, scheint demgegenber weniger evident zu sein. Uneigentlich ist diese Moderne, weil die Anhnglichkeit an Formen der Gemeinschaft im sozialen Roman eine programmatisch antimoderne Richtung nehmen soll, diese narrativ erzeugten Gemeinschaften aber konstitutiv Teil eines seinerseits modernen Diskurses sind. In gewisser Weise teilt sich diese Moderne in zwei gegenstrebige Aspekte, die man vorlufig als Material- und Systemaspekt bezeichnen kçnnte: In der materialen Dimension des Diskurses vollziehen sich laufend all jene sentimentalischen Einsprche und „rckbettenden“268 Bewegungen, die imaginr Gesellschaft in Gemeinschaft, zierter, Helmes: Der ,soziale Roman’ des Naturalismus, 107, 111, 597, Anm. 38. Letztlich kreisen die genannten Verfahren, insbesondere dort, wo das zeittypische Referenzwissen ber Degeneration, Entartung und Degenereszenz in die Erzhlung eingespielt wird, um den Versuch, die Ansprche der Auktorialitt gegen entsprechend dezentrierende Erfahrungen der Moderne zu strken. Vgl. Marc Fçcking: Pathologia litteralis. Erzhlte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzhlen im franzçsischen 19. Jahrhundert, Tbingen 2002, 281 ff. und 340. 267 Vgl. etwa Dieter Borchmeyer: Der Naturalismus und seine Auslufer. In: Viktor Zˇmegacˇ (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. II/1: 1848 – 1918, Kçnigstein/Ts. 1985, 153 – 233, 185; Helmes: Max Kretzer ,Meister Timpe’, 52. Zum Teil hat diese Wirklichkeitsnhe bereits die zeitgençssische Rezeption bestimmt. Vgl. die entsprechenden Wrdigungen von Roseggers Jakob dem Letzten bei Otto Bauer: Der Kampf um Wald und Weide. Studien zur çsterreichischen Agrargeschichte und Agrarpolitik, Wien 1925 und von Polenz’ Bttnerbauer bei Lew Tolstoi: Vorwort zu W. von Polenz’ Roman ,Der Bttnerbauer’ [1901]. In: Ders.: sthetische Schriften, Berlin 2 1984, 336 – 344, 337. Tolstois Vorwort belegt die insgesamt sehr lebendige Rezeption des Textes in Russland, die bis Lenin, der den Roman zu seinen Lieblingsbchern zhlte, reicht. Vgl. Borchmeyer: Der Naturalismus und seine Auslufer, 185; Mikl s Saly mosy: Wilhelm von Polenz. Prosawerke eines Naturalisten, Budapest 1985, 91 f. 268 Im Sinne von Giddens: Konsequenzen der Moderne, 102 ff., der unter „Rckbettung“ die „Rckaneignung oder Umformung entbetteter sozialer Beziehungen“ versteht, durch „die sie […] an lokale raumzeitliche Gegebenheiten ge-

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Abstraktion in Nhe und Vermittlung in Unmittelbarkeit zurckverwandeln. Die Systemdimension des Diskurses liegt dagegen auf einer anderen Ebene; sie stellt im Schema von Gemeinschaft und Gesellschaft zunchst nur diskursives Material und damit grundstzliche Thematisierungsmçglichkeiten der Moderne bereit, unabhngig davon, ob der Diskurs das Modernisierungsgeschehen als sentimentalischen Verlust einer sozialen Natur oder als Zuwachs systemischer Abstraktionen thematisiert. Gegenber den elementaren Einheiten des Diskurses – Gemeinschaft und Gesellschaft – verhlt sich der soziale Roman wie eine spezifische Artikulation, die die auf der Systemebene angelegte Disjunktion so verknpft und ,ideologisiert’, dass Gemeinschaft und Gesellschaft nicht nur eine sentimentalische Verlaufsform annehmen, sondern zudem als gegenlufige Wertbesetzungen erkennbar werden. Damit ist eine historische Reflexionslage skizziert, die vom binren Schematismus ,Moderne‘ versus ,Gegenmoderne‘ bzw. ,Differenz‘ versus ,Ganzheit‘ und seinen Folgedichotomien begrifflich nicht bewltigt werden kann. Dass die Moderne von Beginn an antimoderne Gegenbewegungen produziert und ihr Diskurs von einer „Rhetorik der Doppelfiguren“ – „,gegenwrtig/vorherig‘; ,neu/alt‘; ,vorbergehend/ewig’“269 – geprgt ist, besagt noch wenig ber die Art und Weise ihrer formalen Organisation wie ihrer historischen Transformationen. Schematismen dieser Art, die sich im brigen leicht in die sthetische Semantik um 1900 zurckverfolgen ließen,270 sind unzureichend, weil sie weder die Ebenendifferenz zwischen diskursiver ,Proposition‘ und Systemdimension knpft werden sollen“. Entbettung meint demgegenber „das ,Herausheben’ sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhngen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen bergreifende Umstrukturierung“ (Ebd., 33). Es fllt leicht, (auch) hier die historische Disjunktion von gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Sozialformen fortwirken zu sehen. 269 Graevenitz: Einleitung. In: Konzepte der Moderne, 10. Zu den genannten Dichotomien vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Art. ,Modern, Modernitt, Moderne’. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. 4, Stuttgart 1978, 93 – 131. 270 Fr den Naturalismus, der sich in der Frhphase seiner Programmatik zunchst noch an der Opposition von Moderne und Antike orientiert, vgl. etwa die Thesen der freien litterarischen Vereinigung ,Durch!’ [1886]. In: Manfred Brauneck/Christine Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, Stuttgart 1987, 58 – 59, 59 und Heinrich Hart: Die Moderne [1890]. In: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverstndnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Eingel. und hg. von Gotthard Wunberg, Frankfurt/M. 1971, 69 – 72, 69.

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abbilden, noch die tief verwobene Dialektik von programmatischer Gegenmoderne und diskursiver Modernitt erfassen kçnnen. In diesem Sinne gehçren die symbolbildenden Leistungen des sozialen Romans in das historische Feld einer Teilgenealogie moderner Sozialtheorien, in der sich Romannarrative und die begrifflichen Schemata der frhen Soziologie in einer eigentmlichen Verschrnkung befinden. Und in diesem Sinne erweisen sich die traditionsreichen Vorbehalte gegen den sozialen Roman als verfrht, weil seine konzeptuelle Leistung fr diese im Ganzen wohl noch weitgehend unerforschte ,rckbettende‘ Modernitt nicht unerheblich ist. Konkretere Konturen gewinnen die bislang tendenziell im Hintergrund gebliebenen sozialgeschichtlichen Leistungen des sozialen Romans in einer Diskurskonstellation, die das sentimentalische Moderneschema in einem lokalen Teilprozess der sozialen Modernisierung verankert. In seinem Zentrum steht der rapide Strukturwandel in den ostelbischen Provinzen des Reiches, der sptestens seit Beginn der 1890er Jahre große çffentliche Aufmerksamkeit erregte und auch von politischer Seite zunehmend mit Sorge beobachtet wurde. Strukturgeschichtlich handelt es sich um den – allerdings schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingeleiteten – Verfallsprozess der patriarchalisch-genossenschaftlichen Gutswirtschaft, die in einer komplexen Erosion von lokalen Machtbeziehungen (,Junkerherrschaft‘), Brokratisierungszuwchsen, Kapitalkonzentrationen und Migrationsbewegungen (,Sachsengngerei‘) allmhlich das Gesicht industrieller Großbetriebe annahm.271 An der Beschreibung dieses Prozesses sind im gleichen Zeitraum, also recht genau um die Mitte der 1890er Jahre, der Nationalçkonom Max Weber und der naturalistische Romancier Wilhelm von Polenz beteiligt. Allerdings zhlt Webers Anteil an der Aufarbeitung dieses Zusammenhangs – trotz einer Reihe einschlgiger Arbeiten272 – kaum zu den zentralen Aspekten der 271 Vgl. die Beitrge in Heinz Reif (Hg.): Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise – junkerliche Interessenpolitik – Modernisierungsstrategien, Berlin 1994. 272 Vgl. Arnold Bergstraesser: Max Webers Antrittsvorlesung in zeitgeschichtlicher Perspektive. In: Vierteljahreshefte fr Zeitgeschichte 5 (1957), 209 – 219; Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920, 2., berarbeitete und erw. Aufl. Tbingen 1974, 22 ff., Martin Riesebrodt: Vom Patriarchalismus zum Kapitalismus. Max Webers Analyse der Transformation der ostelbischen Agrarverhltnisse im Kontext zeitgençssischer Theorien. In: Kçlner Zeitschrift fr Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), 546 – 567; Rita Aldenhoff: Nationalçkonomie, Nationalstaat und Werturteile. Wissenschaftskritik

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soziologischen Fachgeschichte, wie die hier zu Tage tretende Affinitt zwischen nationalçkonomischen und literarischen Diskursen von literaturwissenschaftlicher Seite vollstndig unerforscht ist.273 Weber, um zunchst die historischen Fakten zu skizzieren, hatte sich – nach seiner Berliner Habilitation zur Rçmischen Agrargeschichte – im Rahmen der 1891/92 vom „Verein fr Socialpolitik“ durchgefhrten Enquete zur Lage der deutschen Landarbeiter auf die ostelbischen Verhltnisse konzentriert.274 Das lag in Webers vernderten, von der Rechtswissenschaft zur Nationalçkonomie fhrenden Interessen: 1894 wurde Weber als Professor fr Nationalçkonomie an die Universitt Freiburg berufen, 1896 trat er die renommierte Lehrstuhlnachfolge von in Max Webers Freiburger Antrittsrede im Kontext der Wissenschaftsdebatten in den 1890er Jahren. In: Gerhard Sprenger (Hg): Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, Stuttgart 1991, 79 – 90; Wolfgang Kttler: Aspekte der Agrarfrage im Frhwerk von Max Weber: Bauern, Brger, Nation. In: Walter Schmidt (Hg.): Demokratie, Agrarfrage und Nation in der brgerlichen Umwlzung in Deutschland, Berlin 2000, 78 – 86. 273 Die bislang vorliegenden Arbeiten zu Webers literarischen Interessen erwhnen Polenz nicht, wie die noch immer umfassendste Studie zu Polenz umgekehrt Weber nicht erwhnt. Vgl. Weiller: Max Weber und die literarische Moderne; Saly mosy: Wilhelm von Polenz. Allerdings ist Webers Kenntnis einzelner naturalistischer Autoren, darunter Zola, Ibsen, Strindberg, Hauptmann und Sudermann, verlsslich belegt. Vgl. Ebd., 22 ff. Mçglicherweise war Weber Polenz’ Amerikastudie Das Land der Zukunft (1903) bekannt. Vgl. Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, Mnchen, Wien 2005, 373. 274 Die Umstnde von Webers Beteiligung an der Landarbeiter-Enquete sowie die Chronologie der in diesem Zusammenhang entstanden Schriften sind detailliert dokumentiert bei Cornelius Torp: Max Weber und die preußischen Junker, Tbingen 1998, 13 ff. sowie in den entsprechenden Editorischen Berichten der Max Weber-Gesamtausgabe. Aus der Vielzahl der bis 1899 publizierten Schriften ragt die rund 900seitige Studie Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (1892) heraus, in der Weber die Ergebnisse der Fragebçgen zusammenfasste. Von primr methodologischer Bedeutung ist die zwischen Januar und Mai 1893 erschienene Artikelserie Die Erhebung des Vereins fr Sozialpolitik ber die Lage der Landarbeiter, mit der Weber auf die bereits 1892 laut gewordene Kritik an den Erhebungsmethoden reagierte. Das Folgende beschrnkt sich auf den 1894 in zwei unterschiedlichen Fassungen erschienenen Aufsatz Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter und die in ihrer sozialdarwinistisch-nationalistischen Rhetorik bemerkenswerte Freiburger Antrittsrede Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik vom 13.5.1895. Zu den Details der Text- und Editionsgeschichte vgl. die Editorischen Berichte in Max WeberGesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden. Bd. 4: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892 – 1899, Tbingen 1993, 1. Halbband, 362 – 367; 2. Halbband, 534 – 541.

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Karl Knies an der Universitt Heidelberg an.275 Webers Engagement innerhalb der Enquete war durchaus brisant, weil die ostelbische Situation von Beginn an ber lokale Strukturprobleme hinausreichte und politische Fragen grçßeren Stils, insbesondere die der çkonomischen Modernisierung Deutschlands, betraf. Genau besehen sind es zwei Entwicklungen, die die Problemlage in Ostelbien immer drngender werden ließen: Zum einen die 1886 im Rahmen der ,inneren Kolonisation‘ eingeleiteten Maßnahmen zur Zurckdrngung polnischer Fremdarbeiter, die ohne die erhofften Erfolge blieben.276 Vielmehr wurde die sich seit lngerem abzeichnende ,Leutenot‘ durch die anhaltende Abwanderung der Landarbeiter in die Industriezentren (Sachsen, Berlin, Rheinland-Westfalen, Hamburg) verschrft, so dass erneut auf polnische 275 Vgl. zu den Richtungsstreitigkeiten der Nationalçkonomie zwischen der theoretischen ,Schule’ einerseits und der lteren (Wilhelm Roscher, Bruno Hildebrandt, Knies) und der jngeren ,Historischen Schule’ (Gustav Schmoller) andererseits, die zu wirtschaftspolitischen Fragen Stellung nahm und 1872 an der Grndung des ,Vereins fr Socialpolitik’ beteiligt war, Aldenhoff: Nationalçkonomie, Nationalstaat und Werturteile, 79 f.; Dirk Ksler: Max Weber. Eine Einfhrung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt/M., New York 1995, 237 f. 276 Die ideellen Anfnge der ,Germanisierung des Bodens’ liegen zunchst im 1871 entfachten Kulturkampf, dessen aggressive antipolnische Tendenzen auf den Einfluss von Klerus und polnischem Adel in den Ostprovinzen zielte. Mit Beginn der achtziger Jahre nahm die Bismarcksche Polenpolitik konkretere Formen an; seit Mrz 1885 wurden rund 32.000 Polen aus den preußischen Ostprovinzen vertrieben. Ein Gesetz vom 26. April 1886 sah die Einsetzung einer ,Ansiedlungskommission’ vor, die polnischen Gutsbesitz ankaufen und deutschen Landwirten zur Verfgung stellen sollte. Allerdings musste die ,innere Kolonisation’ als weitgehend ergebnislos erscheinen, weil bis 1914 nur rund 22.000 deutsche Bauern angesiedelt werden konnten. Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, Mnchen 1992, 364 ff.; Hans-Ulrich Wehler: Krisenherde des Kaiserreichs 1871 – 1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, Gçttingen 1970, 181 ff.; Klaus Jrgen Bade: ,Kulturkampf ’ auf dem Arbeitsmarkt. Bismarcks ,Polenpolitik’ 1885 – 1890. In: Otto Pflanze (Hg.): Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches, Mnchen, Wien 1983, 121 – 142 sowie aus der Perspektive der polnischen Geschichtswissenschaft Wlodzimierz Stepinski: Siedlungspolitik und landwirtschaftlicher Kredit. Die polnische Forschung zum Verlauf und zu den Folgen der Germanisierungspolitik fr die agrarische Modernisierung im preußischen Teilungsgebiet Polens vor 1914. In: Reif (Hg.): Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, 329 – 343. Die ,innere Kolonisation’ wurde von einem entsprechend breiten Schrifttum begleitet, das der ,Verein fr Socialpolitik’ herausgab. Vgl. Zur inneren Kolonisation in Deutschland. Erfahrungen und Vorschlge, Leipzig 1886 und Max Sering: Die innere Kolonisation im çstlichen Deutschland, Leipzig 1893.

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Wanderarbeiter zurckgegriffen werden musste. Auf diesem Weg wanderten aus den Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen und Schlesien in den zwei Jahrzehnten zwischen 1885 und 1905 immerhin knappe zwei Millionen Arbeitskrfte ab, darunter vornehmlich Tagelçhner und Landarbeiter.277 Zum anderen hatte Caprivis 1891 einsetzende Politik der Handelsvertrge, die auf eine Fçrderung industriestaatlicher Strukturen gegenber einer einseitigen Begnstigung des landwirtschaftlichen Sektors zielte, insofern zu einer akuten Gefhrdung des großgrundbesitzenden Ostadels gefhrt, als er sich einer wachsenden Konkurrenz aus bersee ausgesetzt sah.278 Auch wenn Caprivi unter dem steigenden Druck der preußischen Aristokratie, die sich 1893 im Verein mit fhrenden konservativen Politikern zum ,Bund der Landwirte‘ zusammengeschlossen hatte und in diesem Rahmen gezielt gegen die Politik der Handelsvertrge agitierte, im Oktober 1894 zum Rcktritt gezwungen war, so lçsten diese innen- und außenpolitischen Entwicklungen dennoch eine nachhaltige Erosion der angestammten ostelbischen Wirtschaftsstrukturen aus. Wilhelm von Polenz seinerseits verarbeitet dieselben Entwicklungen zunchst in einer Reihe von Zeitungsartikeln, die sich der Landflucht und der zeittypischen ,Sachsengngerei’, nicht zuletzt den englischen Agrarverhltnissen widmen; durch ihre Beschreibung scheint allerdings erkennbar die deutsche Problemlage hindurch.279 1895 folgt Polenz‘ Roman Der Bttnerbauer, der den Stoff am Beispiel der in der Lausitz angesiedelten Ereignisse um die Familie des ,Bttnerbauern‘ Traugott Bttner entfaltet. Genau besehen handelt es sich um eine Doppelerzhlung: Whrend Polenz den Untergang des traditionsverhafteten Großbauern am Schicksal Traugott Bttners entfaltet, lsst er seinen Sohn Gustav den nicht abreißenden Migrationsstrçmen folgen, um ihn 277 Vgl. Francis L. Carsten: Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt/M. 1988, 147. 278 Die amerikanische Konkurrenz machte sich im Gefolge der ,Großen Depression’ schon seit 1879 bemerkbar. Vgl. Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918 [1973], Gçttingen 71994, 45. Das Jahr 1891 brachte eine Senkung der Zollstze um ein Drittel. Vgl. Ebd., 55; Carsten: Geschichte der preußischen Junker, 138 und mit Blick auf die ,Caprivi-Krise’ Walter Achilles: Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformation und der Industrialisierung, Stuttgart 1993, 322 ff. 279 Vgl. Wilhelm von Polenz: Agrarreform in Großbritannien. In: Die Gegenwart. Bd. 48 (7. 12. 1895) Nr. 49, 353 – 356; ders.: Zur englischen Agrarfrage. Beilage zur Allgemeinen Zeitung (7. 2. 1896) Nr. 31, 1 – 5; ders.: Der Niedergang der Landwirtschaft in Großbritannien. In: Leipziger Zeitung. Wissenschaftliche Beilage (25. 2. 1896) Nr. 24, 93 – 95.

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schließlich in Berhrung mit der Arbeiterbewegung geraten zu lassen. 1897 erscheint der zweibndige Roman Der Grabenhger, der am Beispiel des Großgrundbesitzers Erich von Kriebow dieselben Prozesse aus der vernderten ,Klassenlage‘ der Junkertums heraus variiert. Der Roman mndet gegen Ende in eine sozialreformerische Standesutopie, in der sich der Junker Kriebow an der Seite einer Reihe Gleichgesinnter freiwillig jenen brgerlichen Ntzlichkeitserwgungen fgt, die in der Perspektive des Romans als modernittstrchtig erscheinen sollen. Die fr die Frhgeschichte der Soziologie aufschlussreiche Nhe von Polenz‘ Romanen zu Webers nationalçkonomischen Studien erklrt sich aus den spezifischen Bildungsinteressen des Autors, wenn auch ein direkter Einfluss Webers nicht nachweisbar ist.280 Polenz hatte im Winter 1882 das Studium der Rechtswissenschaften aufgenommen; zunchst in Breslau, dann – nach Ableistung eines Freiwilligenjahres – im Herbst 1883 in Berlin, wo er neben juristischen auch historische und volkwirtschaftliche Vorlesungen besuchte und in diesem Zusammenhang den als akademischen Redner verehrten Heinrich von Treitschke, vor allem aber den Nationalçkonomen Adolf Wagner hçrte. Wagner, der seit 1870 an der Berliner Universitt als ordentlicher Professor der Staatswissenschaften lehrte, unterrichtete seit dem Wintersemester 1881 in einem zweisemestrigen Zyklus u. a. theoretische und praktische Nationalçkonomie, Finanzwissenschaft und innere Verwaltungslehre.281 Dass Polenz zumin280 Die folgenden biographischen Informationen verdanke ich Prof. Dr. Dr. h.c. Peter von Polenz, dem Enkel des Autors, der auf eine Anfrage Polenz’ nationalçkonomische Kenntnisse betreffend alle verfgbaren Texte von und ber Wilhelm von Polenz sowie die Dokumente der Familie von Polenz sichtete. Danach, wie auch mit Blick auf den (allerdings unvollstndigen) Nachlass des Autors in der Schsischen Landesbibliothek, ist eine Rezeption Weberscher Schriften auszuschließen. Eine Prfung, ob Polenz Literatur von Weber besessen hat, ist nach Auskunft von Peter von Polenz „nicht mehr mçglich“ (Brief vom 28. 11. 2006). Die biographischen Daten entnehme ich lteren, z. T. entlegenen Publikationen ber Wilhelm von Polenz, die mir Herr Peter von Polenz freundlicherweise zur Verfgung gestellt hat. 281 In einem Brief vom 26. Mai 1881 an den soeben nach Berlin berufenen Gustav Schmoller teilte Wagner den zweiteiligen Vorlesungszyklus wie folgt mit: „I. Winter: 1. Privatissimum Allgemeine theoretische Nationalçkonomie 2. Privatissimum Finanzwissenschaft 3. Publicum (demnchst) nationalçkonomische und socialistische Literaturgeschichte 4. bungen (im Statistischen Seminar und Universitt zugleich) II: Sommer

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dest Teile dieser Vorlesungen hçrte, darf als gesichert angenommen werden, zumal Wagners Lehrveranstaltungen schon seit Mitte der 1870er Jahre viel besucht waren.282 berdies ergaben sich fr Polenz schon im ersten Studiensemester Kontakte zu Wagner auch außerhalb des akademischen Pensums. Wagner zhlte zu den viel geladenen Rednern in den Arbeiterversammlungen im Berliner Osten, die Polenz regelmßig besuchte, und nahm darber hinaus immer wieder an den Kommersveranstaltungen des Vereins Deutscher Studenten teil, dem Polenz zwischen November 1883 und Sommer 1885 angehçrte. Im Herbst 1884 ist Polenz schließlich auch im Haus Adolf Wagners gewesen.283 Eine Tage1. Privatissimum Practische Nationalçkonomie 2. Privatissimum Innere Verwaltungslehre (Polizeiwissenchaft) 3. Publicum Geld- und Mnzwesen (oder etwas derartig Specielles) 4. bungen (bloß an der Universitt).“ Zit. nach Adolph Wagner: Briefe, Dokumente, Augenzeugenberichte 1851 – 1917. Ausgew. und hg. von Heinrich Rubner, Berlin 1978, 200. 282 Dies belegt ein Brief Wagners im Zusammenhang der 1874/75 anhngigen Dhring-Affre; dort ist von einem Colleg „vor 80 – 90“ Zuhçrern die Rede, whrend das „concurrirende Colleg vor 10 – 12“ Zuhçrern gehalten werde. Ein Colleg zur „sociale[n] Frage“ nennt Wagner selbst „ungemein besucht“. Brief Adolph Wagners an seinen Bruder Hermann Wagner vom 29.1.1875. Zit. nach: Wagner: Briefe, Dokumente, Augenzeugenberichte, 131. Dass Wagner zu diesem Zeitpunkt noch ber Probleme der sozialen Frage und der Arbeiterbewegung gelesen hat, belegt ein Brief des Sozialdemokraten Eduard Bernstein. Vgl. Brief Eduard Bernsteins an Wilhelm Liebknecht vom 26.11.1874. In: Ebd., 130. 283 Vgl. zu den genannten Fakten die detailreiche Schilderung bei Benno von Polenz: Wilhelm von Polenz als Student in Berlin. In: Akademische Bltter. Zeitschrift des Kyffhuser-Verbandes der Vereine Deutscher Studenten 34 (1928) H. 15/16, 142 – 146, H. 17/18, 164 – 166 und H. 19/20, 185 – 186. Hinweise auf Polenz’ nationalçkonomische Interessen und Adolf Wagner finden sich auch bei Oskar Schwr: Wilhelm von Polenz. In: Deutsche Bauern-Hochschule. Zeitschrift fr deutsche Bauernkultur und den germanischen Volkshochschulgedanken. 6. Jg. 4. u. 5 Folge. Erstes und zweites Herbststck 1926, 155 – 174, 162 f.; ders.: Wilhelm von Polenz. In: Schsische Lebensbilder. Bd. 2, Leipzig 1938, 311 – 323, 316 f.; Ilgenstein: Wilhelm von Polenz, 12; Peter von Polenz: Ein gesellschaftskritischer Heimatdichter. Zum 100. Todestag von Wilhelm von Polenz. In: Landesverein Schsischer Heimatschutz. Mitteilungen 3/2003, 54 – 58, 56. Hinsichtlich der auf Polenz wirkenden intellektuellen Einflsse berichtet auch Peter von Polenz: „Hçren von Vorlesungen (1883 beginnend) und Vortrgen, persçnliche und gesellschaftliche Begegnungen und Einladungen [auf A. Wagner bezogen, I.S.], dazu Lektre der Schriften Max Kretzers, Teilnahme an Parlamentssitzungen (einmal mit Bebel), Besuch von Arbeiterversammlungen, langwhrende Beziehungen zum Grafen Schwerin (Landrat in Thorn).“ [Brief vom 9. 12. 2006]

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bucheintragung, in der Polenz eine Bilanz der Berliner Studienzeit zieht, vermerkt ausdrcklich, dass er auf „juristischem Gebiete […] so gut wie nichts gelernt“ habe, whrend er ber seine nationalçkonomischen Studien festhlt: „Durch Treitschkes Vortrge sind mir viele neue Gesichtspunkte bezglich des modernen Staats- und Vçlkerlebens aufgegangen. Durch Wagner ist mir ein gewisses Interesse auch fr die trockenen Seiten der Politik, die finanziellen und nationalçkonomischen Fragen, eingeflçßt worden. Ich fhle mich eigentlich jetzt erst so recht als Deutscher, nach dem ich einigermaßen die treibenden Krfte unseres Staatsmechanismus aus der Nhe betrachten durfte.“284 Polenz‘ nationalçkonomischen Interessen fanden ihre Fortsetzung schließlich in drei Studienreisen, die der Autor mit Friedrich Graf von Schwerin, einem entschiedenen Befrworter der inneren Kolonisation, unternahm. Die erste, 1896, fhrte Polenz nach Pommern, die zweite im Juni 1899 in das Industriegebiet Oberschlesiens, die dritte zwischen August und Dezember 1902 nach Amerika. ber die erste der drei Reisen, deren Ergebnisse Schwerin in einem Aufsatz in den Preußischen Jahrbchern publizierte,285 vermerkte Schwerin, dass er selbst seine „Kenntnisse auf dem Gebiete der inneren Siedlung“ erweitern wollte, „whrend Polenz die agrarsozialen Verhltnisse im Norden Deutschlands, in einem ausgesprochenen Großgrundbesitzer-Gebiete kennen zu lernen wnschte. […] Wir sind dort bei Großgrundbesitzern und Kleinbauern […] eingekehrt und haben versucht, uns aus eigener Anschauung ein Bild der agrarischen und sozialen Verhltnisse zu schaffen.“286 Blickt man auf Polenz‘ Romane, so konvergieren seine nationalçkonomischen Kenntnisse und die Frhschriften Webers in denselben strukturgeschichtlichen Prozessen, die auch Max Weber beschreibt: Beide Autoren fundieren die ostelbischen Entwicklungen in einem affektdynamischen Wandel, der in der ,Tiefe‘ der historisch-çkonomischen Prozesse wirkt und an dessen Ende der ehemals „patriarchalische Sinn“287, der die alten genossenschaftlichen Bindungen getragen hatte, verloren geht. Auch in diesem Teilprozess der Modernisierung wirkt eine Ratio284 Tagebucheintrag zit. nach Benno von Polenz: Wilhelm von Polenz als Student in Berlin II, 164 f. 285 Vgl. F.[riedrich] von Schwerin: Zur inneren Kolonisation in Pommern. Umblick und Ausblick. In: Preußische Jahrbcher. Hg. von Hans Delbrck. Bd. 26 (Oktober – Dezember 1896), 283 – 319, 284. 286 Friedrich Ernst von Schwerin, zit. nach Benno von Polenz: Wilhelm von Polenz als Student in Berlin III, 186. 287 Polenz: Der Grabenhger [1897], I, 105.

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nalitt, die den traditionalen Willen zur wechselseitigen Frsorge allmhlich auskhlt und – wie im Falle des sozialen Romans – nur noch auf Einzelne bertreten lsst, die dem Prozess machtlos gegenber stehen. Systematisch lassen sich drei Gesichtpunkte isolieren: 1. Der Kampf ums Dasein als narratives Konzept. Weber wie Polenz integrieren das strukturgeschichtliche Material in das darwinistische Erzhlmuster vom ,Kampf ums Dasein‘. Wie im sozialen Roman Albertis und anderer zielt der Daseinskampf auch hier darauf, Vorstellungen von sozialen Bewegungsenergien in entsprechende Metaphern von Kampf und Feindschaft zu fassen. Weber wie Polenz spitzen das Narrativ allerdings insofern zu, als sich die konkurrierenden Gruppen (Deutsche vs. Polen) in einem existenziellen Konflikt um ,Arterhaltung‘ befinden und darin unterschiedliche Adaptionsleistungen sichtbar machen.288 Generell sind es diese adaptiven Leistungen, die der naturalistischen Willenspersçnlichkeit fehlen, weil sie, wie Polenz an seiner Hauptfigur hervorhebt, ihre Beharrungskraft aus einer Wertedialektik speist, in der Heroismus und Schwche, Wahrheitsbeharren und tragisches Versehen zugleich prsent sind: Die Demut und Schmerzensseligkeit eines Hiob war seiner [Traugott Bttners, I.S.] halsstarrigen Bauernnatur nicht eigen. […] Wenn er auch scheinbar zum stummen Lasttier herabgesunken war, das die Schlge gleichgltig hinnimmt, so blieb sein innerer Trotz doch ungebrochen. Menschenhaß und Verachtung waren seine Trçster, Groll seine Nahrung; die einzige, die ihn noch in Kraft hielt. […] Es war der Verzweiflungskampf eines zhen Schwimmers in den Wellen, der sich mit aller Anstrengung gerade nur ber Wasser zu halten vermag. In diesem Kampfe war der Bttnerbauer ein Sechziger geworden.289

In gewisser Weise verhlt sich dieser heroische Weltsinn zum Daseinskampf wie das individuelle Schicksal zu seiner nationalçkonomischen Realitt. Sie ist nach Max Webers berlegungen aus demselben Jahr 1895, in dem Polenz‘ Bttnerbauer erschien, wissenschaftliches Anschauungsmaterial fr die These, dass kulturelle Verdrngungsprozesse auf adaptiven Leistungen aufruhen, in denen Kulturniveau und Anpassungsfhigkeit in ein chiastisches Wechselverhltnis geraten. Whrend die hçher veranlagte Nationalitt – die deutsche – unter den vernderten 288 Vgl. zum ,Kampf ums Dasein’ Kap. II. 1. Zu Darwin vgl. Jonathan Howard: Darwin. Eine Einfhrung. Aus dem Englischen bers. von Ekkehard Schçller, Stuttgart 1996, 42 ff. 289 Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 284, 39.

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Lebensbedingungen der „landwirtschaftlichen Betriebsformen“290 kaum mehr erhaltungsfhig ist, beweist der geringer entwickelte Typus – das Polentum – insofern grçßere Anpassungsfhigkeit, als er dem proletarischen Klassencharakter, den er unweigerlich annehmen muss, weniger Widerstand entgegensetzt: Nicht immer – das sehen wir – schlgt, wie die Optimisten unter uns meinen, die Auslese im freien Spiel der Krfte zugunsten der çkonomisch hçher entwickelten oder veranlagten Nationalitt aus. Die Menschengeschichte kennt den Sieg von niedriger entwickelten Typen der Menschlichkeit und das Absterben hoher Blten des Geistes- und Gemtslebens, wenn die menschliche Gemeinschaft, deren Trger sie war, die Anpassungsfhigkeit an ihre Lebensbedingungen verlor, es sei ihrer sozialen Organisation oder ihrer Rassenqualitt wegen. In unserem Fall ist es die Umgestaltung der landwirtschaftlichen Betriebsformen und die gewaltige Krisis der Landwirtschaft, welche der in ihrer çkonomischen Entwicklung tieferstehenden Nationalitt zum Siege verhilft.291

Interessanterweise lenken diejenigen, die im ,Kampf ums Dasein’ aufgrund ihrer „niedrigeren Ansprche an die Lebenshaltung“292 den Sieg davon davontragen, immer wieder den Blick der naturalistischen Autoren auf sich. Polenz hat diesen zumeist aus den polnischen Provinzen stammenden „Sachsengngern“ eine kurze Erzhlung gewidmet, die die Umstnde ihrer Rekrutierung durch ein „landwirtschaftliche[s] Arbeitsvermittlingsbro“293 und den Saisoncharakter ihrer Arbeit mit einer kolportagenahen Geschichte um Alkoholismus, Mord und Kindstod verwebt. Hier wie in einer kurzen, 1904 in der Deutschen Heimat erschienenen „Skizze“ erzeugt der Blick auf diese „Strçme fremden Blutes“, die „in den deutschen Volkskçrper“294 einwandern, eine Gemengelage aus nationalistischem Vorbehalt und humanistischem Pathos, das das „Reinmenschliche“295 des Sachverhalts in den Vordergrund rckt. 290 Max Weber: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik [1895]. In: Ders.: Schriften 1894 – 1922. Ausgew. und hg. von Dirk Ksler, Stuttgart 2002, 22 – 46, 28. 291 Ebd., 28 f. 292 Ebd., 25. 293 Wilhelm von Polenz: Sachsengnger. In: Sachsengnger. Erzhlungen, Berlin 1991, 152 – 165, 155. 294 H.B.: Die Sachsengngerei. Skizze vom Breslauer Bahnhof. In: Deutsche Heimat. Bltter fr Literatur und Volkstum 7 (1904) H. 39 (15. 6. 1904), 1089 – 1092, 1089. Vgl. aus monographischer Perspektive Karl Kaerger: Die Sachsengngerei, Berlin 1890. 295 H.B.: Die Sachsengngerei [1904], 1089.

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IV. Wille zur Gemeinschaft

2. Psychologie der Beharrung, Sentimentalismus des „gemeinschaftlichen Interessenbandes“. Die signifikantesten berschneidungen zwischen Max Weber und Polenz betreffen die explorativen Schichten ihrer Texte. Auch wenn die Figur Traugott Bttners als Gutsbesitzer angelegt ist, der außerhalb der fr die ostelbischen Agrarstrukturen typischen genossenschaftlichen Verhltnisse steht, ist die affektdynamische Motivation, aus der Traugott Bttner seine Beharrungskraft speist, derjenigen verwandt, mit der Max Weber die Ursache der kulturellen berlagerungsprozesse namhaft macht. Im sozialen Roman ist es eine internalisierte Hçrigkeit, die den Bttnerbauern in eine affektive Besetzung von Grund und Boden zwingt, die sich als psychische Realitt verpflichtender gestaltet als jeder „Kontrakt“: Die Angst, vom Hofe getrieben zu werden, band den Alten wie ein ungeschriebener, aber darum nicht minder wirksamer Kontrakt an den neuen Besitzer des Bauerngutes. Es war eine Art von Leibeigenschaft. Und gegen dieses Joch waren die alten Fronden […] der Hçrigkeit […] federleicht gewesen. Damals sorgte der gndige Herr immerhin fr seine Untertanen mit jener Liebe, die ein kluger Haushalter fr jedes Geschçpf hat, das ihm Nutzen schafft, und es gab manches Band gemeinsamen Interesses, das den Hçrigen mit der Herrschaft verband.296

Demgegenber fgen Webers nationalçkonomische Analysen den affektiven Ursachen des Strukturwandels material-çkonomische Erklrungen hinzu. Genauer gesagt kombinieren sie strukturgeschichtliche mit psychodynamischen Erklrungen, ohne sie hierarchisch aufeinander zu beziehen. Der strukturgeschichtliche Strang der Analyse schreitet – darin mit Polenz‘ Romanen verwandt – zunchst eine historische Tiefendimension aus, an deren Grund die Agrarreformgesetzgebung seit Beginn des 19. Jahrhunderts liegt. Sie steht mit dem ostelbischen Strukturwandel insofern in Zusammenhang, als sie die berkommenen Hçrigkeiten zwischen Großgrundbesitzer und ortsansssigem Bauer in Vertragsverhltnissen rekonstruiert, die angestammten Loyalitten aber unangetastet lsst. Zudem geraten die Gutsherren auf mindestens zwei Wegen zunehmend in çkonomische Schwierigkeiten; zum einen durch die Orientierung an brgerlichen Modellen der Lebensfhrung; zum anderen durch die steigende Rationalisierung der Produktion, die insbesondere die wachsende Verflechtung in den Weltmarkt erzwingt. Der psychologische Strang der Analyse rhrt demgegenber weniger an die exogenen Ursachen des Strukturwandels, als an die affektiven Krfte, die sich ge296 Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 282.

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wissermaßen in der sozialen Innenwelt des Strukturwandels befinden. Ausgangspunkt ist – wie bei Polenz – auch bei Weber eine sentimentalische Hintergrundkonstruktion, in die unterschiedliche konzeptuelle und theoriegeschichtliche Einflsse, vor allem aus dem Umfeld von Genossenschafts- und oiken-Theorie eingegangen sind.297 Sie besteht in der Annahme, dass die ursprngliche patriarchalische Herrschaftsform ihre Bindekrfte ber ihre ,ußerlichen’, kontraktuellen Verhltnisse hinweg in einem Willen findet, in dem Herrschaft und Arbeiter ein „gemeinschaftliches Interessenband“298 ausbilden. Auch Polenz sieht den Zusammenhang zwischen „den Hçrigen“ und „der Herrschaft“ in einem „Band gemeinsamen Interesses“299. Dieses Band fgt dem eigentlich formalen Herrschaftsverhltnis in dem Maße genossenschaftliche Elemente hinzu, wie – hier nimmt Weber Thesen des Nationalçkonomen Carl Rodbertus auf – die ostelbische Gutsorganisation generisch in der traditionellen Hauswirtschaft grndet. „Die Organisation der großen Gter […] trug die Eierschalen der isolierten Hauswirtschaft noch an sich.“300 Der Strukturwandel lçst diese innerliche Relation nun zunehmend auf; die genossenschaftlichen Bindungsinteressen bleiben ohne ußere Realitt zurck, weil das „einzelne[] Gut“301 im Zuge der Rationalisierungen als Gesichtspunkt einer gemeinsamen Interessenbeziehung hinter den Charakter einer bloßen Wirtschaftseinheit zurcktritt. In diesem Daseinskampf entpuppt sich die deutsche „Ehrlichkeit“302 als Unfhigkeit, Akkomodierungen an Verhltnisse zu leisten, die den traditionellen Herrschaftsformen innerhalb krzester Zeit eine neue Identitt aufzwingen: Aus dem ehemals freien Gutsbesitzer, der sich in Habitus und Vormachtstellung auf die angestammten lokalen Herrschaftsverhltnisse der ,Junkergesellschaft‘ sttzte, wird ein „Stand industrieller 297 Vgl. Riesebrodt: Vom Patriarchalismus zum Kapitalismus, 550 f. 298 Max Weber: Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter [1894]. In: Ders.: Schriften 1894 – 1922, 1 – 21, 11. Dem Abdruck liegt die zweite Fassung des Textes zu Grunde, die im September 1894 in den Preußischen Jahrbchern (Hg. Hans Delbrck) erschien und die politischen Akzente strker hervorhob. Gegenber der an ein Fachpublikum gerichteten Erstpublikation, die im Juni 1894 im Archiv fr soziale Gesetzgebung und Statistik erschien, schließt die sptere Fassung mit einem dezidierten Pldoyer fr eine verstrkte Ansiedlungs- und Kolonisationspolitik. 299 Polenz: Der Bttnerbauer [1895], 282. 300 Weber: Entwickelungstendenzen [1894], 4. 301 Ebd., 12. 302 Ebd., 11.

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IV. Wille zur Gemeinschaft

Geschftsleute“303, whrend der lndliche Arbeiter, der bislang subsidir an den Ertrgen seiner Herrschaft beteiligt war, den Charakter eines seinen „Lebensbedingungen“ nach wesentlich „proletarischen Typus“304 annimmt. Fr Polenz gewinnt derselbe Zusammenhang das Gewicht einer Tragçdie, die die menschliche Kultur geradezu an ihre Vorzeiten erinnert, weil sich der deutsche „Landmann“ nach dem „Bruch mit den patriarchalischen Verhltnissen“ in ein „nomadisierendes Volk“ verwandelt. Sichtbar wird ein entorteter „fnfte[r] Stand“, dem „alle gesellschaftsbildenden Krfte“ fehlen, der „nirgendwo […] wurzel[t]“ und „keine Nachkommenschaft“ und kein „Werk“ hinterlsst.305 „Es sind“, so Webers Resmee, vornehmlich deutsche Tagelçhner, die aus den Gegenden mit hoher Kultur abziehen, es sind vornehmlich polnische Bauern, die in den Gegenden mit tiefem Kulturstand sich vermehren. […] Warum ziehen die deutschen Tagelçhner ab? Nicht materielle Grnde sind es […]. Es ist ein massenpsychologischer Vorgang: die deutschen Landarbeiter vermçgen sich den sozialen Lebensbedingungen ihrer Heimat nicht mehr anzupassen. ber ihr ,Selbstbewußtsein‘ klagen uns Berichte der Gutsherrn aus Westpreußen. Das alte patriarchalische Gutshintersassenverhltnis, welches den Tagelçhner als einen anteilsberechtigten Kleinwirt mit den landwirtschaftlichen Produktionsinteressen unmittelbar verknpfte, schwindet. Die Saisonarbeit in den Rbenbezirken fordert Saisonarbeiter und Geldlohn. […]. Diesen Existenzbedingungen sich zu fgen vermçgen diejenigen besser, welche an die Stelle der Deutschen treten, die polnischen Wanderarbeiter […]. Der çkonomische Todeskampf des alten preußischen Junkertums vollzieht sich unter diesen Begleiterscheinungen.306

Die letzten Zeilen machen deutlich, dass der ostelbische Strukturwandel eng mit dem Schicksal jener Machtelite verknpft ist, die den Modernisierungsprozessen nur halbherzig entgegenkam, um ihre paternalistischen Herrschaftstraditionen umso nachhaltiger zu konservieren: das preußische Junkertum, von dem Max Weber 1895 im Einklang mit dessen weit fortgeschrittenem Machtverlust behauptete, dass es seine „Arbeit“ unwiederbringlich „geleistet“ habe.307 Tatschlich ruht das statische Geprge der ostelbischen Herrschaftsverhltnisse auf der lokalen 303 Weber: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik [1895], 25. 304 Weber: Entwickelungstendenzen [1894], 12. 305 Wilhelm von Polenz: Der fnfte Stand. In: Versçhnung 2 (1895) Nr. 6 (17. 4. 1895), 123 – 125, 124. 306 Weber: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik [1895], 25 ff. 307 Ebd., 39. Vgl. zu Webers Perspektive auf das Junkertum Torp: Max Weber und die preußischen Junker, 37 ff.

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Vormachtstellung des preußischen Landadels, der – nicht zuletzt, weil er seinen Anteil an der politischen Hegemonie Preußens durchaus realistisch einschtzte – wenig Interesse fr Reformen aufbrachte, die sein paternalistisches Selbstverstndnis unterwanderten. Jngere Forschungen haben indes gezeigt, dass dieses vertraute Geschichtsbild, das seine Konturen bis heute bezeichnenderweise aus Webers nationalçkonomischem Frhwerk bezieht,308 mit Blick auf zwei Gesichtspunkte relativiert werden muss:309 Zum einen hinsichtlich des auf lokaler und kommunaler Ebene durchgreifenden Machtgewinns der Brokratie, die sich den Adelseliten gegenber als eigenstndiges Regulativ etablierte und deren Herrschaftsinteressen – wo sie sie nicht ohnehin administrativ berformte – im besten Fall mit trug.310 Zum anderen hinsichtlich der Tatsache, dass die „çkonomischen, sozialen und mentalen Grundlagen“ der Junkerherrschaft „schon zu Beginn der fnfziger Jahre des 19. Jahrhunderts weitgehend zerfallen“311 waren. 1849 vermerkt Eduard Schwenzner, Landrat in Schlesien, dass das „patriarchalische Verhltnis zwischen Gutsherr und Untertanen […] nicht mehr [besteht]“.312 Und noch 1880 erklrt der Merseburger Regierungsprsident Gustav von Diest unter dem Eindruck der gewachsenen Entfremdung von Gutsbesitzern und Bauern, dass „die gutsherrliche Polizei […] brig geblieben“ sei, „wie das ruinenhafte berbleibsel eines großen Baues, das weder zu reparieren noch zur Sttze eines Neubaues zu verwenden war“.313 Vor allem mit dem 1872 in Kraft getretenen Reformgesetz zur Kreisordnung, das die gutsherrliche Polizeigewalt zugunsten der neuartigen Kreistage beseitigte, war die Vormachtstellung der Rittergutsbesitzer gebrochen.314 Es ist daher nur als Moment einer standesspezifischen Ideologisierung zu werten, dass Polenz‘ Roman Der Grabenhger die Einsichten in den ostelbischen Strukturwandel nicht nur in den gattungstypischen sentimentalischen Verlustvorstellungen fasst, sondern in der Frage nach der Verschuldung dieser Verluste die preußischen Junker namhaft macht: 308 Dies besttigt, wenn auch mit apologetischer Absicht, noch Torp: Max Weber und die preußischen Junker, 8. 309 Vgl. grundlegend Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Gçttingen 2005. 310 Wagner: Bauern, Junker und Beamte, 379 ff., 570. 311 Ebd., 570. 312 Zit. nach Ebd., 170. 313 Zit. nach Ebd., 10. 314 Vgl. Ebd., 291 ff.

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,Gut denn! Wenn Sie meine Ansicht in dieser Frage wissen wollen: die Schuld an der jetzigen traurigen Verfassung der Gemter ist nicht von gestern und heute; die Snden der Vter kommen eben ber die Nachgeborenen […]. Woher soll denn auch dem Kathenmann Liebe zur Heimat kommen, wenn er nichts von dem Boden besitzt, den er bebaut, wenn er nur ein Mietling ist. […] Die Hauptsache bleibt doch immer der Geist von dem [die] Einrichtungen erfllt sind. Wo ist denn der patriarchalische Sinn […], der zwischen Gutsherrn und Arbeitern walten soll? Zwischen Herr und Knecht hat sich etwas eingeschlichen, was das gerade Gegenteil ist von hausvterlich christlichem Sinn: der Geschftsegoismus, die Erwerbsgier. Eine Kluft hat sich aufgethan zwischen zwei Stnden, die ihrem Berufe nach zusammengehçren.’315

Der, der hier Einsichten dieser Art mitteilt, ist – anders als im zwei Jahre zuvor erschienenen Bttnerbauer – nicht der auktoriale Erzhler. Sie werden vielmehr der Figurenrede eines Landpfarrers anvertraut, dessen sozialdemokratische Gesinnung zu fortwhrenden Konflikten mit dem Gutbesitzer Kriebow fhrt, wenn auch das Gesagte mit dessen konservativen Interessen eigentlich im Einklang steht. Strukturell wirken im gesamten Text Erzhlschemata des Bildungsromans nach, die den ,Helden‘ Erich von Kriebow auf den gut 750 Seiten des Romans allmhlich in vernderte Anschauungen einben sollen.316 Aus diesem Grund versammelt der Text unausgesetzt eine Vielzahl an Meinungen und ,Stimmen’, die in immer neuen Anlufen von der Notwendigkeit sozialer Reformen, erneuerter patriarchalischer Werte und standesspezifischer Umorientierungen zeugen sollen. Auf der Kehrseite dieser Standespdagogik befinden sich Erzhlimpulse, die Bewahrer der berlebten patriarchalischen 315 Polenz: Der Grabenhger [1897], I, 103 ff. 316 Ein verwandtes Erzhlprojekt verfolgt Annie Bocks Roman Der Zug nach dem Osten (1898). Auch hier steht ein junger preußischer Adeliger – der 28jhrige Baron Felix von Graach – im Mittelpunkt der Erzhlung, der, hnlich wie Erich von Kriebow, das Berliner Offiziersleben quittiert, um als Beamter der 1886 eingesetzten Ansiedlungskommission das Posener Gut Buchenwalde zu verwalten. Anders als in Polenz’ Roman, in dem die zeitgeschichtlichen Kontexte einen diskreten Rahmen bilden, thematisiert der Text explizit die aggressive preußische Ansiedlungspolitik und die schwelenden Konflikte der rivalisierenden polnischen und deutschen Gruppen, wie sie sich im Gefolge der ,Germanisierung des Ostens’ eingestellt haben. Vgl. Annie Bock: Der Zug nach dem Osten, Berlin 1898 und dazu Gnter Helmes: Innere Kolonisation und Kultur(en)kampf. Annie Bocks Roman ,Der Zug nach dem Osten’ (1898) und die kontinentale Germanisierungspolitik des Deutschen Kaiserreichs. In: Zeitschrift fr Literaturwissenschaft und Linguistik 95 (1994): Die politische ,Rechte’: Literatur, Theater, Film. Hg. von Helmut Kreuzer, 10 – 29.

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Ordnung nur mehr in Enklaven und eigentmlich isolierten Rckzugsgebieten berleben zu lassen. Sie wirken, zumal in den regressiven Sozialaffekten, denen sie Raum geben, wie Erinnerungen an das, was am Ende des Romans in den Reformabsichten des geluterten Junkertums aufgehoben sein wird. Zuvor aber gehçrt es zur Bildungsgeschichte des Junkers, dass er solche Enklaven immer wieder bereist, um an ihnen ihren ideellen Anachronismus abzulesen. „Wie viel Tagelçhner“, lsst der Erzhler Erich von Kriebow fragen, „beschftigen Sie denn eigentlich?“ ,Ich halte keine Wanderarbeiter, das ist das ganze Geheimnis’, erwiderte Merten. […] ,Die Landwirtschaft ist eben keine Barchentfabrikation. Die Hauptsache ist und bleibt bei uns, daß jeder, vom Herrn bis zum letzten Hofejungen hinab, seine Sache mit Liebe und Verstndnis thut. Und wie kçnnen Sie das von solch‘ hergelaufenem Gesindel verlangen! Die arbeiten dann eben wie der Fabrikarbeiter hinter seinem Stuhle, mechanisch und gedankenlos. Frher habe ich mich auch mit solchen Polacken und Russen herumgeschlagen […]. Praktischer mag das sein; aber wie ein rechter Hausvater gehandelt ist es nicht!’317

3. Interpretationen: Werteautonomie und Sozialutopie. Es lge an dieser Stelle nahe, aus den bisherigen Ergebnissen wenigstens versuchsweise und mit Blick auf ein vergleichsweise klein dimensioniertes historisches Segment Schlsse auf die noch immer nur unbefriedigend geklrte Frage nach der Vermittelbarkeit von Sozial- und Diskursgeschichte zu ziehen. Immerhin lsst sich an den ostelbischen Strukturprozessen nachzeichnen, in welchem Maße sozialgeschichtliche Entwicklungen auf Diskursmaterial (Kampf ums Dasein) verwiesen sind, das diese sozialhistorische Realitt allererst artikulationsfhig macht, whrend das verwendete Darstellungsmaterial seinerseits nur auf vorgngige sozialgeschichtliche Prozesse reagiert. Es soll hier aber ausreichen, den diskursspezifischen Transformationen nachzugehen, die sich im Blick auf das gemeinsame, von Polenz wie von Weber umrissene Grundproblem abzeichnen. Webers nationalçkonomische Rekonstruktion mndet zunchst in zwei „Forderungen“, die „vom Standpunkt des Deutschtums zu stellen sind“318, aber, wie angedeutet, bereits seit Mitte der 1880er Jahre im Rahmen der ,inneren Kolonisation‘ vertraut waren. Die „eine ist“, so Weber, „Schließung der çstlichen Grenze“; die „andere Forderung ist: systematischer Bodenankauf seitens des Staates […] und systematische 317 Polenz: Der Grabenhger [1897], II, 133 f. 318 Weber: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik [1895], 29.

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IV. Wille zur Gemeinschaft

Kolonisation deutscher Bauern auf geeigneten Bçden“.319 Der nationalistische Ton deutet bereits an, dass Weber auf die Gewinnung eines „Standpunkt[es]“ zielt, der gegen andere, heterogene Gesichtspunkte differenziert werden kann. Denn beide Forderungen sind unter çkonomischen Gesichtspunkten wenig plausibel; sie blockieren die Zuwanderung billiger und anpassungsfhiger Arbeitskrfte mit Hinweis auf einen Interessengesichtspunkt, der die Bedrfnisse des Großgrundbesitzes entschieden verfehlt. Tatschlich produziert der nationalçkonomische Diskurs an dieser Stelle einen Konflikt von Wertbesetzungen, die zunchst von einander unterschieden und schließlich hierarchisiert werden: Nicht wissenschaftliche Wertmaßstbe geben den Diskursgesichtspunkt vor, sondern die vitalen, d. h. „letzten und entscheidenden“320 Interessen des Nationalstaats, der dem fortschreitenden Denationalisierungsprozess im „Kampf der Nationalitten“321 entgegenwirkt. Methodologisch bedeutet dies, dass Weber analytische Prozesse im engeren Sinne von Wertbesetzungen unterscheiden muss: Dort, wo die Nationalçkonomie analytisch verfhrt, muss sie alle heterogenen, etwa nationalen Gesichtspunkte zurckweisen; dort, wo sie „Werturteile fllt“322, bençtigt sie gerade heterogene Gesichtspunkte, um die normative ,Leere‘ der wissenschaftlichen Analyse aufzufllen. Volkswirtschaftliche Urteile sind daher keine quasiobjektiven Wissenschaftsurteile, sondern Urteilsperspektiven, die in der werthaften ,Frbung‘ eines sachlich heterogenen, aber diskursiv hegemonialen Gesichtspunkts auftreten: Ich mçchte […] an die Tatsache anknpfen […], daß wir das Deutschtum des Ostens fr etwas halten, das geschtzt werden und fr dessen Schutz auch die Wirtschaftspolitik des Staates in die Schranken treten soll. Es ist der Umstand, daß unser Staatswesen ein Nationalstaat ist, welcher uns das Recht zu dieser Forderung empfinden lßt. […] Die Volkswirtschaftslehre als erklrende und analysierende Wissenschaft ist international, allein sobald sie Werturteile fllt, ist sie gebunden an diejenige Ausprgung des Menschentums, die wir in unserem eigenen Wesen finden. […] Die Volkswirtschaftspolitik eines deutschen Staatswesens, ebenso wie der Wertmaßstab des deutschen volkswirtschaftlichen Theoretikers kçnnen deshalb nur deutsche sein.323

319 320 321 322 323

Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

33. 30. 32. 30 ff.

7. Patriarchalischer Sinn und Werteautonomie

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Unter dem Deckmantel eines zur nationalistischen Schicksalsfrage vergrçßerten Strukturproblems, das sich in dieser Schrfe als fr „Eudmonisten“324 ungeeignet erweist, vollzieht Weber einen Diskurswechsel von der Nationalçkonomie zur Soziologie der Werteautonomie. Weil „Produktivittsinteresse und Nationalinteresse“, wie Wolfgang Mommsen mit Blick auf Webers Frhwerk betont hat, „unmittelbar miteinander in Widerspruch“325 geraten, drngen die widerstreitenden Gesichtspunkte in eine Kontextur von Werten, die sich autonom zu einander verhalten, vom „Standpunkt des Deutschtums“326 allerdings nur relative Autonomie besitzen. Wo die Welt derart in heterogene Sinnsphren auseinander tritt, antwortet der soziale Roman mit einem Projekt, das an die Stelle von Werthierarchien Wertorientierungen setzt. Am Ende des Bildungsprozesses, den der Junker Erich von Kriebow durchluft, steht die gelungene Modernisierung einer sozialen Gruppe, die von ihren stndischen Traditionen absieht, um einem brgerlichen Utilitarismus Platz zu machen, der sich den Junkern im „Bilde“327 zeigt. Was dieses „Bild“ zu sehen gibt, ist – neben einer programmatischen Parzellierungs- und Ansiedlungspolitik – eine Energetik des Willens, die die ererbten Krfte einer strikten Haushaltung unterstellt, Vergeudungen vermeidet und „Arbeit nicht scheut“.328 Und als habe der Junker auf den Spuren seiner Herkunft bislang einen romantischen Traum getrumt, so erzieht der Bildungsroman zu einem Willen, in dem die Welt „realistisch-nchterne[r]“329 hervortritt als je zuvor. „,Nun’“, so ruft einer der Junker, „,dann treffen sich unsere Ansichten […]! Und das freut mich! Es ist so Mode geworden, uns […] als Raubgesellen darzustellen. – Aber ich will ihnen sagen, wie dieser Junker der Zukunft aussehen wird, so wie ich ihn trume: Er wird etwas weniger laut und hochfahrend auftreten als er es jetzt oft zu thun beliebt, er wird haushlterisch umgehen mit seinem Erbe, er wird seine Anlagen, Gaben und Krfte nicht vergeuden […]. Er wird kein Prahlhans sein und kein Streber, sondern ein schlichter Edelmann, der sich der Arbeit nicht scheut. So wird der Junker leben, nicht abgeschlossen, sondern mitten drin im Volke und darum nicht minder vornehm. So wird er seines Amtes walten, der Erste in der Gemeinde durch Tchtigkeit.’330 324 Ebd., 31. Die Formulierung zielt auf die ,Kathedersozialisten’ Brentano, Sombart, Naumann und Harms, die im ,Verein fr Socialpolitik’ einen ,linken Flgel’ bildeten. 325 Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920, 40. 326 Weber: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik [1895], 29. 327 Polenz: Der Grabenhger [1897], II, 336. 328 Ebd., 337. 329 Ebd., 336. 330 Ebd., 337.

V. Verlçschende Form 1. Semiotik der Willensschwche. Entropie als Figur Bekanntlich besitzt das energetische Zeitalter, auf das Eugen Diesel das ausgehende 19. Jahrhundert getauft hatte,1 eine dunkle Kehrseite. Auf ihr sind, folgt man den Ergebnissen der weit verzweigten Nervosittsforschung, all jene Verunsicherungen und Angstregungen beheimatet, die um 1900 die zunehmend ins Bewusstsein rckenden, negativen Folgen des einstigen zivilisatorischen Optimismus bilanzieren. So diffus epochale Bewusstseinslagen dieser Art sein mçgen und so vorlufig die Berufung auf mentale Strukturen in analytischer Hinsicht erscheinen, sie prgen nicht nur die Literatur der Zeit, sondern auch das medizinische und populrwissenschaftliche Denken, das zahllosen Texten zu Grunde liegt. Das entsprechende wissenschaftsgeschichtliche Schlsselkonzept, das den Hintergrund dieser Verunsicherungen darstellt, ist der als Entropiesatz bekannte zweite Hauptsatz der Thermodynamik, und er markiert, noch jenseits seines Sachgehalts, den Umstand, dass sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse um 1900 leicht in Wissenschaftsmythen und damit in Erzhlschemata verwandeln lassen, die eine vielfltige kulturelle Wirkungsgeschichte entfalten. Kaum ein anderes physikalisches Axiom weist eine derart intensive symbolische Applikationskraft auf, wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Auf den ersten Blick liegt diese Metaphorisierung des Entropiesatzes in der inneren Verwandtschaft begrndet, die er mit den zeittypischen Ermdungserscheinungen unterhlt. „Das sße Spiel der Nerven“, heißt es 1894 in der Flut der weitgehend gleich lautenden Thesen zum Zusammenhang von nervçser Reizbarkeit und Willensschwche, „lhmt die Willenskraft“.2 Noch 1922 lsst sich einer der um 1900 zahllosen Schulungen des Willens entnehmen, dass das „Gefhl der Schwche, die 1 2

Vgl. Eugen Diesel: Jahrhundertwende. Gesehen im Schicksal meines Vaters, Stuttgart 1949. Ottokar von der March Stauf: Die Neurotischen [1894]. In: Gotthard Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910 (unter Mitarbeit von Johannes J. Braakenburg), Stuttgart 1981, 239 – 248, 241.

1.Semiotik der Willensschwche. Entropie als Figur

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vielfachen Hemmungen im Denken und alle die brigen peinlichen Eindrcke […] die Energie des Kranken [lhmen]. Es kann so weit kommen, dass der Kranke in dumpfer Willenlosigkeit dahinbrtet […].“3 Entropie ist vor allem als Zersetzung und Schwchung des Willens erfahrbar, ohne dass im Einzelnen begriffen werden msste, welchen axiomatischen Status der Begriff besitzt und welche Metaphorisierungen erforderlich sind, damit von einem seiner Herkunft nach statistisch fundierten Gesetz auf all die leidensreichen Symptome geschlossen werden kann, die die „krankhafte Willensschwche“4 kennzeichnen.5 Dabei ist die physikalische Begrndung fr die Entstehung des Begriffs Entropie zunchst recht karg. Bekanntlich geht das Wort – nach Vorarbeiten von Sadi Carnot und William Thomson (Lord Kelvin) – auf Rudolf Clausius zurck, der damit 1865 das Maß der Wrmeenergie bezeichnete, die bei der Umwandlung in Arbeit verloren geht: „so schlage ich vor, die Grçße S nach dem griechischen Wort ,g tqopg’, die Verwandlung, die E n t r o p i e des Kçrpers zu nennen.“6 Grundlage fr diese Bestimmung sind alle irreversiblen Formen der Energieumwandlung, in denen die bertragung von Kraft „das Bestreben zeigt, vorkommende Temperaturdifferenzen auszugleichen und also aus den wrmeren Kçrpern in die klteren berzugehen“.7 In der Konsequenz spaltet jede Energietransformation eine nicht weiter zu verwendende Abfallenergie ab, deren unauf3 4 5

6 7

Wilhelm Bergmann: Selbstbefreiung aus nervçsen Leiden [1911], Freiburg 5 1922, 65 f. Vgl. F.C.R. Eschle: Die krankhafte Willensschwche und die Aufgabe der erziehlichen Therapie, Berlin 1904. Vgl. zum wissenschaftstheoretischen Status und zur semantischen Struktur des Entropiesatzes Joachim Metzner: Die Bedeutung physikalischer Stze fr die Literatur. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53 (1979) H. 1, 1 – 34, 5. Rudolf Clausius: ber verschiedene fr die Anwendung bequeme Formen der Hauptgleichungen der mechanischen Wrmetheorie. In: Annalen der Physik 125 (1865), 353 – 400, 390. Rudolf Clausius: Ueber die bewegende Kraft der Wrme und die Gesetze, welche sich daraus fr die Wrmelehre selbst ableiten lassen [1850]. Hg. von Dr. Max Planck, Leipzig 1895, 32. Vgl. auch Hermann von Helmholtz: Die Thermodynamik chemischer Vorgnge [1882]. In: Ders.: Abhandlungen zur Thermodynamik. Hg. von Dr. Max Planck, Leipzig 1921, 17 – 36, 17: „Ein Wrmevorrath ist […] nicht unbeschrnkt in andere Arbeitsquivalente verwandelbar; wir kçnnen das immer nur dadurch und auch dann nur theilweise erreichen, daß wir den nicht verwandelten Rest der Wrme in einen Kçrper niederer Temperatur bergehen lassen.“

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V. Verlçschende Form

hçrliches Anwachsen mit einer progressiven Verringerung der zur Verfgung stehenden Gesamtenergie korreliert. Insbesondere diese Schlussfolgerung hat das Denken der Entropie schnell in einen bedrngenden Mythos vom ,Wrmetod’, vom „Zustand ewiger Ruhe“8 aller energetischen Prozesse mnden lassen.9 Genau besehen stellt der als Entropiesatz bekannte zweite Hauptsatz der Thermodynamik eine Synthese von eigentlich getrennten Teilhypothesen dar.10 Zunchst ruht der Entropiesatz auf dem Prinzip von der Dissipation der Energie; es steht noch im Kontext des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik und besagt lediglich, dass die zur Verfgung stehende Gesamtenergie zwar quantitativ konstant bleibt, ihre Qualitt, d. h. ihre Nutzbarkeit aber in dem Maße abnimmt, wie sich ihre Temperatur progressiv verringert.11 Der zweite Hauptsatz im engeren Sinne stellt eine Verallgemeinerung dieses Sachverhalts dar, indem er ihm eine Zeitrichtung gibt, die der Tradition der Newtonschen Physik fremd war und die der behaupteten Irreversibilitt des Wrmeflusses entspricht. Der eigentliche Entropiesatz resultiert schließlich aus Clausius‘ Bedrfnis, die physikalische Darstellung des zweiten Hauptsatzes zu vereinfachen und zu komprimieren.12 Diese Vereinfachung besteht in der Annahme, dass in

8 Hermann von Helmholtz, zit. nach Stephen G. Brush: Die Temperatur der Geschichte. Wissenschaftliche und kulturelle Phasen im 19. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen bersetzt von Helga Stadler und Stephan Haltmayer, Braunschweig, Wiesbaden 1987, 35. 9 Der Begriff ,Wrmetod’ wurde 1886 von Ludwig Boltzmann geprgt. Vgl. Ludwig Boltzmann: Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wrmetheorie [1886]. In: Ders.: Populre Schriften, Leipzig 1905, 25 – 50, 33. 10 Vgl. Brush: Die Temperatur der Geschichte, 11 – 17. 11 Im Falle nicht umkehrbarer Prozesse (Wrmeleitung, Reibung) handelt es sich nicht eigentlich um den Verlust von Energie, sondern um die Unmçglichkeit ihrer Regeneration. „Any restoration of mechanical energy without more than an equivalent of dissipation, is impossible in inanimate material processes […].“ William Thomson: On the Dynamical Theory of Heat, with numerical results deduced from Mr. Joule’s Equivalent of an Thermal Unit, and Mr. Regnault’s Observation of Steam [1851]. In: Ders.: Mathematical and Physical Papers. 6 Bde. Bd. 1, Cambridge 1882, 174 – 233, 214. Vgl. zur daraus resultierenden Notwendigkeit, zwischen Entropie und Dissipation unterscheiden zu mssen, Keith Hutchinson: Der Ursprung der Entropiefunktion bei Rankine und Clausius. In: Annals of Science 30 (1973), 341 – 364, 345. 12 Tatschlich resultiert der Begriff zunchst aus Clausius’ Bemhungen, einen Beitrag zur Terminologisierung der Thermodynamik zu leisten und damit andere, vergleichsweise sperrige Begriffe wie ,Verwandlungsinhalt’, ,Summe des

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einem geschlossenen System die Entropie grundstzlich auf ein Maximum zuluft: „Man muß […] schließen, daß bei allen Naturerscheinungen der Gesammtwerth der Entropie immer nur zunehmen und nie abnehmen kann, und erhlt somit als kurzen Ausdruck des berall und bestndig vor sich gehenden Umwandelungsprocesses den Satz: Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu.“13 Man kann schon an der Unvermeidlichkeit, mit der die Physik des 19. Jahrhunderts immer dort, wo sie entropische Prozesse versprachlicht und in eine anthropomorphe Grammatik verfllt, ermessen, wie widerstandslos der Entropiesatz in ein kulturelles Deutungsmuster umgeschrieben werden konnte. Dass die Entropie einem Maximum zustrebt, dass sie „wchst“ und eine „Zerstçrung aller anderen Energieformen außer der Wrme“14 bewirkt, verwandelt sie schon im Sprachgebrauch der zeitgençssischen Physik in eine Grçße, der in grammatikalischer Hinsicht alle Eigenschaften eines lebendigen und handelnden Substrats zukommen. Historisch entspricht diese ,Kulturnhe‘ der Entropie dem unterdeterminiertem Status ihres Diskurses. Entropie ist, wie die Studie von Elizabeth R. Neswald jngst gezeigt hat, von Beginn an und fr die Dauer ihrer wissenschaftlichen Erfindung, Experimentalisierung und Deskription ein „kulturelles Phnomen“15, das in seinen sozialen Verhandlungen nicht seines ,eigentlichen‘ wissenschaftlichen Sinns entfremdet wird, sondern in dem seinerseits „kulturelle Konflikte ausgetragen und Anliegen zum Ausdruck gebracht wurden.“16 Offenbar ist Entropie ohne die Interessen, die ihre Diskursivierung begrnden, und ohne die Deutungsberschsse, die ihre Semantik mitfhrt, nicht verstndlich. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Ergebnisse der Studie von Elizabeth R. Neswald lassen sich fnf Gesichtspunkte isolieren: 1. Auch wenn sich die physikalische Formalisierung der Entropie auf Formen der Energie bezieht, die als Wrme quantifiziert werden, be-

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Verwandlungswerths der Wrme und der Disgregation’, ,Virial’, ,Ergon’ oder ,Aequivalenzwerth’ zu ersetzen. Rudolf Clausius: ber den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wrmetheorie. Ein Vortrag, gehalten in der allgemeinen Sitzung der 41. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Frankfurt a.M. am 23. September 1867, Braunschweig 1867, 17. Vgl. ders.: Zur Geschichte der mechanischen Wrmetheorie. In: Annalen der Physik 133 (1872), 132 – 146, 146. Hermann von Helmholtz: Vorlesungen ber die Theorie der Wrme. Hg. von Franz Richarz, Leipzig 1903, 252. Elizabeth R. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850 – 1915, Freiburg/Br., Berlin 2006, 16. Ebd., 11.

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halten die Referenzbegriffe ,Energie‘ und ,Kraft‘ einen metaphorischen berschuss bei, der sie fr kulturelle Belange anschließbar macht. Energie und Kraft sind kulturelle Topoi, die individuelle und kollektive Zustnde markieren, ohne dass eine im engeren Sinn wissenschaftliche Begrndung zur Verfgung stnde. Deutungsoffen ist das Entropiekonzept zudem, weil seine wissenschaftliche Thematisierung im 19. Jahrhundert weder einen etablierten wissenschaftlichen Konsens voraussetzen kann, noch vom Standpunkt einer homogenen Wissenschaftskultur aus betrieben wird. Dies gilt insbesondere fr die ausgeprgten Differenzen der nationalen Wissenschaftskulturen, die mit tendenziell unterschiedlichen Produktions-,Regeln‘ fr Wissen wie mit entsprechend unterschiedlichen Partizipationsstrukturen hinsichtlich der beteiligten Wissenschaftler ausgestattet sind.17 2. Zum konnotativen Feld der Entropie gehçren unterschiedliche Teilbedeutungen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts nacheinander aktualisiert werden. So ist die dominante Interpretation der Entropie als irreversibler Energieabbau erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem universalen Phnomen des Verfalls vereindeutigt worden. Demgegenber ist an die „vergessene Heterogenitt“ von unterschiedlichen „Entropiegeschichten“18 zu erinnern, unter denen die pessimistische Interpretation erst vor dem Hintergrund entsprechender kultureller Selbstdeutungsbedrfnisse hervorgetreten ist. 3. Die Genese des Entropiedenkens ist nicht ausschließlich mit der ,Reinheit‘ szientifischer Interessen erklrbar. Dass es die Entropie als Diskursobjekt gegeben hat, resultiert vor allem aus der inneren Homologie ihrer Verlaufsform mit grundlegenden menschlichen Erfahrungen: Dass Kçrper und Materialien ermden, ist ebenso unmittelbar plausibel, wie der Umstand, dass heiße Gegenstnde abkhlen und Wrme in ihre Umwelt abgeben. Wissenschaftlich relevant ist dieser entropische Erfahrungsschatz aber erst in einer Kultur, die „auf der gezielten praktischen Manipulation dieses Phnomens“ beruht und ihren industriellen Charakter aus der konomisierung von Wrme und Kraft herleitet; insofern stellt die Entropie eine Verstndnishilfe fr eine gesellschaftliche Mo17 Dies betrifft etwa die Beteiligung von gebildeten Laien und gentlemen of science, die sich in der englischen Wissenschaftskultur des 19. Jahrhunderts im Rahmen von wissenschaftlichen societies und associations Resonanz verschafften. Wie diese nationalen Unterschiede durch Wissenschaftlerbiographien verlaufen, lsst sich etwa an Julius Robert Mayer und James Prescott Joule studieren, die beide wissenschaftliche Außenseiter waren. Vgl. Ebd., 152 f. 18 Ebd., 10.

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derne dar, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer entschiedener von ihrer Produktivittsbasis, d. h. von ihren Kernvisionen Arbeit, Kraft und Energie, her zu verstehen lernt.19 4. Auch das im engeren Sinne wissenschaftliche Diskursfeld ist keineswegs homogen. Wissenschaftstheoretisch stellt die Entropie ein Phnomen dar, das „ber dem nicht-sprachlichen Strukturkern einer Theorie Aussagen errichtet, deren sprachliche Form abhngig ist von der Realittsstufe, auf welche die Theorie bezogen wird.“20 Je nachdem, welche Realittsbereiche bezeichnet und welche Teilprozessebenen markiert werden, geraten unterschiedliche Sachverhalte und unterschiedliche sprachliche Reprsentationen ein und desselben Strukturkerns in den Blick: Entwertung oder Stillstand, Gleichgewicht oder Spannungslosigkeit, Symmetrie oder endemische Unordnung.21 5. Die kulturelle Deutbarkeit der Entropie beruht, legt man zustzlich die entsprechenden Forschungen von Stephen G. Brush, Anson Rabinbach und Joachim Radkau22 zu Grunde, in erster Linie auf der fr das 19. Jahrhundert kennzeichnenden Universalisierung des Kraftbegriffs. Kraft bildet Hermann von Helmholtz zufolge ein einheitliches und unzerstçrbares Prinzip, das sich in den verschiedenen Naturphnomenen in unterschiedlicher Weise manifestiert.23 In dieser Universalisierung beste19 Vgl. Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermdung und die Ursprnge der Moderne. Aus dem Amerikanischen von Erik Michael Vogt, Wien 2001, 11. 20 Metzner: Die Bedeutung physikalischer Stze fr die Literatur, 8. Vgl. auch Wolfgang Stegmller: Theoriendynamik und logisches Verstndnis. In: Werner Diederich (Hg.): Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Beitrge zur diachronen Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M. 1974, 167 – 209. 21 Vgl. Metzner: Die Bedeutung physikalischer Stze fr die Literatur, 8 f.; Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, 173 f. – Zu den Weiterungen hinsichtlich der Realittsbereiche, die mit der Entropiefunktion erfassbar sind, gehçrt noch Jurij Lotmans semiotische Ableitung des Kulturbegriffs, den Lotman als Opposition von „,Ektropie’ und ,Entropie’“ bzw. von „Geregelte[m]“ und „Nicht-Geregelte[m]“ bestimmt. Jurij M. Lotman/Boris .A. Uspenskij: Zum semiotischen Mechanismus der Kultur [1971]. In: Semiotica Sovietica 2. Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundren modellbildenden Zeichensystemen (1962 – 1973). Hg. und eingel. von Karl Eimermacher. bers. von Adelheid Schramm-Meindl u. a., Aachen 1986, 835 – 880, 863. 22 Vgl. Brush: Die Temperatur der Geschichte; Rabinbach: Motor Mensch; Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervositt. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. Mnchen, Wien 1998, vor allem aber Metzner: Die Bedeutung physikalischer Stze fr die Literatur. 23 Vgl. Hermann von Helmholtz: ber die Erhaltung der Kraft. Eine physikalische Abhandlung, vorgetragen in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft zu Berlin

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hen gewisse Zusammenhnge zwischen dem naturwissenschaftlichen Materialismus eines Helmholtz oder eines Emil du Bois-Reymond und dem Wiederaufleben von Annahmen ber eine universale Lebenskraft, die den modernen Energiebegriff (erneut) mit der Tradition der romantischen Naturphilosophie verklammern.24 1882 hatte Helmholtz im Zuge seiner Ausfhrungen ber den „Begriff der freien Energie“ vorgeschlagen, die „actuelle Kraft“ als „l e b e n d i g e K r a f t g e o r d n e t e r B e w e g u n g zu bezeichnen.“25 Wer historisch noch hinter die naturphilosophischen Implikationen dieses Kraftuniversalismus zurck schritt, konnte sich auf Leibniz berufen, der im Rahmen seiner Monadologie konstatierte, dass unter lebendiger Kraft „das Streben“ zu verstehen sei, „von einer Vorstellung zu einer anderen berzugehen. Dieses wird bei den Tieren Trieb, da aber, wo die Vorstellung ein Verstehen ist, Wille genannt.“26 Fr das materialistische 19. Jahrhundert ist jedenfalls die Vorstellung leitend, dass alle Materie „nie an sich selbst“, sondern nur „durch ihre Krfte“27 wahrnehmbar ist, und genau in dieser phnomenalen Abstraktion verbirgt sich die bertragbarkeit des energetischen Denkens auf soziale und kulturelle Zusammenhnge: Gerade weil sich der materialistische Kraftuniversalismus von allen spezifischen und insofern verengenden Implikationen reinigt, kann er Natur, Gesellschaft und kçr-

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am 23. Juli 1847. In: Ders.: ber die Erhaltung der Kraft. ber Wirbelbewegungen [u.a.]. Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Reprint der Bnde 1, 79 und 80, Thun, Frankfurt/M. 1996, 3 – 60, 7 ff. Zur Entdeckung der Krafterhaltung vgl. Rabinbach: Motor Mensch, 67 ff.; Thomas Kuhn: Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung. In: Ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Hg. von Lorenz Krger. bers. von Hermann Vetter, Frankfurt/M. 1977, 125 – 168; mile Meyerson: Identity and Reality. bers. von Kate Loewenberg, New York 1962, 202; Yehuda Elkana: The Discovery of the Conservation of Energy, London 1974. Vgl. Kuhn: Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung, 146 f. Allerdings legen die Bildungsmilieus der in Frage kommenden Wissenschaftler – Mayer, Joule, Colding oder Helmholtz – eine direkte Rezeption der Naturphilosophie nicht nahe. Vgl. Ebd., 147 f. Differenzierend dazu bereits Rabinbach: Motor Mensch, 59 f. und grundstzlich kritisch Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz, 124 f. sowie Kenneth Cavena: Physics and Naturphilosophie. A Reconnaissance. In: History of Science 35 (1997), 35 – 106. Helmholtz: Die Thermodynamik chemischer Vorgnge [1882], 30. Georg Wilhelm Friedrich Leibniz: Ein Entwurf der Monadologie. Zit. nach Metzner: Die Bedeutung physikalischer Stze, 7, Anm. 26. Helmholtz: ber die Erhaltung der Kraft [1847], 5.

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perliche Arbeit als gleichursprngliche Realisierungen, als einheitliche energetische ,Gestalten’, einer bergreifenden Kraftsumme fassen. In der Vielzahl der entsprechenden Anverwandlungen der Entropie fallen um 1900 vor allem populrwissenschaftliche Darstellungen auf. Sie vollziehen, wie etwa Felix Auerbachs Die Weltherrin und ihr Schatten von 1903 zeigt, den Schritt in eine Allegorisierung thermodynamischer Begriffe, die aus physikalischen Gesetzen literarische Vorstellungen macht. Die Leistung derartiger Wissenschaftsallegorien besteht darin, den gesamten physikalischen Materialismus in eine Erzhlung von Widerstreit und Feindschaft zwischen zwei Weltprinzipien zu transformieren, deren eines – dem Satz von der Erhaltung der Energie gemß – gibt und nimmt, ohne „im ganzen aber weder gebend noch nehmend“28 zu sein, whrend das andere unablssig „zu verderben“29 sucht. Energie und Entropie bilden bei Auerbach Aktanten in einem Mythensystem, das den „bçsen Dmon E n t r o p i e “30 so lange gegen die „Gçttin“ und „Kçnigin“31 Energie intrigieren lsst, bis das „schleichende[] Gifte“32 des Dmons „seine bçsartigen Tendenzen“33 restlos entfaltet hat. Dass der naturwissenschaftliche Erzhler-Autor Auerbach die „traurige[n] Perspektiven“ des entropischen „Weltprozess[es]“34 schließlich in eine „u n a b s e h b a r e [ ] F e r n e “35 rckt, verrt einiges ber die Trçstungen, die selbst die Mythisierungen des positiven Wissens um 1900 offenbar erforderlich machen. Fr den hier interessierenden Zusammenhang bleibt festzuhalten und im Folgenden weiter zu entfalten, dass der gesamte Diskurskomplex der Willensschwche, wie er sich im Zusammenspiel von medizinischen, psychopathologischen und populrwissenschaftlichen Ansichten formiert, dem Entropiesatz nachgebildet ist und von dort aus in die Schreibordnungen des Naturalismus fortwirkt. Lebensweltlich gesehen markieren all die Leiden, die sich im Verlust der Entschlusskraft und in der Unfhigkeit, einem Handlungsziel ein motorisches quivalent zu verschaffen, 28 Felix Auerbach: Die Weltherrin und ihr Schatten. Ein Vortrag ber Energie und Entropie, Jena 1903, 1. 29 Ebd. 30 Ebd., 1 f. 31 Ebd., 1. 32 Ebd., 2. 33 Ebd. 34 Ebd., 41. 35 Ebd., 42.

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manifestieren, die eindrcklichste Erfahrung der Entropie.36 Schon durch Georg M. Beards Grundlegung der neurasthenischen Zeitkrankheit hindurch wirkt die Entropie wie eine psychophysische Gesamterfahrung des Einzelnen, die – verursacht und verstrkt durch die Reizintensitten der „moderne[n] Civilisation“37 – das Monogramm einer um sich greifenden „Erschçpfung“38 bildet. „Die Nervositt ist unbestritten die Hauptursache der heute so allgemein verbreiteten Energielosigkeit“, heißt es in einer vielfach aufgelegten Schrift, die unter dem Titel Wie werde ich energisch? gegen „Energielosigkeit, Zerstreutheit, Niedergeschlagenheit, Schwermut, Hoffnungslosigkeit“ und vieles mehr zu Felde zieht.39 Primre Manifestation dieser Erschçpfung im Krankheitsbild der Neurasthenie und ihrer hystero-neurasthenischen bzw. phobischen und paralytischen Nachbarphnomene40 aber ist die Willensschwche. Sie ist nach einhelliger Auffassung der Mediziner, Nervenrzte und Heilkundler der Zeit ein „Hauptsymptom“41 bzw. ein „Hauptzug“ im „Krankheitsbilde aller allgemeinen Nervenkrankheiten“.42 36 Symptomatologisch steht der Willensschwche ein Krankheitsphnomen nahe, das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als „Grbelsucht“ klassifiziert wird. Vgl. W.[ilhelm] Griesinger: Ueber einen wenig bekannten psychopathischen Zustand. Vortrag gehalten in der Berliner Medicinisch-Psychologischen Gesellschaft. In: Archiv fr Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 1 (1868/69), 626 – 635, 631 ff. Der entsprechende „p s y c h o p a t h i s c h e Zustand“ besteht darin, „daß die Kranken […] von einem meist unablssigen […], unbezwinglichen inneren Fragen und Grbeln nach dem Grunde fr alles Mçgliche, was sie umgiebt, oder was ihnen gerade in den Sinn kommt, von einem fortwhrenden Wie? Warum?, das sich fast an jede Vorstellung anheftet, – im hçchsten Grade sich belstigt fhlen.“ Dr. Oscar Berger: Die Grbelsucht, ein psychopathisches Symptom. In: Archiv fr Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Bd. 6 (1876), 217 – 248, 218. Der Willensschwche verwandt ist diese manie de fouilier darin, daß die fortwhrende innere Vorstellungsbildung „trotz angestrengter Willensenergie“ (Ebd., 219) zu keinem Abschluss gebracht werden kann. 37 George M. Beard: Die Nervenschwche (Neurasthenia). Ihre Symptome, Natur, Folgezustnde und Behandlung. Nach der zweiten Aufl. ins Deutsche bertragen und mit einem Vorwort versehen von M. Neisser, Leipzig 1881, 1. 38 Ebd. 39 Vgl. Dr. W. Gebhardt: Wie werde ich energisch? Vollstndige Beseitigung kçrperlicher und seelischer Hemmnisse […] durch eigene Willenskraft, Leipzig 9. Aufl. [o.J.]. 40 Vgl. nur Bergmann: Selbstbefreiung aus nervçsen Leiden [1911], 8 ff. 41 Eschle: Die krankhafte Willensschwche [1904], 118. 42 Paul Julius Mçbius: Die Nervositt [1882], 3., verm. und verbess. Aufl. Leipzig 1906, 108.

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Wenn auch die Masse der populren Ratgeber zur Willensschulung die gewachsene Bedeutung der Laienkultur, nicht zuletzt der erwachenden Naturheilkunde dokumentiert,43 so bleibt das Phnomen auch ein nosologischer Ehrgeiz der seriçsen Medizin, die sich – blickt man etwa auf die begriffliche Arbeit einschlgiger und weitgehend titelgleicher Standardwerke wie Eschles und Birnbaums Krankhafter Willensschwche 44 – dezidiert von den populren Diskursanteilen abzugrenzen sucht. Allerdings treffen sich Medizin, Psychopathologie und Ratgeberliteratur in der Verwendung einer Beschreibungssprache, die die vielfltigen Diskontinuitten in der Sinnbildung des Willensschwachen wie Stçrungen in der Organisation von Zeichenfolgen behandelt. Terminologisch entspricht diesem Befund der Umstand, dass die wachsende Einsicht in die Unzulnglichkeit analogischer Wahrnehmungskonzepte, wie sie vor allem in der materialistischen Wahrnehmungstheorie in Misskredit geraten, die Verwendung des Zeichenbegriffs nahe legt. In der Wahrnehmungstheorie Hermann von Helmholtz‘ sind alle Empfindungen, gerade weil sie keine analogischen Abbildungen ußerer Ereignisse darstellen, sondern durch die Struktur des sensomotorischen „Apparates“ vermittelt sind, lediglich „Zeichen“, die „keine Art der hnlichkeit mit dem […] haben, dessen Zeichen“ sie sind: „Insofern die Qualitt unserer Empfindung uns von der Eigenthmlichkeit der ußeren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht gibt, kann sie als Zeichen derselben gelten, aber nicht als ein Abbild.“45 Insbesondere das seit Johann Friedrich Herbart zum assoziationspsychologischen Grundbegriff aufgestiegene (dynamische) Konzept der Vorstellungs- bzw. Gedankenreihe46 impliziert eine Sukzes43 Vgl. Radkau: Das Zeitalter der Nervositt, 361 f. 44 Vgl. Eschle: Die krankhafte Willensschwche [1904], 185 f.; Karl Birnbaum: Die krankhafte Willensschwche und ihre Erscheinungsformen. Eine psychopathologische Studie fr rzte, Pdagogen und gebildete Laien, Wiesbaden 1911. 45 Hermann von Helmholtz: Die Tatsachen in der Wahrnehmung [1878]. In: Ders.: Schriften zur Erkenntnistheorie, kommentiert von Moritz Schlick und Paul Hertz. Hg. von Ecke Bonk [Kleine Bibliothek fr das 21. Jahrhundert Bd. 2], Wien, New York 1998, 147 – 195, 153. Vgl. auch ders.: Handbuch der physiologischen Optik [1866]. Erg. und hg. […] von Prof. Dr. W. Nagel. Bd. 3, Hamburg, Leipzig 31910, 18: „Unsere Vorstellung von den Dingen kçnnen gar nichts anderes sein, als Symbole, natrlich gegebene Zeichen fr die Dinge, welche wir zur Regelung unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen.“ 46 Vgl. Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft, neu gegrndet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Erster, synthetischer Theil. Nachdruck

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sion von wechselnden Vorstellungsfolgen, die – je nach dem, ob sie „entgegengesetzte[]“ oder „nicht-entgegengesetzte[]“ Vorstellungen bilden – „verschmelzen“ oder „complicieren“,47 d. h. zu einem Vorstellungskomplex zusammentreten. Entsprechend wird in der Herbart-Nachfolge, etwa bei Wilhelm Volkmann Ritter von Volkmar, unter „Vorstellungsreihe“ ein „Vorstellungscomplex“ verstanden, „welcher in Folge regelmßiger Verschmelzungen seiner Bestandtheile die Fhigkeit besitzt, diese bei ihrer Reproduction in bestimmter Ordnung zu ihren vollen Klarheitsgraden zu erheben“.48 Wenn die psychologische Realitt der Willensschwche in einer Fortfhrung von Problemlagen, die sich der nachkantischen Psychologie gestellt hatten, darin besteht, die Vielzahl der Wahrnehmungsimpulse nicht mehr durch die Ausbung souverner Willensakte koordinieren zu kçnnen, dann zeigen sich diese Koordinationsschwierigkeiten in einem Gleiten der Vorstellungsbildung – in einer buchstblichen „Ideenflucht“49 – ebenso wie in den Lcken und Brchen der „Gedankenreihe“50. Darin besitzt die Nosologie der Willensschwche weitgehend unabhngig davon, wer sich im diskursiven Spektrum an ihr beteiligt, eine auffllige Nhe zu Prozessen sthetischer Semiose. Dass eine literarische Figur – Shakespeares Hamlet – noch um 1900 zum ernsthaften Gegenstand von psychopathologischen Beschreibungen aufrckt, die ihre Analytik einschlgiger Gemtskrankheiten mit dem Problem der Willensschwche koppeln, spricht eine eindeutige Sprache.51 Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei unterschiedliche, wenn auch eng miteinander verwandte Phnomene isolieren, die das Krankheitsbild der Willensschwche prgen: 1. Inhibition/Aufschub. Im weiten Feld der Krankheitssymptome zeigen sich zunchst vielfltige und recht heterogene Differenzierungen;

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der Ausgabe 1850, Amsterdam 1968, 292 ff. [Par. 100]; ders.: Lehrbuch zur Psychologie, zweyte, verbess. Aufl. Kçnigsberg 1834, Amsterdam 1965, 16 ff. [Par. 22]. Herbart: Lehrbuch zur Psychologie [21834], 17. Wilhelm Volkmann Ritter von Volkmar: Lehrbuch der Psychologie vom Standpunkte des Realismus und nach genetischer Methode, Cçthen 1875, 437 [Par. 76]. Vgl. nur Eschle: Die krankhafte Willensschwche [1904], 72, 83, 85 – 87. Ebd., 85. Vgl. G. Friedrich: Hamlet und seine Gemtskrankheit, Heidelberg 1899 und Hans Laehr: Die Darstellung krankhafter Geisteszustnde in Shakespeares Dramen, Stuttgart 1898. Das Literaturverzeichnis des letztgenannten Titels versammelt 33 weitere Arbeiten zum Thema. Vgl. Ebd., 189 – 200.

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sie reichen, nimmt man etwa Thodule Ribots theoretisches Hauptwerk Les maladies de la volont (1884) zum Maßstab, von der (mitunter spezifisch weiblichen) Abulie, allgemeinen Phnomenen mentaler Abspannung, Formen psychischer Paralyse, wie sie Jean Martin Charcot beschrieben hatte, ber einzelne handlungshemmende Phobien und Anzeichen willensfçrmiger beraktivitt bis zum Schreckbild des hysterischen Charakters,52 dessen geschlechteranthropologische Implikationen zu den großen Beunruhigungen der mnnlichen Identitt im ausgehenden 19. Jahrhundert gehçren.53 Bei allen Differenzen hinsichtlich von tiologie und Symptomatik finden die unterschiedlichen Krankheitsbilder doch zu einem gemeinsamen Kern: der krankhaften Willenshemmung. In ihr ist der gesamte, in der individuellen Erfahrung so lhmende Komplex von Zielbildungen und fortwhrenden Desorientierungen, Handlungsausrichtungen und depressiven Abweichungen erkennbar, der den Willen in die Vielzahl sich wechselseitig hemmender Motivfixierungen verstrickt. Willensschwche ist vornehmlich eine Schwche von Inhibitionsfunktionen, d. h. von sensomotorischen und perzeptiven Unterdrckungsleistungen, die es gestatten, in einem ,offenen’, sich zunchst diffus darbietenden Wahrnehmungsfeld einzelne perzeptive Gehalte hervorzuheben und andere der Aufmerksamkeit zu entziehen. Nicht nur an Wilhelm Wundts einflussreicher Experimentalpsychologie ist ablesbar, dass der Wille im Bewusstsein zahlreicher Psychologen des 19. Jahrhunderts – wie auch das eng benachbarte Vermçgen der Aufmerksamkeit – physiologisch in derartigen Hemmungsleistungen fundiert wird.54 Diese Verbindung von Aufmerksamkeitssteuerung, Inhibitionsleistung und Wille ruht auf einem Modell des menschlichen Bewusstseins, das in einer fr die epistemologischen berzeugungen des spteren 19. Jahrhunderts bezeichnenden Weise der Struktur visueller Wahrnehmung 52 Vgl. Thodule Ribot: Der Wille. Pathologisch-psychologische Studien / Les maladies de la volont. Nach der 8. Aufl. des Originals mit Genehmigung des Verf. uebersetzt von F. Th. F. Pabst, Berlin 1893, 95 ff. 53 Vgl. zur geschlechteranthropologischen Zurechnung der differentialdiagnostisch nur schwer zu unterscheidenden Krankheitsbilder von (mnnlicher) Neurasthenie und (weiblicher) Hysterie Radkau: Das Zeitalter der Nervositt, 125, 134; Horst Thom: Autonomes Ich und ,Inneres Ausland’. Studien ber Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzhltexten (1848 – 1918), Tbingen 1993, 200 ff. und Walter Erhart: Familienmnner. ber den literarischen Ursprung moderner Mnnlichkeit, Mnchen 2001, 258 f. 54 Vgl. Wilhelm Wundt: Grundzge der physiologischen Psychologie [1874]. Bd. 3, 6. umgearb. Aufl. Leipzig 1911, 306 – 364.

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nachgebildet ist.55 Fr Wilhelm Wundt ist das Bewusstsein ein Feld, in dem die Wahrnehmungsobjekte schrittweise von einer nur diffus organisierten Peripherie in ein Zentrum bewusster und aktiver Apperzeption aufrcken. In der Konsequenz dieser aktiven Steuerung der Aufmerksamkeit liegt es beschlossen, dass die Erfahrung kohrenter Wirklichkeitsgehalte nicht mehr aus dem Wesen dieser Wirklichkeit und ihrer analogischen Wiedergabe hergeleitet, sondern allein in den flchtigen Momenten ihrer apperzeptiven ,Konstruktion‘ begrndet werden kann. Wille und Aufmerksamkeit bilden daher Momente einer aktiven Organisation der wahrgenommen Welt, die so lange diskontinuierlich bleibt, wie das Bewusstsein nicht ber Mechanismen verfgt, die in die Vielzahl optischer und akustischer Attraktionen eingreifen und eine begrenzte Zahl ihrer Gehalte isolieren. Diesem beraus einflussreichem Modell, in dem, wie bei Wundt, Wille und Aufmerksamkeit apperzeptiv zur Deckung gelangen, folgen zahlreiche Willenslehren vor allem darin, dass sie Wundts Unterscheidung zwischen einem visuellen Gesamtfeld – dem „Blickfeld“ – und einem zentrierenden Fokalpunkt – dem „Blickpunkt“ – aufnehmen und die Willensleistungen an die apperzeptive Funktion des „Blickpunkts“ binden.56 Entsprechend bildet der beschriebene „Hemmungsmechanismus“57 den Prfstein vorhandener oder abgespannter Willensenergien. Ein „energischer Mensch“, heißt es 1904 ber die „krankhafte Willensschwche“ 55 Vgl. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho, Frankfurt/M. 2002, 232 f. Crary datiert die Entwicklung dieses topologischen Bewusstseinsmodells, das maßgeblich mit den Untersuchungen Wilhelm Wundts verbunden ist und Ende der 1890er Jahre noch von Pierre Janet zur Beschreibung von Neurosen und fixen Ideen verwendet wird, auf die 1880er Jahre. Interessanterweise bemerkt schon Schopenhauer in den 1843 erschienenen „Ergnzungen“ zu seinem philosophischen Hauptwerk, dass das menschliche „Selbstbewußtsein“ bzw „der „Intellekt einem Teleskop mit einem sehr engen Gesichtsfelde zu vergleichen“ sei. Arthur Schopenhauer: Von den wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts. In: Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung I und II [1859]. Zweiter Band, welcher die Ergnzungen zu den vier Bchern des ersten Bandes enthlt, nach den Ausgaben letzter Hand hg. von Ludger Ltkehaus, Mnchen 32005, 158 – 172, 159 (m. Hervorhg.). 56 Vgl. Wilhelm Wundt: Grundzge der physiologischen Psychologie [1874]. Bd. 2, 3. umgearb. Aufl. Leipzig 1887, 235 – 246. Ein expliziter Anschluss an Wundt findet sich etwa bei Reinhold Gerling: Die Gymnastik des Willens. Praktische Anleitung zur Erhçhung der Energie und Selbstbeherrschung […] durch Strkung der Willenskraft ohne fremde Hilfe [1905], 2., vollstdg. neubearb. Aufl. o. J., 6. 57 Eschle: Die krankhafte Willensschwche [1904], 10.

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und die „Aufgaben der erziehlichen Therapie“, „ist derjenige, der alle Hemmungs- und Bewegungsvorrichtungen sofort wie mit einem Hebeldruck in Gang setzen kann, sei es infolge konstruktiver, angeborener Beschaffenheit seines Organismus, sei es erst infolge einer dauernden zweckmßigen Regulierung des Betriebes, d. h. infolge der Art der S e l b s t e r z i e h u n g , die wir als , b u n g ‘ zu bezeichnen pflegen.“58 Dieser Zusammenhang kehrt in den nosologischen Beschreibungen immer dort wieder, wo der geschwchte Wille die Tendenz „zum Aufschieben“ und „Hinausschieben der Entschliessung“59 zeigt. Ursache hierfr ist ausdrcklich kein Defekt der motorischen Funktionen, sondern eine Dynamik der „Gefhlsregungen“, die verschiedenste Zielbildungen gleichermaßen affektiv ,tçnt‘ und insofern einen fortwhrenden „ b e r g a n g v o n e i n e r W i l l e n s t e n d e n z i n d i e a n d e r e “60 anstçßt. Ohne dass der Wahrnehmungsvorgang eine „einheitliche[] Vorstellungsreihe“61 und insofern einen „Abschluss“62 in der Zielbildung findet, verluft der innere Sinn dieses Willens „nach allen Richtungen“63. Interessanterweise wird derselbe Symptomkomplex auch anders beschrieben, je nachdem, welche vermçgenstheoretischen Ausgangspunkte gewhlt werden. Ein Krankheitsbild wie die „Hyperprosexie“ der Aufmerksamkeit, eine Art perzeptiver berfunktion im Wahrnehmungsfeld, produziert denselben Zusammenhang von ,zu vielen‘ Affektbesetzungen, Inhibitionsverlusten und Entschlussschwchen, die auch das seelische Drama der ,abulischen Insuffizienz‘ prgen: Die p a t h o l o g i s c h e S t e i g e r u n g d e r A u f m e r k s a m k e i t , die H y p e r p r o s e x i e , […] besteht […] meist darin, daß zu v i e l e Empfindungen Vorstellungen erwecken und wegen ihrer schnellen Folge die Aufmerksamkeit fast gleichzeitig und mit gleichmßiger Intensitt auf sich ziehen, sie zersplittern. Es kommt so nicht wie normaliter zum Obsiegen einer den Vorstellungsablauf fr lngere Zeit beherrschenden Empfindung – infolge dessen auch zu keiner vollstndigen, einheitlichen Vorstellungsreihe – vielmehr erregen neue Empfindungen fortgesetzt neue Vorstellungen, welche die von der ersten Empfindung angeregte Vorstellungsreihe unterbrechen.64 58 59 60 61 62 63

Ebd., 42. Birnbaum: Die krankhafte Willensschwche [1911], 26. Ebd. Eschle: Die krankhafte Willensschwche [1904], 85. Birnbaum: Die krankhafte Willensschwche [1911], 32. Beard: Die Nervenschwche (Neurasthenia) [1881], 32 und Gebhardt: Wie werde ich energisch? [o.J.], 44. 64 Eschle: Die krankhafte Willensschwche [1904], 84 f.

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V. Verlçschende Form

2. Distraktion/Zerstreuung. Liest man das Zitat genau, fallen eine Reihe von Symptombeschreibungen ins Auge, die dem Phnomen des Aufschubs zwei Gesichtspunkte hinzufgen: einerseits eine gegenber der normalen Perzeptionsttigkeit gesteigerte Beschleunigung der Vorstellungsbildung, andererseits eine spezifische Form der Auflçsung der perzeptiven Syntheseleistungen. Zur Bezeichnung dieser Phnomene verwendet die Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts wahlweise den Begriff der ,Zerstreuung‘ bzw. der ,Zersplitterung‘. Jules Payot, Verfasser einer in ber 40 Auflagen erscheinenden Willensschulung, die sich vornehmlich an „Studierende[] und geistige[] Arbeiter“65 richtet, diagnostiziert entsprechend eine milieutypische „Zerstreuungsform“66 des Willens, die unmittelbar aus der abundanten Textkultur der geistig Ttigen resultieren soll: Bestndig durch Texte untersttzt, hat der Geist keinerlei schçpferisches Werk zu vollbringen; […] und berdies fgen die zwanzigtausend Bnde, die sich alljhrlich in der Nationalbibliothek anhufen, in fnfzig Jahren zu der jetzigen Sammlung eine Million Bnde, hinzu […]. […] [M]uß da nicht die Gelehrsamkeit an sich unter der ungeheuerlichen Ansammlung von Stoff erliegen […]? Immer weniger wird man in bloßer Anhufung eine Arbeit sehen. Man wird diesen Geschften schließlich den rechten Namen: G e s c h  f t geben. Die Bezeichnung A r b e i t wird man jenem vollendeten Werke vorbehalten, das mßige Einzelheiten ausmerzt und mit der hçchsten Anstrengung des Gedankens zusammenfaßt, konzentriert.67

Ohne Schwierigkeiten lassen sich in derartigen Formulierungen, die im Kontext der in Frankreich und Deutschland phasenweise erregt gefhrten Debatten um die ,Denkermdung‘ stehen,68 Topoi einer traditionsreichen Schriftkritik ausmachen: Hier wie dort bleibt das Geschriebene und Gelesene dem individuellen Sinn fremd – es ist, anders als die gedankliche Aneignungsttigkeit der „Arbeit“, bloßes „Geschft“ –, wie die Schrift nur Verußerlichungen und Entfremdungen im kulturellen Feld produziert. Entscheidend aber ist die innere Verwandtschaft, die Payot zufolge zwischen den gewachsenen Textmassen, den Zirkulationen ihrer Zeichen und der zerstreuten Rezeption einerseits und dem mentalen Effekt – der „Zersplitterung“ – andererseits besteht. Offenbar handelt es 65 Jules Payot: Die Erziehung des Willens durch Selbstbemeisterung. Berechtigte bersetzung von Dr. Titus Voelkel. 6. Aufl. revidiert nach der 41. Aufl. der franzçsischen Ausgabe Leipzig 1907, 24. 66 Ebd., 27. 67 Ebd., 30. 68 Rabinbach: Motor Mensch, 175 ff.

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sich um Formen einer Kongruenz, die auf abstraktestem Niveau ,dezentrierende‘ Analogien zwischen Zeichen- und Assoziationsprozessen stiftet. Selbstverstndlich sind dies nur metaphorische Hilfskonstruktionen, um dem Laien eindringlich die Ermdungen seiner Willensinitiativen vor Augen zu fhren, zumal Payot die Ursachen fr die Zersplitterungen des Willens in denkbar allen Zerstreuungen dingfest macht, die die Moderne bereithlt.69 Gleichwohl beharren auch andere Autoren auf dem inneren Zusammenhang zwischen den mentalen Zerstreuungsformen und dem Zusammenbruch von sprachlichen Symbolisierungsfhigkeiten, die im Gefolge der Willensschwche bis an jene Grenze fhrt, wo der Raum des Sinns – wie in einer Entropie der Zeichenverwendung – verlassen wird. Ob der Willensschwache „syntaktische[n] Sprachstçrung[en]“70 erliegt, ob er „nicht zusammengehçrige[] Worte[]“71 verbindet, ob er „einzelne[] Wçrter“72 auslsst oder ob er „Vorstellungen ohne Satzbildung“73 aneinander reiht bzw. „endlos wiederholt“74 – in jedem Fall handelt es sich um Abbrche, Diskontinuitten, ,Risse‘ im Sinn, die vordergrndig aus jedem Sinn herausfhren: Whrend bei hçheren Graden der Willensschwche die Kranken gar nichts mehr tun, liegen bleiben, wo sie sind, und schließlich ganz bewegungslos werden, ist eine ihrer ersten Erscheinungen die U n f  h i g k e i t , d i e Aufmerksamkeit dauernd auf einen Gegenstand zu richt e n . […] Wenn der Kranke einige Zeilen gelesen oder geschrieben hat, fangen seine Gedanken an, sich zu verwirren, er versteht das weitere nicht mehr, es wird ihm schwarz vor dem geistigen Auge. Spricht man mit ihm, so werden nach kurzer Unterhaltung seine Antworten unklar, zçgernd, und rasch bricht er ab.75

In ihren extremsten Formen resultiert die Zerstreuung des Willens aus Anomalien, die nach Auffassung vieler Autoren auf „S t ç r u n g e n i m 69 Vgl. Payot: Die Erziehung des Willens durch Selbstbemeisterung [1907], 32. Das Argument ist allerdings topisch und durchzieht das seriçse medizinische wie das Laienschrifttum gleichermaßen. 70 Franz Carl Mller (Hg.): Handbuch der Neurasthenie, Leipzig 1893, 107. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Eschle: Die krankhafte Willensschwche [1904], 87. 74 Ebd. 75 Mçbius: Die Nervositt [1882], 198 f. Zur neurasthenischen Willensschwche werden auch Stçrungen der Schreibmotorik gezhlt. Vgl. zum „Schreibekrampf“ Beard: Die Nervenschwche (Neurasthenia) [1881], 124 und Mller (Hg.): Handbuch der Neurasthenie [1893], 107.

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V. Verlçschende Form

z e i t l i c h e n A b l a u f d e r I d e e n a s s o z i a t i o n “76 beruhen. Insbesondere die „B e s c h l e u n i g u n g “77 von Vorstellungsbildungen produziert eine „Ideenflucht“78, die fortwhrend a-grammatische Verkettungen erzeugt: Die Vorstellungen folgen auf einander vielfach auf Grund einer ganz zuflligen Klanghnlichkeit der sie zum Ausdruck bringenden Worte, Reime und Assonanzen. Nimmt die Ideenflucht zu, so werden die Zwischenvorstellungen fortwhrend […] bersprungen, die sprachliche Ausdrucksbewegung kommt auf der Hetzjagd der Ideen nicht mehr mit und der verbindende Faden lßt sich fr den Zuhçrer nicht mehr auffinden (L o g o r r h o e ). Schließlich werden die Vorstellungen ohne Satzbildung an einander gereiht. […] In andern Fllen kommt es zu einem raschen Plappern zusammenhangsloser Worte, zu einem sinnlosen Gefasel, der ,Verbigeration’, deren Produkt F o r e l treffend als ,Wortsalat‘ beschrieben hat.79

Auch ein Phnomen wie die „Heterophemie“ – das unwillkrliche Verwenden des „gegentheilige[n] Wort[s] von dem, welches bentzt werden sollte“80 – dokumentiert nach Auffassung zahlreicher Willenslehren die „Zerstreutheit“81 des Willens. Allerdings lassen Signifikationsstçrungen dieser Art erkennen, dass es sich insofern um strukturierte Substitutionen handelt, als die Substitution gewissen semantischen ,Regeln‘ folgt. Auf eine unterschwellige Weise bewahrt der Diskurs, der am Willensschwachen nur mehr „,Verbigeration’“ und „sinnlose[s] Gefasel“82 bloßlegt, ein Ordnungsbeharren, das dem ,wilden Sinn‘ der Willensschwche in ihr Innerstes hinein folgt, um noch dort auf Reste vertrauten Sinns zu stoßen: Stçrungen der Sprache kommen nur bei einzelnen Neurasthenikern vor und zwar ist die hufigste Sprachstçrung die, daß der Kranke sich verspricht. Sehr oft wird gerade das gegentheilige Wort von dem, welches bentzt werden sollte, gebraucht. z. B. warm statt kalt, jung statt alt, u.s.f. Ferner werden hufig feststehende Redensarten mit ungebruchlichen Abnderungen gebraucht oder der Anfang einer Redensart durch das Ende einer analogen beschlossen. […] Außer diesen Fehlern in der Ausdrucksweise kommen auch Stçrungen im Tempo vor – die Sprache ist zu rasch und erregt oder zu 76 77 78 79 80

Eschle: Die krankhafte Willensschwche [1904], 86. Ebd., 87. Ebd. Ebd. Mller (Hg.): Handbuch der Neurasthenie [1893], 106. Zum Begriff ,Heterophemie’ vgl. Beard: Die Nervenschwche (Neurasthenia) [1881], 32 f. 81 Mller (Hg.): Handbuch der Neurasthenie [1893], 107. 82 Eschle: Die krankhafte Willensschwche [1904], 87.

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langsam. Selten ist eine syntaktische Sprachstçrung, so daß es zu vçllig neuen Wortbildungen und zur Aneinanderreihung von durchaus nicht zusammengehçrigen Worten kommt.83

Es fllt leicht, derartige Symptomatologien, die sich an den Rndern von Symbolisierungsfhigkeiten bewegen, in eine Sprache zu bersetzen, die der impliziten Semiotik solcher und anderer Beschreibungen nahe kommt. Auffllig ist, dass durch die Zusammenbrche des Sinns hindurch ,Regeln‘ der Zeichenverknpfung wirken, die sich in der Nhe von Prinzipien sthetischer Sprachverwendung befinden und damit die Vermutung nahe legen, dass Literatur und Willensdiskurs Beziehungen unterhalten, die sich nicht in bloßen thematischen Affinitten erschçpfen. In gewisser Weise ist der Willensdiskurs ja selbst bereits in dem Maße sthetisch, wie er um das Problem sinnhafter Prsenz organisiert ist, und entsprechend lsst sich in dem hier beobachteten Zeitraum eine berschneidung zwischen den Problemen willentlicher Wahrnehmungssynthese und gewissen sthetischen Verfahren feststellen, die fr die literarischen Sinnbildungsmechanismen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zentral werden. Allerdings verbindet sich mit dem sthetisch so produktivem Problem der ,Zerstreuung‘ eine gewisse Ambivalenz. Fast scheint es, als ziehe es noch die ,gesunden‘ Regionen und Funktionsanteile des Willens in Mitleidenschaft. Grundlage dieser Ambivalenz ist weniger die Fundierung des Willens in Aufmerksamkeitsleistungen, als vielmehr, dass sie ihrerseits eine entropische Verlaufsbasis besitzen. Zumindest nach assoziationspsychologischer Auffassung sind die Unterdrckungsleistungen der Aufmerksamkeit „g a n z u n d g a r v o m W i l l e n a b h  n g i g “84, und weil diese Hemmungsmechanismen auf „gewollt[en]“85 Apperzeptionen beruhen, teilen sie das Schicksal, das jede konzentrierende Anstrengung, jede „Vermehrung der Arbeitsleistung“86 ereilt: zu ermden und zu erschçpfen. Damit wird Aufmerksamkeit in einer Weise, die viel ber die epistemischen Neuordnungen in der Wahrnehmungspsychologie des 19. Jahrhunderts verrt, von einem konstitutiven Defizit, einer grundstzlichen Anomalie her gedacht. Sie besteht darin, dass Konzen83 84 85 86

Mller (Hg.): Handbuch der Neurasthenie [1893], 106 f. Gerling: Die Gymnastik des Willens [1905], 110. Ebd. Thodule Ribot: Die Psychologie der Aufmerksamkeit / La psychologie de l’attention [1889]. Autorisierte deutsche Ausgabe nach der 9. Aufl. von Dr. Dietze, Leipzig 1908, 90.

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tration keinen perzeptiven Normalzustand darstellt, sondern einen energetischen Mehraufwand bençtigt, der es immer nur kurzfristig gestattet, in den Fluss der Wahrnehmungsgehalte einzugreifen und bestimmte Vorstellungen zu fixieren. „Die Aufmerksamkeit“, mutmaßt Thodule Ribot, ist […] ein abnormer, ein Ausnahmezustand, der nicht lange dauern kann, weil er in Widerspruch mit der Grundbedingung des physischen Lebens steht, dem We c h s e l . Die Aufmerksamkeit ist ein fester Zustand. […] Wenn wir vom gewçhnlichen Zustande zum Zustande der sinnlichen Aufmerksamkeit […] bergehen, so tritt eine Vermehrung der Arbeitsleistung ein. Der durch […] geistiges Arbeiten beranstrengte Mensch oder der tagsber dem Schlafe Verfallende […], kurz alle Erschçpften, sind keiner Aufmerksamkeit fhig, weil sie, wie jede andere Form von Arbeit, ein Reservekapital, das verausgabt werden k a n n , erfordert. Beim Uebergang vom Zustande der Zerstreuung zu dem der Aufmerksamkeit findet somit Umwandlung der Spannungskraft in lebendige Energie, potentielle Energie in Tatkraft statt.87

Man hat es hier, in dieser Normalisierung von Aufmerksamkeitsdefiziten, mit einer grundstzlichen Neufundierung des Wahrnehmungsfeldes im ausgehenden 19. Jahrhundert zu tun; weder das Sehen, das zu dieser Zeit, zumal im Zuge seiner neuartigen photographischen ,Aufrstungen’, den zentralen epistemischen Modus des Weltkontaktes garantiert, noch das Wahrnehmen im Ganzen beruht noch auf angestammten ,analogischen‘ oder ,zentrierenden‘ Weisen der Reprsentation.88 Und mçgen auch die zahlreichen Willenslehren vom energetischen Phantasma einer regenerationsfhigen und geradezu vergesellschaftungsfhigen Willenskraft zehren – sie verdecken, dass im Gegensatz zu allen lteren „Einheitsvorstellungen“89 des Bewussteins ,Bewusstsein‘ nicht mehr lnger transzendental garantiert ist und daher konstitutiv auf Momente der Zerstreuung, der sensomotorischen Mobilitt und der endemischen Unordnung verwiesen ist. 87 Ebd., 6 bzw. 90. Vgl. auch Hermann von Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik. Bd. 3, Hamburg, Leipzig 1909 – 1911, 406: „Der natrliche ungezwngte Zustand unserer Aufmerksamkeit ist herumzuschweifen zu immer neuen Dingen, und sowie das Interesse eines Objekts erschçpft ist […], so geht sie wider unseren Willen auf anderes ber.“ 88 Vgl. zur Modernisierung von Wahrnehmung und Sehen im 19. Jahrhundert die Studien von Crary: Aufmerksamkeit und ders.: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Anne Vonderstein, Dresden, Basel 1996. 89 Gerling: Die Gymnastik des Willens [1905], 110.

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Vor diesem Hintergrund ist es kein Ausdruck systematischer Unschrfe, dass Assoziationspsychologen im 19. Jahrhundert einen doppelten Begriff der Zerstreuung kennen. Zerstreut – „distraits“, wie der deutsche bersetzerkommentar von Ribots Psychologie der Aufmerksamkeit vermerkt90 – zielt zunchst auf eine Form der Konzentration, die den „in eine Idee vçllig versunkenen […], a b g e z o g e n e n “ und „abgelenkten“91 Menschen kennzeichnet. Ihm gegenber leiden die „vom Latein. distrahere und dissipare“ abgeleiteten „Zerstreuten“ – die „distraitsdissip“ – an dem „fortwhrende[n] Ueberspringen von einer Idee zur anderen“.92 Allerdings handelt es sich nur vordergrndig um Gegenstze; beide Zerstreuungsformen finden ihre Einheit in dem entropischen Verlaufssinn, der sie fundiert: im ersten Fall, der sich dem Symptomstand der „,f i x e n I d e e ’ “93 nhert, durch eine „H y p e r t r o p h i e d e r A u f m e r k s a m k e i t “94, der gewçhnlich Zustnde mentaler „Ermdung“ und „functionelle[r] Unttigkeit“95 folgen; im zweiten Fall durch eine „A t r o p h i e d e r A u f m e r k s a m k e i t “96, die in der Motorik ihrer flchtigen Assoziationsttigkeit ber keinerlei synthetische Leistungen mehr verfgt. In welchem Maße all diese Entwicklungen nicht nur im Begriff des Willens zusammengefhrt werden kçnnen, sondern zudem in sthetische Sachverhalte berschreibbar sind, dokumentieren Standardwerke wie Ribots Maladies de la volont. Bezeichnenderweise werden die an Symptomen reichen „Zersetzungen“ und „Anomalieen“97 des Willens an jenen „Schwchungen der willkrlichen Aufmerksamkeit“ exemplifiziert, mit denen die literarische Romantik und insbesondere der romantische Autor Coleridge im 19. Jahrhundert Epoche macht. Wie in einer riesenhaft vergrçßerten Allegorie fgen sich Autor, Leben und Werk in die Spur eines Leidens, das alle Lebensußerungen zur Manifestation der Willensschwche gestaltet: Kein Mensch seiner Zeit […] hat in hçherem Grade als Coleridge scharfes philosophisches Denken mit dichterischer Phantasie und seherischer Inspiration vereinigt. […] Und doch [… [war] der Grundfehler seines Charakters 90 91 92 93 94 95 96 97

Ribot: Die Psychologie der Aufmerksamkeit [1887], 98. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. 102 ff. Ebd., 100. Ebd., 90. Ebd., 101. Ribot: Der Wille [1893], 1.

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der […], daß er nicht den Willen besaß, seine Anlagen nutzbar zu machen. Es ging so weit, daß er, obgleich ihm fortwhrend zahlreiche und riesenhafte Plne vor der Seele schwebten, niemals den ernstlichen Versuch gemacht hat, auch nur einen derselben zur Ausfhrung zu bringen. […] Die Abfassung seines poetischen Bruchstcks Kubla Khan […] lßt sich als ein typisches Beispiel fr automatische Geistesarbeit anfhren. Er war mit Lektre beschftigt und schlief darber ein. Beim Erwachen fhlte er, daß er […] nicht weniger als zwei- oder dreihundert Verse gedichtet hatte, welche er nur noch niederzuschreiben brauchte. […] Es umfaßt dieses eigentmliche Bruchstck […] im ganzen 54 Verse, welche Coleridge nach dem Erwachen in fliegender Eile niedergeschrieben hat. […] Seine Unterhaltung strçmte von Gedanken und Worten fçrmlich ber […]. Dazu bewegte sich seine Rede […] in unentwirrbarem Laufe nach allen Seiten […]. Mit Schrecken bemerkte man, daß seiner Gedankenentwicklung jedes Ziel fehlte, und daß sie hufig sogar der bloßen Verstndlichkeit entbehrte […]. […] Das Individuum fhlt sich in einem derartigen Rausche der Ideen gleichsam berflutet, und seine Sprache ist nicht im stande, der Schnelligkeit des Gedankens zu folgen […].98

Es gehçrt zur tief verankerten Romantik solcher literarischen Hagiographien, die dem wissenschaftlichen Zeitalter vom Triumph und Scheitern ihrer Autoren berichten, dass noch in der erloschenen Produktivitt der Dichter ein eigentliches Genie erkennbar wird. Allerdings handelt es sich um eine „automatische Geistesarbeit“99, die nur mehr „zusammenhangslose[ ]“100 Zeichenfolgen realisiert, weil die „Schnelligkeit“101 des Assoziationsvorgangs die Signifikation bzw. Materialisierung in einem Zeichenkçrper laufend von seinem ,rasenden‘ Sinn abtrennt. Im Blick Ribots tritt ein Trmmerfeld des Sinns hervor, in dem berflle und Entleerung, Rausch und Richtungslosigkeit der Sinnbildung eine Zsur zwischen Signifikant und Signifikat treiben. Coleridge ist damit nur der epochal berdehnte Name fr all jene Zusammenbrche der symbolischen Ordnung, die die Willensschwche der Literatur im ausgehenden 19. Jahrhundert bereitet.102 98 99 100 101 102

Ebd., 81 ff. bzw. 85. Ebd., 81. Ebd. Ebd., 85. Vgl. zum Zusammenhang von Entropie und Literatur die berwiegend nichtgermanistische Forschung: Zbigniew Lewicki: The bang and the wimper. Apocalypse and Entropy in American Literature, Westport CT 1984; Patrick McCarthy: ,Heart of Darkness’ and the early Novels of H.G. Wells. Evolution, Anarchy, Entropy. In: Journal of Modern Literature 13 (1986), 37 – 60; Peter Andrew Smith: Entropy in Melville’s ,Bartelby the Scrivener’. In: Centennial Review 32 (1988), 155 – 162; Rainer Goldt: Thermodynamik als Textem. Der

2. „Disgregation des Willens“

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2. „Disgregation des Willens“. Das Sekundr-Werden der Texte und die Hermeneutik der Anempfindung (Nietzsche, Hofmannsthal, Jens Peter Jacobsen) Seit Nietzsche ist die literarische dcadence eine Frage des Willens und seiner geschwchten Energien. „Womit“, heißt es im Fall Wagner von 1888, kennzeichnet sich jede l i t e r a r i s c h e d  c a d e n c e ? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souvern und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift ber und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichnis fr jeden Stil der d  c a d e n c e : jedesmal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens […].103

Es geht an dieser Stelle nicht um eine weitere Rekonstruktion der literarischen dcadence. Entsprechende Studien kçnnen sich auf eine reiche Forschung mit kanonischen Autoren und gesicherten Rezeptionswegen beziehen, zumal mit den Arbeiten von Roger Bauer und Dieter Kafitz Nietzsches Anteile an Sache und Begriff der dcadence weitgehend geklrt sind.104 Bekanntlich handelt es sich bei Nietzsches epochaler Bestimmung um eine Paraphrase von entsprechenden berlegungen, die Nietzsche Entropiesatz als poetologische Chiffre bei E.I. Zamjatin, Mainz 1995; Peter Freese: From Apocalypse to Entropy and beyond. The Second Law of Thermodynamics in Post-War American Fiction, Essen 1997; Marion Muirhead: Corruption becomes itself Corrupt. Entropy in Dracula. In: Elizabeth Miller (Hg.): Dracula: The Shade and the Shadow. A critical Anthology, Essex UK 1998. Ausnahmen bilden Arlene Akiko Terraoka: The Silence of Entropy on Universal Discourse. The Postmodernist Poetic of Heiner Mller, New York, Bern 1983 und Christian Kassung: EntropieGeschichten. Robert Musils ,Der Mann ohne Eigenschaften’ im Diskurs der modernen Physik, Mnchen 2001. 103 Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888]. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6, Berlin, New York 1980, 9 – 54, 27. 104 Roger Bauer: ,Dcadence’ bei Nietzsche. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Literary Theory and Criticism. Festschrift presented to Ren Wellek in Honor of his Eightieth Birthday. Part I: Theory. Edited by Joseph P. Strelka, Bern, Frankfurt/M, New York 1984, 35 – 68; Dieter Kafitz: Einfhrung des Herausgebers. In: Ders. (Hg.): Dekadenz in Deutschland. Beitrge zur Erforschung der Romanliteratur um die Jahrhundertwende, Frankfurt/M., Bern, New York 1987, 7 – 38; ders.: Dcadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2004; Anette Horn: Nietzsches Begriff der ,dcadence’. Kritik und Analyse der Moderne, Frankfurt/M., Berlin, Bern u. a. 2000.

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V. Verlçschende Form

Paul Bourgets 1883 erschienenen Essais de Psychologie Contemporaine entnommen hatte. In ihnen findet sich eine an Charles Baudelaire abgelesene thorie de la dcadence, die Nietzsche auf Wagner zunchst nur berschreibt.105 Nietzsches Beschftigung mit Bourget geht – wie Nachlassfragmente belegen – auf den Winter 1883/84 zurck;106 von hier empfngt Nietzsche auch wichtige Hinweise auf Baudelaire, den er seit dem Frhjahr 1885 rezipiert und diagnostisch, d. h. mit Blick auf bestimmte Stilphnomene der dcadence, zunehmend in Analogie zu Wagner setzt.107 Ebenfalls Forschungskonsens ist der Umstand, dass Nietzsches an Bourget angelehnte Bestimmung der dcadence einen doppelten Sinn besitzt.108 Zunchst ist dcadence – analog zu Bourget und zur Begriffstradition – im Sinne eines kulturellen Niedergangs zu verstehen, der bei Bourget im Kontext eines physiologischen Sozialkonzepts steht und der den Prozess der dcadence aus der inneren Dekompositionen des sozialen organisme herleitet.109 Die zweite, im engeren Sinne stilsthetische Bestimmung des Begriffs geht nachweislich strker auf Baudelaire als auf Bourget zurck; einschlgig ist hierfr ein viel zitierter 105 Vgl. Paul Bourget: Psychologische Abhandlungen ber zeitgençssische Schriftsteller. bers. von H. Rçhler, Minden/Westf. 1903, 21. Der Passus lautet im Original: „Un style de dcadence est celui o l’unit du livre se dcompose pour laisser la place l’indpedance de la page, o la page se dcompose por laisser la place l’indpedance de la phrase, et la phrase pour laisser la place l’indpedance du mot.“ Paul Bourget: Œuvres Compl tes. Critique I. Essais de psychologie contemporaine, Paris 1899, 15 f. – Zu Nietzsches Verwendung des dcadence-Begriffs im Vorfeld des Fall Wagner vgl. Kafitz: Dcadence in Deutschland, 69 ff. Auch die Verknpfung von Wagners Musik und dcadenceDiagnose in den Termini Bourgets reicht vor das Jahr 1888 zurck. In einem Brief an Carl Fuchs heißt es im April 1886 ber Wagners Tristan: „Der Theil wird Herr ber das Ganze, die Phrase ber die Melodie, der Augenblick ber die Zeit […], das Pathos ber das Ethos […] – man sieht das Einzelne viel zu scharf, man sieht das Ganze viel zu stumpf […]. Das aber ist dcadence.“ Friedrich Nietzsche: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 3. Abtlg. Bd. 3: Briefe Januar 1885 bis Dezember 1886, 2., durchges. Aufl. Mnchen 1988, 176 – 179, 177. 106 „Stil des Verfalls bei Wa g n e r : die einzelne We n d u n g wird s o u v e r  n , die Unterordnung und Einordnung wird zufllig. Bourget p 25.“ Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Juli 1882 – Herbst 1885. 1. Teil: Juli 1882 bis Winter 1883/84. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 10., 2., durchges. Aufl. Mnchen 1988, 646. 107 Vgl. Kafitz: Dcadence in Deutschland, 75 f. 108 Vgl. Ebd., 69 ff.; Erhart: Familienmnner, 255. 109 Vgl. Ebd., 256.

2. „Disgregation des Willens“

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Brief Nietzsches an Heinrich Kçselitz vom Februar 1888, wo im Kontext der „unschtzbaren Psychologicis der dcadence“ davon die Rede ist, dass Baudelaire am „[i]nnerlichsten Wagnerisch“ sei und seine Lyrik Spuren „Wagnerscher Sensibilitt“ enthalte.110 Die Strahlkraft des dcadence-Begriffs hat weitgehend in den Hintergrund treten lassen, was Nietzsches Bourget-Paraphrase seinem Referenztext hinzufgt. Mçglicherweise hngt dies mit der von Walter Erhart monierten Zurckhaltung der Forschung gegenber den „wissenschaftsgeschichtlichen und medizinischen Grundlagen der dcadence“111 zusammen, die gegenber den kulturtypologischen Implikationen des Begriffs vergleichsweise wenig erforscht sind. Eine genauere Lektre der fraglichen Bestimmung lsst zwei Aufflligkeiten erkennen. Zum einen Charakteristika des dekadenten Stils, die auf unterschiedlichen Textniveaus, textlinguistisch gesprochen: auf Satz- und Textebene angesiedelt sind. So wie der dekadente Stil „Wort“, „Satz“ und „Seite“112 aus ihrem syntagmatischen Nebeneinander lçst und Lcken in der Linearitt des Textes erzeugt, so bricht er die werkimmanente Hierarchie der Gestaltmomente zugunsten von Teilen auf, die das „organische[]“113 Ganze dominieren; insofern besitzt der dekadente Text eine horizontal-syntagmatische und eine vertikal-hierarchische Dimension. Zum anderen schließt die Passage ausdrcklich mit einem aus Nietzsches Referenztext nicht herleitbarem „Gleichnis“.114 Gegenstand dieses Gleichnisses ist das thermodynamische Konzept der „Disgregation“, dessen Metaphorisierung darauf zielt, Willensschwche und Texteigenschaften der dcadence in ein analoges Verhltnis zu setzen. Die Disgregations-Metapher kehrt in Nietzsches Werk mehrfach wieder, zumal gehuft zum Zeitpunkt der Abfassung des Falls Wagner. In der 1889 erschienenen Gçtzen-Dmmerung begegnet der Begriff zweimal; zunchst, im Abschnitt ber Die vier großen Irrtmer, im Kontext der 110 Friedrich Nietzsche: Smtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 8: Januar 1887 – Januar 1889. Nachtrge, Gesamtregister, 2., durchges. Aufl. Mnchen 1988, 262 – 265, 263 [an Heinrich Kçselitz, 26. 2. 1888]. Vgl. Karl Pestalozzi: Nietzsches Baudelaire-Rezeption. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung 7 (1978), 158 – 178. 111 Erhart: Familienmnner, 255, Anm. 8. 112 Nietzsche: Der Fall Wagner [1888], 27. 113 Ebd. 114 Ebd.

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V. Verlçschende Form

„Instinkt-Entartung“, die der „Disgregation des Willens“115 entspricht; sodann in den Streifzgen eines Unzeitgemßen im Rahmen eines Aphorismus zur „Kritik der dcadence-Moral“, in dem von der „Disgregation der Instinkte“116 die Rede ist. In den Nachlassfragmenten der 80er Jahre verhlt es sich hnlich; in einer Notiz unter dem Titel „Schwche des Willens“ vermerkt Nietzsche die „Vielheit und Disgregation der Antriebe“117, whrend eine sptere Aufzeichnung die „Disgregation des Willens“ analog zum Fall Wagner unter die „[a]llgemeinen Typen der dcadence“118 rechnet. Das Geflecht der Begriffe – Willensschwche, Instinktverlust, Entartung, Antriebshemmung – lsst sich leicht zu immer anderen und doch hnlichen Ansichten der dcadence zusammenfgen. Allerdings besitzen die begrifflichen Beziehungen ber das eigentmliche Rotieren des semantischen Feldes hinaus einen systematischen Kern. Denn das gesamte begriffliche Spektrum ist auf ein Konzept hin organisiert, das durch die Metapher von der „Disgregation des Willens“ hindurch das Fortwirken eines thermodynamischen Referenzwissens belegt. Seinem Ursprungssinn nach bezeichnet der Begriff „Disgregation“, so wie er von Rudolf Clausius im Zusammenhang mit der Begrndung des zweiten thermodynamischen Hauptsatzes verwendet wurde, Molekularvernderungen, die aus den dissipativen Eigenschaften von Wrmezuwchsen resultieren: Die Wrme, welche sich in den Kçrpern befindet, hat das Bestreben, den Zustand der Kçrper zu ndern. Sie sucht die Kçrper auszudehnen, feste Kçrper flssig und luftfçrmig zu machen und […] chemische Verbindungen in ihre Elemente zu zerlegen. In allen diesen Fllen besteht die Wirkung der Wrme darin, den zwischen den Moleklen oder Atomen bestehenden Zusammenhang zu lockern oder vollstndig zu lçsen, und solche Molekle, die schon in keinem Zusammenhange mehr stehen, noch mçglichst weit von 115 Friedrich Nietzsche: Gçtzen-Dmmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert [1889]. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6, Berlin, New York 1980, 55 – 161, 90. 116 Ebd., 134. 117 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 – Anfang Januar 1889. 2. Teil: November 1887 – Anfang Januar 1889. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 13, Mnchen 1980, 394. 118 Ebd., 527. – Zum Begriff vgl. auch Bauer: ,Dcadence’ bei Nietzsche, 43; Werner Hamacher: ,Disgregation des Willens’. Nietzsche ber Individuum und Individualismus. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung 15 (1986), 306 – 336, 323 f.

2. „Disgregation des Willens“

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einander zu entfernen. Um dieses kurz ausdrcken zu kçnnen, habe ich eine Grçße eingefhrt, welche angiebt, wie weit bei einem Kçrper diese von der Wrme angestrebte Trennung und Entfernung seiner kleinsten Bestandtheile schon vollzogen ist, und welche ich die Disgregation des Kçrpers genannt habe.119

„Disgregation des Kçrpers“ und Entropie sind in gewisser Hinsicht Wechselbegriffe; zumindest dort, wo – wie Clausius betont – die „Gesammtdisgregation eine mçglichst große ist.“120 Genau besehen aber erfolgt die Interpretation der Entropie durch die Disgregationsfunktion, da die Disgregation den eigentlichen Phnomenkern der Entropie – die Molekularzerteilung, die zur Umwandlungen von Wrme in Arbeit fhrt – ausdrckt.121 Aus diesem Grund besitzt der Disgregationsbegriff eine doppelte Tendenz. In einem allgemeinen Sinne verweist er auf die thermodynamische Einsicht, dass Wrme den molekularen Zusammenhang von Kçrpern lockert und auflçst. „Die Wirkung der Wrme“, so Clausius, „geht […] immer dahin, den unter den Moleclen stattfindenden Zusammenhang zu vermindern, und wenn dieser gelçst ist, die mittleren Entfernungen der Molecle zu vergrçßern.“122 Zum anderen impliziert der Disgregationsbegriff, dass sich die molekulare Dissipation gegen diejenigen „Krfte“ durchsetzen muss, „mit welchen die Molekle sich wechselseitig anziehen“123 ; Disgregation zielt damit auf Zustnde endemischer Unordnung, in denen der „ursprnglich[e]“124 Zusammenhalt der „kleinsten Theilchen“ in eine andere „Anordnung“125 versetzt ist. 119 Clausius: ber den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wrmetheorie [1867], 4. Vgl. auch ders.: Ueber die Bestimmung der Disgregation eines Kçrpers und die wahre Wrmequalitt [1865]. In: Annalen der Physik und Chemie 127 (1866), 477 – 483, 477, wo „Disgregation“ als die „Gesammtarbeit“ bestimmt wird, „welche die Wrme thun kann, wenn Anordnungsnderungen bei verschiedenen Temperaturen stattfinden.“ Vgl. auch ders.: ber verschiedene fr die Anwendung bequeme Formen der Hauptgleichungen der mechanischen Wrmetheorie [1865], 388 f. 120 Clausius: ber den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wrmetheorie [1867], 16. 121 Vgl. Hutchinson: Der Ursprung der Entropiefunktion bei Rankine und Clausius, 359. 122 Rudolf Clausius: Ueber die Anwendung des Satzes von der Aequivalenz der Verwandlungen auf die innere Arbeit. In: Annalen der Physik und Chemie 26 (1862), 73 – 112, 74. 123 Clausius: ber den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wrmetheorie [1867], 4. 124 Ebd., 5. 125 Ebd.

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V. Verlçschende Form

Entropisch sind diese Prozesse, weil der Zuwachs der Disgregation fortlaufend „positiven Verwandelungen“126 entspricht und damit zeitlich irreversibel verluft.127 Die kulturellen Deutungsmçglichkeiten dieser Verlaufslogik liegen auf der Hand. Wer, wie Nietzsche, von der „Disgregation des Willens“ spricht, operiert auf der Grundlage eines zur Metapher verdichteten Entropiediskurses. Er zielt darauf, zunchst analoge Strukturverluste an molekularen wie textuellen Sachverhalten dingfest zu machen, um sie in einem zweiten Schritt mit dem Gewicht einer epochalen Instabilitt auszustatten, die die gesamte Dekadenzkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts brandmarkt. Darin verbindet der Text das Prinzip der Metapher mit dem der Metonymie. Denn zunchst wirkt in der sthetischen Diagnose, die der Fall Wagner vorantreibt, eine hnlichkeitsrelation, die den thermodynamischen Bildspender auf all die Diskontinuitten und ,Risse‘ in der Zeichenordnung bertrgt, die die dcadence als kardinalen Nicht-Stil kennzeichnen sollen. In ihm tritt das Ganze zugunsten von Teilen und „kleinsten Gebilden“128 zurck, um sich einer Rhetorik der multiplicatio, der Hufungen, Wiederholungen und „Verdopplungen“129 dieser Teile zu berlassen, die keine Referenz auf das Ganze des sthetischen Organismus mehr besitzen sollen und doch insofern ,bedeuten’, als sie in ihrer Vereinzelung fortwhrend den Verlust des „Ganzen“ bezeugen. In dieser Hinsicht ist der Fall Wagner, wohl nicht zuletzt im Gefolge seiner nur schwer zu kontrollierenden thermodynamischen Metaphorik, um eine prekre Semiotik herum organisiert, die auf verschwiegene Weise teilt, wovon der Text spricht, weil die vermeintlich entleerten Signifikanten dennoch immer dort wie Signifikanten auftreten, wo sie das „Stckwerk“130 der sthetischen „Disgregation“ ,zeigen‘ und zum eigentlichen Sinn des „Artefakt[s]“131 hypostasieren. 126 Ebd., 16. Vgl. Ebd., 5. 127 Vgl. Wilhelm Wundt: Grundzge der physiologischen Psychologie [1874]. Bd. 1. Mit 161 Figuren im Text sowie Sach- und Namenregister, 6., umgearb. Aufl. Leipzig 1908, 95: „Bekanntlich dehnen sich alle Kçrper, am meisten die Gase, weniger die Flssigkeiten und festen Kçrper, unter dem Einfluß der Wrme aus. […] Die so geleistete Arbeit hat man als D i s g r e g a t i o n sarbeit bezeichnet. […] Disgregation nennen wir stets die bleibenden Distanznderungen der Molekle, aus welcher Ursache diese auch eintreten mçgen.“ (m. Hervorhg.) 128 Nietzsche: Der Fall Wagner [1888], 27. 129 Ebd., 35. 130 Ebd. 131 Ebd., 27.

2. „Disgregation des Willens“

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Auch die Zeichen der Ermdung sind nicht referenzlos, sondern referieren, ber die Abwesenheit des ,vitalen‘ und ,ganzen‘ Zeichenkçrpers hinweg, auf eben diesen Verlust. In der Konsequenz dieser Verdinglichung einer eigentlich entleerten, aber eben doch bedeutenden sthetischen Struktur, die unablssig die „Unfhigkeit zum organischen Gestalten“ durch ihre ,blinden‘ „Atome“132 hindurch bezeugt, liegt es beschlossen, dass sich der dekadente Text schließlich wie eine Metonymie der Gesamtkultur verhlt, weil sich beide Nicht-Ordnungen durch dasselbe nivellierende Prinzip der Stil- und Bindungslosigkeit hindurch berhren: Victor Hugo und Richard Wagner – sie bedeuten Ein und Dasselbe: dass in Niedergangs-Culturen, dass berall, wo den Massen die Entscheidung in die Hnde fllt, die Echtheit berflssig, nachtheilig, zurcksetzend wird. Nur der Schauspieler weckt noch die g r o ß e Begeisterung. […] Es ist voll tiefer Bedeutung, dass die Heraufkunft Wagners zeitlich mit der Heraufkunft des ,Reichs‘ zusammenfllt: beide Thatsachen beweisen ein und dasselbe […].133

Man kann diesen polemischen Befund in das reichhaltige zeitdiagnostische Material berstellen, mit dem das 19. Jahrhundert Wagner- und Dekadenzkritik immer aufs Neue verknpft hat.134 Es bleibt allerdings die Frage, ob sich an Texten wie Nietzsches Fall Wagner nicht Analysen und Befunde mit grçßerem systematischen Anspruch verfolgen lassen, die fr die Zusammenhnge zwischen Literatur und Entropiefiguren um 1900 aufschlussreich sind. Erste Hinweise kçnnten sich in dem uferlosen Hysteriediskurs des Textes verbergen.135 Bekanntlich stellt die Hysterie nicht nur eine Hauptpathologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar, sie umgibt den hysterisch Kranken auch mit dem Verdacht, er produziere lediglich eine theatralische ,Haltung’, die jedes beliebige Krankheitsbild nachahmt; insofern ist der „Hysterismus“ Name fr eine ubiquitre mimetische Potenz, die fremde Erfahrungen als eigene nachbildet.136 132 Ebd. 133 Ebd., 37 f. 134 Vgl. Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europischen Literatur des Fin de si cle, Berlin, New York 1973. 135 Vgl. den detaillierten Kommentar bei Thom: Autonomes Ich und ,Inneres Ausland’, 210 ff. 136 Vgl. aus der tendenziell unberschaubar gewordenen Forschung Lucien Isra l: Die unerhçrte Botschaft der Hysterie, 2., verbess. Aufl. Mnchen 1987, 58 ff.; Franziska Lamott: Die vermessene Frau. Hysterien um 1900, Mnchen 2001, 57 ff.

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V. Verlçschende Form

Wenn Nietzsche Wagner polemisch zum „Schauspieler“137, zum histrio, erklrt, dann dient diese Herabminderung dazu, an Wagners musikalischer Rhetorik ein umfassendes Blendwerk von Lge, Simulation und ,proteischer‘ Verkleidung namhaft zu machen: Ich stelle diesen Gesichtspunkt voran: Wagner’s Musik ist krank. Die Probleme, die er auf die Bhne bringt – lauter Hysteriker-Probleme –, das Convulsivische seines Affekts, seine berreizte Sensibilitt […]; seine Instabilitt, die er zu Prinzipien verkleidete […]: Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lsst: Wa g n e r e s t u n e n  v r o s e . Nichts ist vielleicht heute besser bekannt, nichts jedenfalls besser studiert als der Proteus-Charakter der Degenerescenz, der sich hier als Kunst und Knstler verpuppt. […] Der letztere […] kme vielleicht mit dieser Formel zu einem vorlufigen Ausdruck: der Musiker wird jetzt zum Schauspieler, seine Kunst entwickelt sich immer mehr als ein Talent zu l  g e n . Ich werde eine Gelegenheit haben […], des nheren zu zeigen, wie diese Gesammtverwandlung der Kunst in’s Schauspielerische […] ein Ausdruck physiologischer Degenerescenz (genauer, eine Form des Hysterismus) ist […].138

Nichts gibt es in Wagners musikalischer Rede, was in diesem Sinne nicht anverwandelt und anempfunden wre; alles, noch die „Erfindung des Kleinsten“ und die „Ausdichtung des Dtails“139, folgt jener großen „Gesamtverwandlung der Kunst ins Schauspielerische“140, die an die Stelle der Empfindung das „Prinzip“141 und dort, wo einmal die „Exuberanz des Lebens“142 beheimatet war, die „Erschçpfung“143 setzt. Allerdings ist dieser obsessive, „Hysterismus“144, Lge und Schauspiel mit einbeschließende Rhetorik-Verdacht seinerseits zutiefst rhetorisch. Auch in dieser Hinsicht rhrt der Text an Implikationen, die sein eigenes argumentatives Fundament betreffen. Denn so wie Wagner im großen Hysterismus seiner Musik vorgibt, was sie nicht ist, so ist auch Nietzsches Text, vor allem in den zentralen Befunden seiner sthetischen Diagnostik, selbst Ergebnis einer textuellen Anverwandlung – einer Anverwandlung, die auf einer einschlgigen Bourget-Lektre und damit auf der intimen

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Nietzsche: Der Fall Wagner [1888], 29. Ebd., 22 f. bzw. 26 f. Ebd., 28. Ebd., 26. Ebd. Ebd., 27. Ebd., 22. Ebd., 27.

2. „Disgregation des Willens“

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Kenntnis einer fremden textuellen Erfahrung beruht.145 Fasst man das Problem strker systematisch, so hat man es mit einer zeittypischen Relation zwischen bestimmten, ,nach-empfindenden‘ Rezeptionsformen innerhalb intertextueller Beziehungen und dem in ihnen artikulierten Sachverhalt zu tun. Offenbar ist die nietzscheanische Figur der „Disgregation des Willens“ eine Art ,Gleichnisrede‘ fr ein um 1900 spezifisches Sekundr-Werden von Texten, die in der Form, wie sie sich auf Vorgngertexte beziehen und ihre Erfahrungen und Inhalte in ,eigene‘ transformieren, Figurationen des Entropischen nachbilden. Nietzsches viel zitierte Selbstbezichtigung, „so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit“ und insofern selbst „ein dcadent“146 zu sein, markiert vor diesem Hintergrund nichts anderes, als die Figur der Entropie in der Form einer epochalen Ermdung von originren textuellen Erfahrungen nachzubilden, die die eigenen diskursiven Voraussetzungen in Mitleidenschaft zieht. Wie sehr sich dieses Moment der ,Anempfindung‘, zumal in seiner Verschwisterung mit dem Dilettantismus-Problem,147 zu einer epochalen Konstellation verdichtet, ist der Forschung vertraut, nicht aber, in welchem Maße das gesamte Syndrom auf einer entropischen Referenzbasis ruht. Der Zusammenhang lsst sich entsprechend an einem Autor nachweisen, dessen essayistisches und dramatisches Frhwerk ganz im Zeichen der Willensproblematik steht. Auch Hugo von Hofmannsthal zhlt zu den Bourget-Lesern der ersten Stunde, und auch Hofmannsthal bildet eine Reihe seiner frhen Texte – zu denken wre an die Essays ber Henri-Frdric Amiel (1891), Henrik Ibsen (1892), Hermann Bahr (1891), Maurice Barr s (1891) und Gabriele d’Annunzio (1893) – intensiven Bourget-Lektren nach. Auf die Details der entsprechenden intertextuellen Parallelen kann hier verzichtet werden, da sie – zumindest im Blick auf den Amiel-Essay – verlsslich erforscht sind.148 Festzuhalten 145 Die Nhe zu Bourget ist schon von den Zeitgenossen kritisch vermerkt worden. Vgl. etwa Wilhelm Weigand: Friedrich Nietzsche. Ein psychologischer Versuch, Mnchen 1893, 67 und – mit explizitem Vorwurf, Bourget plagiiert zu haben – Curt von Westernhagen: Richard Wagner: Sein Werk, sein Wesen, seine Welt, Zrich 1956. Vgl. dazu Koppen: Dekadenter Wagnerismus, 323. 146 Nietzsche: Der Fall Wagner [1888], 11. 147 Vgl. nur Guri Ellen Barstad/Marie-Theres Federhofer (Hg.): Dilettant, Dandy und Dcadent, Hannover 2004. 148 Vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus: Der Tod des ,Dilettanten’ – ber Hofmannsthal und Paul Bourget. In: Aufstieg und Krise der Vernunft. Komparatistische Studien zur Literatur der Aufklrung. Hg. von Michael Rçssner und Birgit Wagner, Wien 1984, 181 – 195; Srdan Bogoslajevic´ : Der Amiel-Aufsatz. Zum Dilettantismus- und Dcadence-Begriff des jungen Hofmannsthal. In: Hofmannsthal-

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V. Verlçschende Form

bleibt, dass sich im Falle Hofmannsthals eine Konstellation wiederholt, die – hnlich wie schon bei Nietzsche – die explikative Schicht der Texte mit ihrem eigenen anverwandelnden Diskursstatus verkoppelt und auf diesem Weg ein entropisches Schrift- und Kultursystem ausbildet. Insofern ist der Hinweis von Ulrich Schulz-Buschhaus, dass Hofmannsthals „Abrechnung“ mit dem an Amiel abgelesenen „,Anempfindungsvermçgen‘ […] selber auf die Hilfen durchaus eklektischer Leseerfahrungen angewiesen ist“149, fr die Zeit um 1900 systematisch zu vergrçßern – was auch bedeutet, dass Hofmannsthals Bourget-Anverwandlung, anders wiederum als Schulz-Buschhaus vermutet, gerade kein „Sonderfall einer gewissermaßen integralen Rezeption“150 ist, sondern ein – wenn auch rezeptionsgeschichtlich sicher singulres – Segment einer gegen 1900 neuartigen Ordnung der Anverwandlung von Texten und Diskursen. Wer, wie Hofmannsthal, um 1900 von ,Anempfindung‘ spricht, kann sich auf eine Reihe von begrifflichen Vorleistungen sttzen. Bemerkenswerterweise sind Sache und Begriff der ,Anempfindung‘ schon dem Frhnaturalismus gelufig. 1882 vermerken Heinrich und Julius Hart ber den Erfolgslyriker Albert Trger, dass in „fast allen Gedichten Trgers […] jene A n e m p f i n d u n g [herrscht], welche jeder Selbstndigkeit, jedes eigenen Lebens bar ist […].“151 Im Allgemeinen aber berufen sich wie Autoren wie Nietzsche152 und Hofmannsthal auf Bourget. Dabei

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Forschungen 9 (1987), 208 – 235; Jo lle Stoupy: Hofmannsthals Berhrung mit dem Dilettantismus-Phnomen. Ergnzende Bemerkungen zur Begegnung mit Paul Bourget. In: Ebd., 237 – 264, sowie auf der Grundlage der genannten Beitrge die detaillierten berlegungen bei Cathrine Theodorsen: Leopold Andrians ,Der Garten der Erkenntnis’. ber Dilettantismus, Anempfindung und Nietzsches Metapher vom ,Mßiggnger im Garten des Wissens’. In: Barstad/ Federhofer (Hg.): Dilettant, Dandy und Dcadent, 79 – 150. Schulz-Buschhaus: Der Tod des ,Dilettanten’, 187. Ebd., 188. Heinrich und Julius Hart: Ein Lyriker  la mode. In: Kritische Waffengnge. Mit einer Einfhrung von Mark Boulby. Reprint der Ausgabe 1882 – 1884, New York, London 1969, H. 1 [1882], 52 – 68, 58. Die Bemerkung ist in den wenigen wortgeschichtlichen Zusammenstellungen bislang bersehen worden. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemße Betrachtungen. Zweites Stck: Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben [1872]. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1, Berlin, New York 1980, 248 – 334, 326, wo dem „wissenschaftlich[en] Mensch“ des Historismus ein eminentes „Sensorium fr tausenderlei Anempfindungen“ attestiert wird. 1875 spricht Nietzsche analog von der „Gefahr“ der „Anempfindung“. Vgl. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. 1875 – 1879. In: Ders.: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 8, 2., durchges.

2. „Disgregation des Willens“

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ist der in Frage stehende Referenztext – Bourgets Essay ber den Historiker Ernest Renan – in einen weitlufigen, nicht zuletzt wiederum durch Nietzsche vorangetriebenen Grundvorbehalt eingelassen, der im Frankreich des 19. Jahrhunderts Dilettantismus heißt, aber Historismus meint. Was Bourget an Renans dilettantisme entziffert, sind all die Lhmungen des Lebens, die sich angesichts einer bermchtigen Prsenz der Geschichte und ihrer universellen Verfgbarkeit, die das 19. Jahrhundert vor allem im Pluralismus der historischen Stile anzeigt, eingestellt haben und die an die Stelle der vitalen Gestaltung das anverwandelnde Verstehen setzen. Dilettant zu sein heißt nach Bourget, dem Sinn der historischen Zeugnisse in einer unengagierten, gewissermaßen ironischen Affektmischung aus Hingabe und Distanz, aus Einfhlung und Analyse zu begegnen, um sie ebenso universell zu relativieren wie sich in ihnen wieder zu finden. Wie ein „seltsamer Proteus“ („trange Prote“)153 des Verstehens nomadisiert diese „Seele“ der „tausend Spiegelflchen“ („une

me mille facettes“)154 mitsamt ihrer „Unfhigkeit des Willens“ („l’incapacit de vouloir“)155 durch die historischen Zeichenwelten, zu der sie sich durch Einfhlung und Distanz hindurch in ein sekundres Verhltnis setzt: Whrend er [Renan, I.S.] […] in den geheimnisvollen Sinn sich schroff gegenberstehender Glaubenslehren eindrang, studierte er gleichzeitig fnf oder sechs Literaturen, ebensoviele Philosophieen und alle mçglichen Sitten und Gebruche; denn die Kritik unserer Zeit, welche als Grundsatz aufgestellt hat, daß die ußerungen einer Zeit voneinander abhngig seien, verlangt von uns die Kenntnis aller, wenn wir auch nur fr eine einzige eine Aufl. Mnchen 1988, 84. Zu Hofmannsthals Verwendung des Begriffs vgl. Hugo von Hofmannsthal: ,Die Mutter’ [1891]. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbnden. Bd. 8: Reden und Aufstze I [1891 – 1913]. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/M. 1979, 100 – 105, 102; ders.: Die Menschen in Ibsens Dramen. Eine kritische Studie [1892]. In: Ebd., 149 – 159, 154. Mitunter bersehen wird Hofmannsthals gesprchsweise Erwhnung des Begriffs gegenber Ibsen. Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbnden. Bd. 10: Reden und Aufstze III [1925 – 1929] / Buch der Freunde / Aufzeichnungen [1889 – 1929]. Hg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/ M. 1980, [18. 4. 1891], 327 und weitere, auf das eigene Schreiben gemnzte Aufzeichnungen aus dem Jahr 1891. Vgl. Ebd., 320 [22. 1. 1891], 322 [7. 2. 1891], 324 [21. 3. 1891]. 153 Bourget: Psychologische Abhandlungen ber zeitgençssische Schriftsteller [1903], 55. Vgl. Bourget: Essais de psychologie contemporaine [1899], 45. 154 Ebd. 55 bzw. 45. 155 Ebd., 65, bzw. 51.

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Erklrung haben wollen. Bildet eine solche Geisteserziehung nun eine gengende Rechtfertigung fr den Dilettantismus, zu dem Renan sich gefhrt fand? Wir gehen noch weiter und wagen zu behaupten, daß sein Dilettantismus dem Schriftsteller alle Ehre macht, denn er legt Zeugnis von dem Fortbestehen einer Sensibilitt in ihm ab, welche durch die Menge der Betrachtungen nichts von ihrer Aufnahmefhigkeit [n’a pu lasser] verloren hat […].156

,Anempfindung‘ ist, kurz gesagt, nichts anderes als eine Lektrefigur. Im Zentrum der anverwandelnden Ttigkeit steht ein Lesen und Aufnehmen, dass sich fieberhaft durch die historischen Textmassen hindurcharbeitet und wie in einer Analogie zur gleitenden Semiose der Willensschwche fortwhrend den „Uerbergang zu irgend einer anderen Beziehung“157 vollzieht. Lesen, die „maßlose Gewohnheit“ und „ungeheure Krankheit“, von der Hofmannsthal noch 1902 spricht,158 markiert ein Verhltnis zu Texten, das sich taumelnd durch den fremden Sinn bewegt, um in dem, was die anempfindende Ttigkeit in einer Form passiven Schreibens notiert, nur Spuren und Reflexe des Gelesenen zu hinterlassen: Um so ruheloser, zielloser, unvernnftiger das Lesen unserer Zeit ist, um so merkwrdiger scheint es mir. Wir sind unendlich weit entfernt von dem ruhigen Liebhaber der schçnen Literatur […], dem Romanleser, dem Memoirenleser einer frheren, ruhigeren Zeit. Gerade durch sein Fieberhaftes, durch seine Wahllosigkeit, durch das rastlose Wieder-aus-der-Hand-Legen der Bcher, durch das Whlende, Suchende scheint mir das Lesen in unserer Epoche eine Lebenshandlung, eine des Beachtens werte Haltung, eine Geste.159 156 Bourget: Psychologische Abhandlungen ber zeitgençssische Schriftsteller [1903], 59 f. (m. Hervorhg.). 157 Ebd., 54. 158 Hugo von Hofmannsthal: Der Dichter und diese Zeit. Ein Vortrag [1906]. In: Ders.: Reden und Aufstze I [1891 – 1913], 54 – 81, 60 (m. Hervorhg.). 159 Ebd., 61. Vgl. auch Hugo von Hofmannsthal: Der Tisch mit den Bchern [1905]. In: Ders.: Reden und Aufstze I [1891 – 1913], 337 – 340, 337 ff.: „Hier auf dem Tisch, links und rechts, stauen sich immer Bcher auf. Es ist nicht zu bersehen, wo sie herkommen. […] Sie sind in Krze: berall. Jenes unrealste aller Reiche, unheimlichste aller Phantasmata, die sogenannte Wirklichkeit, ist vollgepfropft mit ihnen. […] man kann heutzutage alles sagen und kann es auf fast alle Arten sagen. Es sind alles durchaus problematische Existenzen unter den Bchern, auch die ltesten sind durch das bloße Beieinanderliegen mit den neuen angesteckt und gleichen, wenn Sie sie jetzt aufschlagen wrden, einem System wahnsinnig durcheinanderkreisender, zu unzhlig vielen rotierenden Trichtern scheinbar verbundener, in Wahrheit zusammenhangloser Gedankenatome.“

2. „Disgregation des Willens“

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Unter der Hand erscheint die Epoche um 1900 damit buchstblich ,erlesen’, und noch Hofmannsthals 1891 notiertes Bekenntnis, dass sich in den Amiel-Aufsatz „alle Ideen“ hineingedrngt htten, „die bei mir gerade flssig sind“160, expliziert nur, was von der diskursiven Fundierung derartiger Selbstaussagen her ohnehin keiner Erluterung mehr bedarf: Sie – wie alle anderen Texte der Anempfindung auch – folgen einem Redesystem, das alle vermeintlichen „Ideen“ nur aus dem Schatten einer ermdeten Anverwandlung hervorzuholen vermag. Insofern verhlt sich die literarische Phnomenologie der Willensschwche, die Hofmannsthal aus dem reichen Fundus seiner Lektrekenntnisse ber den 1881 verstorbenen Henri-Frdric Amiel breitet, wie ein Metakommentar zu den Bedingungen ihrer eigenen textuellen Verwirklichung. Sie trifft denselben Ort, von dem aus sie artikuliert wird. All das jedenfalls, was Hofmannsthal an Amiel entziffert – den „vermorschte[n] Wille[n]“161, die „grenzenlose[] „Aufnahmsfhigkeit“162 und die Anhnglichkeit an fremde „Ideenkreise“163 –, muss lediglich von seinen polemischen Intentionen befreit werden, um den Blick dafr zu schrfen, dass es sich eigentlich um Metaphern fr die Schreibbedingungen des eigenen Textes handelt. Dennoch ist es lohnend, der explikativen Dimension des Amiel-Essays nachzugehen. Denn der Text generiert das gesamte Spektrum der ideellen Einflsse, in deren Horizont Hofmannsthal den „dilettantischen Dichter“164 Amiel stellt, aus einer Grundfigur heraus, die durch die verschiedenen Konstellationen hindurch ein und dieselbe sthetisch-semiotische Erfahrung verfgbar macht: den „Schwindel“ und das „formlose[] Fluidum“ der Zeichen, die sich in der „unendlichen Mannigfaltigkeit der Mçglichkeiten“165 verlieren. Beinahe alle Lebensmomente der Amielschen Biographie verwandelt der Text in eine Allegorie der Willensschwche und der entropischen Form: Schon Amiels Geburtsort Genf ist ein ,entscheidungsloser‘ Zwischenort zwischen Form und Unform, zwischen der „frçhliche[n] Klar160 Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufstze III [1925 – 1929] / Aufzeichnungen, 329. 161 Hugo von Hofmannsthal: Das Tagebuch eines Willenskranken. Henri-Frdric Amiel, ,Fragments d’un journal intime’ [1891]. In: Ders.: Reden und Aufstze I [1891 – 1913], 106 – 117, 114. 162 Ebd., 106. 163 Ebd., 110. 164 Ebd., 108. 165 Ebd., 114.

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heit“ Frankreichs und der „dmmernd[en]“ „Unendlichkeit“166 Deutschlands. In ihrer Sprache – einer „Sprache des Werdens der Dinge, vage, formlos und trumerisch“167 – begegnet Amiel der „Romantik“168 und tritt in Berlin und Heidelberg in „Ideenkreise“ ein, in der die „Worte ihre Bedeutung“ und die „Antithesen […] ihre Starrheit“169 verlieren. Seit dem ist alles im Leben und Werk des „Willenlosen“170 entweder romantisch, d. h. im ewigen Fluss der Bedeutungen, oder aber ein „Saitenspiel“ einer „Proteusgabe“171, die nur „[f ]remde[n] Tçne[n]“172 und „erhaschte[m] Duft“173 nachsprt, weil ihr das „Kçnnen“ und das „Wollen“ zur „Gestaltung“174 fehlt. All das ist, wie Schulz-Buschhaus bemerkt hat, kaum „individuell zurechenbar“175, weil es sich um Topoi einer zur ,Haltung‘ verfestigten, sekundren Texterfahrung handelt. Noch Hofmannsthals Anrufungen von Leben und Tat, wie sie im Ibsen- und mit vitalistischem Pathos im ersten D’Annunzio-Essay ihre Ansprche anmelden,176 bilden lediglich die vitalen Kehrseiten dieser Diskursordnung. Um so mehr muss auffallen, dass smtliche diagnostische Kategorien dieses Diskurses – Dilettantismus, ,Anempfindung’, dcadence, nicht zuletzt: Romantik – auf eine systematisch zu nennende Weise miteinander verbunden werden. Was an der ,Anempfindung‘ psychopathologisch ist – die Willensschwche –, sind Dilettantismus und Formlosigkeit in sthetischer Hinsicht. Und wenn das „formlose Fluidum“ das semiotische ,Gesetz‘ der anempfundenen Texte markiert, dann besitzen sie in der deutschen Romantik einen „Ideenkreis[]“, der ihnen einen historischen Ursprung gibt. „Romantik“, so Hofmannsthal im Bahr-Essay von 1891, „ist ja gar nichts Selbstndiges, sie ist Krankheit der reinen Kunst, wie der Dilettantismus, das Anempfindungsvermçgen, Krankheit des Empfindungsvermçgens 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176

Ebd., 108. Ebd. Ebd., 109. Ebd., 110. Ebd., 117. Ebd., 113. Ebd., 114. Ebd., 113. Ebd., 114. Schulz-Buschhaus: Der Tod des ,Dilettanten’, 182. Vgl. Hofmannsthal: Die Menschen in Ibsens Dramen [1892], 150; ders.: Gabriele D’Annunzio [1893]. In: Ders.: Reden und Aufstze I [1891 – 1913], 174 – 184, 184.

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ist. Und die beiden, Romantik und Dilettantismus, sind immer zusammengegangen.“177 Dass diese Hermeneutik der Anverwandlung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein gesamteuropisches und keinesfalls nur auf prominente Autorenkonstellationen beschrnktes Phnomen ist, belegt eines der rezeptionsgeschichtlich bemerkenswertesten Kapitel der Literaturgeschichte um 1900. 1889 erscheint in einer deutschen Erstausgabe Jens Peter Jacobsens Roman Niels Lyhne. Der Text wird innerhalb krzester Zeit zu etwas, was man ein europisches Ereignis nennen kçnnte, zumal er zu den einschneidenden Leseerlebnissen der jungen Autoren der Jahrhundertwende zhlt; in der Erinnerung Stefan Zweigs ist der Text geradezu ein stilbildendes Werther-Erlebnis der jungen Generation gewesen: „Niels Lyhne, wie glhend, wie leidenschaftlich haben wir in den ersten wachen Jahren der Jugend dieses Buch geliebt; es ist der Werther unserer Generation gewesen. […] Wir haben unsere Gefhle daran geformt und unseren Stil.“178 Inzwischen hat die Forschung eine Flle von Rezeptionszeugnissen versammelt, die hnliches fr Rilke, Hofmannsthal, Hermann Hesse, Thomas Mann oder Leopold Andrian belegen und damit auf eine breite Wahrnehmungsbasis des Textes verweisen, die um 1900 noch den Jugendstil erfasst.179 Allerdings ruht diese Rezeption auf 177 Hofmannsthal: ,Die Mutter’ [1891], 102 (m. Hervorhg.). Zu dieser Typologie des Romantischen wird man noch Carl Schmitts „occasionalistischen“ Romantikbegriff zhlen drfen. Schmitts Occasionalismus zielt auf eine hnliche Form von Strukturverlusten, die das ,Gesetz’ der romantischen Kommunikation in der laufenden „Abschweifung“ (Carl Schmitt: Politische Romantik, Mnchen, Leipzig 21925 [1919], 115) erblickt. Hier wie dort, bei Hofmannsthal wie bei Schmitt, begrndet die Romantik – zumal in ihrer Abkopplung von einer fundierenden „causa“ (Ebd., 123), die sie in das Spiel ihrer Bezglichkeiten hinein nimmt – eine Semiologie der ewigen Verweisungen und Anknpfungen. Welche kulturtypologischen Konsequenzen, die in Hofmannsthals Rede von der deutschromantischen „Unendlichkeit“ (Hofmannsthal: Das Tagebuch eines Willenskranken [1891], 108) vorgeprgt sind, gezogen werden kçnnen, belegt Fritz Strich. Vgl. Fritz Strich: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit [1922], Bern 61965. 178 Stefan Zweig: Jens Peter Jacobsens ,Niels Lyhne’. In: Ders.: Europisches Erbe. Hg. von Richard Friedenthal, Frankfurt/M. 1960, 137 – 147, 137. 179 Vgl. Klaus Bohnen: Nachwort. In: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne. Roman [1889]. Aus dem Dnischen bers. von Marie von Borch, mit Dokumenten zur Entstehungsgeschichte und Rezeption des Romans in Deutschland hg. von Klaus Bohnen, Stuttgart 1984, 256 – 267 und Bengt Algot Sørensen: J.P. Jacobsen und der Jugendstil. Zur Jacobsen-Rezeption in Deutschland und sterreich. In: Orbis litterarum 33 (1978), 253 – 279.

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Vermittlungsleistungen, die dem Roman den Weg nach Deutschland geebnet haben, noch bevor ihn Autoren wie Hofmannsthal oder Rilke haben lesen kçnnen. Tatschlich erklrt sich der Rezeptionserfolg mitsamt seinen enthusiastischen Tonlagen – nach 1889 ist Niels Lyhne im deutschen Sprachraum in mehr als dreißig unterschiedlichen Ausgaben mit jeweils mehreren Auflagen erschienen180 – aus einer Rezeptionsform, die maßgeblich von Kritikern wie Georg Brandes und Theodor Wolff getragen worden ist und die alle Zge der ,Anempfindung‘ besitzt. Epochal ist Jacobsens Roman durch den Umstand, dass seine Hauptfigur zu den zahllosen Willenskranken zhlt, die die Literatur der Jahrhundertwende heimsuchen. Noch in Samuel Lublinskis Bilanz der Moderne erscheint Jacobsens Roman 1904 als „das hochbedeutende Vorbild“ all jener „Helden der Willenlosigkeit“, die den „Typus des neuen und verfeinerten naturalistischen Romans“ prgen.181 Allerdings verlegt Jacobsen das von Lublinski zur Signatur der Gegenwart erhobene Krankheitsbild der Willensschwche182 in eine genealogische Tiefe. Sie trgt jenen Riss in das Kontinuum der Ahnen ein, der beinahe alle degenereszenten Genealogien der Jahrhundertwende prgt.183 Ursprnglich ein „praktisches Geschlecht, welches das Leben nahm, wie es war“, sind die „Bliders“, wie der Erzhler versichert, fest in den „Familientraditionen“184 verankert; „[m]it Bartholine aber“, der jngsten Tochter, war es anders. […] Sie liebte die Verse. In Versen lebte sie; in Versen und an sie glaubte sie beinahe mehr als an alles andere. […]. Genau genommen lag hierin ja eigentlich nichts als das ein wenig krankhafte Verlangen, sich selbst zu fhlen, das Trachten, sich selbst zu finden, das so soft bei einem jungen, mehr als gewçhnlich begabten Mdchen erwacht; das Schlimme aber war, daß sich in ihrer Umgebung keine einzige berlegene Natur befand, an der sie ihre eigene Begabung htte messen kçnnen; […] und daher gelangte sie dahin, sich selbst wie etwas Merkwrdiges, Einziges, wie eine Art tropisches Gewchs zu betrachten, das […] nur kmmerlich seine Bltter zu entfalten vermochte […]. Dann kam eines schçnen Tages einer, der um sie freite. Der junge Lyhne auf Lçnborggaard […] war der letzte mnnliche Sproß eines Geschlechts, das whrend dreier Generationen zu den intelligentesten der Provinz gehçrt hatte. […] Gleichwie diese […] Zge nun schwcher bei dem jungen Lyhne hervortraten, so war auch die Intelligenz in ihm gewisserma180 Vgl. Bohnen: Nachwort, 257. 181 Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne [1904]. Mit einem Nachwort neu hg von Gotthart Wunberg, Tbingen 1974, 105. 182 Vgl. Ebd., 104 f. 183 Vgl. Erhart: Familienmnner, 101 ff. 184 Jacobsen: Niels Lyhne [1889], 3.

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ßen mde geworden […]. Daß sie sich in ihn verliebte, war beinahe selbstverstndlich.185

In dieser Selbstverstndlichkeit, mit der zwei ermdete Seelen zueinander finden, gert der Text in die Nhe gewisser Aporien, in die das naturalistische Determinationsdenken, das in Niels Lyhne von Ferne fortwirkt, unvermeidlich verstrickt ist. Entsprechend fixiert das im Erzhleingang entfaltete genealogische Panorama zwar die Figur und ihr weiteres Schicksal, aber es lçst noch nicht die Frage seiner narrativen Gestaltung. Dass Niels Lyhne als „Kind einer instinktiven Unlust zum Wagnis“ von einer „gewissen lhmenden Besonnenheit ergriffen“186 ist, setzt diese Determination nur durch die auktorialen Kommentare der Erzhlung hindurch fort. Und auch die an Hofmannsthals Amiel-Essay erinnernde Zeichnung des Dilettanten, der ber das „unaufhçrliche Anlaufnehmen zu einem Sprung, der nie gemacht wurde, […] ermattet“187, bleibt zunchst eine auktoriale Beglaubigung, die sich, durch den verfehlten Prometheus-Mythos hindurch, ihrerseits auf die Erklrungskraft des genealogischen Schemas beruft: Dann und wann steigt es mit Schaffensdrang in ihm auf, mit Sehnsucht, einen Teil von sich selbst in einer Arbeit zu befreien, und dann kann sein Wesen tagelang angespannt sein durch frohe, titanenhafte Anstrengungen, den Ton zu seinem Adam zu kneten. Aber er vermag ihn nie seinem Vorbild hnlich zu formen, er hat nicht Ausdauer genug, die Selbstbesinnung, welche dazu erforderlich ist, festzuhalten.188

Was den Text darber hinaus auszeichnet, sind Erzhlgesten, die die Willensschwche der Figur in ,Embleme‘ und ,Bilder‘ ihrer mentalen und physischen Ermdung umschreiben. Wenn es zwischen Niels Lyhne und Tema Boye zu einer Begegnung kommt, die das soziale ,Gesetz’, dem die verlobte Frau unterliegt, beinahe außer Kraft setzt, dann ist der Text ein einziges Neigen, Sinken, Zurckweichen, ein Bild der stillen Vergeblichkeit und der sanften und doch kaum ausgetauschten Berhrungen. Alles vollzieht sich hier in andeutungsreichen, langsamen und vor allzu großer Eindeutigkeit zurckschreckenden Gesten, die die eigentlichen Berhrungen substituieren und das Geschehen wie gedehnt wirken lassen: 185 186 187 188

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

4 ff. 80. 147. 146.

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[E]r blieb ber sie gebeugt stehen und starrte auf die Karos ihres Seidenkleides, und unbewußt, von der milden Ruhe verlockt, begann er, sie zu schaukeln, ganz leise, ganz leise. Langsam hob sie die Lider zu einem Blick auf sein mild beschattetes Profil und senkte sie dann wieder in stillem Wohlbehagen. Es war wie eine lange Umarmung, als legte sie sich in seine Arme, wenn der Stuhl zurckging; und wenn er sich wieder nach vorne neigte, so daß ihre Fße den Boden berhrten, so lag etwas von ihm in dem sanften Druck des Bodens gegen ihren Fuß. […] ,Laß uns nicht trumen’, sagte Niels dann mit einem Seufzer und ließ resigniert den Stuhl los.189

Solchen ,schweigenden Bildern‘ korrespondieren im Text jene Zeichen der Geschichte, die nur wenige Jahre spter bei Bourget und Hofmannsthal geradezu zu Monogrammen des Historismus werden.190 In Fjordby, dem Stammsitz eines mit Niels Lyhne verwandten „Konsuls“, stçßt der Leser, den der Erzhler zunchst durch ein „Kontor“ und eine „Gesindestube“ fhrt, auf die Zimmer der Familie, in denen sich die Ensembles alter Mçbel und abgelebter Erinnerungsstcke zu einer Art ,Geschichtsort‘ formieren. In diesem frhen „Triumph der Mçbelpoesie“ (Hofmannsthal) ist jedes Leben getilgt, wie das florale Rankenwerk belegt, das sich als nur imaginierter Duft eigentmlich unwirklicher Blten oder als leblos stilisierte Arabeske ber „Vasen aus altem Porzellan“ legt: Die Gebude des Grundstcks waren alle alt […]. […] wenn man durch das Kontor […] gekommen war, […] so wurde man durch den hier herrschenden Duft von neuem Damenputz auf die milde Blumenluft des Zimmers vorbereitet. Es war nicht der Duft eines Bouquets, nicht einer wirklichen Blume, es war die erinnerungsweckende, mystische Atmosphre, die auf jedem Heim lagert […]. […] Hier war sie geprgt von Blumenduft, nicht von Levkojen oder Rosen, von berhaupt keiner Blte, die existiert, sondern so, wie man sich den Duft dieser phantastischen, saphirmatten Lilienranken denkt, die sich auf Vasen aus altem Porzellan entlangschlngeln. Und wie sie zu diesen großen, niederen Zimmern mit ihren ererbten Mçbeln […] paßte! […] [D]iese unverrckbaren Tische mit großen Platten mit nachgedunkeltem Mahagoniholz, […] Mçbel mit Laden in allen mçglichen Gestalten, Riesenkommoden mit eingelegter Arbeit aus hellgelbem Holz, mythologische Szenen darstellend […].191

Bereits diese Motivkonstellation, deren Nhe zu Bourget kaum zu bersehen ist, mag erklren, was einen Autor wie Hofmannsthal an Niels Lyhne gereizt haben wird. Aus der Perspektive derjenigen, die eine ,An189 Ebd., 107. 190 Vgl. Bourget: Psychologische Abhandlungen ber zeitgençssische Schriftsteller [1903], 61 ff. und Hofmannsthal: Gabriele D’Annunzio [1893], 174. 191 Jacobsen: Niels Lyhne [1889], 131.

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empfindung‘ an Jacobsen betreiben, wirkt der Text wie ein Steinbruch, der die Topoi und Lesefrchte dieser Anempfindung so bereitstellt, dass die anverwandelnde Lektre nur noch auf sie zugreifen muss. Leopold Andrian, der Hofmannsthal 1894 brieflich auf Jacobsen aufmerksam machen mçchte,192 obwohl Hofmannsthal bereits 1891 seine JacobsenKenntnis dokumentiert hatte,193 zhlt, stellvertretend fr eine ganze Generation von Autoren, neben Nietzsche und Flaubert „Jacobsen“ zu denjenigen „von den Modernen“, „die Einfluß auf mich gehabt haben.“194 Autoren wie Andrian mçgen ihre Nhe zu Jacobsen als „Einfluß“ verklausulieren. Diejenigen aber, die Jacobsens Weg in den deutschen und çsterreichischen Sprachraum geebnet haben, sind mit Einfluss-Kategorien nicht recht erfassbar. ber Georg Brandes, der seit 1881 offensiv die Popularisierung Jacobsens betreibt, vermerkt Thomas Mann 1896, dass er, wie „Sainte-Beuve“ oder „Lematre“, zu den „feingeistige[n] Menschen“ zhlt, die „immer auf der Suche nach einer knstlerischen Persçnlichkeit [sind], in der sie verschwinden, in der sie aufgehen, in die sie sich verwandeln kçnnen […]. Und hat der Kritiker, dieser Verwandlungsknstler, dieser vollendete Typus des ,Dilettanten’, die Welt eine Zeitlang mit den Augen dieser Persçnlichkeiten gesehen, […] so schweift er weiter, […] neue Gefhle zu fhlen, ein neues Leben zu leben […].“195 – Das ist ,Anempfindung‘ in luzidesten Worten: Ttigkeit eines Bourgetschen „Verwandlungsknstler[s]“196, der sich proteusartig in fremde Erfahrungen hineinschreibt, um sie zur eigenen werden zu lassen und um in der Bewegung dieses anverwandelnden Verstehens eine verschlungene Spur von einer textuellen Erfahrung zur nchsten zu legen. Fast scheint es, als verweise die bei Jacobsen und Hofmannsthal so aus-

192 „Ich muß Dir“, so Andrian im Herbst 1894, „nur schnell eine Zeile schreiben […], um Dir zu sagen, wie wunderschçn Niels Lyhne ist, und was fr ein großer, großer Knstler der Jacobsen. brigens bist Du etwas verwandt mit ihm.“ Hugo von Hofmannsthal – Leopold von Andrian: Briefwechsel. Hg. von Walter H. Perl, Frankfurt/M. 1968, 22. 193 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Briefe 1890 – 1901, Berlin 1935, 19 [an Hermann Bahr, 2. 7. 1891]. 194 Hofmannsthal – Andrian: Briefwechsel, 104 [an Hugo von Hofmannsthal, 18. 7. 1898]. 195 Thomas Mann: [,Kritik’ und Schaffen, 1896]. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bnden. Bd. XIII: Nachtrge, Frankfurt/M. 1974, 519 – 522, 520 f. 196 Ebd., 520.

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geprgte florale Semantik – das „Pflanzenhafte“197 – auf eine arabeske Bewegung, die der Spur dieses schweifenden Lesens eine ornamentale ,Zeichnung‘ und eine ,Form‘ gibt. Entsprechend ist Brandes‘ umfngliche Jacobsen-Darstellung aus dem Jahr 1883 darauf angelegt, die Texte des Autors, insbesondere den Niels Lyhne, reproduktiv gewissermaßen zu umarmen. Dies belegt eine Beschreibungssprache, die dem Text nicht eigentlich gegenbertritt, sondern die ihn durch die Paraphrasen seiner ,Gestimmtheit‘ und seines Lexikons hindurch verdoppelt, um ihn gewissermaßen ,wieder‘ zu schreiben. Dass Niels Lyhne nach Brandes primr als „Stil, als Stimmung“198, zu verstehen ist, paraphrasiert nur die Erzhlerstimme, die immer wieder den „Stimmungsreichtum“199 der Figuren betont. Dass die melancholische Grundanlage des Textes immer „neues Sehnen [gebiert]“200 und Niels Lyhne ein „Phantast“201 ist, entnimmt Brandes’ Darstellung dem Text selbst, wenn dort von der „unbestimmte[n] Sehnsucht“202 und der „Phantasie“ als ererbter „Eigenschaft“203 die Rede ist. berdies konstituiert sich Brandes’ Text immer wieder aus unausgewiesenen Textzitaten; „[e]he sich Lyhne auf den Weg begiebt“, heißt es in Brandes’ Charakteristik, „sehen wir seinen Vater, den praktischen, prosaischen Landmann […], halbe Stunden lang an einer Gartenthre oder auf einem Grenzstein sitzen und in seltsam vegetativen Hinbrten auf den ppig grnen Roggen oder den goldenen, fruchtschweren Hafer starren. Und beim Austritt aus der langen Alle sehen wir Niels Lyhne selbst so sitzen, wie sein Vater gesessen […].“204 Im 13. Kapitel des Romans heißt es: „Er [Niels Lyhne, I.S.] war so rechtbleibend glcklich, und oft konnte man ihn sitzen sehen, wie sein Vater gesessen hatte, an einer Heckentr oder auf einem Grenzstein, in seltsam vegetativer Ergriffenheit auf den goldenen Weizen oder den hrenschweren Hafer starrend.“205 Noch Hofmannsthal wird 1893 dieselbe Erzhlpassage nachbilden, um an ihr 197 Hofmannsthal: Aufzeichnungen und Tagebcher aus dem Nachlass. In: Ders.: Aufzeichnungen, 100 [Mai 1893]. 198 Georg Brandes: J.P. Jacobsen [1883]. In: Ders.: Menschen und Werke. Essays. Mit einem Gruppenbild im Lichtdruck, Frankfurt/M. 1894, 434 – 481, 462. 199 Jacobsen: Niels Lyhne [1889], 10. 200 Brandes: J.P. Jacobsen [1883], 465. 201 Ebd. 202 Jacobsen: Niels Lyhne [1889], 8. 203 Ebd., 13. 204 Brandes: J.P. Jacobsen [1883], 469. 205 Jacobsen: Niels Lyhne [1889], 199. Vgl. Ebd., 11.

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Jacobsens Prinzip, seinen „neuropathischen Idealismus“206, abzulesen: „Von allen Seeleneigenschaften, die wir der Pflanze am leichtesten zuschreiben kçnnen, sind: Phantasie (stilles Trumen und Sehnen) und Sensibilitt (Zusammenschauern, Sich-Ausdehnen, Sich-Zuneigen, SichRanken). Das Pflanzenhafte: Lyhnes Starren in den goldenen Roggen in seltsam vegetativer Ergriffenheit.“207 Es gehçrt zur Logik derartiger Anempfindungen, dass sie ihrerseits anempfunden werden kçnnen. Jede weitere Anempfindung, so wre zu schließen, ndert nichts an der sekundren Ordnung der Texte, sondern treibt sie nur immer weiter in sie hinein. Entsprechend sttzt Theodor Wolff, der Verfasser der Einleitung zur ersten deutschen Ausgabe des Niels Lyhne, seinen Text auf eine Lektre der Brandes-Charakteristik von 1883.208 Genauer gesagt: Wolffs Text entfaltet sich als Wieder-Lektre seiner zentralen Begriffe, Themen und Topoi. Wenn Brandes bemerkt, Niels Lyhne sei „zu wenig historisch“209, dann konstatiert Wolff, dass Jacobsen an allem „Historischen […] geschwind vorber“210 eilt. Wenn Brandes die „fruchtbaren Stimmungsschwingungen“211 und die „vertrumte Natur“212 der Hauptfigur hervorhebt, dann vermerkt Wolff Jacobsens „Stimmungsschwelgerei“213 und die Tatsache, dass der Atmosphre des Textes „etwas traumhaft sich Verlierendes“214 anhaftet. Und wo es schließlich darum geht, dem Dilettantismus der Hauptfigur auf die Spur zu kommen, konvergieren beide Texte in dem Befund, dass es sich bei Niels Lyhne um einen „Dichter“ handelt, „der kein Dichter“215 und daher „verunglckt[] ist.“216 206 Hofmannsthal: Aufzeichnungen und Tagebcher aus dem Nachlass. In: Ders.: Aufzeichnungen, 100 [Mai 1893]. Zur Begrndung heißt es: „In den alten psychologischen Romanen (,Werther’, ,Adolphe’, ,Manon Lescaut’) wird der Inhalt des Seelenlebens dargestellt, bei Jacobsen die Form davon, psychiatrisch genau beobachtet; das Sichdurchkreuzen, das Aufflackern und Abirren der Gedanken, die Unlogik, das Brodeln und Wallen der Seele.“ Ebd. 207 Ebd., 101 [Mai 1893]. 208 Vgl. Theodor Wolff: Jens Peter Jacobsen [1889]. In: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne. Roman, autorisierte bersetzung aus dem Dnischen von Marie von Borch, Leipzig 1889, 3 – 27. 209 Brandes: J.P. Jacobsen [1883], 463. 210 Wolff: Jens Peter Jacobsen [1889], 21. 211 Brandes: J.P. Jacobsen [1883], 475. 212 Ebd., 465. 213 Wolff: Jens Peter Jacobsen [1889], 12. 214 Ebd., 20. 215 Ebd., 14.

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Was verunglckten Dichtern um 1900 bleibt, ist eben: Anempfindung. Sie stellt sich in einem przis zu beschreibenden Netzwerk aus bestimmten Referenzautoren, Lektren und thematischen Bezglichkeiten her: Nietzsche wie Hofmannsthal lesen Bourget, um an Bourget eine Textpoetik der „Disgregation“ (Nietzsche) bzw. der „Willensschwche“ (Hofmannsthal) zu diagnostizieren, und zugleich liest Hofmannsthal Jacobsens Niels Lyhne, das „Vorbild“ aller „Helden der Willenlosigkeit“217, und wiederum zugleich wird Jacobsen von Georg Brandes gelesen, der seine europische Prominenz einer dezidierten Nietzsche-Apologie verdankt.218 Zwischen Nietzsche und Bourget, zwischen Bourget und Hofmannsthal, zwischen Hofmannsthal und Jacobsen und zwischen Jacobsen und Brandes vermittelt ein und dieselbe entropische Metapher: eine Willensschwche, die Texte von dem Zwang befreit, immerfort ursprngliche Erfahrungen sein zu mssen. Anders als es die Forschungen zur frhen Moderne mehrheitlich nahe legen, mnden thermodynamische Figuren damit nicht zwangslufig in die dominanten Erzhlschemata von Verfalls und Dekadenz, sondern markieren eine ganz anders gelagerte Textkultur, die ihre innere Organisation auf Momente ,anverwandelnder‘ Rezeption und Produktion sttzt. Und wenn, wie es eine kanonische Lesart der frhen Moderne nahe legt, individuelle und kollektive Metaphern der Ermdung um 1900 in den breiten Strom der dcadence und ihrer narrativen Schemata von Verfall und Entartung mnden,219 dann verweist die Poetik der Anempfindung auf eine Umstrukturierung des modernen Textfeldes, die die frhe Moderne in eine eigentmliche Spannung mit ihren eigenen diskursiven Voraussetzungen versetzt. Diese Spannung besteht darin, dass 216 Brandes: J.P. Jacobsen [1883], 468. 217 Lublinski: Die Bilanz der Moderne [1904], 105. 218 Brandes korrespondierte seit 1887 mit Nietzsche und hielt ab April 1888 in Kopenhagen mehrere Vortrge ber Nietzsche. Grundzge dieser Vortrge finden sich in Georg Brandes: Aristokratischer Radikalismus. Eine Abhandlung. In: Deutsche Rundschau 63, 16. Jg. (7. 4. 1890), H. 7, 52 – 89. Brandes gehçrte Anfang 1888 auch zu den Empfngern eines der 40 Exemplare, die Nietzsche nach Schwierigkeiten mit seinen Verlegern vom vierten Teil seines Zarathustra auf eigene Kosten hatte drucken lassen. 219 Vgl. zur Erzhltypik der Dekadenz um 1900 die entstehende Habilitationsschrift von Caroline Pross: Dekadenz. Narrative Selbstbeschreibungen der Frhen Moderne 1887 – 1924 sowie zur Dialektik von dekadenter Ermdung und kompensatorischer Ermchtigung in der Klassischen Moderne Hans Richard Brittnacher: Erschçpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de si cle, Kçln, Weimar, Berlin 2001.

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die Moderne gegen ihre eigenen modernistischen Implikationen – Innovation, Traditionsbruch, Selbstberbietung – Texte auf vorausliegende textuelle Erfahrungen bezieht und diese Relation in entropische Metaphern ,textueller Ermdung‘ einkleidet. In dieser reproduktiven Textordnung liegt nichts Geringeres als eine kulturelle Logik verborgen. In ihr bringt sich eine ,andere‘ Moderne zur Geltung, in der nicht mehr originre, sondern sekundre Textrelationen wirken und in der die Grundlagen fr einen bestimmten Typ ,anempfindender‘ Autorschaft gelegt werden.220 Tatschlich wird man etwa einen ,Autor‘ wie Hermann Bahr nur angemessen verstehen kçnnen, wenn man seine Texte nicht als originre Literatur liest, sondern auf ihr diskursives, d. h. ,anempfindendes‘ Ordnungsfundament bezieht. Ob Bahr ein „zu schlechter Autor“ ist, um ihn literaturgeschichtlich zu kanonisieren,221 ist demgegenber eine strukturell inadquate Frage, und auch die komplementre Aufwertung Bahrs zu jenem gesamteuropisch wirkenden Vermittler, der die junge Literatur protegiert und instinktiv literarische Trends erkannt habe,222 bleibt eine halbherzige Analyse. Im historischen Feld selbst reproduzieren sich, wenn es um Bahr geht, bezeichnenderweise all jene Topoi der Anempfindung, die schon bei Bourget prgend waren und insofern ihrerseits wie anempfunden wirken. Ola Hannsons vielfach variierte Einschtzung von 1891, dass Bahr „so proteusartig“ sei, belegt dies 220 Auf den ersten Blick besitzt das Gesagte eine gewisse Nhe zum Epigonen, allerdings geht es an dieser Stelle nicht um einen produktionssthetischen Standpunkt. Gemeint sind vielmehr Transformationen des Diskursfeldes, d. h. vernderte Bedingungen fr die diskursive Ordnung von Texten, die einzelnen Autoren (auch wenn sie als Epigonen gefasst werden kçnnen) voraus liegen. Zudem zielt der Epigone auf die Akkumulation eines geistigen oder textuellen ,Besitzes’ (zumal der ,Vter’), whrend sich die ,Anempfindung’ immer andere Texterfahrungen verschafft, sich also nicht auf die Anhufung textueller Besitzstnde richtet. Vgl. Matthias Kamann: Epigonalitt als sthetisches Vermçgen. Untersuchungen zu Texten Grabbes, Immermanns, Platens und Raabes, zur Literaturkritik des 19. Jahrhunderts und zum Werk Adalbert Stifters, Stuttgart 1994, 7 – 19. 221 Gotthart Wunberg: Hermann Bahr – ein Fall fr die Kulturwissenschaften? In: Ders.: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Zum 70. Geburtstag des Autors hg. von Stephan Dietrich, Tbingen 2001, 342 – 349, 342. 222 Vgl. Ebd., 343 f. Vgl. zu dieser kanonischen Sicht auf Bahr noch jngst Donald G. Daviau: Der ,Austroper’. Hermann Bahr als Anreger und Vermittler der Moderne im europischen Kontext. In: ,Hermann Bahr – Mittler der europischen Moderne’. Hermann Bahr-Symposion Linz 1998. Hg. von Johann Lachinger [Jahrbuch des Adalbert Stifter Institutes des Landes Oberçsterreich Bd. 5 (1998)], Linz 2001, 13 – 26.

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ebenso wie die behauptete Fhigkeit, dass er „sich mit seiner ganzen Seele und all seinen Sinnen in die allerentgegengesetztesten Kulturen, Epochen, RaÅen, Individualitten hineinzuschmiegen und deren eigentmliches Leben mitzuerleben“223 verstehe. Noch im selben Jahr 1891 vermerkt Marie Herzfeld, dass „Bahr […] anempfindende Geschmeidigkeit, sympathisches Verstndnis fr sehr verschiedenartige Erscheinungen [besitzt].“224 So muss sich der Eindruck einstellen, dass der gesamte Diskurs der Anempfindung ber eine kaum zu kontrollierende Ortlosigkeit verfgt und – wie in einer Form der Selbstinvolution – in immer neuen, ,proteischen‘ Gestalten auftritt. In seiner expansiven Logik ist es nmlich begrndet, dass er schließlich noch die erfasst, die vermeintlich Ursprung und Gegenstand von Anverwandlungen sind, also einer sekundren Reproduktion eigentlich vorausliegen. Jacobsen, so betont Friedrich M. Fels 1891 in der Modernen Rundschau, „ist keiner jener Schriftsteller mit dem machtvoll beherrschenden Willen […]. Er ist Dne, ein Angehçriger dieses feinsten, schmiegsamsten, wandlungsfhigsten […] Volksstammes, der, wie kein anderer, geneigt ist, sich aufzugeben und in tausend Hllen zu schlpfen.“225

3. Psychophysisches Erzhlen. Der Wille und die Unform der Existenz bei Hermann Conradi Der Naturalismus ist reich an Grndungsakten. Dass sie von vergnglicher Dauer gewesen sind, hat den Naturalismus in der Forschung schnell zu einem Exempel der Vergeblichkeit werden lassen. Modern in einem emphatischen Sinne sind offenbar andere gewesen, zumindest jene, die den Naturalismus, trotz seiner proklamierten Modernitt,226 schnell 223 Ola Hansson: Neue Bcher. Hermann Bahr’s R u s s i s c h e R e i s e . In: Freie Bhne fr modernes Leben 2 (1891), 1125 – 1126. Hanssons Charakteristik wird von Bahr selbst noch 1923 ausdrcklich vermerkt. Vgl. Hermann Bahr: Selbstbildnis, Berlin 1923, 257. 224 Marie Herzfeld: Hermann Bahr, ,Die Ueberwindung des Naturalismus’ [1891]. In: Das junge Wien. sterreichische Literatur- und Kunstkritik. Ausgew., eingel. und hg. von Gotthard Wunberg, Bd. I: 1887 – 1896, Tbingen 1976, 250 – 252, 251. 225 Friedrich M. Fels: J.P. Jacobsen [1891]. In: Das junge Wien I, 244 f. 226 Vgl. nur die Thesen der freien literarischen Vereinigung ,Durch!’ [1886]. In: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverstndnis der Literatur um die

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hinter sich gelassen haben. 1890 vermerkt Fontane mit milder Ironie, dass „den jungen Herren die Puste ausgegangen“227 sei, whrend Hermann Bahr 1891 bereits die „berwindung des Naturalismus“228propagiert. Im Blick Hermann Bahrs, der sich in der berwindung des Naturalismus anschickt, Genealogie und Scheitern dieser frhen Moderne zu schreiben, erscheint neben vielem Ephemeren auch das eine oder andere Erinnerungswrdige. Hierzu zhlt Bahr ausdrcklich den 1890 im Alter von 27 Jahren verstorbenen Hermann Conradi. „Der arme Junge ist todt“, so Bahr, „[w]enige lesen heute seine Werke, aber in hundert Jahren wird die Litteraturgeschichte den neuen Abschnitt, der [sic] das zwanzigste Jahrhundert beginnt, von seinem Namen aus datiren.“229 Prophetien dieser Art sind es kaum wert, kommentiert zu werden, weil sie strukturell denselben Grndungsgesten angehçren, mit denen der von Bahr „abgethane und ausrangirte“230 Naturalismus wenige Jahre zuvor seine Ansprche geltend gemacht hatte. Bemerkenswert ist an Bahrs ußerungen demgegenber eine nekrologische Redeform, die die gesamte Charakteristik des Autors Conradi aus Diskursversatzstcken der Willensschwche herleitet. „Es war in dem bleichen, gemarterten Jngling ein furchtbares, vergebliches Ringen. Sein Wille ist ihm niemals gelungen. Seine Kraft langte nicht, die große Sehnsucht in feste, sichere Formen zu zwingen. In wilden Stçßen warf er die wirren Begierden seiner Seele ungestalt heraus, und am Ende haben sie ihn zersprengt.“231 – Die „Conradische Poesie“, so ließ sich bereits 1888, also noch zu Lebzeiten Conradis, vernehmen, ist der „Verzweiflungskampf einer usserlich kraftstrotzenden, innerlich aber schwachen Natur […].“232

227 228

229 230 231 232

Jahrhundertwende. Eingel. und hg. von Gotthart Wunberg, Frankfurt/M. 1971, 1 f. Theodor Fontane: Briefe in zwei Bnden. Ausgew. und erlut. von Gotthart Erler. Bd. 2: Briefe 1879 – 1898, Berlin, Weimar 31989, 280 [an Paul Heyse, 5. 12. 1890]. Hermann Bahr: Die berwindung des Naturalismus [1891]. In: Ders.: Zur berwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887 – 1904. Ausgew., eingel. und erlut. von Gotthart Wunberg, Stuttgart, Berlin u. a. 1968, 33 ff. und 85 ff. Bahr: Das jngste Deutschland [1894]. In: Ders.: berwindung, 122 – 141, 138. Ebd. Ebd., 139. Eugen Wolff: Die jngste deutsche Literaturstrçmung und das Prinzip der Moderne [1888]. In: Die literarische Moderne, 3 – 42, 10. – Conradi ist der Literaturwissenschaft allenfalls noch als Mitinitiator der Modernen Dichter-

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Die zitierten ußerungen, die sich um weitere vermehren ließen, sind alles andere als Belege einer „lebensvollen Charakteristik“ (Heinrich Hart) des Naturalismus. Einmal mehr sind sie schlichte ,Anempfindungen’ an einen Text; in diesem Fall an jenen „verworrenen, besudelten, nrrischen ,Adam Mensch’“233, mit dem Conradi nach Hermann Bahr „einen neuen Stil“ und „eine neue Psychologie“234 begrndete. Tatschlich stellt Conradis 1889 erschienener Roman in enger Verbindung mit den Deutungsansprchen, die sich im allegorisch geradezu berdehnten Namen der Titelfigur spiegeln,235 den Versuch dar, mit den Mitteln naturalistischer Schreibweisen einer literarischen Phnomenologie der Charaktere bekannt. Die 1885 erschienene Lyrik-Anthologie, zu der Conradi das Vorwort beisteuert, fllt in die programmatische Formierungsphase des Naturalismus, lsst in der Wahl der Autoren allerdings noch Zugestndnisse an klassizistische und epigonale Positionen erkennen. Conradis eigene Produktion beschrnkt sich – neben Lyrik und zeitkritischen Essays – auf die Erzhlsammlung Brutalitten (1886) und die 1887 bzw. 1889 erschienenen Romane Phrasen und Adam Mensch. Fr die ffentlichkeitsgeschichte des Naturalismus ist Conradi insofern von einigem Interesse, als Conradis letzter Roman im Jahr seines Erscheinens Gegenstand des Leipziger ,Realistenprozesses’ wird, in dem neben Conradi auch Wilhelm Walloth und Conrad Alberti der Gotteslsterung und der Verbreitung unzchtiger Schriften bezichtigt werden. Conradi, der 1889 27-jhig stirbt, hat den Prozessbeginn nicht mehr erlebt. Vgl. Gerhard Schulz: Naturalismus und Zensur. In: Helmut Scheuer (Hg.): Naturalismus. Brgerliche Dichtung und soziales Engagement, Stuttgart, Berlin u. a. 1974, 93 – 121 und das Prozessprotokoll ,Der Realismus vor Gericht’. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift fr Litteratur und Kunst 6 (1890), 1141 – 1232. Den noch immer umfassendsten biographischen berblick gibt Paul Ssymank: Leben Hermann Conradis. In: Hermann Conradis Gesammelte Schriften. Hg. von Gustav Werner Peters, Mnchen, Leipzig 1911, Bd. 1, XVII-CCLIV. 233 Bahr: Das jngste Deutschland [1894], 138. 234 Ebd., 139. 235 Ob Conradis Namenswahl als bewusste Anspielung auf einen Roman des dnischen Sptromantikers Frederik Paludan-Mller (1809 – 1876) zu verstehen ist, der zwischen 1842 und 1849 unter dem Titel Adam Homo erschienen war, ist ungewiss. Paludan-Mllers Adam Homo wirkt auf weiten Strecken wie ein frhes philistrçses alter ego der Conradischen Figur. Konzeptionell ist Paludan-Mllers Roman allerdings insofern ambivalenter, als er die prosaische Existenz seiner Hauptfigur in ein Versepos kleidet; eine Dissonanz, die dem Text einen ausgeprgt satirischen Zug verleiht. Grundlegende Informationen zu Autor und Text finden sich bei Victor A. Schmitz: Dnische Dichter in ihrer Begegnung mit deutscher Klassik und Romantik, Frankfurt/M. 1974, 387 – 391 und in Nordische Literaturgeschichte. Bd. 1: Von den Anfngen bis zum Jahre 1860. Redigiert von Mogens Brøndsted. bers. von Hans-Kurt Mueller, Mnchen 1982, 160 – 163. – Den Hinweis auf Paludan-Mller verdanke ich Klaus Mller-Wille (Zrich).

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Willensschwche habhaft zu werden, die deren Symptomstand in entsprechend diskontinuierliche Erzhlakte umsetzt. Wie Dokumente in Conradis Nachlass belegen, hat Conradi im Zusammenhang mit Adam Mensch Studien zur Psychophysik des Willens rezipiert, die insbesondere dessen Zerstreuungsformen und unbewusste Manifestationen betreffen.236 Insofern markiert Conradis Roman jene anthropologische Konstellation des spten 19. Jahrhunderts, die nicht in der Einsinnigkeit neurasthenischer Symptomatologien aufgeht, sondern nur aus dem Zusammenspiel von neurasthenischen und psychophysischen Diskursanteilen zu verstehen ist. Inhaltlich umkreist der Text in einer monomanen Weise die uferlosen Reflexionen, unwillkrlichen Handlungsimpulse und episodischen Beziehungen, in deren ewigem Fluss sich die ,reaktive‘ Hauptfigur Adam Mensch den Reizintensitten der Großstadt ausgeliefert sieht. Entsprechend kennt der Roman kaum ein elaboriertes Geschehen; die Ereignisse des Texte beschrnken sich auf die Nachzeichnung einer bomehehaften Existenz, die sich durch das Auf und Ab dreier Liebesaffren bewegt, um an deren Ende eine Versorgungsheirat einzugehen, die von ebenso wenig Engagement und Tatkraft zeugt, wie die lediglich Fragment bleibenden literarischen Ambitionen der Hauptfigur. Ansonsten widmet sich der umfngliche Text den Gesprchen und Konversationen, die Adam Mensch mit ausgewhlten Gesprchspartnern fhrt. Diese Konversationen fgen sich – ausgehend von der Grundberzeugung Wundts, dass sich „der Wille[] in fortdauerndem, unlçsbaren Connex mit dem Bewußtsein“237befindet – mit den Paralysen der Figur zu einem doppelgesichtigen Referenzsystem zusammenfgen, das die 236 Im Kern handelt es sich um die Abschrift eines Aufsatzes von Thomas Achelis ber Wilhelm Wundt, in die Conradis Unterstreichungen und Randnotizen bernommen worden sind. Vgl. Thomas Achelis: Wilhelm Wundt. In: Nord und Sd (Dezember 1887), 288 – 304. Die Abschrift befindet sich unter der laufenden Nummer 135 im Conradi-Nachlass der Anhaltischen Landesbcherei Dessau/Wissenschaftliche Bibliothek und Sondersammlungen (Bl. 335 – 357). Der Text von Achelis ist mit umfnglichen Zitaten aus Wundts Physiologischer Psychologie in der Ausgabe von 1880 und Wundts populrwissenschaftlicher Essay-Sammlung von 1885 durchsetzt; insofern kann davon ausgegangen werden, dass Conradi Wundts Schriften auch im Original zur Kenntnis genommen hat. Conradis Unterstreichungen und Randbemerkungen betreffen im Wesentlichen die Unbeobachtbarkeit des Bewusstseins (Bl. 337), die Entstehung und den Wechsel der zusammengesetzten Vorstellungen (Bl. 338) sowie den „circulus vitiosus“ von Apperzeption und Willensttigkeit (Bl. 344). 237 Achelis: Wilhelm Wundt [1887], 294 [= Conradi-Nachlass Nr. 135, Bl. 343].

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neurasthenischen Oberflchensymptome immer wieder auf ihre komplementren psychophysischen Substrate hin durchbricht. Entsprechend fhrt der auffllig allegorisierte Name der Titelfigur zwei Ansprche zusammen: Zunchst charakterisiert er eine bergangsexistenz, die smtliche Spannungen der Epoche – die „Flle“ ihrer „Zeitkeime“238 – in sich aufnimmt, um „auf den curiosen Einfall“ zu „kommen, ein … ,moderner Mensch‘ zu werden“.239 Adam Mensch verbindet das doppelte „Moment des Typischen und des Individuellen“240, und dies auf eine Weise, dass die Signatur des Anfnglichen und Neuen in eine Mythologie des neuen Menschen mndet: Adam Mensch ist jener ,erste Mensch‘ der Moderne, der eine ebenso ungestaltete wie transitorische Existenz fhrt, wie die Moderne noch keine Form, sondern reiner bergang ist. Als bergangsexistenz ist das Leben des Adam Mensch daher kontinuierliche Ungleichzeitigkeit; Ungleichzeitigkeit bestimmt sein Verhltnis zur Vergangenheit, zur Gegenwart und zur Zukunft, weil die Moderne, wie Adam Mensch im Gesprch beklagt, als bestndiges Werden auch ber diejenigen hinweg schreitet, die ihr Bewusstsein mitgestaltet haben: ,Modern‘ sein […] heißt: sich auf Etwas vorbereiten, was Einen im Grunde gar nichts angeht – – ich meine: auf Etwas, dessen Eintreten in die Welt man sicher nicht erleben wird, daß sich vielleicht erst in einer sehr fernen Zukunft erfllt – ,modern‘ sein heißt aber zugleich: – bei dem Vorbereiten auf dieses problematische Etwas ganz geflligst … zu Grunde gehen – .241

Als „problematische[s] Etwas“ aber erscheint der bergangsmensch selbst. Conradi hat sich in seinem Namen mehrfach und – hat man den Umstand im Auge, dass der Begriff schnell in den biographischen Selbstbeschreibungshaushalt der „Wilhelminer“ Eingang findet242 – in der Nachwirkung durchaus erfolgreich um die Kontur einer derart transitorischen Existenz bemht. Im selben Jahr wie Adam Mensch ver238 Hermann Conradi: Adam Mensch. Roman, Leipzig 1889, Nachdruck Karben 1997, 231. 239 Ebd., 18. 240 Ebd., 10. 241 Ebd., 62. 242 Vgl. Martin Doerry: bergangsmenschen. Die Mentalitt der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim, Mnchen 1986 (Hauptband), 9 und 31. Als Figuration der „emphatischen ,Jetztzeit’“ um 1900 erscheint der bergangsmensch auch bei Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt/M. 1996, 23, Anm. 10.

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fasst Conradi ein „Bruchstck“ unter dem Titel Uebergangsmenschen, das in seinen unablssigen Versuchen, des bergangsmenschen definitorisch habhaft zu werden, nur „zahllose Assoziationsschichten“ und ebenso „zahllose Verwandtschafts- und Aehnlichkeitsbezge“243 ausbreitet. Gerade weil der Text seinen Begriff und dessen Sinngehalt laufend verfehlt, verbirgt sich in der Labilitt und programmatischen „U n s i c h e r h e i t “244 des definitorischen Zugriffs mehr diagnostisches Potential als in der Definition selbst. Vor allem aber will Conradis Roman in den Aufzeichnungen von Reflexionen und Bewusstseinsvorgngen den Blick auf ein „compliziertes Ich“245 freigeben, das sich vollstndig in der „Apathie“ seines „Willens“246 verliert. In ihr verdichten sich die sinnhaften Spannungen der anbrechenden Moderne zur psychophysischen Realitt einer epochal gewordenen Willensschwche, die das „allmhliche Zerfallen, Verwittern und Vermorschen“ der „,Persçnlichkeit’“247 beschleunigt und vorantreibt: Eine Flle von Gedanken und Gefhlen stieg in ihm [Adam Mensch, I.S.] empor, aber jede Einheitlichkeit fehlte und jede Neigung, die Anlufe und Fragmente zu packen, zu vertiefen, zu erschçpfen, zu vollenden. […] Er fhlte, wie ungeheuer weit er davon entfernt war, ein Kind der Stunde sein zu kçnnen, ein von der mechanisch-regelmßigen Erfllung einfacher Pflichten befriedigter Mensch. […] Er sehnte sich nach einem großen Schicksal, nach vollen, starken, runden Gefhlen […]. Alles in ihm war weit und verworren; Nichts eng, klar umrissen. Und doch bebte er instinctiv vor einem großen Erlebnis zurck. Er wußte nicht, in welcher Gestalt er es sich vorstellen, erwarten sollte. Aber er wußte auch zugleich, daß er bei dieser nervçsen Ueberreizung, bei dieser pathologischen Abhngigkeit von seinem Organismus einem bedeutenden Schicksale kaum gewachsen sein wrde.248

Conradis Text stellt auf weiten Strecken den fr die deutsche Literatur der Jahrhundertwende eminenten Versuch dar, psychophysisch zu erzhlen. Wenn der Text tatschlich, wie behauptet worden ist, „Zge von be243 Hermann Conradi: Ein Kandidat der Zukunft – Uebergangsmenschen [1889]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Gustav Werner Peters. Bd. 3, Mnchen, Leipzig 1911, 447 – 481, 451. Von der „Generation der Uebergangsmenschen“ ist auch in der „zeitpsychologischen Betrachtung“ Wilhelm II. und die junge Generation die Rede. Vgl. Conradi: Wilhelm II. und die junge Generation [1889]. In: Ebd., 307 – 446, 446. 244 Conradi: Ein Kandidat der Zukunft – Uebergangsmenschen [1889], 454. 245 Conradi: Adam Mensch [1889], 18. 246 Ebd., 109. 247 Ebd., 19. 248 Ebd., 100 f.

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strzender Modernitt“249 besitzt, dann liegen sie in dieser Selbstberforderung seines Erzhlprojekts. Erzhltechnisch entspricht dem eine Aufspaltung in zwei Typen von Erzhlakten. Zum einen reproduzieren die uferlosen Reflexionen der Hauptfigur einschlgiges psychophysisches Referenzwissen, das das Phnomen der Willensschwche unablssig umkreist und mit den Mitteln „natrliche[r], psychophysiologische[r] Grnde“250 deskriptiv zu fassen versucht. Wie die Dokumente im Nachlass Conradis belegen, hat sich Conradis Interesse neben den Mechanismen der Vorstellungsbildung und ihrer „Verknpfung“ zu „complicirteren Gebilden“251 vor allem auf jene desintegrativen Wahrnehmungsmomente konzentriert, die durch die „Menge der unaufhçrlich kommenden und gehenden Vorstellungen“252 gekennzeichnet sind. Solche Dissoziationserfahrungen realisiert der Text allerdings weniger mit den Mitteln einer entsprechenden sprachlichen Phnomenologie, als vielmehr in einer ebenso schweifenden wie traktathaften Essayistik, die die Phnomene dieses inneren Sinns in erster Linie benennt. „Es war“, so heißt es ber die reflektorischen Unwillkrlichkeiten des Handelns, „als ob nur die vasomotorischen Nerven diesen Reflex auslçsten, und der Wille nicht einmal die Freiheit besaß, unfrei zu sein.“253 Zum anderen etabliert der Wahrnehmungsprozess in seinen Unterbrechungen und Diskontinuitten eine Schreibordnung, die auf dem Weg der erlebten und indirekten Rede die Sensomotorik richtungsloser Assoziationen und flchtiger Entschlussmçglichkeiten nachbildet. Der moderne Mensch, so lsst der Erzhler seine Figur in den zahllosen Konversationen des Textes behaupten, befindet sich in einem „Stadium[]“, in dem der „Wille waltet und wirkt, ohne jedoch eine klare Tendenz zu besitzen.“254 Literarisch produziert diese „vollkommen machtlos“ gewordene „Willenskraft“255 eine metonymische Textordnung, in der die Schreibakte der reinen Sukzession von unkoordinierten 249 Walter Schmhling (Hg.): Naturalismus, Stuttgart 1977, 273. Vgl. Peter Arens/ Sabine Moll: Hermann Conradis Roman ,Adam Mensch’ (1889) zwischen Naturalismus und Dekadenz. In: Kafitz (Hg.): Dekadenz in Deutschland, 39 – 56, 45. 250 Conradi: Adam Mensch [1889], 334. 251 Achelis: Wilhelm Wundt [1887], 293 [= Conradi-Nachlass Nr. 135, Bl. 342]. 252 Ebd., 294 [= Conradi-Nachlass Nr. 135, Bl. 343]. 253 Conradi: Adam Mensch [1889], 303. 254 Ebd., 219. 255 Ebd., 191.

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„Ideenassociation[en]“256 folgen sollen. Damit zielt der Romantext auf eine narrative Simulation, die den „Zufall“257 zum Prinzip seiner Organisation erklrt, um eine Folge von assoziativen Verknpfungen anzustoßen, der fortwhrend das organisierende „Motiv“258 entgleitet. „Man hat sich fr einen Moment entscheiden mssen – man nimmt es heraus – tausend andere drngen nach – die nchsten hat man schon in’s Auge gefasst – das erste ist bewltigt – man will zum zweiten, dass Einem schon entgegenblitzt, greifen – und trifft auf ein ganz fremdes –: die Kombination ist unterweilen eben eine vçllig andere geworden.“259 Erzhlen ist in Conradis Roman damit der prekre Versuch, konventionelle Erzhlmuster – insbesondere des Bildungsromans – geradezu ,sensomotorisch‘ zu unterlaufen.260 Wenn sich Adam Mensch wie ein Flaneur den ziellosen Wegen durch die Großstadt berlsst, entfaltet der Erzhldiskurs einen perspektivischen Wechsel, der fortwhrend zwischen Auktorialitt und erlebter Rede schwankt und in dieser Motorik immer wieder unwillkrlichen Redeabbrchen nachgibt: Adam war plçtzlich sehr selbstbewußt und trotzig geworden. […] Er drehte sich noch einmal um. Und es dnkte ihn, als ob Frulein Irmer recht langsam ginge – zudem – zudem noch gar nicht so besonders weit von ihm entfernt wre – sollte sie doch – sollte er – – aber nein! – nichts da! – Unsinn! – – – Adam schob sich entschlossen wieder um und wanderte nach Hause. Nach einer halben Stunde stieg er die Treppen zu seiner Wohnung empor. Die Glieder waren ihm schwer und die Schlfen schmerzten wieder heftiger. Und es fiel ihm ein, daß man doch im Grunde kaum Herr seiner Handlungen ist. […] Urtheil – Vorstellung – Willensimpuls – Coordinationscentren – Muskelcontraction – – – Alles Blech! Adam wußte nur, daß

256 257 258 259

Ebd., 229. Ebd., 37. Ebd., 161. Ebd., 230. Vgl. auch 36 f. Die Formulierungen entsprechen exakt dem von Wundt beschriebenen „Prinzip der Heterogonie der Zwecke“, d. h. der fortlaufenden Anreicherung und Abirrung der ,Zweckreihen’. Vgl. Wundt: Grundzge der physiologischen Psychologie [1874]. Bd. 3, 764 – 766. 260 Allerdings belegen die „Vorgedanken“ zu Conradis erstem Roman Phrasen (1887), dass Conradi eine Romantrilogie plante, die „die Entwicklung eines nicht ganz alltglichen Menschen“ (Hermann Conradi: Phrasen. Roman, Leipzig 1887, I) von einer individualistischen Lebenshaltung zu einer ,neuen’ Weltanschauung verfolgen sollte. Adam Mensch stellte ursprnglich einen Teil eines „zugehçrigen Inselgrtels kleiner Schriften“ (Ebd.) dar. Vgl. Arens/Moll: Hermann Conradis Roman ,Adam Mensch’ (1889) zwischen Naturalismus und Dekadenz, 42 f.

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man einmal ebenso ,unvorbereitet‘ eine … Waffe in der Hand haben kçnnte, ehe man es berhaupt bewußt gewollt htte.261

In solchen Diskontinuitten der Rede verbirgt sich der sprachliche Umriss einer gestaltlosen und ungeformten Existenz. „Brchig und in sich mannigfach auseinandergekeilt war er schon lngst“262, heißt es ber Adam Mensch zu Beginn des Romans. Analog zum Gleiten und Abbrechen der Rede ist auch Adam Mensch ganz Manifestation situativer Gestalten, die sich – auch darin ein Dementi der Tradition des Bildungsromans – zu keiner kohrenten Biographie zusammenfgen. ,Leben‘ ist im verzweifelten Vitalismus des Romans vielmehr Name fr eine ewige Anrufung und eine ewige Verfehlung.263 In gewisser Weise ist die bergangsexistenz Adam Mensch damit kaum mehr als die Summe ihrer zeitlichen Ekstasen, die dem Leben nur von Stunde zu Stunde Form geben und die sich wie in einem entropisch gewendeten Nietzscheanismus „ausstrçmen“ und „ausleben“, um sogleich wieder dem „retardirende[n] Moment“ des „Trgheitsgesetzes“264 zu unterliegen: [D]urch eine zugespitzte, berdies vielleicht noch etwas außergewçhnliche Situation angeregt, konnte er leicht aufflammen, leicht aus sich herausgehen, seine Natur in ihrer eigenwilligen Art sich ußern lassen. Aber fr sich haften, fr sich garantiren konnte er nicht. Sobald er aus dem Zwange der besonderen Stunde wieder herausgetreten, und sobald die nchsten Nachwirkungen vorber, kehrte er unwillkrlich wieder sehr intim zu sich zurck […]. Adam war unschlssig. Er konnte auch nicht anders, als unschlssig zu sein. Noch zu amorph, noch zu unklar und verschwommen lag Alles vor ihm.265

Gleichwohl beschrnkt sich Conradis Text nicht auf die Aufzeichnung eines „amorph[en]“ Bewusstseins, dem sich in „seiner Beziehung zur Außenwelt“ folgerichtig nur „[u]nmçgliche Formenspiele“ und „bizarre Phantasie’n“266 zeigen. In der figuralen Bewegung des Textes liegt es beschlossen, dass der fragmentarisierte innere Sinn der Figur, wie er vor allem in der erlebten Rede realisiert ist, mit den zahllosen Reden korre261 Conradi: Adam Mensch [1889], 8 f. 262 Ebd., 12. 263 Vgl. Ebd., 15, 115, 117 f., 127, 149, 161, 164 u. ç. Zum Pathos des Lebens um 1900 vgl. Wolfdietrich Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900 [1967]. In: Viktor Zˇmegacˇ (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Kçnigstein/ Ts. 1981, 18 – 48. 264 Conradi: Adam Mensch [1889], 94. 265 Ebd., 105, 143. 266 Ebd., 344.

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spondiert, die sich in den „endlosen Conversation[en]“267 des Textes erheben. Conradis Roman ist ein Roman aus Stimmen, der seine Hauptfigur im Schnittpunkt ihrer eigenen Rede und den uferlosen Reden seiner Gesprchspartner konstituiert; insofern liegt die Hauptfigur dem Erzhldiskurs nicht eigentlich voraus, sondern wird auf diese fragile Weise allererst erzeugt. Auch in dieser Hinsicht weit davon entfernt, die Kontur einer „Persçnlichkeit“ zu ergeben, zerluft die Figur Adam Mensch in die bergnglichen Innen- und Außenrume von Reflexionen und sozialen Beziehungen, die beide gleichermaßen als Form einer allgegenwrtigen ,Vokalisierung‘ gestaltet sind: „Adam sah nach der Uhr. Es war kurz nach eins. So hatte er sich doch fast eine Stunde in der Stadt herumgetrieben. Und was hatte er von der endlosen Conversation mit seinem hçchsteigenen Ich profitiert? Er […] war schließlich zu keinem Resultate gekommen.“268 Ohne Resultat sind auch die mandernden, weit mehr als 200 Druckseiten umfassenden Dispute, die Adam Mensch mit dem „Entsagungsphilosophen“ Leopold Irmer fhrt. Auch Irmer, ein Anhnger Schopenhauers und Eduard von Hartmanns, besttigt am Ende seiner „grausame[n] Selbsttuschung“, „durch philosophisches Denken und Anschauen“ gerade nicht „erlçst zu sein“, die zeittypische Einsicht, dass „wir Modernen“ unausweichlich „nur Nervenanlage“269 sind. In all dem markiert Adam Mensch entschieden den Abstand zum naturalistischen Großstadtroman eines Conrad Alberti oder Max Kretzer, selbstverstndlich auch zum monumentalen Erzhlen Zolas. Wenn es hier wie dort zu den hergebrachten Ambitionen des naturalistischen Erzhlens zhlt, in der Detailtreue zu referentiellen Gehalten wie dem Milieu, dem Sozialen oder der Realitt eine von der Faktur der Texte unbeschdigte referentielle Illusion zu bewahren, dann markiert Conradis Roman bereits deren Grenze. In dieser Distanz zu einem im weitesten Sinne mimetischen Erzhlen ist der Text auch ein Beleg fr die innere Heterogenitt des naturalistischen Erzhlens. Fraglos fgt sich Adam Mensch zunchst in die Vielzahl naturalistischer Großstadtromane, aber die auktoriale Koordination, die in Texten von Alberti und Kretzer dazu fhrt, dass die Stadt als Raum bedeutender Zeichen und tiefenmetaphysischer Ursprungsenergien lesbar bleibt, fehlt in Conradis Text beinahe vollstn-

267 Ebd., 166. 268 Ebd. 269 Ebd., 334.

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V. Verlçschende Form

dig.270 „Raum und Zeit“ werden in ihm vielmehr ihrer „Auflçsung“ entgegen getrieben.271 An die Stelle einer Semiotik der Großstadt tritt die Polyphonie ihrer Stimmen, denen sie Raum gibt, und wenn die Romanwelt auch andernorts – wie in Albertis sechsbndigem Zyklus Der Kampf ums Dasein (1889 – 1895) – in eine unberschaubare Flut von Personen und Konstellationen auseinander tritt, so bleiben die Schicksale doch insofern durch eine Makrostruktur verknpft, als alle Figuren demselben, im Daseinskampf aufgehobenem ,Lebens-Gesetz’ der Moderne folgen. In dem Maße, wie der Text eine derartige Makroorganisation zurckweist, strukturiert er sich analog zum Symptomstand seines Helden entlang von losen Wiederholungen, Spiegelungen und Analogien. Gegen Ende des Romans entpuppt sich auch Adam Mensch als einer der zeittypischen Dilettanten, die sich nur in „Fragment[en]“272 und „lose[n] Bltter[n]“273 sthetische Ausdruckmçglichkeiten verschaffen kçnnen. Was diesen Fragmenten zu entnehmen ist, sind bezeichnenderweise Erzhlexempel „psycho-physiologische[r] Gesetze“, die nach dem Prinzip von „Wirkung und Gegenwirkung“274 sensorisch-physiologische Reizintensitten auf ihre psychischen Zerstreuungseffekte hin beschreiben, um in diesem Parallelismus die determinierende Macht der „Gewohnheiten“ bloßzulegen: Der psychologische Vorgang ist ja durchsichtig genug. Aus physischen Bedingungen war ich nachlssig oder unfhig – und so erfolgte auf die vereinheitlichende Anspannung die Reaktion mit ihrer zerfasernden Zerstreuung. Das ist’s eben, was mich oft so namenlos traurig stimmt: gegen eingewurzelte Gewohnheiten und Eigenheiten sind wir im Ganzen machtlos […]. Auch hier triumphiert das Fragment.275

Der Text weist an dieser Stelle eine eigentmliche Verschachtelung seiner Erzhlebenen auf. Die Fragmente, die der Text in den Erzhlprozess einblendet, haben ersichtlich die Funktion, das epische Projekt des Textes, entlang von psychophysischen Parallelfiguren zu erzhlen, zu verdoppeln. Das zweite Fragment, das dem Leser unter dem Titel „Selbsttod 270 Vgl. Christoph Forderer: Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen zwischen Naturalismus und Moderne, Wiesbaden 1992, 225 – 292. 271 Eva-Maria Siegel: High-fidelity. Konfigurationen der Treue um 1900, Mnchen 2004, 169. 272 Conradi: Adam Mensch [1889], 346. 273 Ebd., 345. 274 Ebd., 347. 275 Ebd., 346.

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des Dichters“ gewisse „confessions […] d’un pauvre enfant de la ,future’“ anvertraut, umkreist das prekre sthetische Problem des „a b s o l u t e n “276 Worts. „Alles“ in einem „Wo r t z u s a m m e n f a s s e n “ zu kçnnen gelingt dem Dilettanten nicht, weil jedes Wort und jede Signifikation auf andere Worte und Signifikationen verweist. Der „zuverlssige Improvisator“ des „,Zufall[s]’“277 bewirkt auch hier eine „Ideenassociation“278, die das eminente „Wort“, das den bergangsmenschen „e r k l  r t und […] e r l ç s t “279, fortlaufend aufschiebt: „O h ! k ç n n t e i c h d o c h A l l e s i n e i n Wo r t z u s a m m e n f a s s e n ! Aber dieses eine Wort erinnerte mich, selbst wenn ich es gefunden htte, nur an eine unendliche Anzahl anderer Worte – und so wrde es mir als bedingtes Glied in der Kette keinen e i n z i g e n , l e t z t e n , g r o ß e n , a b s o l u t e n Tr o s t geben.“280 Damit dienen auch die in den Text eingelagerten Fragmente dazu, die Summe der ,Bedingtheiten‘ anzureichern, denen sich Adam Mensch ausgesetzt sieht. Sie thematisieren dieselben psychophysischen Determinierungen, die das Bewusstsein des bergangsmenschen in die heterogene Vielzahl seiner Reizintensitten und Vorstellungsbildungen zersetzen. Auf diesem Weg realisiert Conradis Roman, wie nicht zuletzt die Rezeption des Textes belegt,281 Darstellungsstrukturen, die in der zeitgençssischen Wahrnehmung als Merkmale impressionistischer Kunst verstanden werden: „Es ist eine Kunst“, so Karl Lamprechts kulturtypologische Bestimmung, „der das Seelenleben nur aus Aktualitten zu bestehen scheint: diese, die ohne Unterlaß aufeinander folgenden Sensationen, die Webungen, Wallungen, Spannungen, Schwebungen, die kleinsten noch eben erkennbaren und jetzt erst vçllig aufgedeckten Momente der psychologischen Kontinuitt sind das Material ihrer Formgebung.“282 276 277 278 279 280 281

Ebd., 352. Ebd., 37. Ebd., 229. Ebd., 353. Ebd., 352 f. Vgl. Kurt Grottewitz: Der Impressionismus in Deutschland. In: Das Magazin fr die Litteratur des In- und Auslandes 59 (1889) 41, 641 – 644 und Conrad Alberti: Adam Mensch (Rezension). In: Monatsbltter. Organ des Vereins Breslauer Dichterschule XV (1889), 95. 282 Karl Lamprecht: Deutsche Geschichte. 1. Ergnzungsband: Zur jngsten deutschen Vergangenheit. Bd. 1: Tonkunst – Bildende Kunst – Dichtung – Weltanschauung [1902], 4., unvernd. Aufl. Berlin 1922. 388. Zu den aufschlussreichen zeitgençssischen Wertungskonsequenzen des impressionistischen „See-

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,Bedingt‘ ist Adam Mensch aber auch, weil der Text in Anspielung auf psychophysische Annahmen ber die Funktionsweise des organischen Gedchtnisses, wie sie die Physiologie zu den großen Wissenschaftsmythen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausbaut, alles Handeln als Effekt wiederholter ,Bahnungen‘ und ,Einschreibungen‘ in die organische Substanz versteht. Conradi steht damit berlegungen Ewald Herings nahe, die seit ihrer Erstpublikation im Jahr 1870 nicht nur fr Naturalisten und (sptere) Monisten wie Ernst Haeckel, Wilhelm Bçlsche, Johannes Schlaf oder die Brder Hart, sondern, verfolgte man die wissenschaftsgeschichtlichen Filiationen weiter, auch fr August Forel, Ernst Mach und Richard Semon zentral gewesen sind.283 Herings Theorie des organischen Gedchtnisses beruht auf der psychophysischen Annahme, dass sich alle seelischen Prozesse unmittelbar in der organischen Substanz materialisieren und sich ihr als eine ,Spur‘ einschreiben, die den derart eingeprgten Sinneseindruck jederzeit reaktualisieren kann. Was immer jedenfalls Adam Mensch fr seine Absichten hlt – er folgt allein jenen „Gedanke[n]“, die „die tieffste Furche in seinem Gedchtnis gegraben“284 hatten. So wie „jedes organische Wesen der Gegenwart […] als ein Produkt des unbewussten Gedchtnisses der organisierten Materie“285 erscheint, so fgt sich die Existenz des bergangsmenschen in die Dynamik wechselnder psychophysischer Prgungen, die die Persçnlichkeit in immer andere Identitten ,umschreibt‘: „Er war heute ein so ganz Anderer, wohl war kaum das Bewußtsein intimer Flle in ihm, aber doch

lenleben[s]“ vgl. Grottewitz: Der Impressionismus in Deutschland [1889], 643: „Das erste Beispiel fr den deutschen Impressionismus ist Hermann Conradi’s ,Adam Mensch’. […] Eine so vollendete Karrikatur [sic] eines physisch und seelisch zerrtteten, nervçs berreizten, von seinen Stimmungen ganz abhngigen, gefhlskranken, willensschwachen Gesellen, wie dieses [sic] Adam Mensch, ist selten geschaffen worden. Man muß die Kunst Conradis bewundern, wenn sie auch krank ist, krank durch und durch, man muß sie bewundern, denn sie ist die frappanteste Kunst der Krankheit.“ 283 Vgl. Ewald Hering: ber das Gedchtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie [1870]. In: Ders: Vier Reden. Amsterdam 1969, 5 – 31 und zu Herings Nachwirkungen Stefan Rieger: Richard Semon und/oder Aby Warburg: Mneme und/oder Mnemosyne. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998). Sonderheft ,Medien des Gedchtnisses’, 245 – 263. 284 Conradi: Adam Mensch [1889], 393. 285 Hering: ber das Gedchtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie [1870], 25.

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durchzitterte es ihn wie eine Ahnung, daß es in ein anderes Geleise eingelenkt.“286 Es entspricht diesem Dynamismus, dass der Text seine Hauptfigur in eine uferlose Erotik verstrickt. Uferlos ist sie zunchst in ihrer unablssigen inneren ,Besprechung‘ und Reflexion; uferlos ist sie aber auch, weil die Vielzahl der Begegnungen, denen Adam Mensch wie ein „Opfer der Situation“287 nachsprt, in aller Regel lediglich Mçglichkeiten bleiben. Allenthalben werden die Gelegenheiten nur halb ergriffen oder in der Schwebe gelassen, um der bergangsexistenz auch auf dem Feld des Erotischen Festlegungen zu verunmçglichen. „So hatte sich mit der Zeit bei Adam das Bedrfnis herausgebildet, sich allerlei Mçglichkeiten zu verschaffen, die seinen Hoffnungen, seinen Erwartungen einen mçglichst großen Spielraum gewhrten.“288 Strukturell bildet dieser Dynamismus der Mçglichkeiten nur nach, was die zufllige „Ideenassociation“289 zur Wahrnehmungsrealitt des bergangsmenschen macht. Der neurasthenischen Hedwig Irmer gegenber ist Adam Mensch reiner Ekstatiker der Situation, dem die „Motiv[e]“ seiner Zuwendung, kaum dass sie sich eingestellt haben, schon wieder fremd werden: Der Gedanke an sie [Hedwig Irmer, I.S.] hatte […] unwillkrlich – jetzt wurde er sich dessen bewußt – in den letzten zwei Tagen die stete Unterstrçmung seines Seelenlebens gebildet. […] Und da! . . da schumte es […] in ihm auf … da begehrte er plçtzlich, diese Ungeberdigkeit zu zhmen, diesen Trotz zu brechen, diese Klte zu bezwingen … Da wußte er, wie sß und berauschend es sein mßte … es wahr und wahrhaftig es sein wrde, diese herben Lippen zu kssen … […]. Ein fanatischer Sehnsuchtsrausch war jh ber ihn gekommen. Ein starkes Leben durchpulste ihn … ein einziges Wollen erfllte ihn. […] Aber da verflchtigte sich auch die heiße Sehnsucht des Blutes schon wieder. […] Die Dame war doch eigentlich schon zu eingefroren, zu steif, zu erkaltet.290

Wem immer sich Adam Mensch zuwendet – der Kaffeehauskokette Emmy, der femme fragile Hedwig Irmer oder der reichen Witwe Lydia, die er aus finanziellen Erwgungen schließlich heiratet: Ihnen allen begegnet Adam Mensch mit jener epochalen „Blasirtheit“291, die den Reizschutzmechanismen des modernen Menschen – ber ein Jahrzehnt 286 287 288 289 290 291

Conradi: Adam Mensch [1889], 428. Ebd., 225. Ebd., 143. Ebd., 229. Ebd., 126 f. Ebd., 218.

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vor Georg Simmel – einen Namen und eine psychische Realitt gibt.292 In allen „Wesensfragen“ nur „Theoretiker“ und „schon viel zu gleichgltig“, um „,Wesensfragen‘ noch zu stellen“293, ist Adam Mensch unter der Last seiner „nervçsen Ueberreizung“294 auch dem Intimsten gegenber nur mit einer ,urbanen‘ Mischung aus Engagement und Distanz, aus momenthafter „Leidenschaft“295 und khler „Zwanglosigkeit“296 aufgeschlossen. Was Georg Simmel 1903 zur Symptomatik der „Blasiertheit“ zhlt – die „Folge […] rasch wechselnde[r] und in ihren Gegenstzen eng zusammengedrngte[r] Nervenreize“, nicht zuletzt das „maßlose[] Genußleben“297 der Großstadt –, all das hat sich in der literarischen „Paralyse des Seelenlebens“298 lngst zu einer universalen Gleichgltigkeit vergrçßert; allerdings zu einer Gleichgltigkeit, die sich auf das Engste mit Simmels spteren Einsichten in die Psychologie der Moderne deckt, weil auch die erotischen Begegnungen in Conradis Text eine ,entfrbende‘ Beziehungslogik errichten, in der „die Bedeutung und der Wert der Unterschiede […] nichtig“299 geworden sind. „Das Wesen der Blasiertheit“, so Simmel, „ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge […]. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmßig matten und grauen Tçnung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden. Diese Seelenstimmung ist der getreue subjektive Reflex der vçllig durchgedrungenen Geldwirtschaft […].“300 Auch Adam Mensch betont, dass das „Gesetz“ der Moderne „[i]m er o t i s c h e n und im p e k u n i  r e n Problem“301 sein Zentrum findet, und weil der Roman Erotik und Geld auf diese Weise miteinander verknpft, bildet der gesamte Reigen der erotischen Beziehungen nichts anderes als die Verkehrslogik des Geldes und des aufkndbaren Vertrags nach. Auf diesem Weg stellt die ganze so „machtlos“ gewordene „Willenskraft“302, die Conradis Roman 292 Ein hnlich frher literarischer Beleg findet sich in einer Novelle Max Nordaus. Vgl. Max Nordau: Blasiert. In: Ders.: Seelenanalysen. Novellen, Berlin 1892, 31 – 61. 293 Conradi: Adam Mensch [1889], 95. 294 Ebd., 101. 295 Ebd., 94. 296 Ebd., 96. 297 Georg Simmel: Die Großstdte und das Geistesleben. In: Jahrbuch der GeheStiftung Dresden 9 (1903), 185 – 206, 193. 298 Conradi: Adam Mensch [1889], 448. 299 Simmel: Die Großstdte und das Geistesleben [1903], 194. 300 Ebd., 193 f. 301 Conradi: Adam Mensch [1889], 372. 302 Ebd., 191.

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umkreist, auch noch fr diese Formen abstrakter Zirkulation den metaphorischen Bezugsrahmen zur Verfgung: In ihm sind all die „matten“ Entfrbungen, die im Fluss befindlichen und nivellierten Qualitten aufgehoben, die die Moderne zu einer universalen Metonymie, die alles mit allem in Beziehung setzt, herabmindert. Unter den umfnglichen Textoberflchen, die der „Paralyse des Seelenlebens“ und der „regelrechten Dcadence“303 der Hauptfigur immer neue Nahrung geben, deuten sich freilich Restbestnde einer Geschichtsteleologie an. Dass sie zunchst nur das epochale Schema wiederholen und die eigene Gegenwart der Verußerlichung „in Errungenschaften mehr technischer Natur“304 bezichtigen, ist wenig bemerkenswert und greift all jene kulturkritischen Topoi der Jahrhundertwende auf (Julius Langbehn), die eine „Zeit der Verinnerlichung“305 herbeisehnen. Signifikant ist demgegenber das eigentliche Projekt dieser Moderne. Sie besteht in der Ahnung einer Zukunft, in der, wie es heißt, die „Psychophysik […] Gemeingut“ geworden ist. Diese ,demokratisierte‘ Psychophysik soll offenbar den Schleier lften, der in der Vergangenheit ber den Rtseln des „Pathologische[n] und Psychopathische[n]“306 gelegen hat. Im Zentrum von Conradis Moderne steht eine Mythologie der modernen Seele, die die Erlçsung des Menschen im Zeichen „psychischer Gesetze“307 verspricht, wenn diese Erlçsung auch eigentmlich leer bleibt und lediglich die leitenden semantischen Kategorien austauscht: Aus dem „[p]athologische[n]“ Gesamtcharakter der Gegenwart wird im Zeitalter der vollstndigen psychophysischen Selbsttransparenz des Menschen das „normal Psychische[]“308, wie das „Neue“ aus den Unformen des Lebens schließlich „Formen“ schafft, die dem Leben wieder Gestalt und bindende Kraft zurckgeben: „Der blutige ,Kampf ums Dasein’, dieses Ringen um Leben und Tod unserer Tage, wird gemildert und gesnftigt werden. Erkennen, Ergrndung psychischer Gesetze: das ist die Hauptaufgabe der modernen Forschung. Das Neue ist dabei, sich seine Formen 303 Ebd., 448. 304 Ebd., 106. 305 Ebd. Vgl. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tbingen 1993, bes. 1 – 20. Grundbuch dieses Seelen- und Innerlichkeitskultes ist Maurice Maeterlincks Schatz der Armen (1896), das gesamteuropisch rezipiert wird. 306 Conradi: Adam Mensch [1889], 106. 307 Ebd. 308 Ebd.

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zu schaffen […]. Und einmal wird die Zeit gekommen sein, wo sich das Neue heimisch fhlt in seiner Umgebung.“309

4. Intime Dramen. Das innere Jenseits des Dialogs und die Archologie des Ichs (Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf ) Es fllt leicht, gedankliche Unschrfen, wie sie Conradis Roman kennzeichnen, als erneuten Beleg fr die „Unreife“310 und geringe Qualitt des Textes zu werten und von dort auf ein weiteres Exempel des ,gescheiterten‘ Naturalismus zu schließen. Allerdings wrde man in diesem Fall den epochalen Zug des Textes verfehlen. Otto Brahm, ein ebenso interessierter wie genauer Beobachter der naturalistischen Literaturszene, vermerkte 1890, nur ein Jahr nach dem Erscheinen von Adam Mensch, dass die „Lehre […] von der Unfreiheit des Willens“ zu einer Art kollektivem „poetischem Eigentum“311 geworden sei. Wenn Brahms Wort auch auf Ibsen und Hauptmann gemnzt war, so trifft es doch einen Grundzug der naturalistischen Epoche. Dass der Wille – neben dem Problem der Vererbung und der sozialen Frage – den „modernen Ideengehalt“312 der Literatur ausmacht, kann unwidersprochen gelten, zumal die fr die deutschen Autoren des Naturalismus so wichtige und prgende Erfahrung Ibsens ganz im Zeichen der Willensproblematik steht. In dieser Hinsicht teilt Gerhart Hauptmanns zweites naturalistisches Drama, Das Friedensfest (1890), zunchst allgemeine Charakteristika des naturalistischen Theaters. Allerdings ist das entsprechende Referenzwissen der Nervositt und der Vererbung in naturalistischen Dramen nicht einfach prsent, sondern in deren Formprinzipien vermittelt. Diese Vermittlung wird in den umfnglichen Regieanweisungen geleistet, die im naturalistischen Drama einen eigenen Verweisungshorizont bilden. Bezeichnenderweise sind die naturalistischen Regieanweisungen schon frh Gegenstand eigener Untersuchungen gewesen,313 und es gehçrt zu 309 Ebd. 310 Klaus Gnther Just: Von der Grnderzeit bis zur Gegenwart. Geschichte der deutschen Literatur seit 1871, Bern, Mnchen 1973, 54. 311 Otto Brahm: Hauptmann: Das Friedensfest. In: Ders.: Kritiken und Essays. Ausgew., eingel. und erlutert von Fritz Martini, Zrich, Stuttgart 1964, 322 – 332, 325. 312 Ebd. 313 Vgl. Wilhelm Meincke: Die Szenenanweisungen im deutschen naturalistischen Drama, Rostock 1930.

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den lang whrenden Kontinuitten in der Deutungsgeschichte des Naturalismus, diesen aufflligen Detailreichtum der diegetischen Anweisungen, die Redetempo und Stimmmodulation, Dynamik und Sprechpausen, Gestik, Mimik und dialektale Frbung minutiçs festlegen, als Bemhung um eine „grçßtmçgliche Annherung an die Treue zum Detail“314 zu verstehen. Zumal in der zeittypischen Nhe zu photographischen Verfahren bezeugt der Naturalismus Effekte einer Prsenz, die – im Gegenzug zu den bekannten Annahmen ber eine um 1900 aufbrechende Referenzproblematik – Zeichen mit Bedeutungen korreliert, indem sie jeder unwillkrlichen Interjektion, jedem Detail des Interieurs oder der Kleidung einen distinkten Sinn zuweist. In diesem Verstndnis htte man es mit einem Naturalismus zu tun, die die lteren Darstellungsansprche des poetischen Realismus nicht mehr idealrealistisch erfllt, sondern in die ,punktualistischen‘ Metonymien umschreibt, die sich zwischen dem dramatischen Zustandsbild und der ,Realitt‘ aufspannen. Schon Theodor Fontanes prominente, auf die Familie Selicke gemnzte Formulierung, das naturalistische Drama biete lediglich „,Ausschnitte[]‘ aus dem Leben“315, hat diesen Sachverhalt przise erfasst. Man kann das Beharren auf den referentiellen Leistungen des naturalistischen Dramas als heuristischen Horizont verwenden, um sichtbar zu machen, was die Redeordnungen der Einzeltexte diesen Horizonten hinzufgen oder wo sie sie unterlaufen. Fr Das Friedensfest ist zunchst zu festzuhalten, dass die Regieanweisungen einen Determinismus ausbilden, vor dessen Hintergrund das gesamte dramatische Personal als tief greifend pathologisierte Determinationsgemeinschaft erscheint; fast alle Figuren sind entweder von neurasthenischen oder hysterischen Symptomen gezeichnet oder sind in ein Redeverbot verstrickt, dessen obstinate Prsenz auf eine traumatische Vergangenheit verweisen soll. Wie schon bei Ibsen sind diese ,traumatogenen‘ Zge insofern eng mit der analytischen Form des Dramas verbunden,316 als die im analytischen Prozess zu Tage tretende Vergangenheit jenen Ursprung markiert, der die einzelnen Figuren negativ vergemeinschaftet. Wenn es im naturalistischen Drama

314 Siegel: High fidelity, 208. 315 Theodor Fontane: Holz/Schlaf: Die Familie Selicke; Kielland: Auf dem Heimwege [8. 4. 1890]. In: Ders.: Theaterkritiken. Bd. 4: 1884 – 1894. Hg. von Siegmar Gerndt. Mit einem Nachwort von Karl Richter, Mnchen 1979 (Werke und Schriften Bd. 33), 229 – 232, 231. 316 Vgl. Kap. III.

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eine Gemeinschaft gibt, dann ruht sie auf der doppelten Herkunft der sozialen Entzweiung und der kollektiven Degenereszenz. Im Spannungsfeld dieses naturalistischen, Soziologismus und Biologismus zusammenschließenden Grundmythos verluft auch die Handlung der Hauptmannschen „Familienkatastrophe“, die sich an einem „Weihnachtsabend der achtziger Jahre“317 zutrgt. Zu diesem Zeitpunkt trifft nach einen langen Phase der Entfremdung und des Streits die Familie Scholz beinahe vollstndig in einem Landhaus bei Erkner zusammen. Auch der lteste Sohn Wilhelm hat nach einem Zeitraum von sechs Jahren erstmals wieder sein Elternhaus betreten, allerdings nicht aus eigenem Impuls, sondern auf Drngen seiner Verlobten Ida und ihrer Mutter, Frau Buchner. In die von einem dunklen Geheimnis belastete Atmosphre trifft berraschenderweise noch der Vater; wie Wilhelm hatte auch er das Haus vor sechs Jahren verlassen. Von diesem Zeitpunkt an, mit dem die Exposition des Stcks beendet ist, zerteilt sich die dramatische Handlung in zwei Strnge: Zum einen soll das vor allem von Frau Buchner angestrengte, symbolische „Friedensfest“ die lang whrenden Spannungen berwinden helfen – tatschlich kommt es in einer dramaturgisch bemerkenswerten Szene zu einer zwischenzeitlichen Versçhnung zwischen Wilhelm und seinem Vater –, zum anderen entfaltet sich die Handlung gattungstypisch als Aufklrung jener Vorgeschichte, die die tiefe Verfehlung der Familienmitglieder – Wilhelm hatte den Vater geohrfeigt, um die Mutter vor Verleumdungen zu schtzen – begrndet. Nach dem die Konflikte im Gefolge dieser und anderer Enthllungen umso unversçhnlicher aufbrechen, verlsst der jngere Sohn Robert das Haus, whrend der Vater in einem Nebenraum berraschend stirbt. Mit Wilhelms Vorsatz, das Landhaus zu verlassen und seine Verlobung mit Ida zu lçsen, endet die „Familienkatastrophe“.318 Zerwrfnisse dieser Art stoßen in naturalistischen Dramen auf Erklrungsmuster, die das Entzweiungsgeschehen aus pathologisch und hereditr begrndeten Dispositionen herzuleiten versucht. Insofern prgt den Text ein uferloser Nervosittsdiskurs, der zwischen Phnomenen allgemeiner nervçser Unruhe, Neurasthenie und Hysterie nicht eigentlich 317 Gerhart Hauptmann: Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe [1890]. In: Ders.: Smtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass. Bd. 1: Dramen, Darmstadt 1966 [Centenar-Ausgabe Bd. 1], 99 – 165, 103. 318 Zu den (auto-)biographischen Subtexten der Handlung, zu denen auch Mitteilungen Frank Wedekinds ber dessen husliche Verhltnisse zhlen, vgl. Gnther Mahal: Naturalismus, Mnchen 31996, 216 und Friedhelm Marx: Gerhart Hauptmann, Stuttgart 1998, 56.

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unterscheidet und damit einen zeittypischen Symptomkomplex bemht. Alle Figuren leiden am Verlust ihrer Willensinitiativen, und alle Figuren sind durch die Symptome ihrer neuropathischen Leiden hindurch erkennbar Willensschwache. Frau Scholz ist laut Regieanweisung „ruhelos […] und erregt den Eindruck andauernder Aufgeregtheit“319. Ihre Tochter Auguste verbindet mit der „Aufgeregtheit der Mutter“ ein „pathologisch offensives Wesen“320, whrend sie von ihrer Umwelt vor allem als Neurasthenikerin wahrgenommen wird: „Auguste ist ja so nervçs…! Gerade wie ihr Vater“321, so Frau Scholz; „Sie sind nervçççs, liebes Kind“322, bekrftigt Frau Buchner nach den ersten Sprechstzen Augustes. Auch die jngere Tochter Ida trgt unter der Maske „verschleierter Heiterkeit und Glckszuversicht“ eine nervçse Dynamik aus, die sie „spontan“ und „plçtzlich“323 in immer anderen Stimmungen zeigt. Robert und sein Vater zeigen die selben Symptome einer nervçsen Erschçpfung, die sie wie „erstorben“ und „schwerfllig“324 wirken lassen: Robert ist gemß Regieanweisung „schmchtig, im Gesicht hager und blaß“, „[s]eine Augen liegen tief und leuchten zuweilen krankhaft“325, whrend den Vater ein „vagierender Blick“ und „zittrige Bewegungen“326 kennzeichnen. Wilhelm schließlich ist in zunehmendem Maße „berreizt und abgespannt“.327 Es gehçrt zum Verfahren naturalistischer Dramen, die Subtexte ihrer Determinationen an der ,Oberflche‘ des Textes zu realisieren, jedenfalls gibt es in Hauptmanns Friedensfest – anders als im naturalistischen Roman – keine Ebene, die sich als Transformation eines abgeblendeten oder ,tiefenstrukturellen‘ Determinationszusammenhangs zu erkennen gbe. Entsprechend vermeidet der Text jedes Geflle zwischen den Regieanweisungen und der Figurenrede: In beiden Zeichendimensionen ist der Zusammenhang zwischen nervçser Disposition, Hereditt und Erziehung explizit, und beide Zeichendimensionen entstehen an einem identischen familialen Ort, der die Herkunft der gemeinsamen Degeneration markiert. „Wir sind alle von Grund auf verpfuscht. Verpfuscht 319 320 321 322 323 324 325 326 327

Hauptmann: Das Friedensfest [1890], 105. Ebd., 107. Ebd., 110. Ebd., 107. Ebd., 108. Ebd., 112 f. Ebd., 116. Ebd., 113. Ebd., 157.

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in der Anlage, vollends verpfuscht in der Erziehung“, unterbricht Robert die Bemhungen Frau Buchners um Aussçhnung. „Da ist nichts mehr zu machen.“328 – „Ich habe gesagt“, erklrt sich Wilhelm im dritten Akt, „wir alle … wir Geschwister … daß wir unheilbar kranken … vor allem ich … daß wir an uns schleppen.“329 In gewisser Weise kçnnte der Eindruck entstehen, Hauptmanns Friedensfest bezeichne in dieser Aufnahme der entsprechenden nervçsen bzw. degenereszenten Symptomstnde bereits die eigene strukturelle und thematische Grenze. Sie bestnde in der Wiederholung all jener sozialen Anomien und empirischen Materialien, die um 1890 von der entstehenden Soziologie, insbesondere von Emile Durkheim, konstatiert,330 unter den Vorzeichen von Entartung (Max Nordau) bzw. Degenereszenz (August Morel) erbbiologisch und kulturhistorisch ,verobjektiviert‘ und schließlich in ein literarisches Drama der familialen Intimitt gewendet werden.331 In ihm verbinden sich in aller Regel die Krise der Familie mit 328 Ebd., 121. 329 Ebd., 155. 330 Vgl. Emile Durkheim: Der Selbstmord [1897], Neuwied, Berlin 1973, 329. Hierzu zhlen die „krankheitshnliche[] Erschtterung“ (Ebd., 436) der sozialen Ordnung, insbesondere der Verlust der „frhere[n] Schutzwirkung“ (Ebd., 447) der Familie. – Diese und andere Formulierungen belegen im brigen, dass auch Durkheims Anomie-Begriff einen ,sentimentalischen’ Kern beherbergt, wie er in Kap. IV thematisch war. Als ,anomisch’ gilt Durkheim eine kulturelle Entwicklung, in deren Verlauf soziale Handlungen „weder aufeinander, noch auf die Bedingungen, denen sie gerecht werden sollen, abgestimmt“ (Ebd., 329) sind. ,Historisch’ entspricht dem bei Durkheim der Zusammenbruch all jener gemeinschaftsfçrmigen Momente, die auch in der deutschen Soziologie eines Tçnnies oder Simmel den quasi-geschichtsphilosophischen Rahmen der Modernisierung abgeben. Vgl. Ebd., 447 f. In seiner formalen Fassung – bergang von Struktur zu Nicht-Struktur, von Ordnung zu endemischer Unordnung, von ,fließender’ zu unterbrochener Information – unterhlt der Anomie-Begriff im brigen auffllige Affinitten zur Entropie. Vgl. die kursorischen Bemerkungen bei Crary: Aufmerksamkeit, 151 f. 331 Die Deutungsgeschichte des Stcks hat sich, auch dort, wo es „aus der unmittelbaren Zeitgebundenheit der naturalistischen Literaturbewegung“ (Helmut Scheuer: Gerhart Hauptmanns ,Das Friedensfest’. Zum Familiendrama im deutschen Naturalismus. In: Robert Leroy/Eckart Pastor (Hg.): Deutsche Dichtung um 1890. Beitrge zu einer Literatur im Umbruch, Bern, Berlin, Frankfurt/M. u. a. 1991, 399 – 416, 399) gelçst wird, ganz auf diese ,gehaltliche’ Dimension konzentriert. Zu den lteren Versuchen, den Text als universale „Tragçdie des Menschlichen“ zu verstehen, vgl. Fritz Martini: Nachwort. In: Gerhart Hauptmann: Bahnwrter Thiel. Novellistische Studie, Stuttgart 1970, 47 – 55, 52. Vgl. auch Wilhelm Emrich: Der Tragçdientypus Gerhart Haupt-

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der Krise der Vter und die Krise der Persçnlichkeit mit der der Geschlechteridentitt. Ruth Florack hat diese thematische Selbstpositionierung der frhen Literaturmoderne am Beispiel der Hauptmannschen Familiendramen verdeutlicht332 und damit die Ubiquitt des „nahezu universal“ gewordenen „kulturtheoretischen Diskurs[es]“333 der Degenereszenz dokumentiert. Aus diesem Determinismus legt der Text immerhin einen Ausweg nahe. Denn die „tiefe[n] Klfte“, die zwischen den „Familienmitgliedern“ bestehen, sollen, wie Frau Buchner im ersten Akt glaubt, durch einen „festen, ehrlichen Willen“334 geschlossen werden kçnnen. Damit findet auch Hauptmanns Friedensfest Anschluss an einen Willensdiskurs, der in den fortwhrenden Anrufungen von Willensenergien zugleich deren Ermdungen und Unmçglichkeiten sichtbar macht. In dieser Hinsicht ist Hauptmanns Friedensfest die dramatische Allegorie einer naturalistischen Grundspannung, die Determinismus und Wille in einen symbolischen ,Kampf‘ verstrickt und in den Konstellationen der Dramenhandlung zeigt. Entsprechend beklagt Wilhelm im Redezentrum des familialen manns [1955]. In: Hans Jrgen Schrimpf (Hg.): Gerhart Hauptmann, Darmstadt 1976, 145 – 162, 150 ff. Die jngere Forschung hat demgegenber die intimittsgeschichtlichen, sexualanthropologischen und degenereszenten Implikationen des Textes betont. Vgl. mit Blick auf die Gattungstradition des brgerlichen Trauerspiels, das von Hauptmann in eine Krise der paternalen Autoritt umgeschrieben wird, Klaus Mller-Salget: Autoritt und Familie im naturalistischen Drama. In: Zeitschrift fr deutsche Philologie 103 (1984), 502 – 519. Zu den sexualanthropologischen Dimensionen des Textes vgl. Ruth Florack: Entartete Geschlechter. Sexualcharakter und Degeneration in Gerhart Hauptmanns Familiendramen. In: Text+Kritik. Zeitschrift fr Literatur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. H. 142: Gerhart Hauptmann (IV/1999), 64 – 76, 65. Eine die verschiedenen Anstze zusammenfhrende Lesart im Kontext einer literarischen Begriffsgeschichte der Intimitt liefert Marianne Streisand: Intimitt. Begriffsgeschichte und Entdeckung der ,Intimitt’ auf dem Theater um 1900, Mnchen 2001, 217 ff. Im Falle des Friedensfestes liegt eine entsprechend familiale Problematik allerdings nahe, da das Drama ursprnglich Der Vater betitelt war. Vgl. Walter Requardt/Martin Machatzke (Hg.): Gerhart Hauptmann und Erkner. Studien zum Berliner Frhwerk, Berlin 1980, 161. Von Hauptmanns frhen Dramen gehen in dieser Hinsicht wesentliche Impulse fr die spteren VaterDramen des Expressionismus (Reinhard Sorge, Arnolt Bronnen, Walter Hasenclever) aus. Eine wichtige Brckenfunktion besitzt Hauptmanns eigenes VaterDrama Michael Kramer (1900). 332 Vgl. Florack: Entartete Geschlechter. 333 Walter Erhart: Medizingeschichte und Literatur am Ende des 19. Jahrhundert. In: Scientia Poetica 1 (1997), 224 – 267, 264. 334 Hauptmann: Das Friedensfest [1890], 112.

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Traumas, d. h. im Anschluss an sein schmerzvolles Bekenntnis, den Vater vor Jahren „buchstblich […] ab-ge-straft“ zu haben, dass der „Wille“ lediglich „ein Strohhalm“335 sei. „Der Wille, der Wille!“, antwortet Frau Scholz auf die Versçhnungsbemhungen von Frau Buchner, „geh mer nur damit!“: Das kenn‘ ich besser. Da mag man wollen und wollen und hundertmal wollen, und alles bleibt doch beim alten. […] Gott ja, der Wille, der Wille! – ja, ja alles gutter Wille – dein Wille ist sehr gutt, aber ob du damit etwas erreichen wirst –? Ich glaube nicht.336

Im Blick auf derartige Vergeblichkeiten ist ein Großteil des dramatischen Geschehens als pantomimisches bzw. wortloses Spiel realisiert. Es verdeutlicht die Entschlussunfhigkeit der Figuren, in dem sie ziellos den Raum durchschreiten, gegenlufigen Handlungsimpulsen folgen oder in Redeanstzen verharren, die ein laufendes hermeneutisches Spiel von Andeutung und Deutung anstoßen. „Der Dialog“, so hatte schon eine zeitgençssische Besprechung des Friedensfestes betont, „ist ein fortwhrendes Gestammle und Gestotter, in dem uns nur selten ein abgeschlossener Satz begegnet, ein Wortgehcksel, wie es in der Wirklichkeit wahrlich nie gehçrt wird.“337 In gewisser Weise vollzieht Hauptmanns Text damit etwas, was man eine ,Punktualisierung‘ des dramatischen Handelns nennen kçnnte. Diese Punktualisierung fgt das Handeln und Reden gerade nicht zu kohrenten Handlungssequenzen zusammen, sondern bildet ein dramatisches Artefakt aus, das die Reden und Handlungen zu diskontinuierlichen Momenten, zu radikalen ,Plçtzlichkeiten’, vereinzelt. Alles, was den Dialog im Text fortlaufend suspendiert – Mimik und Kçrpersprache, die diskontinuierliche Bewegung der Figuren im Raum, die ganze, fr den Naturalismus bezeichnende Lautmotorik, die die Rede in eine linguistische Anatomie des Stotterns, Ansetzens und Abbrechens von ußerungen auflçst –, all das zerstreut die herkçmmliche Diskursordnung des Dramas zugunsten von isolierten raum-zeitlichen Einzelsegmenten. Ihre formale Sprengkraft besteht darin, dass sie zwar weiterhin als Teile der linearen Sukzession des Dramas fungieren, aber sich in ihm tendenziell verselbstndigen und als Momente 335 Ebd., 133. 336 Ebd., 112. 337 Rezension im Berliner Bçrsen-Courier vom 1.6.1890. Zit. nach Gernot Schley: Die Freie Bhne in Berlin. Der Vorlufer der Volksbhnenbewegung. Ein Beitrag zur Theatergeschichte in Deutschland, Berlin 1967, 77.

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wirken, deren Zusammenhang nicht mehr durch ein Kontinuum von individuellen Intentionen gestiftet wird. Insofern sind all die Introspektionen, die Hauptmanns Figuren schmerzhaft ihre eigene Wankelmtigkeit erleben lassen, auch Beschreibungen der diskursiven Nicht-Ordnung des dramatischen Geschehens. „Ich bin“, so konstatiert Wilhelm gegenber seiner Verlobten Ida, „so entsetzlich wandelbar! [Auf die Stirn deutend.] Dahinter ist kein Stillstand! Schicksale in Sekunden!“338 Wenn Frau Buchner unter dem Eindruck der wahren Familienverhltnisse berstrzt die Szene verlsst, mndet Roberts Spiel in eine mimische und motorische Prsenz, die nur die unwillkrlichen Impulse der Figur zu sehen gibt: Robert, ihr nachrufend. Frau Buchner! Sich wendend. Hysterie, verdammte! Er zuckt mit den Achseln und durchmißt den Raum; mehrmals noch nimmt er plçtzlich einen Anlauf, wie um ihr nachzueilen, ndert aber jedes Mal seinen Entschluß, gibt ihn schließlich ganz auf und beruhigt sich gewaltsam bis zu einem Stadium scheinbaren Gleichmuts. 339

Dass Frau Buchner in Roberts Augen als Hysterikerin erscheint, verwundert angesichts der im Text aufgerufenen neurasthenischen und hysterischen Phnomenkomplexe nicht, zumal in der Verbindung von Weiblichkeit und Hysterie ein konventionelles kulturelles Diskreditierungskapital ausgestreut wird. Fr die Problemstruktur des Stcks besitzt die Hysterie, die schon in Nietzsches Fall Wagner auf das Engste mit der Willensproblematik verknpft war, allerdings eine systematische Bedeutung. Hauptmanns Text legt im Zeichen der Hysterie einen grundstzlichen Schauspielverdacht aus; beinahe alle Interaktionen, die um die authentische oder simulierte Bereitschaft zur Versçhnung kreisen, zehren von einem ,großen Hysterismus’, der jeden Redeakt und jedes Verhalten als theatralisch, als „Komçdie“340, brandmarkt.341 Wenn Auguste, „von Trnen halb erstickt“, an ihre frhere Rolle als „Dienstmagd“ ihrer Mutter erinnert, dann gleicht sich nicht nur die Exaltation der Sprechsynkopen einer hysterischen Rede an, sondern der gesamte Auftritt wird vom Bruder als Bhnenrede entlarvt, die „echt“ klingt, ohne echt zu sein:

338 339 340 341

Hauptmann: Das Friedensfest [1890], 128. Ebd., 122 f. Ebd., 117. Abweichungen von dieser Sprechhaltung werden in den Regieanweisungen ausdrcklich vermerkt. ber Dr. Scholz heißt es im ersten Akt beispielsweise, dass er „mit echter Empfindung redend“ (Ebd., 115) darzustellen sei.

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Auguste. […] ich – die ich hier gesessen hab‘ … bei der Mutter hier – die schçnste … schçnste Zeit meines … Lebens verbracht, whrend ihr … ich … geradezu wie eine Dienstmagd … Robert. Das klingt sehr echt – in der Tat! – geh doch zur Bhne! – Mit verndertem Ton, brutal. Mach keine schlechten Scherze! Hçr mal: du und der Mrtyrernimbus, das wirkt einfach putzig. Du bist eben woanders noch weniger auf deine Rechung gekommen als zu Hause: das ist die Wahrheit! […] Frau Scholz, unterbrechend. Kinder! Sie macht eine Bewegung, als ob sie ihre Brust fr den Todesstoß entblçßen wollte. Da hier! – macht mich doch lieber gleich tot! Habt ihr denn nicht so viel Rcksicht fr mich? […] … nich fnf Minuten halten sie Frieden. Robert. Na ja, freilich! Ich sag‘ ja schon: es wird eben wieder ungemtlich. Auguste. […] Piettlos bist du – durch und durch. Robert. Na item. Auguste. Aber du spielst Komçdie; du lgst ganz erbrmlich, und das ist das Widerwrtige daran!342

Das Zitat macht deutlich, dass der Simulationsverdacht die Tendenz besitzt, sich epidemisch fortzuzeugen und den dramatischen Prozess auf diesem Weg voranzutreiben. Kaum dass sich Robert und Auguste wechselseitig der Schauspielerei bezichtigt haben, bemerkt Frau Buchner: „Herr Robert! Ich glaube Ihnen nicht … Sie sind besser, als Sie uns glauben machen wollen […].“343 Weil sich, wie Robert betont, alle Handelnden der „Mhe“ aussetzen, „’n paar gleichgltige Gefhle zu heucheln“344, ergreift die „verdammte [Hysterie]“345 alles Handeln und Reden. In diesem Sinne ist der hysterische Schauspielverdacht zutiefst mimetisch: Er verknpft die Reden der Figuren, indem er sie durch die Serie der immer gleichen Beschuldigung, nicht aufrichtig zu sein, fortsetzt und so eine Sequenz von Nachahmungen gleicher oder doch hnlicher Konfliktkonstellationen anstçßt. „Kçnnten Sie nicht …“, wird Robert von Frau Buchner gebeten, „Kçnnten Sie nicht fr diesen Abend einmal Ihre Maske ablegen? – Robert. Sehr gut – Maske ablegen? – Frau Buchner. Ja, denn es ist wirklich nicht Ihr wahres Gesicht, was Sie herauskehren.“346 Auf dem Hçhepunkt der familiren Konflikte, auf dem Ida in aller Unschuld ein Weihnachtslied vortrgt, bezeichnet Robert den

342 343 344 345 346

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

116 f. 118. 116. 122. 120.

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weihnachtlichen Frieden schließlich in „beißende[m] und wegwerfende[m] Tone“ als „Kinderkomçdie“: Robert scheint gegen Ende des Gesanges unter den Tçnen physisch zu leiden. Die Unmçglichkeit, sich dem Eindruck derselben zu entziehen, scheint ihn zu foltern und mehr und mehr zu erbittern. Unmittelbar nach Schluß des Verses entfhrt ihm […] unwillkrlich das Wort Kinderkomçdie! in einem beißenden und wegwerfenden Tone. […] Frau Scholz und Auguste, gleichzeitig. Robert! […] Wilhelm. Robert! treib’s nicht zu weit! Nimm meinen Rat an! Du hast mir vorhin eine Rhrszene vorgemacht, das macht dich nur noch widerwrtiger. Robert. Sehr richtig: – Rhrszene. – Bin selbst der Meinung.347

Der uferlose Argwohn solcher Szenen legt die Vermutung nahe, dass Teile der Dramenhandlung, anders als es die kanonische Lesart im Anschluss an Peter Szondi glaubt, nicht restlos im analytischen Schema des Stcks aufgehen.348 Sie unterhalten vielmehr Verweise auf eine subkutane Problemschicht, die palimpsestartig unter den Verlautbarungen der Figuren hervortritt, um Verschuldungen und Konflikte ganz anderer und beunruhigenderer Natur anzudeuten.349 Andererseits kommt es auf die inhaltliche Qualitt dieser verborgenen Konfliktschicht nur sekundr an. Wichtiger ist der bereits vermerkte Umstand, dass der Text diese unterschwellig hervortretenden Schuldzusammenhnge nach den Gesetzen einer mimetischen Logik anordnet, so dass den Punktualisierungen in den Sprach- und Lautereignissen des Textes ein tendenzielles Gleiten seiner Konfliktstruktur gegenbertritt. Darin folgt Das Friedensfest dem Muster einer ,andauernden‘ Exposition, weil der Text immer neue und doch hnliche Konfliktmomente aneinander reiht, die – denkt man an das wenig motivierte Ende, das durch den berraschenden Tod des Vaters besiegelt wird350 – eine weitgehend beliebige Handlungssequenz bilden.

347 Ebd.,145 f. 348 Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas 1880 – 1950 [1956], Frankfurt/M. 1963, 62; Mahal: Naturalismus, 230; Ulrike Horstenkamp-Starke: ,Dass die Zrtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut’. Autoritt und Familie im deutschen Drama, Frankfurt/M. 1976, 169. 349 Vgl. Hauke Stroszek, ,Sie haben furchtbar, furchtbar gefehlt’. Verschweigung und Problemstruktur in Gerhart Hauptmanns ,Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe’. In: Euphorion 84 (1990), 237 – 268. 350 Vgl. Scheuer: Gerhart Hauptmanns ,Das Friedenfest’, 409: „Die in naturalistischen Werken als Abschluss beliebten Todesflle stellen meist einen recht willkrlichen und keinen dramaturgisch notwendigen Schluss dar.“ Von dem „notorisch ,offene[n]’ Schluss“ naturalistischer Dramen spricht auch Reinhold

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Entsprechend sind Hauptmanns sptere ußerung zu verstehen, dass das „Drama, das nicht vom ersten bis zum letzten Wort Exposition ist, […] nicht die letzte Lebendigkeit [besitzt]“351. „[S]einer Natur nach endlos“, habe es einen „fortdauernde[n] innere[n] Kampf ohne Entscheidung“352 darzustellen. Man kann diese seriellen mimetischen Impulse mhelos durch die Konfliktfhrung des Textes hindurch weiter verfolgen. Fast jede der antagonistischen Positionen, die die Figuren in den Aufarbeitungen ihrer Vergangenheit zueinander einnehmen, gleicht sich in der minutiçsen Dramaturgie der verbalen und gestischen Verweisungen aneinander an. In dem Moment, in dem Frau Buchner Aufschluss ber die wahren Verhltnisse gewinnt, erzeugt der Text nicht nur eine tief greifende Ambivalenz, die das Verhltnis zwischen Robert und der Mutter seiner Verlobten fr einen Moment in einem anderen Licht erscheinen lsst. Darber hinaus gleicht er beide Spieler in einem Trnenreichtum an, der in den Regieanweisungen wie eine affektive Nachbildung des einen durch den anderen erscheint: Zunchst geht Frau Buchner „weinend ab“, dann „tut“ Wilhelm „mechanisch ein paar Schritte hinter ihr drein“, um sich schließlich, ebenfalls „von Weinen geschttelt, an der Wand [zu] sttzen“: Frau Buchner. Wilhelm! ich verehre Sie! – ich weiß, daß sie am Ende doch jedes Opfer bringen. Aber Ida … wenn es fr sie zu spt ist … wenn sie daran zugrunde geht! Wilhelm. Warum haben Sie mir denn nur nicht glauben wollen? – Sie wissen nicht – was mich das jetzt kostet. Frau Buchner, unter Trnen Ich weiß nicht! […] Ich habe das Kind erzogen. Es ist mir alles in allem gewesen […]. – Nun kamen – Sie in unser Haus. – Ich – gewann Sie lieb. Ich dachte auch an Ihr Glck, ich … Das htte ich nicht tun sollen … Ich dachte vielleicht ebensosehr an Ihr Glck – und – wer weiß? – am Ende – zu allermeist – an – Ihr – Glck. Einen Augenblick starren beide einander bestrzt in die Augen. Wilhelm. Frau Buchner!! Frau Buchner, das Gesicht mit den Hnden bedeckend wie jemand, der sich schmt, weinend ab durch den Treppenausgang. Wilhelm tut mechanisch ein paar Schritte hinter ihr drein, steht still, sucht

Grimm: Naturalismus und episches Drama. In: Ders.: Nach dem Naturalismus. Essays zur modernen Dramatik. Kronberg/Ts. 1978, 28 – 54, 36. 351 Gerhart Hauptmann: Die Kunst des Dramas. ber Schauspiel und Theater. Zusammengestellt von Martin Machatzke, Berlin, Frankfurt/M., Wien 1963, 176 [vor 1907 – 1914]. 352 Joseph Chapiro: Gesprche mit Gerhart Hauptmann [1932], Frankfurt/M., Berlin 1996, 125.

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seiner inneren Bewegung Herr zu werden, muß sich aber plçtzlich, von Weinen geschttelt, an der Wand sttzen. 353

Ebenfalls mimetisch stellt sich das Verhltnis zwischen Wilhelm und Robert dar, wenn sich Roberts zunchst unerwartete Leidenschaft fr Ida in einem Moment „plçtzlich[er]“ und „gewaltsam“354 hervorbrechender Affektregungen verrt. Auch hier realisiert sich insofern ein mimetischer Affekte, als Robert, hnlich wie sich das Begehren von Tochter und Mutter Buchner auf Wilhelm richtet, lediglich ein Begehren nachbildet, das ihm Wilhelm vor-gebildet hat und das sich, wie um die Vermittlungsstruktur dieser Nachbildung anzuzeigen, durch das wortlose Begehren eines Fetischs hindurch vollzieht: Robert. […] Frau Buchner! […] Sich wendend. […] Sein Interesse fngt in der Folge an, sich dem Christbaum und den Geschenken auf der Tafel zuzuwenden […]. Plçtzlich stutzt er dann und beugt sich […] tief ber die Tafel. […] Scheu wie ein Dieb umherblickend, beugt er sich abermals, ergreift mit Hast die gelbseidne Geldbçrse, fhrt sie den Augen nher und mit einer jhen, leidenschaftlichen Bewegung an die Lippen. Dieser Moment zeigt das Aufblitzen einer unheimlichen, krankhaften Leidenschaftlichkeit. 355

Mimetisch verfhrt schließlich auch die zentrale Versçhnungsszene, die in der Mitte des zweiten Aktes in einer fr die Dramaturgie der frhen Moderne beispiellosen Ausschließlichkeit mit Hilfe von Pantomime und Gestik gestaltet ist. Allerdings ist diese Versçhnung zwischen Vater und Sohn, in der Wilhelm „zu des Alten Fßen nieder[bricht]“356, bereits durch Vorausdeutungen antizipiert, mit der die Exposition des ersten Aktes schließt. Frau Buchner hatte Wilhelm dort empfohlen: „Wilhelm! Ich weiß, was ich verlange, aber ich … Sie mssen sich vor Ihrem armen Vater erniedrigen. […] Rufen Sie ihn an! Beten Sie ihn an! Seine Knie mssen Sie umklammern – und wenn er Sie mit dem Fuße tritt, wehren Sie sich nicht! Reden Sie kein Wort!“357 Auf den ersten Blick sind die Ereignisse auf dem Scheitelpunkt des zweiten Aktes in einer strengen Korrespondenz zum Expositionsschluss des Dramas gestaltet: Tatschlich „bricht“ Wilhelm in einer wçrtlichen Parallelbildung „zu des alten Fßen nieder“358, tatschlich verliert Wil353 354 355 356 357 358

Hauptmann: Das Friedensfest [1890], 155 f. Ebd., 123. Ebd. Ebd., 134. Ebd., 128. Ebd., 134.

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helm nahezu „kein Wort“359, und tatschlich spricht der Vater die Vergebung aus, um die der Sohn gebeten hat. Dann aber, nach dem die sprachliche Artikulation immer rudimentrer geworden ist, „verlßt“ Wilhelm „das Bewußtsein“360 : Wilhelm ruspert sich, dehnt sich, çffnet und schließt die Augen wie ein Schlaftrunkener, legt den Kopf wie zum Schlaf zurck. Dr. Scholz, hçrbar. Gott sei Dank! Er richtet sich auf […] und mustert gerhrt und halb verlegen seine Umgebung. Ida ist ihrer Mutter unter Lachen und Weinen um den Hals gefallen. […] Des Doktors Blick trifft den seiner Frau. Schchtern und gerhrt wagt sie sich nher, faßt leise seine Hand und klopft ihn auf den Rcken. Frau Scholz. Alterchen – ! Auguste ahmt die Mutter nach, umarmt und kßt dann den Vater, was dieser geschehen lßt, ohne die Hand aus der seiner Frau zu nehmen. Auguste an seinem Hals. Mein Herzvterchen! Robert, plçtzlich entschlossen, tritt er auf seinen Vater zu und schttelt ihm die Hand. Frau Scholz gibt des Doktors Hand frei und fhrt ihm Ida zu. Dr. Scholz blickt erst Ida, dann Wilhelm an und richtet einen fragenden Blick auf Frau Buchner. Frau Buchner nickt bejahend. Dr. Scholz macht eine Gebrde, die etwa ausdrckt: ich will nichts verreden. Ich kann mich vielleicht tuschen. Hierauf streckt er dem Mdchen seine Hand entgegen. Ida kommt, nimmt seine Hand, beugt sich darauf nieder und kßt sie. 361

Das bemerkenswert wortlose Zitat rechtfertigt sich durch den mehrfachen Verweisungssinn, der sich in dieser Szene berlagert. Zunchst hat man es in ihrer aufflligen Sprachlosigkeit mit einer Entropie des dramatischen Zeichensystems im Ganzen zu tun. Sie besteht darin, dass sich ein Moment der ußersten Bewusstlosigkeit in die Zeichenordnung einprgt, in dem sie den Dialog aussetzt und durch einen wortlosen Diskurs der Kçrper und Gebrden ersetzt. Offenbar besteht ein enger, aber eben nur im sprachlosen Verweissystem selbst aufgehobener Zusammenhang zwischen der ,Aufarbeitung‘ und fragilen ,Bewltigung‘ einer traumatischen Vergangenheit und dem kommunikativen bzw. symbolischen Vollzug dieser Bewltigung.362 Zum zweiten ist das symbolische Handeln auch an dieser 359 360 361 362

Ebd., 128. Ebd., 135. Ebd., 136. Die Nhe zur frhen Psychoanalyse Freuds und ihren Gesprchstechniken, die auf eine narrative ,Auf-, bzw. ,Durcharbeitung’ traumatischer Komplexe zielt, ist auffllig und bereits bemerkt worden. Vgl. Streisand: Intimitt, 226. Vermutlich

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Stelle mimetisches Handeln; ber Auguste heißt es ausdrcklich, dass sie „[…] die Mutter nach[ahmt]“.363 Das gesamte gestische Repertoire, das den Dialog an dieser Stelle suspendiert – das zunchst behutsame, dann immer weniger zçgerliche Hndefassen, Herbeiziehen, Berhren, Umarmen und Kssen – folgt einer Weitergabe von kçrpersprachlichen Zeichen, die allmhlich alle Anwesenden erfasst und in einer fragilen Intimitt vergemeinschaftet. Zum dritten hat das auffllig exponierte gestische Geschehen Anteil an einer Poetik der Gebrde, die sich um und nach 1900 mit einem eminenten Versprechen auf Prsenz und sinnhafte Flle verbindet.364 In „reinen Gebrden“, so konstatiert Hugo von Hofmannsthal 1911, „tritt“ die „wahre Persçnlichkeit ans Licht […]. Enthllt sich hier nicht die Seele in besonderer Weise? Entldt sie sich hier nicht wie in den Tçnen, aber noch unmittelbarer, noch zusammengefaßter, der inneren Flle?“365 „Meine Gebrde“, heißt es in einem Dialogfragment, „das bin ich – in einem Moment zusammengepreßt, spricht sie mich aus […].“366 Hofmannsthals Hoffnung auf eine gestische Flle, die ihrer Intention nach auch hnliche berlegungen Rilkes prgt, reagiert auf einen Verlust von Prsenz, die, wie Georg Braungart gezeigt hat, nach 1900 ,leibhaftig‘ restituiert werden soll und daher in einem Jenseits der Sprache vermutet werden muss. Interessanterweise dementiert die Versçhnungsszene des zweiten Aktes ein derartiges Prsenzversprechen. Ihre Sprachlosigkeit ist kein Verweis auf eine Prsenz, die sich in der anschaulichen Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem herstellt,367

363 364

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367

besteht ein diskursgeschichtlich enger, jedenfalls ber Einzeltexte hinausreichender Zusammenhang zwischen dramatischer Dialog- und tiefenpsychologischer Redeform. Im Zusammenhang mit Schlafs ,intimen Dramen’ wird darauf zurckzukommen sein. Hauptmann: Das Friedenfest [1890], 136. Vgl. Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tbingen 1995, 242 ff.; Gerhard Kluge: Die Gebrde als Formprinzip in der Lyrik des deutschen Jugendstils. Bemerkungen zu einigen Gedichten. In: Amsterdamer Beitrge zur neueren Germanistik 18 (1984), 125 – 150; Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – sthetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, Mnchen 2004, 222 ff. Hugo von Hofmannsthal: ber die Pantomime [1911]. In: Ders.: Reden und Aufstze I [1891 – 1913], 502 – 505, 504 f. Hugo von Hofmannsthal: Die Mimin und der Dichter [1924/25]. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbnden. Bd. 5: Dramen IV / Lustspiele. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/M. 1979, 556 – 558, 557. Zu dieser „semiologischen Besonderheit“ der Gebrde vgl. Braungart: Leibhafter Sinn, 232.

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sondern selbst nur Ausdruck einer Abwesenheit des Gemeinten in den kçrpersprachlichen Zeichen. Fast jede der in Hauptmanns Drama anschaulich gemachten Gebrden ist in dem Maße trgerisch, wie die im zweiten und dritten Akt unvermindert aufbrechenden Konflikte jede Versçhnung unmçglich machen. Wenn es eine sinnhafte Prsenz in der naturalistischen Gebrde gibt, dann ist es die einer grundstzlichen Verfehlung ihres Prsenzversprechens. Damit berhrt sich der Verfehlungscharakter der Versçhnungsszene mit einer den Text im Ganzen strukturierenden Sinnverfehlung. Sie bildet in ihren digressiven und elliptischen Verlufen sprachmotorische Analogien zu einer Erinnerungsarbeit, die in den Reden der Figuren nur Andeutung und Bruchstck bleibt. Digressiv ist diese Rede, weil in ihr Ordnungsprobleme aufbrechen, die sich wie Abweichungen und Ordnungsverluste zur angestammten Redeordnung des Dramas, vor allem zum Dialog und seiner Kohrenzfunktion, verhalten.368 Diese sich fortlaufend zwischen Beginnen, Abbrechen und Neubesinnen vollziehende Rede fhrt im zweiten Akt dazu, dass Wilhelms Lebensbeichte, die Ida die schmerzhafte Geschichte seiner Kindheit vor Augen fhren soll, im Kern eine Rede ber die Unmçglichkeit der sprachlichen Organisation von Erinnerung ist. Durchsetzt ist diese Rede mit einer mehrfach ansetzenden, aber eben scheiternden Selbstbesinnung darauf, wie sich Erinnerung und sprachliche Darstellung in ein Verhltnis bringen lassen: Wilhelm. Jetzt sollst du … ich muß es ber mich gewinnen, dir zu sagen, was mich – mit meinem – Vater … Ja, Ida, ich will’s tun … Arm in Arm schreitend. Stelle dir vor! Ich war hier zu Besuch … nein – so kann ich nicht anfangen. – Ich muß weiter zurckgehen. – Du weißt ja, als ich mich damals schon eine lange Zeit selbst durchgeschlagen … das hab‘ ich dir wohl noch gar nicht erzhlt? Ida. Nein … aber ruhig … nur ja nicht unnçtig … rege dich nur nicht auf, Willy. Wilhelm. Siehst du, das ist wieder so ein Fall: ich bin feig! Ich habe es bis jetzt nicht gewagt, dir von meiner Vergangenheit zu erzhlen … Auf jeden Fall ist es auch ein Wagnis. – Man wagt etwas – auch vor sich selbst …369 368 Vgl. Andreas Hrter: Digressionen. Studien zum Verhltnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik (Quintilian, Opitz, Gottsched, Friedrich Schlegel). Mnchen 2000. – Zur Funktion des Dialogs als konstitutivem „Trger“ des Dramas vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas 1880 – 1950, 19. Zur Kritik vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse, Mnchen 6 1988, 196. 369 Hauptmann: Das Friedensfest [1890], 130.

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In gewisser Weise zielt der gesamte Zusammenhang zwischen den bermchtigen Determinationen, denen die willensschwachen Figuren ausgesetzt sind, und der schmerzhaften Erinnerungsarbeit, die sie im Friedensfest leisten mssen, auf eine unerwartet feinsinnige Rache an der symbolischen Ordnung der Sprache. Es gehçrt zum imaginren Haushalt des naturalistischen Dramas, die Reprsentationsfunktion der Sprache, ihre literarische Artikuliertheit, in eine amorphe Vorsprachlichkeit zurckzuverwandeln; Naturalismus meint, auf einer abstrakten Ebene betrachtet, eine Neuentdeckung der Sprache von ihren Grenzen, Devianzen und Sinnverlusten her. Fast alle Figuren bewegen sich in ihrer Rede daher durch Sprachfelder, die mit Lhmungen und Ellipsen durchsetzt sind und in einzelnen Phnomenen wie Nachbildungen von aphasischen Artikulationsverlusten wirken.370 Dr. Scholz etwa „spricht unterbrochen von keuchenden Atemzgen, als ob er Mehl im Munde htte, und stolpert ber Silben.“371 Wenn Frau Buchner ihrem knftigen Schwiegersohn erçffnet, dass sie in einem vertraulichen Gesprch mit dem Vater Schritte zu einer Versçhnung eingeleitet hat, dokumentiert Wilhelms Reaktion einen beinahe vollstndigen Verlust der sprachlichen Artikulation: Frau Buchner […] Wilhelm, hçren Sie mich, Wilhelm! […] Ich hab‘ es getan … ich habe mit Ihrem Vater geredet. Er … Wilhelm, steif in die Hçhe schnellend, mit starrem Ausdruck und lallender Stimme. V – Vater? –– Wie? – m … mit m … einem V … ater?372

Auch an dieser Stelle ließe sich die in der Forschung immer wieder behauptete Detailorientierung des naturalistischen Theaters plausibilisieren. Allerdings ist dieser Detailreichtum auf ein tiefer liegendes Problem bezogen. Es besteht darin, dass die fortwhrenden Redeabbrche, die sich auf weiten Strecken nur mehr zu Trmmern eines inneren, aber rudimentr nach Außen gekehrten Monologs verdichten, ein eigensinniges Verweissystem ausbilden. An der im Text prparierten Schnittstelle von Reden und Schweigen erwchst der Handlung ein Hof latenter Konflikte, die, wie angedeutet, nur lose im analytischen Schema des Dramas fundiert sind. Diese Latenz ,disseminierender‘ Konfliktschichten ist das Ergebnis einer figuralen Struktur, die Hauptmanns gesamten Text nach dem Prinzip einer sprachlich-thematischen Auslassung, der Aposiopese, organisiert. So stellen die Abbrche in den erinnernden Reden 370 Vgl. Carl Wernicke: Der aphasische Symptomencomplex. Eine psychologische Studie auf anatomischer Basis, Breslau 1874. 371 Hauptmann: Das Friedensfest [1890], 113. 372 Ebd., 127.

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der Figuren Einlasstore fr Vereindeutigungen bereit, die in der Ambivalenz des nicht Ausgesprochen begrndet sind. Hinsichtlich der Umstnde seiner lang whrenden Abwesenheit gibt Dr. Scholz – „geheimnisvoll“, wie es bezeichnenderweise heißt – zu erkennen, dass sich in dieser Zeit „viel Gemeinheit“ gegen ihn „verbunden“ habe. Dabei wird schnell ersichtlich, dass diese „Gemeinheit“ auf Zudringlichkeiten zielt, die, zumal verstrkt durch das beziehungsreiche Verhltnis zu seinem Diener Friebe, deutlich sexuelle Konnotationen besitzen: Frau Scholz. […] Du hattest doch hier’n sichres, warmes Zuhause. So schçn htt’st du leben kçnnen! […] Dr. Scholz. I! ich will ja auch nicht bestreiten: viel Gemeinheit hat sich verbunden gegen mich; das ist ja bekannt. – Zum Beispiel denke dir: in den Hotels – die Kellner – keine Nacht konnte ich durchschlafen, hin und her, hin und her auf den Korridoren und gerade immer vor meiner Tr. Frau Scholz. Aber sie werden dich doch nicht absichtlich gestçrt haben? Dr. Scholz. Nicht? – Du, hçr mal, das verstehst du nicht!373

Man kann an dieser Stelle, die so vieldeutig vom Verstehen und Nichtverstehen spricht, auf eine verborgene homophile Neigung des Vaters schließen, und noch in Roberts anspielungsreicher Frage, ob Wilhelm seiner Schwester Auguste gegenber „etwa – wieder – Absichten … „374 habe, ließen sich Hinweise auf eine inzestuçse Verstrickung erblicken, die dem Gesagten auch an dieser Stelle eine palimpsestartige Vieldeutigkeit geben.375 Insgesamt neigen Spekulationen dieser Art dazu, den Text zugleich zu verfehlen und zu besttigen. Sie verfehlen ihn, weil sie gegenber einer latenten Sinnvielfalt Sinnfestlegungen vollziehen, die der Redeordnung des Textes zuwiderlaufen; sie besttigen ihn, weil sie dieselbe Sinnvielfalt, wie in einer Form der Anverwandlung, hermeneutisch fortschreiben. Festzuhalten aber bleibt, dass die konstitutive Vieldeutigkeit des Textes insofern eine Dysfunktionalitt des Gattungsschemas erzeugt, als der dramatische Diskurs einen Latenzraum produziert, der sich zum analytischen Schema wie eine eigensinnige Abspaltung verhlt. Wenn die Struktur des analytischen Dramas auch noch im ausgehenden 19. Jahrhundert darin besteht, Ereignis und Rekonstruktion, Vorgeschichte und 373 Ebd., 114 374 Ebd., 147. 375 Vgl. Stroszek: ,Sie haben furchtbar, furchtbar gefehlt’, 246. Stroszek sieht zudem Hinweise auf „Wilhelms gleichgeschlechtliche Veranlagung“ (Ebd., 265, Anm. 42).

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Diskurs in einer syntagmatischen Form aufeinander zu beziehen, dann tritt diese Abspaltung wie ein Drittes zu ihr hinzu.376 Man kann dieselbe Konjunktion auch an einem Textkorpus verfolgen, das der Literaturwissenschaft bis heute entgangen ist. Zwischen 1898 und 1906 verfasst Johannes Schlaf vier Bhnenstcke, die vom Autor 1897 als ,intime Dramen‘ annonciert werden und in ihrer Gleichfçrmigkeit einen Formtyp etablieren, in dem Schlafs naturalistische Schreibtechniken, wie sie etwa die Familie Selicke von 1890 oder den Meister Oelze von 1892 kennzeichnen, unter vernderten Bedingungen fortwirken. Vordergrndig wirken die vier Dramen – Gertrud (1898), Die Feindlichen (1898), Der Bann (1900) und Weigand (1906) – zunchst wie der Versuch, den neuartigen Stilcharakteristika des Fin de sicle zu entsprechen; dies belegen die ins Psychopathologische vergrçßerten neurasthenischen Zge der Hauptfiguren, ihre zur ,ber-Differenziertheit‘ gesteigerte Reizsamkeit oder die parapsychologischen Motive der Suggestion und der Hypnose. Bei genauerem Zusehen aber erweisen sich die Texte als konsequente Fortentwicklungen von literarischen Techniken, die in Schlafs ,konsequentem Naturalismus‘ grnden und die – wie Dieter Kafitz nachgewiesen hat377 – ab Mitte der 1890er Jahre auf dem Weg verwickelter textueller Konstellationen einer weltanschaulichen Neubestimmung zugefhrt werden, in der sich biologistisch-evolutionistische und parapsychologische Motive zu einem spekulativen Monismus zusammenfgen.378 Werkbiographisch betrachtet tragen Schlafs ,intime Dramen‘ eine nicht unerhebliche Last innerhalb der weltanschaulichen Neuorientierung des Autors. Ihrer nach 1900 einsetzenden privatmythologischen Wen376 Die formalen Konstellationen, die den modernen Gehalt des Stcks als Sinn seiner dramaturgischen Struktur erfahrbar machen sollen, sind von den Zeitgenossen frh bemerkt und als ausdrckliche Qualitten des Textes gewertet worden. Vgl. Adalbert von Hanstein: Das jngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte. Mit 113 Schriftsteller-Bildnissen. Buchschmuck von Emil Bchner, Leipzig 1900, 213: „Von allen bisher erschienenen Stcken Hauptmanns ist keins mit so absoluter Vollendung durchgefhrt, wie dies.“ Schon 1891 hatte Lou Andreas-Salom dem Friedensfest „hohen Kunstwert“ attestiert. Lou Andreas-Salom: Ein hollndisches Urteil ber moderne deutsche Dramen. In: Freie Bhne 2 (1891), 521 – 525, 541 – 546, 571 – 574, 592 – 595, 670 – 673, 696 – 701, 671. 377 Vgl. Dieter Kafitz: Johannes Schlaf – Weltanschauliche Totalitt und Wirklichkeitsblindheit. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Naturalismus-Begriffs und zur Herleitung totalitrer Denkformen, Tbingen 1992, 60 ff. und 83 ff. 378 Vgl. Ebd., 236 ff.

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dung ist es vor allem geschuldet, dass Schlafs ,intime Dramen‘ weder in der zeitgençssischen Wahrnehmung, noch in der Forschung Aufmerksamkeit gefunden haben. Arbeiten, die sich dem ,intimen Drama‘ um 1900 bzw. dem Konnex von Intimitt und Fin de sicle-Dramatik widmen, lassen Schlafs Texte unerklrlicherweise unbercksichtigt.379 Dabei sind die Stcke hinsichtlich ihrer formalen Konzeption fr die Transformationsphase der frhen Moderne symptomatisch. In allen vier Texten wirkt ein und dieselbe Konfiguration: Zwischen zwei Mnnern steht eine Frau, die dem einen der beiden Mnner zumeist auf eine suggestive Weise verbunden ist, whrend sie mit dem anderen in einer von Autoritt und Zwang bestimmten Ehe zusammenlebt. Im Zentrum des ersten Dramas steht Gertrud, die sich im Kreis ihrer Familie zur Kurierung einer nervçsen Schwche auf Rgen aufhlt. Hier lernt sie Albrecht Holm, einen 379 In der bislang einzigen Monographie zum ,intimen Drama’ in Deutschland (Annette Delius: Intimes Theater. Untersuchungen zu Programmatik und Dramaturgie einer bevorzugten Theaterform der Jahrhundertwende, Kronberg/ Ts. 1976) fehlen Schlafs Dramen ebenso wie bei Streisand: Intimitt. Immerhin bercksichtigt wird Schlaf in der kleineren Studie von Dieter Kafitz: Das Intime Theater am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Gnter Holtus (Hg.): Theaterwesen und dramatische Literatur. Beitrge zur Geschichte des Theaters, Tbingen 1987, 309 – 329, 316 f. Weitgehend inhaltsgleich sind die Ausfhrungen in ders.: Struktur und Menschenbild naturalistischer Dramatik. In: Zeitschrift fr deutsche Philologie 97 (1978), 225 – 255, 243 ff. Vglw. umfangreiche, aber primr am inhaltlichen Verlauf der Stcke orientierte Kommentare bieten Ernst Sander: Johannes Schlaf und das naturalistische Drama, Diss. Rostock 1922, 67 – 83 und Raleigh Whitinger: Johannes Schlaf and German Naturalist Drama, Drawer, Columbia 1997, 144 – 164. Zu den Gattungskennzeichen des ,intimen Dramas’ zhlen die konzentrierte, hufig einaktige Form, der weitgehende Verzicht auf ußere Handlung, ein spezifisch ,suggestives’ bzw. assoziatives Dialogverfahren und die leere, Realittseffekte vermeidende Bhne. Vgl. Delius: Intimes Theater, 7 f. und Kafitz: Das Intime Theater am Ende des 19. Jahrhunderts, 309. Wortgeschichtlich ist es aufschlussreich, dass das ,intime Theater’ ab etwa 1905 kaum noch vom ,Kabarett’ unterschieden wird. Vgl. Hartmut VinÅon: Einakter und kleine Dramen. In: York-Gothart Mix (Hg.): Naturalismus, Fin de Si cle, Expressionismus 1890 – 1918, Mnchen 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 7), 367 – 380, 639 (Anm.). – Was die Auffhrungs- und Publikationsgeschichte der Stcke anbelangt, sind fr zwei der vier Dramen – Die Feindlichen und Weigand – Auffhrungen nicht belegt. Vgl. Kafitz: Johannes Schlaf, 74 bzw. 79. Gertrud wurde am 24. April 1898 am Berliner Residenztheater aufgefhrt, Erstdrucke erschienen zeitgleich bei Johann Sassenbach und in der verlagseigenen Zeitschrift Neuland. Vgl. Kafitz: Johannes Schlaf, 71. Der Bann erschien als Schlussstck der Novellensammlung Die Kuhmagd und Anderes (1900). Die Urauffhrung fand am 20. Oktober 1901 am Berliner Theater statt. Vgl. Sander: Johannes Schlaf, 79 und Kafitz: Johannes Schlaf, 77.

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Jugendfreund ihres in Konventionen erstarrten Mannes Fritz, kennen, zu dem sie eine unterbewusste seelische Verbindung entwickelt. Wenn auch Holm, der aus Abscheu vor den gesellschaftlichen Zwngen Europas nach Amerika geflchtet ist, auf der Suche nach einer Lebenspartnerin ist, und wenn sich auch Gertrud und Holm durch andeutungsreiche Dialoge hindurch allmhlich Klarheit ber ihre Neigung verschaffen, gelingt Gertrud ein Ausbruch aus den ehelichen Verhltnissen nicht. Anders endet Schlafs folgendes Drama Die Feindlichen. Auch hier steht Asta, die weibliche Hauptfigur, zunchst entscheidungslos zwischen ihrem Mann Ernst und ihrem gemeinsamen Freund Heinrich, und auch hier gewinnt der Zuschauer Aufschluss ber das Beziehungsgeflecht der Hauptfiguren nur auf dem Weg ihrer telepathischen Verstndigung. Signifikant an den Feindlichen ist weniger die zeittypische Aufnahme parapsychologischer Vorstellungen, wie sie in der Mitte der 1890er Jahre etwa durch Carl du Prels Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften (erneut) populr werden, als die gegenber Gertrud nochmals verfeinerte Technik, im Dialog eine verborgene seelische Dynamik anzudeuten. Wie das mit Traumbildern und vorbewussten Visionen angereicherte Geschehen der Feindlichen allmhlich deutlich macht, ist Asta in einem Zustand der reizbaren Schwche fortwhrend auf den Freund ihres Mannes fixiert, der in einer zentralen Hypnose-Szene seinerseits seine unbewussten Neigungen auf Asta bertrgt; am Ende, in dem die bislang nur latenten Neigungen der beiden offen hervortreten, gelingt es Asta, die eheliche Verbindung zu lçsen. Im Bann schließlich erscheint Ottilie als Hçrige, die auf eine befremdliche Weise an den hypnotischen Willen ihres Ehemanns Hubert gebunden ist. Auch wenn sich Ottilie mehrfach dem Maler Wenzel anvertraut und damit ein außereheliches Liebesverhltnis zumindest mçglich werden lsst, unterliegt sie dem nervçsen Einfluss des Saturnikers Hubert, der ebenso willensschwach wie machtvoll die Fden in der Hand hlt und dem jungen Konkurrenten, dem das Verhltnis des Paares wie ein „unfassbar dunkles Rtsel“380 erscheint, jede Hoffnung auf ein gemeinsames Glck mit Ottilie nimmt. Ihre naturalistische Herkunft dokumentieren die Texte einmal mehr in dem Determinismus, der beinahe alle Figuren als Willensschwache vor Augen fhrt; fast alle Handelnden zeigen Symptome einer akuten oder abklingenden nervçsen Schwche, und fast alle Figuren unterliegen einer hypnotischen Macht, der sie gegen ihren eigenen Willen handeln lsst. 380 Johannes Schlaf: Der Bann. In dramatischer Form [1900]. In: Ders.: Die Kuhmagd und Anderes, Berlin 1900, 151 – 212, 194.

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Entsprechend soll Gertrud, die alle Zge einer hystero-neurasthenischen Erkrankung trgt, bereits im ersten Aufzug mehrfach in ein „lautes nervçses Lachen“ ausbrechen, „das sich halb und halb wie ein Weinkrampf anhçrt“381, oder „mde“382 bzw. „erschçpft“383 und „gereizt“384 erscheinen. Auch ihrer Familie gilt sie als „berspannt“385 und „nervçs“386, zumal sich ihre Widerstnde bezeichnenderweise gegen eine verordnete Wasserund Bderkur richten. In einem Zustand „andauernder starker Aufregung“387 befangen, sind Gertruds Reizzustnde im Wesentlichen Zustnde einer gestçrten sprachlichen Artikulation, die sich, hnlich wie in Hauptmanns Friedensfest, durch ohnmchtige Redeakte und Symbolisierungsverluste hindurch bemerkbar machen: Gertrud (an ihren Worten ringend): Eh – Von der – Frau … Ihr Mann – kommt nach Hause und will sie liebkosen – und ist – betrunken. – Und wie er daliegt – und riecht – und rçchelt – wie ein Thier – und schlft … Hahahaha! … (Ihr hysterisches Lachen […] berwltigt sie wieder. […] mit heiserer gedmpfter Stimme, sie weiß kaum, was sie sagt; hinter ihren Worten ist gleichsam noch das hysterische Weinen von vorhin). 388

Auch Ottilie zeigt sich unter dem im Text obsessiv besprochenem hypnotischen „Bann“389 ihres Mannes immer wieder „mde“390 bzw. wie „ermdet“391. Durch eine vieldeutige Geschlechterpolaritt hindurch – Hubert beherrscht und liebt Ottilie zugleich, die ihrerseits vor ihm zurckschreckt und ihm doch restlos ergeben ist – vollzieht sich ein halluzinatorisches Geschehen, im dem das saturnische Wesen Huberts wie eine unentrinnbare hypnotische Macht wirkt. Huberts „Blick“ „fixiert“392 fortwhrend seine Umwelt, er vermag in mentalen „bertragung[en]“393 den Willen seiner Frau beliebig zu lenken und verfgt ber die Gabe, Gedanken zu lesen, so dass ihm seine Umwelt geradezu entmchtigt entgegentritt. „Wenn er vor mir steht“, bekennt Ottilie im Gesprch mit 381 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393

Johannes Schlaf: Gertrud. Drama in drei Aufzgen, Berlin, Paris 1898, 18. Ebd., 25. Ebd., 21. Ebd., 27. Ebd. Ebd., 10. Ebd., 20. Ebd. Schlaf: Der Bann [1900], 168, 207. Ebd., 198. Ebd., 187. Ebd., 173. Ebd., 167.

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dem als hell und klar charakterisierten Wenzel, „dann hab ich so ein Zittern, und ich weiß, dann sag‘ ich ihm alle meine Gedanken, ohne daß ich’s will. […] Er weiß alles, was ich thue und denke! – Er macht mit mir, was er will.“394 Asta, die weibliche Hauptfigur der Feindlichen schließlich, begegnet dem Zuschauer von Beginn an in einer kaum zu durchbrechenden Selbstversenkung und immer „ein wenig mde“395. Asta spricht nur „[l]angsam, aus ihren Gedanken heraus“ und „halb wie zu sich selbst“396. Whrend sie ihrem Mann Ernst zeittypisch als „nervçs“397 erscheint, richtet sich ihr Tagesbewusstsein auf einen von „ungeheuerlichen“398 Trumen bedrohten Zustand, hinter dessen visionren Ahnungen allmhlich eine unbewusste Neigung fr Heinrich sichtbar wird. Heinrich seinerseits hat die „zhe Willensenergie“399, die ihn in den Augen seines Freundes Ernst bislang gekennzeichnet hat, an ein „sonderbare[s], unwillkrliche[s] Nervenlauschen“400 verloren, das ihn wie unter einem fremden Diktat immer wieder die Nhe Astas suchen lsst. „Nicht, daß es wie ein Zwang ist“, bemht sich Heinrich einen entsprechenden Verdacht zu zerstreuen, „[a]ber nun bin ich schon den ganzen Nachmittag in so einem wunderlichen Zustande gewesen, in einem Zustande – ja! he! Wie nur? – So eine Unruhe; als wenn da in mir – noch eine andere, zweite Person wre, die mich – hertreibt – eh! hierherzieht zu Euch.“401 Unterhalb dieser und anderer Details der Handlungsfhrung geben Schlafs ,intime Dramen‘ Ansichten eines um 1900 intensiv rezipierten, parapsychologischen Seelenmagnetismus frei. Er lsst die Einzeltexte wie variante, aber dennoch gleichfçrmige Konfigurationen einer identischen Grundenergie erscheinen. Schlaf hat nachweislich Carl du Prels Die Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften (1894) und Conrad Riegers Hypnotismus-Schrift (1888) gekannt,402 und entsprechend ver394 Ebd., 166 f. 395 Johannes Schlaf: Die Feindlichen. Drama in vier Aufzgen, Minden (o. J.) [1899], 5. 396 Ebd., 6. 397 Ebd., 7. 398 Ebd., 6. 399 Ebd., 22. 400 Ebd., 23. 401 Ebd., 24. 402 Vgl. Carl du Prel: Die Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften. 2 Bde., Leipzig 1894/95 und Conrad Rieger: Der Hypnotismus. Beitrge zur Kenntnis sogenannter hypnotischer Zustnde, Jena 1888. Allerdings handelt es sich um eine tendenziell unspezifische Rezeption; geheimwissenschaftliche oder

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sammeln sich Magnetismus und Hypnotismus in Schlafs ,intimen Dramen‘ um einen Willen, der den magnetischen Suggestionen blind folgt. „Sie – hatten mich hypnotisiert“403, wirft Asta Heinrich vor, der, wie Asta bekennt, „eine – dmonische Gewalt ber mich [hat]!“404 „Aber, Du weißt“, gibt Heinrich zu bedenken, „was vermag nicht der – Wille!“405 – „Es gibt ja heute“, konstatiert der Tat- und Kraftmensch Holm in Gertrud, „so viel kulturmde Menschheit? So viel Kraft mit einem unbestimmten Willen?“406 In den Feindlichen verdichtet sich der gesamte bedrohte Voluntarismus der ,intimen Dramen‘ in einem dinghaften „Symbol“, das den „ringende[n] Wille[n]“407 des energetischen Zeitalters anschaulich „zeigt“408. Wenn sich Heinrich im Gesprch mit Asta und Ernst an einen „Briefbeschwerer“ als etwas „ziemlich Unbedeutendes“ erinnert, das „gleichwohl fr einen – suggestiv werden kann“409, verwandelt sich das erinnerte ,Ding‘ auf dem Weg eines fortschreitenden Gestaltwandels – zunchst ist es ein „Br“, dann ein „Symbol der Einsamkeit“, dann ein „antike[r] Hermaphrodit[]“410 – in ein Bild der widerstreitenden und erlahmten Willensenergien, die den modernen Menschen wie ein „charakterformendes Prinzip“411 bestimmen: Heinrich: Ja, und mit einem Mal hatt‘ ich die Vorstellung einer sonderbaren Einheit, die aus zwei Wesen besteht […]. Ja, und das Ganze ist ein ringender Wille. – Und der Wille – hehe! – ist berhaupt ein ganzer Organismus. Ein einziger verkçrperter Sensitive und Receptive, der ein heim-

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occulte Annahmen ber eine „transzendentale Psychologie“ (du Prel) lassen sich um 1900 auch bei anderen Autoren nachweisen. Vgl. fr den zeitgençssischen Kenntnishorizont etwa Carl Kiesewetter: Geschichte des neueren Occultismus. Geheimwissenschaftliche Systeme von Agrippa von Nettesheym bis Carl du Prel, Leipzig 1891. – Von mehr als nur biographischem Interesse ist es, dass sich Schlaf im Zusammenhang mit seiner fr ihn beraus aufreibenden Auseinandersetzung mit Arno Holz um die Urheberschaft des ,konsequenten Naturalismus’ als Opfer einer von Holz herbeigefhrten Suggestion verstanden hat. Nachzulesen ist diese von schizophrenen Verdchtigungen, Selbstwidersprchen, aber auch echten Leidensmomenten geprgte Selbstwahrnehmung in Johannes Schlaf: Mentale Suggestion. Letztes Wort in meiner Streitsache mit Arno Holz, Stuttgart 1905, 16 f., 22 – 24. Zu Schlafs Krankengeschichte vgl. Kafitz: Johannes Schlaf, 133 f. Schlaf: Die Feindlichen [1898], 76. Ebd., 73. Ebd., 69. Schlaf: Gertrud [1898], 35. Schlaf: Die Feindlichen [1899], 52. Ebd., 51. Ebd. Ebd. Ebd., 52.

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lich rangierendes, charakterformendes Prinzip ist […]. Der Zug zur Großstadt! Man kann fragen […] was wohl der feinste Extrakt […] dieses ganzen mchtigen Lebensgetriebes ist. – Meinetwegen gewisse Gehirnvernderungen, Nervenverfeinerungen. […] Ein außerordentlich sensibler […] Wille […]. Dieser Wille kçnnte nun z. B. eine vielleicht ganz diskrete, aber umso intensivere Gewalt ber seine Umgebung bekommen. Denke, daß z. B. die Suggestion eine ganz neue praktische Bedeutung gewçnne, sozusagen zur unwillkrlichen Funktion wrde […] mentale Suggestion – hehe! – Gedankenbertragung, verstehst Du? […] bei Wesen mit einem dieser großstdtischen Umgebung ganz eigen angepaßten Nervensystem […].412

Dieser Magnetismus der „Weltstadt“, mit der Heinrichs Vision schließt, ist – bedenkt man, dass Annahmen ber hypnotische Kollektivphnomene aus der frhen Massenpsychologie (Gustave Le Bon, Scipio Sighele) ebenso bekannt sind wie aus der Soziologie Gabriel Tardes – um 1900 eine vertraute Vorstellung.413 Sie ist an dieser Stelle nicht in ihrem buchstblichen Sinn zu verstehen. Vielmehr handelt es sich an dieser Stelle um ein ,Bild’, das die Logik der dramatischen Diskursordnung, wie sie in der metapsychologischen Verstndigung der Figuren angelegt ist, wiederholt und spiegelt: So wie die Stadt einen Raum „[m]entaler Suggestion“ bildet, so vollzieht sich die Verstndigung der Figuren durch eine Diskursordnung hindurch, die in den wie unbewusst dahin gesprochenen Redeakten Manifestes und Latentes von einander abspaltet. In dieser Latenz, also in dem, was sich in der psychomagnetischen Anziehung der Figuren vollzieht, findet das ,intime Drama‘ sein eigentliches kommunikatives Substrat und seine eigentliche diskursive Ordnung. Darin zielt Schlafs Konzeption des ,intimen Dramas‘ weder auf eine formale Innovation – die Texte folgen mit Ausnahme des Banns einer konventionellen Drei- bzw. Vieraktigkeit –, noch auf eine thematische. Schlafs Ausfhrungen zum ,intimen Drama’, die programmatisch an das eigene natu412 Ebd., 51 ff. 413 Das entsprechende diskursive Feld verluft zwischen der ,kulturtheoretischen’ Essayistik Max Nordaus, in der die „unbewußte Suggestion“ als psychosozialer Normalzustand figuriert, der Masse als hypnotischer „Gemeinschaftsseele“ (Le Bon), in der die Einzelwillen zu einem suggestiblem Gesamtwillenskçrper verschmelzen, und Tardes Soziologie, die den Gesellschaftsbegriff von einem auf unbewusster Nachahmung beruhendem tat hypnotique her begreift. Eine narrative Ausgestaltung der ,suggestiven Stadt’ findet sich in Schlafs 1900 erschienenem Roman Das dritte Reich, in dem die urbanen Streifzge der Hauptfigur Emanuel Liesegang mehrfach zu hypnotischen Entindividuationen ausphantasiert werden. Bezeichnenderweise ist die intertextuelle Referenz Maupassants Erzhlung Der Horla. Vgl. Johannes Schlaf: Das dritte Reich. Roman [1900], Dresden 1923, 132, 199.

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ralistische Frhwerk anknpfen,414 geben sich vielmehr als Umstellung einer Latenz zu erkennen, die erst in jenem Moment der Gattungsgeschichte sichtbar wird, in dem sich die Darstellungsinteressen des Dramas von „ußeren Geschehnissen […] auf das Gebiet innerer, seelischer Vorgnge“415 verlagern und damit psychologischen Verfeinerungen Raum geben, die, wie noch zu zeigen sein wird, den ganzen Komplex der psychoenergetischen Leiden einer Umwertung zufhren. Hierbei handelt es sich um eine Topologisierung, die in der Form einer „zweite[n] Parallelsprache“416 ein „feinere[s], intimere[s] Dialogmoment[]“417 errichtet, indem sie die ansonsten unzugnglichen seelischen Regungen unter der dialogischen Rede hervortreten lsst: Bemerkenswert ist […] die Art und Weise, wie sich der Konflikt abspielt, die Handlung sich entwickelt. […] Und zwar, was nun das Eigentmliche […] ist […], daß wir hinter all diesen indirekten Reden […] einen viel leidenschaftlicher bewegten, direkten, unterirdischen Dialog der Seelen […] zu hçren vermeinen, daß der eigentliche und bedeutungsvollste Schauplatz des Dramas gleichsam eine vierte Dimension ist. […] Und eine solche ist […] erzielt mit der ganz besonderen Bercksichtigung eines weit feineren, intimeren Dialogmomentes, als es sich im gesprochenen Worte darstellt, nmlich mit der intimsten Bercksichtigung des mehr unterbewußten, psychophysischen Kontaktes zwischen den […] Hauptpersonen, eine Bercksichtigung, die dem Dialog ein ganz besonderes, indirektes Geprge verliehen hat […].418

Inmitten dieser Topologie der Innerlichkeit ist freilich nicht zu verkennen, was Schlaf den Einflssen Maurice Maeterlincks verdankt. Maeterlinck zhlt zu den um 1900 vielfach bewunderten Referenzautoren; neben Schlaf haben auch Rilke und die Autoren des jungen Wien wie 414 Vgl. Schlaf: Vom intimen Drama [1897]. In: Ders.: Die Feindlichen [1899] 91 – 99, 94. Der kurze Text ist zunchst separat erschienen (vgl. Ders.: Vom intimen Drama. In: Neuland. Monatsschrift fr Politik, Wissenschaft, Litteratur und Kunst 2. Jg. 1898. Bd. 1, 33 – 38). Die sptere Beigabe zu den Feindlichen war von Schlaf als „eine Art ,Nachwort’“ ohne „direkten Bezug auf das vorliegende Drama“ (Ebd., 91) gedacht. 415 Ebd., 95. Die Beschreibung rekapituliert Hermann Bahrs Unterscheidung zwischen den „tats des choses“ und den „tats d’ mes“. Vgl. Hermann Bahr: Die Krisis des Naturalismus [1891]. In: Ders.: berwindung, 48 – 53, 49 u. ç. Die „tats d’ mes“ gehen ihrerseits auf Henri Frdric Amiel zurck („Tout paysage est un tat de l’ me“). Vgl. Jens Malte Fischer: Fin de si cle. Kommentar zu einer Epoche, Mnchen 1978, 74. 416 Schlaf: Vom intimen Drama [1897], 98. 417 Ebd., 96 418 Ebd.

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Altenberg und Hofmannsthal insbesondere Maeterlincks Trsor des humbles (1896) intensiv rezipiert.419 Wenngleich Maeterlincks Trsor ursprnglich der nachtrglichen theoretischen Legitimation der eigenen dramatischen Produktion diente, so ist der Text fr zahlreiche Autoren eine Quelle eigener Entwrfe geworden, zumal der theorieferne Mystizismus der Schrift entsprechende Deutungsangebote von sich aus nahe legte. Vor diesem Hintergrund wird man Schlafs Maeterlinck-Rezeption, die 1906 in einer eigenen, vor Identifikation strotzenden MaeterlinckMonographie zum Ausdruck kommt,420 als vergleichsweise ,orthodox‘ bezeichnen mssen. ber den „Dialog zweiten Grades“421 heißt es bei Maeterlinck: Darum liegt auch die Schçnheit und Grçße der […] Tragçdien nicht in den Handlungen, sondern in den Worten. Und zwar nicht nur in den Worten […]. Es muß da noch etwas anderes geben, als den ußerlich notwendigen Dialog. […] Neben dem notwendigen Dialoge luft fast immer noch ein anderer Dialog einher, der berflssig scheint. Bei aufmerksamer Betrach419 Schlaf hat Maeterlinck durch Hermann Bahr kennen gelernt. Vgl. die diesbezgliche ußerung Schlafs in Johannes Schlaf: Maurice Maeterlinck. Mit einer Heliogravre, elf Vollbildern und einem Faksimile, Berlin 1906, 1: „Bahr hatte uns […], zu einer Zeit, da noch niemand bei uns in Deutschland etwas von ihm wußte, Maeterlinck als das allerneueste Ereignis aus Frankreich mit nach Berlin gebracht.“ Vgl. Hermann Bahr: Maurice Maeterlinck [1891]. In: Ders.: berwindung, 96 – 102. 1898 erschien unter dem Titel „Seele und Kunst“ eine von Maeterlinck autorisierte bersetzung des Kapitels Le tragique quotedien aus dem trsor des humbles. Publikationsort ist die Zeitschrift Neuland (1. Jg.), in deren zweitem Jahrgang Schlafs Ausfhrungen zum intimen Drama erschienen; insofern kann davon ausgegangen werden, dass Schlaf Maeterlincks berlegungen bereits 1898 kannte und seinen eigenen Ausfhrungen zugrunde gelegt hat. Schlafs Bemerkung, Maeterlinck habe ber die intime Dialogtechnik „spter so Vorzgliches ausgefhrt“ (Schlaf: Maurice Maeterlinck [1906], 2; m. Hervorhg.), ist vor diesem Hintergrund nicht allzu glaubwrdig. Zur deutschsprachigen Maeterlinck-Rezeption vgl. Adolf Wally: Maurice Maeterlinck im Drama und in der Kritik Deutschlands, Diss. Wien 1938 und Hartmut Riemenschneider: Der Einfluss Maurice Maeterlincks auf die deutsche Literatur bis zum Expressionismus, Hagen 1969. Die Ausfhrungen Riemenschneiders bleiben allerdings auf Schlafs Meister Oelze beschrnkt, Vgl. Ebd., 155 – 159. 420 Vgl. Schlaf: Maurice Maeterlinck, [1906], 1 f. 421 Maurice Maeterlinck: Der Schatz der Armen [1896]. Autorisierte Ausgabe. In das Deutsche bertragen von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Jena 1923, 104. Zu Maeterlincks ,Erfindung‘ der „durchgehenden Doppeldeutigkeit des Dialogs“ vgl. Marianne Kesting: Maeterlincks Revolutionierung der Dramaturgie. In: Dies.: Die Vermessung des Labyrinths. Studien zur modernen sthetik, Frankfurt/M. 1965, 107 – 125, 116 f.

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tung wird man jedoch sehen, daß es der einzige ist, dem die Seele tiefer zuhçrt, denn nur hier allein wird zu ihr gesprochen. […] Es liegt in den Worten, die einer tieferen Wahrheit entsprechen, einer Wahrheit, die der unsichtbaren Seele […] unvergleichlich nher steht.422

Auch wenn Schlafs eigene berlegungen zur Dialogtechnik des ,intimen Dramas‘ auf die nonverbalen Zeichen – „Geste, Mienenspiel, Kçrperbewegung“423 – als Trger der „zweite[n] Parallelsprache“ verweisen, so belegen die Texte ihrerseits, dass diese Sekundrsprache primr in der sprachlichen Faktur des Dialogs selbst aufgehoben ist. Er entfaltet sich als Prozess einer seelischen ,Arbeit’, die im Durchgang der Dialogpartner durch die „zweite Parallelsprache“ ein zunchst verdecktes Ich freigibt, um es schließlich zur Wahrheit seiner eigentlichen Neigungen und Triebregungen finden zu lassen. Nichts anderes produzieren die eigentmlich gleichfçrmigen Dreieckskonstellationen der ,intimen Dramen’, wenn sie ihre Figuren eine Individuation durchlaufen lassen, in deren stockender und nur von Andeutungen vorangebrachter Teleologie etwas hervortritt, was Gerhart Hauptmann im Blick auf den „innere[n] Dialog“ noch 1932 „Selbsterkenntnis“424 genannt hatte: Dort, wo das Bewusstsein der Figuren zurcktritt, tritt in die Leerstellen der Rede ein Ich ein, das im Dialog mit einem Gegenber, das durch dieselbe sprachliche Erfahrung hindurch geht, allmhlich Aufschluss ber sich gewinnt. Wenn sich – wie in den Feindlichen – zwei Liebende in die Arme fallen, dann ist dies nicht mehr lnger ein Bild geglckter Intimitt, sondern der durch ihre traditionsreiche Sprache hindurch formulierte Abschluss einer „mehr unterbewussten, psychophysischen“425 Individuation. Es ist diese Archologie des modernen Ichs, mit der das ,intime Drama‘ diskursiv herstellt, was die frhe Psychoanalyse im selben Zeitraum auf dem Weg einer Arbeit der Subjekte an ihren traumatisch versperrten Erlebnissen erfindet: ein verborgenes, entstelltes, noch von sich selbst abgetrenntes Ich. 422 Maeterlinck: Der Schatz der Armen [1896], 102 f. Auch Rilkes frhe, ,sprachkritische‘ berlegungen sind Maeterlincks ,zweitem Dialog‘ verpflichtet. 1898 Rilke spricht von einem „tiefere[n] Leben“, das sich durch das „Nebeneinander zweier Handlungen“ hindurch artikuliert. Rainer Maria Rilke: Demnchst und gestern [1897]. In: Ders.: Smtliche Werke. Werkausgabe Bd. 10. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt/M. 1975, 345 – 350, 347. 423 Schlaf: Vom intimen Drama [1897], 98. 424 Joseph Chapiro: Gesprche mit Gerhart Hauptmann, Berlin 1932, 160. 425 Schlaf: Vom intimen Drama [1897], 96.

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Man kann diesen Zusammenhang zwischen den Zusammenbrchen des Dialogs und den sich durch sie hindurch vollziehenden Selbstaufklrungen der dramatischen Figuren an jenen Dialogpartien studieren, die Schlafs ,intime Dramen‘ wie stationre Redeflchen durchsetzen. Wenn Gertrud und Holm zu Beginn des dritten Aufzugs zu einer Aussprache zusammentreffen, entwickelt sich der Dialog als Sequenz von bewussten Redeabsichten und immer wieder hervortretenden unwillkrlichen Triebmomenten. Analog zur semiotischen Struktur der „Parallelsprache“ weist der Dialog in eine doppelte Richtung: Einerseits gibt es in der von zahlreichen Sprechpausen aufgerissenen Rede eine gewisse thematische Bindung: Zunchst kreist das Gesprch um die Vorflle des Abends, dann bittet Gertrud Holm darum, die Villa zu verlassen, um diese Bitte sogleich zu revidieren, schließlich dringt Gertrud auf eine Einschtzung ihrer nervçsen Zustnde; das Gesprch endet in entsagungsvollen Gesten, nach dem beiden die Unmçglichkeit eines gemeinsamen Lebens deutlich geworden ist. Andererseits zielt der Dialog auf das Bndnis all der Blicke und Gesten, durch deren sprachlosen Sinn die Figuren allmhlich zu ihrer verborgenen ,Anziehung‘ vordringen sollen. Wenn Holm Gertruds Nervositt als Ausdruck einer inneren Freiheit deutet, die von ihrer „Umgebung“ unverstanden bleibt, fhlt sich Gertrud „mit funkelnden Augen“426 in ihrer eigensten Wahrheit erkannt. Und so wie die Syntax des Dialogs das ,Gesetz‘ seiner Verknpfung fortwhrend unterbricht, so realisiert sich in der psychomagnetischen ,Anziehung‘ der „Heimliche[n]“427 eine Aussetzung jenes sozialen Gesetzes, dem die verheiratete Frau unterliegt und dem beide fr den Moment einer imaginren Vereinigung entfliehen. Diese Vereinigung soll sich bezeichnenderweise dort ereignen, wo, wie in Amerika, Taten und nicht Reflexionen „unsere Zeit und unsere Krfte in Anspruch“428 nehmen: Gertrud […]: Sie … Sie werden mir mein – sonderbares – Benehmen von gestern – verzeihen? … […] Holm: (ergreift ihre Hand und drckt sie, verwirrt): Es … Es ist doch wohl an mir, Sie um Verzeihung zu bitten? – Ich – bin so – langweilig, wenn ich – spreche. – (Leise, verlegen, zu Boden blickend.) Ich sollte nicht sprechen … […] (Pause.) Gertrud (an ihrem Taschentuch herumzupfend, hastig, mhsam): Sagen Sie doch, ich – bin immer so – nervçs, so – aufgeregt? – Nicht wahr? – So 426 Schlaf: Gertrud [1898], 45. 427 Ebd., 50. 428 Ebd.

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V. Verlçschende Form

unruhig? – Wie? – Meine … Meine Angehçrigen sind mit mir hierhergegangen, in’s Seebad, weil … weil … Nun! – Eh, also … (Hnde im Genick.) Wie?! – Sagen Sie, was – meinen Sie dazu? – Wie? – Zu meiner – Nervositt? – Meinen Sie auch, daß ich nervçs bin – Wie? […] Holm (sieht vor sich hin, dann leise, verlegen): Nein! Das ist wohl – Nebensache, Ihre Nervositt … Hm! – (Schweigt). Ja! – Hm! (Ruspert sich.) Aber … Aber – Sie sind hier – sehr allein. – Und … Und suchen doch – mit Ihrer Umgebung zu paktiren. – Sie sind – hm! … Sie sind – rathlos? … Im brigen – (das Gesicht abgewandt, leise): im Grunde – frçhlich – und lebhaft und – frei! Frei! – Innerlich frei! – (Schweigt eine Weile. Dann sich wie aus Gedanken losreißend): Ja! – Und das wird nicht verstanden! – Das – ist – alles … Gertrud (lebhaft, mit funkelnden Augen): Ah! Sehen Sie! Sehen Sie! – O, Sie – Heimlicher! – Ah! Gehen Sie! Gehen Sie fort von uns […] (wendet sich ab.) Holm (erhebt sich verwirrt, zçgernd). Gertrud (wendet sich hastig): Holm! – Nein! Bleiben Sie! – Bleiben Sie doch noch! Holm (zaudert). Gertrud […]: Oh! – Aber natrlich bin ich – nervçs! – Setzen Sie sich doch endlich hin! […] Holm (blickt bei Seite). Gertrud: Wissen Sie, was Sie – fr Ansichten geußert haben, gestern? Holm (den Blick gesenkt; jetzt und im Folgenden immer wie in Gedanken, als wenn er zu irgend einem Entschluß kommen wollte): Ja. – Aber es war wohl nicht recht klar. – Es … Es lßt sich so schwer sagen. (Pause.) Gertrud (sitzt da, mit wogender Brust, zurckgelehnt, Arme und Hnde lang auf den Sessellehnen, betrachtet ihn mit großen, verlorenen Augen.) […] Holm (wie vorhin): Was, .. Was ich – rede, ist es nicht. – Was man thut. – Was … Was man – will […] (Pause.) Holm (sieht sie plçtzlich fest an): Kommen Sie mit!429

In den Feindlichen vollzieht sich eine hnliche Bewusstseinsarbeit durch Astas Verdacht hindurch, Heinrich kçnne sie durch eine „heimliche Suggestion“ an sich „gefesselt“430 haben. Was in der umwegigen Aufklrung ber den tatschlichen Sachverhalt hervortritt, ist ein verdrngtes Triebmoment, das nicht, wie Asta ngstlich vermutet, auf Suggestionen beruht, sondern auf einer nervçsen Hypersensibilitt, die Asta in den Augen Heinrichs „ganz anders engagiert, als irgendein[en] beliebige[n] Durchschnittsmensch[en].“431 Auch hier zielt das minutiçs komponierte 429 Ebd., 44 – 47. 430 Schlaf: Die Feindlichen [1899], 80. 431 Ebd., 81.

4. Intime Dramen

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„Drberhin und Daranvorbei“432 des Dialogs darauf, dass sich die Figuren durch ein Geflecht unwillkrlicher Sprachregungen, gestischer Zeichen und bedeutender Leerstellen hindurcharbeiten, um in diesem ,Parallelsinn‘ zur eigenen Triebwirklichkeit zu finden: Asta: […] O, befreien Sie mich von diesem Zustand!! […] Sie hatten mich hypnotisiert!! Heinrich: […] (rckt ihr ein wenig nher, mit suggestiver Stimme): Asta! […] Halten Sie mich fr im stande, Asta! Ihnen auf irgend eine heimliche Weise derartige Qualen aufzuerlegen? – Wie? – Asta! Asta (in ruhender, lauschender Stellung, mit einem Lcheln vor sich hinsehend, leise): Ah nein! – Nein! – […] Heinrich: (mit gedmpfter, vor Erregung tiefer und weicher Stimme): […] Der Hauptgrund ihres Zustandes ist der, daß ich Ihnen, wie soll ich sagen – problematisch bin. Problematisch. – Sie sind eine Natur, Asta!, die viel zu fein ist, als daß sie nicht von irgend etwas Dunklem, Unklarem […] auf das Intimste beschftigt wrde. – Sie werden nun in solchen Fllen – natrlich! – ganz anders engagiert, als irgend ein beliebiger Durchschnittsmensch. […] Alles andere, Asta! ist Einbildung, Nervositt […] Ja! Ich bin mit mir ins Klare gekommen! Unser Verkehr wrde unmçglich auf die Dauer ein unbefangener bleiben kçnnen. – (Pause. Lasch, schlapp, schleppend) […] Sie – eh verstehen jetzt sich und mich und … Nicht wahr? – Hehe! – Hehe! – […] Asta: O nein, nein, nein! – – – Heinrich! – (Wirft sich schluchzend an seine Brust.) 433

Damit sind Schlafs ,intime Dramen‘ in zwei Richtungen hin lesbar. Zum einen unterhalten sie eine gewisse Affinitt zu Verfahrensweisen und Gesprchstechniken der frhen Psychoanalyse; zumindest bewegen sich Schlafs „zweite Parallelsprache“ und die narrativen Selbstdarstellungen, wie sie in der vor-analytischen Theorie des „kathartischen Verfahrens“ ausgebildet worden sind, in einem gemeinsamen diskursiven Feld. Allerdings besteht diese Affinitt nicht in den Parallelen einer narrativen Rekonstruktionsleistung, die sich auf die Durcharbeitung und berwindung eines uranfnglichen Traumas richtete. In dieser Hinsicht verfgen Psychoanalyse und ,intimes Drama‘ ber heterogene ,Ursprnge’, wie ihre Spracharbeit in unterschiedliche Verlaufsrichtungen fhrt. Tatschlich ist ja das seelische „Material“434, das nach der Auffassung Freuds auf dem Weg der ,freien Assoziation‘ gewonnen wird, auf eine ,erste 432 Schlaf: Vom intimen Drama [1897], 97. 433 Schlaf: Die Feindlichen [1899], 75 f., 80 f., 83, 90. 434 Sigmund Freud: Die Freudsche psychoanalytische Methode [1903/04]. In: Ders.: Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Ergnzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt/ M. 1975, 99 – 106, 103.

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V. Verlçschende Form

Szene‘ und damit auf ein Verdrngungsgeschehen bezogen, das der Narration voraus liegt. Alles, was in den „Einfllen der Kranken“435 an psychodynamischen Material hervortritt, verweist als (,metonymischer‘) „Abkçmmling[]“436 auf einen Ursprung, der sich zwar in immer neuen Reminiszenzen verbergen mag, der aber doch als erster Ursprung all jener Entstellungen wirkt, wie sie sich in den Erzhlungen der Subjekte zutragen. Wenn es eine entsprechende rekonstruktive Logik in den Redetechniken der frhen Psychoanalyse gibt, dann ist es die, „von den Einfllen aus zu dem Verdrngten, von den Entstellungen zum Entstellten zu gelangen.“437 Dagegen zielt der intime Dialog nicht auf eine Wiederaneignung eines (verloren gegangen) Ursprungs. Ganz im Gegenteil dient er dazu, den Figuren, die sich in ihm sprachlich reprsentieren, allererst einen Ursprung, einen Anfang, zukommen zu lassen. In der „vierte[n] Dimension“438 des Dramas finden die Figuren eine Sprachform vor, durch die sie der intime Dialog hindurchfhrt und in deren Verstehen ein Verstehen der eigenen Latenzen und Triebmomente mçglich wird; insofern ist die beschriebene diskursive Ordnung des ,intimen Dramas‘ zugleich ein hermeneutisches Drama des Selbst: Es ,erzhlt‘ von einer Subjektwerdung, die in der im Dialogverlauf zu bewerkstelligenden metapsychologischen Individuation allererst einen Anfang gewinnt, und entsprechend besitzen die Figuren seit den Feindlichen lediglich Vornamen; alle sozialen Faktoren, zumal milieufçrmiger Natur, die ihnen eine ihrer sprachlichen Individuation vorausliegende Identitt gbe, sparen die Texte aus. Dies alles hat nur sekundr mit Details einer geistes- und bewusstseinsgeschichtlichen Parallelbildung zwischen Psychoanalyse und literarischem Seelenpathos zu tun; jedenfalls kommt es auf sie nicht an, zumal sie im Blick auf prominentere literarische Konstellationen vergleichsweise umfassend erforscht sind.439 Auch die Annahme, dass sich in den narrativen Reminiszenzen der Psychoanalyse und der Seelennhe der Literatur ein gemeinsames ,positives Wissen‘ verbirgt, wrde – trotz der 435 Ebd. 436 Ebd. 437 Ebd., 104. Vgl. auch die sptere behandlungstechnische Schrift Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Weitere Ratschlge zur Technik der Psychoanalyse II [1914]. In: Schriften zur Behandlungstechnik, 205 – 215, 211 f. 438 Schlaf: Vom intimen Drama [1897], 96. 439 Vgl. fr die Wiener Moderne Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1983.

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„Doppelgngerscheu“440, die Freud etwa mit Schnitzler verband – einer genaueren Prfung wohl kaum standhalten. Man muss die Psychoanalyse vielmehr von der (Selbst-)Zumutung entkleiden, eine objektive Gestalt des Wissens vom Menschen sein zu mssen und sie stattdessen auf ihre eigenen mythologenen und narrativen Effekte hin lesen,441 um sehen zu kçnnen, dass ihre Nhe zu den Innovationen der dramatischen Dialogtechnik um 1900 auf einen diskursgeschichtlichen Sachverhalt hin transparent ist, der sich – formal gesprochen – im Zusammenspiel von Subjektkonstitution und bestimmten Modi der Erfahrung von Sprache herstellt. Wenn es eine Parallele zwischen der frhen Psychoanalyse und der Dialogtechnik des ,intimen Dramas‘ gibt, dann wird man sie in einer gemeinsamen Subjektform sehen mssen, die in einer um 1900 offenkundig kulturell prgenden Weise Momente einer narrativen bzw. verstehenden Arbeit in der Sprache mit einem (wenn auch nicht gleichsinnigen) Rekurs auf einen Ursprung verbindet, in dem das Subjekt allererst seine Wahrheit findet (Schlaf ) bzw. zu sich zurckkehrt (Freud).442 Eine andere Lesart kann an diese – kulturtheoretisch eingestandenermaßen noch wenig elaborierten – ursprungsmythologischen Motive anknpfen und zugleich eine strker literaturhistorische Perspektive einnehmen. Blickt man auf Schlafs weltanschauliche Entwicklung seit etwa 1900, wird deutlich, dass die ,intimen Dramen‘ im Kontext einer groß angelegten monistisch-evolutionistischen Spekulation stehen,443 in der 440 Sigmund Freud: Briefe 1873 – 1939, Frankfurt/M. 1960, 338 – 340, 338 [an Arthur Schnitzler, 14. 5. 1922]. 441 Vgl. Susanne Ldemann: Mythos und Selbstdarstellung. Zur Poetik der Psychoanalyse, Freiburg 1994 und Erhart: Familienmnner, 100 ff., 339 ff. 442 Unbercksichtigt muss an dieser Stelle die bekannte Doppelstellung der Sprache/ Rede in der Psychoanalyse bleiben: Einerseits gibt es keine psychischen, therapeutischen oder (tiefen)interpretatorischen Substrate – verdrngte Wnsche, Begehren, ,das Unbewusste’ – außerhalb der sprachlichen Reprsentationen und der Reden des Subjekts, andererseits markiert gerade diese Sprache die Erfahrung einer Grenze: die Grenze des bewussten Wissens ,von sich’ und damit die Grenze der ungebrochenen sprachlichen Selbstverfgung der Subjekte ber ihr Inneres. Hier geht es allein um den diskursgeschichtlichen Befund, dass Individuation um 1900 eine Erfahrung von Sprache berhaupt voraussetzt, und dass im Durchgang durch diese Spracherfahrung ein zurck- oder voraus liegender ,Anfang’ verfgbar wird. 443 Vgl. zum Monismus der Jahrhundertwende Fick: Sinnenwelt und Weltseele; Georg Braungart: Die Natur als Knstlerin. Monismus und sthetik um 1900. in: Volker Kapp u. a. (Hg.): Bilderwelten als Vergegenwrtigung und Verrtselung der Welt. Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende, Berlin 1997, 75 – 89; Ingo Stçckmann: Im Allsein der Texte. Zur darwinistisch-monistischen

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V. Verlçschende Form

sich Figuren der Umwertung und der Erneuerung mit einander verbinden. Es gehçrt zu den weitgehend unerforschten und kaum bekannten literaturgeschichtlichen Signaturen des Naturalismus, dass er die eigenen psychoenergetischen Befangenheiten der 1880er Jahre um die Jahrhundertwende einer konzeptuellen berarbeitung zufhrt, die ihm – nicht zuletzt unter dem rezeptionsgeschichtlich unheilvollen Einfluss Hermann Bahrs – gewçhnlich als historisches Versumnis zugerechnet wird. Dabei handelt es sich nicht, etwa nach dem vertrauten Zeitschema von Abriss und Zsur, um eine einfache berwindung der Willensschwche, sondern vielmehr um die Frage, wie ihre sthetischen Potentiale genutzt werden kçnnen, um eine ,regenerierte‘ Moderne ins Werk zu setzen. Schlafs hat an dieser reflexiven, die eigene Vergangenheit mit einbeschließenden Modernisierung insofern einen wesentlichen Anteil, als er den gesamten nervçsen Komplex in eine evolutionistische Perspektive wendet. Aus ihr tritt ein Mensch hervor, der sich aus seinen willentlichen Lhmungen befreit und, so spekulierte Schlaf noch 1906, knftig im „Willensstrom“ einer „neuen […] Sicherheit“444 bewegt. Es gibt damit beim Schlaf der Jahrhundertwende eine eigentmliche ideelle Legierung von Schwche und Kraft, von nervçser Befangenheit und regenerativem Vitalismus, die das Nervçse zu einer Art Hypersensibilitt, zu einer psychomentalen ber-Differenziertheit eines zuknftigen Menschen umbildet: Diese anmen, hysterischen, berfeinen und bersensiblen, in einem steten Fiebertraum und einer furchtbaren Schrecknispsychose taumelnden Schemen, […] diese unglckselige, gengstete, berfeine, abstrakte, unpersçnliche und wesenlose Schattenmenschheit, in ich weiß nicht welcher dunkeln, viertdimensionalen Sphre: wie, wenn sie […] aus diesen asphodelischen Dmmerungen […] eines Tages hervorginge, als eine neue befreite, feinere und differenziertere, selbstsichere Menschheit?445

Das Zitat macht zugleich deutlich, worin das Moment der Erneuerung besteht. Es zielt in einer Art epochaler Prolepse auf einen Mythos erneuernder Individuation, oder, wie Schlaf 1906 formuliert, auf eine „neue gefestigtere Menschheit“446 und die „Vollendung einer neuen Persçnlichkeit“447. Schon Richard Dehmel hatte 1898 mit Blick fr die

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Genese der literarischen Moderne um 1900. In: Scientia Poetica 9 (2005), 263 – 291. Schlaf: Maeterlinck [1906], 17. Ebd., 16 f. Ebd., 33. Ebd., 34.

5. Verausgabungen. Michael Georg Conrads entropische Romane

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Erneuerungsmythologie, die Texte wie Die Feindlichen durchstimmt, von einem „Neumenschenstck“448 gesprochen. Getragen von einer nervçsen Sensibilitt, die die Hyperdifferenzierten in einem mystischen Immaterialismus mit einander verbindet, ist der neue Mensch aber zugleich in der Perspektive einer „neuen Soziett“449 zu sehen: Wenn sich der Willensschwache in der Vergangenheit in den innersten Bezirk seiner energetischen Lhmungen zurck gezogen hat, dann ist der neue Mensch der „Nervenverfeinerungen“450 und der „unmittelbaren Beziehungen von Seele zu Seele“451 Medium eines unablssigen psychomagnetischen Kontakts und einer fortwhrenden, ,dichten‘ communicatio.

5. Verausgabungen. Michael Georg Conrads entropische Romane Mit Michael Georg Conrad – Romanautor, Literaturkritiker und Kulturimpresario – verbinden sich vielfltige und symptomatische Interessen des Naturalismus. Conrad, der als Mittelpunkt des ,Mnchner‘ Naturalismus 1885 mit der Grndung der Zeitschrift Die Gesellschaft und damit als einer der vielseitigsten Zeit- und Kulturkritiker des Kaiserreichs hervortrat, hatte 1878 Zugang zum Kreis um Zola gefunden und unter dem Eindruck dieses offenkundigen Schlsselerlebnisses452 fortan die eigene publizistische Ttigkeit mit einer offensiven Zola-Propaganda verbunden, neben die seit Mitte der 1880er Jahre eine ebenso emphatische NietzscheRezeption trat.453 Als Literat im engeren Sinne verschaffte sich Conrad –

448 Richard Dehmel: Ausgewhlte Briefe aus den Jahren 1883 bis 1902, Berlin 1923, 281 – 283, 281 [an Johannes Schlaf, 21. 7. 1898]. 449 Schlaf: Maeterlinck [1906], 48. 450 Schlaf: Die Feindlichen [1898], 53. 451 Schlaf: Maeterlinck [1906], 42. 452 Vgl. Michael Georg Conrad: Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann. Erinnerungen zur Geschichte der Moderne, Leipzig 1902. 453 Vgl. zu Conrad Lothar L. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. ber die Situierung der Literatur in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne, Tbingen 2005, 249 – 266 und umfassend Gerhard Stumpf: Michael Georg Conrad: Ideenwelt, Kunstprogrammatik, literarisches Werk, Frankfurt/M., Bern, New York 1986. Zu Conrads Zola-Rezeption vgl. die diesbezgliche Selbstdarstellung in Michael Georg Conrad: Emile Zola, Berlin 1906. Tatschlich zhlt Conrad seit 1872, d. h. noch im Vorfeld einer breiten Nietzsche-Wahrnehmung, zu den wenigen

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V. Verlçschende Form

nach zwei Novellenzyklen, deren erster in der Milieubindung noch die Eindrcke des Paris-Aufenthalts verarbeitet454 – mit einem groß angelegten Erzhlprojekt Aufmerksamkeit, das unter dem Titel Was die Isar rauscht ein deutsches Pendant zu Zolas Rougon-Macquart-Zyklus bilden und auf 10 Bnde bemessen sein sollte. 1888 erschien unter dem Titel des Gesamtzyklus der erste Roman der Reihe, 1890 der zweite (Die klugen Jungfrauen), 1893 der dritte (Die Beichte des Narren). Wenn sich Conrad ein literaturgeschichtliches berleben gesichert hat, dann im Zeichen der Tatsache, dass der Isar-Zyklus mit Erscheinen des dritten Teils bereits erlahmt; die geplanten Folgeromane, darunter Titel wie Pfaffenzeller und Komp. und Der Einsiedler im Steinbruch, sind niemals erschienen.455 Offenkundig hatten sich Conrads Energien nach drei Romanen bereits verausgabt. Das Erlahmen des Gesamtprojekts hngt in erster Linie mit Neuorientierungen des literarischen Feldes nach dem Ende des BismarckReichs zusammen, das recht unvermittelt ,das Soziale‘ aus den Augen verlor und Conrads primr çkonomisch determinierten Blick auf die Reichswirklichkeit die Grundlage entzog.456 Andererseits hat Conrad den Weg, den viele Naturalisten in die Proklamation eines neuen Menschen oder in eine monistische Einheitsmythologie antreten ließ, nicht mitvollzogen. Jenseits solcher biographischen Konstellationen lassen sich aus dem schnellen Verstummen des Isar-Zyklus zwei Konsequenzen ziehen, die beide gleichermaßen Eigentmlichkeiten des deutschen Naturalismus markieren. Zum einen verweisen sie auf die erheblichen Schwierigkeiten, die im Zolaschen Naturalismus fomulierten Ansprche an eine histoire naturelle et sociale gleichsinnig, zumal in hnlich monumentaler Weise auf die deutschen Verhltnisse bertragen zu kçnnen.457 Wo es im deutschen

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Nietzsche-Lesern der ersten Stunde. Vgl. Stumpf: Michael Georg Conrad, 75 – 88 und Conrad: Emile Zola [1906], 24. Vgl. Michael Georg Conrad: Lutetias Tçchter. Pariser-deutsche Liebesgeschichten, Leipzig (o. J.) [1883]; ders.: Totentanz der Liebe. Mnchener Novellen, Leipzig 1885. 1893 ist zunchst ein Folgeroman unter dem Titel Der rote Ludwig geplant. Weitere Romanprojekte des Zyklus tragen Titel wie Die Modelle des Bildhauers oder Hinter den Kulissen; die Titel lassen auf eine starke Betonung des Kunstund Kulturbetriebs schließen, wie er bereits im ersten Roman prsent ist. Ein weiterer geplanter Roman – Floras selige Ehe – ist fragmentarisch erhalten (1903 bzw. 1914). Vgl. Stumpf: Michael Georg Conrad, 356. Vgl. Just: Von der Grnderzeit bis zur Gegenwart, 54. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Zola im historischen Kontext. Fr eine neue Lektre des Rougon-Macquart-Zyklus, Mnchen 1978, 12 – 20. Vgl. die an

5. Verausgabungen. Michael Georg Conrads entropische Romane

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Naturalismus, wie etwa in Conrad Albertis sechsteiligem Zyklus Der Kampf ums Dasein, ein vergleichbares panoramatisches Erzhlen gibt, bleibt es – anders als im polyphonen Roman Zolas – an eine ausgeprgte auktoriale und moralische Koordination der erzhlten Welt gebunden458 oder besitzt – wie etwa in den zahlreichen ,Berliner Romanen‘ Max Kretzers – von Beginn an weder vergleichbare zyklische noch epistemologische Ansprche. Auch in dieser Hinsicht ist die von Julius Hart und anderen gehegte berzeugung, Kretzer stelle den Hauptvertreter des „Zolaismus in Deutschland“459 dar, wenig plausibel. Zum anderen verbirgt sich im Isar-Fragment ein prgnanter Beleg fr die These, der deutsche Naturalismus habe seine eigentliche Domne in der Kurzprosa, d. h. in „epischen Kleinformen wie Skizze, Studie, Kurzerzhlung, Novelle usw.“460 gefunden. Die bis heute anhaltende Tendenz, die „bleibenden Leistungen“461 des Naturalismus nicht im sozialen Roman, son-

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Zolas ,Epistemologie’ interessierten Arbeiten von Hans Joachim Mller: Der Roman des Realismus-Naturalismus in Frankreich. Eine erkenntnistheoretische Studie, Wiesbaden 1977; ders.: Zola und die Epistemologie seiner Zeit. In: Romanistische Zeitschrift fr Literaturgeschichte 5 (1981) H. 1, 74 – 101; Elke Kaiser: Wissen und Erzhlen bei Zola. Wirklichkeitsmodellierung in den ,Rougon-Macquart’, Tbingen 1990; Rainer Warning: Kompensatorische Bilder einer ,wilden Ontologie’: Zolas ,Rougon-Macquart’. In: Ders.: Die Phantasie der Realisten. Mnchen 1999, 240 – 268; Irene Albers: Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk mile Zolas, Mnchen 2002. Vgl. Kap. II. 3. Julius Hart: Der Zolaismus in Deutschland. In: Die Gegenwart. Wochenschrift fr Literatur und çffentliches Leben 30 (1886) Nr. 40. Zit. nach Manfred Brauneck/Christine Mller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900, Stuttgart 1987, 672 – 678, 673. Als „ebenbrtiger[r] Jnger Zola’s“ erscheint Kretzer auch bei Karl Bleibtreu: Die Revolution der Literatur [1886]. Mit erluternden Anmerkungen und einem Nachwort neu hg. von Johannes J. Braakenburg, Tbingen 1973, 36. Walter Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar 1998, 43. Vgl. zu diesem Konsens auch Dieter Borchmeyer: Der Naturalismus und seine Auslufer. In: Viktor Zˇmegacˇ (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. II/1: 1848 – 1918, Kçnigstein/Ts. 1985, 153 – 233, 190; Roy C. Cowen: Der Naturalismus. In: Hans Joachim Piechotta u.a (Hg.): Die literarische Moderne in Europa. Bd. 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende, Opladen 1994, 68 – 111, 92 f.; Keith Bullivant: Naturalistische Prosa und Lyrik. In: Frank Trommler (Hg.): Jahrhundertwende. Vom Naturalismus zum Expressionismus 1880 – 1918, Reinbek 1982 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. von Horst Albert Glaser. Bd. 8), 169 – 187, 179. Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933, 43.

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dern im ,konsequenten Naturalismus‘ (Holz, Schlaf ) zu erblicken, hat hier einen ihrer Ursprnge. Ohne den genannten Erwgungen ihre Plausibilitt rundweg absprechen zu wollen, bleiben sie – zumindest im Blick auf Conrads IsarZyklus – doch vordergrndig. Ohnehin darf man im Blick auf die aufflligen Wertungskontinuitten vermuten, dass sich die jngere Literaturgeschichtsschreibung nur selten einer Lektre der ungeliebten Texte ausgesetzt hat. Dass es sich um literarisch missglckte Texte handelt, steht außer Frage, schmlert ihre Bedeutung fr die Formationsphase der frhen Moderne und ihre sthetischen Gestaltungsprobleme aber nicht.462 Fr die Inkongruenz, die sich zwischen den berlebensgroßen Ambitionen des Zyklus und seinem schnellen Erlahmen einstellt, scheint es jedenfalls programmatische und poetologische Grnde zu geben, die einen ganz anderen Verausgabungssinn besitzen, als ihn Thesen ber die narrativen Unzulnglichkeiten des Naturalismus gewçhnlich nahe legen. So findet sich in der Vielzahl der Kommentare, mit denen Conrad das Voranschreiten seiner Isar-Romane seit 1888 in der Gesellschaft begleitet, eine Aufzeichnung vom Oktober 1888; dort heißt es ber die Funktion des soeben erschienenen ersten Bandes: ,Was die Isar rauscht‘ ist sozusagen ein Expositions-Roman oder eine Roman-Exposition, d. h. der Wurzelboden, aus dem eine ganze Serie 462 Vgl. Just: Von der Grnderzeit bis zur Gegenwart, 54 und die zeitgençssische Wertung bei Hanstein: Das jngste Deutschland [1900], 92. Gotthard Wunbergs Einschtzung, dass es sich bei Conrad um einen „schlechte[n] Autor“ handelt, ruht auf der Annahme, dass es in den 1880er Jahren zu einem Wandel von einer „Textkultur“ zu einer „Performanzkultur“ gekommen sei. Als „Performanzkultur“ sind nach Wunberg Texte primr „argumentative[n]“ Charakters zu verstehen, die „keiner poetologisch begrndbaren Fassung mehr“ bedrfen. Wenn es auch zutreffend ist, dass der Naturalismus seine Modernitt auch in programmatischen Verlautbarungen behauptet hat, so dient die „kultursemiotisch“ intendierte Unterscheidung von Textkultur und Performanzkultur doch erkennbar dazu, den Kontakt mit den literarischen Texten zu vermeiden. Die Behauptung, dass die ,performanzkulturellen’ Texte „streng genommen gar nicht mehr gelesen, sondern nur verstanden werden mssen“, deutet in diese Richtung. Vgl. Gotthard Wunberg: Vorschlge zum weiteren Procedere. Aus Anlass von Michael Georg Conrads ,Erinnerungen zur Geschichte der Moderne’ von 1902. In: Ders.: Jahrhundertwende, 350 – 361, 353. Das Folgende teilt Wunbergs Interesse an einer ,epochalen’ Lektre des Naturalismus; allerdings indem es sich einer Lektre der Texte aussetzt. Der Nachweis zielt darauf, die ,Schwche’, besser: die figurale Organisation der Texte als Moment einer problematischen Selbstkonstitution der Moderne zu verstehen, in deren Gestaltungsschwierigkeiten zugleich ihre literaturgeschichtliche Signatur sichtbar wird.

5. Verausgabungen. Michael Georg Conrads entropische Romane

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Mnchener Romane rasch nacheinander hervorschießen wird. Eine Reihe von Personen […] – sie alle haben ein so tchtiges Stck Leben im Leibe, daß sie erst vollkommen zur Ruhe kommen kçnnen, wenn sie sich in ihrem Kraftbereich auf irgend einem Schaffensgebiete kmpfend ausgewirkt haben. Und dies werde ich dem geneigten Leser in den Romanen vorfhren, die ich jetzt an meinem Werktische vorbereite.463

Conrads Selbstkommentar ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich. Erstens fundiert er den gesamten Erzhlzyklus in einer thermodynamischen Sprache der Kraft; alle Figuren und Handlungsverlufe sind als quivalente einer einheitlichen und anfnglichen Energie gedacht, die sich in ihren Abspaltungen, d. h. in den unterschiedlichen „Schaffensgebiete[n]“ und „Kraftbereiche[n]“ der Einzeltexte realisiert. Zweitens folgt die narrative Anlage einer entropischen Verlaufsform; durch den Zyklus wie seine Einzeltexte hindurch wirkt eine Logik des Verbrauchs und der Selbstverausgabung des Erzhlens, die sich so lange reproduziert, bis sich die anfnglichen Kraftmomente „kmpfend ausgewirkt haben“ und schließlich „vollkommen zur Ruhe kommen“. In der Vielzahl der naturalistischen Romanprojekte stellt Conrads Isar-Zyklus damit den eminenten Versuch dar, einen entropischen Reproduktionszyklus nachzubilden, der den thermodynamischen Mythos vom Erlahmen aller energetischen Prozesse in ein buchstbliches Aus-Wirken, in einen Wrmetod des romanhaften Erzhlens umgestaltet. Entsprechend ist die entropische Erzhllogik der Romane bereits in den ußerlichkeiten ihrer arabesken Komposition bemerkbar. Zunchst kombinieren die Texte Material ganz unterschiedlicher Herkunft – Briefwechsel, Figurenreflexionen, die zu veritablen Essays ber zeitaktuelle Fragen auswachsen, eingelegte Novellen und Realien aller Art, darunter Zeitungsinserate und Reklametexte –, die nur geringfgig in den Erzhlverlauf integriert sind. Sodann fllt es außerordentlich schwer, eine thematische Klammer auszumachen. Geheimer Kern zumindest des ersten Romans ist ein Spekulationsobjekt – ein zur Bebauung anstehendes Ufergebiet der Isar –, auf dem symbolisch die kulturpolitischen und sthetischen Grabenkmpfe des Zweiten Reiches ausgetragen und die in einen an verbaler Drastik einzigartigen Diskurs ber charakterliche ,Entartungen‘ und grnderzeitliche ,Kulturlgen‘ versponnen werden. Dies alles wird in einer dezentralen Erzhlorganisation auf zahlreiche Figuren abgebildet, unter denen zwei – der Architekt Josef Zwerger und 463 Michael Georg Conrad: Vom Werktisch. Fragmente eines Briefwechsels. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift fr Litteratur und Kunst 2 (1888), 819 – 822, 821.

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der verarmte Baron Max von Drillinger – hervortreten. Drillinger ist wegen erheblicher Spekulationsschulden von den Zuwendungen des Bankiers Weiler abhngig ist; Weiler seinerseits knpft diese Zuwendungen an Drillingers Bereitschaft, Raßler, zu dessen Frau der Baron eine stadtbekannte, aber leidlich geduldete Beziehung unterhlt, fr ein gemeinsames Bebauungsprojekt zu gewinnen. Auf dem Weg der Multiplikation solcher Mikrobeziehungen, in denen der ,kalte‘ und moralisch indifferent gewordene Geschftscharakter der Moderne hervortreten soll, entsteht ein Panorama unendlicher Verworfenheit und Verlogenheit, das die Romane, zumal in den umfnglichen brieflichen Einlassungen Drillingers und Zwergers, unablssig mit Invektiven berziehen. „[B]ei uns in Mnchen“, schreibt Zwerger zu Beginn, „hat die arrogante Mittelmßigkeit in der kçnigslosen Kunststadt eine so korrupte Wirtschaft auf die Beine gebracht, daß einem fr den Ruhm Isarathens bange werden kann, tritt nicht bald eine radikale nderung ein.“464 Zu den Konsequenzen dieser bertreibungskunst zhlt der Umstand, dass das ohnehin nur rudimentre auktoriale Erzhlen, das die ersten beiden Romane bestimmt, allmhlich in eine figurale Perspektive verwandelt wird; die Beichte des Narren stellt nur mehr einen Monolog dar, der sich in zunehmend fragmentarisch werdenden Formen der schriftlichen Aufzeichnung zum Ausdruck bringt. Damit lassen sich in den narrativen Makrostrukturen nur noch von Ferne Strukturmerkmale erkennen, die das hergebrachte Bedrfnis nach einer verlsslichen epischen Koordination unangetastet lassen. Eine solche Koordinationsleistung erbringt die Isar-Metapher, die der Text allerdings in mehrere metaphorische Teilfunktionen zerlegt.465 Zunchst fungiert die Isar als Medium; ihr fortwhrend vernehmbares Rauschen steht fr die unaufhçrliche Kommunikation der Stadt, fr ihre Mitteilungen, bertragungen, Gerchte und Informationsflsse, in denen sich Interessen und Mentalitten formieren, Neuigkeiten verbreiten und Beziehungen gestiftet oder beendet werden. „[W]as sich die Isarwellen an der Quaistraße ber Deine Liaison zurauschen“, bemerkt Zwerger aus Italien an seinen Freund Drillinger, 464 Michael Georg Conrad: Was die Isar rauscht. Mnchner Roman. 2 Bde., Leipzig 1888, Bd. 1, 15. 465 Insofern ist Wunbergs Beobachtung, die Isar besitze als eine „Art lokales Leitmotiv […] keine rechte Funktion“ (Wunberg: Vorschlge zum weiteren Procedere, 352), zu undifferenziert. Die Schwierigkeit besteht in der berlagerung von metaphorischen und metonymischen Teilfunktionen innerhalb desselben semantischen Feldes.

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„ich hçr’s bis hierher!“466 – „Schreib‘ mir gelegentlich“, heißt es wenig spter, „was die Isar neues rauscht […].“467 In den bertragungen der Isar verbirgt sich zugleich der panoramatische Anspruch des Zyklus. Er stellt den Versuch dar, die modernen Kommunikationsmedien wie Macht, Geld, Liebe, Kunst und Gercht mit einander zu verbinden und deren ,Berhrung‘ anzuzeigen. So machen die Verstrickungen der Figuren Geld und Liebe nicht nur als eigentliche Triebenergien der Moderne sichtbar, sondern auch als Funktionen einer prinzipiellen Konvertibilitt und ,Verrechenbarkeit‘.468 Vor allem aber markiert die Isar ein zwischen metaphorischen und metonymischen Beziehungen schwankendes ,Bild‘ fr den ubiquitren Tausch, der die Romantexte organisiert und miteinander verbindet. Genau besehen ist die Isar Objekt dieses Tausches und, zugleich, sein Medium. „Die Isar“, so beschreibt Weiler die anstehenden „Bauspekulationen im großen Stil“, ist der Goldstrom fr das neue Mnchen. Wir mssen uns der Isar bemchtigen, das heißt: ihrer Wasserkrfte, ihrer Ufer und ihrer Inseln. Was fr Baugrnde, was fr Villen-Viertel, was fr pompçse Zukunftsstraßen! […] [Z]unchst Ausbau der Quaistraße, Regulierung der Prater-, der Feuerwerks- und der Kohleninsel und Einbeziehung in den Bebauungsplan; sodann Ausntzung der riesigen Wasserkraft […]. Die Isar wird das Zentrum einer wunderschçnen Verjngung Mnchens, hier wird sich die Kunst, der Reichtum, die Aristokratie ansiedeln in pompçsen, komfortablen Bauten; außen herum, auf der Ebene, ein Grtel von Fabriken, von großartigen industriellen Etablissements, sodann bauen wir eine Isarthalbahn von hier bis an den Fuß der Alpen, damit das Hochgebirge uns sozusagen vor der Thr liegt …469

So zutreffend es ist, dass der Text, wie Eva-Maria Siegel bemerkt hat, durch die „Analogie von Naturprozess und çkonomischem Tausch“470 bestimmt wird, so richtig ist es auch, dass sich dieser naturalisierte Tausch eigentlich in eine zweifache semiotische Beziehungslogik ausfaltet. Zunchst ist die vermerkte „Analogie“ eine Metapher, die die bertragungen der Kommunikationen, der Medien und des Geldes durch die „Strçmung[en]“471 des Flusses veranschaulicht. Zum anderen fungiert die Isar als Metonymie. Einerseits nmlich lsst der Text dort, wo er am 466 467 468 469 470 471

Conrad: Was die Isar rauscht [1888], I, 14. Ebd., I, 34. Vgl. Ebd., I, 159 f. Vgl., 133 f. Siegel: High fidelity, 225. Conrad: Was die Isar rauscht [1888], I, 152.

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Tauschprozess die unablssige Substitution der Dinge und Werte bloßlegt, das ,entfrbende‘ Prinzip der quivalenz auf die erzhlte Welt bertreten. „Alles fließt und zerfließt und sammelt sich wieder“472, bemerkt eine anonyme Stimme, um das moderne ,Gesetz‘ anzuzeigen, nach dem die Dinge ihre Eigenschaften im Tausch verlieren, um immerfort neue quivalenzbildungen anstoßen zu kçnnen.473 Andererseits macht die Isar das Prinzip einer fortwhrenden Verkettung sichtbar. Sie bersetzt die grnderzeitliche Vision des Bankiers in einen energetischen Raum, in dem sich mit den Mitteln der modernen Infrastruktur „pompçse, komfortable Bauten“ in einem Gebude-„Grtel“ entlang der „Isarthalbahn“ metonymisch berhren. Diese unentschieden zwischen metaphorischen und metonymischen Funktionen lavierende Bildlogik beruht auf einer vergleichsweise schlichten Opposition. Die berschssige polemische Energie, die insbesondere den ersten Teil des Isar-Zyklus vorantreibt, richtet sich auf eine fundierende Opposition von ,Geist‘ und ,Geld’, an die sich eine Serie quivalenter Oppositionen – Kunst vs. konomie, Poesie vs. Prosa, Besitz vs. Erwerb, Bindung vs. Vertrag etwa – anschließt. Entsprechend findet das gesamte ideelle Dispositiv des ersten Teils seine symbolische Verdichtung in den konkurrierenden architektonischen Konzepten, die sich entlang der Opposition von ,Geist‘ und ,Geld‘ ausfalten. So steht auf der Seite Zwergers eine Architektur der Willenskraft und der produzierenden Energie; „Ich will mich“, schreibt Zwerger an Drillinger zu Beginn, „ausarbeiten und ausleben; ich will beweisen, dass ich eine K r a f t bin.“474 In Zwergers architektonischen Planungen kommt ein universaler gestaltgebender Wille zum Ausdruck, der der stillosen Architektur der Grnderzeit eine Baukunst von nationaler Bindekraft entgegensetzt. Semiologisch ruht diese nationale Baukunst auf Zeichen gleicher Herkunft und Struktur; ihre Zeichensprache ist homogen und aus dem innersten Ausdruck der Zeit heraus erwachsen, whrend das grnderzeitliche Bauen in einer Art historistischer Totalprsenz Stilgestalten der verschiedensten Epochen zusammen zwingt: Jetzt stehen die Sachen so: wie es Mode-Schneider gibt, so etablieren sich die Mode-Architekten. […] Da liegen die architektonischen Modezeitungen. 472 Ebd., I, 67 (m. Hervorhg.). 473 „Durch das Geld“, so Hugo von Hofmannsthal noch 1908, „kommt alles zu allem.“ Hugo von Hofmannsthal: Balzac [1908]. In: Ders.: Reden und Aufstze I [1891 – 1913], 382 – 397, 392. 474 Conrad: Was die Isar rauscht [1888], I, 28.

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Man hat alle Stilmuster auf Lager: das klassische, das gotische, das deutschrenaissanceliche, das kompromißliche u.s.w. […] Und solch eine Kunst soll das Volk ins Herz schließen? Eine solche Kunst soll unsere nationalen Bestrebungen, unsere sozialen Ideale verkçrpern? Eine solche Bauerei soll einen edleren, lebendigeren Zusammenhang zwischen den Menschen stiften und zur Begeisterung fr hçhere Ziele entflammen?475

Auch hier, unter dem polemischen Text dieser Grnderzeitsatire, verbirgt sich eine entropische Vorstellungslogik. Sie besteht darin, dass der in der Summe von „Stilfexereien“476 und „Stilmengerei[en]“477 prsente Historismus Zeichenzusammenhnge ohne innere Bindung und in dieser Bindungsschwche Ordnungsverluste sichtbar macht. Was sich in den grellen Gegenstzen, mit denen der Roman seinen programmatischen Zeitbezug unter Beweis stellen will, als historische Tendenz zu erkennen gibt, besitzt in der Imagination des Romans freilich einen Grund. Der gesamte geistig-kulturelle Niedergang, den die Figuren in der unablssigen Polemik gegen die „Gemeinheit des Geldsacks“478 beklagen, resultiert aus jenem Vakuum, das der 1875 endgltig besiegelte Rckzug Ludwigs II. aus der Isarmetropole hinterlassen hatte.479 Seitdem ist Mnchen, wie Zwerger in einem Brief an den Pessimisten Trostberg betont, nicht nur eine „kçnigslose[] Haupt- und Residenzstadt“480, sondern zugleich ein entleerter Ort, aus dem die „beharrliche[] Thatkraft“481 des Kçnigs emigriert ist. Wie ein modernes „Pompeji“482 strebt Mnchen seitdem seiner „Auflçsung“ und „Zerbrçckelung“483 entgegen – einer Auflçsung, die im Bild des 1864 geplanten Wagner-Festspielhauses mehr als nur 475 476 477 478 479

480 481 482 483

Ebd., I, 21 f. Ebd., I, 19. Ebd., I, 23. Ebd., I, 152. 1875 zeigt sich Ludwig zum letzten Mal çffentlich in Mnchen; Anlass ist die große Sommerparade der Mnchener Garnison. Schon seit 1866 war Ludwigs Neigung sprbar, sich Stadt und Residenz, wenn auch zunchst unter Fortfhrung der Regierungsgeschfte, weitgehend zu entziehen. Faktisch geht die Regierungsarbeit aber seit 1870 auf eine „anonyme Ministerialoligarchie“ (Karl Bosl: Bayerische Geschichte, Mnchen 1970, 240) ber, da der ,Schattenkçnig‘ im Zuge seiner mythischen Selbstbearbeitung als Wagnerapologet, Germanenverehrer und nationaler Bauherr fr das Mnchener Kabinett kaum erreichbar ist. Vgl. Dirk Heißerer: Ludwig II., Reinbek 2003, 95 und Martha Schad: Ludwig II., Mnchen 2000, 28. Conrad: Was die Isar rauscht [1888], II, 12. Ebd., II, 26. Ebd., II, 27. Ebd.

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Kunst, nmlich Fest und Feier, Stiftung und Pflege der Nation im Medium des Festspiels in Mitleidenschaft zieht. Zwergers ressentimentaler Blick auf die zerfallende Kunstmetropole Mnchen organisiert sich um jenen geschichtlichen Moment von 1864, in dem Ludwig das Festspielhaus auf dem Hochufer der Isar errichten wollte, um damit – Bild einer tief greifenden Ambivalenz von Weitergabe und Konkurrenz – der vterlichen ,Akropolis‘ einen eigenen Musentempel an die Seite zu stellen.484 In der sentimentalischen Perspektive Zwergers wchst dieses Mnchen zu einer Art moderner Brger-Polis, zu einem Gemeinwesen der „deutschen Vçlker“ aus, das sich in der machtvollen „That“ Ludwigs und im „g r o ß e n S i n n d e r B  r g e r s c h a f t “485 instituiert hat: Der Charakter der Großstadt kann nur aus dem g r o ß e n S i n n d e r B  r g e r s c h a f t hervorwachsen […]. Alles verdankt Mnchen der beharrlichen Thatkraft und Unerschrockenheit [der, I.S.] großen Kçnige … Und erst als der phantasievolle und idealste aller Wittelsbacher, der jugendliche Ludwig II. den Thron bestieg, jubelte jedes echte Knstlerherz … […] Da kam die große unselige Schicksalswende … Seit der Monarch die Stadt verlassen […], seit jenem verhngnisvollen Augenblick verlor das Mnchner Kunstleben alle Fhrung und Richtung ins Große. […] Es wurde dies und das probiert, allein ein stolzes, sicheres Zentrum, von dem aus die 484 Die Planungen gehen ursprnglich auf Wagners eigene berlegungen zu einem Festspielhaus (1862) zurck, das im Gegensatz zum Repertoiretheater ausschließlich der Auffhrung des Rings vorbehalten sein sollte. Seit November 1864 plante Ludwig das Festspielhaus in Form eines Monumentalbaus nçrdlich vom Maximilianeum zu errichten, wobei eine Prachtstraße die Verbindung mit dem Mnchener Stadtzentrum herstellen sollte. Das Projekt ist nach einer vierjhrigen Planungsphase unter Leitung von Gottfried Semper, die 1865 auch den Bau eines provisorischen Theaters einschloss, an den Widerstnden des Mnchener Kabinetts und den erheblichen Kosten fr die erforderlichen Grundstcksankufe, nicht zuletzt an der wachsenden Indifferenz Wagners gescheitert. Der geplante Standort gegenber dem Maximilianeum, der „Akropolis auf dem Gasteig“ (Michael Dirrigl: Maximilian II. Kçnig von Bayern 1848 – 1864. Teil I und II, Mnchen 1984, 491 und 708), dokumentiert Ludwigs Interesse, die Bauttigkeit seines Vaters ihrem Anspruch nach einerseits fortzusetzen, andererseits hinsichtlich ihres reprsentativen Charakters zu berbieten. Vgl. Heinrich Habel: Die Idee eines Festspielhauses. In: Detta und Michael Petzet: Die Richard Wagner-Bhne Kçnig Ludwigs II. Mnchen – Bayreuth, Mnchen 1970, 297 – 316. Vgl. auch Ebd. die Abbildungen der Modelle Nr. 737, 739 – 745 sowie Michael Petzet: Kçnig Ludwig II. und die Kunst. In: Ders./Hans Rall: Kçnig Ludwig I. Wirklichkeit und Rtsel. Mit einer umfassenden bersicht ber die Aufenthalte des Kçnigs in den Residenzen, Schlçssern und Berghusern von Franz Merta, 2., vernderte Aufl. Regensburg 2001, 125 – 152. 485 Conrad: Was die Isar rauscht [1888], II, 24.

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Entwicklung zu lenken gewesen wre, wurde nirgends gefunden. […] Das Kliquenwesen blhte, die Koterieherrschaft, der Intriganten-Unfug. Auflçsung, Zerbrçcklung. […] Pompeji, Pompeji! Wo bin ich denn?486

Man kann solche Stadt-Bilder der Entropie, fr die der naturalistische Großstadtroman eine erhebliche Aufnahmefhigkeit besitzt,487 fortwhrend in der semantischen Mikrostruktur des Isar-Zyklus nachweisen, zumal das Schicksal zahlreicher Figuren nach dem Prinzip einer Ermdung gestaltet ist, an deren Ende der Verlust ihrer Willensenergien steht. Noch whrend die Mnchener ffentlichkeit von der Entmndigung Ludwigs II. (1886) Kenntnis nimmt, zieht sich der verarmte Drillinger wegen seiner „unmßig strapazierten Nerven“488 aus dem energetischen Mnchen an den Gardasee zurck, um dort ein Bild restlosen Verfalls abzugeben.489 Strukturell entspricht dem ein Erzhlprogramm, das dem Leser eine Art narrativen Selbstverbrauchs vor Augen fhrt. Entropie ist in Conrads Erzhlen eine komsumptive Textbewegung, die ihre eigenen Erzhlakte fortwhrend verausgabt und verzehrt. Nur von hier aus werden die umfnglichen Textoberflchen der drei Romane verstndlich. Ihre parataktische Struktur hngt entsprechend nicht mehr mit einer realistischen Reprsentation von Wirklichkeit zusammen. Vielmehr muss sie als Effekt eines Erzhlens gelesen werden, das in seinen Hufungen und Wiederholungen, in seinen uferlosen Invektiven und manischen Umstellungen der immer gleichen grnderzeitlichen Verworfenheiten narrative Energien sichtbar macht, die analog zum Erzhlprogramm, das Conrad 1888 entworfen hatte, allmhlich „vollkommen zur Ruhe kommen“490. Wenn es jedenfalls zu den hergebrachten Ambitionen des naturalistischen Erzhlens zhlt, in der Detailtreue zu einem Realen eine epische Illusion zu bewahren, dann markiert Conrads Isar-Zyklus insofern bereits deren Grenze, als in ihm die berlieferten referentiellen Ansprche des Erzh486 Ebd. und 26 f. Dass am „Anfang […] die Tat [sei]“, betont Ludwig am 26. 11. 1864 in einem Brief an Wagner. Die Formulierung paraphrasiert Wagners „Vorwort zur Herausgabe der Dichtung des Bhnenfestspieles ,Der Ring des Nibelungen’“ von 1862. Vgl. Habel: Die Idee eines Festspielhauses, 298. 487 Vgl. Conrad Alberti: Wer ist der Strkere? Ein sozialer Roman aus dem modernen Berlin, Leipzig 1888, II, 116. 488 Conrad: Was die Isar rauscht [1888], II, 391. 489 Entsprechende Vorausdeutungen finden sich frh, zumal der Text den gesamten nervçsen Symptomkomplex des Mystizismus, der Schwrmerei, der Melancholie und der Effeminierung versammelt. Vgl. Ebd., II, 110 f. 490 Conrad: Vom Werktisch [1888], 821.

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lens zurcktreten. An die Stelle eines „vermeintlich transparenten Bild[es] der Wirklichkeit“491 tritt in Conrads Erzhlen ein Stil, der den Verausgabungssinn des Textes nicht eigentlich thematisch erzhlt, sondern figurativ und rhetorisch ,zeigt‘.492 Aus Grnden der Plausibilisierung lassen sich zwei solcher textorganisierenden Figurationen unterscheiden: 1. Hyperbolisierung/Hufung. Der hyperbolische Zug einzelner naturalistischer Romane ist bereits frh bemerkt worden. Schon Mitte der 1970er Jahre hatte Josef Polcek mit Blick auf Romane von Hermann Conradi, Felix Hollaender und Conrad auf „Repetition, Kumulation und Hyperbel als literarische Ausdrucksformen der deutschen naturalistischen (sozialen) Prosa“ aufmerksam gemacht und darin den dezidierten „Widerwillen der Naturalisten gegen den gesellschaftlichen Charakter des Zweiten Reiches“ gesehen.493 Beschrnkt man sich demgegenber zunchst auf die eigensinnige Sprachlichkeit der Texte, hat man es in der Tat mit einer „ostentative[n] sprachliche[n] Kraftentfaltung“494 zu tun. Conrads gesamter Zyklus folgt einer Psychodynamik zwanghafter Wiederholungen, die in immer neuen Anlufen den Materialismus und die hohle Reprsentationssucht der Grnderzeit umstellt: Weiler hat Recht, wiederholte sich Drillinger in Gedanken, die wirtschaftlichen Interessen, das heißt der Geldsack, beherrschen heutzutage die ganze Gesellschaft vom Hçchsten bis zum Geringsten. […] Das ist heute die Strçmung, eine schweinemßige, stinkige Strçmung, allein sie hat fortreißende Gewalt und kennt kein Hindernis.495 491 Siegel: High fidelity, 226. 492 Vgl. fr diesen Zusammenhang von Naturalismus und a-mimetischen Schreibweisen Moritz Baßler/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs, Tbingen 1996, 105 ff. Allerdings sind die in ihrer Herleitung aus dem „positivistischem Historismus“ (Ebd., 106) nicht unumstrittenen Ergebnisse primr am ,konsequenten Naturalismus’ (Holz/Schlaf ) entwickelt worden, der per se sprachreferentiell operiert. berhaupt muss der Automatismus bezweifelt werden, mit der die Autoren „die Beobachtung einer bestimmten Art von Textgenerierung“ als methodologische Konsequenz der „generellen Unverstndlichkeit moderner Texte“ (Ebd., 105) herleiten. Gleichwohl ist der Versuch, die naturalistische Epoche „mit dem Verfahren zusammenzubringen, das sie realisiert“ (Ebd.), anregend. 493 Josef Polcˇek: Zum ,hyperbolischen’ Roman bei Conradi, Conrad und Hollaender. In: Helmut Scheuer (Hg.): Naturalismus. Brgerliche Dichtung und soziales Engagement, Stuttgart 1974, 68 – 92, 68. 494 Stumpf: Michael Georg Conrad, 321. 495 Conrad: Was die Isar rauscht [1888], I, 152.

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Alle drei Romane organisieren sich um bestimmte Teilmomente einer sozialen Typologie, die sich metonymisch zum Ganzen der grnderzeitlichen Gesellschaft verhalten. So erscheint dem Schopenhauer-Enthusiast Trostberg jeder Gesprchspartner nicht nur „als Produkt unserer verrotteten und verpesteten Sittenzustnde“, sondern vor allem als „soziologischer Typus“496. Zu dieser Typologie zeitgemßer Verworfenheit zhlt der „Bçrsenjobber“497, vor allem aber der „Preßbandit“498. In beiden Fllen sucht der Text eine Sphre der Animalisierung auf, in der das menschliche Verhalten von einem semantischen Feld der platten Gier und des reinen Triebs, von Verdauung und „Indigestion“499 bestimmt wird. Im Falle des „Bçrsengauner[s]“ ging, so heißt es in der Beichte des Narren, die „Vertierung […] soweit, daß er nur noch in Zahlen und Bçrsenphrasen denken konnte. […] Mit gierigen Blicken, triefenden Lippen und scheußlichen Schlingbewegungen – wie ein ausgehungerter Wolf, der sich berfrißt, hing er an der Ladenstange vor dem Dallmeyerschen Delikatessen-Geschft in der Dienerstraße.“500 – „Ein Trampeltier mit Schweinsrssel und Eselsohren“, so erinnert sich Alexander von Zwerg, der adelige Bankrotteur in der Beichte des Narren, an seinen ehemaligen Arbeitgeber, „[u]nd immer ging ein Gestank von ihm aus.“501 Insbesondere am Beispiel des obsessiv besprochenen „Schlammbeißers“ – einer Allegorie der opportunistischen Mentalitt des Kaiserreichs – versammelt der Text immer nur Variationen derselben moralischen Defekte: Schlammbeißers hervorragende Zge sind: Erwerbsgier, Raubgier, Spekulationsgier, Besitzgier, Freßgier – seine hervorragendste Kunst: Aus Erhabenem Dreck zu machen, mit dem Ideal hurenmßig Schindluder zu treiben.502

In der Summe solcher Invektiven tritt nicht nur das rhetorische Prinzip der Hufung, sondern eine Art ,abjekter‘ Physiologie der Grnderzeit hervor, die sich vollstndig von organischen Prozessen des Aufnehmens, 496 497 498 499 500 501 502

Ebd., I, 268. Ebd., I, 19. Ebd., I, 268. Michael Georg Conrad: Die Beichte des Narren. Roman, Leipzig 1894, 46. Ebd., 45. Ebd., 55. Ebd., 258. Vgl. auch Ebd., 44: „Kein Wunder, daß nun Alles gerechtfertigt und modern ist: Unehrlichkeit, Beutegier, Habsucht, Gewaltthtigkeit, Grausamkeit, Mordlust, Riesenschwindel, Kriegspektakel, Großkapitalismus, Großmilitarismus. Daneben Freßgier, Trunksucht, Frechheit, Neid, Zerstçrungswut, Grçßenwahn.“

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,Fressens’, Verschlingens, Verdauens und Ausscheidens her bestimmt.503 Entsprechend verdichtet sich die gesamte negative Anthropologie des Textes im „Drei-Stationen-Mensch: Gurgel, Magen, After“.504 So sind die Zeitungsleser fr Trostberg lediglich „Baccillenschlucker“505, whrend der „Pressbandit“ seine Ttigkeit als „Kloakenhuptling“506 betreibt. Wenn es einen Sinn in diesen maßlosen bertreibungen gibt, dann ist es das Bild einer Zirkulation – einer ewigen „Notdurft“507, wie es ber die Mentalitt der „Schlammbeißerei“ heißt –, dem die Strçme der Kommunikation, vor allem des Zeitungswesens, metaphorisch nachgebildet sind: Den Leib entseelen, das ist die Schlammbeißerei. […] Je nachdem der Kerl momentan leidet oder Notdurft empfindet. Notdurft die Religion, Notdurft die Kunst, Notdurft die Dirne, Notdurft der Schnaps, Notdurft der Luxus, Notdurft das Uebrige.508

In dieser berflle des Erzhldiskurses folgt der gesamte Text den Akkumulationsfiguren der congeries (Hufung) und der expolitio. 509 Sie bezeugen eine sprachliche Energie, die in immer neuen Wendungen der Verworfenheit der Zeit habhaft werden mçchte und die auf diesem Weg zugleich eine befremdliche Selbstneutralisierung ins Werk setzt, weil sich die zahllosen Invektiven wechselseitig lhmen und ihrer rhetorischen Energie berauben. „Wartet nur, Schlammbeißer!“, heißt es, „Es soll Euch noch barbarisch ber die Schnauze gefahren werden.“510 – „Dmon! Du Hund von einem Dmon – Hurensohn – Lgner –“511 Auch in diesen grammatisch kaum mehr bewltigten Monologpartien sagt der Text das immer Gleiche durch das immer Gleiche hindurch, und so weit die Beichte des Narren noch zu Formen gelingender sprachlicher Artikulation

503 Vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt/M. 1999, 516 ff. 504 Conrad: Die Beichte des Narren [1894], 54. 505 Conrad: Was die Isar rauscht [1888], I, 269. 506 Ebd., II, 341. 507 Conrad: Die Beichte des Narren [1894], 78. 508 Ebd. 509 Vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Institutio oratoria. Ausbildung des Redners. Zwçlf Bcher. Hg. und bers. von Helmut Rahn. 2 Teile, Darmstadt 1972/ 1975, 2. Teil, VIII, 4, 26 f. Zur expolitio vgl. Rhetorica ad Herennium. Lateinisch/Deutsch. Hg. und bersetzt von Theodor Nßlein, Mnchen, Zrich 1994, 282 [IV, 42, 54]. 510 Conrad: Die Beichte des Narren [1894], 23. 511 Ebd., 91.

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findet, dokumentiert auch sie in ihrer rhetorischen Faktur nur Ansichten der immer gleichen Wunschdynamik. Darin ist der Erzhldiskurs Teil einer unfreiwilligen, aber dennoch kontextuell stimmigen Pararhetorik. Immer wieder verfehlt und verformt das hyperbolische Sprechen seine eigene figurale Struktur. Schon der Umstand, dass die Beichte des Narren die „Vertierung“ des modernen Bçrsenmenschen an „Zahlen“ und „Bçrsenphrasen“512 abliest, macht die katachretischen Entstellungen des Erzhlens deutlich. Sie treten dort besonders hervor, wo hyperbolisches und ironisches Reden aufeinander treffen. Zu Beginn des zweiten Teils von Was die Isar rauscht gewinnt der Leser Einblick in einen Brief Drillingers an den Pessimisten Trostberg. Der umfngliche Text gibt sich als Ironisierung des zeittypischen Pessimismus zu erkennen, und doch liegt in der berzeichnung, mit der das ironische Darstellungsinteresse des Textes angezeigt werden soll, eine Verfehlung der ironischen Sprechabsicht. Zwar bleibt die Ironie als Ironie erkennbar, aber der sprachliche Feinstoff der Uneigentlichkeit verwandelt sich in den parataktischen Hufungen dieser Pessimistensatire in eine Art ,berironie’, in der die Substitutionsweite zwischen Gesagtem und Gemeinten zusammenschmilzt und in der die Ironie – wenn man so sagen kann – geradezu buchstblich wird. Rhetorisch verfehlt Drillingers Brief zudem die angemessene Verwendung der Hyperbel,513 zumal sich die Hufung der Ironiesignale an jenen grobschlchtigen ,Bajuwarismus‘ angleicht, den Drillingers Ironie gerade distanzieren mçchte: Ew. Hochwohlgeboren! Kurzweg so, ohne Ort- und Zeitangabe, oben rechts, geht’s? Darf ich Ew. Hochwohlgeboren mit einer Briefcharade necken? […] Ich weiß nicht wirklich, ob ich Ihnen gegenber in dieser schlechtesten aller Welten, wo es besser wre, gar nicht geboren zu sein, es sei denn, daß u.s.w. – ob ich Ihnen gegenber den Spaß soweit treiben darf. Zu mal die Ihre pessimistische Weltgestaltung […] mehr und mehr einen Stich ins Allerdurchlauchtigste, Großmchtigste, Sonnenkçnighafte bekommen hat […]. Haben wir erst glcklich einmal ein durch und durch pessimistisches Volk, wie wir ein biertrinkendes, handeltreibendes, kriegfhrendes, gottverehrendes Volk haben, dann wird neben dem Kneipenstil, Bahnhoffstil [sic], Festungs- und Kasernenstil, Kirchenstil u.s.w. auch der echte und gerechte pessimistische Philosophenstil erstehen. […] Daß der Pessimismus an sich reich an Konstruktionsgedanken ist, die dereinst bauliche Verwendung finden kçnnen, beweisen ja einstweilen die philosophischen Lehrgebude, die in den zahl512 Ebd., 45. 513 Vgl. Quintilianus: Ausbildung des Redners, VIII, 6, 67 ff.

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losen Schriften unserer Schopenhauerianer und Hartmannianer auftauchen.514

2. Digression/Enumeratio/Schrift. Schon Conradis Adam Mensch hatte sichtbar gemacht, in welchem Maße das naturalistische Erzhlen als Versuch aufzufassen ist, einer perzeptiven Wirklichkeit habhaft zu werden, deren sthetische Bewltigung nicht mehr auf angestammte Syntheseleistungen zurckgreifen kann. Mit etwas Mut zur literaturhistorischen Generalisierung wird man behaupten drfen, dass die ebenso vielfltigen wie in sich zerfallenen Versuche, die Innenwelten scheiternder perzeptiver Außenweltbewltigungen sthetisch nachzubilden, die eigentlich modernen Kernmomente des Naturalismus ausmachen. Conrads Isar-Zyklus stellt vor diesem Hintergrund den Versuch dar, narrative quivalente fr eine nur mehr rudimentre Bewltigung von Wahrnehmungsinhalten zu finden. Das großstdtische Wahrnehmungsfeld, das die drei Romane aufspannen, fungiert als Raum fr punktuelle Symbolisierungsverluste, in deren Summe eine Art narrativer Kinetik der Entropie entsteht. Sie stellt sich nicht nur auf dem Weg des paraphrasierenden Erzhlens, sondern auch weitgehend unter Tilgung der auktorialen Koordination her. Vergleichsweise konventionell ist daher zunchst die Verbindung von Willensschwche und nervçser Wahrnehmung, wie sie an Drillinger hervortritt. „Ich bin nervçs“, bekennt Drillinger im Gesprch mit seiner Haushlterin, Alles Wirkliche ist so schauderhaft laut, so grell […]. [I]ch gebe keine saure Gurke fr die ganze Wirklichkeit; die ist jeden Tag anders, verschiebt sich fortwhrend, dehnt sich, schrumpft zusammen, kruselt sich, ist jung, lebendig, greisenhaft, maustot, ein Scheusal, ein Unsinn, ein Nichts. […] Wo ist eine feste Grenze?515

An die Stelle dieser „feste[n] Grenze[n]“ setzt der Text all jene Aufmerksamkeitsdefizite, Konzentrationsschwchen und gleitenden Zielbildungen, die die perzeptive Realitt der Willensschwche bestimmen. Statt 514 Conrad: Was die Isar rauscht [1888], II, 2, 1 und 7 f. hnliche berzeichnungen finden sich in der Schopenhauer-Satire, die Conrad an Drillingers Hausdiener Gabriel, einem „Exklown“ (Conrad: Was die Isar rauscht [1888], I, 296), exekutiert, dem fortwhrend entstellte Schopenhauer-Zitate in den Mund gelegt werden. Vgl. Ebd., 297 f. Die Charakterzeichnung zhlt zu den gewollt komischen Momenten des Romans, dokumentiert aber auch, dass sich die weltanschaulichen bzw. ,pessimistischen’ Vergrçberungen Schopenhauers literarisch um 1900 offenbar erschçpft haben. 515 Ebd., I, 301.

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die Wahrnehmungsleistungen der Figuren in kohrenten Momentbildern, also innerhalb „fester Grenzen“ zu bannen, verwandelt der Text den Stadtraum in eine Bedeutungswelt, die immer wieder Brche und Risse hinnehmen muss. Wenn Drillinger in einer Verhandlungspause mit Weiler aus dem Fenster des Bankhauses blickt, gibt ihm die Stadt ein „komisches Bild“ zu sehen, dessen Bestandteile dem Beobachter wie ein „Gestçber“516 des Sinns erscheinen. Perspektivisch entsteht dieses „komische[] Bild“ durch einen erhçhten Fensterblick, der Drillingers Sicht auf die Passanten so beschneidet, dass „nur die Kçpfe“517 wahrnehmbar sind. Dabei fgt der Text seine fragmentierten Wahrnehmungsmomente so zusammen, dass Drillingers schweifender Blick im selben Moment auf einen „Inseratenteil“ der „Neuesten Nachrichten“ fllt: An dem vergitterten Fenster gegen die Winkelgasse hasteten die Menschen vorber. […] Das Fenster lag so hoch, daß man nur die Kçpfe sah. Komisches Bild: eine Prozession abgeschnittener Kçpfe, die sich da draußen eilig vorbeibewegten in wirbelndem weißen Flockentanz … Er griff nach den ,Neuesten Nachrichten‘ und bltterte ghnend im unfangreichen Inseratenteil. ,Ein Student in den hçheren Semestern … edelmtige, unabhngige Dame … Vorschuß … ewige Dankbarkeit …. sptere Verehelichung nicht ausgeschlossen‘ ,Ein gut erhaltener Brautkranz, fast neu …. ein Schlafdivan …. ein Papagei …. ein Epheustock preiswrdig zu verkaufen‘ ,Armes Mdchen …. Notlage …. Rckzahlung nach bereinkunft.‘ ,Zwei fesche Wienerinnen …. fremd in hiesiger Stadt …. lteren Herrn ….‘ ,Adoptiveltern …. uneheliches Kind (Mdchen von zwei Jahren) …. ‘ ,Damen in stiller Zurckgezogenheit …. Hebamme …. ‘ ,Versetzt …. ausgelçst …. ‘ ,Amusement […]‘.518

Die „Treue zum Detail“, die Eva-Maria Siegel an Conrads Romanen ausgemacht hat,519 darf an dieser Stelle, auch wenn der Text die Stadt immer wieder als Geruschwelt realisiert,520 nicht als Bild des modernen 516 517 518 519 520

Ebd., I, 122. Ebd. Ebd. Siegel: High fidelity, 226. Vgl. Conrad: Was die Isar rauscht [1888], II, 287 ff. Vgl. zur naturalistischen Geruschpoetik Gabriele Henkel: Geruschwelten im deutschen Zeitroman. Epische Darstellung und poetologische Bedeutung von der Romantik bis zum Naturalismus, Wiesbaden 1996. Henkels Ausfhrungen zum Naturalismus sind allerdings auf Kretzers Meister Timpe und ausblickshaft auf Arno Holz beschrnkt. Vgl. Ebd., 245 – 295.

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V. Verlçschende Form

Lebens verstanden werden. Der Sinn der zitierten Passage liegt auch hier in der textuellen Faktur selbst, d. h. in dem Umstand begrndet, dass der Text eine Art ,beraufzhlung‘ produziert und das traditionelle diegetische Erzhlen in die Flchigkeit von additiven Hufungen, in eine Form der „Breitenamplifizierung“521, verbannt. Zwar leistet der Text ausdrcklich eine Semantisierung solcher Inventare – „[e]s war eine wste, kreischende Kakophonie“522, heißt es –, aber in der Aufschwemmung, mit der der Text Aufzhlung an Aufzhlung reiht, verschleißt er seine Sinnkonstitution in dem Maße, wie er seine Sinneinheiten differenzlos zur Anordnung bringt. So rhren die naturalistischen Inventare an Grundlagen des Erzhlens berhaupt: Weil die tendenziell endlose Enumeration auf nichts anderes als auf die parataktische Reihung gerichtet ist, gibt es in ihr kein transparentes Bild der Wirklichkeit mehr, sondern nurmehr Akte der Verzeichnung und Hufung von sprachlichen Einheiten: Er [Drillinger, I. S.] blickte gleichgltig durch die Scheiben […]. Die Mauerwand war mit bunten Zetteln, roten, gelben, grnen, blauen, oft in Riesengrçße und mit fußhohen Buchstaben bedruckt […]. Was wurde da nicht um die Wette annonciert! Konzerte, Blle, Wurstwaren, Kirchenbaulotterien, Schuhfabrikate, Zwerg-Ausstellung, Gemlde-Auktion, Einberufung der Ersatzmannschaften, Staatsanleihen, Rudersport, Bycicle-Klub, Vegetarianismus, Tanzunterricht, Ausverkauf, Zwangsversteigerung, Abzahlungs-Geschft, Verein fr deutsche Interessen im Auslande, Dampffschiffahrt [sic] auf dem Starnberger See, Mnchner Kindl-Brauerei, Viehmarkt, Pferderennen, Orpheum, Westendhalle, Kils Kolosseum, Nhmaschinen, Zirkus, Kirchweihe, Schuhmacher-Innung, Militrmusik, Kinderbewahranstalt, Veteranen-Verein […].523

Inventarbildungen dieser Art sind Teilmomente einer um 1890 aufbrechenden narrativen Krisensituation, mit der der Naturalismus die Mçglichkeiten eines im weitesten Sinne ,symbolischen‘ oder ,diegetischen‘ Erzhlens bestreitet.524 Unter solchen erzhlhistorischen Prmissen erscheinen weite Passagen der Narration als Effekte einer semiologischen Anhufung, die der Romantext in immer anderen Wendungen sichtbar 521 Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde. Bd. 2, 2., durch einen Nachtrag verm. Aufl. Mnchen 1973, 224. 522 Conrad: Was die Isar rauscht [1888], I, 150. 523 Ebd., 150 f. 524 Vgl. zum Verfahren der „Lexemautonomie“ und zur Bildung von rhetorischmaterialen Katalogen Baßler/Brecht/Niefanger/Wunberg: Historismus und literarische Moderne, 68 ff und 134 ff.

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macht. Zum einen gibt der erste Isar-Roman in den Expositionen seiner beiden Teile den Blick auf eine geradezu abundante Schriftlichkeit frei. Beide Romanteile beginnen mit umfnglichen, rund 40 Druckseiten umfassenden Briefen, und beide Briefe bilden in ihrer schweifenden essayistischen Faktur eine mise en abyme der narrativen Makrostruktur. Entsprechend richten sich die selbstironischen Koketterien des Briefschreibers Zwerger gegen die Abschweifungen, die sein eigenes Schreiben fortwhrend erzeugt: „Mit der Parenthese habe ich nie Glck gehabt. Da habe ich regelmßig den Zusammenhang verloren. Und immer tappe ich als Periodenbauer wieder in so eine vermaledeite Parenthese hinein und schnde die Syntax.“525 Auf diesem Weg hat sich Zwergers Korrespondenz zu ganzen „Brieffolianten“526 angehuft, und wenn sich Drillinger den Zudringlichkeiten einer seiner zahlreichen Verehrerinnen zu erwehren sucht, haben ihn nicht weniger als fnfzig Briefe erreicht. Noch der Kampf gegen den „Preßbanditen“ ist vor diesem Hintergrund nichts anderes als ein Kampf gegen semiotische berlasten und einen bermaß an zeichenhaftem Verkehr.527 Zum anderen folgen auch Conrads Romane einem vielfach anzutreffenden naturalistischen Erzhlmotiv, zumal Conrad auf entsprechende Vorleistungen in Zolas Paris-Romanen, insbesondere auf La ventre de Paris (1873), zurckgreifen konnte. Auch im IsarZyklus figuriert die Stadt als ein ewiger Produktionsherd von Gerchten und Informationsflssen, die ihren realen Kern in den Zirkulationen des Gerchts allmhlich entstellen und zu eigensinnigen ,Texten‘ vergrçßern. So verselbstndigen sich die çffentlichen Affren des willensschwachen Drillinger zu anonymen „Spottgedicht[en]“528, in denen nur vordergrndig die Sanktionsmechanismen der çffentlichen Meinung zum Ausdruck kommen.

525 Conrad: Was die Isar rauscht [1888], I, 10. 526 Ebd., II, 4. 527 Diese Vorbehalte gegen das medienhistorische Fundament der frhen Moderne bilden eine Parallele zu den Klagen ber die deregulierenden Effekte, wie sie Max Nordau 1893 angesichts der haltlosen Zirkulationen des modernen „Schriftthums“ erhebt. Bezeichnenderweise korrespondiert diese Prsenz des „Schriftthums“ mit der „tiefe[n] Ermdung“ der „ganzen Gesellschaft“ (Max Nordau: Entartung. Zweiter Band, Berlin 1893, 470). Im brigen verdanken sich die beinahe 900 Druckseiten der Entartung unter anderem dem paradoxen Umstand, dass der Text das inkriminierte „Schriftthum“ auf dem Weg zahlloser Text„Probe[n]“ (Ebd., 192) dokumentiert. 528 Conrad: Was die Isar rauscht [1888], II, 264.

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V. Verlçschende Form

Auf diesem Weg zerschreiben Conrads Texte den Zusammenhang ihrer eigenen Textlichkeit. Sie sind, kaum dass der Naturalismus dem europischen Mimesisdenken eine auf dem Niveau der modernen Industriegesellschaft angesiedelte poetologische Kontur gegeben hat, Belege fr eine eigentmliche textuelle Selbstrcknahme, die den Naturalismus in ein Spiel von Darstellung und Schweigen bannt. In diesem Sinn erweist sich das schon mehrfach zitierte Schlussstck des Isar-Zyklus als besonders eindringlich. Formal handelt es sich bei der Beichte des Narren (1893) um einen durchkomponierten Ich-Roman, dessen Erzhlen fast vollstndig als innerer Monolog realisiert ist, so dass der Erzhler weitgehend hinter eine Reflektorfigur zurcktritt.529 Perspektivischer Mittelpunkt ist der verarmte und offenkundig geistesgestçrte „Narr“ Alexander von Zwerg, der in einem „Inventarium […] [der] Seele“530 Bruchstcke seiner Lebenserinnerungen notiert und durch diese Notate hindurch eine ohnmchtig gewordene Artikulationsfhigkeit sichtbar macht. Anders als in den Vorgngerromanen unterstellt der Text den stockenden Erzhlprozess dabei, wie der Erzhleingang belegt, ausdrcklich der „Wissensordnung der Psychopathologie“531: Die Sprache versagt mir […]. Das sitzt in der dritten Hirnwindung des linken Großhirns, hat der Doktor Stich gesagt, mit lcherlich ernstem Gesicht. Dann hçhnte er: ,Sie schreiben eine schçne Pfote, Baron. Es macht nichts, bei Ihren Verhltnissen, wenn Sie des gesprochenen Wortes nicht mehr mchtig sind.‘ – Bringe ich keine artikulierten Laute mehr heraus? fragte ich. ,Erkrankungen der linksseitigen dritten Hirnwindung erzeugen in der Regel‘ –, er sagte ein griechisches Wort, das ich nicht behalten konnte. Es klang wie Aspasie, Asphasie, Aphasie – so hnlich. – Aber die Schreibfhigkeit, also? die bleibt, meinen Sie, Doktor? ,Erkrankungen an der zweiten Hirnwindung haben Verlust der Schreibfhigkeit zur Folge. Es ist dabei indes

529 Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzhlens [1979], 4., durchges. Aufl. Gçttingen 1989, 194. Vgl. zur Unterscheidung Erzhlerfigur – Reflektorfigur Ebd., 190 – 239 und zum bergang von der Ich-Erzhlung zum inneren Monolog Ebd., 268 – 285. Die von Stanzel genannten narrativen Kennzeichen treffen auf Die Beichte des Narren ohne Einschrnkungen zu. Das erzhlende Ich tritt mehr und mehr hinter die Erlebnisperspektive zurck, whrend der Erzhlakt selbst kaum mehr thematisch ist (vgl. Ebd., 268 f.). Parallel dazu verschiebt sich die Handlungsmotivation von Einsicht und bewusster Reflexion zu „unbewusstem oder nur halbbewusstem Reagieren, im Extremfall zum bloßen neurophysiologischen Reflex“ (Ebd., 269). 530 Conrad: Die Beichte des Narren [1894], 69. 531 Siegel: High fidelity, 227.

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nicht ausgeschlossen, daß in den entsprechenden Gegenden – rechtes Großhirn – linksseitiges Zentrum – Fortfall – neue Zentren – neue – –’532

Der Erzhleingang dokumentiert zweierlei. Zunchst macht er deutlich, dass schon der diagnostische Name, der der Figur ihre pathologische Identitt gibt, von denselben artikulatorischen Entstellungen getroffen ist, die der Text im Folgenden aufzeichnet. Dass Zwerg das „griechische Wort […] nicht behalten“ kann, deutet an, dass durch die Abbrche der sprachlichen Artikulation hindurch eine Stçrung der Merkwelt, eine Art romanhafter Amnesie verluft. Beides – Symbolisierungs- und Merkfhigkeit – erscheinen im Text nicht mehr koordinierbar, und es sind diese Koordinationsverluste, die die entropische Verlaufsform des Isar-Zyklus in ein unaufhaltsames Verlçschen des Erzhlakts lenken. Vor allem aber macht der Erzhleingang deutlich, dass Conrads Text mit einem Referenzwissen korrespondiert, das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Frage gewidmet ist, wie aphasische Phnomene entstehen und wie ihre Formen zu klassifizieren sind. Zeitnahen Schtzungen zufolge erscheinen zwischen 1874, dem Publikationsjahr der grundlegenden Aphasie-Studie von Carl Wernicke,533 und 1907 rund 2300 Arbeiten zum Thema, wobei sich die Mehrheit der Publikationen noch im Vorfeld der Aphasie-Arbeit Freuds (1891) und damit in den Bahnen einer anatomisch-lokalisatorischen Forschungstradition bewegen.534 Die im Text diagnostizierten „Erkrankungen der linksseitigen dritten Hirnwindung“535 belegen diese lokalisatorische Tradition der frhen Aphasiologie, und sie nhern sich ihr zumal darin, dass sie die von Paul Broca erstmals 1861 vorgestellte Hypothese, nach der eine „Lsion der dritten […] linken Frontalwindung

532 Conrad: Die Beichte des Narren [1894], 3. 533 Vgl. Wernicke: Der aphasische Symptomencomplex [1874]. 534 Vgl. Paul Vogel: Editorische Vorbemerkung. In: Sigmund Freud: Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie [1891]. Hg. von Paul Vogel. Bearb. von Ingeborg Meyer-Palmedo. Einltg. von Wolfgang Leuschner, Frankfurt/M. 1992, 36 – 38. Zu den genannten Zahlen vgl. Kurt Goldstein: ber Aphasie. In: Beihefte zur Medizinischen Klinik 1 (1910), 1 – 32. Ein Beleg ist die Vielzahl der Aphasie-Beitrge, die im Zeitraum zwischen 1870 und 1900 im Berliner Archiv fr Psychiatrie und Nervenkrankheiten erscheinen. Ein zeitnaher berblick ber die Aphasiologie im Vorfeld Wernickes findet sich bei Dr. C. Spamer: Ueber Aphasie und Asymbolie nebst Versuche einer Theorie der Sprachbildung. In: Archiv fr Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 6 (1876), 496 – 542, 515 ff. 535 Conrad: Die Beichte des Narren [1894], 3.

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vçlligen Verlust oder hçchstgradige Einschrnkung der artikulierten Sprache […] zur Folge hat“536, beinahe wortwçrtlich paraphrasieren.537 Interessanterweise gibt der Text vor diesem Hintergrund seinen eigenen sprachlichen Abirrungen eine tiologische Erklrung. Zu den wenigen gelingenden Erinnerungsmomenten des Textes gehçrt eine frhkindliche Verletzung Zwergs, die ihm die Unaufmerksamkeit einer Amme zugefgt hat. „Ich war kaum einige Monate alt, da ließ mich die Amme fallen. Im Schlafe. Der Fall schdigte meinen Rcken.“538 Der erinnerte „Fall“ verweist mitsamt seiner anatomischen Lokalisierung erkennbar auf das Feld der „traumatischen Neurosen“, die seit der Pionierstudie von Hermann Oppenheim klassifiziert und unter Aufnahme lterer tiologischer Muster wie dem railway spine oder der spinal concussion (J.E. Erichsen) als Zusammenhnge zwischen einer „Erschtterung im allgemeinsten Sinne des Wortes“539 und nervçsen Erkrankungen 536 Sigmund Freud: Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie [1891]. Hg. von Paul Vogel, 40. 537 Vgl. Paul Broca: Remarque sur le si ge de la facult du langage articul suivies d’une observation d’aphmie (perte de la parole). In: Bulletin de la Socit anatomique de Paris 34 (1861) 2e srie, tome IV, 330 – 357. Die von Broca erfasste Symptomatik wird als ,motorische‘ Aphasie, die von Wernicke als ,sensorische‘ Aphasie bezeichnet. Im Gegensatz zur motorischen zeichnet sich die sensorische Aphasie vornehmlich durch einen „Mangel an Verstndnis“ (Wernicke: Der aphasische Symptomencomplex [1874], 23) bei weitgehend intakter Artikulationsfhigkeit aus. Kennzeichnend fr die Broca-Aphasie sind agrammatische Verknpfungen, whrend die Wernicke-Aphasie zu Paraphasien und Schwierigkeiten bei der Wortfindung neigt. Beide Aphasiologien ruhen auf der (auch von Freud prinzipiell unangetasteten) psychophysischen Annahme, dass Sinneseindrcke als reproduzierbare „Erinnerungsbilder“ (Ebd.) gespeichert werden und Lsionen der verschiedenen Rindenbezirke des Gehirns entsprechende aphasische Dysfunktionen erzeugen. Analog beruht die artikulatorische Dysfunktion der Broca-Aphasie auf dem Verlust der „Sprachbewegungsbilder“ (Freud: Zur Auffassung der Aphasien [1891], 42), die Wernicke-Aphasie auf dem „Verlust der Klangbilder“ (Ebd., 41). – Zur Klassifikation der aphasischen Symptome (Stçrungen der „Symbol-Aeußerung“ und Stçrungen des „SymbolVerstndniss[es]) vgl. Spamer: Ueber Aphasie und Asymbolie [1876], 526 f. sowie mit Sprachprotokollen und Schriftproben Dr. Karl Heilbronner: Ueber die transcorticale motorische Aphasie und die als ,Amnesie’ bezeichnete Sprachstçrung. In: Archiv fr Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 34 (1901) H. 2, 341 – 443, 344 ff. und 359 f. 538 Conrad: Die Beichte des Narren [1894], 41. 539 Hermann Oppenheim: Die traumatischen Neurosen nach den in der Nervenklinik der Charit in den acht Jahren 1883 – 1891 gesammelten Beobachtungen bearb. und dargestellt, 2., verbess. und erw. Aufl. Berlin 1892, V. Der Begriff der

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beschrieben worden sind. Auch wenn die Symptomatologie der traumatischen Neurose in aller Regel keine Verbindung mit einer „typische[n] A p h a s i e “540 kennt, wird sie gleichwohl von motorischen und insbesondere sprachmotorischen Defekten begleitet; dazu zhlen nach Oppenheim eine „e i n f a c h e Ve r l a n g s a m u n g der Sprache“, vor allem aber wiederkehrende Momente, in denen „das Individuum mitten in dem Satze den Faden verliert, als ob es das, was es sagen wollte, plçtzlich wieder vergessen habe.“541 hnlich wie in der Beichte des Narren kombiniert der traumatische Symptomstand damit Erinnerungsdefekte mit bestimmten Artikulationsverlusten.542 Insgesamt fllt es freilich schwer, die berschssige sprachliche Trmmerarbeit der Romans mit dem entsprechenden Referenzwissen von Aphasiologie und Neurosenlehre in Einklang zu bringen. Ob Conrads Beichte des Narren tatschlich ein „funktionelles Modell unbewusster Sprachstçrung […] vor[fhrt]“543, hngt davon ab, wie es gelingt, einzelne Erzhlmomente als quivalente von tiologischen Beschreibungen zu fassen, die der Textanalyse immer schon vorausgehen mssen. Demgegenber wird man den im Text erzeugten Symptomstand als narratives Problem und damit als Einkleidung eines Erzhlprojekts werten mssen, das das von Conrad ausgestellte entropische Verlaufsgesetz in die schwindende Grammatikalitt von Erzhlakten umlenkt. Aphasie ist in

540

541 542 543

,traumatischen Neurose’ findet sich bei Oppenheim allerdings schon 1888. Vgl. ders.: Wie sind Erkrankungen des Nervensystems aufzufassen, welche sich nach Erschtterung des Rckenmarks, insbesondere Eisenbahnunfllen, entwickeln? In: Berliner klinische Wochenschrift 25 (1888), 166 – 170. Vgl. hierzu Esther Fischer-Homberger: Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden, Bern 1975, 29 – 34. Oppenheim: Wie sind Erkrankungen des Nervensystems aufzufassen, welche sich nach Erschtterung des Rckenmarks, insbesondere Eisenbahnunfllen, entwickeln? [1888], 166. Umgekehrt kennt die Aphasiologie traumatische Entstehungsursachen. Vgl. etwa Spanner: Ueber Aphasie und Asymbolie [1876], 539, wo unter die „pathologische Anatomie“ auch „traumatische Hirnverletzungen“ gezhlt werden. Dominant fr die tiologie ist aber der „apoplectiforme[] Anfall“ (Schlaganfall), dem eine „mehr oder weniger vollstndige[] […] Hemiplegie“ (halbseitige Lhmung) folgt. Vgl. Dr. Julius Sander: Ueber Aphasie. Nach Beobachtungen, die auf der Nervenklinik der Kçniglichen Charit gesammelt wurden. In: Archiv fr Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 2 (1870), 38 – 63, 39. Ebd. Etwa derart, dass der „Kranke […] die Worte nur s t o ß w e i s e hervorbringt“ bzw. die Worte „explosiv herausgestoßen werden“; Ebd., 167. Siegel: High fidelity, 230.

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Conrads Beichte des Narren weniger eine Analogie tiologischer Bestimmungen, als vielmehr Name fr einen historischen Stand des Erzhlens, das Symbolisierungs- und Gedchtnisverluste zu einer Signatur der Moderne und damit zur Grenze des Erzhlens im Ganzen verdichtet. In gewisser Weise artikuliert sich in Conrads Text ein historisches Erzhlbewusstsein, das das Erzhlen im Text mit seiner eigenen modernistischen Erzeugung und – zugleich – mit seiner narrativen Verunmçglichung konfrontiert. Tatschlich treten an den artikulatorischen und reproduktiven Stçrungen der Aphasie zwei Teilmomente hervor, die sich zu einer doppelten Signatur der sthetischen Moderne zusammenfgen. Was immer die Erinnerungen des Narren zu Tage fçrdern – sie vergegenwrtigen keine andere Einsicht als die, dass der Weg in das Vergessene unwiederbringlich versperrt ist. Im Text ist diese Unerreichbarkeit der Vergangenheit vor allem als Versagen des Namens, der keine Identitt und keine Erinnerung mehr stiftet, realisiert: „Meinen Namen Alexander“, so heißt es, „habe ich nie aus Muttermund gehçrt. Ich erinnere mich nicht, jemals als Kind geweint zu haben. Was erzhlte ich vorhin?“544 : Ich habe im Elternhaus so selten meinen Namen gehçrt, als htte ich ihn nie gehçrt. Es ist mir, als htte ich keinen. Ein namenloser Mensch. Und heute noch – ,Herr Baron’, das bin ich fr die konventionelle Mitmenschheit. Wie heiße ich eigentlich? Alexander? Wirklich Alexander? Wie fremd das meinem Ohr klingt, wie frostig dazu. Trotz der warmen, breiten, schallenden Laute. Es fehlt die Weihe, das Echo aus dem Elternhaus, aus der Jugendzeit. Nichts klingt von da herber […]. Und kleine Kinder, ich verstehe nichts davon. Ich hasse sie, die Unglckswrmer, nach der alten sndhaften EheMethode erzeugt.545

Unter dem monologischen Text der „Beichte“ tritt ein vollstndiger Verlust der Vergangenheit hervor; weder ist der Narr in ein genealogisches Kontinuum, ein Herkommen, eingebunden, noch gibt es eine Fortzeugung der familialen Linie im Zeichen jener „Unglckswrmer“, die die „Ehe-Methode erzeugt“. Und selbst dort, wo ein „Muttermund“ Herkunft und Identitt stiften kçnnte, wirkt ein buchstbliches VerSagen, ein Verweigern des Namens. Damit sind die aphasischen Erinnerungsverluste mehr und anderes als ein psychopathologischer Symptomkomplex. Man muss sie vielmehr als Symbol jener strukturellen und notwendigen Amnesie lesen, die am Beginn der frhen Moderne – in 544 Conrad: Die Beichte des Narren [1894], 42. 545 Ebd., 47 f.

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gewisser Weise natrlich: jeder Moderne – steht: als Tilgung und Vergessen einer Vergangenheit, in deren Abspaltung sich die Moderne konstituiert und die als Herkommen, Geschichte oder Tradition auch die berlieferten Grundlagen des Erzhlens gebildet hat. Gleichwohl geht der Text nicht vollstndig in dieser Selbstrcknahme auf. Denn was dem Erinnern und Erzhlen des „Narren“ versagt bleibt, gelingt in den halluzinatorischen Wahrnehmungen des pathologischen Bewusstseins. Dass, wie Zwerg vermerkt, alles „ganz unbeschreiblich, ganz unbeschreiblich“546 ist, weil die „Sprache versagt“547, betrifft zunchst nur die Reprsentation des psychischen Innenraums. „Die Gedanken wirbelten, als arbeitete ein Blasbalg in meinem Kopf. Alles flog. Es ließ sich nichts haschen. […] Nichts wollte haften.“548 Demgegenber kennt der Text eine wahnhafte ,Sprache’, in der die Außenwelt vernehmbar und die Dingwelt auf befremdliche Weise verlebendigt wird. Was dem „unverbesserliche[n] Halluzinist[en]“549 Alexander von Zwerg inmitten seiner Artikulationsverluste entgegentritt, sind plçtzliche Konkretionen einer Außenwelt, in denen die Dinge eine verschwçrerische Sprache unterhalten und die dem naturalistischen Interieur, in dem sie aufgehoben sind, eine neuartige Funktion zuweisen: Wenn das Interieur bislang als Zeichenraum fungierte, an dem die determinierende Kraft des Milieus abgelesen werden konnte, dann verwandelt es sich in der Beichte des Narren in einen wahnhaften und unlesbaren Raum, der durch Lautußerungen, Luftbewegungen und Farbspiele diskontinuierliche und verstçrende Momente in die Perzeption einbrechen lsst.550 „Da kommt’s 546 547 548 549 550

Ebd., 159. Ebd., 3. Ebd., 103. Ebd., 70. Auf solchen einbrechenden (akustischen) Konkretionen und ihrer Aufzeichnung beruhen weite Teile des ,konsequenten Naturalismus’ von Holz und Schlaf. Allerdings lsst sich dieses Verfahren auch bis in die zweite Reihe des Naturalismus verfolgen. Vgl. etwa die Novelle Fallende Tropfen aus Heinz Tovotes ,nervçsem’ Novellenzyklus Ich. Hinter der denkbar unnovellistischen Erzhlung einer durchwachten Regennacht wird ein geradezu zwanghafter Prozess der Aufzeichnung und Aufzhlung der einzelnen Tropfen sichtbar, deren akustische Zudringlichkeit hnliche Wahnmomente produziert, wie in Conrads Beichte. Ausdrcklich figuriert auch diese Ohnmacht gegenber einer einbrechenden Geruschrealitt als Verlust der willentlichen Selbstkontrolle: „Gleichmßig tropfte es. Ich drckte den Kopf tiefer in die Kissen und wollte wieder einschlafen. Allein gegen meinen Willen war ich gezwungen, auf die fallenden Tropfen zu hçren, wie sehr ich mich strubte. […] Tipp ..1..2..3..4..5..tipp

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wieder“, heißt es immer wieder, „[d]er schreckliche Mißton aus der Wand. Ganz plçtzlich. Hier an dieser Stelle. Ich bohre hinein. Ich drcke den Finger darauf.“551 – „Nein, es war nichts“, halluziniert Zwerg im Gesprch mit seinem Arzt, „[s]eine Worte haben nicht als Zauberformel gewirkt, den schrecklichen Mißton in der Wand zu erwecken. Es war ganz still. Nur ein leises Sausen in der Luft wie von ferne fallendem Wasser oder vom Getçse einer Maschine.“552 Im Ergebnis erweist sich das gesamte Aufzeichnungsprojekt der „Beichte“ als beraus prekr. Bedenkt man zumal die immer wieder evozierten Momente der Angst, die den Narren angesichts seiner Existenz – „Hçlle“ und „Ort der Qual“553 – heimsuchen, will es scheinen, als gbe es in Conrads irrlichterndem Erzhlen Momente einer Hme, mit der sich der Text an der Hypertrophie seiner Darstellungsansprche rcht. Und fast scheint es, als realisiere die „Beichte“ in ihren mçnchischen Exerzitien des Schreibens – von einem „eifrigem Schreiben in meiner Zelle“554 spricht Zwerg noch auf den letzten Seiten – eine Quasi-Theologie der Erlçsung und Offenbarung: „was geschrieben sei, bleibe geschrieben, ungelesen, unberhrt, bis die große Stunde gekommen.“555 So lange allerdings diese naturalistische Eschatologie ausbleibt, produziert die qulende Selbstverzeichnung, in die die „Monographie der Seele“556 ihren Autor fhrt, nichts anderes als eine tief greifende referentielle Verfehlung. Mag es auch sein, dass das „Schreiben […] das einzige Mittel [ist]“, die „Gedanken zu sammeln“557 – in ihrem fragilen Zusammenhang treten nur die Verluste der symbolischen Ordnung zu Tage. Nimmt man die im Text ausgebreitete Phnomenologie dieser Ordnungsverluste zusammen, hat man es in einer systematischen Weise mit der Aufkndigung

551 552 553 554 555 556 557

1..2..3..4..5..6..7.. tipp 1..2..3..4..5.. tipp 1..2..3..4..5..6..7..8..9.. tipp.. Ich wollte es nicht mehr hçren – allein das war leichter gesagt als gethan. Endlich stopfte ich mir die Decke ber beide Ohren. – Ich hçrte: Tipp …. tipp ….. tipp ….“ Heinz Tovote: Fallende Tropfen. In: Ich. Nervçse Novellen [1892], Berlin 9 1896, 145 – 157, 148 f. Zu dieser „mystisch hypertrophierte[n] Welt der Objekte“, die sich auf der Kehrseite dieser Aufzeichnungsverfahren einstellt, vgl. Onno Frels: Zum Verhltnis von Wirklichkeit und knstlerischer Form bei Arno Holz. In: Christa Brger/Peter Brger/Jochen Schulte-Sasse: Naturalismus/sthetizismus, Frankfurt/M. 1979, 103 – 138, 117. Conrad: Die Beichte des Narren [1894], 2 f. Vgl. auch Ebd., 5 f. Ebd., 71. Ebd., 159. Ebd., 357. Ebd. Ebd. Ebd., 250.

6. „sthetischer Pantheismus“ und „Wille zur Kunst“

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konstitutiver Bedingungen des Erzhlens zu tun. Sie beruhen auf den Analogien, die sich zwischen Sprachzeichen und Vorstellung, zwischen Erzhlen und erinnernder Vergegenwrtigung und zwischen Perzeption und Perzipiertem blicherweise herstellen. Die Beichte des Narren ist nichts anderes, als der in die Figuration der Aphasie gekleidete Entzug solcher tragenden Fundamente, und sie ist zugleich – legt man das im Isar-Zyklus entfaltete Erzhlprogramm zu Grunde – ihr entropisches Schlussstck. In Conrads zutiefst mit sich selbst zerworfenen Romanen wirken daher ineins Beginn und Ende, Ermçglichung und Scheitern des modernen Erzhlens. Am Ende versammelt der Text durch seine psalmodierende Rede hindurch noch einmal seine leitenden Figurationen: die Selbstvergottung des erzhlenden Ich zum „HERR[n]“ und die Metapher der Isar, die den Erzhldiskurs der Moderne wie in einer letzten Welle buchstblich ,verschluckt‘ und zu Ende bringt: Ich bin der Herr. ICH bin der HERR Laß‘ dich nichts dauern. Ich bin der Erbe Ich bin der Sieger. —–—— —–—— Der Wahnsinn frißt Erbe und Sieg. Schwapp — Mein armes reiches Kind, im Steinbruch. Grn und Weiß. Schwapp —558

In Conrads Beichte des Narren ist der Naturalismus, weit mehr als das Sptwerk Zolas, „sthetisch unlesbar“559 geworden.

6. „sthetischer Pantheismus“ und „Wille zur Kunst“. Georg Simmels modernistische Rettung des Naturalismus Mit Conrads Romanen, so lassen sich die Befunde zusammenfassen, ist ein Ende des Naturalismus erreicht. Sie prparieren einen historischen Stand des Erzhlens, in dem die Wahrnehmungsmuster der Moderne und die narrativen Formen ihrer Bewltigung, kaum dass sie zusammengefunden haben, bereits wieder auseinander treten. Wo die Texte – wie in 558 Ebd., 367. 559 Warning: Kompensatorische Bilder einer ,wilden Ontologie’, 268.

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der Beichte des Narren – vordergrndig an ihrem naturalistischen Aufzeichnungsprojekt festhalten, werden sie ebenso unschreibbar wie unlesbar: unschreibbar, weil sie den Erzhler als ,Person‘ in den Fragmentarisierungen ihrer Sinnbildung seiner epischen Koordinationskraft berauben und damit seinen symbolischen Tod befçrdern; unlesbar, weil sie den Leser aus dem Kontinuum eines zwischen Text und Rezeption zirkulierenden, gemeinsamen Sinns vertreiben. Die Bilanz ist fr die Formationsphase der frhen Moderne umso signifikanter, als Conrads Romane bereits einen sthetischen Problemstand in sich aufgenommen haben, der in der zeitgençssischen Kritik – vor allem von Hermann Bahr – als Desiderat des Naturalismus eingeklagt und als Ursache seines Scheiterns ausgemacht worden ist. Wenn Bahr 1890 eine literarische „Methode“ proklamiert, die „das Unbewußte auf den Nerven“ und „in den Sinnen […] objektivieren“560 soll, dann vollzieht sich diese anti-naturalistische Proklamation im Rcken einer naturalistischen „N e r v e n k u n s t “561, deren Schreibverfahren bereits unter dem Druck der entsprechenden Fragmentierungserfahrungen brchig geworden sind. In gewisser Weise verfehlen sich Naturalismus und Naturalismus-Kritik an einem Punkt, der sie eigentlich zu Ansichten desselben literarisch-sthetischen Phnomenstands macht.562 Vor diesem Hintergrund muss es als Konstellation eigener Bedeutsamkeit erscheinen, dass der Zusammenhang um 1900 auf ein kultursoziologisches Interesse stçßt, von dem aus der Blick auf die berraschend kontinuierliche Naturalismus-Rezeption Georg Simmels fllt. Der Zusammenhang ist insofern verblffend, als Simmels Bedeutung fr eine kultursoziologische Theorie der Moderne ebenso wie seine ausgeprgten sthetischen Interessen inzwischen hinreichend bekannt sind und eine wesentliche Facette des kanonisierten Simmel-Bildes ausmachen.563 Dass 560 Hermann Bahr: Die neue Psychologie [1890]. In: Ders.: berwindung, 53 – 64, 61. 561 Michael Georg Conrad: Moderne Bestrebungen. In: Die Gesellschaft 8 (1892), H. 6, 681 – 692, 685. 562 Insofern mag es, wie Walter Fhnders betont hat, zutreffend sein, dass Bahrs berwindungsschrift die „naturalistische Programmatik sprengt“ (Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933, 88). Zu den geschriebenen Texten verhlt sie sich aber affin, weil sie unfreiwillig deren Verfahrensstand beschreibt. Grundstzlich ist von den programmatischen Verlautbarungen des Naturalismus nicht auf die Realitt der Texte zu schließen. 563 Vgl. Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, 203 ff.; ders.: Zum Stellenwert der sthetisch-literarischen Moderne in den kulturso-

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umgekehrt die kultursoziologische Erfassung der sozialen Moderne nicht ohne sthetische Erfahrungsgehalte zu leisten war, ja in ihnen diskursiv ausgebildet worden ist,564 markiert nicht nur einen der zentralen Konstitutionsmomente der kulturellen Moderne, sondern zugleich jenen Deutungshorizont, der die recht rasante Kanonisierung erklrt, die Simmels Werk in jngerer Zeit auch außerhalb der Fachsoziologie erfahren hat.565 Gleichwohl fllt der Naturalismus unter Simmels vielfltigen sthetischen Interessen, die sich an Einzelphnomenen wie dem Bildrahmen oder der Landschaftsdarstellung und an einzelnen Knstlern und Autoren wie Bçcklin, Rodin oder Goethe entznden, kaum ins Gewicht. Sieht man von einer im Mrz 1893 erschienenen Besprechung der Weber von Gerhart Hauptmann ab,566 hat Simmel dem Naturalismus zu Lebzeiten ziologischen Gegenwartsanalysen von Georg Simmel und Max Weber. In: Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne, Stuttgart, Weimar 1999, 52 – 68, 55 ff.; Linda Simonis: Reflexionen der Moderne im Zeichen von Kunst. Max Weber und Georg Simmel zwischen Entzauberung und sthetisierung. In: Ebd., 612 – 632, 615 ff.; Sibylle Hbner-Funk: sthetizismus und Soziologie bei Georg Simmel. In: Hannes Bçhringer/Karlfried Grnder (Hg.): sthetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, Frankfurt/M. 1976, 44 – 58; David Frisby: Sociological Impressionism. A Reassessment of Georg Simmel’s Social Theory, London 1981; ders.: Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin. Aus dem Englischen von Adriane Rinsche, Rheda-Wiedenbrck 1989; Murray S. Davis: Georg Simmel and the Aesthetics of Social Reality. In: Social Forces 51 (1973), 320 – 329; Sibylle Hbner-Funk: Die sthetische Konstituierung gesellschaftlicher Erkenntnis am Beispiel der ,Philosophie des Geldes‘. In: Heinz-Jrgen Dahme/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt/M. 1984, 183 – 201; Klaus Lichtblau: sthetische Konzeptionen im Werk Georg Simmels. In: Simmel Newsletter 1 (1991), 22 – 35; Felicitas Dçrr: Die Kunst als Gegenstand der Kulturanalyse im Werk Georg Simmels, Berlin 1993. 564 Zu diesem kultursoziologischen Zusammenhang einer „sthetik des modernen Lebens“ vgl. Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, 205; ders.: Zum Stellenwert der sthetisch-literarischen Moderne in den kultursoziologischen Gegenwartsanalysen von Georg Simmel und Max Weber, 57; Frisby: Fragmente der Moderne, 10. 565 Vgl. Matthias Christen: Essayistik und Modernitt. Literarische Theoriebildung in Georg Simmels ,Philosophischer Kultur’. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992) H. 1, 129 – 159, 130 f., 159. 566 Vgl. Georg Simmel: Gerhart Hauptmanns ,Weber’ [13. 3. 1893]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 17: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeitrge 1889 –

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keine selbstndige Publikation gewidmet. Dabei ist es erwiesen, dass Simmels soziologische Theorieanstrengungen „ursprnglich in einem engen Zusammenhang mit einem strikt naturalistischen Kunstverstndnis“567 standen. Deutlichster Beleg ist die erwhnte Hauptmann-Rezension, die den frhen Simmel als entschiedenen Apologeten der naturalistischen Bewegung ausweist. Allerdings dokumentiert die Besprechung auch, dass das Bekenntnis zum Naturalismus noch weniger einer sthetischen Stellungnahme dient, als vielmehr Erwgungen hinsichtlich der Frage, wie Soziologie in einem Zeitalter zu betreiben ist, in dem weder das Individuum, noch eigentlich die Gesellschaft Aussagen ber das Soziale ermçglichen. Damit bewegt sich Simmels Hauptmann-Deutung im Einflussfeld der ,formalen Soziologie’,568 als deren Begrnder Simmel seit seiner Schrift ber sociale Differenzierung (1890) gilt und zu deren Grundimpuls es zhlt, den Begriff der Gesellschaft analytisch nicht einfach vorauszusetzen, sondern den Blick auf die unterschiedlichen „Formen“569 zu richten, in denen sich Vergesellschaftung vollzieht. In diesem Primat der „reinen Formen“570 unterhlt die formale Soziologie ein Interesse an sozialen Gestaltbildungen, die wieder erkennbar sind und – wichtiger – „ein objektives Gebilde zustande“ bringen, „das eine gewisse Unabhngigkeit von den einzelnen daran teilhabenden Persçnlichkeiten besitzt“.571 Entsprechend erscheint Simmel das „vçllig Neue an der Hauptmannschen Dichtung“ der Umstand, dass in ihr nicht „die Indi-

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1918/Anonyme und pseudonyme Verçffentlichungen 1888 – 1920. Bearb. und hg. von Klaus Christian Kçhnke unter Mitarbeit von Cornelia Jaenichen und Erwin Schullerus, Frankfurt/M. 2005, 26 – 28. Der Text ist zuerst erschienen in: Sozialpolitisches Centralblatt 2. Jg. (1892/93) Bd. 2, 283 – 284. Lichtblau: Zum Stellenwert der sthetisch-literarischen Moderne in den kultursoziologischen Gegenwartsanalysen von Georg Simmel und Max Weber, 57. Vgl. auch Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, 205 f. und Klaus Christian Kçhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt/M. 1996, 87 und 249. Vgl. Georg Simmel: ber sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen [1890]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 2: Aufstze 1887 – 1890. ber sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892). Hg. von Heinz-Jrgen Dahme, Frankfurt/M. 1989, 109 – 421, 133 f.; ders.: Das Problem der Sociologie [1894]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 5: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900. Hg. von Heinz-Jrgen Dahme, Frankfurt/M. 1992, 52 – 61, 54. Simmel: Das Problem der Sociologie, [1894], 54. Simmel: Gerhart Hauptmanns ,Weber‘ [1893], 27. Simmel: ber sociale Differenzierung [1890], S. 133.

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viduen […] die [Entwickelung]“ tragen, sondern sie „von ihr getragen [werden]. […] Damit hat die Stellung, die die soziale Weltanschauung der Individualitt gegenber ihrem Milieu einrumt, ihre erste knstlerische Gestaltung errungen […].“572 Der Gedanke muss im Kontext jener Deutungskonkurrenzen und Abgrenzungsbemhungen gesehen werden, die im Hintergrund der Hauptmann-Rezension wirken. Zum einen ist ihr erklrter Soziologismus gegen den ,aristokratischen’, Deutschtum und irrationalistische Mystik verschrnkenden Individualismus gerichtet, mit dem der ,RembrandtDeutsche‘ Julius Langbehn seit 1890 intellektuelle Furore machte und den Simmel auf der unheilvollen Kehrseite einer moderneadquaten soziologischen Anschauungsweise verortete; Johannes Schlaf, um nur ein Beispiel zu nennen, hat Langbehns Rembrandt als Erzieher noch 1906 als die „Tat eines neuen synthetischen Geistes“573 begrßt – eine Formulierung, die in der Hochschtzung des synthetischen ,Denkens‘ den geballten Anti-Soziologismus Langbehns noch im Zitat spren lsst. Zum anderen hngt Simmels Nhe zum Naturalismus mit der Abgrenzung seiner frhen, 1892/93 publizierten moralwissenschaftlichen berlegungen von jenen Moralphilosophien zusammen, die, wie Simmel betonte, „eigentlich nur das positiv Sittliche […] zu behandeln“ pflegen, anstatt der „ethischen Wissenschaft“ die „Totalitt ihres Objekts“574 zukommen zu lassen. Diese „Totalitt“ lsst sich fr Simmel nirgends eindrcklicher ablesen, als am naturalistischen Drama, das „beschrnkte, rohe, schwache Menschen, ganz so dumpf und niedrig“ darstellt, „wie ihre Atmosphre sie zchten musste.“575 Welche scharf gerandeten Konturen sich noch rund ein Jahrzehnt nach der Verçffentlichung der 572 Simmel: Gerhart Hauptmanns ,Weber’ [1893], S. 26 f. 573 Johannes Schlaf: Christus und Sophie. Wien, Leipzig 1906, I. Vgl. Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen [1890]. Autorisierte Neuausgabe. Geordnet und gesichtet nach Weisungen des Verfassers, Leipzig 1922. Vgl. auch ders.: Der Geist des Ganzen [1930]. Zum Buch geformt von Benedikt Momme Nissen. Mit 12 Tafeln. Neue, durchges. Ausgabe Freiburg/ Br. 1932. Zu Simmels Auseinandersetzung mit Langbehn vgl. Georg Simmel: Rembrandt als Erzieher. In: Vossische Zeitung. Sonntagsbeilage Nr. 22 (1. Juni 1890), 7 – 10, sowie Lichtblau: Zum Stellenwert der sthetisch-literarischen Moderne in den kultursoziologischen Gegenwartsanalysen von Georg Simmel und Max Weber, 58 f. 574 Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe [1892/93]. Bd. 2. Hg. von Klaus Christian Kçhnke. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 4, Frankfurt/M. 1991, 295. 575 Simmel: Gerhart Hauptmanns ,Weber’ [1893], 27.

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Einleitung in die Moralwissenschaft mit diesem ethischen Naturalismus verbinden, belegt der Umstand, dass Simmel in der 1904 erschienenen Festschrift fr Kuno Fischer als Reprsentant der ,naturalistischen Ethik‘ figuriert.576 Im ressentimentalen Blick des Neukantianers und Windelband-Schlers Bruno Bauch, der der Festschrift einen berblick ber die zeitgençssische Ethik besteuerte,577 erscheint der ungenannte, aber erkennbar gemeinte Simmel als Anhnger eines „naturalistische[n] Dogmatismus“578, dem „das Individuum“ – hierin eine erkennbare SimmelParaphrase – „als nichts anderes denn lediglich als ein Komplex von Atomen [gilt], die miteinander nach allgemeinen mechanisch bestimmbaren Gesetzen in Wechselwirkung stehen […].“579 Das alles trgt noch wenig zum skizzierten Ausgangsproblem bei, zumal eine spezifisch sthetische Naturalismus-Rezeption in der primr soziologisch-ethischen Problemstellung des frhen Simmel nicht sichtbar wird. Aber sie verdeutlicht, dass frhe Soziologie und kultursoziologische Modernedeutung einen gemeinsamen Ursprung in einem literarischen Naturalismus finden, der Simmel als Problem zeitlebens begleitet hat und der Simmels Soziologie eine irreduzible sthetische Frbung gibt. Werkgeschichtlich lassen sich mehrere Stationen in Simmels Naturalismus-Rezeption unterscheiden. Sie beginnt – sieht man von der bereits zitierten Hauptmann-Besprechung ab – mit der wichtigen Soziologischen Aesthetik 580 von 1896 und dem ersten George-Essay (1898),581 fhrt ber eine Reihe eher beilufiger Bemerkungen in der Philosophie des Geldes (1900) zu den gewichtigen Rodin-Studien der Jahre 1902, 1909 und

576 Vgl. Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift fr Kuno Fischer. Unter Mitwirkung von O. Liebmann, W. Wundt, Th. Lipps, B. Bauch, E. Lask, H. Rickert, E. Troeltsch, K. Groos. Hg. von Wilhelm Windelband, 2., verbess. und um das Kapitel Naturphilosophie erweiterte Aufl. Heidelberg 1907. 577 Vgl. Bruno Bauch: Ethik. In: Ebd., 208 – 268. 578 Ebd., 214. 579 Ebd., 216. 580 Vgl. Georg Simmel: Soziologische Aesthetik [1896]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900, 197 – 214, 209. Der Text ist zuerst erschienen in: Die Zukunft 17 (1896), 204 – 216. 581 Vgl. Georg Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung [1898]. In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 5: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900, 287 – 300. Der Text ist zuerst erschienen in: Die Zukunft 22 (1898), 386 – 396.

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1911582 und endet in einer lebensphilosophischen Sptphase, die, wie Simmel 1901 erklrt hatte, von einem „Hauptinteresse […] nach der Kunstphilosophie hin“583 getragen wird. Dieses „Hauptinteresse“ schlgt sich hauptschlich in den ab 1901 zunchst in Berlin, ab 1914 in Straßburg gehaltenen Lehrveranstaltungen nieder; die entsprechenden berlegungen bleiben zu Lebzeiten allerdings unpubliziert und werden erst 1923 aus dem Nachlass herausgegeben. Zu diesem Nachlasskonvolut zhlt – neben bislang unpubliziertem Vorlesungsmaterial (ber den Naturalismus in der Kunst) – ein um 1913/14 entstandener Text unter dem Titel Zum Problem des Naturalismus, der eng mit Simmels zeitgleichen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst korrespondiert.584 Inhaltlich lsst 582 Vgl. Georg Simmel: Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart [1902]. In: Bçhringer/Grnder (Hg.): sthetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, 231 – 237; ders.: Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik [1909]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 12: Aufstze 1909 – 1918. Bd. 1. Hg. von Rdiger Kramme und Angela Rammstedt, Frankfurt/M. 2001, 28 – 36; ders.: Rodin (mit einer Vorbemerkung ber Meunier) [1911]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 14: Hauptprobleme der Philosophie/Philosophische Kultur. Hg. von Rdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1996, 330 – 348. 583 Georg Simmel: Briefe 1880 – 1911. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 22. Bearb. und hg. von Klaus Christian Kçhnke, Frankfurt/M 2005, 383 – 384, 384 [an Heinrich Rickert, 28. 5. 1901]. 584 Vgl. Georg Simmel: Zum Problem des Naturalismus [ca. 1913/14]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 20: Posthume Verçffentlichungen/Ungedrucktes/Schulpdagogik. Hg. von Torge Karlsruhen und Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 2004, 220 – 248. Der Text ist zuerst posthum erschienen in Georg Simmel: Fragmente und Aufstze. Aus dem Nachlass und Verçffentlichungen der letzten Jahre. Hg. mit einem Vorwort von Gertrud Kantorowicz, Mnchen 1923 [Nachdruck Hildesheim 1967], 267 – 304. Simmels spte Beschftigung mit dem Naturalismus schlgt sich vor allem in den ab 1901 zunchst in Berlin, ab 1914 in Straßburg gehaltenen Lehrveranstaltungen nieder. Das von Kurt Gassen besorgte Veranstaltungsverzeichnis belegt seit 1902 mehrfach „sthetische“ bzw. „kunstphilosophische bungen“ (WS 1904/5, WS 1905/6), Vorlesungen zur „Kunstphilosophie“ (WS 1913/14, SS 1918), eine Veranstaltung ber „Formprobleme der Kunst“ (SS 1902) sowie zwei ,Privatissimi’ zur „Kunstphilosophie (WS 1908/09, WS 1914/15). Vgl. Kurt Gassen: Bibliographie. D. Vorlesungen und bungen. In: Ders./Michael Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, Berlin 1958, 345 – 349. Der in die Gesamtausgabe aufgenommene Text Zum Problem des Naturalismus gehçrt zu einer von Simmel 1918 zusammen gestellten Mappe unter dem Titel Philosophie der Kunst, die das bis dahin gesammelte Vorlesungsmaterial fr die Publikation vorsah. Die Datierung auf 1913/14 ergibt

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der Text Simmels Bemhung erkennen, den Naturalismus an die Entwicklungen der sthetischen Moderne anzuschließen, nach dem er im Blick des frhen Simmel noch den ußersten „Gegensatz zu aller eigentlichen ,Stilisierung’“585 markiert hatte. Hinter der Drre der Werkbiographie verbirgt sich freilich mehr, als ein randstndiges und bislang bersehenes Feld von sthetischen Interessen, die der intellektuellen Biographie Simmels einen weiteren Baustein hinzufgten. Vielmehr handelt es sich um einen unerforschten Strang in der Umwertungs- und Nachgeschichte des Naturalismus,586 der exakt an sich aus Textparallelen mit einem 24-seitigen Abschnitt unter dem Titel ber den Naturalismus in der Kunst, der der Vorlesungsschrift vom WS 1913/14 zugehçrt und dessen Publikation fr Bd. 21 der Gesamtausgabe angekndigt ist (vgl. den editorischen Bericht in Simmel: Gesamtausgabe Bd. 20: Posthume Verçffentlichungen/Ungedrucktes/Schulpdagogik, 544). 585 Georg Simmel: Soziologische Aesthetik [1896], 209. Eine kritische Distanzierung vom Naturalismus vollziehen bereits die 1892 erschienenen Probleme der Geschichtsphilosophie, in denen der „Naturalismus“ als „Vergewaltigung des Ich durch ein Außer-Ihm“ (Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie [1892]. In: Ders.: Werkausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 9: Kant/Die Probleme der Geschichtsphilosophie (Zweite Fassung 1905/1907). Hg. von Guy Oakes und Kurt Rçttgers, Frankfurt/M. 1997, 227 – 419, 230) erscheint. Der Gedanke, dass der „Mechanismus“ der Natur „die Seele demselben blinden Zwang unterwarf, wie den fallenden Stein und den sprießenden Halm“, kehrt in zwei der drei spteren Rodin-Studien wieder. Vgl. Simmel: Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart [1902], 233 und ders.: Rodin (mit einer Vorbemerkung ber Meunier) [1911], 341. Allerdings verdeckt die Kontinuitt der Formulierungen wie der auf den ersten Blick weitgehend unterschiedslose Gebrauch des Naturalismus-Begriffs den Umstand, dass Simmels frhe ußerungen zum Naturalismus noch primr ein weltanschauliches Programm der ,Wirklichkeitsauffassung’ meinen, in das auch sthetische Implikationen eingehen. ,Fallender Stein’ und ,sprießender Halm’ erinnern im brigen auffllig an Adalbert von Hansteins „Sekundenstil“ (Hanstein: Das jngste Deutschland [1905], 157) und Heinrich Harts auf Arno Holz gemnzte Rede vom fallenden „Blatt“, dessen Bewegungen die „neue Kunst“ von „Sekunde zu Sekunde […] schildert“. Heinrich Hart: Literarische Erinnerungen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Julius Hart. Bd. 3: Literarische Erinnerungen, Ausgewhlte Aufstze, Berlin 1907, 3 – 96, 68. 586 Simmels Naturalismus-Rezeption ist in jngerer Zeit mehrfach vermerkt worden. Vgl. neben den bereits genannten Hinweisen (Lichtblau: Zum Stellenwert der sthetisch-literarischen Moderne in den kultursoziologischen Gegenwartsanalysen von Georg Simmel und Max Weber, 57; ders.: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, 205 f.; Kçhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, 87 und 249) auch Frisby: Fragmente der Moderne, 12. Allerdings reicht der Blick in allen genannten Fllen ber das Frhwerk und die entsprechende Einflussforschung nicht hinaus, so dass eine

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jener Problemlage ansetzt, die der Naturalismus in der Nachbildung von entropischen Darstellungsfunktionen erzeugt und zum Moment seiner eigenen historischen Krise erklrt hatte. Schon die zwei Jahrzehnte, auf die sich Simmels Naturalismus-Rezeption zwischen 1893 und 1913 erstreckt, entsprechen einer Phase, in der der Anteil des Naturalismus an der Genese der Moderne zum Gegenstand mehrfacher ,Bilanzen‘ wird, whrend die noch junge Moderne bereits ihre eigene (,klassische‘) Modernisierung betreibt.587 In der Soziologischen Aesthetik erscheint der Naturalismus entsprechend als Kronzeuge jener „Periode der Reizsamkeit“588, wie sie Karl Lamprecht noch 1901 beschrieben hatte und wie sie auch Simmels Kultursoziologie fundiert. Die Einsicht, dass das „Wesen der Moderne […] der Psychologismus“ ist und darin die „Auflçsung der festen Inhalte in das flssige Element der Seele“589 zu sehen ist, wendet die Soziologische Aesthetik in eine genetische Perspektive, die den Naturalismus wie seinen extremen Gegensatz – die „Symbolistik“ – aus einer nervçsen Grunderfahrung heraus erklrt: So scheinen sehr mannichfaltige Erscheinungen der modernen Kultur einen tiefen psychologischen Zug gemeinsam zu haben […]. Und wenn damit wieder Phnomene und Epochen wie die naturalistischen und die sensualistischen abwechseln […], so darf Das (sic) nicht irre machen; denn gerade die Schwingungen zwischen beiden Extremen beweisen die gleiche Neurasthenie, der schon jedes fr sich allein entstammte. Eine Zeit, die zugleich fr Bçcklin und den Impressionismus, fr Naturalismus und Symbolistik […] schwrmt, findet ihre hçchsten Lebensreize offenbar in der Form von Schwankungen zwischen den extremen Polen alles Menschlichen; ermatteten, zwischen Hypersensibilitt und Unempfindlichkeit schwankenden Nerven kçnnen nur noch die abgeklrteste Form und die derbste Nhe, die allerzartesten und die allergrçbsten Reize neue Anregungen bringen.590

587 588 589 590

systematische Aufarbeitung bislang fehlt. Der editorische Bericht in Simmel: Gesamtausgabe Bd. 20: Posthume Verçffentlichungen/Ungedrucktes/Schulpdagogik, 540 – 544, ist zur Erschließung der eher randstndigen Bemerkungen Simmels zum Naturalismus hilfreich, bleibt aber ebenfalls ohne systematisches Gewicht. Vgl. programmatisch Lublinski: Die Bilanz der Moderne [1904], 13 und den – neben Bahr und Lublinski weniger prominenten – Rckblick von Hans Landsberg: Die moderne Litteratur, Berlin 1904, 2 – 38. Karl Lamprecht: Fragen moderner Kunst. In: Neue Deutsche Rundschau 12 (1901), 734 – 741, 738 f. Simmel: Rodin (mit einer Vorbemerkung ber Meunier) [1911], 346. Simmel: Soziologische Aesthetik [1896], 213 f.

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Explizit ist im Text eine doppelte Affinitt des Naturalismus zur „Neurasthenie“ der Zeit: Zum einen „entstammt[]“ er ihr buchstblich, zum anderen markiert er als eines der beiden Wahrnehmungsextreme einen Teil jener epochalen Instabilitt, die die sthetischen Tendenzen um 1900 fortwhrend zwischen Naturalismus und „Symbolistik“ schwanken lassen. In gewisser Weise bildet das dynamische, zwischen „Hypersensibilitt und Unempfindlichkeit“ pendelnde Wahrnehmungsfeld lediglich die wahrnehmungsmotorische Grundfigur der Willensschwche und der nervçsen Reizbarkeit nach: Sind schon die beiden sthetischen Extremwerte in der Nervositt der Zeit fundiert, so gibt sich die ganze „ermattete[]“ Reizdynamik, mit der das sthetische Feld fortwhrend zwischen seinen widersprchlichen „naturalistischen“ und „sensualistischen“ Gestaltungsmçglichkeiten oszilliert, eine epochale Form, in deren Motorik eine Art moderner Zeitfigur sichtbar wird. Vom Standpunkt dieser nervçsen Anthropologie erscheint der Naturalismus ebenfalls als ein zweifaches Phnomen. Argumentativ ruht diese Doppelidentitt des Naturalismus auf der Leistung der verfgbaren „Kunststile“591, die andrngende Phnomenwelt der Moderne, ihre „endemisch“592 um sich greifende „Hypersthesie“ zu distanzieren. In gewisser Weise folgt Simmels Soziologische Aesthetik dem Prinzip unterschiedlicher Innervationsfrequenzen, die sich daran bemessen, welche Distanzierungsleistungen die einzelnen Kunststile erbringen, um die Wahrnehmung vor einer allzu unmittelbaren Reizaufnahme zu schtzen. So weit jedenfalls die „Hypersthesie“593 zu einer Realitt der modernen Bewusstseingehalte geworden ist, hat die Moderne die „eigenartige Tendenz“ ausgebildet, die „Dinge mçglichst aus der Entfernung auf sich wirken zu lassen“594, um jede „Unmittelbarkeit“595 zwischen dem „Objekt“ und der „subjektive[n] Reaktion“596 zu vermeiden. Systematisches Zentrum dieser Unterbrechungsleistungen ist der Grad der „Stilisierung“597 bzw. der „knstlerischen Formung“598, die die „Kunststile“ erbringen. Von ihr hngen nicht nur die Innervationsintensitten ab, die 591 592 593 594 595 596 597 598

Ebd., Ebd., Ebd. Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

209. 211. 209. 210. 209. 210.

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ber die Reaktionen der „geschwchten Nerven“599 entscheiden, sondern vor allem die Strukturen der sthetischen Bedeutungskonstitution: Die innere Bedeutsamkeit der Kunststile lßt sich als eine Folge der verschiedenen Distanz auslegen, die sie zwischen uns und die Dinge herstellen. […] Im Naturalismus in seinem Gegensatz zu aller eigentlichen ,Stilisierung‘ scheint zunchst die Nhe der Objekte zu berwiegen. […] Dennoch entbehrt auch der Naturalismus nicht eines sehr feinen Reizes der Fernwirkung der Dinge, sobald wir auf die Vorliebe achten, mit der er seine Gegenstnde im alltglichen Leben, im Niedrigen und Banalen sucht. Denn fr sehr empfindliche Seelen tritt die eigenthmliche Entfernung des Kunstwerkes von der Unmittelbarkeit der Erfahrung gerade dann besonders hervor, wenn das Objekt uns ganz nahe steht. Fr weniger zartes Empfinden bedarf es, um es diesen Reiz der Distanz kosten zu lassen, einer grçßeren Ferne des Objektes selbst […]. Feinere Nerven bedrfen dieser gleichsam materiellen Untersttzung nicht; fr sie liegt in der knstlerischen Formung des Objektes der ganze geheimnisvolle Reiz der Distanz von den Dingen […].600

Die argumentative Pointe besteht an dieser Stelle darin, dass Simmel mit einem zweifachen Begriff des Naturalismus operiert. Simmel unterscheidet die Zeichenordnung des Naturalismus von ihrer ,Aisthesis’, d. h. von Modalitten der Wahrnehmung, die ihrerseits in zwei unterschiedlich feinstoffliche Formen auseinander tritt. Was zunchst die naturalistische Zeichenordnung anbelangt, so entspricht ihr eine gleitende Semiotik, in der die Zeichenfolge ,stellungslos‘ organisiert ist. Dieser „sthetische Pantheismus“601 besteht aus gleich-gltigen Zeichen, die in einem Kontinuum differenzloser Ausdruckwerte Formen fr jeden beliebigen Inhalt bereit stellen, ohne dass eine bedeutungskonstitutive „Rangordnung der Werthe“602 sichtbar wrde. Zwar hebt die naturalistische Reproduktion Einzelmomente im Zeichenprozess hervor, aber diese Hervorhebung, in der „jeder Punkt […] die Mçglichkeit […] zu absoluter sthetischer Bedeutsamkeit [birgt]“603, bleibt arbitrr, weil auch jeder andere „Punkt“ der semiologischen Kette dieselbe „Bedeutsamkeit“ gewinnen kçnnte. In welchem Maße diese ,entfrbte‘ naturalistische Bedeutungswelt kein polemisches Zerrbild des Naturalismus ist, belegen Conrad Albertis Ausfhrungen zum naturalistischen „Symbol“ von 1890. Auch sie verstehen

599 600 601 602 603

Ebd., 211. Ebd., 209 f. Ebd., 199. Ebd. Ebd. (m. Hervorhg.).

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das „Symbol“ als Verkçrperung eines (monistischen) „Pantheismus“604, und auch sie tauchen den Naturalismus in eine Semiologie, in der „jede Erscheinung als Bild fr die ander[e]“ und „jede zu der andern in Beziehung“605 gesetzt werden kann. In dieser differenzlosen Flle ,entfrbter‘ Bedeutsamkeiten liegen nach Simmel zwei alternative Wahrnehmungsmçglichkeiten beschlossen, um der Zudringlichkeit der Reizwelt zu entkommen. Fr die weniger sensible Wahrnehmung sind deutlich wahrnehmbare Objekt-Differenzen, wie sie sich etwa in den „stilisiert-italienischen Landschaften“ oder „historische[n] Dramen“606 zeigen, erforderlich; insofern bedarf sie einer „materiellen Untersttzung“607, die erst in der sinnlichen Konkretion des Objekts die angestrebte ,Abstndigkeit‘ herstellt. Fr die „[f ]einere[n] Nerven“608 dagegen befreit sich der Gegenstand von seiner zudringlichen Materialitt schon durch die Transformationen, die der Formprozess an den reproduzierten Objekten vollzieht. Seine Entlastungsleistung besteht darin, deren Unmittelbarkeit durch vermittelnde, gewissermaßen intermedire Gestaltungsprozesse in eine Ferne abzudrngen, die an den Objekten ihre „Beziehungslosigkeit“609 und nicht ihre Nhe, ihre beruhigende Distanz und nicht ihre aufdringliche Prsenz fr die Wahrnehmung hervorhebt.610 Argumentativ mndet Simmels Soziologische Aesthetik damit in einer eigentmlichen Unentschiedenheit. Einerseits folgt die Strukturlosigkeit des „sthetische[n] Pantheismus“611 insofern einem entropischen Vorstellungsbild, als der Aufbau der Bedeutungswelt im Innersten ihrer Signifikation nur das „Gleichgiltigste“612 kennt. Wo alles alles – eben: ,pantheistisch‘ – bedeuten kann, wirkt die Bedeutungskonstitution 604 Conrad Alberti: Das Milieu. In: Ders.: Natur und Kunst. Beitrge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhltnisses, Leipzig 1890, 51 – 56, 51. 605 Ebd. Ob Simmels Begriff des „sthetischen Pantheismus“ durch Alberti angeregt wurde, ist ungewiss. 606 Simmel: Soziologische Aesthetik [1896], 210. 607 Ebd. 608 Ebd. 609 Ebd., 211. 610 Vgl. Klaus Lichtblau: Das ,Pathos der Distanz’. Prliminarien zur NietzscheRezeption bei Georg Simmel. In: Heinz-Jrgen Dahme/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt/M. 1984, 231 – 281. 611 Simmel: Soziologische Aesthetik [1896], 199. 612 Ebd., 198.

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buchstblich „ermattet[]“.613 Andererseits geht mit den gewachsenen Reizschutzbedrfnissen, d. h. mit der „Furcht, in allzu nahe Berhrung mit den Objekten zu kommen“614, eine Rckverwandlung der geschwchten Energien einher. Es ist diese Rckverwandlung, die die naturalistische Selbstauslieferung an den „dumpfen Druck“615 der Objekte unterbricht und als jene Formen erkennbar macht, in denen die Dinge nicht mehr als unmittelbarer Erfahrungsgehalt erscheinen. Vor diesem Hintergrund wird man Simmels 1898 erschienenen Essay ber Stefan George als Versuch werten mssen, der Ambivalenzen des zwei Jahre lteren Textes Herr zu werden.616 Argumentativ besteht Simmels Strategie darin, das beschriebene Doppelgesicht des Naturalismus in eine scharf profilierte Opposition zu bersetzen und mit Verweis auf Georges Lyrik, den „Gipfel des Anti-Naturalismus“617, autonomiesthetisch zu berschreiben. Whrend die Soziologische Aesthetik im Naturalismus noch beides – Ermattung und distanzschaffende Formung – zusammendachte, tritt der entropische Vorstellungshaushalt nun vollstndig auf den Naturalismus ber. Er geht erneut in einer „pantheistischen Empfindung“618 auf, die „Sinn und Bedeutsamkeit der Welt“ jedem „beliebigen Ausschnitt“619 anvertraut, in dem sie in beliebiger Weise Ausdruckswerte aus dem „Vorher, Nachher und Daneben“620 der semiologischen Kette hervorhebt und in die Position eines Signifikanten versetzt, der seinerseits prinzipiell jedem Bedeutungsgehalt offen steht.

613 614 615 616

617 618 619 620

Ebd., 214. Ebd., 211. Ebd., 210. Simmel hat George drei Texte gewidmet, deren Erscheinungsdaten (1898, 1901, 1909) jeweils dem Publikationszeitpunkt dreier Gedichtzyklen Georges (Das Jahr der Seele [1897]; Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod, mit einem Vorspiel [1900]; Der siebente Ring [1907]) entsprechen. Vgl. neben Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung [1898] ders.: Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie [1901]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 7: Aufstze und Abhandlungen 1901 – 1908. Bd. 1. Hg. von Rdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1995, 21 – 35; ders.: Der siebente Ring [1909]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 12: Aufstze 1909 – 1918. Bd. 1, 51 – 54. Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung [1898], 294. Ebd. Ebd. Ebd.

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„Nicht daß die Kunst ein Bild des Lebens sei“, so Simmels Bilanz, „sondern ein Bild des Lebens, war dem Naturalismus ihre Seele.“621 Weil sich der Naturalismus den Dingen bedingungslos, ohne ein distanzschaffendes Formmoment, ausliefert, ist er nicht „Bild“, also ein begrenzter Formzusammenhang, sondern „Leben“, d. h. ein beliebiges und ungestaltetes Ausdrucksmoment. Den entschiedensten Kontrast bildet demgegenber Georges Lyrik. In ihr wirkt eine Zentrierung der sthetischen Semiose, die dem ,Pantheismus‘ der naturalistischen Bedeutungswelt eine ußerste „knstlerische[] Durchbildung“622 entgegensetzt. Metaphorisch verweist diese „Durchbildung“ auf eine Wiedergewinnung von „psychischen Energien“623, die gegen die nervçsen Erfahrungen der Moderne Momente ihrer formsthetischen Beherrschung aufbietet. In Georges Lyrik wirke, so Simmel, reine „sthetische Selbstherrlichkeit“624, whrend die Werke die „Herrschaft des Poeten“625 anzeigen, in dem sie „ber den Gefhlsinhalt Herr“626 werden. Im Feld der Kunst erweise sich der „Knstler“ als „absoluter Herrscher“627, weil in ihr nur eine Energie wirkt: „Wille zur Kunst“628. Dieser „Wille zur Kunst“ ist Metapher und zugleich mehr als Metapher. Metapher ist er, weil er die an George diagnostizierte Formsthetik metaphorologisch aus einem tief verwobenen Zusammenhang von nervçser Reizbarkeit und Willensenergetik herleitet, der fr die Selbstformierung der frhen Moderne um 1900 sthetisch außerordentlich folgenreich ist. Mehr als nur metaphorisch ist er, weil er an Georges Gedichten eine operative Qualitt bloßlegt. Sie fhren den „Willen zur Kunst“ nicht bloß als in sich abgeschlossene Form vor, sondern ,zeigen‘ den Prozess ihrer formalen Verdichtung. Dabei vollzieht sich diese ,Deixis‘ der Formwerdung auf zweifachem Weg. Zum einen betrifft sie das aus der nachhegelianischen sthetik herrhrende Problem von Lyrik und Gefhl. Was Georges Lyrik ins Werk setzt, ist der „Uebergang des unmittelbaren subjektiven Gefhles“ in ein „objektive[s]“629 Prinzip des 621 622 623 624 625 626 627 628 629

Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,

295. 294. 292. 293. 291. 293. 288.

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„Kunst-Werden[s]“, das „die Gefhlsgrundlage selbst [erfaßt]“.630 Dieses Erfassen der „Gefhlsgrundlage“ besteht allerdings in mehr als in bloßem ,Erfassen’; es ist vielmehr Transformation, Vernderung, qualitative Anverwandlung der „innerlichste[n] Energie unserer Seele“631. In einer tief greifenden „Metempsychose zum Kunstwerk“632 spaltet der Formprozess des Gedichts all jene Regionen des Ichs ab, in der die nervçsen Zerstreuungen und dynamischen Affekte der Zeit beheimatet sind. Dabei verweist das Bild der „Metempsychose“, der ,Seelenwanderung’, auf den transformationalen Charakter der Formwerdung, und genau besehen werden die „Gefhlsinhalt[e]“ nicht eigentlich aus dem Formprozess gedrngt, sondern aus einem Zustand roher und dynamischer Unartikuliertheit in einen Zustand der „Ruhe“633, der Artikuliertheit berfhrt. Entsprechend erscheint das Werk nicht lnger mehr als Ausdruck eines „Gefhlsinhalt[s]“, sondern als Ergebnis seiner Bndigung in einer Sprachform, die dem Gefhl eine Ordnung gibt, so dass sich seine ,ursprngliche‘ bzw. natrliche Affektivitt qualitativ verndert: Das, was einmal ein „Gefhlsinhalt“ war, ist restlos in der symbolischen Ordnung des Gedichts aufgegangen und kann nach seiner „Metempsychose“ zum Sprachwerk nicht mehr auf seine affektive Ursprnglichkeit hin berschritten oder in ihn rckverwandelt werden. In gewisser Weise markieren Georges Gedichte nichts anderes als diese in der „Kunstform“ des Gedichts aufgehobene Unmçglichkeit dieser Rckverwandlung: Man kann es vielleicht auch so aussprechen: whrend sonst der Ausdruck und die Erregung des unmittelbaren, das ganze Ich beherrschenden Gefhles der Zweck der Lyrik zu sein pflegt, fr den ihre Kunstform das Mittel ist, wird in dieser neuen Richtung das Gefhl zu einem Mittel fr den Kunstzweck. […] Es scheint mir, als sei hier zum ersten Male die Lyrik ihrem Fundament nach in das Stadium des l’art pour l’art getreten […]. Wenn die Entwickelung von der rein naturhaften, undifferenzirten Aeußerung des Affekts ausging […], so ist hier die Materie des Seelenlebens, immer mehr der sthetischen Formung zuwachsend, nun vçllig in die Kunstform aufgegangen.634 630 631 632 633 634

Ebd., 291 (m. Hervorhg.). Ebd., 288. Ebd., 291. Ebd., 288. Ebd., 290 f. Die Formulierungen belegen die recht konventionelle autonomiesthetische Konstruktion des Textes. Einerseits wiederholt Simmels George-Essay lediglich den Impuls der Hegelschen sthetik, die vermeintlich ,subjektive’ Lyrik durch Formleistungen zu verobjektivieren und kommunikabel zu machen. Ausdrcklich hat Hegel den Gedanken, „daß an und fr sich schon das Sub-

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Zum anderen lsst sich der prozessuale Charakter der Formbildung in der Zeichenordnung der Texte selbst nachweisen. Ihre Bedeutung stiften die Texte durch eine Selektivitt, die die polyseme Struktur des Wortmaterials so beschrnkt, dass nur die kontextuell passenden Bedeutungsmomente in den Innenraum der Form eintreten. Georges Gedichte stellen sich als Blockierung des „Vielsinn[s] der Worte“635 her, in dem die Worte in einem Prozess wachsender wechselseitiger Verweisungen Limitierungen ihrer Bedeutungsmçglichkeiten erfahren und damit einzelne Bedeutungsmomente gegen einen Horizont hervorheben, in dem auch andere, gleichwohl nicht selektierte Bedeutungen aufgehoben sind. Damit ist eine Reflexionslage des Formbegriffs skizziert, die sich der konventionellen autonomiesthetischen Dichotomie von Form und Nicht-Form, von ,Innen‘ und ,Außen‘ der sthetischen Struktur ebenso wie der Vorstellung einer qua Form vollziehbaren Substanzprgung entzieht:636 Form ist hier vielmehr Form in einem Horizont von sich selbst limitierenden Verweisungen. Entsprechend spalten Georges Texte alle vorsthetischen Bejektive und Partikulre von Interesse sein msse“, als „falsche[] Prtention“ abgewiesen und betont, dass erst die lyrische Form „ein von jeder Zuflligkeit […] gereinigtes Objekt“ hervorbringt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen ber die sthetik III. In: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu edierte Ausgabe. Bd. 15, Frankfurt/M. 1970, 429 bzw. 417. Andererseits reagiert Simmel auf die Trivialisierungen des Lyrikbegriffs, wie sie vor allem die nachhegelianische sthetik erzeugt hat, wenn sie das „lyrische Gedicht“ als den „unmittelbarste[n] Ausdruck der Gefhle des Dichters“ versteht. Vgl. Johann Michael Sçltl: sthetik in Mitteilungen an eine Deutsche Frau, Wien, Pest, Leipzig 1872, 47. Dass dieses Lyrikbild Simmels berlegungen negativ grundiert, belegt seine Rede vom „l’art pour le sentiment“, das Georges Lyrik „zum ersten Male […] verlassen“ (Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung [1898], 291) habe. Vgl. zu den Trivialisierungstendenzen der nachhegelianischen sthetik Gerhard Plumpe: Ausdifferenzierung der Lyrik – sthetische Reflexion. In: Walter Baumgartner (Hg): Wahre lyrische Mitte – ,Zentrallyrik’? Ein Symposion zum Diskurs ber Lyrik in Deutschland und in Skandinavien, Frankfurt/M. 1993, 87 – 106. 635 Simmel: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung [1898], 298. 636 Zu diesen lteren (aristotelischen) Traditionen des Formdenkens vgl. Klaus Stdtke: Form. In: sthetische Grundbegriffe. Historisches Wçrterbuch in sieben Bnden. Hg. von Karlheinz Barck. Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2001, 462 – 494, 463 f., 466. Vgl. zu Simmels Formbegriff auch Uwe Hebekus: Der Wille zur Form. Politischer sthetizismus bei Georg Simmel, Ernst H. Kantorowicz – und Alfred Rosenberg. In: Ders./Ingo Stçckmann (Hg.): Die Souvernitt der Literatur. Zum Totalitren der Klassischen Moderne 1900 – 1933, Mnchen 2008, 45 – 75, 57 ff.

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deutungen, die der „absoluten[n] Einheit des Gefhlstones“637 ußerlich bleiben, nach und nach ab; gleichwohl aber bleiben sie in einer abwesend-anwesenden Weise als dem Gedicht „abgewandt[e]“638 Signifikationsmomente prsent. In Simmels Blick erscheinen daher keine Formen, die aus der Prgung eines der Formung vorausliegenden Substrats hervorgingen, sondern Momente einer Verdichtung, die sich als Prozess entfaltet und am Wort Einzelmomente gegen den ,apprsentierten‘ Sinn anderer Bedeutungsmomente hervorhebt, bis, wie Simmel betont, „alle nach anderen Richtungen hingehende[] Bedeutungsstrahlen verloschen sind“639 : George besitzt die merkwrdige Fhigkeit, aus den vielfachen Bedeutungen eines Wortes keine einzige psychologisch anklingen zu lassen außer der, die gerade dieser einen Stimmung, diesem einen Bilde dient: aus dem Vielsinn der Worte borgt er keinen einzigen Reiz in das Kunstwerk hinein, der nicht allein aus dem Ganzen des Kunstwerkes herauskme. Aus den einzelnen Worten sind durch Zusammenhang und Klang alle assoziativen Mitschwebungen ausgeschieden, die ihnen einen dem Kunstzweck des Gedichtes fremden Werth zufgen kçnnten. Auf diesen ist Alles so konzentrirt, daß alle nach anderen Richtungen hingehenden Bedeutungsstrahlen verloschen sind. Nur die dem Centrum des Gedichtes zugewandte Seite ist durch das Bewußtsein beleuchtet, alles Andere ist dunkel, wie der Theil des Mondes, der der Sonne abgewandt ist. Dadurch erhalten diese Gedichte eine absolute Einheit des Gefhlstones, eine unvergleichliche Geschlossenheit der Stimmung.640

Formsthetisch stellt Simmels frher George-Essay einen der wesentlichen Momente in der berwindungsgeschichte des Naturalismus dar. Es erstaunt daher nicht, dass Simmels Wiederaufnahme des NaturalismusProblems im Rahmen seiner 1911 erschienenen, dritten Rodin-Studie einer nur im Detail vernderten Konstellation folgt. Gegenpart des sich einmal mehr in der bloßen Aufnahme der Dinge erschçpfenden „mechanischen Naturalismus“641 ist die „Bewegtheitstendenz“, mit der die Plastiken Rodins eine zutiefst innerliche Beziehung zur „gestiegene[n] Bewegtheit des wirklichen Lebens“642 unterhalten. Gegenber der bannenden Statik der lyrischen Form erweist sich die Rodinsche Plastik als hineingenommen in die bewegte Dynamik des modernen Lebens, aber 637 638 639 640 641 642

Simmel: Stefan George [1898], 299. Ebd. Ebd., 298 (m. Hervorhg.). Ebd., 298 f. Simmel: Rodin (mit einer Vorbemerkung ber Meunier) [1911], 339. Ebd., 347.

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so, dass diese Bewegtheit nicht in isolierten Bewegungsmomenten zerluft, sondern in jedem Einzelmoment zugleich „das Ganze“ eines „bermomentanen Sein[s]“643 reprsentiert. Im Unterschied zum „klassischen Ideal[]“644, das auf die „Substantialitt“ des „Sein[s]“ gerichtet war, zielt Rodins „Bewegungsmotiv“645 auf das „Werden[]“646 und damit auf die Grunderfahrung der Moderne, deren schçpferischer Ausdruck die Rodinsche „Impression des bermomentanen“647 bildet. Der scharfe Kontrast zum Naturalismus ergibt sich vor diesem Hintergrund nicht aus der Aufnahme von Lebensmomenten in die sthetische Form – eine Aufnahme, gegen die sich Georges Lyrik aufgrund ihrer „knstlerischen Durchbildung“648 ja verschlossen hatte –, sondern aus dem Grad der Durchdringung von aufgenommenem Lebensmoment und seiner stilistischen Bewltigung. Weil die Rodinsche Form den plastischen Bedeutungstrger aus der Immanenz der Bewegung hervor wachsen lsst und sich so „Bewegungsmotiv“ und „materialer Trger[] […] kooptieren“649, und weil jeder bewegte Einzelmoment das berzeitliche Ganze der modernen Bewegtheit symbolisch auffasst, finden im Rodinschen Bewegungsmotiv Leben und Stil, moderner Erfahrungsgehalt und sthetische Form zusammen. Demgegenber besteht der „mechanische Naturalismus“ aus Einzelmomenten, die ihrem Lebensgehalt als „bloße Durchgangsstelle“650 gegenber ußerlich bleiben. Indem der Naturalismus die Dinge lediglich mechanisch kopiert, verbleibt er gewissermaßen an ihrer phnomenalen Außenseite, ohne sie mit dem modernen Lebenssinn in ein innerliches Verhltnis zu setzen. In dieser sinnhaften Unerlçstheit seiner Reproduktionsmomente, die zu keiner Anverwandlung des modernen Lebens finden, ist der Naturalismus lediglich passive Reproduktion: ,perhorreszierter‘ Stil. Diese Bewegtheitstendenz ist die tiefgrndigste Beziehung der modernen Kunst berhaupt zum Realismus: die gestiegene Bewegtheit des wirklichen Lebens offenbart sich nicht nur in der gleichen Kunst, sondern beides: der Stil des Lebens und der seiner Kunst, quellen aus der gleichen tiefen Wurzel. […] Hier liegt die Kulturbedeutung Rodins, der gegenber der Naturalis643 644 645 646 647 648 649 650

Ebd., 340. Ebd., 339. Ebd., 338. Ebd., 339. Ebd. Simmel: Stefan George [1898], 295. Simmel: Rodin (mit einer Vorbemerkung ber Meunier) [1911], 338. Ebd., 342.

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mus, wenn er nur die Inhalte der Dinge, wie sie sind, wiedergeben will, etwas ganz ußerliches, Mechanisches ist. Der extreme Naturalismus perhorresziert den Stil, und sieht nicht, daß ein Stil, der den Sinn unsres Lebens unmittelbar selbst lebt, sehr viel tiefer wahr, wirklichkeitstreuer ist, als alle Nachahmung; er hat nicht nur Wahrheit, er ist Wahrheit.651

Unter dem apologetischen Text einer Moderne, der es gelingt, sich ihren prekren Erfahrungssinn sthetisch noch einmal restlos anzueignen, wird, zumindest hinsichtlich des Naturalismus, ein eigentliches Interesse der Rodin-Studie sichtbar. Es besteht darin, den Naturalismus mit Blick auf das Maß, mit dem er sich des modernen Lebenssinns nicht bemchtigen kann, aus dem Kanon der sthetischen Moderne auszuschließen. Wenn Rodin, wie Simmel betont, „uns unser tiefstes Leben noch einmal in der Sphre der Kunst erleben lsst“652, dann hat sich der Naturalismus von dieser sthetisch erfllten Lebensnhe unwiederbringlich zurckgezogen. Simmels Kritik ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Zum einen befindet sich dieses Naturalismus-Verstndnis im Rcken der vergleichsweise elaborierten Begriffsfassung, mit der die Soziologische Aesthetik den Naturalismus noch 1896 zur sthetischen Grunderfahrung der Moderne aufgewertet hatte. Zum anderen behauptet die Rodin-Studie eine Entgegensetzung zwischen sthetischer Form und naturalistischer Nicht-Form, die bereits ein Jahrzehnt zuvor, in den verstreuten Bemerkungen der Philosophie des Geldes, berwunden schien. Dort nmlich wird der Naturalismus analog zu den berlegungen der Soziologischen Aesthetik nochmals zum Anlass einer Poetik der Distanz, die die andrngende „Konkretheit der Reize zurcktreten“653 lsst. Weil die „innere Bedeutsamkeit der Kunststile“654 in der Leistung besteht, „zwischen uns und den Dingen“ eine Abstndigkeit herzustellen, die die subjektive Wahrnehmung dem „unmittelbaren Sein“655 der Phnomene entrckt, kann der Naturalismus nur um den Preis einer „Selbsttuschung […] verkennen, daß auch er ein Stil [ist], d. h. daß auch er die Unmittelbarkeit des Eindrucks von ganz bestimmten Voraussetzungen und Forderungen her gliedert und umbildet.“656 In schrfster Distanz zu Simmels Rodin651 Ebd., 347. 652 Ebd., 348. 653 Georg Simmel: Philosophie des Geldes [1900]. Hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Kçhnke. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 6, Frankfurt/M. 1989, 658. 654 Ebd. 655 Ebd., 659. 656 Ebd.

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Studie erklrt die Philosophie des Geldes den Naturalismus damit geradezu zu einem paradigmatischen Stil-Phnomen, weil er die sthetischen Erfahrungen des ,Umbildens‘ und ,Gliederns‘ an Sujets vollzieht, die in ihrer rohen Materialitt eine unmittelbare Nhe zur subjektiven Wahrnehmung unterhalten, so dass die formale Transformation um so plastischer und das distanzierende Moment umso energischer ausfallen muss. In dieser Anerkennung von Formenergien, die dem Naturalismus angesichts der Formkunst Rodins 1911 wieder kategorisch abgesprochen werden, erweisen sich Simmels Ausfhrungen zum Naturalismus als wenig kohrent; jedenfalls lassen sich die recht widersprchlichen Bemerkungen kaum plausibel mit Hinweis auf eine Entwicklung in der Autorperspektive begrnden. Wenn es auch zutrifft, dass die Philosophie des Geldes in zum Teil wçrtlicher Entsprechung die lteren berlegungen der Soziologischen Aesthetik von 1896 aufnimmt, und die spte RodinStudie der Philosophischen Kultur von 1911 in ihren Grundintuitionen bereits in den beiden frheren Rodin-Essays ber Rodins Plastik (1902) bzw. zum Bewegungsmotiv in der Plastik (1909) greifbar ist,657 so dass eine gewisse Phasendifferenz (1896 – 1900; 1902 – 1911) erkennbar wird, so steht eine systematische Erklrung doch weitgehend aus. Sie wird dort greifbar, wo man die widersprchlichen Einschtzungen auf zwei verschiedene theoretische Strnge hin transparent macht, die in einer fr Simmel bezeichnenden Weise unterschiedliche Reflexionsmomente eines identischen modernittstheoretischen Ausgangsproblems markieren und sich daher in eine kultursoziologische und eine differenzierungstheoretische Diskursposition zerteilen: Dort, wo der Naturalismus als Moment der Distanzgebung gegenber den nervçsen Reizintensitten erscheint, werden die berlegungen erkennbar von den kultursoziologischen Bemhungen um eine Theorie der modernen Erfahrungsgehalte grundiert; dort, wo der Naturalismus als defizienter Gegenpart einer eigentlichen Formkunst entwertet wird, wirkt ein differenzierungstheoretisch begrndeter Kunstbegriff, der gegen die Fragmentarisierungen der arbeitsteiligen Moderne einen in sich selbst geschlossenen ,Gegenort’, einen Moment der sthetischen „Erlçsung“658, errichtet. Anders als im form657 Vgl. Simmel: Soziologische Aesthetik [1896], 209 ff. und Simmel: Philosophie des Geldes [1900], 658 f. Zu den Entsprechungen in den Rodin-Essays vgl. Simmel: Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart [1902], 233; ders.: Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik [1909], 33, 35 f; ders.: Rodin (mit einer Vorbemerkung ber Meunier) [1911], 340 f., 347 f. 658 Georg Simmel: Bçcklins Landschaften [1895]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900, 96 – 105, 99.

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losen Naturalismus beruht die sthetizistische „Geschlossenheit des Kunstwerks“ auf der „subjektive[n] Seeleneinheit“ nur „eine[s] Menschen“ und symbolisiert in dieser Totalitt die „vçllige Ablehnung“ der sozialen „Arbeitstheilung“.659 Selbst dort, wo in den bewegten Formen der Rodinschen Plastiken das Leben als Ganzes zusammenstrçmt, ist lediglich eine lebensphilosophische Wendung derselben „Entrcktheit aus allen bloßen Relationen“660 der Moderne bezeichnet. Es sind diese lebensphilosophischen Diskursbedingungen, die Simmel 1913/14, d. h. aus der beinahe eineinhalb Jahrzehnte whrenden Distanz zum Ende des Naturalismus, nochmals zu einer Neueinschtzung des Naturalismus-Problems fhren. Zunchst plausibilisiert Simmels sptes Fragment Zum Problem des Naturalismus das Eigengewicht seiner Naturalismus-Rezeption insofern, als es die offenen Wertungsdifferenzen aufgreift und lebensphilosophisch reformuliert. Dabei zeigt sich der synthetische Gestus des Textes vor allem daran, dass Simmel die Opposition von Naturalismus und l’art pour l’art auflçst und – in der Tendenz hnlich wie die Philosophie des Geldes – die materiale Distanzlosigkeit des Naturalismus nun in einer bezeichnenden Wendung zum Anlass nimmt, um in ihm „die auf dem Boden der modernen Weltanschauung geeignetste Auswirkung des l’art pour l’art-Prinzips“661 zu sehen. Damit ist die Frontstellung des George-Essays zugunsten des Naturalismus berwunden, der nun ganz offenkundig mit der fortgeschrittenen sthetischen Moderne in Einklang gebracht werden soll. Dabei berdehnt der Gedanke das vertraute Argument, dass die naturalistische Reproduktionstechnik „naturhafte“, d. h. werthaft nicht besetzte Realittsmomente hervorhebt und durch ihre Aufnahme in die sthetische Zeichenordnung in ihrem „Kunstwert“662 zeigt. Diese thetische Dimension des „Kunstwert[s]“ ruht ihrerseits nicht eigentlich auf einer Gestaltgebung, die die Realittsmomente formal umbildet, sondern allein auf einer Perspektive, die einen sthetischen Gesichtspunkt – einen „Wert“ – an einem Objekt hervorhebt, das selbst ber keinerlei werthafte ,Betonung‘ verfgt: 659 Georg Simmel: Persçnliche und sachliche Kultur [1900]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900, 560 – 582, 566. Vgl. zu den auch an dieser Stelle sichtbaren autonomiesthetischen Traditionen in Simmels Denken Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, 208, 212 und ders.: sthetische Konzeptionen im Werk Georg Simmels, 23. 660 Simmel: Bçcklins Landschaften [1895], 99. 661 Simmel: Zum Problem des Naturalismus [ca. 1913/14], 221. 662 Ebd.

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Hier zeigt sich die Wirkung der naturwissenschaftlich-mechanistischen Weltanschauung: die Wirklichkeit als solche ist indifferent, ideenfrei. […] Der Naturalismus hat diese Voraussetzung auch sogleich praktisch erwiesen, indem er sich zu Vorwrfen Gegenstnde des banalsten Lebens whlte, an denen anderweitige Werte nicht so leicht oder berhaupt nicht fhlbar werden. Je gleichgltiger der Gegenstand war, je mehr bloß naturhafte, an sich unbetonte Wirklichkeit, desto ersichtlicher war es, daß die Kunst, die ihn aufnahm, eben nur den Kunstwert und keinen anderen an ihm zum Ausdruck brachte.663

Simmels neu gewonnener Perspektivismus tritt allerdings hinter das eigentliche lebensphilosophische Programm des Textes zurck. Es besteht in einer Art vitalistischer Regeneration des Naturalismus, die ihrerseits auf einer lebensphilosophisch re-interpretierten Wirklichkeit beruht. In der Konsequenz dieser tendenziell schematischen Konstellation liegt es beschlossen, dass diese vitalistische Wirklichkeit von sthetischen Reproduktionsprozessen nicht mehr kategorial geschieden werden kann, weil beides – Wirklichkeit und sthetische Reprsentation – Momente einer identischen, umfassenden Energie des Lebens sind: „Die Wirklichkeit lçst sich, vom Knstler aufgenommen, vollstndig in Dynamik auf, sie ist kein in die Strçmung des Schaffens hineingeworfener und von ihr nur weitergetragener Fremdkçrper, sondern innerhalb dieser Strçmung eine wirksame Energie […].“664 Im Elan dieser Vitalisierung vollzieht Simmel zunchst nur jene große Mythologie des Lebens mit, die sich um 1900 gegen die Abstraktionen der ,atomistischen‘ Vernunft und der kulturellen Vermittlungen zur Geltung bringt.665 Fr den Naturalis-

663 Ebd. 664 Ebd., 223. 665 Vgl. Angelika Ebrecht: Das individuelle Ganze. Zum Psychologismus der Lebensphilosophie, Stuttgart 1992, 9 ff. und Herbert Schndelbach: Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt/M. 41991, 174 ff. Zu Simmels von Schopenhauer, Nietzsche und Bergson inspirierter, spter Lebensphilosophie vgl. Hans-Joachim Lieber: Kulturkritik und Lebensphilosophie. Studien zur Deutschen Philosophie der Jahrhundertwende, Darmstadt 1974, 67 – 105; Werner Jung: Georg Simmel zur Einfhrung, Hamburg 1990, 151 – 161. Primrer Impuls von Simmels Lebensphilosophie ist die vitalistische Um-Schreibung jener Tragçdie der Kultur, nach der sich die „Entwicklung der modernen Kultur […] durch das bergewicht dessen, was man den objektiven Geist nennen kann, ber den subjektiven [charakterisiert]“ (Simmel: Die Großstdte und das Geistesleben [1903], 203). Im Ergebnis dieser vitalistischen Wendung erscheint die ,Tragçdie der Kultur’ nicht mehr als Entzweiung von objektiven und subjektiven Kulturgehalten, sondern als „unversçhnliche[r] Gegensatz von Leben und Form“.

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mus resultiert daraus allerdings eine erneut ,pantheistische‘ Stellung, die das reproduktive Moment seiner Weltauffassung und den Lebensstrom, auf den es sich ,nachbildend‘ bezieht, kaum unterscheiden kann, weil sich die ußere „Lebensbewegtheit“666 der Realitt lediglich in das naturalistische Werk fortsetzt: Der naturalistische Knstler […] setzt seine innere Tatschlichkeit, seine Lebensbewegtheit sozusagen gradlinig in das Werk fort, dieses ist ein Weiterschwingen jener […]. Naturalismus bedeutet, daß sich im Kunstwerk etwas Gegebnes wieder findet, das nicht im knstlerischen Prozeß erzeugt ist und das fr das Kunstwerk wesentlich und bestimmend ist.667

Man hat es an dieser Stelle mit einem Naturalismus zu tun, der der vitalistischen Terminologie des Textes gemß kaum mehr leistet, als die Naturalisierung seiner genetischen Fundamente. Simmels Bemhungen enden daher im Rekurs auf ein „Gestaltungsgesetz“668, das die energetische ,Strçmung‘ des Werks unterbricht, in dem es seinen Formprozess aus seinen unmittelbaren psychoenergetischen Entstehungsbedingungen lçst. Gegenber dem „vital-unmittelbare[n] Wesen“ der „naturhaft gegebene[n] Energien“669 zielt der ,eigentliche‘ Naturalismus in einer erkennbaren Akkomodierung an die formalen Abstraktionen der sthetischen Moderne auf eine „schwebende Gestalt“670, die sich durch ihre Formoperationen hindurch von ihrem naturhaften Fundament gelçst hat. In dieser „schwebende[n] Gestalt“ sind die naturhaften Energien so transformiert, dass das, was einmal einen allein psychischen Wert besaß, restlos in den Ordnungswerten der werkimmanenten Verweise und Bedeutungsmomente aufgeht. Zugleich aber bewahrt der Naturalismus eine Erinnerung an seine energetische Genese, in dem die Formmomente immer wieder ,Durchblicke‘ auf dieses „kausale Moment“ der Werkentstehung gestatten: Das Kunstwerk […] hat alle Fden nach außen hin abgeschnitten und nach innen zu einer unzerbrechlichen Form zusammengeknpft, es ist ,seelig in ihm selbst‘. Alle seelischen Werte und Ereignisse, die darin investiert sind, haben die Form ihrer ursprnglichen Bewegtheit verlassen und eine in sich schwebende, von Begriff der Kunst allein her bestimmte angenommen. […]

666 667 668 669 670

Georg Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, Mnchen, Leipzig 1918, 18. Simmel: Zum Problem des Naturalismus [ca. 1913/14], 225. Ebd. Ebd. Ebd., 235. Ebd.

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V. Verlçschende Form

Naturalismus kann, insoweit es sich um wirkliche, insbesondere um große Kunst handelt, immer nur ein relatives Hervortreten, ein strkeres Fhlbarwerden jenes kausalen Moments im Kunstwerk gegenber seiner Zeitlosigkeit bedeuten, eine Akzentuierung der Richtung, aus der es kommt, gegenber der fertigen, von allem ,Ursprung‘ gelçsten, in seinem Eigenwert schwebende Gestalt […].671

Die gesamte Konstruktion ist einmal mehr erkennbar zwiespltig, weil sie mit Blick auf die „naturhafte Genesis“ des Werks weder seiner „absolut selbstgengsame[n] Einheit“ Raum gibt, noch die „gespannte Energie“672, die das naturalistische Werk durchstrçmt, jenseits der Zsuren der Formbildung zu sich kommen lsst. Auch wenn Simmel den Naturalismus primr von seinen formalen Qualitten her rekonstruiert und ein bergewicht der Form ber das „kausale Moment[]“ seiner vitalistischen Herkunft konstatiert, wirkt der fundierende Vitalismus des Sptwerks wie ein beharrlicher Widerstand, weil er den Formprozess nie vollstndig zu sich kommen und insofern Formgebung und Entformung im naturalistischen Werk laufend oszillieren lsst: Whrend in den sthetischen „Eigenwert“ der Formmomente immer wieder die „ursprngliche Bewegtheit“673 ihrer tragenden Energien hineinragt, unterliegen die elementaren „Zeugungskrfte[]“ immer wieder den „sich selbsttragende[n] Formen“674. Und whrend die formale Abstraktion die Herauslçsung aus der psychischen Natur ihres „kausalen Moments“ betreibt, muss sich die „schwebende Gestalt“ des Werks immer wieder an jene „Richtung“ erinnern lassen, aus der sie ihren naturhaften „,Ursprung’“675 empfangen hatte. Simmels spter Versuch einer sthetischen Modernisierung des Naturalismus ist damit an den Zwiespltigkeiten der eigenen Konstruktion gescheitert; zumindest verdeutlichen sie seine Schwierigkeiten, den Naturalismus berzeugend mit der sthetischen Moderne vermitteln zu kçnnen. Sieht man davon ab, dass die nachgelassenen berlegungen den Bezug zum ,historischen‘ Naturalismus des spten 19. Jahrhunderts weitgehend aufgegeben haben – weder das naturalistische Werk Gerhart Hauptmanns noch den ,konsequenten Naturalismus‘ eines Holz oder Schlaf wird man in ihnen wieder erkennen kçnnen –, so eignen diesem lebensphilosophisch imprgnierten Naturalismus Momente einer fort671 672 673 674 675

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

233, 235. 225. 233. 234. 235.

6. „sthetischer Pantheismus“ und „Wille zur Kunst“

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whrenden Selbstdekonstruktion: Immer wieder ist es der elementare Strom des Lebens, der den Schließungsprozess des Werks aussetzt und jene entmaterialisierte ,Schwebe‘ unmçglich macht, in der die Gestaltmomente zu ihrer „unzerbrechlichen Form“676 zusammentreten kçnnten. Es muss, nicht zuletzt angesichts des fragmentarischen Charakters des Textes von 1913/14, offen bleiben, ob es sich bei Simmels Beschreibung um Konstruktionsschwchen handelt, die auf den unfertigen Zustand der berlegungen zurckzufhren sind, oder ob es sich in der Oszillation zwischen ,Form‘ und ,Leben‘ um eine bewusst ambivalente Konstruktion handelt. Sollte diese letzte Annahme zutreffen, htte Simmel eine prekre Antwort auf die Frage nach der Modernitt des Naturalismus gegeben: dann wre die vitalistische berwindung der Kultur der Schwche zugleich die Einsicht in die Unmçglichkeit der naturalistischen Form.

676 Ebd., 233.

VI. Der Wille zum Willen und die Modernisierung der Moderne. Transformation und Erkenntnislogik der frhen Moderne Der Wille ist im kulturellen Diskurs nach 1900 erkennbar abgesunken, sieht man von einem residualen berleben in philosophiegeschichtlichen Rekonstruktionen ab.1 Als Leitbegriff von Anthropologie und Psychologie weicht er einerseits der fortschreitenden Empirisierung der psychologischen Forschung,2 andererseits den begrifflichen Transformationen, mit denen die Psychoanalyse fortan nicht mehr das Schicksal des Willens, sondern das der Triebregungen und ihrer komplementren Verdrngungsenergien erzhlt.3 Die Wende, die die Psychoanalyse damit vollzieht, ist eine Wende zur Kultur, genauer wohl: eine Wende auf jenen 1

2

3

Vgl. etwa Wilhelm Kahl: Die Lehre vom Primat des Willens bei Augustinus, Duns Scotus und Descartes, Straßburg 1886; Georg M. Bugarski: Die Natur und der Determinismus des Willens bei Leibniz. Ein Beitrag zur Geschichte der Lçsung des Problems der Willensfreiheit, Leipzig 1897; Max Krieg: Der Wille und die Freiheit in der neueren Philosophie. Eine philosophische Studie, Freiburg/Br. 1898; Heinrich Gomperz: Das Problem der Willensfreiheit, Jena 1907. Vgl. zur psychologischen Verfalls- und Wiederaufstiegsgeschichte des Willens die Beitrge in: Heinz Heckhausen/Peter M. Gollwitzer/Franz E. Weinert (Hg.): Jenseits des Rubikon. Der Wille in den Humanwissenschaften, Berlin, Heidelberg u. a. 1987. Die gegenwrtigen Debatten um ein altes Thema – die Willensfreiheit – ruhen auf den Ergebnissen der hirn- und neurobiologischen Forschung, die die Willensfreiheit (einmal mehr) zu einer Illusion herabmindert. Vgl. aus der Flle der Positionen nur Gerhard Roth: Fhlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Neue, vollst. berarb. Ausg. Frankfurt/ M. 2002; Kristian Kçchy/Dirk Stederoth (Hg.): Willensfreiheit als interdisziplinres Problem, Freiburg/Br. 2006. Dies im Gegensatz zu Odo Marquards ideengeschichtlicher Schematisierung, die Freuds „wiederkehrenden“ bzw. „,zweiten Psychologismus’“ (Odo Marquard: Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Kçln 1987, 222) in seiner Affinitt zur „ermchtigten Triebnatur“ (Ebd., 209) Schopenhauers und Nietzsches in Kontinuitt mit der „transzendentalphilosophischen Naturphilosophie“ (Ebd., 223) des 19. Jahrhunderts (Schelling, Carus) sieht.

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unstillbaren Konflikt, der zwischen das Triebleben und die Kultur tritt und damit all die Verzichtleistungen anstçßt, die die moderne Kultur auf ihren entsagungsvollen Grundaffekt herab stimmt. „Wir entbehren“, so Freud schon 1883, „um unsere Integritt zu erhalten, wir sparen mit unserer Gesundheit, unserer Genußfhigkeit, unseren Erregungen, wir heben uns fr etwas auf, wissen selbst nicht fr was – und diese Gewohnheit der bestndigen Unterdrckung natrlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung.“4 Durch die tiologie solcher Entbehrungen vollzieht sich eine unaufhçrliche Geschichte der Verdrngungen, der unaufgelçsten Selbsttuschungen und Kompensationen, kurz: ein Text von Verzicht und Entsagung, der dem ,sentimentalischen‘ Sinn der Moderne neue triebpsychologische und sozialisationstheoretische Nahrung gibt. In gewisser Weise schreibt Freuds Theorie vom Triebverzicht und dem Unbehagen, das die Kultur auf ihn folgen lsst, nur einen Begleittext zu jenen literarischen Texten, die im ausgehenden 19. Jahrhundert die Erfahrung der modernen Kultur zu einer Immanenz der Freudlosigkeit erklren,5 und in gewisser Weise begegnet sich die Moderne hier wie dort – im literarischen Text wie in Freuds sozialisationstheoretischen berlegungen – als tragisches Schicksal ihrer Kultur wieder.6 Schon aus diesem Grund liegt es nahe, den Blick zunchst noch einmal zurckzuwenden und die bisherigen Ergebnisse unter drei Gesichtspunkten Revue passieren zu lassen. Der erste der drei Gesichtspunkte ist literaturgeschichtlicher Natur und richtet sich auf die Struktur des untersuchten Textfeldes. Worauf der Durchgang durch das literarische Material zielte, war der Nachweis, dass die traditionsreiche Ver4

5 6

Sigmund Freud an Martha Bernays [Brief vom 29. 8. 1883]. In: Ders.: Briefe 1873 – 1939, 2. erw. Aufl. Frankfurt/M. 1968, 56 f. Vgl. die ,triebtheoretischen’ berlegungen in Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale [1915]. In: Ders.: Gesammelte Werke chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud. Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913 – 1917, Frankfurt/M. 51969, 209 – 246; ders.: Die Verdrngung [1915]. In: Ebd., 247 – 261; ders.: Jenseits des Lustprinzips [1920]. In: Ders.: Gesammelte Werke chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud. Bd. 13: Jenseits des Lustprinzips. Massenpsychologie und Ich-Analyse. Das Ich und das Es, Frankfurt/M. 1955, 4 – 69. Vgl. Kap. II. 3 und IV. Vgl. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur [1930]. In: Ders.: Abriß der Psychoanalyse/Das Unbehagen in der Kultur. Mit einer Rede von Thomas Mann als Nachwort, Frankfurt/M., Hamburg 1965, 63 – 129, 83, 92. Vgl. dazu Susanne Ldemann: Mythos und Selbstdarstellung. Zur Poetik der Psychoanalyse, Freiburg 1994.

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drngung des Naturalismus aus der literarischen Moderne mit der Unsichtbarkeit einer ihrer wesentlichen genetischen Momente erkauft worden ist. In dieser Verengung ihrer materialen Grundlagen hat sich die Literaturwissenschaft lediglich in Einklang mit den zeitgençssischen Bemhungen gebracht hat, den Naturalismus zu ,berwinden‘.7 Festzuhalten ist demgegenber, dass sich der Naturalismus dort, wo sich der literaturgeschichtliche Blick auf die Breite des Feldes richtet, als eigentmliche Doppelidentitt von modernistischer Selbstbegrndung und modernistischer Selbsttransformation zu erkennen gibt. Die literaturgeschichtliche Signatur des Naturalismus besteht darin, dass sich all das, was ihm gemeinhin als kognitive und literarische Schwche angelastet wird, vielmehr als Symptom einer ber sich hinausreichenden Bewusstseinslage erweist, jedenfalls als Anknpfungspunkt fr Entwicklungen, die den gewhlten naturalistischen Programmstandpunkt bereits transformieren und auf weiterreichende Perspektiven hin çffnen. Die immanente – und eben nicht bloß proklamierte – Modernitt des Naturalismus wrde dann in einer konzeptuellen ,Arbeit‘ an der selbst behaupteten Modernitt bestehen und darin, dass diese Revisionen innerhalb des diskursiven Feldes, in denen sie sich zutragen, in sich bereits einer modernistischen Logik von Transformation und berarbeitung folgen. Dass der Naturalismus, wie Jost Hermand bereits 1972 vermerkt hatte, „seinem ganzen Wesen nach eine Durchgangsstation, eine Wendemarke“ darstellt, ist zutreffend, bleibt aber vordergrndig, so lange diese Transformation allein gegen das „Erstarrte oder Stagnierende bewusst formalistischer Epochen“8 gerichtet wird. Noch jngere Perspektiven auf den Naturalismus begrnden diesen Transformationscharakter mit Hinweisen auf den rhetorischen Elan, mit dem der Naturalismus seine eigene Indexikalisierung als ,modern‘ betreibt, um alsbald hinter den Stand der erreichten sthetischen Modernitt zurck zu fallen.9 7 8 9

Vgl. Hermann Bahr: Die berwindung des Naturalismus [1891]. In: Ders.: Zur berwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887 – 1904. Ausgew., eingel. und erlut. von Gotthart Wunberg, Stuttgart, Berlin u. a. 1968, 33 – 102. Jost Hermand: Der verdrngte Naturalismus. In: Ders.: Der Schein des schçnen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende. Mit 46 Abbildungen, Frankfurt/M. 1972, 26 – 38, 27 f. Vgl. Lothar L. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. ber die Situierung der Literatur in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne, Tbingen 2005, 289 f.; Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900. Von der Reichsgrndung bis zur Jahrhundertwende, Mnchen 1998, 108.

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Demgegenber muss man die Heterogenitt der naturalistischen Texte, ihre in sich zerfallene literarische Idiomatik wie die systematischen Spannungen, die sie mit den theoretischen und programmatischen Verlautbarungen ihrer Autoren unterhalten, als das nehmen, was sie ihrer inneren Logik nach sind: Konstituenten eines historischen Feldes, in dem vorlufige, sich gewissermaßen in Bewegung befindende Figurationen fr sthetische Modernitt ausgebildet werden. Wenn es eine innere Verbindung in den bewltigten Textmengen gibt, dann ist es dieser Revisionismus, der die Texte in Auseinandersetzung mit ihrer behaupteten Modernitt variante Figurationen dieser Modernitt hervor treiben lsst. Nicht erst in seiner Sptphase und in den Auslufern, die ihn mit den Frhwerken von Autoren verbinden, die gemeinhin der Klassischen Moderne zugerechnet werden (Schnitzler, Rilke), bildet der Naturalismus eine Art ,Reservoir‘ solcher Teilfigurationen, auf die die Klassische Moderne, die sich programmatisch vom Naturalismus absetzt, nur zurckgreifen muss.10 – Zunchst, um an die wesentlichen Ergebnisse zu erinnern, hat sich dieser Revisionismus in den Ermchtigungen zu einem ,neuen Menschen‘ zugetragen, die – wie bei Hermann Conradi und, in elaborierterer Form, bei Johannes Schlaf beobachtbar (Kap. IV. 3, 4) – gerade nicht nach dem vertrauten Zeitschema von Abriss und Zsur verlaufen. Vielmehr handelt es sich um einen historischen Moment, in dem die neuropathische Zeitkultur ihre sprachliche Realitt hervorkehrt, um in ihr eine neue Sensibilitt sichtbar zu machen, die ihre eigenen Lhmungen hinter sich lsst. Modern ist diese Revision der neuropathischen Sprechweise in dem, was sie symbolisch ber die kulturellen Bedingungen von Erneuerung und erneuernder Individuation um 1900 verrt: dass sich beides nur durch die Unhintergehbarkeit von Sprache hindurch vollzieht und insofern vollstndig in die Bedeutungsprozeduren der symbolischen Ordnung hinein genommen ist. Modern in einem emphatischen Sinn ist – um eine zweite Konstellation in Erinnerung zu rufen – der Zusammenhang von Tat, Entscheidung und Opfer (Kap. III. 2, 3). Wenn das naturalistische Geschichtsdrama (Bleibtreu) ebenso wie die Einakterexperimente der Zeit (Rilke, Schnitzler) um diese Augenblicke der Tat kreisen, wird man darin nicht nur eine gewollt problemreduzierte Antwort auf die Zerstreuungen des „nervçse[n] 10 Wie die ,Regeln’ dieser Aktualisierung durch die Klassische Moderne beschaffen sind, muss offen bleiben. Der Nachweis beschrnkt sich auf die Prfigurationsleistungen, die der Naturalismus fr die Selbstmodernisierung der sthetischen Moderne nach 1900 erbringt.

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Zeitalter[s]“11 sehen drfen. In ihrer anthropologischen Grundintention wird vielmehr eine berschssige Problemlçsungskapazitt sichtbar, die auf ein von der Moderne selbst geschaffenes Problem – das Problem ihrer ontologischen Kontingenz – reagiert. In dieser Hinsicht besitzen die naturalistischen Emphasen der Tat und der Entscheidung eine bislang unbeachtete literarische Vorluferschaft, und man wird diese Vorluferschaft – ungeachtet der Holzschnittartigkeit ihrer literarischen Faktur (Bleibtreu) oder der spteren revisionistischen Interessen ihrer Autoren (Rilke, Schnitzler) – schon deswegen ernst nehmen mssen, weil all das, was die Klassische Moderne an Tter- und Opfergewalten entfesseln wird, wesentliche Prfigurationen durch die naturalistische Dramatik empfngt. Dass das Fin de sicle Ermdung und aktivistische Ermchtigung zusammen denkt und im gewaltsamen Riss der kulturellen Lhmungen ein Moment ihrer berwindung imaginiert, stellt nur die Wiederholung einer Konstellation dar, die gerade nicht – wie Hans Richard Brittnacher betont hat – aus der „Frontstellung gegen den Naturalismus“12 erwachsen war. Einen dritten Beleg fr die modernistischen Selbstrevisionen des Naturalismus wird man in den Aporien sehen mssen, mit denen Michael Georg Conrads dreiteiliger Isar-Zyklus seine eigenen Darstellungsansprche buchstblich zerschreibt (Kap. IV. 5). Der irrlichternde Text betreibt durch die Nachbildung eines entropischen Reproduktionszyklus hindurch einen progressiven Entzug all jener Erzhlgrundlagen und (mimetischen) Reprsentationsansprche, die gewçhnlich in den Analogien zwischen Sprachzeichen und Vorstellung, zwischen Erzhlen und erinnernder Vergegenwrtigung aufbewahrt sind. Entsprechend endet das Aufzeichnungsprojekt des Textes in einer immanenten Reflexion auf einen Erzhldiskurs, der sich seinen psychophysischen Signifikaten gegenber als inadquat erweist und darin auf vernderte Schreibweisen zielt, die der Text selbst freilich nicht mehr bewltigt. Dass sich um und nach 1900 eine kultursoziologische sthetik zur Geltung bringt, die in ihrer Sensibilitt den neuropathischen Zgen der Zeit gegenber gerade diesen von Conrad hinterlassenen Problemstand aufnimmt, bezeugt Simmels prekrer Versuch, den Naturalismus auf dem Weg einer lebensphilosophischen Revision nochmals an die Entwicklungen der sthetischen Moderne anzuschließen (Kap. IV. 6) 11 Richard von Krafft-Ebing: Ueber gesunde und kranke Nerven [1885], 6. unvernderte Aufl. Tbingen 1909, 7. 12 Hans Richard Brittnacher: Erschçpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de sicle, Kçln, Weimar, Berlin 2001, 10 (m. Hervorhg.).

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In das Feld dieser heterogenen Modernefigurationen gehçrt schließlich jene ,anempfindende‘ Lese- und Schreibarbeit, die unter Bezug auf entropische Metaphern in eine ,ermdete‘ Textkultur mndet. Sie speist sich bei Nietzsche, Hofmannsthal und Jens Peter Jacobsen (Kap. VI. 2) aus der Nachbildung von fremden Texterfahrungen. In gewisser Weise ist diese sekundre Textordnung ein Hinweis auf die gewachsene ,Kulturarbeit‘ einer Moderne, die sich im Rcken ihrer modernistischen Leitkategorien fortlaufend in bereits gemachten textuellen Erfahrungen begegnet und damit einer kulturellen Akkumulation entspricht, in der alles Anfngliche in den Ablagerungsschichten der Texte aufgesogen ist. Schon das jeder Ursprnglichkeit entfremdete Raffinement, das Freud 1883 als Folge einer fortgesetzten kulturellen Internalisierungsarbeit durchschaubar gemacht hatte, lsst sich als psychodynamische Analogie einer verfeinerten Kultur der Texte begreifen, die auf keine textuelle Ursprnglichkeit mehr hin transparent gemacht werden kann. Offenkundig ist die Moderne um 1900 damit nicht restlos aus ihrem Widerpart zu einer verhassten Vergangenheit und das heißt: aus den diskurskonstitutiven Dichotomien von alt und neu, von vergangen und modern zu begreifen, wenn sie selbst bereits (oder wieder?) mit der Akkumulation ihrer kulturellen Bestnde befasst ist. Was an der Moderne um 1900 ursprnglich und voraussetzungslos sein soll, ist in der Anempfindung der frhen Moderne ein Prozedieren von Zeichen, das keine Ursprnglichkeit kennt. Der zweite der angedeuteten Gesichtspunkte ist kulturprogrammatischer Natur und betrifft die mehrfach vermerkte Selbstberschreitung des Naturalismus auf etwas, was im Diskurs der Zeit ebenso pathetisch wie emphatisch ,Leben‘ heißt. Man kann diese Perforationsarbeit der Texte an der Grenze zu ,Leben‘ und ,Kultur‘, die gerade durch ihren vordergrndigen, in der Abstraktions- und Kulturferne des Lebensbegriffs begrndeten Gegensatz hindurch verluft, an den naturalistischen Programmierungen dieser Selbstberschreitung in Erinnerung rufen: an den Aporien einer Avantgarde, die auf die kulturelle Selbstvollendung einer von substantiellen Bindekrften noch ,leeren‘ Nation zielt (Heinrich und Julius Hart; Kap. III. 1); an der indolenten Lust, mit der Leo Berg die moderne Kultur zu einem agonalen Schauplatz von Selbstermchtigungen erklrt, die die Starken und Aktiven im Namen der „T h a t s a c h e n d e s L e b e n s “13 vollziehen (Kap. III. 1); an den formalen Experimenten des Einakters (Kap. III. 3), der das ermdete oder geschichtlich befangene 13 Leo Berg: Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst. Mnchen 1892, 241.

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Leben an jenen Emphasen aufrichtet, die sich in den Opfer- und Entscheidungsgewalten der Einakter zeigen. Wenn die dramatischen Figuren, wie bei Rilke, aus den semiotischen Bezglichkeiten des szenischen Raums hinaustreten, um in ein neues Leben aufzubrechen, und wenn Schnitzler den Akt der Entscheidung aus den Selbstbemchtigungen einer imaginren Renaissance herleitet, dann zeigt der Einakter nicht nur seinen dezisionistischen Gehalt, sondern zugleich dessen sthetische Abkunft. So stellt sich die Frage, ob es – ungeachtet der hegemonialen Wendungen der Psychoanalyse – eine Art literarisch-kultureller Nachgeschichte des Willens gibt. Literarisch setzen sich die Befangenheiten des Willens zunchst in jenen modernen Mçglichkeitssinn fort, dem – wie Musils Mann ohne Eigenschaften belegt – alles gleich nah und fern steht und dem das Handeln wie das Unterlassen gleichermaßen zum Problem geworden ist. Wenn der Willensschwache des 19. Jahrhundert nicht zu handeln vermochte, weil ihn die Vielfalt der Handlungsmçglichkeiten gelhmt hatte, dann radikalisiert sich der Mçglichkeitssinn des „potentielle[n] Mensch[en]“14 dahingehend, dass er noch das Nicht-Handeln, das Unterlassen, in das Feld der Wahlmçglichkeiten einzubeziehen hat. Ewig Schwankende, sind die Mçglichkeitsmenschen nach 1900 vor das Problem gestellt, zwischen Wahl und Nicht-Wahl, Entscheidung und Nicht-Entscheidung whlen (entscheiden) zu mssen, um eine Zone aufzusuchen, in der die Whlbarkeit selbst zur Disposition steht. Darin sind sie – „in einer zerstreuten, lhmenden […] Weise“ – erneut Verchter des „eindeutigen Willen[s]“.15 Eine andere, strker kulturelle Wendung nimmt der Wille dort, wo er – abstrakt formuliert – in eine fortschreitende Entleerung seiner materialen Gehalte drngt. Der gesamte Voluntarismus, mit dem sich vor allem die Autoren der 1920er Jahre umgeben, um einen Ausweg aus den politischen Befangenheiten und Reprsentationskrisen der Weimarer Republik zu finden, folgt dieser Struktur.16 Schon Christian Graf von Krockow hatte fr das „Problem der Entscheidung“ nachgewiesen, das die verwendeten „Begriffe“, die, um „sinnvoll zu sein, materialen Gehalt, ein Wofr und Wogegen […] zu fordern scheinen, von allem materialen 14 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Erstes Buch [1930/32]. Hg. von Adolf Fris, Reinbek 1987, 251. 15 Ebd., 253. 16 Fr den Expressionismus vgl. Wolfgang Rothe: Tnzer und Tter. Gestalten des Expressionismus, Frankfurt/M. 1979, 119 ff.

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Gehalt gerade abgeschnitten werden. Kampf, Entscheidung und Entschlossenheit sollen rein als solche, gewissermaßen ,an sich‘ bedeutsam sein.“17 Der Wille ist in den entsprechenden Entwrfen daher kaum mehr ,material‘ zu verstehen; er transformiert sich in eine reine Affektmotorik, in die alles einstrçmen kann, was die Moderne an autoritren Regungen bençtigt, um ihre eigene modernistische berbietung und Krftigung in Gang zu setzten. Man lese nur Ernst Jngers Politische Publizistik, um sehen zu kçnnen, wie sich Wille und Tat gerade ber die Abstoßung eines semantischen Gehalts hindurch als autoritre Begrndungsfiguren konstituieren, in dem sie sich in ,reine‘ Intensitten verwandeln. „Ob dieser Glaube und dieser Wille sich auf Werte beziehen, die logisch zu umfassen sind“, schreibt Jnger 1926, „ist unwesentlich, jedenfalls kçnnen sie eine außerordentliche Strke erreichen.“18 Entsprechend setzt sich diese Reinheit des Willens in den 1920er Jahren in eine kultursemiotische Praxis fort. Reinheit, Leere ist hier keine logische Aporie, sondern eine Technik der Kultur, die die Entleerung des Willens in die Entleerung, in die buchstbliche Bereinigung der kulturellen und semiotischen Bestnde umlenkt. Mag sich dieser „unbedingte[] Wille[]“19 vordergrndig in ein weltloses Begehren verstricken – seine Leere ist systematisch notwendig, weil er einer kulturellen Technik ihre begrndende ,Logik‘ vorgibt, und mçglicherweise ist der ganze affektrhetorische Komplex aus Katharsis und Reinigung, aus Entleerung und aggressiver Luterung, mit der die Moderne ihre eigene Modernisierung betreibt, nur das quivalent einer Leere, die der Wille an sich ,zeigen‘ kann, weil jeder Wille ,etwas‘ wollen muss und doch die ,logische‘ Fhigkeit besitzt, sich in sich selbst einzuschließen und damit das bloße Wollen zum Gehalt des Willens zu erklren. Noch der ausgeprgte Ikonoklasmus der Moderne, der Bildern und Erzhlungen misstraut und sich funktionsversessen gegen Pomp, Dekor und Ornament richtet, stellt – abstrakt besehen – nichts anderes als ein Programm semio-kultureller Entleerung dar.20 17 Christian Graf von Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung ber Ernst Jnger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958, 2. 18 Ernst Jnger: Der Nationalismus [1926]. In: Ders.: Politische Publizistik 1919 bis 1933. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggçtz, Stuttgart 2001, 186 – 190, 186. 19 Ernst Jnger: Vom absolut Khnen [1926]. In: Ders.: Politische Publizistik 1919 bis 1933, 236 – 240, 238. 20 Vgl. zum Ikonoklasmus in Architektur und Stdtebau Albrecht Koschorke: Moderne als Wunsch. Krieg und Stdtebau. In: Gerhart von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne, Stuttgart, Weimar 1999, 656 – 674.

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Der dritte und letzte Gesichtpunkt ist erkenntnislogischer Natur und verbindet einen diskursgeschichtlichen mit einem – allerdings thesenhaft bleibenden – kulturtheoretischen Aspekt. Er betrifft die im Naturalismus endgltig sichtbar werdende Affinitt von sthetischer und gesellschaftlicher Modernisierung. Auf den ersten Blick scheint es, als ließe sich der Zusammenhang vor allem in der programmatischen Wendung des Naturalismus auf die Folgeeffekte der sozialen Modernisierung erfassen; immerhin verdankt der Naturalismus diesem Interesse an der ,sozialen Frage‘ seine skandalisierenden Stoffe wie seine (freilich weitgehend erschçpfte) sozialkritische Kommentierung.21 Auf beides kommt es an dieser Stelle nicht an. Wesentlich ist vielmehr der in Kapitel IV entwickelte historische Befund, dass es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer signifikanten Parallele zwischen frher Soziologie und naturalistischen Romantexten kommt. Diese Parallele lsst – wie gesehen – in dem Maße eine literarische Teilgeneaologie von sozialtheoretischen Vorstellungen ber die Moderne erkennen, wie sich Roman und Soziologie um verwandte ,sentimentalische‘ Verlaufsvorstellungen organisieren. In sie gehen all die Vorstellungen vom Verlust eines ehemals integralen Sinnkontinuums ein, die erforderlich sind, um der Moderne ber den vermeintlichen Verlust dieser ,ursprnglichen‘ sozialen Erfahrung (,Gemeinschaft‘) hinweg eine narrative Identitt zu geben. Was diese kulturelle Form der Moderne sichtbar macht, ist der Umstand, dass sie gerade nicht aus den Zsuren einer realen geschichtlichen Erfahrung, sondern aus einem Darstellungszwang resultiert, der den gemeinschaftlichen Ursprung der Moderne zu einem bloß imaginren, aber notwendigen Korrelat einer Erzhlung herabmindert, die sich von diesem Ursprung fortwhrend ,historisch‘ distanziert (Kap. IV. 3, 5). Man kçnnte sich mit diesem genetischen Befund bescheiden, besße die diskursgeschichtliche Konstellation nicht ihrerseits den Charakter einer prekren Ursprnglichkeit. Worauf der Nachweis der Analysen zielte, war der Umstand, dass die historische Nhe von Roman und Soziologie jene bis heute nachwirkenden Interferenzen zwischen sthetischen und gesellschaftlichen Modernediskursen begrndet, die in der literaturwissenschaftlichen Terminologie lange Zeit zu undurchschauten Zirkelbildungen zwischen Kategorien unterschiedlicher objekt- und metasprachlicher Herkunft gefhrt haben. Wenn es zutrifft, dass sich „Begriff und Verstndnis auch der gesellschaftlichen Moderne […] in der 21 Vgl. noch Peter Brger/Christa Brger/Jochen Schulte-Sasse: Naturalismus/sthetizismus, Frankfurt/M. 1979.

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Regel auf sthetische Moderne-Diskurse [sttzen]“22, dann besitzt die beschriebene Konstellation insofern einen historischen Anteil an diesen Interferenzproblemen, als sie die Begriffsçkonomie der frhen Soziologie auf literarische Affinitten hin transparent macht. Damit ist keine kulturalistische Entkrftung der Soziologie und ihrer disziplinren Ansprchen intendiert. Dennoch verluft zumindest der kultursoziologische Strang der frhen Moderne – so viel haben die Arbeiten von Klaus Lichtblau und David Frisby gezeigt23 – durch das Verstehen ihrer vernderten Wahrnehmungs- und Erfahrungsgehalte.24 Ohne sie, ohne die sthetischen „Erfahrungsweisen der modernen Welt, die modernen Gesellschaft herbeigefhrt hatte“25, muss die Entstehung der sozialen Moderne schlechterdings unbegriffen bleiben. Und wo ,die Moderne‘ als Beobachtungsbegriff Verwendung findet, bezeichnet er keinen im engeren Sinne soziologischen oder sozialtypologischen Sachverhalt, sondern gerade die „spezifisch sthetischen Erfahrungsgehalte der sthetisch-literarischen Moderne“.26 Damit stellt sich das Problem in doppelter Form: fr das historische Feld als Affinitt von sthetischen Vorstellungsgehalten und soziologischen Begriffen, fr die literaturwissenschaftliche Rekonstruktion als nur schwer zu bewltigende Interferenz von historischer Semantik und metasprachlicher Beobachtung. Sie ist der erkenntnislogische Schatten, der auf jede Diskursivierung der gesellschaftlichen Moderne fllt. Insofern hngt alles davon ab, wie das Problem, wenn nicht gelçst, so doch aus seiner Reflexionsblockade heraus gefhrt werden kann. In methodologischer Hinsicht scheint daher wenig gewonnen, wenn die notwendige „Reformulierung des Begriffs gesellschaftlicher Moderne“ zunchst ihre objektsprachlich-sthetischen Hintergrundmomente tilgt und anschließend „auf geschichts- und sozialwissenschaftliche Theorie-

22 Anke-Marie Lohmeier: Was ist eigentlich modern? Vorschlge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe. In: Internationales Archiv fr Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32 (2007) H. 1, 1 – 15, 1. 23 Vgl. Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt/M. 1996; David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin. Aus dem Englischen von Adriane Rinsche, Rheda-Wiedenbrck 1989. 24 Vgl. Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, 45. 25 Frisby: Fragmente der Moderne, 10. 26 Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, 39, Anm. 22.

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bildungen“27 vertraut. Wenn es auch zutrifft, dass gesellschaftliche Modernisierung fortwhrend als Schicksal ihrer „Verlusterfahrungen“ paraphrasiert und damit lediglich das sthetisch-sentimentalische Schema des 19. Jahrhunderts rekapituliert wird, so scheint der empfohlene sozialwissenschaftliche Blick fr die „Freiheitschancen und hohen zivilisatorischen Gewinne“28 kaum einen Gewinn darzustellen. Zum einen nmlich bersieht er, dass der anvisierte Blickwechsel kurzerhand in die historische Semantik zurckfhrt und den sozialwissenschaftlich scheinbar bereinigten Modernediskurs erneut mit objektsprachlichen Hintergrundannahmen ausstattet. Schon an Simmels frhen berlegungen im Vorfeld seiner Soziologie des Geldes ließe sich ablesen, dass das ,entfrbende‘ Geld einerseits zwar die ,innerlichen‘ Nahverhltnisse der Gemeinschaft auflçst, andererseits aber soziale Interaktionen zu neuartigen und weit reichenden Handlungsketten zusammenschließt, deren Leistungsgewinne vormals undenkbar waren.29 Und selbst dort, wo – wie in Luhmanns Systemsoziologie – gegenwrtige sozialtheoretische Entwicklungen explizit am differenzierungslogischen Sentimentalismus der Moderne partizipieren,30 gibt es einen ,ideologischen‘ Unterstrom, der (auch) auf die Freilegung der eminenten Freiheitsressourcen der funktionalen Differenzierung gerichtet ist. Nicht zuletzt dieser Freiheitsgestus hat der Systemtheorie in den 1970er Jahren bekanntlich den Ruf einer unkritischen Sozialtechnologie eingetragen, die sich allzu widerstandslos dem freien Agieren ihres Systemfunktionalismus berlassen habe.31 Zum anderen verbleiben auch die Hinweise auf die Zivilisationszuwchse der Moderne innerhalb jenes Schemas, das eigentlich verlassen 27 Lohmeier: Was ist eigentlich modern? Vorschlge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe, 4. 28 Ebd., 11. 29 Vgl. Georg Simmel: Das Geld in der modernen Cultur [1896]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 5: Aufstze und Abhandlungen 1894 – 1900. Hg. von Heinz-Jrgen Dahme, Frankfurt/M. 1992, 178 – 196, 183. 30 Vgl. Albrecht Koschorke: Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie. In: Ders./Cornelia Vismann (Hg.): Widerstnde der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999, 49 – 60, 60. 31 Vgl. zur „Konformittsbereitschaft“ der Systemtheorie Jrgen Habermas: Der systemtheoretische Begriff der Ideologie und Systemtheorie als neue Form der Ideologie. In: Ders./Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? [1971] Frankfurt/M. 101990, 239 – 269, 263 ff.

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werden soll. Wer an die Stelle von Verlustserzhlungen Zivilisationsgewinne setzt, betreibt lediglich eine Umorientierung der durch die Grenzen des Schemas von Verlust und Zugewinn vorgegebenen Semantiken. Auch der zivilisatorische Zugewinn kommt – wie das Lexikon der an dieser Stelle erforderlichen Prozessbegriffe belegt – nicht ohne jene Kategorien aus, die zwar nicht sentimentalisch gemeint sein mçgen, aber in diskursgeschichtlicher Hinsicht ,sentimentalisch entstanden‘ sind. „Industrialisierung und Kapitalisierung“, „Verwaltung und Brokratisierung“, „Urbanisierung und Mobilisierung“, „kommunikative Mobilitt“ bei „mediale[r] Variabilitt“, nicht zuletzt „funktionale[] Differenzierung“32 sind keineswegs Kategorien, die aus dem Sentimentalismus der Moderne herausfhrten, sondern die – nicht zuletzt aufgrund ihrer Nhe zur historischen Semantik – zur Illuminierung von Verlusterfahrungen aufgewendet werden kçnnen: Im methodologisch unbedenklichsten Fall wren die gewhlten Begriffe dann anti-sentimentalische Gegenbegriffe, die aber genetisch demselben Sentimentalismus verhaftet sind; im methodologisch prekrsten Falle wren sie variante lexikalische Markierungen, durch die dieselbe sentimentalische Geschichte von Unmittelbarkeitsverlusten und Abstraktionszuwchsen verluft. Wie anders sind Verlusterfahrungen diskursivierbar, als durch die Abstraktionsprozesse von „Urbanisierung“ und „Industrialisierung“33 ? Offenkundig hat man es hier mit einer logisch-semantischen Struktur zu tun, deren oppositionelle Momente ohne ihre wechselseitigen Gegenbegriffe gar nicht profiliert und insofern nicht mit den Mitteln der Unterscheidung selbst transzendiert werden kçnnen. Weil also das diskurskonstitutive Schema in sich selbst verfangen bleibt, mssen andere Wege zu seiner Entfaltung gefunden werden, als die Privilegierung einer seiner bislang marginalisierten Seite, heiße sie Fortschritt, Zivilisation oder Freiheit. Kultur- und sozialphilosophisch geschieht dies inzwischen durch eine Beschreibung jener hybriden Gebilde und disziplinren bergangszonen, die sich der teilenden bzw. oppositionellen Wissenslogik der Moderne entziehen und damit auch den Sentimentalismus von Verlust und Zugewinn, von Entfremdung und Freiheit hinter sich lassen.34 Aber das sind kulturphilosophische berle32 Lohmeier: Was ist eigentlich modern? Vorschlge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe, 6 f. 33 Ebd. 34 Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Aus dem Franzçsischen von Gustav Roßler, Frankfurt/M. 22002;

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gungen, die den Rahmen einer auf die Exploration von Text- und Darstellungsstrukturen gerichteten Analyse berschreiten. Das markierte Problem bleibt damit – dies sei mit Blick auf den literaturwissenschaftlichen Zuschnitt der berlegungen eingestanden – auch an dieser Stelle ungelçst. Weil es kein Jenseits der Moderne gibt, von dem aus sich ihre Selbstthematisierung nicht wenigstens punktuell in die analysierten sthetisch-logischen Blockaden verstrickte, bleiben auch die hier gewhlten Begriffe an das diskursive Instrumentarien dieser Moderne gebunden. Eine fundamentale Revision der Moderneterminologie setzte vermutlich eine andere, d. h. nicht mehr moderne soziale Erfahrung voraus, zumindest eine, die die Moderne nicht mehr als Ergebnis eines evolutionren Verlaufs begreift. Und auch das vermeintlich so sentimentalismusferne Moderneprogramm der Steigerung operiert mit Momenten unterschiedlicher bzw. wachsender Komplexitt auf entsprechend unterschiedlichen Zeitstellen, was immer an entdifferenzierenden Gegenentwicklungen denkbar ist.35 Der hier gewhlte Leistungsrahmen zielt demgegenber nur darauf, die Genese des Problems aus einer diskursgeschichtlichen Verschrnkung von naturalistischem Roman und frher Soziologie herzuleiten und den erkenntnislogischen Schwierigkeiten der Moderne zu einem Verstndnis ihres ,Gewordenseins‘ zu verhelfen. Damit tritt die Analyse hinter das sentimentalische Schema zurck und lsst seine kulturelle Funktionsweise, d. h. seinen Erzhlcharakter, hervortreten. Was immer der Vergleich von frher Soziologie und naturalistischem Roman, von kultureller und literarischer Semantik ergeben hat: Er macht Strukturen eine Konstitutionsgeschichte sichtbar, in der Mythen von Verschuldung und Feindschaft, erfundene Vergangenheiten und Zeitschleifen, die die Sphre der Gesellschaft bereits in der Gemeinschaft anwesend sein lassen, obwohl sie ,historisch‘ nur aus deren Tilgung hervorgegangen sein kann, zu einer Darstellungsweise zusammentreten, die gewçhnlich ,Erzhlen‘ genannt wird. Auch in dieser Hinsicht wre die Genese der sthetischen Moderne anders zu schreiben als bisher: als Geschichte einer noch immer bersehenen naturalistischen Hinterlassenschaft.

Peter Galison: Image and Logic. A material Culture of Microphysics, Chicago 1997. 35 Vgl. Stefan Rieger: Steigerungen. Zum Verhltnis von Mensch, Medium, Moderne. In: Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne, 417 – 439.

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2. Forschung

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Habel, Heinrich: Die Idee eines Festspielhauses. In: Detta und Michael Petzet: Die Richard Wagner-Bhne Kçnig Ludwigs II. Mnchen – Bayreuth, Mnchen 1970, 297 – 316. Habermas, Jrgen: Der systemtheoretische Begriff der Ideologie und Systemtheorie als neue Form der Ideologie. In: Ders./Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? [1971], Frankfurt/M. 101990, 239 – 269. Hagner, Michael/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Johannes Mller und die Philosophie, Berlin 1992. Hahn, Alois: Einleitung. In: Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne, 19 – 26. —, Theorien zur Entstehung der Moderne. In: Philosophische Rundschau (1984), 178 – 202. Hamacher, Werner: ,Disgregation des Willens’. Nietzsche ber Individuum und Individualismus. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung 15 (1986), 306 – 336. Hamacher, Wolfram: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bçlsche, Wrzburg 1993. Hamann, Richard/Jost Hermand: Grnderzeit, Berlin 1965. Hardtwig, Wolfgang: Jacob Burckhardts ,Kultur der Renaissance’ und Max Webers ,Protestantische Ethik’. Ein Vergleich. In: Buck (Hg.): Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann, 13 – 23. Harnack, Falk: Die Dramen Carl Bleibtreus. Eine dramaturgische Untersuchung, Berlin 1938. Hartau, Wilhelm: Wilhelm II. in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1978. Hrter, Andreas: Der Anstand des Schweigens. Bedingungen des Redens in Hofmannsthals ,Brief’, Bonn 1989. —, Digressionen. Studien zum Verhltnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik (Quintilian, Opitz, Gottsched, Friedrich Schlegel), Mnchen 2000. Hasubek, Peter: Der Zeitroman. Ein Romantypus des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift fr deutsche Philologie 87 (1968), 218 – 245. Hebekus, Uwe: Der Wille zur Form. Politischer sthetizismus bei Georg Simmel, Ernst H. Kantorowicz – und Alfred Rosenberg. In: Ders./Ingo Stçckmann (Hg.): Die Souvernitt der Literatur. Zum Totalitren der Klassischen Moderne 1900 – 1933, Mnchen 2008, 45 – 75. Heckhausen, Heinz/Peter M. Gollwitzer/Franz E. Weinert (Hg.): Jenseits des Rubikon. Der Wille in den Humanwissenschaften, Berlin, Heidelberg u. a. 1987. Heese-Cremer, Gabriele von: Zum Problem des Kulturpessimismus. Schopenhauer-Rezeption bei Knstlern und Intellektuellen 1871 bis 1918. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzoldt und Gerd Woland, Berlin 1983, 45 – 70. Heiden, Uwe an der/Helmut Schneider (Hg.): Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, Stuttgart 2007. Heißerer, Dirk: Ludwig II., Reinbek 2003.

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Literatur

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2. Forschung

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Literatur

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2. Forschung

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Literatur

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2. Forschung

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Literatur

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2. Forschung

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2. Forschung

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2. Forschung

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Literatur

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2. Forschung

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552

Literatur

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2. Forschung

553

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Literatur

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2. Forschung

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ˇ izˇek, Slavoj: Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Bçse Z – Vom Begehren des ethnischen ,Dings’. In: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, 133 – 164. Zˇmegacˇ, Viktor: (Hg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Kçnigstein/ Ts. 1981. —, Zum literarhistorischen Begriff der Jahrhundertwende (um 1900). In: Ebd., IX-LI, Zudrell, Petra: Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum und Judentum, Wrzburg 2003.

Personenregister* Ach, Narziß 28 Achelis, Thomas 44, 393, 396 Alberti, Conrad 5, 11, 31 f., 32, 35, 64, 70 ff., 94 ff., 114, 135 f., 199, 209 f., 309, 336, 392, 399 ff., 401, 441, 449, 475 f. Alighieri, Dante 176 Altenberg, Peter 430 Amiel, Henri-Frdric 375 ff., 430 Andreas-Salom, Lou 423 Andrian, Leopold (von) 376, 381, 385 Arent, Wilhelm 45, 139 Aristoteles 7 f., 276 Auerbach, Felix 353 Ayme, Francis 92 Bahr, Hermann 2, 38, 375, 385, 389 ff., 430 f., 438, 466, 473, 492 Barrs, Maurice 375 Bartels, Adolf 195, 253 Barthes, Roland 82 Bauch, Bruno 470 Baudelaire, Charles 26, 289, 368 f. Bauer, Otto 327 Bauer, Roger 367 Baumgarten, Alexander Gottlieb 8 Bayerdçrfer, Hans-Peter 213, 247 Beard, George M. 106, 250, 354, 359, 362 Beauharnais, Josphine de 178, 182, 186 Benjamin, Walter 149, 198, 289 Benn, Gottfried 166, 227 Bentham, Jeremy 276 *

Berg, Leo 35, 41, 61, 118, 135, 138 ff., 191 ff., 199, 495 Bergson, Henri 216, 486 Bernard, Claude 61 ff. Bernoulli, Carl Albrecht 194 Bernstein, Eduard 334 Beseler, Georg 324 Birnbaum, Karl 355, 359 Bismarck, Otto von 6, 88 f., 93, 112, 161, 170, 183, 198, 250, 331, 351, 440 Bleibtreu, Karl 5, 19, 35, 45 f., 135, 139, 160 ff., 441, 493 f. Bock, Annie 112 f., 342 Bohrer, Karl Heinz 217 f. Bois-Reymond, Emil Heinrich du 13, 352 Bolingbroke, Henry St. John 47 Bçlsche, Wilhelm 31, 33, 60 ff., 101, 136, 139, 149, 224, 402 Boltzmann, Ludwig 348 Bonaparte, Napoleon 179 ff. Borgia, Cesare 176, 184, 194 ff., 200 f. Bourget, Paul 368 f., 374 ff., 384 ff. Brahm, Otto 239 ff., 406 Brand, Julius 117, 122, 132 Brandes, Georg 242, 248, 382, 385 ff. Braungart, Georg 162, 419 Brentano, Lujo 345 Brittnacher, Hans Richard 494 Broca, Paul 459 f. Bronnen, Arnolt 411 Brush, Stephen G. 351

Kursivierte Seitenzahlen verweisen auf Erwhnungen ausschließlich im Fußnotenapparat. Die Namen der Autorinnen und Autoren von Forschungsliteratur wurden nur aufgenommen, sofern sie im Haupttext erwhnt werden. Historische Autorinnen und Autoren sowie historische Persçnlichkeiten werden dagegen grundstzlich im Haupt- und im Fußnotentext nachgewiesen.

Personenregister

Bchner, Ludwig 59 Burckhardt, Jacob 176 f., 194 ff. Brger, Hugo 139, 145, 147 Busch, Wilhelm 43 Byron, George Gordon 47, 155, 175, 176 Caprivi, Leo von 332 Carlyle, Thomas 163, 176 f., 184 ff. Carnot, Lazare 153 Carnot, Sadi 347 Catilina, Lucius Sergius 176 Chambers, Robert 54 Charcot, Jean-Martin 16, 116, 357 Clausius, Rudolf 347 ff., 370 f. Colding, Ludwig August 352 Coleridge, Samuel Taylor 365 f. Comte, Auguste 271 Conrad, Michael Georg 42, 44 f., 90, 149 f., 164, 190 f., 226, 326, 439 ff., 494 Conradi, Hermann 31, 44, 91 f., 119, 138 f., 190 f., 205, 217, 326, 390 ff., 450, 454, 493 Crary, Jonathan 29 Cromwell, Oliver 175 f., 184 Crusius, Christian August 8 D’Annunzio, Gabriele 375, 380, 384 Darwin, Charles 5, 41 ff., 46, 48 f., 53 ff., 102, 330, 336, 437 Dehmel, Richard 438 Delbrck, Hans 335 Deleuze, Gilles 121 Diesel, Eugen 346 Dostojewski, Fjodor M. 47 Durkheim, Emile 268 ff., 274 f., 410 Ebbinghaus, Hermann 29, 34 Eckstein, Gustav 59 Ehrenfels, Christian von 224 Emerson, Ralph Waldo 176 f., 187 Engels, Friedrich 57 f., 260 Erhart, Walter 369 Erichsen, John Eric 460 Ernst, Paul 193 Eschle, F.C.R. 355 Euripides 182

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Fels, Friedrich Michael 390 Fichte, Johann Gottlieb 22, 23, 123, 148, 192 f. Fischer, Kuno 470 Florack, Ruth 411 Fontane, Theodor 46, 125, 223, 391, 407 Forel, Auguste 402 Foucault, Michel 4, 21 f., 37 Frenssen, Gustav 317 f. Frenzel, Karl 46 Freud, Sigmund 250, 303, 418, 435, 436 f., 459, 460, 490 f., 495 Freytag, Gustav 73, 313 Friedrich III. 90 Frisby, David 289, 499 Fuchs, Carl 368 Garborg, Arne 5 Geiger, Ludwig 195 George, Stefan 190, 470, 477 ff. Gierke, Otto von 324 Goethe, Johann Wolfgang von 177, 195, 467 Goudstikker, Mathilde Nora 234, 235 Grabbe, Christian Dietrich 153, 177, 185, 389 Gregorovius, Ferdinand 195 Grimm, Hermann 195 Grimm, Jacob 302, 324, 325 Grimm, Wilhelm 302 Grottewitz, Curt 5, 19, 35, 45, 94, 111 ff., 164, 401 f. Habermas, Jrgen 37 Haeckel, Ernst 54, 56, 61, 402 Halbe, Max 150, 195, 226, 227 Hamerling, Robert 47, 131 Hansson, Ola 390 Hanstein, Adalbert von 45, 140, 422, 442, 472 Harms, Bernhard 345 Harnack, Otto 118 Hart, Heinrich 31, 35, 45, 62, 101, 135, 138 ff., 224, 328, 376, 392, 402, 472, 495 Hart, Julius 11, 31, 35, 62, 135, 138 ff., 224, 376, 402, 441, 495

558

Personenregister

Hartmann, Eduard von 43 ff., 105, 111, 120, 129 ff., 399, 454 Hartwig, Richard von 131 Hasenclever, Walter 411 Hauptmann, Gerhart 39, 40, 44, 73, 82, 107 f., 133, 150, 171, 177, 191, 195, 212, 218 f., 226, 228, 232 f., 239, 330, 406 ff., 432, 439, 467 ff., 488 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 33, 68, 91, 123, 129 ff., 147, 148, 153, 157, 168 f., 175, 181 f., 184, 210, 478 ff. Hegeler, Wilhelm 102 Heidegger, Martin 163, 497 Helmholtz, Hermann von 10, 11 f., 22 f., 347 ff., 351 f., 355, 364 Herbart, Johann Friedrich 8, 9, 123, 355 f. Hering, Ewald 402 Hermand, Jost 492 Herzfeld, Marie 5, 390 Hesiod 182 Hesse, Hermann 381 Hillebrand, Julius 62 Hinzpeter, Georg 92 f. Hirschfeld, Georg 218 ff., 237 f. Hobbes, Thomas 57, 291 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 260 Hofmannsthal, Hugo von 161, 165, 190, 195, 211 f., 213 ff., 226, 240, 375 ff., 419, 430, 446, 495 Hollaender, Felix 35, 44, 70 f., 105 ff., 326, 450 Holz, Arno 2, 5, 33, 63, 94, 111, 139, 186, 223, 226, 228, 233, 407, 427 f., 441, 450, 455, 463 f., 472, 488 Holzamer, Wilhelm 317 Homer 188 Huch, Ricarda 43, 194 Huxley, Thomas Henry 54 Ibsen, Henrik 40, 62, 141, 155, 209, 230 ff., 239, 242, 330, 375, 377, 380, 406 f.

Jacobsen, Jens Peter 381 ff., 495 James, William 30 Janet, Pierre 358 Jauss, Hans Robert 217 Joule, James Prescott 348, 350, 352 Jnger, Ernst 160, 163, 497 Kafitz, Dieter 367, 423 Kampffmeyer, Paul 150 Kant, Immanuel 3, 8, 20, 22 ff., 49, 147, 151 ff., 192 f., 356, 470, 472 Kielland, Alexander Lange 222 ff., 407 Kielmeyer, Carl Friedrich 12 Kierkegaard, Søren 191 Kiesewetter, Carl 427 Kirchmann, Julius Hermann von 123 f. Kluge, Friedrich 191 Kluge, Gerhard 242 Knies, Karl 330 f. Kçselitz, Heinrich 368 f. Koselleck, Reinhart 37 Kracauer, Siegfried 271, 289, 467, 499 Krafft-Ebing, Richard von 250, 494 Kretzer, Max 5, 35, 42, 70 f., 77, 95 ff., 114, 150, 251, 252 f., 258 ff., 272, 304 ff., 310 ff., 327, 334, 399, 441, 455 Krockow, Christian Graf von 496 Kruse, Heinrich 139, 145 Klpe, Oswald 28 ff. Kster, Konrad 150 f. Lagarde, Paul de 191 Lamarck, Jean-Baptiste 54 Lamprecht, Karl 401, 473 Landauer, Gustav 150 Landsberg, Hans 164, 473 Langbehn, Julius 168, 254 f., 405, 469 Le Bon, Gustave 256, 429 Lematre, Jules 385 Lenin, Wladimir Iljitsch 327 Leopardi, Giacomo 44 Lermontov, Michail 47 Lvy, Paul-Emile 16 Lichtblau, Klaus 499 Liebknecht, Wilhelm 334 Lienhard, Friedrich 253, 254 ff., 318 f.

Personenregister

Liliencron, Detlev von 164, 226 Lindau, Paul 139, 145, 147 Lipps, Theodor 7, 9, 470 Lotman, Jurij M. 351 Lublinski, Samuel 1 ff., 41 f., 382, 388, 473 Lucas, Prosper 63, 70 Ludwig II. 447, 448 Ludwig, Otto 260 f. Luhmann, Niklas 37, 500 Lukcs, Georg 71, 198 Mach, Ernst 402 Machiavelli, Niccol 196, 201 Mackay, John Henry 45, 102, 309 Maeterlinck, Maurice 238, 318 f., 405, 430 f., 438 f. Magnan, Valentin 16 f. Mainlnder, Philipp 12 f., 128 f. Malthus, Thomas Robert 57, 59 Mann, Heinrich 195 Mann, Thomas 42 f., 190, 194 f., 243, 250, 381, 385, 491 Maupassant, Guy de 429 Mauthner, Fritz 318 Mayer, Robert Julius 10, 14, 199, 255, 350, 352 Mendelssohn, Moses 8 Menzel, Adolph 95 Meyer, Richard M. 191 Mçbius, Paul Julius 17, 354, 361 Moll, Albert 106, 110 Mommsen, Wolfgang J. 345 Morel, Benoit Auguste 116, 410 Mosso, Angelo 20 Mhsam, Erich 150 Mller, Frederik Paludan 392 Mller, Johannes 12, 23 Murger, Henry 95 Musil, Robert 190, 367, 496 Musset, Alfred de 195 Naumann, Friedrich 345 Nero (Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus) 176, 201 Neswald, Elizabeth R. 349 Neumann, Gerhard 215

559

Nietzsche, Friedrich 4, 12, 13, 14 f., 22, 34 f., 43 ff., 51, 105, 107 ff., 128, 145 f., 151 f., 156 ff., 162, 164, 172 ff., 190 f., 197, 204 ff., 216, 228, 230, 238, 242, 254 f., 367 ff., 385, 388, 398, 413, 439, 476, 486, 490, 495 Nordau, Max 4, 44 f., 63, 111, 116 ff., 403, 410, 429, 457 Oppenheim, Hermann 460 f. Ostwald, Wilhelm 20 Pastor, Willy 224 Pater, Walter 195 Paulsen, Friedrich 274 f., 277 Payot, Jules 360 f. Pguy, Charles 271 Pindar 182 Platon 182, 196 Plessner, Helmut 85 Polcˇek, Josef 450 Polenz, Benno von 334 f. Polenz, Wilhelm von 35, 112, 251 ff., 261 ff., 308, 314 ff., 327 ff. Pope, Alexander 47 Prel, Carl du 425 ff. Przybyszewski, Stanislaw 175 Puschkin, Alexander S. 47 Quidde, Ludwig 93 Quintilianus, Marcus Fabius 452 f. Raabe, Wilhelm 42 f., 53, 55, 66, 389 Rabinbach, Anson 6, 351 Radkau, Joachim 6, 93, 351 Ranke, Leopold von 195 Rasch, Wolfdietrich 32 Reinhardt, Max 105 Renan, Ernest 191, 377 f. Reumont, Alfred von 195 Reuter, Gabriele 110, 226 Ribot, Thodule 16, 357, 363, 364 ff. Rieger, Conrad 427 f. Riehl, Wilhelm Heinrich 261 ff., 313 Rilke, Rainer Maria 165, 190, 194, 209 ff., 225 ff., 381 f., 419, 430 ff., 493 ff.

560

Personenregister

Rodbertus, Carl 339 Roscher, Wilhelm 330 Rosegger, Peter 35, 251 ff., 257 ff., 304, 327 Rossbacher, Karlheinz 318 Rothacker, Erich 163 Saint-Beuve, Charles-Augustin 385 Schasler, Max 123, 148 f. Schiller, Friedrich 147, 151, 153, 177, 216, 217, 272, 301 f., 318 Schlaf, Johannes 40, 111, 150, 186, 191, 212, 223, 226, 228, 233, 402, 406 ff., 423 ff., 450, 463, 469, 488, 493 Schlegel, Friedrich 37, 165, 420 Schmidt, Julian 184 Schmitt, Carl 163, 166, 381, 497 Schmoller, Gustav 331, 333 Schneider, Lothar L. 144 Schnitzler, Arthur 165, 194 f., 209 ff., 239 ff., 436, 493 ff. Schopenhauer, Arthur 12 f., 19, 22, 24 ff., 34, 42 ff., 80, 105 ff., 120, 122 f., 128 ff., 175, 177, 191, 291 ff., 358, 399, 451, 454, 486, 490 Schulz-Buschhaus, Ulrich 376, 380 Schwerin, Friedrich von 334, 335 Semon, Richard 402 Semper, Gottfried 448 Serres, Michel 72 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl of 47 Shakespeare, William 175 f., 356 Siegel, Eva-Maria 445, 455 f. Sighele, Scipio 429 Simmel, Georg 4, 18, 34 f., 40, 136, 168, 255, 268 f., 270, 271, 273 f., 280 ff., 294 ff., 403 f., 410, 465 ff., 494, 499, 500 Sçltl, Johann Michael 480 Sombart, Werner 345 Sophokles 91, 182 Sorge, Reinhard 411 Spencer, Herbert 54, 57, 271 Spielhagen, Friedrich 107, 145 Sprengel, Peter 48

Stegmann, Carl 195 Stifter, Adalbert 261, 389 Stirner, Max 108, 172, 191 Strindberg, August 211, 330 Sudermann, Hermann 45, 227, 253, 307, 330 Sue, Eugne 101 Sulzer, Johann Georg 8 Sumner Maine, Henry 279 f. Szondi, Peter 210 f., 217, 240, 415 Tarde, Gabriel (de) 271, 429 Tetens, Johann Nicolaus 8 Thom, Horst 169 Thomson, William (Lord Kelvin) 10, 347, 348 Tieck, Ludwig 260 Tolstoi, Lew 327 Tçnnies, Ferdinand 35, 263, 268, 269, 270, 271 ff., 285 ff., 312 f., 319, 410 Tovote, Heinz 463 f. Trger, Albert 145, 376 Treitschke, Heinrich von 333, 335 Turgenev, Ivan S. 47, 125 Virchow, Rudolf 12, 56 Vischer, Friedrich Theodor 47, 53, 143 Volkelt, Johannes 43 Volkmann Ritter von Volkmar, Wilhelm 356 Voltaire 47, 189 Vosler, Karl 195 Wagner, Adolph 333 ff. Wagner, Richard 42 f., 44, 87, 191, 367 ff., 413, 447 f., 449 Walloth, Wilhelm 392 Warning, Rainer 72 Weber, Max 35, 60, 198, 268 ff., 327 ff., 467 ff. Wedekind, Frank 408 Weigand, Wilhelm 191, 194, 375 Weitling, Wilhelm 260 Wernicke, Carl 421, 459 f. Wienbarg, Ludolf 143

Personenregister

Wildenbruch, Ernst von 251, 263, 266 f., 304 ff., 321, 324 Wilhelm II. 91, 92 f., 217, 395 Wille, Bruno 224 Windelband, Wilhelm 470 Wolff, Eugen 36 f., 62, 140, 150, 391 Wolff, Theodor 382, 387 Wçlfflin, Heinrich 195

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Wundt, Wilhelm 7, 9, 22 f., 27 ff., 44, 357 ff., 372, 393, 396 f., 470 Zola, mile 5, 33, 40, 44, 61 ff., 70 ff., 86, 105, 113, 115, 117 f., 121 ff., 132, 135, 139, 144, 145, 146, 148 ff., 155, 191, 253, 266, 315, 330, 399, 439 ff., 457, 465 Zweig, Stefan 381