Der Wert der Scham: Die Erforschung einer Gesundheitsressource in kulturellen Kontexten 3031362284, 9783031362286, 9783031362293

Dieser Band kombiniert empirisch-wissenschaftliche und theoretische Perspektiven auf Scham in kulturellen Kontexten und

121 88 9MB

German Pages 345 [335] Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Eine kulturelle Perspektive auf Scham
Literatur
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Herausgeberinnen und Beitragende
Über die Herausgeberinnen
Mitwirkende
Kapitel 1: Eine Einführung in den Wert der Scham – Erkundung einer Ressource im Kontext von Gesundheit und Kultur
1.1 Einleitung
1.1.1 Ziele
1.1.2 Perspektiven Positiver Psychologie
1.1.3 Von pathologischen hin zu gesundheitsbezogenen Schamkonzepten
1.2 Scham, Verlegenheit und Schuldgefühle im Kontext von Gesundheitsparadigmen
1.2.1 Der Ursprung des Schambegriffes
1.2.2 Scham und Peinlichkeit
1.2.3 Scham- und Schuldgefühle
1.3 Schamentstehung und Schamentwicklung
1.4 Schamkategorien
1.4.1 Der Wert der Scham: Paradigmenwechsel des Schamverständnisses
1.5 Scham in kulturellen Kontexten
1.6 Kulturspezifische Einblicke in die Scham
1.7 Scham aus der Gender-Perspektive
1.8 Kapitelvorschau
1.8.1 Teil I Theoretische Perspektiven auf Scham und Kultur
1.8.2 Teil II Kulturspezifische Perspektiven auf Scham
1.8.3 Teil III Die Berücksichtigung von Scham und Kultur in Therapie und Beratung
Literatur
Teil I: Theoretische Perspektiven auf Scham und Kultur
Kapitel 2: Scham! Eine systempsychodynamische Perspektive
2.1 Einleitung
2.2 Schamdynamiken
2.3 Kulturbedingte Schammanifestationen
2.4 Theoretischer Ansatz: Systemische Psychodynamik
2.4.1 Psychoanalyse
2.4.1.1 Grundannahme
2.4.1.2 Die Organisation-in-the-Mind
2.4.1.3 Objektbeziehungstheorie
2.5 Scham und ihre Wurzeln im Kindesalter
2.5.1 Die zwei Positionen
2.6 Gesellschaftlich konstruierte Abwehrmechanismen
2.6.1 Angstabwehr in sozialen Systemen
2.6.2 Neidattacken in sozialen Systemen
2.6.3 Scham und Neid
2.7 Fallstudie
2.8 Schlussfolgerung
Literatur
Kapitel 3: Scham als funktionale und adaptive Emotion: Eine biopsychosoziale Perspektive
3.1 Einleitung
3.2 Ein biopsychosoziales Modell des Verhaltens
3.3 Biologie und die grundlegenden emotionalen Reflexe
3.3.1 Das limbische System und die Amygdala
3.3.2 Neuropeptide
3.3.3 Emotionale Grundreflexe
3.3.4 Die Biologie der Emotionen
3.4 Ein biopsychosoziales Modell der Emotionen
3.4.1 James-Lange, Tomkins und Izard
3.4.2 Soziale Funktionen von Emotionen
3.4.3 Emotionsregulierung
3.4.4 Ein biopsychosoziales Emotionsmodell
3.5 Scham und Schuldgefühle
3.5.1 Der Unterschied zwischen Scham und Schuld
3.5.2 Ist Scham eine moralische Emotion?
3.5.3 Umgangsweisen mit Scham
3.6 Schlussfolgerung
Literatur
Teil II: Kulturspezifische Perspektiven auf Scham
Kapitel 4: Die positive Funktion der Scham: Moralische und spirituelle Perspektiven
4.1 Beziehungsorientierte Grundlagen der Scham
4.2 Die moralische Dimension
4.3 Die edukative Dimension
4.4 Die spirituelle Dimension
4.5 Schlussfolgerung
Literatur
Kapitel 5: lajjA in der indischen Psychologie: Spirituelle, soziale und literarische Perspektiven auf Scham
5.1 Einleitung
5.2 Methodik
5.3 lajjA: Synonyme und Antonyme
5.4 lajjA in der bhagavadgItA
5.5 lajjA in der DrogeA saptazatI
5.6 lajjA in der Literatur
5.7 lajjA im täglichen Gebrauch
5.8 hayA
5.9 Diskussion
Literatur
Kapitel 6: Individuelle und organisationale Strategien zur Überwindung von Scham in der südafrikanischen Arbeitswelt
6.1 Einleitung
6.2 Scham im historischen und zeitgenössischen Kontext Südafrikas
6.3 Scham an südafrikanischen Arbeitsplätzen
6.4 Der südafrikanische Arbeitskontext der Hochschulbildung
6.5 Zielsetzung und Forschungsfragen
6.5.1 Forschungsmethodik
6.5.1.1 Die Stichprobe
6.5.1.2 Datenerhebung
6.5.1.3 Datenanalyse
6.5.1.4 Forschungsethik
6.6 Forschungsergebnisse
6.6.1 Schamdefinitionen
6.6.2 Beschämende Situationen am Arbeitsplatz
6.6.3 Persönliche Strategien im Umgang mit Scham am Arbeitsplatz
6.6.4 Organisationale Auswirkungen auf den Umgang mit Scham
6.7 Diskussion
6.8 Schlussfolgerungen
6.9 Theoretische und praktische Empfehlungen
Anhang A. Anhang: Interview-Protokoll
Literatur
Kapitel 7: Kanada/Nordamerika: Scham im Zwischenfeld von indigener Kultur und kolonialistischer, konsumorientierter Einflüsse
7.1 Einleitung
7.2 Allgemeine Überlegungen zur Scham
7.2.1 Das Schamkontinuum
7.2.2 Zwei Seiten einer Medaille: Scham und Stolz
7.2.3 Das ‚Scham-Stolz‘-Modell
7.3 Beispiele für Quellen der Scham in Nordamerika – Vergangenheit und Gegenwart
7.3.1 Traditionelle Lebensweisen indigener Gruppen in Kanada
7.3.2 Konfrontation mit Kolonialist*innen und indigener Völkermord
7.3.3 Internatsschulen
7.4 Scham und Stolz als politische Instrumente
7.5 Zeitgenössischer Jugendwahn auf der Grundlage von Materialismus und Konsum
7.5.1 Cool ist der neue Stolz
7.5.2 Öffentliche Beschämung und Lynchjustiz
7.6 Scham als Gesundheitsressource
7.7 Schlussfolgerungen
Literatur
Kapitel 8: Indigenes Australien: Scham und Respekt
8.1 Einleitung
8.2 Konstruktionen des Selbst
8.2.1 Definitionen in Bezug auf die Konstrukte der Selbstidentität
8.2.2 Auswirkungen von Scham und Respekt auf die Selbstidentität indigener Australier*innen
8.3 Gruppenkonstrukte
8.3.1 Definition in Bezug auf die Konstrukte der Gruppenidentität
8.3.2 Auswirkungen von Scham und Respekt auf die Gruppenidentität indigener Australier*innen
8.4 Strategien zur Steigerung des Respekts und zur Reduktion der Scham
8.5 Zukünftige Richtungen für die indigene Kultur und Identität Australiens
Literatur
Kapitel 9: Scham und Resilienz: Eine neuseeländische Untersuchung des resilienten Umgangs mit Scham
9.1 Einleitung
9.2 Bisherige Forschung
9.3 Scham in einem Pākehā-Kulturkontext
9.4 Die Schlüsselfrage: Was sind die widerstandsfähigen Reaktionen auf Scham?
9.4.1 Scham verstehen
9.4.2 Resilienz verstehen
9.5 Reaktionen auf Scham: Einblicke von Pākehā-Neuseeländer*innen
9.6 Natürliche Reaktionen auf Scham
9.6.1 Vermeidung
9.6.2 Flucht
9.6.3 Sich der Scham ergeben
9.7 Resiliente Reaktionen auf Scham
9.7.1 Verletzlichkeit
9.7.2 Wahrnehmung und Anerkennung
9.7.3 Veränderungsbereitschaft
9.8 Scham und Resilienz: Praktische Implikationen
Literatur
Kapitel 10: Von der Scham zur Schuld: Zur Überwindung von Mobbing in verschiedenen Kulturen und in den USA
10.1 Von Scham zu Schuld: Die Beendigung von Mobbing in den USA und in anderen Kulturkreisen
10.2 Mobbing, Scham und Schuldgefühle
10.2.1 Mobbing
10.2.2 Scham und Schuldgefühle
10.2.3 Interkulturelle Unterschiede bei Scham, Schuld und Mobbing
10.3 Empathie, Ablösung, Externalisierung von Beschämung und Mobbing
10.3.1 Empathie, Ablösung und Mobbing
10.3.2 Kulturübergreifende Unterschiede bei Empathie/Distanzierung und Mobbing
10.3.3 Externalisierung von Schuldzuweisungen und Mobbing
10.3.4 Kulturübergreifende Unterschiede in der Externalisierung von Schuldzuweisungen und Mobbing
10.4 Methode
10.4.1 Teilnehmende
10.4.2 Forschungsinstrumente
10.4.3 Ergebnisse
10.4.4 Diskussion
10.4.5 Implikationen und zukünftige Forschung
10.4.6 Limitationen
10.5 Schlussfolgerung
Literatur
Teil III: Die Relevanz von Scham und Kultur für Therapie und Beratung
Kapitel 11: Scham und Psychotherapie: Theorie, Methoden und Praxis
11.1 Einführung in die Scham: Konstrukt und Relevanz für die Psychotherapie
11.2 Schamdimensionen
11.3 Scham und psychische Störungen
11.3.1 Angstzustände
11.3.2 Wut
11.3.3 Depression
11.3.4 Alkoholabhängigkeit
11.3.5 Trauma
11.3.6 Borderline-Persönlichkeitsstörung und Selbstmord
11.3.7 Ess-Störungen (ED)
11.4 Scham in der therapeutischen Praxis
11.4.1 Ansatzpunkte in der Schamarbeit
11.4.2 Rückzug und Verheimlichung
11.4.3 Direkte Ansprache der Scham
11.4.4 Therapeutische Allianz
11.5 Einige Ziele der Schamarbeit
11.5.1 Unterstützung bei der Schamverbalisierung
11.5.2 Verbindungen herstellen
11.5.3 Scham verstehen
11.5.4 Verbesserung der emotionalen Bewältigung von Scham
11.5.5 Externalisierung und Schamakzeptanz
11.6 Spezifische Therapien, die auf Scham abzielen
11.6.1 Mitgefühlsfokussierte Therapie
11.6.2 Akzeptanz- und Engagementtherapien
11.6.3 Umfassende Distanzierung
11.6.4 Schamtherapie: Implikationen für nicht-westliche Kulturen
Literatur
Kapitel 12: Scham – „Eine seelenerfüllende Emotion“: Archetypen und Schattenarbeit in Gruppenprozessen
12.1 Einleitung
12.2 Ziel und Zweck dieses Kapitels
12.3 Jungs grundlegende Konzepte: Persönlichkeit, Archetypen und der Schatten
12.4 Das Schamkonzept in Jungs Werk
12.5 Archetypen und Heilige Verträge in der Arbeit von Caroline Myss
12.6 Das Konzept der Scham in der Psychotherapie
12.7 Forschungsmethodik
12.7.1 Forschungsansatz
12.7.2 Einführung in das Forschungsgebiet
12.7.3 Datenerhebung
12.7.4 Datenanalyse
12.7.5 Qualitätskriterien und ethische Überlegungen zur Forschung
12.7.6 Limitationen
12.8 Die Fallstudie
12.8.1 Biographische Hintergrundinformationen
12.8.2 Der Entwicklungsprozess
12.8.2.1 Schritt eins: Die Erkenntnis der Notwendigkeit der persönlichen Entwicklung
12.8.2.2 Schritt Zwei: Vorbereitung und Teilnahme am Entwicklungsprozess der archetypischen Gruppe
12.8.2.3 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 1: Ego und Persönlichkeit
12.8.2.4 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 2: Werte der Erde und des Lebens
12.8.2.5 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 3: Selbstdarstellung und Geschwister
12.8.2.6 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 4: Zuhause
12.8.2.7 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 5: Sexualität und Leidenschaft
12.8.2.8 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 6: Beruf und Gesundheit
12.8.2.9 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 7: Ehe und Beziehungen
12.8.2.10 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 8: Ressourcen
12.8.2.11 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 9: Spiritualität
12.8.2.12 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 10: Das höchste Potenzial
12.8.2.13 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 11: Die Beziehung zur Welt
12.8.2.14 Gruppenentwicklungsprozess Sitzung 12: Das Unbewusste
12.8.2.15 Die Nachbereitungssitzung
12.8.2.16 Dritter Schritt: Relevante Lebensthemen definieren
12.8.2.17 Vierter Schritt: Umgang mit den Herausforderungen – Das Beispiel der Scham
12.8.2.18 Fünfter Schritt: Der Weg nach vorn, die Transformation und die Vision
12.9 Diskussion
12.10 Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Literatur
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Elisabeth Vanderheiden Claude-Hélène Mayer  Hrsg.

Der Wert der Scham Die Erforschung einer Gesundheitsressource in kulturellen Kontexten

Der Wert der Scham

Elisabeth Vanderheiden • Claude-Hélène Mayer Hrsg.

Der Wert der Scham Die Erforschung einer Gesundheitsressource in kulturellen Kontexten

Hrsg. Elisabeth Vanderheiden Global Institute for Transcultural Research Römerberg, Deutschland

Claude-Hélène Mayer Department of Industrial Psychology and People Management University of Johannesburg Johannesburg, Südafrika

Dieses Buch ist eine Übersetzung des Originals in Englisch „The Value of Shame“ von Vanderheiden & Mayer, publiziert durch Springer Nature Switzerland AG im Jahr 2017. Die Übersetzung erfolgte mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (maschinelle Übersetzung durch den Dienst DeepL.com). Eine anschließende Überarbeitung im Satzbetrieb erfolgte vor allem in inhaltlicher Hinsicht, so dass sich das Buch stilistisch anders lesen wird als eine herkömmliche Übersetzung. Springer Nature arbeitet kontinuierlich an der Weiterentwicklung von Werkzeugen für die Produktion von Büchern und an den damit verbundenen Technologien zur Unterstützung der Autoren. ISBN 978-3-031-36228-6    ISBN 978-3-031-36229-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Joachim Coch Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Nature Switzerland AG und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Gewerbestrasse 11, 6330 Cham, Switzerland Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Vorwort

Eine kulturelle Perspektive auf Scham In Zeiten, in denen Bücher versprechen, dass Scham ein und für alle Mal überwunden werden kann (Allyn, 2004; Nelson, 2016), und in denen Scham aus dem (nordamerikanischen) öffentlichen Diskurs so gut wie verschwunden ist (Cohen, 2003), ist es an der Zeit, innezuhalten und zu fragen, ob das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wurde. Warum wird Scham in einigen Teilen der Welt derart gefürchtet und abgewehrt? Welche Schamkonzepte sind in anderen Teilen der Welt der Welt relevant? Ist es angemessen, von Scham im Singular zu sprechen, oder sollte nicht eher von einer Vielzahl verschiedener Schamgefühle ausgegangen werden? Und kann es sein, dass der potenzielle Nutzen von Scham für individuelles und gesellschaftliches Wohlbefinden übersehen wurde? Im Kern beinhalten Schamgefühle eine negative Bewertung des Selbst und si­ gnalisieren, dass bestimmte Ergebnisse nicht mit Identitätszielen übereinstimmen (Mascolo & Fischer, 1995; Tangney, 1991; Tracy & Robins, 2008). Scham erkennt die Bedeutung von Normen und Erwartungen anderer Menschen an, hebt die eigenen Unzulänglichkeiten bei der Erfüllung dieser Normen und Erwartungen hervor und kommuniziert die Bereitschaft, ihnen in Zukunft gerecht zu werden. Sich zu schämen, bedeutet, sich im Widerspruch mit dem eigenen sozialen Umfeld zu erleben – Scham motiviert so zu Anpassungsleistungen, die dazu beitragen, Beziehungen mit anderen zu wahren oder wieder herzustellen. Dies führt zu Ambivalenzen: In dem Maße, in dem Scham sozialen Zusammenhalt befördert, stellt sie auch ein Mittel sozialer Kontrolle dar. Einerseits eröffnet sie Möglichkeit zu Selbsterkenntnis und Reflexion, andererseits befördert sie Grübeln und Selbstabwertung. Handelt es sich bei der Scham also um einen moralischen Kompass oder um einen moralischen Käfig? Wie Menschen diese Frage beantworten, scheint in hohem Maße davon abzuhängen, welche Ideale und Vorstellungen sie von sich selbst und ihren Beziehungen haben. Obwohl sich Emotionen oft persönlich und idiosynkratisch anfühlen, sind sie eng mit kulturellen Bedeutungen verwoben (Mesquita et  al., 2016; Shweder, V

VI

Vorwort

2003). Das folgende Beispiel aus einem nordamerikanischen (christlichen) Selbsthilfebuch zur Überwindung von Scham mag dies verdeutlichen: „Scham berührt zwei widersprüchliche Instinkte. Einerseits führt sie zu Isolation und Verstecken, andererseits ist sie für eine Gemeinschaft unerläßlich. Das Verstecken überwiegt meist. Es ist der einfachere und natürlichere der beiden Triebe.“ (Nelson, 2016, S. 11, eigene Übersetzung). In gegenwärtigen nordamerikanischen (weißen, Mittelschichts-) Kontexten legen Menschen großen Wert auf Unabhängigkeit, persönliche Autonomie, Freiheit von der Beurteilung durch andere und ein positives Selbstwertgefühl (Heine et al., 1999; Kim et al., 2010; Markus & Kitayama, 1994). Scham untergräbt diese Werte: Ein Selbst, das sich unbeeinflusst von sozialem Urteil gut fühlen sollte, wird zum Objekt sozialer Kontrolle; ein Selbst, das nach Autonomie in Beziehungen strebt, wird, wenn es sozialen Erwartungen nicht gerecht wird, mit den schmerzhaften Konsequenzen konfrontiert. Es erscheint logisch, dass es als „natürliche“ Reaktion erscheint, sich vor diesen unangenehmen Konsequenzen zu verstecken; dies zeigt sich auch in den Bedeutungen, die Scham im nordamerikanischen Englisch angenommen hat (Boiger et al., 2013a). An Orten, an denen sich Selbst- und Beziehungsideale von den nordamerikanischen unterscheiden, kann Scham ganz andere moralische Konnotationen haben. Wo soziale Verbundenheit, gegenseitige Abhängigkeit und Anpassung im Vordergrund stehen, ist Scham eine geduldete Erfahrung – sei es im Sinne eines belgischen Strebens nach Egalitarismus, einer japanischen Sorge um die Wahrung des Gesichts oder eines türkischen Fokus auf Ehre (Boiger et al., 2013a, b, 2014). Scham wird in diesen Kulturen sowohl durch die Ökologie zwischenmenschlicher Interaktionen wie auch durch die vorhandenen kulturellen Produkte (z. B. die Bücher, die Eltern ihren Kindern vorlesen) befördert (Boiger et al., 2013a). In diesen Kontexten wird Scham als wertvolles Mittel zu Selbstverbesserung angesehen, welches dazu beiträgt, Beziehungen reibungslos und harmonisch zu gestalten. So zeigen Japaner*innen in zwischenmenschlichen Situationen keine Anzeichen von sogenannter „gedemütigter Wut“ – eine Erfahrung, die bei US-Amerikaner*innen dazu führt (unerträgliche) Scham in Wut umzuwandeln. Im japanischen Kontext ist Scham weder unerträglich noch muss sie transformiert werden (Kirchner et al., 2016). So ist es nicht verwunderlich, dass in Japan Schamgefühle dazu führen, sich als Teil der sozialen Gemeinschaft zu erleben, während sie in den USA vor allem als Bedrohung des Selbstwertgefühls wahrgenommen werden (Boiger et al., 2013b, 2016). Eine kulturelle Perspektive ist hilfreich, um zu verstehen, wie historische und gegenwärtige Vorstellungen von Scham aus kulturellen Bedeutungssystemen, Praktiken und Werten hervorgehen. Gleichzeitig kann eine kulturelle Perspektive auch den Blick darauf beschränken, wie die Welt früher war oder nun eben ist. An dieser Stelle macht das vorliegende Buch einen fantasievollen und gewagten Schritt nach vorn: Die Autor*innen beschreiben nicht nur die unterschiedlichen Arten, wie Scham in verschiedenen kulturellen Kontexten erlebt und beurteilt wird, sondern untersuchen auch, welche Rolle Scham als universelle Gesundheitsressource in der heutigen Welt spielen könnte. Damit füllen die Kapitel dieses Buches eine wichtige Lücke zwischen anthropologischen, soziologischen und kulturpsychologischen Darstellungen der Vielfalt von Schamgefühlen und dem pathologisierenden Diskurs

Vorwort

VII

über Scham als (unnötiges) Übel. In einer einzigartigen Sammlung, die von übergreifenden Theorien und lokalen Konstruktionen menschlicher Schamgefühle bis hin zu praktischen Leitlinien für einen konstruktiven Umgang mit Scham reicht, schlägt dieses Buch neue Antworten auf die Frage vor, ob Scham ein Kompass oder ein Käfig ist. Ausgehend von einer ressourcenorientierten Perspektive zeigen die Autor*innen dieses Bandes, wie Scham eine Ressource für persönliche und soziale Entwicklung darstellen kann: Wenn sie angemessen erkannt und nicht ausschließlich als Bedrohung des Selbstwertgefühls abgewehrt wird, kann Scham die eigenen moralischen Käfige aufdecken und gleichzeitig ein Wegweiser sein, um jene zu verlassen.

Literatur Allyn, D. (2004). I can’t believe I just did that: How embarrassment can wreak havoc in your life And what you can do to conquer it. Tarcher. Boiger, M., De Deyne, S., & Mesquita, B. (2013a). Emotions in “the world”: Cultural practices, products, and meanings of anger and shame in two individualist cultures. Frontiers in Psychology, 4, 1–14. Boiger, M., Mesquita, B., Uchida, Y., & Barrett, L. F. (2013b). Condoned or condemned: The situational affordance of anger and shame in the United States and Japan. Personality and Social Psychology Bulletin, 39, 540–553. Boiger, M., Güngör, D., Karasawa, M., & Mesquita, B. (2014). Defending honour, keeping face: Interpersonal affordances of anger and shame in Turkey and Japan. Cognition & Emotion, 28, 1255–1269. Boiger, M., Uchida, Y., Norasakkunkit, V., & Mesquita, B. (2016). Protecting autonomy, protecting relatedness: Appraisal patterns of daily anger and shame in the United States and Japan. Japanese Psychological Research, 58, 28–41. Cohen, D. (2003). The American national conversation about (everything but) shame. Social Research: An International Quarterly, 70, 1075–1108. Heine, S. J., Lehman, D. R., Markus, H. R., & Kitayama, S. (1999). Is there a universal need for positive self-regard? Psychological Review, 106, 766–794. Kim, Y.-H., Cohen, D., & Au, W.-T. (2010). The jury and abjury of my peers: The self in face and dignity cultures. Journal of Personality and Social Psychology, 98, 904–916. Kirchner, A., Boiger, M., Uchida, Y., Norasakkunkit, V., Verduyn, P., & Mesquita, B. (2016). Humiliated fury is not universal: The co-occurrence of anger and shame in the U.S. and Japan. Manuscript submitted for publication. Markus, H. R., & Kitayama, S. (1994). The cultural construction of self and emotion: Implications for social behavior. In S. Kitayama & H. R. Markus (Hrsg.), Emotion and culture: Empirical studies of mutual influence (S. 89–130). American Psychological Association. Mascolo, M. F., & Fischer, K. W. (1995). Developmental transformations in appraisals for pride, shame, and guilt. In J.  P. Tangney & K.  W. Fischer (Hrsg.),

VIII

Vorwort

Self-conscious emotions: The psychology of shame, guilt, embarrassment, and pride (S. 64–113). Guilford. Mesquita, B., Boiger, M., & De Leersnyder, J. (2016). The cultural construction of emotions. Current Opinion in Psychology, 8, 31–36. Nelson, H.  D. (2016). Unashamed: Healing our brokenness and finding freedom from shame. Crossway. Shweder, R. (2003). Toward a deep cultural psychology of shame. Social Research, 70, 1109–1130. Tangney, J. P. (1991). Moral affect: The good, the bad, and the ugly. Journal of Personality and Social Psychology, 61, 598–607. Tracy, J.  L., & Robins, R.  W. (2008). The automaticity of emotion recognition. Emotion, 8, 81–95. Michael Boiger  ist Dozent für Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität von Leuven, Leuven, Belgien. Die Erstellung dieses Manuskripts wurde durch ein Postdoc-Forschungsstipendium der Forschungsstiftung Flandern (FWO) an Michael Boiger unterstützt. Leuven, Belgien

Michael Boiger

Danksagung

Wir möchten den Autor*innen für ihre wertvollen Beiträge und ihre Bemühungen danken, die Forschungen zu Scham, Kultur und Gesundheit aus der Perspektive der Positiven Psychologie weiterzuentwickeln. Wir danken Stefanie Montag für ihre sorgfältige und engagierte Unterstützung bei der Übersetzung dieser Publikation.

IX

Inhaltsverzeichnis

1 E  ine Einführung in den Wert der Scham – Erkundung einer Ressource im Kontext von Gesundheit und Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . .   1 Elisabeth Vanderheiden und Claude-Hélène Mayer Teil I  Theoretische Perspektiven auf Scham und Kultur 2 S  cham! Eine systempsychodynamische Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . .  45 Michelle May 3 S  cham als funktionale und adaptive Emotion: Eine biopsychosoziale Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 Markus van Alphen Teil II  Kulturspezifische Perspektiven auf Scham 4 D  ie positive Funktion der Scham: Moralische und spirituelle Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  95 Thomas Ryan 5 lajjA in der indischen Psychologie: Spirituelle, soziale und literarische Perspektiven auf Scham. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Dharm P. S. Bhawuk 6 I ndividuelle und organisationale Strategien zur Überwindung von Scham in der südafrikanischen Arbeitswelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Claude-Hélène Mayer und Louise Tonelli 7 K  anada/Nordamerika: Scham im Zwischenfeld von indigener Kultur und kolonialistischer, konsumorientierter Einflüsse. . . . . . . . . . 169 Barbara Buch

XI

XII

Inhaltsverzeichnis

8 I ndigenes Australien: Scham und Respekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Sharon Louth 9 S  cham und Resilienz: Eine neuseeländische Untersuchung des resilienten Umgangs mit Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Samantha Brennan, Neville Robertson und Cate Curtis 10 V  on der Scham zur Schuld: Zur Überwindung von Mobbing in verschiedenen Kulturen und in den USA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Rebecca S. Merkin Teil III  Die Relevanz von Scham und Kultur für Therapie und Beratung 11 S  cham und Psychotherapie: Theorie, Methoden und Praxis. . . . . . . . . 271 Mrigaya Sinha 12 S  cham – „Eine seelenerfüllende Emotion“: Archetypen und Schattenarbeit in Gruppenprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Claude-Hélène Mayer

Herausgeberinnen und Beitragende

Über die Herausgeberinnen Elisabeth  Vanderheiden  ist Pädagogin, Theologin, interkulturelle Mediatorin, Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz und Bundesvorsitzende der Katholischen Erwachsenenbildung Deutschland. Sie hat Beiträge im Kontext der beruflichen Qualifizierung, insbesondere der Qualifizierung von Lehrkräften und Ausbildern, sowie zu aktuellen Themen der allgemeinen, beruflichen und politischen Bildung und interkulturellen Öffnungsprozesse veröffentlicht. Claude-Hélène  Mayer  Claude-Hélène Mayer ist Professorin für Arbeits- und ­Organisationspsychologie in der Abteilung für Arbeitspsychologie und Personalmanagement an der Universität Johannesburg, Südafrika. Sie ist ein Semester at Sea Alumni (SASFA22) und Vorstandsmitglied der International Academy of Intercultural Research (IAIR). Claude ist Mitherausgeberin von Frontiers in Psychology (Positive Psychologie) und des International Journal of Cross-Cultural Management. Sie hat einen Doktortitel in Psychologie, Management und Kulturanthropologie. Ihre Venia Legendi ist in Psychologie mit Schwerpunkt Arbeits-, Organisationsund Kulturpsychologie (Europa Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), Deutschland). Zu ihren Forschungsgebieten gehören transkulturelle psychische Gesundheit, Salutogenese, transkulturelles Konfliktmanagement und Mediation, Frauen in Führungspositionen, Scham und Liebe in verschiedenen Kulturen, die vierte ­ ­industrielle Revolution und Psychobiographie. Sie ist Preisträgerin des William B. Gudykunst Book Award 2023, der von der IAIR verliehen wird. Ihre Lehrgebiete sind interkulturelle Psychologie, psychische Gesundheit, Psychobiographie, Organisationstheorie, System- und Designdenken, Coaching, positive Psychologie, Organisationsverhalten und transkulturelles Konfliktmanagement und Mediation. Sie arbeitet als approbierte systemische Familientherapeutin (SG), Aufstellungsleiterin (KI), Mediatorin und Mediationsmoderatorin (BM 2001–2021), Hypnotherapeutin (TIM) und Coach in eigener Praxis. Seit 2005 ist sie als Beraterin für Führungskräfte und internationale Organisationen tätig. XIII

XIV

Herausgeberinnen und Beitragende

Mitwirkende Dharm  P.  S.  Bhawuk  (Ph.D., University of Illinois at Urbana-Champaign), ist Professor für Management und Kultur und Gemeindepsychologie an der University of Hawaii in Manoa. Er bringt die Erfahrung mit, in einem Entwicklungsland, nämlich Nepal, gelebt zu haben und aufgewachsen zu sein. Seine interkulturelle Reise begann mit einem einmonatigen Aufenthalt in einem internationalen Kinderlager in Artek, UdSSR, im Jahr 1972. Seine interdisziplinäre Ausbildung umfasst einen Bachelor of Technology (B.Tech., Honors) vom Indian Institute of Technology, Kharagpur, im Maschinenbau, einen Master of Business Administration (MBA) von der University of Hawaii in Manoa mit einem Stipendium des East-West Center, wo er bei Prof. Richard W.  Brislin im Bereich interkulturellen Trainings forschte, und einen Doktortitel in Arbeitswissenschaften mit Spezialisierung auf Human Resource Management und interkulturelle Psychologie unter der Leitung von Prof. Harry C. Triandis an der University of Illinois in Urbana-Champaign erhielt. Samantha Brennan  (Ph.D., B.Sc.(Hons I), B.Sc.) ist eine amerikanische Einwanderin, die seit 12 Jahren in Neuseeland lebt. Da sie die Auswirkungen von Scham als mächtig und potenziell schädlich empfand, machte sich Samantha auf den Weg, um Scham und Resilienz zu erforschen. Diese Forschung bildete schließlich die Grundlage für ihre Doktorarbeit, deren Ergebnisse auf Konferenzen in Neuseeland und Australien vorgestellt wurden. Samantha arbeitet aktuell als Psychologin im Praktikum bei Shine (Safer Homes in New Zealand Everyday, Inc.) und wendet ihre Forschungsergebnisse in der Arbeit mit Opfern und Täter*innen häuslicher Gewalt an. Barbara Buch  hat einen Master-Abschluss in Gesundheitspädagogik (Fakultät für Psychologie, Universität Flensburg, Deutschland) und einen Master-Abschluss in Biologie (Georg-August-­ Universität Göttingen, Deutschland). Sie bietet Workshops und Kurse zu gesundheitsbezogenen Themen an. Bevor sie sich der Gesundheitsförderung widmete, arbeitete sie jahrelang als Biologin vor allem im Naturschutz. Sie lebt mit ihrer Familie auf einer Farm in der kanadischen Wildnis und  forscht weiter zu den Themen Gesundheit, Natur und traditionelle Wege. E-Mail: barbara@salutogenesis-­shamanism.com, Homepage:www.salutogenesis-­ shamanism.com Cate Curtis  (Ph.D., BSocSc(Hons I), BA) wurde als Tochter niederländischer Einwanderer in Neuseeland geboren. Sie ist Dozentin für Psychologie an der University of Waikato, wo sie Sozialpsychologie lehrt. Aufbauend auf ihrer früheren Arbeit im Sozialdienstsektor liegen Cates Forschungsinteressen vor allem im Bereich der Jugend und des Wohlbefindens von Frauen. Sie hat über suizidales Verhalten, nicht-suizidale Selbstverletzungen, sexuellen Missbrauch, antisoziales Verhalten und die forensische Verwendung von DNA und Forschungsmethoden veröffentlicht. Derzeit erforscht sie Konstruktionen von Risiko und Resilienz bei jungen Frauen.

Herausgeberinnen und Beitragende

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Sharon Louth  schloss ihr Studium an der University of Queensland mit einem Bachelor of Human Movement Studies Education ab und unterrichtet seit über 20 Jahren Gesundheits- und Sportunterricht an Sekundarschulen und Colleges in Australien und im Vereinigten Königreich. An der University of Southern Queensland (USQ) erwarb sie einen Master-Abschluss in berufsbegleitendem Lernen und promovierte an der USQ über die Einbindung indigener Perspektiven, die Förderung von körperlicher Aktivität und Wohlbefinden, die Ermöglichung von Kooperation und Zusammenarbeit sowie die Stärkung der Selbstwirksamkeit bei Kindern und ihren Lehrer*innen. Die Verbesserung der Bildungsergebnisse von Kindern in Schulen durch die Bereitstellung von Bildungsinterventionsprogrammen, die Lehrer*innen helfen, soziodemografische Erfolgsbarrieren wie Rasse und Geschlecht zu überwinden, ist sowohl eine ihrer Stärken als auch eine Leidenschaft. Sie hat 2011 und 2012 den jährlichen VC’s Community Engagement Award an der USQ für ihre Arbeit mit den indigenen und sozioökonomisch schwachen Gemeinschaften im Fraser Coast District gewonnen. Zukünftige Richtungen ihrer Forschung beinhalten die Entwicklung von Lehrstrategien, die sowohl Lehrende als auch Lernende, sowohl persönlich als auch online, dabei unterstützen, bessere Bildungsergebnisse anzustreben und zu erreichen. Prof. Dr. Michelle May  (D Litt Et Phil, University of South Africa) ist Professorin an der Abteilung für Arbeits- und Organisationspsychologie der University of South Africa (UNISA). Sie ist eine zugelassene klinische Psychologin. Michelle erhielt eine umfassende Ausbildung im Bereich der Gruppenberatung, u. a. von der ISLA und dem Tavistock Institute (UK), und hat an verschiedenen Programmen dieser Art mitgewirkt – auf nationaler und internationaler Ebene. Sie gehörte zu dem Team, das die Robben Island Diversity Experience (RIDE) konzipiert und geplant hat, und war von 2000 bis 2014 als Direktorin, Leiterin der Schulungsgruppe und stellvertretende Direktorin tätig. Seit 2000 ist sie auch an den Workshops für Gruppenbeziehungen an der UNISA beteiligt. In den letzten 10 Jahren hat Michelle auch als Dozentin, Forscherin und Beraterin in verschiedenen Organisationen einen Beitrag zum Diversitätsmanagement in Südafrika gearbeitet. Zu ihren Beiträgen gehören Veröffentlichungen in anerkannten Fachzeitschriften, Buchkapitel sowie Vorträge auf nationalen und internationalen Konferenzen. Sie hat zahlreiche Workshops in den Bereichen Diversity Management und Führungsentwicklung für Organisationen im öffentlichen und privaten Sektor geleitet, beraten und konzipiert. Rebecca S. Merkin  (Ph.D., Kent State University) forscht in den Bereichen Kommunikation in Organisationen, interkulturelle Kommunikation, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Arbeitszufriedenheit und zu sozialen Interaktionsprozessen wie Impression Management, Identität und Facework-­Kommunikation. Sie hat Artikel in zahlreichen Fachzeitschriften veröffentlicht, darunter das Atlantic Journal of Communication, International Journal of Intercultural Communication Research, Journal of Behavioral and Applied Management, Journal of Intercultural Communication, Journal of International Women’s Studies und International Journal of Intercultural Relations. Professor Merkin hat außerdem Vorträge über Kommunikation

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Herausgeberinnen und Beitragende

auf Konferenzen der Academy of Management, der Eastern Communication Association, der National Communication Association, der International Communication Association und der International Academy of Intercultural Research gehalten. Neville Robertson  (Ph.D., MSocSc, BA, DipPsych(Com)) ist ein Pākehā schottischer Abstammung. Er ist Dozent für Psychologie an der University of Waikato, wo er Mitbegründer des Graduiertenprogramms für Gemeindepsychologie ist. Ein Großteil von Nevilles Forschung und beruflicher Arbeit konzentriert sich auf Gewalt in der Familie. Seit vielen Jahren leitet er Programme zur Beendigung von Gewalt, war in verschiedenen lokalen und nationalen Ausschüssen für Gewalt in der Familie tätig und hat Workshops und Seminare durchgeführt. Er verfügt über ein umfangreiches Portfolio an Forschungsarbeiten zum Thema Gewalt in der Familie, insbesondere Studien über institutionelle Reaktionen auf Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder. Weitere Aspekte von Nevilles Arbeit sind die Aufklärung über Antirassismus und den Vertrag von Waitangi sowie die Bewertung von Gesundheits- und Sozialdienstprogrammen. Neville ist ein eingetragener Gemeindepsychologe. Thomas  Ryan  ist ein katholischer Marienpriester, der in Brisbane, Australien, lebt. Er ist Ehrenmitglied der Fakultät für Theologie und Philosophie der Australian Catholic University und außerordentlicher Professor an der School of Philosophy and Theology der University of Notre Dame Australia. Neben Kapiteln in Büchern hat er zahlreiche Artikel in nationalen und internationalen theologischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Mrigaya Sinha  hat einen Doktortitel und einen M.Phil. in klinischer Psychologie vom NIMHANS erhalten, das von der indischen Regierung als Institut von nationaler Bedeutung für seine Beiträge zur Behandlung, Ausbildung und Forschung im Bereich der psychischen Gesundheit anerkannt ist. Seit 12 Jahren arbeitet sie mit Einzelpersonen und Paaren und hilft ihnen durch Beratung und Therapie, ihre psychische Gesundheit zu verbessern. Ihre Forschungsinteressen sind vielfältig und reichen von der Erforschung verschiedener Dimensionen der Schüchternheit bei Student*innen in Indien bis hin zur Erforschung psychosozialer Probleme bei Frauen, die sich einer Unfruchtbarkeitsbehandlung unterziehen. Sie unterrichtete und bildete Postgraduierte in Psychologie aus und setzt sich leidenschaftlich für die Ausbildung und den Aufbau von Kapazitäten im Bereich der psychischen Gesundheit ein. In jüngster Zeit engagiert sie sich für die Förderung von Telemental Health und die Ausweitung der psychosozialen Dienste auf abgelegene Gebiete, insbesondere auf dem indischen Subkontinent. Nach ihrem kürzlichen Umzug in die USA ist sie als Postdoc-Praktikantin an der Staunton Clinic in Pittsburgh, Pennsylvania, tätig und arbeitet auf ihre Zulassung als unabhängige klinische Psychologin hin. Kontakt: [email protected]

Herausgeberinnen und Beitragende

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Louise Tonelli  ist Arbeits- und Organisationspsychologin und Dozentin in der Abteilung für Arbeits- und Organisationspsychologie an der University of South Africa (UNISA), einer der größten Fernuniversitäten der Welt. Als Mitglied der Society of Industrial and Organizational Psychology of South Africa’s (SIOPSA) Interest Group in Systems Psychodynamics of Organizations (IGSPO) liegt ihr Forschungsinteresse in den unbewussten/bewussten Prozessen innerhalb von Individuen, Organisationen und der Gesellschaft als Ganzes. Markus van Alphen  wurde 1960 in Pretoria, Südafrika, geboren. Er erhielt seine Schulausbildung in Pretoria und zog später nach Kapstadt, wo er an der Universität von Kapstadt einen Abschluss in Elektrotechnik und Elektronik erwarb. Er arbeitete mehrere Jahre als beratender Elektroingenieur und Partner eines Ingenieurbüros, bevor er in die Niederlande zog. Sein Schwerpunkt verlagerte sich auf die Softwareentwicklung und von dort auf die menschliche Komponente, was ihn dazu veranlasste, einen Master in Klinischer Psychologie an der Universität Amsterdam zu absolvieren. Er lebt derzeit in Slowenien und arbeitet weltweit als Therapeut für Einzelpersonen, Paare und Familien mit Hilfe der Webcam-Technologie. Er ist Ausbilder, Dozent und Lehrplanentwickler für Psychologie- und Beratungsstudent*innen im Grund- und Aufbaustudium an verschiedenen Hochschulen und Universitäten in den Niederlanden. Er schreibt Lehrbücher im Bereich Psychologie für den niederländischen Verlag Boom und ist außerdem Mitautor bei verschiedenen Lehrbüchern. Als Restorative Practitioner arbeitet er sowohl in der Praxis, indem er zur Lösung von Vorfällen und zur Leitung des Konfliktlösungsprozesses hinzugezogen wird. Als Forscher ist er derzeit als Doktorand mit der Open Universiteit in Heerlen assoziiert, wo er die Entwicklung von Empathie auf verschiedenen Stufen der Ausbildung im Bereich der klinischen Psychologie untersucht.

Kapitel 1

Eine Einführung in den Wert der Scham – Erkundung einer Ressource im Kontext von Gesundheit und Kultur Elisabeth Vanderheiden und Claude-Hélène Mayer

1.1 Einleitung Wissenschaftler*innen diverser Disziplinen haben das Schamphänomen aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben, erforscht, untersucht und kommentiert, z. B. aus der Sicht der Psychologie, der Sozialwissenschaften, der Klinischen Soziologie, den Neurowissenschaften und anderer Disziplinen (Andrieux, 2012, S. 4). Nach einem Überblick von Werden (2015, S. 14–15) werden Scham und ihre Auswirkungen in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen typischerweise insbesondere in der Psychoanalyse (Freud, 1961/1933; Hilgers, 2013; Wurmser, 2010), Soziologie (Elias, 1976; Scheff & Retzinger, 1997; Marks, 2010, 2011), Psychologie (Lewis, 1971a, b, 1992, 2011; Tangney & Fischer, 1995; Tangney & Dearing, 2002), Philosophie (Deonna et al., 2012; Landweer, 1999), Ethnologie (Lotter, 2012), Anthropologie (Lietzmann, 2007) und Neurowissenschaft (Highfield et al., 2009; Mendez, 2009) erforscht. Im Rahmen dieser verschiedenen Disziplinen wurden sowohl quantitative als auch qualitative Studien durchgeführt und statistische Messverfahren für Scham entwickelt, wie z. B. die Internalized Shame Scale (ISS), die auf dem Trait-Ansatz basiert. Dieser konzentriert sich stärker auf die Messung für Schamanfälligkeit oder verinnerlichte Scham und weniger für die Wirkung der Scham, wie im technischen Handbuch der ISS beschrieben. Die Compass of Shame Scale (CoSS) misst die Verwendung der vier Schambewältigungsstile, nämlich Angriff auf sich selbst, Rückzug, Angriff auf andere und Vermeidung (Harper, 2011, S 5). Andere Skalen E. Vanderheiden (*) Katholische Erwachsenenbildung, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] C.-H. Mayer Department of Industrial Psychology and People Management, University of Johannesburg, Johannesburg, Südafrika © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 E. Vanderheiden, C.-H. Mayer (Hrsg.), Der Wert der Scham, https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3_1

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sind zum Beispiel die Adapted Shame and Guilt Scale (ASGS), die aus einer Reihe von adjektivischen Ausdrücken besteht, die als typische Scham- und Schuldwörter gelten, und das Self-Conscious Affect and Attribution Inventory (SCAAI), das eine Reihe von Szenarien präsentiert, von denen einige negativ und andere positiv konnotiert sind. Der Unterschied zwischen dem SCAAI und dem ASGS besteht darin, dass die Szenarien für das SCAAI von den Teilnehmer*innen verschiedener Forschungsstudien erstellt wurden, während dies beim ASGS nicht der Fall war (Harper, 2011, S. 7). Offensichtlich wurden die meisten dieser quantitativen Messinstrumente in westlichen Kontexten entwickelt, und einige reproduzierten das Scham-Schuld-Paradigma, das in den letzten Jahrzehnten seit Benedict (1946) im Rahmen der kulturellen Forschung über Scham gefördert wurde (siehe Bhawuk, Sinha, Louth, Brennan, Roberton und Curtis sowie Mayer in diesem Buch). Es wurden auch qualitative Forschungsarbeiten zum Thema Scham durchgeführt, die sich mit emischen Perspektiven und den Ursachen für Scham befassen. Wong und Tsai (2007) argumentieren jedoch, dass der Großteil der Forschung immer noch westlich orientiert ist und Scham nicht aus der Sicht emischer und kulturspezifischer Perspektiven zu betrachten wird. Sowohl Mason als auch Mayer et al. (2017) betonen, dass Scham in der Vergangenheit in der Kulturforschung oft übersehen oder nur oberflächlich erforscht worden ist. Dementsprechend muss Scham im Kontext des jeweiligen kulturellen Rahmens, bezüglich ihrer Auswirkungen auf soziale Rangordnungen und hinsichtlich ihrer Wirkung auf Identitätsziele verstanden werden. Neben dem oft dominierenden westlichen Diskurs über Scham, auch in anthropologischen und kulturwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen, betont Westermann die Notwendigkeit eines vertieften Ansatzes in der kulturspezifischen Forschung zu Scham. Die Bedeutung der Untersuchung von Scham in Bezug auf Kultur wird auch von Casimir und Schnegg (2002) unterstützt. Dieses Buch umfasst verschiedene Kapitel mit theoretischen Diskursen (May, van Alphen und Ryan), kulturspezifischen Erkenntnissen auf der Grundlage einer Literaturübersicht und -analyse, empirischen, quantitativen und qualitativen Studien (Bhawuk, Mayer und Ley, Buch, Louth, Brennan, Robertson und Curtis und Merkin) sowie Ausführungen zu praktischen Anwendungen in Therapie und Beratung (Sinha, van Alphen und Mayer). Alle diese Perspektiven tragen zum Gesamtziel des Buches bei, wie es im folgenden Abschnitt genauer erläutert wird.

1.1.1 Ziele Ziel dieses Buches ist es, empirische, forschungsbasierte und theoretische Perspektiven auf Scham in verschiedenen kulturellen Kontexten und aus unterschiedlichen soziokulturellen Perspektiven zusammenzufassen, um neue Einsichten und eine umfassendere kulturelle Basis für die zeitgenössische Forschung und Praxis im Kontext von Scham zu generieren. Es wird daher empfohlen, Scham nicht nur als eine intime und negativ erlebte Emotion zu betrachten (Brown, 2008, 2012; Freud, 1961/1933; Tangney & Dearing, 2002), sondern sie vielmehr aus der Perspektive

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der Positiven Psychologie zu erforschen und damit das positive Potenzial von Scham in ausgewählten Kontexten zu betonen, wie sie von Wurmser (2010), Deonna et al. (2012) oder Hilgers (2013) beschrieben werden. Scham wird also nicht auf ihre belastenden Aspekte und negativen kurz- und langfristigen Auswirkungen beschränkt, sondern im Hinblick auf ihre positiven Auswirkungen als potenzielle Gesundheitsressource untersucht. Ziel dieses einführenden Kapitels ist es, Scham, Kultur und Positive Psychologie zu definieren und die Wechselbeziehungen zwischen diesen Themen und Disziplinen in Bezug auf Scham zu untersuchen. Es schließt sich eine ausführliche Diskussion über Scham als potenzielle Gesundheitsressource in verschiedenen Kontexten an. Dieses Buch stellt interessierten Leser*innen theoretische Perspektiven von Scham und Kultur sowie kulturspezifische Wahrnehmungen von Scham vor und enthält ebenso Kapitel zur Berücksichtigung von Scham und Kultur in der therapeutischen und beratenden Praxis. In den verschiedenen Kapiteln wird Scham als ein kulturell eingebettetes Konzept und als eine Ressource diskutiert, die das persönliche und kollektive Wachstum von Individuen und kulturellen Gruppen unterstützen und dadurch psychische Gesundheit und Wohlbefinden schaffen kann. Traditionell wurde Scham vor allem in den Bereichen Psychoanalyse und Psychotherapie erforscht (Freud, 1961/1933). Die ersten Versuche, ein Verständnis von Scham als Ressource zu schaffen, wurden in der Psychologie unternommen, wie von Wurmser (2010) beschrieben. In diesem Buch konzentrieren sich die theoretischen Überlegungen auf die psychologische (siehe Sinha in diesem Buch) bzw. die psychosoziale Perspektive (vgl. May in diesem Buch). An die theoretischen Perspektiven schließen sich Beobachtungen aus ausgewählten kulturellen und nationalen Kontexten, wie Südafrika, Indien, Neuseeland, Australien und Nordamerika an.

1.1.2 Perspektiven Positiver Psychologie Emotionen haben sowohl im Leben eines Individuums als auch in kollektiven Gruppen eine wichtige Bedeutung (Lewis, 1992, 2011). Emotionen sind eng mit der Gesundheit und dem Wohlbefinden des/der Einzelnen verbunden. Darüber hinaus bilden Gesundheit und Funktionsfähigkeit im Sinne der körperlichen, geistigen und sozialen Fähigkeiten einer Person die Grundlage für die Lebensqualität und die Fähigkeit des Individuums, in einem bestimmten soziokulturellen Kontext optimal zu funktionieren. Gesundheit hängt von der individuellen Wahrnehmung, einschließlich der Emotionen, sowie von der Fähigkeit ab, gesundheitliche Herausforderungen und Stress handhaben zu können. Gesundheit ist also nicht nur ein physisches Phänomen, sondern ebenso ein wesentliches soziales und individuelles Konstrukt innerhalb eines bestimmten soziokulturellen Kontextes. Sie steht im Zusammenhang mit dem „subjektiven Wohlbefinden und dem gesundheitsorientierten Verhalten einer Person“ (Bengel et al., 2001, S. 15) und wird als Schutzfaktor gegen Traumareaktionen angesehen.

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Scham wurde als eine sehr komplexe und mächtige Emotion identifiziert und aus verschiedenen Blickwinkeln und im Kontext verschiedener gesundheitsbezogener Paradigmen erforscht. In diesem Buch wird argumentiert, dass ein Paradigmenwechsel in der Erforschung dieser Emotion notwendig ist, um Scham in einer gesunden und entwicklungsorientierten Weise zu nutzen, die zu einem gesunden Selbstbild beiträgt. Diesem Argument liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Gesundheitsforschung in den letzten Jahren einen großen Paradigmenwechsel vollzogen hat und Gesundheit selbst als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen“ definiert wurde. Da diese Definition auch die physischen und psychischen Dimensionen von Gesundheit umfasst, muss die Bedeutung von Emotionen als (kognitive) psychologische Konstrukte, als gesundheitsrelevante Konzepte berücksichtigt werden. Obwohl Gesundheit vor allem in westlichen medizinischen Diskursen oft noch rein aus der Perspektive der körperlichen Gesundheit betrachtet wird, konzentriert sich dieses Buch auf eine bestimmte Emotion, nämlich die Scham, als wichtigen psychologischen Faktor und potenzielle Gesundheitsressource, die in der Vergangenheit im Kontext der Gesundheitswissenschaften oft vernachlässigt, ignoriert oder gemieden wurde. Wissenschaftliche Ansätze zur Erforschung von Gesundheit und Wohlbefinden beziehen sich auf verschiedene Gesundheitsparadigmen, wie das biomedizinische, das salutogene und das fortigene Paradigma, die alle Teil des breiteren Rahmens der Positiven Psychologie sind. Auf diese drei Paradigmen wird in den folgenden Abschnitten Bezug genommen, und es wird erläutert, warum ein Paradigmenwechsel in der Forschung und in Bezug auf die Arbeit zum Thema Scham notwendig ist. Im Zusammenhang mit der Gestaltung eines gesunden Lebens werden seit langem verschiedene Risiko- und soziale Faktoren genannt, zu denen beispielsweise Bereiche wie Kultur, Bildung, Ernährung, Gesundheitsverhalten und Emotionen gehören. Die Gesundheit des Individuums und die Gesundheit von Gemeinschaften hängen von der kollektiven Fähigkeit ab, diese Gesundheitsfaktoren, einschließlich des persönlichen Lebensstils des/der Einzelnen, aktiv und konstruktiv zu gestalten. Das biomedizinische Paradigma wird in der Regel als traditionelles Konzept in der Gesundheitsforschung und -praxis bezeichnet, das wiederum auf dem Ansatz der Pathogenese beruht, der sich in erster Linie auf die Entstehung von Krankheiten konzentriert (z. B. Wells & Ashizawa, 2006). Innerhalb des biomedizinischen Paradigmas werden Begriffe wie „Krankheit“, „Störung“, „Morbidität“ und „Unwohlsein“ üblicherweise genutzt, um abnormale und oft negativ bewertete Gesundheitszustände zu definieren, die jedoch auf rein körperlichen Funktionsstörungen beruhen, die in der Regel mit spezifischen, belastenden Symptomen verbunden sind. Es wird also davon ausgegangen, dass Krankheit ausschließlich durch Abweichungen von der Norm in Form von körperlichen oder sogar psychischen Funktionsstörungen verursacht wird. In der Vergangenheit haben sowohl die Medizin als auch die Sozial- und Verhaltenswissenschaften die Gesundheit untersucht, indem sie sich auf Pathologien konzentrierten, d.  h. auf Gesundheitsprobleme im Zusammenhang mit Unglücklichsein, Unzufriedenheit, Not und Krankheit (Nelson & Simmons, 2003; für eine

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weitere Diskussion siehe Sinha, in diesem Buch). Traditionell wurde Scham vor allem aus einem pathologischen und biomedizinischen Forschungsparadigma he­ raus untersucht. Diese Modelle bieten jedoch keinen angemessenen Ansatz mehr für die Exploration der Scham im Zusammenhang mit Gesundheit oder Gesundheitsförderung. In den letzten Jahrzehnten hat sich hingegen der Rahmen der Positiven Psychologie zu einem wachsenden Interessensgebiet in der gesundheitsbezogenen Forschung entwickelt (Seligman & Csikszentmihalyi, 2000), einschließlich theoretischer Ansätze wie der Salutogenese, die die Entwicklung und Erhaltung von Gesundheit erforscht (Antonovsky, 1979, 1987), sowie die Fortigenese, die sich der Erforschung von Stärke und positiver Gesundheit widmet. Nach Seligman und Csikszentmihalyi (2000) sowie Sheldon und King (2001) ist die Positive Psychologie die wissenschaftliche Untersuchung der positiven, subjektiven menschlichen Stärken, Tugenden, Erfahrungen und Funktionen. Sie betont den Wandel von einer Funktion der Heilung zu einer Funktion des Aufbaus „positiver Qualitäten“ (Seligman & Csikszentmihalyi, 2000, S. 5). Dieser Perspektivenwechsel in den Gesundheitswissenschaften hat zu einem verstärkten Interesse sowohl hinsichtlich der Messbarkeit als auch der Indikatorik für die Verbesserung von Gesundheit geführt. Scham als eine intime, oft negativ erlebte Emotion wird nur selten mit Gesundheitskonzepten in Verbindung gebracht, die sich aus der Positiven Psychologie entwickeln lassen. Erst in der jüngsten Forschung und Praxis hat sich der Fokus auf diese besondere Perspektive verlagert. Diese Verschiebung von der Betrachtung der Scham als bloßes Konstrukt des pathogenen und biomedizinischen Paradigmas zur Betrachtung im Rahmen der Positiven Psychologie wird im folgenden Abschnitt beschrieben.

1.1.3 Von pathologischen hin zu gesundheitsbezogenen Schamkonzepten Aus verschiedenen interdisziplinären und kulturellen Perspektiven wird Scham häufig mit Psychopathologie und psychopathologischen Konzepten assoziiert (Gilbert et al., 2004; Jaffe et al., 2014). So wurde sie häufig zu Phänomenen wie Sucht (O’Connor et al., 1994), Narzissmus (Morrison, 1989), Depression (Andrews et al., 2002), Neurose (Lewis, 1971a, b), externer oder sozialer Angst (Li et al., 2003) oder anderen immunbezogenen Problemen (Mills, 2005) in Beziehung gesetzt. Darüber hinaus haben Untersuchungen (Qian et al., 2001) gezeigt, dass Scham mit Gefühlen intensiver Selbstverleugnung, einer Abhängigkeit von externer Bewertung, Gefühlen von Wertlosigkeit und Machtlosigkeit verbunden ist und zu Verhaltensweisen wie dem Verbergen von Mängeln und dem Rückgriff auf Fluchtmechanismen in schwierigen Situationen führt. In der Literatur wird Scham als eine Art negativer Emotion beschrieben, die häufig mit negativer Introspektion und Selbsteinschätzung einhergeht (Qian et al.,

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2001). Der Neigung zu Schamgefühlen wird eine wichtige Rolle in der Psychopathologie (Lewis, 1971a, b) sowie hinsichtlich der körperlichen Gesundheit zugeschrieben, und es wurden verschiedene meta-analytische Studien über Scham und depressive Symptome durchgeführt. Scham wurde zudem als eine affektive Komponente des subjektiven Wohlbefindens mit negativem Affekt eingestuft. Aus psychopathologischer Sicht greifen Menschen als Reaktion auf Scham oft auf verschiedene Verhaltensweisen zurück, wie hypersexuelles Verhalten, Essstörungen, Rückzug in Beziehungen und sogar Angriffe auf andere oder sich selbst (Hilgers, 2013; Wurmser, 2010). Eine Studie von Mosquera et al. (1995) ergab, dass die Erfahrung von Scham bei ehrenorientierten Teilnehmer*innen zu einer verbalen Missbilligung des Verhaltens von Täter*innen und bei nicht ehrenorientierten Teilnehmer*innen zu einem Rückzug führte, um das soziale Image zu schützen. Nach Scheff (2013) ist Scham auch mit Gefühlen der Ablehnung verbunden, und in der Forschung über Scham werden häufig Themen wie Angst vor Ablehnung, Respektlosigkeit, Stigmatisierung, Ehrenkulturen und Rache hervorgehoben, da Scham in vielen Kulturen ein Tabuthema ist. Scham ist konstitutiv und wurde als „die lähmende Last von tausend erbarmungslosen Augen“ beschrieben (Wurmser, 2015, S.  165). Darüber hinaus führt Scham als Emotion zu einer Infragestellung des Selbst im Kontext des eigenen Selbstverständnisses und im Blick auf Andere. Nach Tracy und Robins (2004) wird Scham als eine wichtige intime Emotion beschrieben, die die negative Bewertung des Selbst im Kontext der Anderen beinhaltet. Aus einer psychoanalytischen Per­ spektive identifiziert Wurmser (2015) zwei relevante Aspekte der Scham. In Bezug auf diese beiden Punkte hebt er Folgendes hervor: „Scham ist zunächst einmal die Angst vor der Schande. Es ist die Angst, die man hat, wenn man befürchtet, mit Verachtung angesehen zu werden, weil man sich entehrt hat  – eine drohende Gefahr: „Ich fürchte, dass eine Entlarvung und damit eine schreckliche Demütigung bevorsteht“. Zweitens ist es das Gefühl, das empfunden wird, wenn man verächtlich angeschaut wird – das befürchtete Ereignis ist eingetreten. In seiner zweiten Form ist es der Affekt der Verachtung, der sich gegen einen selbst richtet – von anderen oder vom eigenen Gewissen“ (Wurmser, 2015, S. 6, übersetzt von den Autorinnen).

Aus dieser Perspektive wird Scham im Zusammenhang mit Entehrung, Angst und Verachtung eines Individuums durch das kollektive Gewissen gesehen. In Verbindung mit Scham, die in den Kontext von Angst und anderen negativ bewerteten Konzepten eingeordnet wird, scheint Scham jedoch auch ein schützendes Element zu enthalten, das eine gemeinsame menschliche Eigenschaft ist. So kann Scham auch in den Zusammenhang mit Respekt gestellt werden, wie im folgenden Zitat beschrieben: „Drittens ist Scham fast das Gegenteil des zweiten Konzepts, wie in: „Kennst du denn keine Scham?“ Sie ist eine allgemeine Charaktereigenschaft, die eine schändliche Entblößung verhindert, ein Schutzschild der Menschlichkeit und Höflichkeit. Es ist eine Haltung des Respekts gegenüber anderen und sich selbst, eine Haltung der Ehrfurcht … Diese dritte Form der Scham als Haltung, als Reaktionsbildung, kann als ein sehr viel allgemeinerer Schutzmechanismus gegen weit verbreitete Ausdrucks- und Wahrnehmungswünsche angesehen werden, der die Privatsphäre und Intimität des Selbst bewahrt. Daher ist es zutiefst

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beschämend, wenn die eigene Identität, die eigenen Bedürfnisse, der eigene Wille und das eigene Urteilsvermögen missachtet werden“ (Wurmser, 2015, S. 7, übersetzt von den Autorinnen).

Was diese dritte Dimension der Scham betrifft, so kann sie als eine schützende Haltung betrachtet werden, die die Privatsphäre und Intimität des Selbst bewahrt und dadurch den Ausdruck und die Wahrnehmung von Wünschen ausgleicht. Auf diese Weise fungiert Scham als Grenzmarkierung, als identitätsstiftendes Konzept (Mascolo & Fischer, 1985), das sich in erster Linie auf das Selbst bezieht, aber in den umgebenden kulturellen Rahmen und die sozialen Ränge eingebettet ist (Clark & Nicols, 2016). Aus einer klinischen, organisatorischen und beratenden Perspektive hebt Andrieux (2012) die herausfordernden Aspekte der Scham hervor und verankert das Konzept im „Selbst“ und im „Anderen“, da das Individuum als unzureichend angesehen wird und nicht in der Lage ist, in den Augen der anderen ein positives Bild zu schaffen. Andrieux bezeichnet Scham als eine universelle Emotion, die sich auf alle Lebensbereiche auswirkt, d. h. auf den Körper, die Sexualität, die Moral, das soziale Leben und die Identität sowohl in ihren persönlichen als auch in ihren sozialen Aspekten (Andrieux, 2012, S. 4). Sie kommt zu dem Schluss, dass Scham ein schmerzhaftes, intensives und ganzheitliches Konzept ist, das oft als Belastung und als ein hauptsächlich negativ konnotiertes Gefühl erlebt wird. Zu den Reaktionen auf Scham gehören in erster Linie Vermeidung und Überkompensation, Konkurrenz oder Selbstbezogenheit. Gleichzeitig weisen Scham und Schamreaktionen typischerweise körperliche Marker und Ausdrucksformen auf, wie nachstehend beschrieben. Angesichts der Allgegenwart von Scham als körperlicher, emotionaler und sozialer Realität deuten Studien verschiedener Disziplinen darauf hin, dass es „etwas furchtbar Wichtiges in der Scham gibt – es ist menschlich, sich zu schämen und dies in der richtigen Weise zu tun“ (Ryan, 2023, in diesem Buch). Alle Menschen erröten. Wenn der Würgereflex eine instinktive Funktion ist, die die Spezies davor bewahrt, sich selbst zu vergiften, warum dann nicht auch die Scham? Ihre angeborene Funktion in unserem Körper und ihre organisierende Wirkung auf soziale Beziehungen legen nahe, dass wir von Natur aus soziale Wesen sind (Ryan, 2023, in diesem Buch). Natürlich, so räumt Ryan (2023) ein, „können wir kulturelle Unterschiede oder das Risiko, ein westliches Modell des Affekts zu fördern, nicht außer Acht lassen. Essentialistische oder ethnozentrische Epitheta liegen in der Luft“ (Ryan, 2023; Buch, 2023) Probyn und Aquinas (Ryan, 2023, in diesem Buch) stimmen darin überein, dass das „Erröten des Körper ein bedeutsames Signal ist“. Der Körper ist ein Ausdruck der ganzen Person, nicht nur räumlich, psychologisch und sozial, sondern auch moralisch. Es existiert eine Konvergenz zwischen Scham, Werten und Wohlbefinden, gleichermaßen persönlich als auch sozial. Gerald Coleman bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Da unsere Fähigkeit, zu wissen, was wir fühlen, und diese Gefühle zu erleben, in der Körpererfahrung verwurzelt ist, bedeutet die Ambivalenz gegenüber unserem Körper oder die Entfremdung von ihm, dass wir uns von uns selbst entfremden“ (Ryan, 2023, in diesem Buch). Die Tatsache, dass Scham vor allem in äußeren – und nicht leicht manipulierbaren  – Merkmalen zum Ausdruck kommt, könnte ein wichtiger Grund dafür sein,

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dass Scham in der Regel negativ konnotiert ist (Lewis, 1992, 2011). Die Forschung hat sich vielfach auf Scham im Zusammenhang mit ihrem körperlichen Ausdruck konzentriert. Bereits Darwin (1872), der englische Naturforscher und Geologe des 19. Jahrhunderts, betrachtete das Erröten als eine Eigenschaft, die den Menschen von anderen Tieren unterscheidet. Er bezeichnete das Erröten als „die eigentümlichste und menschlichste aller Äußerungen“ (Darwin, 1872, S. 328) und verstand das Erröten damit aus einem universalistischen Blickwinkel. Darwin definierte Erröten zudem als „nicht allzu manipulierbar“ (Darwin, 1872, S. 328). In der Tradition dieses Arguments betonte der amerikanische Kinderarzt und Psychiater Michael Lewis, dass sich Scham in körperlichen Symptomen wie „einem Schrumpfen des Körpers, als wolle man vor den Augen des Selbst oder des Anderen verschwinden“ äußert. Darüber hinaus beschreibt Tomkins (2008, S. 352) äußere Symptome wie das Senken der Augen, der Augenlider oder des Kopfes und manchmal sogar das Absenken des gesamten Oberkörpers. Kaufman (1989) hebt das Starren auf den Boden und das Abwenden des Blickkontakts als weitere nonverbale Schamindikatoren hervor. Greiner (2014) stellt die körperlichen Aspekte der Scham in einen größeren Zusammenhang, indem er feststellt: „Scham ist also ein unwillkürlicher Reflex und hat mit der Fähigkeit zu tun, sich als moralisches Subjekt wahrzunehmen. Die Scham entspringt jedoch nicht einem Willensakt, sie ist nicht das Ergebnis einer ausgewogenen, rational begleiteten Selbstkritik, sondern ist ein plötzliches und gewaltsames Ergebnis, das sich meiner Macht entzieht und tief in meine Seele eindringt. Dies manifestiert sich zum Beispiel im Erröten“ (Greiner, 2014, S.  24; übersetzt von den Autorinnen).

Da Scham häufig noch im Rahmen eines pathologischen Paradigmas erforscht wird, werden die damit verbundenen Konzepte, d. h. die körperlichen Erfahrungen, die mit Scham einhergehen, gemeinhin als negative Erfahrungen beschrieben. Gleichzeitig wird Scham häufig mit anderen ähnlichen Konzepten wie Peinlichkeit und Schuld verwechselt, die oft mit Scham assoziiert, in Verbindung gebracht und voneinander abgegrenzt werden, wobei diese Begriffe ebenfalls als wichtige emotionale und psychologische Konstrukte betrachtet werden müssen, die gleichermaßen in den Bereichen verschiedener Gesundheitsparadigmen und -rahmen angesiedelt sind.

1.2 Scham, Verlegenheit und Schuldgefühle im Kontext von Gesundheitsparadigmen 1.2.1 Der Ursprung des Schambegriffes Der Ursprung des Wortes Scham gilt als nicht vollständig geklärt. Es lässt sich jedoch auf die altenglischen Ausdrücke „sc(e)amu (Substantiv) und sc(e)amian ‚Scham empfinden‘“ zurückführen. Es ist germanischen Ursprungs und verwandt

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mit dem niederländischen Wort schamen (Verb) und den deutschen Ausdrücken Scham (Substantiv) und schämen (Verb) (Oxford Dictionary, 2016). Einige Nachschlagewerke führen die Wurzel des Wortes aus etymologischer Sicht auf das indoeuropäische Wort „skam“ und sogar auf die vor-teutonische Wurzel „skem“ zurück, die beide „bedecken“ oder „sich bedecken“ bedeuten (Harper, 2011, S. 1 und Buch, in diesem Buch).

1.2.2 Scham und Peinlichkeit Obwohl einige Forscher*innen die Ansicht vertreten, dass es im Grunde keinen Unterschied zwischen Scham und Peinlichkeit gibt (Kaufman, 1989; Lewis, 1971a, b in Robbins & Parlavecchio, 2006, S. 330), definieren viele andere den Aspekt der Öffentlichkeit als einen wesentlichen Unterschied zwischen Scham und Peinlichkeit. Diese Perspektive unterstreicht die Tatsache, dass Scham mit dem Verstoß gegen Normen und Werte verbunden ist, mit denen sich die betroffene Person persönlich identifiziert. Peinlichkeit hingegen bedeutet, dass nur allgemein akzeptierte Verhaltensregeln verletzt werden (Döring, 2015, S. 35). Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte stellt der Soziologe Elias (1939, 1978) fest, dass Scham und verwandte Begriffe wie Verlegenheit und Demütigung in modernen Gesellschaften vorherrschende Gefühle sind. Zugleich scheinen sie ein Tabuthema zu sein. Scheff & Retzinger, (1997) betrachten Demütigung als eine Variante der Scham. Sie empfehlen eine umfassendere Definition und wenden sich gegen die Vorstellung, dass es bei Scham ausschließlich um eine schwere Krise, Unehre oder den Verlust der Ehre geht. Nach Scheff und Retzinger (1997) ist Scham in der Regel nicht auf Krisen zurückzuführen und schließt nicht implizit Ehrverlust ein, sondern eher Verlegenheit. Die von diesen Autor*innen vorgeschlagene weiter gefasste Schamdefinition betrachtet Scham als ein Kontinuum der Schamintensität, das zwischen alltäglichen, weniger intensiven, kurzlebigen Schamgefühlen wie Unbehagen und der Art von Scham, die schmerzhaft und dauerhaft ist, liegt. Sie führt in der Regel zu allgemeiner Empörung und stellt einen Typus dar, der als entehrende oder demütigende Scham bezeichnet werden kann. Scheff und Retzinger (1997) schlagen vor, dass ein erster Schritt in Richtung einer wissenschaftlichen Definition von Scham darin bestehen könnte, Scham als Sammelbegriff für eine große Familie von Emotionen zu verwenden, die auftreten, wenn ein Individuum sich selbst durch die Augen eines anderen negativ, wenn auch nur leicht negativ, bewertet, oder auch nur die Erwartung einer solchen Reaktion vor Augen hat. Ein solcher Schritt würde sowohl weniger intensive Formen der Scham als auch intensivere Formen umfassen. Diese würden auch Peinlichkeit und Schuld einschließen und zu einem besseren Verständnis der Scham als kontextualisiertes Konzept führt, wie im folgenden Abschnitt näher erläutert wird. Autor*innen wie Miller und Tangney (1994) weisen darauf hin, dass die Dimension der Intensität der wichtigste Unterschied zwischen Scham und Peinlichkeit ist.

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Robbins und Parlavecchio (2006) heben mehrere Unterscheidungsmerkmale zwischen Scham und Peinlichkeit hervor, beziehen sich aber auf diese beiden Konzepte im Kontext der allgemeinen Pathologie: „Scham wurde als intensiver und dauerhafter empfunden, galt als unmoralischer und führte zu Gefühlen wie Ekel und Wut auf sich selbst, während peinliche Situationen als überraschender empfunden wurden, sich auf relativ trivialere Ereignisse bezogen und eher mit humorvollen Gefühlen verbunden waren“ (Robbins & Parlavecchio, 2006, S.  300–332, übersetzt von den Autorinnen).

Unter Bezugnahme auf Tangney et al. (1996) heben die beiden Psycholog*innen Robbins und Palarvecchio einige zusätzliche Unterschiede zwischen Scham und Verlegenheit hervor, die der Unterscheidung zwischen Scham und Schuld nicht unähnlich sind, indem sie betonen, dass Verlegenheit häufiger vor einem größeren Publikum auftritt, bei dem es sich entweder um Bekannte, Fremde oder Gleichgestellte handelt (Robbins & Parlavecchio, 2006, S.  330). Dabei wird als weniger wahrscheinlich angenommen, dass Verlegenheit zu Reaktionen wie der Übernahme von Verantwortung für Wiedergutmachung, der Sorge um die negative Bewertung durch andere oder dem Versuch, sich zu verstecken, führt, und sie kann sogar als überraschend, zufällig und amüsant erlebt werden (Robbins & Parlavecchio, 2006, S. 331). Im Gegensatz zu Schuldgefühlen wird Scham eher mit dem unmittelbaren emotionalen Umfeld in Verbindung gebracht. Viele Forscher*innen betrachten Scham als weniger negativ, flüchtiger und eher mit physiologischen Reaktionen wie Erröten verbunden, da sie ihrer Auffassung gemäß weniger moralische Implikationen aufweist (Robbins & Parlavecchio, 2006, S. 330). Für Michael Lewis ist Peinlichkeit nur ein Element der „vier selbstbewussten Emotionen“ (Lewis, 2011, S. 2). Diese selbstbewussten Emotionen, d. h. Scham, Schuld, Verlegenheit und Stolz, werden als Emotionen definiert, die direkt mit unserem Selbstgefühl und unserem Bewusstsein bezüglich der Reaktionen anderer auf uns zusammenhängen. Lewis zufolge entsteht Verlegenheit als komplexe Emotion zum ersten Mal, wenn die Selbstwahrnehmung eines Kindes beginnt, sich auf die Idee des „Ich“ zu konzentrieren (Lewis, 2011, S. 2), und zwar aufgrund der Tatsache, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt begreift, dass es das Objekt der Aufmerksamkeit anderer ist. Die Aufmerksamkeit der anderen wirkt als Auslöser für Verlegenheit. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht bevorzugt Döring (2015) einen anderen Ansatz und bringt mehrere neue Elemente in die Debatte über Peinlichkeit ein. Ausgehend von ihrer Forschung zu Junggesellenabschieden bezeichnet sie Peinlichkeit vor allem als kommunikatives Phänomen. Sie ist der Ansicht, dass zwischen der externen und der internen Ereignisebene unterschieden werden sollte. Ihre Theorie beinhaltet drei Hauptelemente der Peinlichkeit, nämlich die Selbstentblößung, die Diskrepanz zum Selbstbild und das Bewusstsein der Entblößung (Döring, 2015, s. 227). Darüber hinaus schlägt sie vor, dass Peinlichkeit mit einer bewussten Inszenierung, einer absichtlichen Verursachung von Feierlichkeiten verbunden sein kann (Döring, 2015, S. 220–221).

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1.2.3 Scham- und Schuldgefühle Korczak (2013, S. 11–39) zufolge war die Abgrenzung zwischen Scham und Schuld bereits in der Antike Gegenstand philosophischer Diskurse. Diese Debatte hat jedoch im letzten Jahrhundert an Dynamik gewonnen. Parallel zu den Diskursen über Scham und Peinlichkeit, einschließlich ihrer verschiedenen Unterscheidungen und Gemeinsamkeiten, haben Tangney und Dearing (2002) verschiedene empirische Studien zu den dichotomen Konzepten von Scham und Schuld durchgeführt und stehen damit in der Tradition von Benedict (1946). Sie stellen die Scham, die sie als destruktive und lähmende Emotion definieren (da sie lähmend wirken und zum Rückzug des Individuums aus der Gesellschaft führen kann), der Schuld gegenüber, die aus ihrer Sicht positiver ist, da sie viel stärker mit dem Bedürfnis nach Wiedergutmachung, Kompensation oder guten Absichten verbunden ist. Sie sehen Schuld in einem positiven Licht, da sie auf positive Weise zu einer erfolgreichen menschlichen Interaktion beitragen kann, während Scham, insbesondere wenn sie zu einer Bestrafung führt, katastrophale Folgen für die Entwicklung eines Kindes haben kann (Tangney & Dearing, 2002). In seinen Überlegungen konzentriert sich Sigmund Freud in erster Linie auf die Schuld und weniger auf die Scham, die er als stark mit der Sexualität verbunden ansah. Nach Freud setzt sich das Ich-Ideal aus idealen Vorstellungen, grandiosen Phantasien und elterlichen Vorstellungen zusammen, und Scham tritt auf, wenn Menschen wahrnehmen, dass sie ihrem Ich-Ideal nicht nahe gekommen sind. Schuld definiert er als Spannung, die aus der Überschreitung der Grenze des Über-Ichs resultiert (Freud, 1930, S. 496 in Werden, 2015, S. 50). Als wesentlichen Unterschied zwischen Scham und Schuld beschreibt Freud, dass Schuld auf verinnerlichten Werten beruht, im Gegensatz zu Scham, die auf Missbilligung von Außen, d. h. von einer anderen Person, basiert. In Anlehnung an Freuds Definitionen entwickelten Piers und Singer (1971) in den 1950er-Jahren ihre besondere Sichtweise des Gegensatzes zwischen Scham und Schuld. In Anlehnung an Freuds Definition der Verbindung von Schuld mit dem Über-Ich definierte Piers Schuld ebenfalls als eine negative Emotion und bezog sich dabei auf die „schmerzhafte innere Spannung, die erzeugt wird, wenn die vom Über-Ich errichtete, emotional hoch aufgeladene Barriere berührt oder überschritten wird“ (Piers & Singer, 1971, S. 16). Im Gegensatz zu Freud beschreibt Piers die Scham jedoch als Ausdruck einer Spannung zwischen dem Ich und dem Über-Ich. Für Piers sind sowohl Scham als auch Schuld intrapersonale Spannungen, aber während Schuld als Konflikt zwischen dem Ich und dem Über-Ich erklärt wird, resultiert Scham aus einem Konflikt zwischen dem Ich und dem Ich-Ideal (Werden, 2015, S. 69). Darüber hinaus besteht aus Piers’ Sicht der Hauptunterschied zwischen Scham und Schuld darin, dass Schuld mit Übertretungen verbunden ist, während Scham mit unerreichten Zielen und dem Nichterfüllen von Erwartungen zu tun hat (Werden, 2015, S. 69). Piers stellte eine primäre Gemeinsamkeit zwischen Scham und Schuld fest  – beide ermöglichen die individuelle soziale Anpassung, da beide als äußerst wichtige

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Mechanismen zur Gewährleistung der Sozialisierung des Individuums angesehen werden können (Piers & Singer, 1971, S. 53). Helen Block Lewis stimmt mit dem Ansatz von Piers und Singer überein, zieht aber eine andere Perspektive vor – ihr Hauptaugenmerk liegt auf dem Objekt von Scham und Schuld. Aufbauend auf Piers’ Ansatz schlägt Block Lewis daher eine stärkere Beziehung zwischen dem Über-Ich und dem Ich-Ideal vor: „Das „Schuldgefühl“ und das „Ich-Ideal“ sind zwei Kategorien von Einstellungen, die gemeinhin als Inhalt dessen beschrieben werden, was als Ergebnis der Identifikation verinnerlicht wird, und die das Über-Ich bilden“ (Lewis, 1971a, b, S. 21, übersetzt von den Autor*innen).

Als Hauptunterschied zwischen Scham und Schuld definiert Block Lewis den Fokus von Schuld- oder Schamerfahrungen genauer. Sie betont die Bedeutung des Selbstkonzepts und grenzt Scham von Schuld ab. Während sich Scham auf das Selbst als zentrales Objekt, aber gleichzeitig auf das Selbst als Subjekt der Schamerfahrung konzentriert, bezieht sich Schuld nur auf eine einzelne ausgeführte oder nicht ausgeführte Handlung (Lewis, 1971a, b, S. 30). Dieser Ansatz wurde später von Tangney und Dearing wie folgt formuliert: „„Ich habe etwas Schreckliches getan“ (Scham) gegenüber dem Verhalten „Ich habe etwas Schreckliches getan“ (Schuld)“ (Tangney & Dearing, 2002, S. 18, übersetzt von den Autor*innen).

Im Gegensatz zu Freud, Piers und Singer versteht Block Lewis die Scham viel stärker als Ressource: Das Über-Ich wird nicht nur als einschränkende Instanz gesehen, sondern als ein Regulativ, aus dem sowohl einschränkende als auch stärkende und ermutigende Impulse hervorgehen. Michael Lewis stimmt mit einigen der Definitionen von Block Lewis überein, fügt jedoch seinen eigenen spezifischen entwicklungspsychologischen Ansatz hinzu, indem er sowohl Scham als auch Schuld als selbstbewusste Emotionen definiert, die in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres auftreten, wenn die Entstehung des Selbstbewusstseins Emotionen wie Verlegenheit, Empathie und Eifersucht hervorruft (Lewis, 2011, S.  1). Lewis fasst dies wie folgt in einem kognitiv-­ attributiven Modell zusammen (Lewis, 2011, S. 1) (Tab. 1.1). Lewis stuft Scham im Sinne dieses Modells als eine überwiegend negative und schmerzhafte Emotion ein. Er betont den Zusammenhang zwischen der Bewertung des eigenen Handelns in Bezug auf die eigenen SRGs (standards, rules and goals, also Normen, Regeln und Ziele) und der globalen Bewertung des Selbst. Das Schamgefühl erzeugt den Wunsch, sich zu verstecken, zu verschwinden oder zu sterben. Im Gegensatz zu Schuldgefühlen wird Scham nicht durch eine bestimmte Situation herTab. 1.1  Michael Lewis – Kognitiv-attributives Modell. (Lewis, 2011, S. 65) A. Normen und Regeln Erfolg Hybris Stolz

B. Bewertung Versagen Scham Schuld/Reue

C. Zuschreibung von Selbst Global Spezifisch

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vorgerufen, sondern durch die persönliche Interpretation eines Ereignisses durch eine Person (Lewis, 2011, S. 2). Darüber hinaus entsteht Schuld, wenn ein bestimmtes Verhalten als Misserfolg bewertet wird, wobei der Schwerpunkt jedoch auf den spezifischen Merkmalen des Selbst oder auf einer bestimmten Handlung liegt, die zu dem Misserfolg geführt hat. Im Gegensatz dazu entsteht Scham, wenn das globale Selbst, d. h. das Individuum, sich auf die nachfolgenden Handlungen und Verhaltensweisen des Selbst konzentriert, die das Versagen wahrscheinlich wiedergutmachen. Da sich dieser kognitiv-attributive Prozess auf die Handlung des Selbst und nicht auf die Gesamtheit des Selbst konzentriert, ist das entstehende Gefühl, nämlich Schuld, nicht so intensiv negativ wie Scham und führt nicht zu Verwirrung (Lewis, 2011, S. 2). Lewis entwickelt eine vollständige Phänomenologie von Scham und Schuld, die im Folgenden skizziert wird (Tab. 1.2). Tab. 1.2  Zusammenfassung der Scham-Schuld-Phänomenologie. (Lewis, 113 in Anhängen, 45) Scham-Schuld-Phänomenologie Stimulus Enttäuschung, Niederlage oder moralische Übertretung Mangel an Selbstbewusstsein

Bewusster Inhalt

Unfreiwillig; selbstunfähig, wie bei unerwiderter Liebe Begegnung mit dem „Anderen“ oder mit dem eigenen Ich Schmerzhafte Emotion Autonome Reaktionen: Wut, Erröten, Tränen Globale Merkmale des Selbst

Moralische Übertretung Ereignis, Sache, für die man selbst verantwortlich ist Freiwillig; selbstbestimmt Im Inneren des Selbst Affekt kann vorhanden sein oder nicht Autonome Reaktionen weniger ausgeprägt Spezifische Aktivitäten zur Selbsthilfe Keine Gedanken zur Identität

Gedanken zur Identität; „inneres Theater“ Position der eigenen Selbst passiv Selbst aktiv Person im Feld Selbstfokussierung im Selbstsüchtig in Aktion oder Bewusstsein Gedanken Selbstbildnis und Bewusstsein; Selbstständig, lautlos arbeitend multiple Funktionen des Selbst stellvertretende Erfahrung der Mitleid; Sorge um das negativen Selbsteinschätzung Wohlergehen durch andere Art und Ausmaß der Gedemütigte Wut Gerechte Empörung Feindseligkeit Entladung blockiert durch Entladung auf sich selbst und Schuldgefühle und/oder Liebe andere zum „Anderen“ Charakteristische Depression; Hysterie Zwanghaft; paranoide Denkstörung Symptome ‚Affektstörung‘ Varianten der Scham: Demütigung, Verlegenheit, Peinlichkeit, Schüchternheit Schuld-Varianten: Verantwortung, Verpflichtung, Fehler, Schuldzuweisung

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Tangney und Dearings (2002) spezifischer Ansatz für Scham und Schuld konzentriert sich auf die Bedeutung, die sie den zwischenmenschlichen Beziehungen beimessen, sowie auf die Tatsache, dass sie den Aspekt der moralischen Emotionen einschließen, die sie als zentrale moralische Emotionen definieren und die als regulierender moralischer Verhaltenskodex im Einklang mit allgemein akzeptierten moralischen Standards wirken (Tangney et al., 2007, S. 345–372). Da diese Emotionen als „emotionales Moralbarometer fungieren, das unmittelbare und auffällige Rückmeldungen über unsere soziale und moralische Akzeptanz gibt“, können sie das Selbstwertgefühl des Individuums stark beeinflussen (Tangney et  al., 2007, S. 345–372). Unter Bezugnahme auf Helen Block Lewis und Michael Lewis fassen Tangney und Dearing (2002, S. 25) die folgenden gemeinsamen Merkmale von Scham und Schuld zusammen: • • • • • •

beide fallen in die Klasse der „moralischen“ Emotionen beide sind selbstbewusste, selbstbezogene Gefühle beides sind negativ bewertete Emotionen beide beinhalten interne Zuschreibungen der einen oder anderen Art beide werden typischerweise in zwischenmenschlichen Kontexten erlebt Die negativen Ereignisse, die Scham und Schuldgefühle auslösen, sind sehr ähnlich (häufig handelt es sich um Versagen oder Übertretungen) (Tangney & Dearing, 2002, S. 25).

Trotz dieser Gemeinsamkeiten sind auch einige Unterschiede festzustellen (Tab. 1.3). Aus einer eher philosophisch-interdisziplinären Perspektive nehmen Deonna, Rodogno und Teroni eine kritischere Haltung gegenüber der traditionellen Charakterisierung von Scham als einer rein sozialen Emotion mit den damit einhergehenden Tab. 1.3  Unterschiede zwischen Scham und Schuld. (Tangney & Dearing, 2002, S. 25) Schwerpunkt der Bewertung Grad der Bedrängnis Phänomenologische Erfahrung Operation des „Selbst“ Auswirkungen auf das „Selbst“ Besorgnis gegenüber dem „Anderen“ Kontrafaktische Prozesse Motivierende Merkmale

Globales Selbst: „Ich habe diese schreckliche Sache gemacht“ Im Allgemeinen schmerzhafter als Schuldgefühle Schrumpfen, sich klein fühlen, sich wertlos und machtlos fühlen Aufspaltung des Selbst in ein beobachtendes und ein beobachtetes „Selbst“ Selbstbeeinträchtigung durch globale Abwertung Besorgnis über die Bewertung durch andere Einen Aspekt des Selbst gedanklich rückgängig machen Verlangen, sich zu verstecken, zu fliehen oder zurückzuschlagen

Spezifisches Verhalten: „Ich habe diese schreckliche Sache gemacht“ Im Allgemeinen weniger schmerzhaft als Scham Anspannung, Reue, Bedauern Vereinigtes Selbst intakt

Selbst nicht durch globale Abwertung beeinträchtigt Besorgnis über die eigene Wirkung auf andere Einen Aspekt des Verhaltens mental rückgängig machen Wunsch, zu gestehen, sich zu entschuldigen oder zu bessern

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negativen Auswirkungen ein (Deonna et al., 2012), indem sie der Diskussion einen kulturellen Aspekt hinzufügen. Erstens neigt das Individuum nach ihrem Verständnis in einer beschämenden Situation dazu, eher gegen Gruppennormen als gegen persönliche Normen zu verstoßen. Zweitens bezweifeln sie, dass das innere Selbst durch beschämendes Verhalten entblößt wird. Aus ihrer Sicht ist es nur das öffentliche Selbst, das entblößt wird. Drittens reflektiert der/die Einzelne durch das Schamempfinden vor allem die Perspektive der anderen (Deonna et al., 2012, S. 27–29). Ihr Verständnis von Scham konzentriert sich auf die Interdependenz von Scham, Werten und Identität. Im Gegensatz zur Scham liegt der Fokus von Schuld nicht auf dem eigenen Unvermögen, sondern auf der eigenen Handlung als Normübertretung. Ihrer Ansicht nach unterscheidet sich Schuld von Scham dadurch, dass der evaluative Fokus im Falle von Schuld ausschließlich auf moralisches Handeln beschränkt ist, während Scham eine viel breitere Perspektive hat (Deonna et al., 2012, S. 114). Dementsprechend heben sie die folgenden vier relevanten Aspekte hervor: (a) Scham unterscheidet sich von Schuld dadurch, dass sie eine soziale Emotion ist; (b) Scham betrifft im Gegensatz zu Schuld das ganze Ich; (c) Scham ist mit Idealen verbunden, während Schuld mit Verboten zu tun hat und (d) Scham ist auf das eigene Ich gerichtet, Schuld auf andere. In ihrem Ausführungen betonen Deonna, Rodogno und Teroni die Bedeutung der Autonomie der Scham auf der Grundlage der Vorstellung, dass Menschen dazu neigen, entgegen ihren eigenen Wertvorstellungen zu handeln. Persönliche Autonomie unterliegt jedoch bestimmten kulturellen Bedingungen, und die Umsetzung persönlicher Autonomie erfordert daher Entscheidungen im Hinblick auf die eigene Identität und die Übernahme von Verantwortung für diese (Deonna et al., 2012, S. 127). Dazu braucht es ein gewisses Maß an Selbstachtung – eine wichtige Gesundheitsressource –, die in der Kindheit entsteht und sich im Laufe des Lebens weiterentwickelt. Im folgenden Abschnitt wird erläutert, wie Scham entsteht und sich von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter entwickelt, und warum der Umgang mit Scham für eine gesunde und nicht-toxische Sichtweise auf Scham wichtig ist.

1.3 Schamentstehung und Schamentwicklung Einige Forscher*innen wie Wurmser (2010, 2015), Lewis (2011) und Hilgers (2013) betonen, dass Kindheitserfahrungen entscheidende Faktoren für die Entwicklung einer gesunden oder toxischen Schamwahrnehmung sind (siehe auch Sinha und Buch, in diesem Buch). Zahlreiche Forscher*innen – vor allem in westlichen Ländern – haben sich mit der Frage beschäftigt, wie Scham aus einer Entwicklungsperspektive entsteht. Einige dieser Einsichten werden in den folgenden Abschnitten vorgestellt. Scham entwickelt sich in der frühen Kindheit und ist das gesamte menschliche Leben lang präsent (Hilgers, 2013, S. 16; Sinha, in diesem Buch). Scham ist also

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weder explizit an bestimmte Lebensabschnitte gebunden noch auf sie beschränkt. Allerdings kann sich Scham in verschiedenen Lebensabschnitten unterschiedlich manifestieren. Außerdem scheint Scham nicht an bestimmte Auslöser gebunden zu sein. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Scham hängen unter anderem vom Zeitgeist ab. Was ein Individuum, eine Gruppe oder eine Gesellschaft als schamhaftes Verhalten betrachtet, steht in enger Verbindung zum Denken und Fühlen einer bestimmten Epoche, den vorherrschenden Normen und den kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Erikson (1968) verortet das erste Auftreten von Scham im Rahmen seiner Entwicklungsstadiumstheorie bereits im zweiten der acht Stadien der Identitätskrisen, die der Mensch im Laufe des typischen Lebenszyklus durchläuft, d. h. es tritt erstmals im Kleinkindalter (Autonomie vs. Scham und Zweifel) auf, das zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr liegt. In dieser Zeit wird das Kind mobiler und beginnt, seine Unabhängigkeit zu behaupten, indem es sich von der Betreuungsperson entfernt, das Spielzeug auswählt, mit dem es spielen möchte, und selbst entscheidet, was es anziehen, essen usw. möchte. Das Kind entdeckt auch, dass es über verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, wie das Anziehen von Kleidung und Schuhen, das Spielen mit Spielzeug usw. Diese Fähigkeiten stärken das wachsende Gefühl der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des Kindes. Erikson hält es für wichtig, dass die Eltern dem Kind die Möglichkeit geben, die Grenzen der eigenen Fähigkeiten in einem ermutigenden Umfeld zu erkunden, das auch Misserfolge zulässt. Er weist auch darauf hin, dass diese Phase eine wichtige Auswirkung auf die Willenskraft und die Selbstbeherrschung hat. Wenn ein Kind in dieser Phase in seinem wachsenden Gefühl der Unabhängigkeit ermutigt und unterstützt wird, wird es selbstbewusster und sicherer in seiner Fähigkeit, in der Gesellschaft zu bestehen. Wird das Kind dagegen kritisiert, übermäßig kontrolliert oder erhält es keine Gelegenheit, sich selbst zu behaupten, fühlt es sich in seiner Überlebensfähigkeit verunsichert und kann dann übermäßig von anderen abhängig werden, ein geringes Selbstwertgefühl entwickeln und ein Gefühl der Scham oder des Zweifels an seinen eigenen Fähigkeiten erleben. Erikson (1968) sieht den Ursprung und die Entwicklung der Scham in direktem Zusammenhang mit der analen Phase und dem „Toilettentraining“. Das Ergebnis dieser Phase des Toilettentrainings ist entweder ein Gefühl der Autonomie oder ein Gefühl der Scham und des Zweifels. Tangney und Dearing (2002) stellten in ihren Untersuchungen ebenfalls fest, dass sich Schuld- oder Schamgefühle offenbar schon in der Kindheit entwickeln. Ihre Untersuchungen zeigten, dass die Schuld- und Schamneigung von Jugendlichen im Alter von 10 bis 18 Jahren sehr stabil blieb. Michael Lewis hebt den Zusammenhang zwischen Schambildung und der Entwicklung des Selbstbewusstseins hervor. Er postuliert, dass die selbstbewussten Emotionen (SRGs) im dritten Lebensjahr entstehen, wenn das Kind beginnt, sich in seine Familie und zwischen Gleichaltrigen zu integrieren. Diese neue Fähigkeit führt zu einer neuen Reihe von Emotionen, von denen eine als selbstbewusste evaluative Emotion bezeichnet werden kann. Dazu gehören eine neue Form der Verlegenheit, aber auch Schuld, Scham, Stolz und Selbstüberschätzung. In diesem Zusammenhang definiert Lewis Verlegenheit als eine weniger intensive Form der

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Scham. Das Kind erlebt Verlegenheit in der Gesellschaft anderer, wenn es gegen die SRG der Kultur verstößt (Lewis, 2011, S. 2). Das amerikanische Psychologen- und Sozialarbeiterehepaar Ron und Pat Potter-­ Efron bietet zwei Erklärungen für das Auftreten von Scham in den frühesten Stadien der Kindheit (Potter-Efron & Potter-Efron, 1989). Erstens betonen sie die Veranlagung zur Scham, die das Kind zeigt, indem es versucht, unangenehme Reize zu minimieren, indem es wegschaut oder das Interesse verliert. Zweitens behaupten sie, dass sich Scham in den ersten beiden Lebensjahren aufgrund der Entwicklung der verbalen und nonverbalen Kommunikation entwickelt. Sie kommen daher zu dem Schluss, dass Kinder mit unterschiedlichen Schamfähigkeiten geboren werden, wobei einige Kinder wahrscheinlich viel sensibler auf diese Gefühle reagieren als andere. Die Eltern und Betreuer beeinflussen das Kind entweder durch Scham oder durch Wertschätzung (Potter-Efron & Potter-Efron, 1989, S. 63–64). Der deutsche Psychoanalytiker Hilgers schließt sich dieser Ansicht an. Hilgers (2013, S. 16) geht davon aus, dass sich Scham in der frühen Kindheit entwickelt und den Menschen sein ganzes Leben lang begleitet. In diesem Sinne ist Scham weder eine vorrangig pathologische Emotion noch ist sie an eine bestimmte Lebensphase gebunden, weder im Hinblick auf ihren Ursprung aus einer Entwicklungsperspektive, noch bezüglich ihrer Auslösemechanismen. Schamgefühle treten in jeder Lebensphase auf, können sich aber in verschiedenen Altersstufen unterschiedlich manifestieren, z.  B. bei einem Säugling mit besonderen Bedürfnissen, die unbefriedigt bleiben, oder bei einem alternden Menschen, der aufgrund verschiedener körperlicher Einschränkungen und des Verlusts der Autonomie Scham empfindet. Hilgers betont, dass Scham und Stolz entscheidende Regulationsfunktionen im Hinblick auf die individuelle Entwicklung ausüben. Und da es aus entwicklungspsychologischer Sicht keine explizite Schamphase und keinen Selbstzustand gibt, der spezifisch für Scham verantwortlich gemacht werden kann, lässt sich auch keine Schamemotion per se identifizieren (Hilgers, 2013, S.  16). Individuen machen ihre ersten ­Schamerfahrungen in Bezug auf ihre primären Bezugspersonen, z. B. ihre Eltern (Hilgers, 2013, S. 293), und daher hängt der Anreiz, Herausforderungen zu bewältigen und Scham in Stolz zu verwandeln, von der Herkunftsfamilie ab. Hilgers unterstreicht, dass Scham nicht an eine bestimmte Entwicklungsphase gebunden ist und dass Scham, wenn sie einmal entstanden ist, ein Leben lang als Erfahrungs- und Verhaltensoption bestehen bleibt (Hilgers, 2013, S. 296). In Anlehnung an Stern, Lichtenberg u. a. und in Übereinstimmung mit aktuellen Erkenntnissen der Säuglings- und Affektforschung weist Hilgers (2013, S. 293) darauf hin, dass erste Vorstufen von Scham – wie z. B. Verlegenheit – bereits bei Säuglingen im Alter von ca. 4 bis 5 Monaten beobachtet werden können. Stärkere Schamreaktionen als Ausdruck eines bereits entwickelten Selbstkonzepts zeigen sich jedoch typischerweise ab dem sechsten Lebensjahr. Hilgers berücksichtigt in diesem Zusammenhang auch, dass es Geschlechtsunterschiede und andere relevante kulturelle Faktoren und Werte gibt, die die Schamentwicklung ebenfalls beeinflussen (siehe auch Sinha in diesem Buch). Der deutsche Sozialwissenschaftler Stephan Marks (2010, S. 39–40) verortet die Entstehung von Scham viel früher, indem er darauf hinweist, dass Scham etwa in der

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Mitte des ersten Jahres nach der Geburt auftritt, wenn sich die Fähigkeit zu objektivem Selbstbewusstsein und neutraler Selbsteinschätzung manifestiert. Diese Fähigkeit wird durch frühere Erfahrungen geprägt, insbesondere durch Erfahrungen im Umgang mit den primären Bezugspersonen des Kindes. In Anlehnung an Wurmser, der auf die Vorläufer der Scham verweist, die sich in den ersten Lebensmonaten entwickeln, betont Marks, dass die Scham in hohem Maße durch die frühe Eltern-­Kind-­ Kommunikation beeinflusst wird. Diese Kommunikation erfolgt in erster Linie durch visuellen und körperlichen Kontakt. Marks identifiziert Scham daher als eine potenzielle Gesundheitsressource. Ein gesundes Maß an Selbstvertrauen („gesunde Scham“) ist für ihn die Grundlage dafür, dass Schamerfahrungen später im Leben konstruktiv verarbeitet werden können. Alternativ dazu führt eine negative Eltern-Kind-Kommunikation zu einem niedrigen Selbstwertgefühl, wobei Schamerfahrungen durch den Zusammenbruch des Selbstwertgefühls und als existenzbedrohende Krisen verinnerlicht werden („pathologische Scham“) (Marks, 2010, S. 39). Für ein kohärentes Selbsterleben (Marks, 2010, S. 39–40) in der frühen Kindheit ist Akzeptanz und Wertschätzung, d. h. gesehen und angelächelt zu werden, von großer Bedeutung. Das neugeborene Kind ist hilflos und empfindet ein existenzielles Bedürfnis nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität. Für die Entwicklung einer gesunden oder pathologischen Scham ist es nach Marks entscheidend, dass die existentiellen Interessen des Kindes von den Eltern oder Bezugspersonen erfüllt werden. Bei den folgenden idealtypischen Konfrontationen geht es nicht um individuelle Erfahrungen, sondern um dauerhafte Beziehungsmuster, z. B: • Die Vorläufer des gesunden Schamgefühls werden in dem Maße positiv verstärkt, wie die frühe Eltern-Kind-Kommunikation insgesamt gelingt, d. h. dass das Kind liebevoll gespiegelt wird und erfährt, dass es sicher, geschützt und liebevoll versorgt ist; • Wenn das Kind Liebe und bedingungslose Akzeptanz erfährt – trotz einiger „weniger günstiger“ Gefühle wie Traurigkeit, Frustration, Schmerz oder Wut – wird es dennoch ein gesundes Schamgefühl entwickeln; und • wenn das Kind lernt, dass seine Grenzen anerkannt und akzeptiert werden, wird es eine sichere Bindung zu seinen Bezugspersonen entwickeln, die mit einem grundlegenden Gefühl des Vertrauens einhergeht. Andererseits werden die Vorstufen pathologischer Scham in dem Maße verstärkt, in dem die frühe Eltern-Kind-Kommunikation gestört ist, z. B: • Dies geschieht in der Regel, wenn die Grenzen des Kindes nicht respektiert werden, z. B. wenn die Eltern übermäßig aufdringlich sind und das Kind als reines Objekt behandeln, oder wenn das Kind von den Eltern emotional, körperlich oder sexuell schikaniert wird; • Wenn das Kind beschämt, gedemütigt, vernachlässigt oder missachtet wird, als ob es nicht erwünscht wäre; und • Wenn das Kind zurückgewiesen, bestraft oder ausgegrenzt wird, manifestieren sich seine Gefühle der Unzulänglichkeit in Zeichen der Hilflosigkeit („Schwäche“) und des Schmerzes.

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„Wenn das Kind durch körperliche Gewalt oder den Entzug von Liebe die Erfahrung macht, dass es nicht wert ist, geliebt zu werden, weil es so ist, wie es ist, werden seine Gefühle der Unzulänglichkeit verstärkt. Ähnlich verhält es sich, wenn sich die Eltern emotional unberechenbar verhalten, indem sie „mal nah, mal fern“ sind. Das Kind wird kein Vertrauen in die Anwesenheit einer Person entwickeln, die es nährt, pflegt und schützt“ (Marks, 2010, S. 40, übersetzt von den Autor*innen).

In diesem Zusammenhang hält es Marks (2010) für wichtig, auf den pathologischen Prozess der Schamentwicklung hinzuweisen, der durch das Versagen einzelner Eltern bei der Vermittlung eines Selbstwertgefühls an das Kind verursacht werden kann. Häufig ist das Verhalten der Eltern jedoch eng mit sozialen, wirtschaftlichen oder historischen Faktoren oder Umständen verbunden. Der amerikanische Psychoanalytiker Masters (2016, S. 3) hebt die Kindheit als eine lebenswichtige Zeit hervor, in der die feine Linie zwischen gesunder und pathologischer Scham sehr leicht überschritten werden kann und das Kind entweder davon profitiert – wenn es Scham positiv erlebt – oder es schwächt und schädigt, wenn es einer pathologischen Wahrnehmung von Scham ausgesetzt ist. Auch wenn sowohl gesunde als auch toxische Scham Individuen beeinträchtigen, bloßstellen und entkräften, ist die letztendliche Wirkung in jedem Fall unterschiedlich. Nach Masters kann gesunde Scham Individuen dazu befähigen, heilende Maßnahmen zu ergreifen, während Individuen, die toxische Scham erleben, dazu neigen, sich selbst zu entmachten, indem sie auf Fluchtmechanismen zurückgreifen oder kompensatorische Aktivitäten unternehmen. Bei gesunder Scham neigen Menschen dazu, die Dinge in Ordnung zu bringen und ihre Reue auszudrücken, während sie bei ungesunder Scham dazu neigen, zu erstarren, zu fliehen oder sich zu geißeln (Masters, 2016, S. 4). Masters schlussfolgert: „Gesunde Scham mobilisiert uns, während ungesunde Scham uns lähmt. Gesunde Scham löst unser Gewissen aus, während ungesunde Scham unseren inneren Kritiker auslöst, der sich oft als unser Gewissen ausgibt“ (Masters, 2016, S. 4, übersetzt von den Autor*innen).

Nachdem zunächst eine Auseinanderstzung mit der Entwicklung von Scham erfolgte, sowohl im Hinblick auf gesunde als auch auf toxische Erscheinungsformen, werden im folgenden Abschnitt ausgewählte Schamkategorien vorgestellt, die von verschiedenen Autor*innen zur Kategorisierung der von Individuen erlebten Scham, insbesondere im Erwachsenenalter, entwickelt wurden.

1.4 Schamkategorien Im Rahmen der westlichen Diskurse über Scham, die von verschiedenen Autor*innen wie Wurmser, Hilgers und anderen geführt werden, beschreiben Marks und Brown, verschiedene Hauptkategorien von Scham, die jeweils einem anderen Ansatz folgen. Um einen Einblick in diese Kategorien innerhalb des typisch westlichen Rahmens zu geben, werden hier drei Systeme von Kategorisierungen diskutiert. Im Rahmen seines Modells der Scham als Affektgruppe identifiziert Hilgers (2013, S. 26–28) die folgenden Kategorien von Scham (vgl. Metz, 2009) (Tab. 1.4).

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Tab. 1.4  Micha Hilgers’ Schamkategorien. (Hilgers, 2013) Kategorie Scham Existenzielle Scham KompetenzScham IntimitätsScham Schande Idealitätsscham Scham

Ödipale Scham Scham-Schuld-­ Dilemma

Definition (a) Eine Person, die als unerwünscht gilt oder mit einem Makel behaftet ist (b) Den echten Eindruck haben, unsichtbar oder nicht existent zu sein Individuelles Kompetenz- oder Kontrolldefizit; wird (in der Öffentlichkeit) aufgedeckt Wegen Verletzung der Intimität oder Privatsphäre Verlust der Würde, Gesichtsverlust, akute Demütigung (a) Diskrepanz zwischen Selbst und Ideal-Selbst (b) Als Folge schuldhaften Handelns Aufgrund der eigenen Abhängigkeit von einer Beziehung, des Ausscheidens aus einer gewünschten Beziehung, unerwiderter Liebe, wahrgenommener Abhängigkeit von einer subjektiv als wichtig angesehenen Person Erfahrung von allgemeiner Ablehnung, Minderwertigkeitsgefühlen oder Unzulänglichkeiten Die Wechselbeziehung von Schuld und Scham erscheint als ein unlösbarer intra-systemischer Konflikt; entweder wird Schuld oder Scham empfunden: Scham im Falle eines Versagens gegenüber eigenen Normen, Werten oder Idealen, Schuld als Versagen gegenüber den Erwartungen anderer

Marks (2007) bezieht sich bei seiner Schamdefinition auf andere Kategorien (Tab. 1.5). Schließlich definiert Brown (2012) zwölf „Schamkategorien“ (ohne weitere Spezifizierung), die im Wesentlichen auf verschiedene Rollen und Lebensbereiche ausgerichtet sind: • • • • • • • • • • • •

Erscheinungs- und Körperbild Geld und Arbeit Mutterschaft/Vaterschaft Familie Kindererziehung Geistige und körperliche Gesundheit Sucht Sexualität Alterung Religion Ein Trauma überleben Stereotypisiert oder etikettiert werden

Diese Schamkategorisierungen verweisen darauf, dass Scham auf verschiedene, oft sehr analytische Weise eingeordnet wird, die meist auf dem Rahmen typisch westlicher Klassifizierungssysteme beruhen. Diese Klassifizierungssysteme werden nicht per se als positiv oder negativ angesehen. Die Kategorisierung von „traumatischer Scham“ würde jedoch beispielsweise typischerweise als negative Schamerfahrung definiert werden.

1  Eine Einführung in den Wert der Scham – Erkundung einer Ressource im Kontext …

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Tab. 1.5  Stephan Marks – Schamkategorien. (Marks, 2007) Kategorie Scham Assimilationsscham

(a) Körperscham (a) Gruppenscham Empatische Scham Initmitätsscham Traumatische Scham Gewissens- oder moralische Scham

Definition Verstanden als eine große Affektgruppe, die auf dem Versagen beruht, nicht den aktuellen Normen und Erwartungen zu entsprechen (Marks, 2007, S. 13) „Nach außen gerichtet, orientiert sich dieser selbstbezogene Schamaffekt am Blick des Anderen und an der erwarteten Bewertung der eigenen Umwelt“ (Metz, 2009, S. 25) Assimilationsscham kann sich auf den eigenen Körper, das Aussehen oder persönliche Eigenschaften beziehen Diese spezielle Art von Assimilationsscham kann sich auf andere Personen beziehen, z. B. auf ein Familienmitglied Beziehung zu anderen, wenn wir Zeug*in von Demütigungen werden Schützt die Privatsphäre vor anderen Intimitätsscham kann im Falle von Vergewaltigung und sexueller Gewalt in traumatische Scham umschlagen Bezogen auf die Verletzung des eigenen Gewissens, wie bei respektlosem Verhalten, unterlassener Hilfeleistung oder der Schädigung anderer; oft verbunden mit Schuldgefühlen für das schamauslösende Verhalten (Metz, 2009, S. 26)

Dementsprechend sind die wichtigsten Fragen, die es zu klären gilt, folgende: (1) Wie kann Scham eine wertvolle Ressource sein oder werden, und (2) welche Paradigmenwechsel sind in Bezug auf unser Verständnis von Scham erforderlich, um Scham als (potenzielle) Gesundheitsressource zu erkennen und anzuerkennen?

1.4.1 Der Wert der Scham: Paradigmenwechsel des Schamverständnisses „Die Macht der Scham über unser Leben ist beträchtlich. Scham berührt unsere Liebesgefühle und lenkt unsere Ängste; sie knüpft an unsere Aktivitäten und unsere Ehrlichkeit an, setzt aber häufig enorme Widerstandskräfte frei; sie beflügelt unsere Kreativität und Intelligenz, schafft aber auch zerstörerische Mythen; sie konstituiert sich in nationalem Stolz und manifestiert sich gelegentlich in unaussprechlichen Gräueltaten. Scham begegnet uns auf Schritt und Tritt als Mittel der sozialen Kontrolle und stellt ständig die Frage nach der Wahrhaftigkeit unseres Verhaltens. Kaum ein anderes Gefühl birgt so vielfältige Konsequenzen für unser Sein und Handeln. Alle Bereiche unseres Lebens sind durch Vorbehalte strukturiert, die etwas mit dem Schutz vor Verletzungen zu tun haben, und jede Form der seelischen Verletzung wirkt sich auch auf die Schamwahrnehmung aus“ (Briegleb, 2014, S. 9 übersetzt von den Autorinnen).

Die bisherigen Erörterungen zeigen, dass Scham bereits vor mehreren Jahrzehnten (Lewis seit den 1970er-Jahren und Wurmser seit den 1990er-Jahren) nicht nur im Rahmen eines pathologischen Paradigmas, sondern auch in einem salutogenen Kontext im Sinne des breiteren Paradigmas der Positiven Psychologie (Antonovsky, 1979) diskutiert wurde.

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In der Positiven Psychologie plädieren viele Forscher*innen für ein Verständnis und die Förderung von Faktoren im Zusammenhang mit Scham, die Einzelpersonen, Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften stärken und ihnen ermöglichen, sich zu entfalten und zu wachsen (Seligman & Csikszentmihalyi, 2000). Dieser Ansatz wirkt sich in der Regel sowohl auf das Inidividuum als auch auf das Kollektiv positiv aus und erhöht die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden. Es werden auf diese Weise insbesondere das Gefühl der Selbstständigkeit und die Fähigkeit unterstützt, sich an veränderte Umstände anzupassen, Herausforderungen zu bewältigen und das persönliche Potenzial zu optimieren (Rothmann, 2014). Fredrickson (2001) wies darauf hin, dass im Rahmen des Positiven Psychologie-­ Paradigmas ein Bedarf an Forschung und theoretischen Modellen besteht, die sich stärker auf die positiven Aspekte von Emotionen konzentrieren. Eine Analyse der verfügbaren Literatur zeigt, dass einige Studien Scham tatsächlich als positives Phänomen und sogar als Resilienzressource bezeichnen (Tangney & Dearing, 2002; Brennan, Robertson und Cox, in diesem Buch). Connor kommt zu dem Schluss, dass Scham eine potenzielle Strategie zur Stärkung der sozialen Kohärenz ist (Connor, 2001, S. 211–230), ein Begriff, der gemeinhin mit der Positiven Psychologie in Verbindung gebracht wird und für die Integration nicht nur der einzelnen Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe, sondern auch der Gruppe als Ganzes äußerst wichtig ist. Im Zusammenhang mit sozialer Kohärenz wird Scham als konstruktive Strategie betrachtet, wenn es um den Aufbau sozialer Beziehungen, die Gestaltung von Aufgabenbeziehungen, die wahrgenommene Einheit innerhalb und zwischen Gruppen und das Management von Emotionen geht, die sich direkt auf die vier Hauptkomponenten des Konzepts der sozialen Kohäsion beziehen. Resilienz scheint eine stärkende Wirkung auf das Individuum zu haben. Das Gefühl, eine Situation gemeistert zu haben, kann die Erwartung unterstützen, auch zukünftige Herausforderungen aktiv bewältigen zu können. Resiliente Personen kennzeichnen eine Reihe von Annahmen über sich selbst, die ihre Emotionen, ihr Verhalten und ihre Fähigkeiten beeinflussen, die dynamisch sind und sich ständig in Richtung eines so genannten Mindsets entwickeln. Das Mindset einer resilienten Person ist nicht frei von Stress, Druck und Konflikten, kann aber Hindernisse wie Scham erfolgreich bewältigen. Scham als Resilienzquelle ist mit einer hoch entwickelten Selbstwahrnehmung, Achtsamkeit, Reflexivität, sozialem Lernen, kognitiven Fähigkeiten, der Bewertung individueller Standards und selbstbewusst-­ bewertenden Emotionen verbunden und ist bedeutsam im Umgang mit intra- und interpsychischem Stress. Der schweizerisch-amerikanische Psychiater Wurmser (2010, 2015) hat als einer der ersten Wissenschaftler die Scham als Hüterin der Menschenwürde identifiziert, indem er auf die wichtige Funktion der Scham als Regulatorin von Nähe und Distanz sowie auf ihre wesentliche Aufgabe des Selbstschutzes hinwies. Ausgehend von Wurmsers Verortung der Scham im Kontext der Menschenwürde und des Selbstschutzes expliziert der deutsche Psychoanalytiker Hilgers (2013) Wurmsers Aussagen im Hinblick auf die positiven Implikationen der Scham. Einerseits beschreibt Hilgers (2013) Scham auf der individuellen Ebene als Auslöser für Selbstre-

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flexion, individuelle Lern- und Entwicklungsprozesse und betont, dass Scham „das Selbst und die Intimitätsgrenzen bewahrt, da sie einen Anreiz für Leistung, Entwicklung und Autonomie darstellt“. Andererseits wird Scham als eine Quelle für mehr „Autonomie und Kompetenz gegenüber der demütigenden Abhängigkeit“ (Hilgers, 2013, S. 20) gesehen, die das Erleben von Selbst- und Intimitätsgrenzen unterstützen kann. Sie schafft auch ein Gefühl von Entwicklung, Autonomie und Erfolg. Durch das Erleben von Selbsterkenntnis und Selbstentfaltung sowie einer Steigerung der individuellen Kompetenzen kann sich das Individuum aus der beschämenden Abhängigkeit befreien (Hilgers, 2013, S. 20). Hilgers (2013) bezeichnet diese Art der Störung als „unhinterfragte Selbstverständlichkeit“ (Hilgers, 2013, S. 20) und das Erwachen eines Bewusstseins für das Selbst und den/die Andere*n als wichtige Funktionen der Scham. Darüber hinaus legt Hilgers (2013) Wert auf die sozial-regulative Dimension der Scham, die ebenfalls positiv konnotiert ist: Scham ermutigt Individuen, ihre eigenen Grenzen und mögliche Defizite zu überwinden. Hilgers (2013, S. 309) zeigt weiter auf, dass „Scham ein Stachel ist, der zu einer realistischen Bewältigung herausfordert, solange die betroffene Person adäquate Möglichkeiten sieht, damit umzugehen und neue Fähigkeiten zu erwerben“. Die Erfahrung, dass eine Person bereit und in der Lage ist, sich der eigenen Scham zu stellen und beschämende Situationen und Erfahrungen erfolgreich zu bewältigen, kann den Zugang zu neuem Wissen, neuer Kraft und weiteren Kompetenzen eröffnen. Schlüsselaspekt einer solchen Entwicklung ist die Fähigkeit zur Selbstobjektivierung, insbesondere die Abgrenzung des Selbst in Bezug auf andere und die damit verbundene Selbstreflexion und Selbstrelativierung. Scham wird so zum wichtigen Motor für die individuelle Entwicklung. Unser Bedürfnis, von anderen akzeptiert und gewürdigt zu werden, ermutigt uns, persönliche Barrieren und Ängste zu überwinden, neue Einsichten und Kompetenzen zu entwickeln, um beschämenden Situationen zu entkommen. Insofern darf Scham als eine lebenslange Gesundheits- und Lernressource betrachtet werden (Hilgers 2013, S. 16). Dementsprechend regt Scham die/den Einzelne*n dazu an, individuelle Grenzen und mögliche Schwächen zu überwinden und Scham als relevanten Anpassungsfaktor in sozialen Kontexten wahrzunehmen, wie Harper (2011, S. 189, übersetzt von den Autor*innen) hervorhebt: „Eine positive Funktion der Scham besteht darin, dass sie zur Sozialisierung beiträgt und Normen vermittelt, die für das Überleben und den zwischenmenschlichen Erfolg wichtig sind. Darüber hinaus ermöglicht die Scham dem Individuum, einen Moment innezuhalten und sich selbst mit den Augen der anderen zu betrachten. Scham unterstützt das Individuum und dient dazu, zwischen sich selbst und anderen zu unterscheiden. Durch das Erleben von Scham kann sich ein Mensch in die Lage eines anderen hineinversetzen, und diese Fähigkeit ermöglicht es dem/der Einzelnen, sich vorzustellen, was eine andere Person fühlen könnte – eine unverzichtbare Voraussetzung für Empathie und Kontaktfreudigkeit.“

Der deutsche Sozialwissenschaftler Stephan Marks bietet eine weitere funktionale Beschreibung von Scham: „Scham ist wie ein Seismograph, der sehr empfindlich reagiert, wenn unser Grundbedürfnis nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit oder Integrität verletzt wird. Die Würde einer

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E. Vanderheiden und C.-H. Mayer Person zu respektieren bedeutet – aus schampsychologischer Sicht – die Person vor überflüssiger, vermeidbarer Scham zu bewahren, d. h. einen „Raum“ zu schaffen, in dem das Individuum Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität gewinnt. Nur so können Lernen, Entwicklung und Wachstum erreicht werden“ (Marks, 2010, übersetzt von den Autorinnen).

Bedeutsam für den Begriff der Scham ist die Vorstellung, dass der Mensch einerseits ein autonomes Wesen mit dem Potenzial zur Selbstkonstruktion ist, andererseits ein soziales Wesen (Werden, 2015, S. 211). Damit gerät die Idee der Abhängigkeit von bzw. das Streben nach Anerkennung als bedeutendes Element in den Blick. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Scham sowohl eine individuelle als auch eine soziale Dimension hat. In jüngster Zeit haben einige Autor*innen auch politische Dimensionen hervorgehoben. Briegleb (2014, S. 10) zum Beispiel spricht von Scham als einem bedeutenden Instrument der Machterhaltung, etwa bei Gruppen- oder Massendemütigungen. Er führt sogar den Begriff der Schamgewalt ein und verweist auf den Kolonialismus als ein nachdrückliches Beispiel dafür. Die Beiträge von Louth, Brennan, Robertson und Curtis sowie Buch (in diesem Buch) betonen gleichfalls diese Schamdimension. Jennifer Jacquet untersuchte ebenfalls Scham und Beschämung als strategische Instrumente im öffentlichen Raum und stellte fest, dass Scham bedeuten kann, „sich um die Gruppe zu sorgen“ (Jacquet, 2015, Pos 134). Sie spitzt diesen Gedanken noch weiter zu, wenn sie Scham als eng mit (sich ständig verändernden) Normen verbunden beschreibt und als etwas, das in einer zunehmend vernetzten und abgelenkten Welt ein wertvolles politisches Werkzeug sein kann (Jacquet, 2015, Pos 108). Dies gilt vor allem wegen der engen Beziehung zwischen Scham und individuellen und kollektiven Werten, die von Schneider wie folgt bestätigt wird: „Scham erhöht das Bewusstsein. Die Scham ist der Partner des Wertbewusstseins. … Scham ist ein ‚positives und authentisches‘ Zeichen der menschlichen Gemeinschaft, das nicht aufgegeben werden darf. … Scham ist nicht nur eine notwendige Einschränkung, die auf dem Weg zu unserer Befreiung zähneknirschend anerkannt werden muss; sie kann selbst ein Mittel zur Befreiung einer Person und zur Erweiterung der Selbstverwirklichung sein. … Scham muss nicht ausgerottet werden, um menschliche Befreiung zu erlangen; sie ist eine Ressource auf dem Weg zur Individuation und Reife. … Die Scham sendet ihre rote Fahne gegen den verzerrten Strang des populären Denkens, der das menschliche Leben auf die Dimensionen des wissenschaftlich-technischen oder des individuellen Selbst reduzieren will. Sie zeigt die Grenzen des Selbst auf und legt Zeugnis ab von der Verstrickung des Selbst mit anderen. Die Scham fungiert somit als Wegweiser zu einer authentischeren Form der Selbstverwirklichung“ (Schneider, 1987, S.  XIV–XIVII, übersetzt von den Autor*innen).

Briegleb (2014, S. 12) stimmt dem zu, wenn er feststellt, dass „unser Schamgefühl ein niedrigschwelliges, alarmierendes Anstandssystem hat“, und betont, dass Scham den Menschen zu sozial angemessenem Verhalten anregt. Er geht sogar so weit, die Scham als „Quelle des Glücks, des Bewusstseins und der Kultur“ (Briegleb, 2014, S. 19) zu beschreiben, und kommt zu dem Schluss, dass die Scham eine permanente Anforderung an die Selbstwahrnehmung des Individuums stellt und als Störfaktor wirkt. Im Einklang damit kann oberflächliche Scham die Sensibilität des/der Einzelnen wach halten, die Intelligenz irritieren und den Erfindungsreichtum fördern,

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aber auch die persönliche Fähigkeit freisetzen, mit unüberwindbaren Hindernissen und nutzlosen Anfeindungen umzugehen (Briegleb, 2014, S. 19). Nachdem wir oben die verschiedenen Paradigmen der Scham betrachtet haben, soll die Scham auch aus kulturellen Perspektiven beleuchtet werden.

1.5 Scham in kulturellen Kontexten In den letzten Jahrzehnten wurde Scham im Kontext von Kultur und Psychologie recht umfassend erforscht (Shweder, 2015; Markus & Kitayama, 1991; Sznycer et al., 2012). In der ersten bedeutenden Studie über Scham und Kultur (Benedict, 1946) wurde Scham als eine wichtige Emotion im Rahmen der anthropologischen Untersuchung japanischer und westlicher Kulturen identifiziert. Auf der Grundlage von Benedicts Forschungen, in denen sie Kulturen in Schuld- und Schamkulturen unterteilt, haben viele Studien die Ansicht der Unterscheidung von Kulturen in Scham- und Schuldkulturen wiederholt. Benedict hebt hervor, dass in so genannten Schamkulturen die emotionale Reaktion auf der Kritik des Publikums beruht (für eine weitere Diskussion siehe Bhawuk, Sinha, Mayer, in diesem Buch). Scham ist eingebettet in externe Sanktionen und Erwartungen an für gut erachtetes Verhalten und legt den Schwerpunkt auf externe Verhaltensnormen. Seit dieser ersten bahnbrechenden Studie über Scham und Kultur wurde Scham in der Folge als eine kulturelle Erfahrung und als Ausdruck von Emotionen definiert, die mit verschiedenen assoziierten kulturellen Gefühlen und Emotionen sowie mit sogenannten Gefühlsregeln verbunden sind (Markus & Kitayama, 1991). Das Wort Scham gibt es in verschiedenen Sprachen, und auf der Grundlage einer Studie über 135 Kulturen kann Scham als eine universelle Emotion definiert werden (Casimir & Schnegg, 2002; Sinha, in diesem Buch). Anthropolog*innen haben die Bedeutung der Rolle der Scham in verschiedenen Kulturen erkannt und argumentieren, dass die Erfahrung von Scham universell ist (Harper, 2011, S. 1). Dennoch sind diese Erfahrungen in Bezug auf ihre Wahrnehmung, ihr Erleben und ihren Ausdruck kulturspezifisch belegt. Im kulturellen Kontext wird Scham oft als eine besonders soziale Emotion hervorgehoben (Casimir & Schnegg, 2002). Neuere Forschungen unterstreichen zudem die Unterschiede in der Schamwahrnehmung in verschiedenen Kulturen und weisen darauf hin, dass Scham als sozial und kontextuell definiert verstanden werden muss (Lindisfarne, 1998; Miller, 1996). Greiner (2014, S. 19) weist darauf hin, dass das Erleben von Scham eng mit dem kulturellen Raum verbunden ist, in dem eine Person sozialisiert wird und lebt. Dementsprechend sollten Scham und Kultur auch im Zusammenhang mit den Einflüssen von Religion und Zeitgeist gesehen werden. Scham ist jedoch nicht nur mit soziokulturellen, räumlichen und zeitlichen Einflüssen verbunden. Eine frühe Veröffentlichung über Scham von Lynd (1958) macht auf die Wechselbeziehung zwischen Scham und Identitätskonstrukten aufmerksam. Es wird argumentiert, dass Scham mit der Identität und dem Charakterkern einer

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Person verknüpft ist (Davidhoff, 2002), und somit auch mit dem intrapsychischen Bereich und den verschiedenen Aspekten der sozialen Identität. Aus pathologischer Sicht argumentiert Davidhoff (2002), dass Scham eine sehr einflussreiche Emotion ist, die sich auf die Identität und auf die Frage auswirkt, wie das Individuum sich selbst definiert. Gleichzeitig wird Scham häufig mit Gefühlen der Bloßstellung, der Erniedrigung, der situativen Vermeidung oder des Schweigens in Verbindung gebracht. Zugleich wird Scham jedoch auch als konstruktive Emotion betrachtet, die zur Entwicklung von Identitätszielen beiträgt. Auch wenn sie zunächst als negatives, intimes Gefühl erlebt wird, kann Scham zur Entwicklung positiver und kon­ struktiver Identitätsziele beitragen. Sie wurde auch als konstruktive Emotion bei der Identitätssuche identifiziert. Wong und Tsai (2007, S. 219) heben die unterschiedlichen Schamauffassungen im Hinblick auf „Bewertungsauslöser und Verhaltensfolgen von Scham“ hervor, die sich „in Abhängigkeit von der Art des Selbstkonzepts, das im jeweiligen kulturellen Kontext gefördert wird“, unterscheiden. Dementsprechend definieren diese Autoren Kultur als „historisch entstandene und sozial überlieferte Ideen (z.  B.  Symbole, Sprache, Werte und Normen) und Praktiken (z. B. Rituale, Sitten, Gesetze) sowie Artefakte (z. B. Werkzeuge, Medien) und Institutionen (z. B. Familienstruktur)“. Nach Wong und Tsai (2007, S. 214) wird „in vielen nicht-westlichen kulturellen Kontexten Scham nicht nur geschätzt, sondern auch als angemessene emotionale Reaktion auf Versagen angesehen“. Die Autoren betonen ebenso, dass eine negative Bewertung des Selbst in Form von beschämendem Verhalten oder Scham nicht unbedingt „als schädlich für das psychologische Wohlbefinden angesehen wird“, sondern in kollektiven Kontexten eher eine informative und motivierende Bedeutung hat als in individualistischen Kontexten (siehe Bhawuk, Sinha Buch, Brennan, Robertosn und Curtis, in diesem Buch). Studien haben gezeigt, dass kollektivistisch ausgerichtete Kulturen Scham positiver bewerten als individualistische Kulturen. Menon und Shweder (1994) heben dies in einer Studie hervor, in der sie hinduistische und amerikanische Teilnehmende verglichen, und Fischer et al. (1999) vergleichen spanische und niederländische Personen und kommen zu dem Schluss, dass spanische Teilnehmende Scham positiver bewerteten als die niederländischen Teilnehmenden. Mit Blick auf die Sprache und Terminologie, die zur Beschreibung von Schamgefühlen verwendet werden, wurde nachgewiesen, dass japanische Teilnehmer*innen Scham eher mit anderen positiv bewerteten Gefühlszuständen wie Liebe und Glück in Verbindung bringen, während englische Teilnehmer*innen Scham eher mit negativ bewerteten Gefühlen wie Angst und Wut assoziieren (Romney et al., 1997). Es wird angenommen, dass Scham die sozialen Aktivitäten des Individuums in der Gesellschaft reguliert und dieses in Bezug auf sozial akzeptables Verhalten, sozial akzeptierte Gefühle und Werte leitet. Werden (2015) kam zu dem Schluss, dass sowohl Scham als auch Schuld universelle Emotionen sind, die in kulturspezifischen Ausprägungen und Dimensionen existieren. Aufgrund ihrer Einbettung in den kulturspezifischen Kontext unterscheiden sich Scham und Schuld in den verschiedenen Kulturen hinsichtlich ihrer Bedeutungsgebung. Werder betont in diesem Zusammenhang, dass in einer Schuldkultur Schuldscham verursacht, während in einer

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Schamkultur Schamschuld hervorgerufen wird. Während es in einer Schamkultur wesentlich ist, die Zugehörigkeit zu bewahren, ist es für eine Schuldkultur bedeutsam, eine selbst definierte Identität zu schaffen. Daher ist es nach Werden für ein in einer Schamkultur lebendes Individuum wichtig, die kollektiven Werte, die die relevante Gemeinschaft sowie den Orientierungsrahmen für das Verhalten und die Handlungen des Individuums definieren, nicht in Frage zu stellen. Im Interesse des reibungslosen Funktionierens des Kollektivs und für die Integration des Individuums in dieses soziale Umfeld ist diese Anpassung wichtiger als der Ausdruck der Individualität. Relevanter Auslöser für Scham ist daher das Scheitern der Harmonie des Kollektivs und nicht das Scheitern der persönlichen Integration des Individuums in dieses Kollektiv. In einer Schuldkultur, so Werden, sind die Individuen in erster Linie für ihre eigene Identitätskonstruktion (Einstellungen, Handlungen, Verhalten usw.) verantwortlich. Dies führt dazu, dass Scham weniger von anderen als von der einzelnen Person selbst ausgeht, während Schuld in der Selbstkonstruktion begründet ist (Werden, 2015, S. 13–14). Da – wie sich zeigt – die Diskurse über Scham und Kultur häufig in der Interdependenz von Individualität und Kollektiv verankert sind, schließen sich im folgenden Abschnitt kulturspezifische Perspektiven auf Scham an, die über westliche Kontexte hinasugehen.

1.6 Kulturspezifische Einblicke in die Scham Scham wurde – wie bereits erläutert – häufig im Rahmen von Vergleichen zwischen westlichen und östlichen Sichtweisen erforscht, und zahlreiche Studien analysieren Scham aus kulturübergreifender Perspektive, d. h. sie vergleichen Scham im Kontext verschiedener nationaler Kontexte. Andere Studien zielen darauf ab, kulturspezifische Erkenntnisse zu liefern, wie nachstehend beispielhaft beschrieben. In einer vergleichenden Studie von Cole et  al. (2006) heben die Autor*innen hervor, dass in Tamang- und Brahmanen-Dörfern in Nepal die Tamang dazu neigen, ein wütendes Kind zurechtzuweisen, aber mit einem Kind, das sich schämt, in Gelassenheit sprechen und ihm nachgeben würden. Brahman*innen hingegen neigen dazu, auf wütende Kinder zu reagieren, ignorieren aber die Scham. Die Autor*innen kommen daher zu dem Schluss, dass kulturelles Erbe, religiöse Unterschiede, Klasse und Status sowie Mehrheits- und Minderheitenstatus eine Rolle bei der jeweiligen Wahrnehmung von Wut und Scham spielen. In einer vergleichenden Studie mit Kindern aus Japan, Korea und den USA fanden Furukawa et al. (2012) heraus, dass japanische Kinder in Bezug auf Scham, koreanische Kinder in Bezug auf Schuld und US-amerikanische Kinder in Bezug auf Stolz am besten abschnitten. In allen drei Kulturgruppen ist die Schamneigung positiv mit aggressionsrelevanten Konstrukten korreliert. Miller (2002) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Scham häufig mit Kollektivismus und Schuldgefühle in der Regel mit Individualismus assoziiert werden. Beide Konzepte, d.  h. Scham und Schuld, werden jedoch in Bezug auf das Selbst erlebt (Furukawa et al., 2012).

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Bagozzi et al. (2003) verglichen Verkaufspersonal aus den Philippinen und den Niederlanden hinsichtlich ihres Schamerlebens und ihrer Selbstregulierung. Es zeigte sich, dass beide Gruppen in ähnlicher Weise Scham als Folge von Kund*innenaktionen erlebten, aber sie reagierten unterschiedlich auf Scham. Als Reaktion auf Erfahrungen, die Scham auslösten, verbesserten sich die philippinischen Angestellten in Bezug auf den Aufbau von Kundenbeziehungen, bürgerliche Tugenden und Hilfsbereitschaft, während bei den niederländischen Angestellten die Verkaufszahlen tendenziell zurückgingen und damit auch die Effektivität der Kommunikation und der Aufbau von Beziehungen. Die Autor*innen zogen die Schlussfolgerung, dass philippinische Arbeitnehmer*innen auf Scham mit einer Anpassung ihrer Ressourcennutzung reagierten, während niederländische Arbeitnehmer*innen eher dysfunktional gegenüber dem Unternehmen und in Bezug auf Schutzmaßnahmen reagierten. Verhalten, das als beschämend empfunden wird, ist kulturell, kontextuell und situativ bedingt, wie die nachstehenden Beispiele verdeutlichen. Farrell (2011) untersucht etwa, in welcher Weise Scham und Stigma im amerikanischen Kontext mit Übergewicht verbunden werden. Im Kontext einer Studie an einer deutschen Schule wurden Leistung, Motivation und Anstrengungsmotive als Phänomene identifiziert, die mit Beschämung und Scham assoziiert wurden. Eine Studie aus Brasilien zeigte, dass Scham häufig als mikropolitisches Konzept in alltäglichen Interaktionen ­verwendet wird, insbesondere im Hinblick auf Aspekte wie Individualisierung, Psychologisierung, Verantwortungsübernahme und Schuld im Zusammenhang mit sogenanntem Analphabetismus. Barlett wies nach, dass mangelnde Literalität häufig mit Scham assoziiert wird, ebenso wie die sprachlichen Fehler von Zweitsprachler*innen (Bartlett, 2007). In einer Studie mit sehenden, blinden und von Geburt an blinden Personen aus mehr als 30 Nationen stellten Tracy und Matsumoto (2008) fest, dass Personen aus den meisten Kulturen als Reaktion auf (sportliche) Misserfolge Verhaltensweisen zeigten, die mit Scham verbunden waren. Bei sehenden Sportler*innen war die Schamreaktion stark kulturell beeinflusst, da sie sich bei Personen aus stark individualistischen, selbstdarstellungsbetonten Kulturen weniger ausgeprägt zeigte. Da­ raus schließen die Autor*innen, dass die mit Scham und Stolz verbundenen Verhaltensweisen zwar vermutlich angeboren sind, die Schamexpression jedoch von einigen Sehenden in Anlehnung an kulturelle Normen und soziale Erwartungen absichtlich reduziert wird. (Tracy & Matsumoto, 2008, S. 11655). Starrin (2016, S. 1) hebt hervor, dass Scham in westlichen Gesellschaften stärker tabuisiert wird und dass sich die Menschen schämen, Scham zu empfinden. Scheff (1988) prangert die „Unsichtbarkeit der Scham in westlichen Kulturen“ an, die typisch für Kulturen mit „geringer Sichtbarkeit der Scham“ ist (Scheff, 1988, S. 400). Diese geringe Sichtbarkeit beruht auf einer negativen Bewertung von Scham in euro-­amerikanischen Gesellschaften und hat zu einem Mangel an Forschung über Scham in verschiedenen Kontexten in westlichen Gesellschaften, insbesondere aber im schulischen Kontext, geführt (Wertenbruch & Röttger-Rössler, 2011). Diese Forschungsdefizit könnte auch eine Folge der Tatsache sein, dass Schamerfahrungen Individuen in der Regel an den physischen Körper und seine Grenzen, an Ge-

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wohnheitsmuster, Werte, Regeln und die Fähigkeiten, darauf auf der zwischenmenschlichen, sozialen oder kulturellen Ebene reagieren zu müssen, erinnert. Ryan (2023, S. 6) betonte, dass Schamerfahrungen in verschiedenen Kulturen mit dem Gefühl verbunden ist, in Bezug auf bestimmte Verhaltens- oder Sichtweisen „fehl am Platz“ zu sein. In westlichen Gesellschaften wird eine Person, die starke Scham empfindet, schnell als unsicher und abhängig von anderen sowie als mit einem geringen Selbstwertgefühl ausgestattet, wahrgenommen (Ferguson, 2005; Scheff, 1988). Röttger-­ Rössler (2004, 2010) weist zurecht darauf hin, dass eine kulturspezifische und kulturrelative Perspektive erforderlich ist, um Scham in verschiedenen kulturellen Kontexten zu verstehen, insbesondere in Kontexten, in denen Scham als positive Emotion und als wesentliches Sozialisationsziel geschätzt wird. Markus und Kitayama (1991) betonen, dass Schamerleben und Emotionsausdrucksformen – und damit auch die Schamexpression – verschiedenen kulturellen Einflüssen unterliegen, die in Emotionssregeln kodiert sind, d. h. in Regeln, die definieren, wie Individuen Emotionen ausdrücken und erleben sollten. In Folge solcher Regelverstöße empfinden Individuen und Gruppen innerhalb spezifischer Gemeinschaften Scham, insbesondere wenn anderen Individuen die Verletzung dieser sozialen Normen bekannt ist. Scham wurde nicht nur im Zusammenhang mit der Kultur erforscht, sondern auch im Hinblick auf andere Facetten von Diversität, wie z.  B. das soziale Geschlecht. Das folgende Unterkapitel gibt einen Einblick in diese Zusammenhänge.

1.7 Scham aus der Gender-Perspektive Aus geschlechtsspezifischer Sicht wird Scham oft als eine weibliche Eigenschaft par excellence betrachtet. Trotz dieser etwas verallgemeinerten Wahrnehmung deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass diese Annahme eher eine Frage der Konvention als eine Tatsache ist. Im Gegensatz zu dieser verallgemeinerten Wahrnehmung wird angenommen, dass weibliche Scham im Kern ein Gefühl der genderbezogenen Unzulänglichkeit verbirgt. Dabei wird jedoch nicht außer Acht gelassen, dass sich Scham auch aus anderen Gründen manifestiert (Freud, 1961/1933; Freud et al., 1989, S. 193–196). Scham hat ein weibliches und ein männliches Gesicht: Obwohl die geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Scham noch nicht ausreichend erforscht sind, gibt es Belege dafür, dass Scham ein „geschlechtsspezifisches“ Phänomen ist (Hernandez & Mendoza, 2011). Tangney und Dearing fanden heraus, dass Frauen in allen Altersgruppen eine größere Neigung zu Scham und Schuldgefühlen zeigen als Männer. Außerdem stellten sie fest, dass Frauen unabhängig vom Alter „durchweg über ein höheres Maß an Schamgefühlen berichten als ihre männlichen Kollegen“ (Tangney & Dearing, 2002, S.  154). Lewis (1992) hebt ebenfalls einen geschlechtsspezifischen Unterschied hervor, indem er behauptet, dass – aufgrund der geschlechtsspezifischen Un-

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terschiede bei der Reaktion auf Scham – Männer typischerweise behaupten, Frauen seien übermäßig sensibel, während Frauen behaupten, Männer seien übermäßig aggressiv (Lewis, 1992, S.  184). Lewis kommt zu dem Schluss, dass die soziale Konditionierung unweigerlich dazu führt, dass Frauen in der Regel Scham empfinden und Männer eher Schuldgefühle haben. Er nimmt an, dass Frauen nicht nur mehr Scham empfinden als Männer, sondern auch dazu neigen, diese anders auszudrücken. Typischerweise reagieren Frauen auf Scham in Form von Introvertiertheit und Selbsthass, während Männer eher zu Wut und Gewalt neigen. Er vermutet, dass Schamanlässe bei Frauen vor allem mit dem Gefühl verknüpft sind, nicht attraktiv zu sein, mit Misserfolgen in persönlichen Beziehungen und Gefühlen der sexuellen Unzulänglichkeit oder des Versagens. In ihrer Untersuchung über Sexualstraftäter und Scham schlagen Scheff und Retzinger (1997) eine alternative Erklärung für die Unterschiede im Umgang von ­Männern und Frauen mit der mit Sexualität verbundenen Scham vor und definieren es als in der modernen Gesellschaft „ziemlich weit verbreitetes“ Phänomen. Die Autor*innen fanden heraus, dass Frauen typischerweise Scham-Scham-­Rückko­p­ plungsschleifen erleben, während für Männer Scham-Angst-­ Rückkopplungss­ chleifen typischer waren. Sie beschreiben die Scham-Scham-Schleife als einen zirkulären Prozess, bei dem sich eine Person dafür schämt, dass sie sich schämt, was das Schamempfinden kontinierlich verstärkt. Dies kann sich auf die Gesundheit auswirken und zu Rückzug oder Depression führen. Bei dem Scham-Angst-­Loop, die eher als für Männer typisch angenommen wird, sind die Betroffenen wütend über ihre Scham und schämen sich, wütend zu sein. Dadurch entsteht eine weitere emotionale Schleife, die sich selbst verstärkt und oft in antisozialen Handlungen gipfelt (Scheff & Retzinger, 1997). Scheff und Retzinger kommen zu dem Schluss, dass Schamgefühle bezüglich der eigenen Sexualität bei Frauen häufig zu einem Mangel an sexuellem Interesse sowie zu Rückzug, Passivität oder spät aufkeimendem Interesse führt, während Scham in Bezug auf Sexualität Männer oft zu Kühnheit, Wut und Aggression treibt (Scheff & Retzinger, 1997). Efthim et al. (2001) untersuchten den Zusammenhang zwischen Stress im Zusammenhang mit der Geschlechterrolle und der daraus resultierenden Neigung zu Scham, Schuld und Externalisierung. Sie wiesen nach, dass manchen Menschen eine stärkere Veranlagung zu situationsbedingten Schamgefühlen eigen ist. Sie stellten fest, dass männlicher Geschlechtsrollenstress auf Scham, Schuld und Externalisierung zurückzuführen ist und kommen zu dem Schluss, dass Scham – oder Schuld – durch das Versagen eines Individuums bei der Befolgung gesellschaftlicher Anforderungen oder sozial erwarteter Verhaltensweisen verursacht wird, so dass eine solche Person Scham und Schuldgefühle empfindet und ein vermindertes Selbstwertgefühl erlebt. Sie weisen darauf hin, dass die meisten Kinder in der frühen Kindheit sozial darauf konditioniert werden, Schuld- und Schamgefühle zu empfinden, wenn sie kulturelle Normen nicht befolgen. In diesem Zusammenhang führt die Verletzung von Geschlechterrollen häufig zu ungünstigen Konsequenzen für das Individuum und zu einer beeinträchtigten Verinnerlichung des eigenen Selbst, was die Auslösung von Schamgefühlen initiiert. Sie fanden heraus, dass Männer Scham als Übertretung männlich gelesener Normen empfinden, weil sie es

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mit Unsicherheit, Wehrlosigkeit und Kontrollverlust assoziieren und im Umgang damit defensive Taktiken wie Externalisierung bevorzugen, um ihren emotionalen Schmerz zu reduzieren (Efthim et al., 2001). Efthim et al. (2001) fanden heraus, dass Männer sich besonders schämen, wenn ein vermeintliches oder tatsächliches Versagen öffentlich zu werden droht, während Frauen sich besonders schämen, wenn ihre innerpsychischen Gedankengänge oder andere innere Gedanken oder Gefühle offengelegt oder erkennbar werden. Je stärker eine Frau von der ihr gesellschaftlich zugeschriebenen Rolle abweicht, desto stärker steigt das Schamempfinden. Ihre Ergebnisse zeigen, dass gesellschaftlich konstruierte Geschlechterrollen inzwischen als wichtige Faktoren anerkannt sind, die das entwicklungsbezogene, psychologische und beziehungsbezogene Wohlbefinden von Männern und Frauen beeinflussen (Efthim et al., 2001). So zeigen die Forschungsergebnisse beispielsweise, dass bei Männern die Nichteinhaltung der erwarteten gesellschaftlichen Normen für die Definition von Männlichkeit, sei es am Arbeitsplatz oder im Privatleben, zu Symptomen von Depression, Wut und Scham führt (Efthim et al., 2001). Das kann sich um so intensiver äußern, je stärker sich ein Mann mit traditionellen männlichen Schemata verbunden fühlt. Als häufigste männliche Schamabwehrmechanismen werden Verleugnung, Rückzug, Wut, Perfektionismus, Arroganz und Exhibitionismus beschrieben (Potter-Efron & Potter-­Efron, 1989). Arndt und Goldenburg (2004) fanden heraus, dass Frauen in der Regel eine höhere Selbstwahrnehmung und ein stärker ausgeprägtes selbstreflektierendes Verhalten zeigen als Männer – und dass Frauen infolge dessen wohl Scham intensiver und stärker empfinden als Männer. Andere Autor*innen (Erden & Akbağ, 2015) nehmen eine andere geschlechtsspezifische Ausprägung in Bezug auf Scham an. Sie untersuchten, inwieweit sich Persönlichkeitsmerkmale auf Scham und Schuld auswirken könnten, und fanden heraus, dass beide mit Persönlichkeitsmerkmale korrelieren. In Bezug auf Scham entdeckten sie außerdem, dass Scham nur bei Frauen durch Gewissenhaftigkeit und Angemessenheit vorhergesagt wurde, während Schuld bei beiden Geschlechtern durch Verträglichkeit determiniert wurde, aber nur bei Männern durch Gewissenhaftigkeit prognostiziert wurde. O’Connor et al. (1994) führten eine Studie über Männer und Frauen durch, die sich von einer Drogenabhängigkeit erholten, und untersuchten dabei insbesondere das unterschiedliche Ausmaß an Depressionen und selbstbewusstem Verhalten dieser Personen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass es offenbar Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, was die Neigung zu Scham, Schuldgefühlen, Externalisierung, Distanzierung und Stolz angeht. Sie konnten zeigen, dass zwischen den Geschlechtern signifikante Unterschiede in Bezug auf die Schamneigung, Distanzierung und Depression bestehen. Während Frauen bei Scham und Depression si­ gnifikant höhere Werte erzielten, erzielten Männer signifikant höhere Werte bei der Distanzierung (O’Connor et al., 1994). Connor (2001) kommt zu dem Schluss, dass Frauen sich schämen, aus dem typischen und sozial konstruierten weiblichen Paradigma auszubrechen, während Männer sich schämen, dem typischen männlichen sozialen Paradigma nicht gerecht zu

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werden. Von besonderer Bedeutung für das Verständnis von Scham in Bezug auf diese geschlechtsspezifischen Unterschiede ist, dass die Autor*innen eine Lücke entlang der Trennlinie zwischen Heteronomie und Autonomie feststellen. Connor beschrieb, dass weibliche Scham häufig als heterogene oder von anderen ausgehende Schamdimension dargestellt wurde, die auf Frauen hin attribuiert wurde und sie dadurch in ihrer Autonomie einschränkte. Weibliche Scham hat meist einen regulierenden und disziplinierenden Charakter, so wird sie mit Menstruation und Schwangerschaft attribuiert, mit unehelichen Geburten und exzessivem oder gesellschaftlich als unweiblich gelesenem Verhalten (z. B. Trunkenheit, Zügellosigkeit, sexuelle Freizügigkeit etc.). Insofern kann Scham dazu beitragen, dass Frauen ihr Leben entlang klassischer genderspezifischer Rollenerwartungen gestalten. Im Gegensatz dazu – so Connor (2001) – scheint männliche Scham meist als „autogene oder selbstautorisierende Scham auf Kosten der Autonomie“ verstanden zu werden (Connor, 2001, S. 211–230). Er weist darauf hin, dass Männer, die Scham empfinden, dies in der Regel nicht tun, weil sie eine Grenze überschritten haben, sondern weil sie es versäumt haben, diese zu überschreiten. Andererseits scheinen Männer Scham als eine Art Anerkennung oder Bestätigung zu betrachten (Connor, 2001, S. 211–230). Connor unterstreicht zudem, dass sowohl weiblich als auch männlich gelesene Scham als Strategie zur Durchsetzung sozialer Kohärenz betrachtet werden kann (Connor, 2001, S. 211–230). In den Vereinigten Staaten führte Brown (2012) Hunderte von Interviews zum Thema Scham durch. Zunächst befragte sie ausschließlich Frauen, dehnte ihre Untersuchung dann aber auch auf Männer aus. Sie fand heraus, dass Frauen und Männer unterschiedliche Erfahrungen mit Scham beschreiben (Tab. 1.6). Tab. 1.6  Weibliche und männliche Beschreibungen von Scham. (Brown, 2012, S. 85–91) Frauen (Brown, 2012, S. 85) Perfekt aussehen. Perfekt handeln. Perfekt sein. Alles, was weniger ist, ist beschämend.

Von anderen Müttern beurteilt zu werden. Entblößt zu sein – die fehlerhaften Teile von dir, die du vor allen verbergen willst, kommen zum Vorschein. Egal, was ich erreicht habe, wie weit ich gekommen bin, woher ich komme oder was ich überlebt habe, die Scham wird mich immer davon abhalten, mich als gut genug zu fühlen. Obwohl jeder weiß, dass es nicht möglich ist, alles zu schaffen, wird es dennoch von allen erwartet. Scham ist, wenn man es nicht schafft, aber so zu tun, als hätte man alles unter Kontrolle

Männer (Brown, 2012, S. 91) Scham ist Versagen. Bei der Arbeit. Auf dem Fußballplatz. In der Ehe. Im Bett. Beim Geld. Mit den Kindern. Es spielt keine Rolle – Scham ist Versagen. Scham bedeutet, im Unrecht zu sein. Nicht falsch zu handeln, sondern falsch sein. Scham ist das Gefühl, fehlerhaft zu sein

Man schämt sich, wenn die Leute denken, man sei weich. Es ist erniedrigend und beschämend, als etwas anderes als hart angesehen zu werden Eine Schwäche zu offenbaren ist beschämend. Im Grunde ist Scham Schwäche.

(Fortsetzung)

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Tab. 1.6 (Fortsetzung) Frauen (Brown, 2012, S. 85) Nie gut genug zu Hause. Nie gut genug bei der Arbeit. Nie gut genug im Bett. Nie gut genug in Bezug auf meine Eltern. Scham ist, nie gut genug zu sein. Kein Platz am coolen Tisch. Die hübschen Mädchen lachen.

Männer (Brown, 2012, S. 91) Angst zu zeigen, ist beschämend. Du darfst keine Angst zeigen. Du darfst keine Angst haben – egal in welcher Form. Scham ist, als der Typ angesehen zu werden, „den man gegen die Spinde schubsen kann“. Unsere größte Angst ist es, kritisiert oder lächerlich gemacht zu werden – beides ist extrem beschämend.

Brown (2012) bringt demnach die verschiedenen Schambeschreibungen mit Attributen in Verbindung, die in den USA mit Erwartungen an Weiblichkeit oder Männlichkeit verbunden werden. Den Untersuchungen von Mahalik et al. (2005, S. 317–335) zufolge werden die folgenden Attribute typischerweise mit Weiblichkeit assoziiert: „Nett zu sein, ein schlankes Körperideal anzustreben, Bescheidenheit zu zeigen, indem man keine Aufmerksamkeit auf die eigenen Talente oder Fähigkeiten lenkt, häuslich zu sein, sich um Kinder zu kümmern, in eine romantische Beziehung zu investieren, sexuelle Intimität auf eine feste Beziehung zu beschränken und unsere Ressourcen zu nutzen, um in unser Aussehen zu investieren“ (Brown, 2012, S. 89, eigene Übersetzung).

Im Gegensatz dazu haben Mahalik et al. (2003, S. 325) die folgenden Attribute ermittelt, die als typisch männliche Eigenschaften angesehen werden können: emotionale Kontrolle, Risikobereitschaft, Gewalt, Dominanz, hohes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, Vorrang der Arbeit, Vorherrschaft gegenüber Frauen, Verurteilung von Homosexualität und Streben nach Status. Brown betont, dass diese Normen den Kern der Schamauslöser bilden (Brown, 2012, S. 107), und kommt zu dem Schluss, dass Scham zwar „ganz eindeutig geschlechtsspezifisch organisiert“ ist (Brown, 2012, S. 95), die Erfahrung von Scham jedoch als universell und zutiefst menschlich angesehen werden kann. Außerdem weist Hilgers darauf hin, dass Männer offenbar häufiger aggressiv mit Scham umgehen als Frauen. Im Gegensatz dazu neigen Frauen offenbar eher zu einem introvertierten, manchmal depressiven Bewältigungsverhalten als Männer (Hilgers, 2013, S. 325). Die finnische Sozialpsychologin Silfver-Kuhalampi (2009) betont die Relevanz der Erhebungsmethode im Hinblick auf geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Sie ist der Ansicht, dass Frauen als Folge traditioneller weiblicher Rollenmodelle wahrscheinlich zu mehr Empathie ermutigt werden und daher eher zu Schuld- und Schamgefühlen neigen als Männer. Es muss jedoch eingeräumt werden, dass die Schwierigkeit bei der Verwendung szenariobasierter Messungen von Schuld und Scham in der Tatsache besteht, dass Männer und Frauen Scham und Schuld offensichtlich in unterschiedlichen Kontexten erleben (Silfver-­ Kuhalampi, 2009, S. 37–38). Darüber hinaus unterstreicht sie, dass die meisten Erkenntnisse über geschlechtsspezifische Unterschiede bei moralisch relevanten Kon-

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strukten auf westlichen Kulturen beruhen und diese Unterschiede nicht unbedingt als universell angesehen werden können (Silfver-Kuhalampi, 2009). Nach Einschätzung von Fischer und Manstead (2000) gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede sowohl beim Erleben als auch beim Ausdruck von Emotionen, insbesondere in Bezug auf Schuld und Scham. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede scheinen in der Regel in individualistischen Kulturen stärker ausgeprägt zu sein als in kollektivistischen Kulturen, in denen die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den gesellschaftlichen Rollen als relativ geringer angenommen werden. Sie unterstreichen, dass in kollektivistischen Kulturen die gesellschaftlichen Rollen stärker hinsichtlich des Geschlechts differenziert sind, d. h. geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Emotionen bei Frauen aus kollektivistischen Kulturen als weniger ausgeprägt angenommen werden, während Männer aus individualistischen Kulturen bei selbstberichteten Schuld- und Schamgefühlen geringer abschnitten als Frauen aus diesen Kulturen oder als Männer und Frauen aus kollektivistischen Kulturen (Silfver-Kuhalampi, 2009, S.  37–38; weitere Erörterung der Unterschiede zwischen Schamgefühlen in kollektivistischen und individualistischen Kulturen siehe Bhawuk, Sinha, Buch, Louth, Brennan, Robertson und Cox in diesem Buch). Fischer et al. (2004) fanden heraus, dass Männer aus Kulturen, in denen die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den gesellschaftlichen Rollen weniger ausgeprägt sind, bei der Intensität der selbstberichteten Emotionen, die ein Gefühl der Machtlosigkeit hervorrufen (Angst, Traurigkeit, Schuld und Scham), niedrigere Werte aufwiesen als Frauen oder als beide Geschlechter in Ländern mit ausgeprägteren geschlechtsspezifischen Unterschieden. Fischer und Manstead (2000) bringen diese Ergebnisse mit individualistischen Werten wie Angst und Traurigkeit in Verbindung und weisen darauf hin, dass Scham und Schuldgefühle dadurch zu einem Gefühl der Machtlosigkeit und mangelnden Kontrolle beitragen. Daraus schließen sie, dass in individualistischen Kulturen die Frauen die Verantwortung für die Aufrechterhaltung positiver sozialer Beziehungen und einer gesunden emotionalen Atmosphäre übernommen haben (Fischer & Manstead, 2000). Silfver-Kuhalampi (2009, S. 76) weist darauf hin, dass eine kürzlich durchgeführte Untersuchung das Vorhandensein kulturspezifischer Merkmale von Geschlechter-­unterschieden bestätigt hat. In dieser Untersuchung wurden Personen aus Finnland und Peru verglichen, und die Ergebnisse zeigten, dass die Peruaner*innen Tradition, Konformität, Macht und Leistung mehr schätzten als die Finn*innen, während die Finn*innen bei Werten wie Hedonismus, Stimulation und Wohlwollen höhere Werte aufwiesen als die Befragten aus Peru. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Werten bei den finnischen Befragten stärker ausgeprägt waren als bei den Peruaner*innen. Laut Silfver-­ Kuhalampi waren die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der finnischen Gruppe in Bezug auf die Bedeutung von Macht, Universalismus und Sicherheit deutlich ausgeprägter als in der peruanischen. Sie stellte zudem fest, dass die Mädchen den Universalismus höher einschätzten als die Jungen, während die Jungen Macht und Sicherheit höher bewerteten als die Mädchen. Im Vergleich dazu war der Unterschied zwischen den Geschlechtern bei den Peruaner*innen in Bezug auf den Hedonismus größer. Während die peruanischen Mädchen bei der Einschätzung des

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Hedonismus sehr niedrig abschnitten, schnitten die finnischen Jungen und Mädchen besser ab als die peruanischen Jungen. Sie weist darauf hin, dass die Varianz der Werteprioritäten bei den Peruaner*innen geringer war als bei den finnischen Proband*innen. Konformität wurde von den peruanischen Proband*innen als wichtigster Wert angesehen. Der Respekt gegenüber Traditionen und der Einhaltung sozialer Normen wurde in Peru von beiden Geschlechtern als sehr bedeutsam erachtet. Die Ergebnisse bezüglich der Schuld- und Schamneigung zeigten auch einen deutlichen Geschlechtsunterschied bei der Schuldneigung, die bei den Finn*nnen stärker ausgeprägt war als bei den Peruaner*innen. Finnische Jungen wiesen niedrigere Werte bei der Schuldanfälligkeit auf als finnische Mädchen oder als beide Geschlechter in Peru, was mit den Ergebnissen von Fischer und Manstead (2000) in Bezug auf den Unterschied bei Schuld und Scham zwischen kollektivistischen und individualistischen Kulturen übereinstimmt (Silfver-Kuhalampi, 2009, S. 76). Silfver-Kuhalampi schlussfolgert, dass die kulturellen Wahrnehmungen in Bezug auf Werte und Schuldgefühle in Finnland stärker nach Geschlecht differenziert sind als in Peru. Die Ergebnisse ihrer Studie deuten zudem darauf hin, dass Attribute, die mit männlichen und weiblichen Geschlechterrollen verbunden sind, sich zwischen den Kulturen unterscheiden. In ihrer Untersuchung über die Wahrnehmung verschiedener Altersgruppen in Bezug auf Scham, Schuld und zwei Stolzvarianten (authentisch und überheblich) sammelten Orth et al. (2010) Daten von mehr als 2000 Personen im Alter zwischen 13 und 89 Jahren. Ihre Ergebnisse zeigen, dass Frauen über ein höheres Maß an Scham- und Schuldgefühlen berichteten, jedoch weniger überheblichen Stolz erlebten als Männer. Was die Unterschiede in Bezug auf den ethnischen Hintergrund betrifft, so berichteten schwarz gelesene Befragte weniger über Scham als Weiße oder Asiat*innen, und Asiat*innen berichteten mehr überheblichen Stolz als schwarz oder weiß gelesene Personen (Orth et al., 2010, S. 1067). Dieses Buch will einen Beitrag zu theoretischen, kulturellen und kulturvergleichenden Einsichten und Perspektiven leisten. Der folgende Abschnitt enthält eine kurze Vorschau auf die verschiedenen Kapitel und Diskussionsstränge des Buches.

1.8 Kapitelvorschau Ausgehend von den vorangegangenen Diskussionen über Scham im Kontext des aktuellen Paradigmenwechsels hin zur Betrachtung von Scham als gesundheitsbezogener Ressource, aus der Perspektive der Positiven Psychologie und vor dem Hintergrund der kulturellen Divergenz wird Scham in diesem Buch als gesundheitsbezogene Ressource verstanden, die eine schützende und entwicklungsfördernde Wirkung auf das Selbst haben kann. Als ein soziokulturelles Konstrukt ist Scham immer in einen Diskurs über kulturelle und soziale Normen und Werte eingebettet. Scham wird als relevante Kraft für die Entwicklung der persönlichen Identität und für das weitere Wachstum und die Entwicklung des Individuums angesehen. Als relevante Emotion für das Individuum und für die Entwicklung der persönlichen Identität kann Scham – wenn sie konstruk-

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tiv genutzt und toxische Scham umgewandelt wird – zu einem wichtigen Faktor bei der Schaffung einer stabilen und positiven Identität werden und zur psychischen Gesundheit des/der Einzelnen im Laufe des Lebens beitragen. Scham kann auch ein wichtiger Faktor bei der Stärkung sozial akzeptabler Verhaltensweisen sein, indem sie das Bewusstsein für Authentizität, Integrität und Kongruenz sowohl beim Individuum als auch beim Kollektiv stärkt sowie einen positiven Beitrag zu einem akzeptierten sozialen Wertesystem und einer angemessenen Normbasis leistet. Scham kann zur Widerstandsfähigkeit einer Person beitragen, indem sie die Fähigkeit stärkt, dem sozialen Umfeld eine Bedeutung beizumessen und ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Schutzes durch sich selbst und andere zu erfahren. So wird Scham zu einem mächtigen Regulativ für das Individuum und das Kollektiv, das lebenslanges Lernen, Wachstum und Entwicklung initiiert. Sie wird auch als ein Faktor gesehen, der die Kreativität anregt und Einzelpersonen und Gruppen durch Selbstreflexion, Beratung und Anregung zu größerer Selbstentfaltung befähigt. Die obigen Beschreibungen des Schamgefühls bilden die Grundlage für die folgende Übersicht über die verschiedenen Kapitel dieses Buches. Das Buch ist in drei Hauptteile gegliedert, die Folgendes umfassen: (1) theoretische Diskussionen, (2) kulturspezifische Erkenntnisse und (3) die Nutzung von Scham als gesundheitsbezogene Ressource in Beratung und Therapie.

1.8.1 Teil I Theoretische Perspektiven auf Scham und Kultur In den ersten drei Kapiteln dieses Buches wird Scham im Kontext verschiedener theoretischer Perspektiven diskutiert. In ihrem Kapitel leistet Michelle May einen Beitrag zur bestehenden Wissensbasis über Scham aus einer psychodynamischen Systemperspektive. Die Autorin hebt relevante Grundprinzipien hervor, die sich aus einem psychoanalytischen Ansatz ableiten, der sich vor allem auf Freud, Klein, Bion und Jaques stützt. Abschließend stellt sie eine Fallstudie vor, die veranschaulicht, wie die Psychodynamik zu einem Verständnis der Schamdynamik beitragen kann, wobei sie die Wechselbeziehungen mit Kultur und Rasse hervorhebt. Markus van Alphens Kapitel zu „Scham als funktionale und adaptive Emotion: Eine bio-psycho-soziale Perspektive“ untersucht Scham als eine konstruktive, funktionale und adaptive Emotion. Der Autor entwickelt eine theoretische Synthese verschiedener Emotionstheorien und wirft einen genaueren Blick auf Scham und ihre Erscheinungsformen in verschiedenen Kulturen. Tom Ryan bezieht sich auf die gesunde Scham im Kontext der persönlichen Überzeugungen, des individuellen Wertesystems und der Selbsteinschätzung. Der Autor erforscht Scham im individuellen Kontext sowie im Hinblick auf kulturelle Normen im australischen Kulturraum. Schließlich wird Scham im Zusammenhang mit Spiritualität und Moral diskutiert. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass Scham als grundlegendes Element des Menschseins betrachtet werden sollte, das den Menschen zu einem ganzheitlichen, verantwortungsvollen Wesen macht.

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1.8.2 Teil II Kulturspezifische Perspektiven auf Scham Der zweite Teil des Buches umfasst sechs Kapitel und erörtert kulturspezifische Perspektiven auf Scham. Dharm P. S. Bhawuk führt in das indische Schamkonzept lajja ein, indem er dessen Bedeutung erforscht und seine Verwendung in zwei bedeutsamen traditionellen Schriften, der Bhagavad-Gita und der Durga Saptashati, analysiert. Dieses Kapitel bietet weitergehende kulturelle Einblicke, nicht nur in Bezug auf diese beiden Schriften, sondern hinsichtlich der Verwendung des Begriffs in der täglichen Kommunikation und in sprichwörtlichen Ausdrücken. Der Autor weist nach, dass in hinduistischer Kultur über den Begriff lajja, Scham und Schuld miteinander verwoben werden, während sie in der westlichen Welt gewöhnlich als getrennte Konzepte beschrieben werden. So nimmt dieses Kapitel eine andere Perspektive als die weitverbreitete Unterscheidung zwischen „Schuld- und Schamkulturen“ ein. Die Autorinnen Claude-Hélène Mayer und Louise Tonelli diskutieren neue Forschungserkenntnisse zu Scham innerhalb von südafrikanischen Hochschuleinrichtungen. Die Autorinnen stellen aktuelle qualitative Forschungsergebnisse zu Schamerleben und -rezeption in der südafrikanischen Arbeitswelt vor. Es werden Schamdefinitionen, Beispiele von Schamerfahrungen in Arbeitszusammenhängen sowie persönliche und organisationale Strategien zum Umgang mit Scham am Arbeitsplatz diskutiert. Sie diskutieren die positiven Auswirkungen von Scham und geben Empfehlungen für die künftige Forschung und Praxis. In ihrem theoretischen Kapitel über die Rolle der Scham in verschiedenen kulturellen Umgebungen eröffnet Barbara Buch einen Diskurs zur kulturellen Wirkung von Scham in der heutigen nordamerikanischen/kanadischen Gesellschaft. Sie entwickelt ein Scham-Stolz-Kontinuum, das auf Antonovskys Modell der Salutogenese Bezug nimmt. Die Autorin beschreibt Beispiele für Scham und Beschämung in indigenen und europäisch-kolonialistischen Kulturen und trägt so zu einem besseren Verständnis der Auswirkungen von Scham in der heutigen nordamerikanischen Gesellschaft bei. Schließlich wird die Scham als politisches Instrument untersucht, das sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft als Gesundheits- oder Überlebensressource dienen kann. Sharon Louth untersucht Scham aus der indigenen australischen Perspektive. Sie legt einen Schwerpunkt auf die Erforschung von Selbstvertrauen, Selbstkonzeptualisierung und Selbstwirksamkeit im Zusammenhang mit Scham. Sie entwickelt darüber hinaus Strategien zum Umgang mit Scham und Beschämung auf persönlicher und kollektiver Ebene im Kontext dieser spezifischen kulturellen Gemeinschaften. Die Autor*innen Samantha Brennan, Neville Robertson und Cate Curtis definieren Scham als ein starkes und aufrüttelndes Erlebnis, das nicht unbedingt von allen negativ erlebt wird. In diesem Kapitel werden die Reaktionen auf Scham im Kontext der Resilienz untersucht. Es werden Forschungsergebnisse vorgestellt, die insbesondere auf die Erfahrungen und Perspektiven der Pākehā-Neuseeländer*innen – also die Nachfahren der europäischen Siedler*innen – Bezug nehmen.

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Rebecca Merkin stellt Ergebnisse einer Mobbing-Studie vor, die die Zusammenhänge von Beschämung, Schamerfahrungen und Mobbing in verschiedenen kulturellen Gruppen innerhalb der USA zeigen. Die Autorin hebt hervor, dass Scham als ressourcenorientierter Mechanismus dienen kann, der auf dem Wunsch nach harmonischer Vermittlung beruht, und gibt einen Überblick über die einschlägige Literatur im Hinblick auf kulturübergreifende Perspektiven auf Scham.

1.8.3 Teil III Die Berücksichtigung von Scham und Kultur in Therapie und Beratung Der dritte Teil des Buches befasst sich mit der Anwendung von Scham und Kultur in der therapeutischen und beratenden Praxis. Mrigaya Sinha gibt einen Überblick über die Implikationen von Scham in psychotherapeutischen Settings und berücksichtigt dabei die einschlägigen Theorien, Methoden und Praktiken. Scham kann im Hinblick auf ihre Bedeutung in psychotherapeutischen Interventionen erschlossen und durch verbale und nonverbale ­Marker der Scham identifiziert werden. Die Autorin erörtert Scham im therapeutischen Kontext und entwickelt Leitlinien für die Bearbeitung von Scham in therapeutischen Zusammenhängen. Claude-Hélène Mayer geht in ihrem Kapitel der Frage nach, wie Scham zu einer „seelenerfüllenden Emotion“ werden kann und veranschaulicht dies am Beispiel archetypischer Arbeit aus einem Gruppenentwicklungsprozess. Dabei wird auf die archetypische Arbeit von Carl Gustav Jung aus der Per­spektive der Positiven Psychologie Bezug genommen. Das Buch integriert verschiedene psychologische Perspektiven und Ansätze, einschließlich ethischer und spiritueller Bezüge zur Scham, sozialer und literaraturbezogener Ansätze sowie kulturspezifischer Einsichten aus australischen, indischen, südafrikanischen, neuseeländischen, nordamerikanischen und europäischen kulturellen Kontexten. Durch die Darstellung theoretischer, empirischer und praktischer Erkenntnisse über Scham und Kultur aus der Perspektive der Positiven Psychologie trägt dieses Buch dazu bei, eine solide Wissensbasis für zukünftige konzeptionelle Arbeit, Forschung und Praxis im Umgang mit Scham aus verschiedenen disziplinären und kulturellen Perspektiven zu schaffen.

Literatur Andrews, B., Qian, M., & Valentine, J. (2002). Predicting depressive symptoms with a new measure of shame: The experience of shame scale. British Journal of Clinical Psychology, 41(1), 29–42. https://doi.org/10.1348/014466502163778 Andrieux, L. (2012). Submission for INSEAD executive masters thesis consulting and coaching for change (1. Aufl.). https://flora.insead.edu/fichiersti_wp/InseadEMCCCtheseswave1-10/77561. pdf. Zugegriffen am 11.10.2023.

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Teil I

Theoretische Perspektiven auf Scham und Kultur

Kapitel 2

Scham! Eine systempsychodynamische Perspektive Michelle May

2.1 Einleitung Die Erforschung der Psychodynamik unserer Emotionen löst oft Gedanken über die destruktiven Elemente dieser Emotionen aus, was zu Lasten einer positiven Haltung gegenüber dem Wert dieser Emotionen geht. Ich sehe die so genannten destruktiven Elemente von Emotionen als Elemente, mit denen eine Person arbeiten und sie ver­ arbeiten kann, um ein besseres Verständnis für die eigene Reaktion zu erlangen und ein nützlicheres Ergebnis zu erzielen  – beispielsweise eine Konversation, die die Komplexität des menschlichen Daseins integriert (siehe Cilliers & May, 2010). In­ dem wir diese Elemente ignorieren, verdrängen und verleugnen, sorgen wir für des­ truktive Ergebnisse für Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen. Daher bin ich der Meinung, dass die Konzentration auf die so genannten destruktiven (und kon­ struktiven) Elemente von Emotionen, in diesem Fall Scham, es ermöglicht, mit diesen Elementen arbeiten können, um die Komplexität an der Schnittstelle zwischen Kul­ tur und Rasse zu integrieren. Ziel dieses Kapitels ist es, einen Beitrag zum bestehenden Wissen über Scham zu leisten, d.  h. zu zeigen, wie unser Verständnis von Scham im Kontext der Über­ schneidung von Kultur und Rasse durch die Verwendung der systempsycho­ dynamischen Perspektive verbessert werden kann. Zunächst gebe ich einen Über­ blick über die Schamdfinitionen und nutze zusätzliche Ansätze, die die unbewusste Dynamik von Scham verdeutlichen. Dann folgt ein Überblick über die System­ psychodynamik, die auf den Arbeiten von Freud, der Objektbeziehungstheorie von Klein, der Gruppentheorie von Bion, der Arbeit von Jaques und Menzies Lyth über Organisationen im Zusammenhang mit sozialer Abwehr und neidischen Angriffen M. May (*) Department of Industrial Psychology, Universität von Südafrika (UNISA), Muckleneuk Ridge, Pretoria, Südafrika E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 E. Vanderheiden, C.-H. Mayer (Hrsg.), Der Wert der Scham, https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3_2

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sowie der Theorie der offenen Systeme (Fraher, 2004) beruht. Anhand einer Fall­ studie wird veranschaulicht, wie die Systempsychodynamik dazu beitragen kann, unser Verständnis der Schamdynamik an der Schnittstelle von Kultur und Rasse zu verbessern, und wie sich dieses verbesserte Verständnis auf die Arbeit von Prakti­ kern auswirken kann.

2.2 Schamdynamiken Scham wird als soziale Emotion konzeptualisiert, die durch die persönliche Ab­ wertung des eigenen Handelns aus der Sicht der anderen hervorgerufen wird (Eli­ son, 2005; Fullagar, 2003). Scham entsteht aus dem eigenen Bewusstsein heraus und wird in Gegenwart anderer erlebt, wobei der Fokus auf dem eigenen Selbst als negativ liegt. Es handelt sich um eine Reihe von emotionalen Reaktionen, die mit der Wahrnehmung einer Abwertung durch Selbstbeobachtung zusammenhängen, d. h. eine Person nimmt ihren sozialen Status bzw. ihre Akzeptanz durch andere als unzulänglich, vermindert oder weniger erwünscht wahr (Elison, 2005; Fullagar, 2003; Morrison, 2011). Scham ist verbunden mit einer wahrgenommenen oder tat­ sächlichen Verringerung des sozialen Ranges (Kane, 2012). Somit spielen das Selbst und das Selbstbewusstsein eine zentrale Rolle bei der Scham, denn Scham wird erlebt, wenn das (ganze) Selbst als fehlerhaft und unerträglich empfunden wird (Lansky, 1999, 2003). Lansky beschreibt Scham auch als eine moralische Emotion. Forschungen haben gezeigt, dass es einen universellen Ausdruck von Scham (ein Scham-Display) gibt, nämlich das Senken der Augen, eine verringerte Muskel­ spannung von Gesicht und Hals, die zu einem Senken des Kopfes führt, sowie die Verkleinerung von Gesicht, Körper, Worten und Handlungen, um kleiner und nicht bedrohlich zu erscheinen und Rückzug, Kapitulation und Beschwichtigung zu ver­ mitteln (Elison, 2005). Diese Schamdarstellung signalisiert anderen Be­ schwichtigung. Die Schamintensität wird durch die Kluft zwischen dem idealen Selbst und dem tatsächlichen Selbst bestimmt. Das Individuum bewertet sein Selbst mit den Augen der anderen (Fullagar, 2003), um zu sehen, wie es hinter seinen eigenen Idealen oder Erwartungen zurückbleibt, was zu Gefühlen des Versagens oder der Minderwertigkeit führt (Morrison, 2011). Freud (Lansky, 1999) versteht Scham auf der unbewussten Ebene als Signal für die Angst vor anstehenden psychisch schmerzhaften Gefühlen, durch unerträgliche narzisstische Kränkung und beginnende soziale Vernichtung verletzt zu werden. In ihrer unerträglichsten Form signalisiert Scham auch den Verlust jeglicher Ver­ bindung zur sozialen Ordnung, die ultimative Form der Trennung – die soziale Ver­ nichtung (Lansky, 2005, S. 879). Scham als Signalangst löst eine Abwehr gegen das schmerzhafte Bewusstsein eines negativen Affekts, einer abstoßenden Idee oder eines intrapsychischen Konflikts aus, dem das Ich widerstehen will. Es ist wichtig festzuhalten, dass Scham weniger der Verteidigung gegen Triebe oder Instinkte dient, sondern mit dem schmerzhaften Bewusstsein verknüpft ist, nicht wertvoll zu

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sein oder ein fehlerhaftes Selbstgefühl zu erleben (Rizzuto, 2014). Scham als ­Abwehrreaktion unterdrückt nicht Triebkonflikte, sondern das Bewusstsein von Triebkonflikten, die mit der Erfahrung verbunden sind, minderwertig, nicht liebens­ wert usw. zu sein (Lansky, 1999), angesichts der Gegenwart innerer oder äußerer Objekten (Morrison, 2011; Rizzuto, 2014). In diesem Fall hat Scham eine emotions­ regulierende Funktion, die sicherstellt, dass das Individuum die soziale Bindung im Zusammenhang mit der Möglichkeit einer Statusgefährdung oder der Akzeptanz aufrechterhält (Lansky, 1999). Scham wird erlebt, wenn das Selbst von Konflikten betroffen ist, die sich aus der narzisstischen Selbsteinschätzung in Gegenwart be­ deutender interner und externer Objekte ergeben (Rizzuto, 2014). Somit steht das Erleben von Scham in direktem Zusammenhang mit verinnerlichten Objekt­ beziehungen (Rizzuto, 2014), wobei Scham einen verinnerlichten Blick auf das Selbst (basierend auf dem introjizierten Blick des Anderen) beinhaltet, der das ideale Selbst im Vergleich zum tatsächlichen Selbst beurteilt (Morrison, 2011). Wie von Lansky (1999) erörtert, ist Scham das Ergebnis einer defensiven emotions­ regulierenden Aktivität und/oder einer gestörten Bildung von Objektbeziehungen. Letzteres wird später in diesem Kapitel erörtert. Die Literatur legt nahe, dass Scham und Schuld schlecht verstandene Konzepte sind, die fälschlicherweise als ein und dieselbe Kategorie angesehen werden (Eli­ son, 2005; Lansky, 1999; Tangney, 2001). Die große Überschneidung zwischen den beiden Konstrukten in der Forschung und bei Theoretiker*innen könnte darauf zurückzuführen sein, dass Scham einer der Hauptaffekte ist, die mit Schuld in Ver­ bindung gebracht werden (Elison, 2005). Auch Lansky (1999) betrachtet Schuld und Scham als moralische Emotionen. Scham deutet in der erwachsenen Psyche auf einen Konflikt mit dem Ich-Ideal (einer Reihe von Normen, Idealen und Rollen­ erwartungen (Lansky, 2005)) hin, das als Gewissen bezeichnet wird (Lansky, 1999), während Schuldgefühle mit Übertretungen und Bestrafung zu tun haben und auf die Angst vor Vergeltungsmaßnahmen hinweisen (Lansky, 2005, S. 878). Das Ich-Ideal ist die frühe Entwicklung des Gewissens, die mit der präödipalen Dynamik ver­ bunden ist. Die spätere, post-ödipale Entwicklung des Gewissens führt zum ÜberIch, das über dem Ich steht und es bewertet (Lansky, 1999). Eine weitere Erörterung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Konstrukten ge­ hört nicht in den Rahmen dieses Kapitels. In der modernen Kultur scheint sich Scham auf Schuld, Verlegenheit und Er­ niedrigung ausgeweitet zu haben. Elison (2005) bietet Definitionen für diese Kon­ zepte an: • Scham ist die Wahrnehmung oder Erwartung der Abwertung der eigenen Person durch andere; • Peinlichkeit beinhaltet alle Aspekte von Scham und öffentliche Bewertung; • Demütigung beinhaltet alle Aspekte der Scham, der öffentlichen Abwertung und der feindseligen Absicht anderer. Lansky (1999) definiert Demütigung als das Erleben von Scham, die einer anderen Person absichtlich zugefügt wurde. • Scham-Schuld bezeichnet alle Aspekte der Scham, die im Zusammenhang mit einer Straftat erlebt werden.

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Die adaptive Funktion der Scham kann nicht ignoriert werden. Stadter (2011) er­ kennt die konstruktiven Aspekte der Scham an, darunter die Beschwichtigung ande­ rer, die Vermeidung von Handlungen, die eine wahrgenommene oder abgeleitete Abwertung hervorrufen, das Verstecken des Selbst, wenn es geschwächt oder ver­ letzt ist, Bescheidenheit, soziale Sensibilität und die Anpassung an soziale/kultu­ relle Normen. Elison (2005, S. 219) stellt fest, dass Scham für Beziehungen das ist, was Schmerz für die körperliche Unversehrtheit ist. So wie Schmerz eine Warnung vor körperlichen Schäden ist, ist Scham eine Warnung vor einer gestörten Be­ ziehung. So wie die negative Qualität des Schmerzes uns motiviert, ihn zu beenden oder zu vermeiden, motiviert uns die negative Qualität der Scham, ihn zu beenden oder zu vermeiden. Sowohl Schmerz als auch Scham dienen dazu, das Ereignis ins Bewusstsein zu rufen, unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken und uns zu an­ gemessenem Handeln zu motivieren.

2.3 Kulturbedingte Schammanifestationen In der bisherigen Diskussion wurde versucht, eine universelle Definition von Scham anzubieten. Dabei wird jedoch nicht außer Acht gelassen, dass der universelle As­ pekt der Scham in Bezug auf Charakter, Inhalt und Bedeutung für verschiedene kulturelle Gruppen unterschiedliche Erscheinungsformen annimmt (Shweder, 2003). Nach Shweder (2003) darf die unterschiedliche Ausprägung von Scham in verschiedenen historischen Epochen nicht ignoriert werden. Obwohl es bei Scham darum geht, von anderen als fehlerhaft beurteilt zu werden (universelle Definition), kann Scham in einer Kultur bedeuten, als nicht liebenswert betrachtet zu werden (wenn dies als relevante Norm in der Kultur geschätzt wird) und in einer anderen darum, Verantwortung nicht auf angemessener Weise zu übernehmen (wenn in der Kultur Verantwortung geschätzt wird) (siehe Shweder, 2003). Die Erscheinungsformen der Scham variieren zwar von Kultur zu Kultur, aber nicht willkürlich und grenzenlos. Shweder (2003) schlägt einen Rahmen vor, der beschreibt, wie der kulturell geschätzte Aspekt des Selbst in drei Ethiken zu­ sammengefasst werden kann, nämlich die „Ethik der Autonomie“, die „Ethik der Gemeinschaft“ und die „Ethik der Göttlichkeit“. In der „Ethik der Autonomie“ wird das Selbst als eine individuelle Präferenzstruktur konzeptualisiert, die stärker indi­ viduelle Wahlfreiheiten und persönliche Freiheit betont. Die „Ethik der Gemein­ schaft“ betont, dass die Rolle des Individuums in der Gemeinschaft untrennbar mit der jeweiligen Identität verbunden ist, die Teil eines größeren Kollektivs mit einer bestimmten Geschichte ist. In der „Ethik der Göttlichkeit“ wird das Selbst als spiri­ tuelles Wesen begriffen, das mit einer heiligen oder höheren Ordnung verbunden ist und sich durch ein erhabenes und göttliches Erbe ausszeichnet (Shweder, 2003). Das relative Gewicht der drei Ethiken innerhalb einer Kultur beeinflusst die Art und Weise der Schamerfahrungen und Ausdrucksformen sowie die Relevanz von Scham

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(Shweder, 2003, S. 1121). Im Kontext von Sprache als kulturellem Ausdruck lassen sich Unterschiede in der Erfahrung, der Relevanz und Bedeutungszuschreibung von Scham beobachten (Etezady, 2010; Taylor, 2015). Nach Fullagar (2003) ist Scham sehr stark mit der verkörperten Identitätsdar­ stellung in Bezug auf kulturelle Normen verbunden, da sie Gefühle des Selbst­ hasses, des Ekels und der Abscheu hervorruft, die sich nicht leicht als „Kognitio­ nen“ vom Selbst lösen lassen. Scham bedeutet also soziale Ablehnung, die entweder auf der Realität beruht oder angenommen wird. Die Schamintensität wird durch die Größe des abwertenden Publikums, die Bedeutdamkeit der Personen (Freund*in­ nen oder Fremde), die Teil des abwertenden Publikums sind, die Frage, ob die Ab­ wertung angenommen oder real ist, und den Intensitätsgrad der Abwertung, z.  B.  Missfallensausdruck oder völlige Ablehnung, beeinflusst. Diese Merkmale werden durch kulturelle Normen beeinflusst. Unser Urteil über die Angemessenheit der Abwertung durch andere kann die Erfahrung von Scham dämpfen oder ver­ stärken (Elison, 2005; Lansky, 1999).

2.4 Theoretischer Ansatz: Systemische Psychodynamik Die Systempsychodynamik ermöglicht die Untersuchung und Interpretation kollek­ tiver, voneinander abhängiger, unbewusster und bewusster individueller, gruppen­ bezogener und gruppenübergreifender Prozesse, die sich aus der Verflechtung zwi­ schen Gruppen und Untergruppen innerhalb eines sozialen Systems ergeben (Czander & Eisold, 2003). Sie bietet uns auch die Möglichkeit, unbewusste Phäno­ mene innerhalb von Menschen, organisationalen Kontexten (Aufgaben, Strukturen, Grenzen) und die komplexe Interaktion zwischen beiden zu berücksichtigen (Amado, 1995). In den folgenden Abschnitten werden die verschiedenen theoreti­ schen Grundlagen der Systempsychodynamik erläutert.

2.4.1 Psychoanalyse Obwohl Freud nicht als Gruppentheoretiker bekannt ist, spekulierte er über Grup­ pen- und Organisationsdynamik (Freud, 1921), was die theoretische Grundlage der Systempsychodynamik bildete. Bion (1961) schlug vor, psychoanalytische Prinzi­ pien auf Gruppenphänomene anzuwenden, um so den Einblick in dynamische Gruppenprozesse zu verbessern, die sowohl auf bewusster als auch auf unbewusster Ebene in verschiedenen Kontexten, einschließlich Gruppen und Organisationen, ab­ laufen. Die Systempsychodynamik geht ferner von einem Konflikt zwischen ratio­ nalem Verhalten, das durch die Aufgabe(n) der Organisation definiert ist, und un­ bewussten individuellen und Gruppenprozessen aus (Armstrong, 2006).

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2.4.1.1 Grundannahme Bions zentrale Annahme ist, dass in jeder Gruppe zwei Gruppen gleichzeitig, aber in unterschiedlichem Ausmaß, auftreten, nämlich die Arbeitsgruppe und die Gruppe der Grundannahmen. Bion betonte, dass sowohl die Arbeits- als auch die Grund­ annahmegruppe notwendig sind, um die Aktivität einer Gruppe zu gewährleisten. Bion benutzte Kleinianische Konzepte, um zu veranschaulichen, dass die Gruppe der Grundannahmen ihren Ursprung in der Kindheit hat, und um unser Verständnis der Funktionsweise einer Gruppe zu erhellen. Nach Bion (1975) ist die Gruppe in eine Arbeitsgruppenaktivität involviert, wenn die Aktivität der Gruppenmitglieder mit der Realität in Verbindung steht und rational ist, was Freuds Idee des Ichs äh­ nelt. Die Aktivität der Arbeitsgruppe wird durch die Aktivität der Grundannahmen, d. h. die irrationale, primitive und sich in der Phantasie verlierenden psychischen Aktivität der Gruppe, behindert, umgelenkt und unterstützt. Die Grundannahmen führen zu einem defensiven oder regressiven Verhalten, das durch primitive Ab­ spaltung und projektive Identifikation, Depersonalisierung und infantile Regression sowie den Wunsch, die Realität zu vermeiden, gekennzeichnet ist (Menzies Lyth, 1981). 2.4.1.2 Die Organisation-in-the-Mind Bions Arbeiten tragen dazu bei, sich Klarheit über den Gegenstand der Aufmerk­ samkeit und der Interpretation in der Psychoanalyse einer Organisation zu ver­ schaffen, d.  h. über die emotionalen Erfahrungen zwischen Individuen und der Gruppe, der Gruppe bzw- der Organisation (Long, 2004). Die Beziehung, die ein Individuum zu einer Organisation hat, d. h. die emotionalen Erfahrungen eines In­ dividuums mit der Organisation, beschreibt der Begriff Organisation-in-the-Mind (Armstrong, 2006). 2.4.1.3 Objektbeziehungstheorie Die Objektbeziehungstheorie betont vor allem die Bedeutung der Beziehungen eines Individuums zu tatsächlichen (äußeren) und phantasierten (inneren) Objekten. Diese unbewussten, verinnerlichten Beziehungen zwischen Teil-Selbst (z.  B. ich bin nur schlecht) und internen Teil-Objekten (z. B. andere sind nur schlecht) sind durch Gefühle und Gedanken miteinander verbunden und führen zu zwischen­ menschlichen Beziehungsmustern, die unbewusst gewählt und sich in unseren Objektbeziehungen niederschlagen (Lansky, 2003; Stadter, 2011). Somit stellt die Objektbeziehungstheorie eine Theorie unbewusster interner Objektbeziehungen in dynamischer Wechselwirkung mit aktuellen interpersonellen (und intergruppalen) Erfahrungen dar. Im Wesentlichen erlaubt die Objektbeziehungstheorie die Analyse einer Person und ihrer Beziehungen zu inneren und äußeren Objekten (Czander, 1993; Klein, 1985; Ogden, 1983). Der Begriff „Objekt“ wird verwendet, weil die

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Beziehungen nicht nur zu einer Person bestehen. Die Beziehungen können sich auf eine Gruppe, eine Idee, eine Organisation, ein Symbol und – im Säuglingsalter – auf Körperteile beziehen (Czander, 1993, S. 44).

2.5 Scham und ihre Wurzeln im Kindesalter Wie bereits erwähnt, lässt sich unser Verständnis von Scham verbessern, wenn wir Scham mit unbewussten Phantasien in Verbindung bringen, die auf verinnerlichten Objektbeziehungen beruhen, deren Wurzeln im Säuglingsalter liegen (Rizzuto, 2014). Der Säugling hat Gefühle darüber, wie die/der signifikante m(other) ihn sieht, aufgrund des tatsächlichen Verhaltens der/des signifikanten m(other)oder auf­ grund der Projektionen des Säuglings über die eigenen Gefühle und Fantasien. Diese beiden Komponenten der Erfahrung des Säuglings mit der signifikanten m(other) Person entwickeln sich zu einer einzigen repräsentativen Konstruktion der signifikanten m(other) Person als Teilobjekte in der Psyche (Rizzuto, 2014). Morri­ son (2011) schlägt vor, Scham als das negative Gefühl zu verstehen, das mit Narziss­ mus verbunden ist. Dabei beeinhaltet Narzissmus den Wunsch, für die/den be­ deutenden m(other) etwas Besonderes zu sein. Wenn dieser Wunsch von der bedeutenden m(other) erfüllt wird, entwickelt das Kind ein kohärentes, stabiles und gut angesehenes Selbstgefühl. Gelingt es dem Kind jedoch nicht, mit dem signi­ fikanten m(other) zu verschmelzen oder von ihr gespiegelt zu werden, wird das Selbst als chaotisch, mangelhaft oder fragmentiert erlebt, was das Selbst für narziss­ tische Verletzlichkeit und Scham öffnet. Die Unterbrechung der Spiegelung durch die/den signifikanten m(other), die der Säugling erfährt, führt zu bereits bestehenden Überzeugungen und unbewussten Phantasien über den eigenen Wert, die eigene Fehlerhaftigkeit oder die Vorstellung, nicht liebenswert zu sein, die bis ins Er­ wachsenenalter nachhallen.

2.5.1 Die zwei Positionen Kleins Objektbeziehungstheorie zeigte auch, dass das Erwachsenenalter seine Wur­ zeln im Säuglingsalter hat, indem sie beschreibt, dass die frühesten Aktivitäten des Ichs verschiedene Abwehrmechanismen (wie Abspaltung, Introjektion und Projek­ tion) beinhalten, um bestimmte Ängste aus dem Bewusstsein auszuschließen (Klein, 1985; Stein, 2000). Klein verwies zudem darauf, dass sich die frühe Entwicklung aus zwei unterschiedlichen, aber sich überschneidenden Entwicklungspositionen entwickelt, nämlich der paranoid-schizoiden und der depressiven Position (Klein, 1985; Likierman, 2001). Die paranoid-schizoide Position ist durch Spaltung, Intro­ jektion, Projektion und projektive Identifikation gekennzeichnet, die dafür sorgen, dass andere als Teilobjekte wahrgenommen werden, entweder als gute oder schlechte Objekte. Im Säuglingsalter wird die Bezugsperson in eine gute, nährende

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oder eine schlechte, zurückhaltende Person aufgespalten, was zu den Teilobjekten führt (Robbins & Goicoechea, 2005). Die Verfolgungsangst, die in der paranoid-­ schizoiden Position erlebt wird, ist eine intensive Schamquelle, weil das Selbst sich von der/dem ablehnenden, ausbeutenden und demütigenden Anderen als nicht ge­ liebt wahrnimmt (Lansky, 2003). In der depressiven Position ist eine Person in der Lage, den anderen als ein ganzes, separates Objekt wahrzunehmen, das sowohl gut als auch schlecht ist (Brown, 2003; Klein, 1985; Likierman, 2001). Der Säugling erkennt also, dass die/der Andere sowohl gut und nährend als auch schlecht und zurückhaltend ist. Das Selbst und die/der Andere werden nun durch Gefühle und Denkzustände organisiert, und das Selbst wird als vom Anderen getrennt erlebt (Robbins & Goicoechea, 2005). Die beiden Positionen stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, in­ dem sie sich gegenseitig erzeugen, negieren und bis ins Erwachsenenalter aufrecht­ erhalten. Im dialektischen Wechselspiel zwischen den desintegrativen Tendenzen der paranoid-schizoiden Position und den integrativen Tendenzen der depressiven Position entstehen auf kreative Weise neue psychologische Möglichkeiten, ohne dass es zu einem Abstieg in eine totale Fragmentierung oder eine schwere psycho­ logische Starre kommt (Robbins & Goicoechea, 2005, S. 197). Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass die depressive Position nicht vollständig aufrechterhalten werden kann, denn sobald das Selbstwertgefühl bedroht ist (möglicherweise durch versteckte Scham), neigt die Person in ihrem Erwachsenenleben dazu, wieder aus der paranoid-schizoiden Position heraus zu funktionieren (Likierman, 2001).

2.6 Gesellschaftlich konstruierte Abwehrmechanismen 2.6.1 Angstabwehr in sozialen Systemen Bisher habe ich mich mit der Psychodynamik des Säuglings befasst. Ich halte diese Diskussion für notwendig, weil sie die Diskussion über die Systempsychodynamik in Organisationen erhellen wird. Kleins Verständnis der Beziehung zwischen der m(other) Person und dem Säugling wurde auf die Beziehung zwischen Individuum und Gruppen (siehe Abb.  2.1) sowie zwischen Gruppen in der Organisation an­ gewandt (Powell Pruitt & Barber, 2004). Diese unbewussten Paarungen zwischen dem Selbst und seinen Objekten in der inneren Welt beeinflussen das tägliche Funktionieren auf dreierlei Weise: • Unbewusste Projektion der inneren Welt auf die äußere Realität; • Unbewusste Wahl von Beziehungen, die die inneren Dramen wiederholen (Über­ tragung und Gegenübertragung); und • Durch projektive Identifikation (Stadter, 2011). Kleins Ideen wurden später von Jaques, Menzies Lyth, Miller und Rice auf das Ver­ halten von Erwachsenen in Organisationen angewandt. Jaques und Menzies Lyth

2  Scham! Eine systempsychodynamische Perspektive Beziehung des Säuglings zur MutterBeziehung

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- Kämpfe mit Verschmelzung/Verbindung und Trennung/Isolation - Erlebt sowohl Pflege als auch Frustration - Erlebt starke ambivalente Gefühle - Erlebt Liebe und Hass gleichzeitig - löst Abwehrmechanismen der Spaltung und projektiven Identifikation aus, um mit Ambivalenzen umzugehen - Kämpfe mit der Spannung zwischen Verschlingen und Entfremden

Abb. 2.1  Parallelen zwischen Säuglingen mit Müttern und Individuen mit Gruppen. (Quelle: Wells (1985), S. 117)

bauten auf der Arbeit von Klein auf, insbesondere auf den Ideen der primitiven Ängste und des Abwehrmechanismus, der in der paranoid-schizoiden und de­ pressiven Position mobilisiert wird, um soziale Systeme als Abwehr gegen Ver­ folgungsangst und depressive Ängste zu entwickeln (Long, 2004). Die zugrunde liegende Annahme ist, dass Angst spezifisch für die Art der Arbeit und die zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit der Position in der Organisa­ tion verbunden sind, ist und daraus entsteht (Jaques, 1990; Menzies Lyth, 1960, 1990). Die Individuen in Organisationen verteidigen sich gegen die angstaus­ lösenden Inhalte und die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit bei der Bewältigung einer gemeinsamen Aufgabe, indem sie die Struktur der Organisation im Dienste der Verteidigung und nicht der Arbeit organisieren und nutzen (Amado, 1995; Ja­ ques, 1990; Menzies Lyth, 1990). Auf diese Weise wird die Organisation von ihren Akteur*innen als ein System zur Aufrechterhaltung von Ängsten benutzt, um zu verhindern, dass die Menschen die Ängste, die durch ihre Arbeit und ihre zwischen­ menschlichen Beziehungen entstehen, erleben (Long, 2004). Soziale Systeme zur Abwehr von Angst erklären also die Dynamik einer be­ stimmten Organisation, indem sie die Parallele zwischen den individuellen Abwehr­ mechanismen und den sozialen Abwehrmechanismen von Individuen und Gruppen in einem sozialen System untersuchen. Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Einsatz von projektiven und introjektiven Prozessen die Verfolgungsangst (die/der andere wird als schlecht erlebt) und die depressive Angst (die/der andere wird so­ wohl als gut als auch als schlecht erlebt) lindert, die in unterstützenden oder ab­ hängigkeitsorientierten Organisationen erlebt wird (Jaques, 1990; Menzies Lyth, 1990; Powell Pruitt & Barber, 2004; Young, 1995). Mit anderen Worten: Die Mit­ glieder sozialer Systeme setzen soziale Abwehrmechanismen ein, die vom bewuss­ ten Verhalten getrennt sind, um mit psychisch belastenden Arbeiten und zwischen­ menschlichen Beziehungen umgehen zu können (Mnguni, 2012; Powell Pruitt & Barber, 2004; Young, 1995).

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2.6.2 Neidattacken in sozialen Systemen Stein (2000) verweist darauf, dass innerhalb des systempsychodynamischen Den­ kens die sozialen Systeme als Abwehrmechanismen gegen die Angst umfassend entwickelt worden sind, was zum Paradigma der Angstabwehr geführt hat. Stein (2000) hat ein neues Paradigma vorgeschlagen, nämlich das soziale System als Neidattacke. Obwohl Neid und Abwehrverhalten zusammen auftreten können, sind sie konzeptionell völlig unterschiedlich (Stein, 2000). So wird vorgeschlagen, dass soziale Systeme sowohl durch Neid als auch durch Abwehr von Angst gekenn­ zeichnet sind, und zwar gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten, auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Teilen (Stein, 2000). Mehrere Autor*innen haben vorgeschlagen, dass Neid ein destruktives Phäno­ men in Gruppen, Organisationen und der Gesellschaft ist (Bion, 1985; Mouly & Sankaram, 2002; Stein, 2000). Die Konzeptualisierung von Neid hilft dabei, sich auf die angreifenden und nicht nur auf die defensiven Handlungsweisen in einer Gruppe, Organisation und Gesellschaft zu konzentrieren (Bion, 1985; Stein, 2000). Czander (1993) geht davon aus, dass Neid allen Konflikten in Organisationen zu­ grunde liegt. Nach Mouly und Sankaram (2002) bedroht Neid die Hoffnung in Or­ ganisationen. Nach Mollon (2002) sind Neid, Eifersucht und Scham eng miteinander ver­ bunden. Durch Scham wird die/der Einzelne abgekoppelt und fühlt sich minder­ wertig, unverstanden oder vom anderen ausgeschlossen, was zur Erfahrung von Neid und Eifersucht führen kann. Wichtig ist, dass Neid entsteht, wenn der signi­ fikante m(other) als getrennt und nicht verfügbar erlebt wird, während Eifersucht entsteht, wenn wir wahrnehmen, dass der von uns erwünschte Platz bei der signi­ fikante m(other) von einem Rivalen/einer Rivalin eingenommen wird oder bereits eingenommen wurde (Klein, 1975). Distanziertheit gegenüber der anderen Person, Verachtung und Abwertung könnten Schutzmechanismen gegen Neid, Scham und Eifersucht sein (Mollon, 2002).

2.6.3 Scham und Neid Scham überschneidet sich mit der Manifestation von Neid, indem der Neidangriff innerhalb der sozialen Systeme auch als Abwehr von Angst verstanden werden kann. In diesem Fall ist die Neidattacke eine Verteidigung gegen die Angst vor der Erfahrung von unerträglicher Scham und wahrgenommenem Defizit. Das aus­ lösende Ereignis für eine Neidattacke ist eine schmerzhafte Schamerfahrung. Diese resultiert aus dem impliziten Selbstvergleich in der Neidattacke, bei dem das Selbst sich als minderwertig, ungenügend oder fehlerhaft in Bezug auf den Erfolg, die Kreativität oder das Glücks der/des anderen erlebt. Diese Schamerfahrung be­ zeichnet eine versteckte Scham, die in den vergleichenden Aspekt des Neidangriffs eingebettet ist. Die Neidattacke als Abwehr gegen die Angst vor der Schamerfahrung

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ist also ein Versuch, mit den unerträglichen Schamgefühlen umzugehen und/oder sie zu vertreiben (Kane, 2012). Mit dem Konzept der versteckten Scham ist der Ausdruck von Verachtung als Abwehr von Scham verbunden. Der Ausdruck von Verachtung ist ein Versuch des Individuums, Scham aus dem Bewusstsein zu verdrängen, indem es sie durch pro­ jektive Identifikation in einer anderen Person verortet (Kane, 2012). Die projektive Identifikation bezieht sich auf eine unbewusste zwischenmenschliche Interaktion, bei der das Individuum einen Teil von sich selbst abspaltet und in ein externes Ob­ jekt (die/den anderen) – den/die Empfänger*in der Projektion – hineinversetzt. Die/ der Empfänger*in einer Projektion reagiert auf die projizierten Gefühle, als ob er/ sie sich unbewusst mit den projizierten Gefühlen identifiziert (Ogden, 1983). Czan­ der (1993) schlägt vor, dass projektive Identifikation eine unbewusste Absprache zwischen der projizierenden und der empfangenden Person erfordert, d.  h. die Bereitschaft des anderen Menschen, die Projektionen zu akzeptieren und sich ent­ sprechend zu verhalten. Wie verhält sich nun die projektive Identifikation zur verborgenen Scham? Eine Person wehrt sich gegen die Wahrnehmung von Scham, die auf internalisierten Objektbeziehungen beruht, indem sie die Scham auf eine*n Empfänger*in (ein ex­ ternes Objekt) projiziert. Die empfangende Person identifiziert sich dann mit der Scham und verhält sich wie eine Person, die Scham empfindet. Die projizierende Person ist dann frei von Scham und kann den/die Empfänger*in, der sich mit der Scham identifiziert hat, mit Verachtung strafen. Auf diese Weise bleibt die Scham des/der Projizierenden verborgen und unverarbeitet. Obwohl es sich in diesem Bei­ spiel um eine Einzelperson handelt, kann projektive Identifikation auch zwischen einer Einzelperson und einer (kulturellen) Gruppe, zwischen (kulturellen) Gruppen und zwischen einer Gruppe und einer Organisation auftreten. Es wäre sinnvoll, da­ rüber nachzudenken, wie Gruppen in ihrem Umfeld und in Organisationen die pro­ jektive Identifikation nutzen könnten, um sicherzustellen, dass ihre Scham in der Interaktion innerhalb der Gruppe und zwischen den Gruppen verborgen bleibt.

2.7 Fallstudie Die Forschung an einer ehemaligen schwarzen Universität (historically black uni­ versity = HBU) in Südafrika untersuchte die Psychodynamik zwischen Studieren­ den, Lehrkräften und Management aus der Perspektive der Dozierenden (May, 2010). Mit einer qualitativen Forschungsmethode auf der Grundlage der hermeneu­ tischen Phänomenologie und unter Verwendung eines Einzelfallstudien-Designs und der systempsychodynamischen Perspektive konnten die (emotionalen) Er­ fahrungen der Dozierenden mit ihren Beziehungen zu den Studierenden und dem Management an einer bestimmten HBU untersucht werden. Im Rahmen einer Zufallsstichprobe (Endacott, 2005) nahmen neun Dozierende (acht weiße und ein schwarze Dozent) aus einem Fachbereich einer HBU an Ge­ sprächen über ihre Erfahrungen an dieser Einrichtung teil (Tab.  2.1). Die

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Tab. 2.1  Biografische Daten der Stichprobe (N = 9) Rasse Weiß = 8

Gender Weiblich = 6

Männlich = 2 Schwarz = 1

Männlich = 1

Position Management/Leitende Dozentin n = 1 Leitende Dozentin n = 1 Dozentinnen n = 4 Leitender Dozent n = 1 Dozent n = 1 Dozent n = 1

Alter Über 40 n = 2 Zwischen 30 und 40 n = 1 Unter 30 n = 3 Zwischen 30 und 40 n = 1 Unter 30 n = 1 Unter 30 n = 1

N = Anzahl

­ atenerhebung erfolgte in Form von hermeneutischen Gesprächen mit den neun D Dozent*innen der HBU. Jedes Interview begann mit einer einzigen offenen Frage, nämlich: „Bitte erzählen Sie mir von Ihren Erfahrungen als Dozent*in an dieser Hochschule.“ Danach wurden Fragen gestellt, die auf den Aussagen der Dozieren­ den basierten. Die Interviews wurden aufgezeichnet und transkribiert. Bei der Ana­ lyse, Interpretation und Berichterstattung über die Ergebnisse wurde die von Sha­ piro und Carr (1991) vorgeschlagene interpretative Haltung angewandt. Diese Analyse und Interpretation beinhaltete eine kollaborative Dimension. Die ana­ lysierten Daten wurden an die Dozent*innen geschickt, um festzustellen, ob die Analyse ihre Erfahrungen widerspiegelt, und an Expert*innen für die system­ psychodynamische Perspektive, um zu prüfen, ob die Interpretationen plausibel sind. In Bezug auf die Ethikstandards wurde die mündliche Zustimmung der Do­ zent*innen eingeholt, indem das Projekt beschrieben und zugesichert wurde, dass die Daten durch die systempsychodynamische Linse interpretiert werden würden. Die Vertraulichkeit und Anonymität der Dozierenden wurde dadurch gewährleistet, dass die Tonbänder und Transkripte der Daten sicher aufbewahrt und bestimmte identifizierende Aspekte aus den Daten ausgeschlossen wurden (siehe Chris­ tians, 2005). Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Beziehungen zwischen Studierenden, Dozent*innen und Management auf verschiedenen Differenzebenen (Rasse, Macht, Autorität, weiße/schwarze Kultur, soziopolitische Aspekte und Sprache) verankert sind (May, 2010, 2012). Angesichts der polarisierten sozio­ kulturellen Landschaft Südafrikas (siehe Mnguni, 2012) vermute ich, dass die wei­ ßen Gruppen Südafrikas eher der „Ethik der Autonomie“ anhängen, während die schwarzen Gruppen Südafrikas eher der „Ethik der Gemeinschaft“ anhängen (siehe Shweder, 2003). Dies deutet auf kulturelle Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Menschen in Südafrika hin. In der Diskussion der Ergebnisse werde ich mich darauf konzentrieren, wie die Überschneidung von Kultur und Rasse die Spal­ tung zwischen den drei Interessengruppen verstärkte und die Schamdynamik zwi­ schen den Studierenden und den Dozent*innen verstärkte. Die HBU als soziales System rekrutierte Mitglieder oder Subsysteme (schwarze Student*innen, weiße Dozent*innen und schwarzes Management) in neuen Rol­ len (siehe Stein 2000). Die Neidattacke resultiert aus dem Wunsch nach dem, was in Bezug auf die verschiedenen Merkmale der Vielfalt als gut und wünschenswert

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wahrgenommen wird. Neid steht zudem im engen Zusammenhang von Kultur und Rasse. Zum Beispiel könnten die schwarzen Studierenden die weißen Dozent*in­ nen so erlebt haben, dass sie ihnen ihr Wissen vorenthalten. Wie von May (2010) vorgeschlagen, führt die HBU durch ihre Subsysteme Folgendes ein • Ein heftiger, neidischer Angriff auf Lernen, Denken und Kreativität; • Ein zutiefst schädlicher Angriff auf die Verbindungen zwischen den drei Ak­ teur*innen an der Schnittstelle zwischen Rasse und Kultur; und • Ein neidischer Angriff auf alle Formen der Führung an der Schnittstelle zwi­ schen Kultur und Rasse. Die obige Diskussion gibt uns einige Hinweise darauf, wie die verborgene Scham­ dynamik zwischen den drei Gruppen an der HBU funktioniert. Im Interesse einer stärkeren Klarheit, betone ich die Beziehung zwischen den Student*innen und den Dozent*innen, um so die versteckte Schamdynamik in dieser Beziehung ver­ anschaulichen zu können. Die Mutter-Kind-Beziehung wird in der Lehr- und Lern­ beziehung rekonstruiert. In der Lehr- und Lernbeziehung bieten die Dozent*innen den Studierenden die Möglichkeit, durch Lernen Wissen aufzunehmen und zu be­ halten. Allerdings könnten die Studierenden das Lehren und Lernen als einen be­ drohlichen Angriff auf ihr Selbstverständnis erleben. Es ist wichtig zu bedenken, dass die Lehr-Lern-Beziehung auch durch Schwankungen zwischen Zufriedenheit und Frustration gekennzeichnet ist, was zu einer nicht-pathologischen zyklischen Wiederholung der paranoid-schizoiden und depressiven Position führt (Wind­ land, 2003). Möglicherweise erlebten die Studierenden Lernen, Tests und Prüfungen als be­ drohlichen Angriff auf ihr Selbstverständnis. Die mögliche Erfahrung der Studie­ renden darauf, dass ihr Selbstwertgefühl angegriffen wurde, zeigte sich besonders deutlich in der Bezeichnung eines Fachbereichs als „der Vlakplaas der Universität“, wie sie von einigen Dozent*innen erwähnt wurde (May, 2010). Vlakplaas war die Operationsbasis eines Killerkommandos der Sicherheitspolizei aus der Apartheid­ zeit. Darüber hinaus könnten die Studierenden das Lernen als einen Angriff der Dozent*innen auf ihr Selbstverständnis erlebt haben, und zwar aufgrund möglichen Nichtwissens und den Anforderungen von Tests und Prüfungen, die untrennbar mit Fragen des Wettbewerbs, der Rivalität, des Neids, der Grandiosität, der Ver­ unglimpfung und der Verachtung verbunden sind (Mollon, 2002). Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Prüfungen und Tests zu einer aggressiven Vergeltung der Studierenden gegenüber den Dozierenden führen, weil sie diesen als Angriff auf ihr Selbstwertgefühl erleben. Die Studierenden könnten Scham als eine Signalangst erleben, die eine Verteidigung gegen das schmerzhafte Bewusstsein möglicher In­ kompetenz oder Minderwertigkeit in Gegenwart des externen Objekts (der Dozen­ ten) auslöst. Es scheint, dass die Scham als Abwehrmechanismus in der Beziehung zwischen Studierenden und Dozierenden einen destruktiven Angriff der (schwar­ zen) Studierenden gegen die (weißen) Dozent*innen aufrechterhält, um sich gegen die beschämenden, verbotenen Aspekte des Versagens gegenüber den (weißen) Dozent*innen zu wehren (May, 2010, 2012). Es wird angenommen, dass diese überwältigenden Gefühle der Studierenden durch die Komplexität kultureller,

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s­ ozio-politischer und sozio-historischer Faktoren (Abdi, 2002) und anderer Diversi­ tätsmerkmale (Cilliers & May, 2002; May, 2012; May & Cilliers, 2002; Powell Pruitt & Barber, 2004), insbesondere der Rasse, die der Beziehung zwischen Stu­ dierenden und Dozierenden innewohnen, noch verstärkt werden könnten. Mit ande­ ren Worten: Es wäre sinnvoll, verinnerlichte Objektbeziehungen zwischen Studie­ renden und Dozent*innen an der Schnittstelle von Kultur und Rasse zu untersuchen und zu erforschen, wie sich diese auf die Scham als Abwehr gegen das Bewusstsein von Inkompetenz oder Minderwertigkeit auswirken. Durch den neidischen Angriff projizierten die Studierenden möglicherweise ver­ steckte Scham auf die Dozent*innen, und die Dozent*innen haben die Projektionen möglicherweise erkannt und sich so verhalten, als würden sie sich schämen, was mit ihrer offensichtlichen Unfähigkeit zusammenhängt, den Studierenden einen opti­ malen Lern- und Lehrkontext zu bieten. In dieser unbewussten kollusiven Kommu­ nikation durch projektive Identifikation können die Studierenden Verachtung für die Dozierenden empfinden, die sich mit der Scham identifiziert haben. Auf diese Weise bleibt die Scham der Studierenden verborgen und unverarbeitet. Dies könnte ein Fall sein, in dem die DozentInnen Scham empfinden, die aus einer narzisstischen Selbsteinschätzung (durch die Augen der anderen) resultiert, was zu einer sozialen Vernichtung durch die Leitung der HBU und ihrer Kolleg*in­ nen im Bildungsbereich führen könnte. Mit anderen Worten: Das Ego-Ideal der Dozierenden (eine Reihe von Normen, Idealen und Rollenerwartungen) (Lansky, 2005) könnte bedroht sein, weil sie sich von den Student*innen, der Leitung und den Kolleg*innen als schlechte Dozierende gesehen fühlen. Diese projizierten ihre Scham wahrscheinlich auch auf die Studierenden, die sich mit der Scham identi­ fizierten. Die Dozent*innen konnten sich von der Scham befreien und an Gefühlen der Überlegenheit und Kompetenz festhalten. So wurde die Nicht- oder Minder­ leistung der Studierenden zu einer „Nicht-Leistung“, denn die Prozesse des Lernens und Lehrens waren in erster Linie von einer destruktiven Psychodynamik geprägt – dem Abprallen vor allem negativer Projektionen zwischen Studierenden und Leh­ renden (Cummins, 2000). Im Idealfall sollten die Dozierenden dann die versteckte Scham für die Stu­ dent*innen introjizieren und transformieren. Mit anderen Worten, das Gegenüber sollte versuchen, die Kommunikation über die verborgene Scham zu verstehen, d. h. darüber nachzudenken, und dabei der/dem Studierenden eine Grenze anzeigen (Ward, 1993). Die andere Person sollte eine ruhige Empfänglichkeit gegenüber der Kommunikation sicherstellen – im Sinne einer Bereitschaft, die Kommunikation zu introjizieren und ihr einen Sinn zu geben (Biran, 2003). Der/die Dozierende muss angesichts der versteckten Scham, des Neids und der Eifersucht, die entstehen kön­ nen, wenn die Studierenden Frustration, Angst und Verlust erleben, wenn sie im Hörsaal mit anderen lernen und im Prüfungssaal mit anderen konkurrieren müssen, Fürsorge sicherstellen (siehe Ward, 1993). So zeigen die Dozierenden den Studie­ renden, dass die verborgene Scham, d. h. die Abwehr des Bewusstseins von Minder­ wertigkeit und Inkompetenz, verstanden, bedacht und toleriert werden kann. Die Studierenden verinnerlichen diese Unterstützung und halten die inneren destrukti­ ven Elemente zurück. Durch diesen Prozess beginnen die Studierenden, eigene

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Fähigkeit zu entwickeln und den eigenen inneren Zustand zu reflektieren. In diesem Fall introjiziert und identifiziert sich die/der Studierende (introjektive I­ dentifikation) mit dem Objekt (der/dem Dozentierenden) (Biran, 2003) und „korrigiert“ damit scheinbar einige der beeinträchtigten Objektbeziehungen. Um die Dozierenden in die Lage zu versetzen, den Studierenden ein ein­ dämmendes Umfeld zu bieten, ist es unerlässlich, dass das Management für die Dozent*innen ein Umfeld schafft, in dem sie sich mit ihrer verborgenen Scham auseinandersetzen können, die aus ihrer narzisstischen Selbsteinschätzung resul­ tiert. In der Psychologie wird oft über die Sorge um die/den Praktiker*in nach­ gedacht. In gleicher Weise sollte die Betreuung der Dozenten gefördert werden, indem Räume geschaffen werden, in denen die Dozent*innen mit Hilfe einer systempsychodynamischen Perspektive ihre Erfahrungen und die Heraus­ forderungen, denen sie von verschiedenen Akteuren ausgesetzt sind, bearbeiten können. Natürlich könnten diese Dozent*innen entdecken, wie sie mit der Psycho­ dynamik des Systems kollidieren. Das kann schmerzhaft und beunruhigend sein, aber auch befreiend und lehrreich (wie es dieses Forschungsprojekt für mich war). Auf diese Weise werden interne „holding environments“ (Alford, 2002) (in Bezug auf das intrapsychische Wohlbefinden der Dozierenden und auf die physischen Räume der Universität) für schwierige Gespräche geschaffen.

2.8 Schlussfolgerung Es ist klar, dass die systemische Psychodynamik einen Beitrag zu unserem Ver­ ständnis von Scham leisten kann. Ich stelle ein Gemälde (Abb.  2.2) der süd­ afrikanischen Künstlerin Siopis (2005) vor. Das Gemälde veranschaulicht die intra­ psychische Dynamik der Scham, deren Wurzeln in der Kindheit liegen und oft dem Selbst und anderen verborgen bleiben. Das Gemälde war Teil einer Ausstellung mit dem Titel „Three Essays on Shame“ (Drei Essays über Scham), die vom 4. Juni bis 10. Juli 2005 im Freud-Museum in London stattfand und sich mit der Bedeutung von Scham in einem breiten kulturellen Spektrum befasste. Ich biete dieses Ge­ mälde als ein Bild an, um weiter darüber nachzudenken, welche anderen Dynami­ ken die (weißen) Dozent*innen möglicherweise sehen und erleben, wenn sie un­ bewusst auf die (schwarzen) Studierenden und das (schwarze) Management schauen. Für mich sehen die verinnerlichten Objektbeziehungen (dargestellt durch das Kind im Erwachsenen oder den Erwachsenen im Kind), die an der Schnittstelle zwischen Kultur und Rasse wirken, in diesem Bild nicht so aus, als würden sie das Selbst überwältigen und sie führen auch nicht zur sozialen Vernichtung. Vielleicht hat sich das Individuum oder das Individuum als Repräsentant*in kultureller Grup­ pen die Zeit genommen, die intrapsychische und gruppenübergreifende Scham­ dynamik zu erleben und zu verarbeiten? Die Systempsychodynamik zeigt, dass Praktiker*innen ein Umfeld schaffen können, in dem die Schamdynamik verarbeitet werden kann, um das intrapsychische und gruppenübergreifende Wohlbefinden von Einzelpersonen, Gruppen und

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Abb. 2.2  Essays on Shame. (Siopis, 2005)

­ rganisationen zu gewährleisten. Dazu können Interventionen aus der Positiven O Psychologie eingesetzt werden. Ich zeige jedoch auf, wie die ­Systempsychodynamik die Schaffung von (psychischen und physischen) Halteumgebungen fördert, von scheinbar destruktive Elemente wie Scham zu verarbeiten. Vielleicht kann die Posi­ tive Psychologie etwas von der Systempsychodynamik lernen, wenn es darum geht, sich in der Gegenwart scheinbar destruktiven Elementer wie Scham zu befinden und diese zu überleben?!

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Kapitel 3

Scham als funktionale und adaptive Emotion: Eine biopsychosoziale Perspektive Markus van Alphen

3.1 Einleitung Bevor wir uns speziell mit der Scham befassen, ist es ratsam, sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen, nämlich den der Emotionen. Emotionen könnten als etwas Unangenehmes betrachtet werden, das unter Kontrolle gebracht werden muss, doch das ist eine ziemlich einschränkende Sichtweise. Erst wenn Emotionen als anpassungsfähig, funktional und sinnstiftend für das Leben eines Menschen erkannt werden, erschließt sich, wie sie Lernen, Verhalten und (psychologisches) Funktionieren beeinflussen. Aus dieser Perspektive untersucht dieses Kapitel die Scham. Scham ist wahrscheinlich die am wenigsten verstandene Emotion, die jedoch einen großen Einfluss auf das Funktionieren der Menschen ausübt. Diesem Kapitel untersucht Emotionen und Scham im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten aller Kulturen und nicht auf kulturübergreifende Unterschiede. Zunächst werden Emotionen aus der Perspektive eines biopsychosozialen Modells des Verhaltens beleuchtet. Anschließend wird eine theoretische Synthese mehrerer früherer und aktueller Emotionstheorien als biopsychosoziales Modell der Emotion entwickelt. Damit wird die Grundlage für das Konzept der Funktionalität von Emotionen gelegt, das im Wesentlichen gut zu den Prinzipien der Positiven Psychologie passt: Die Dinge im Hinblick auf die Möglichkeiten zu sehen, die sie schaffen, und nicht im Hinblick auf ihre Unmöglichkeiten. Ausgehend von diesem biopsychosozialen Modell wird dann die Relevanz der Scham gegenüber den anderen negativen Emotionen geklärt, ebenso wie die der selbstbewussten Emotionen, der moralischen Emotionen. Das Kapitel rückt dann die Scham selbst noch stärker in das Zentrum der Betrachtungen, wobei die Unterschiede zwischen Scham, Schuld und Peinlichkeit und den typischen Reaktionen auf diese drei Emotionen im Vordergrund stehen. M. van Alphen (*) Bureau De Excellente Organisatie, Amsterdam, Niederlande E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 E. Vanderheiden, C.-H. Mayer (Hrsg.), Der Wert der Scham, https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3_3

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M. van Alphen

3.2 Ein biopsychosoziales Modell des Verhaltens Das Wort Emotion stammt vom lateinischen Wort emovere ab, das wörtlich übersetzt so viel bedeutet wie „sich bewegen“ – das, was jemanden in Bewegung bringt. Emotionen sind also die Grundlage, auf der Menschen handeln. Ein natürlicher Ausgangspunkt ist daher die Betrachtung des Verhaltens, für die ein von Watkins (2013) vorgeschlagenes Modell verwendet wird, das an die allgemein in der Psychologie verwendete Terminologie angepasst und leicht modifiziert wurde. In seinem Modell wird das Verhalten wie das Dach eines Gebäudes gesehen, und das Gebäude selbst steht für die Verhaltensfähigkeiten der Person. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass das Vorhandensein der erforderlichen Fähigkeiten ausreicht, um ein angemessenes Verhalten zu zeigen. Das bloße Vorhandensein einer Fähigkeit garantiert jedoch nicht, dass sie auch tatsächlich genutzt wird. Bevor eine bestimmte Fähigkeit genutzt wird, muss eine Person davon überzeugt sein, dass ihre Anwendung mit der gewünschten Wirkung verknüpft ist. Dies erfordert Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die so genannte Selbstwirksamkeit (Bandura, 1977). Da es sich um eine Überzeugung handelt, gehört die Selbstwirksamkeit zum kognitiven (oder denkenden) Bereich. Während Fähigkeiten und Verhalten sichtbar sind, sind Kognitionen nicht sichtbar. Sie befinden sich unter der Oberfläche und bilden den ersten Keller des Gebäudes, wie in Abb.  3.1 dargestellt. Mit anderen Worten: Die Art und Weise, wie ein Individuum denkt, beeinflusst die tatsächlich eingesetzten Fähigkeiten und damit das Verhalten.

Verhalten Fertigkeiten Gedanken (Kognitionen)

Sinne

Äußeres Innenbereich

Gefühle (Emotionen) Emotionale Grundreflexe Physiologie

Abb. 3.1  Ein biopsychosoziales Modell des Verhaltens. (Angepasst von Watkins, 2013)

3  Scham als funktionale und adaptive Emotion: Eine biopsychosoziale Perspektive

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Gedanken und Überzeugungen entstehen jedoch nicht in einem Vakuum. Sie werden von den Gefühlen einer Person beeinflusst, sowohl von denen, die sie in der Vergangenheit hatte, als auch von denen, die sie im Hier und Jetzt hat. Der zweite Keller ist daher die ständige Ebbe und Flut der sich ständig verändernden Gefühle. Eine Person muss nicht nur denken, dass sie etwas tun kann, sie muss auch empfinden. Und dieses Gefühl ist eher emotional als kognitiv. Auch die eigene Stimmung bestimmt, welche Fähigkeiten eine Person einsetzt und welche nicht. Deshalb gibt es mehr Pfeile von der Gefühlswelt zum kognitiven Bereich als vom Denken zum Fühlen: Wie ein Mensch denkt, beeinflusst zwar, wie sie/er sich fühlt, aber bei weitem nicht so stark wie umgekehrt. Und Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und Stimmung haben einen unmittelbaren Einfluss darauf, wie und wie gut ein Mensch in der Lage ist, die individuell zur Verfügung stehenden Fähigkeiten einzusetzen. Damit ist das Bild aber noch nicht vollständig. Warum sich diese Gefühle ständig ändern, wird im nächsten Abschnitt näher erläutert. Kurz gesagt, ist dies auf grundlegende emotionale Reflexe zurückzuführen: Der menschliche Körper ist so verdrahtet, dass er auf eine bestimmte Weise reagiert, wobei der Mensch seine Gefühle tatsächlich körperlich spürt. Diese emotionalen Grundreflexe bilden den dritten Keller des Gebäudes. Unter diesem dritten Keller befindet sich schließlich das Fundament: Die Physiologie. Über die Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten) und über den Körper lösen Reize, umgewandelt in elektrische, elektromagnetische und biochemische Signale, die emotionalen Grundreflexe aus. Und diese Reize sind die Dinge, die uns in der Außenwelt begegnen. Damit schließt sich der Kreis: Das Verhalten löst eine Reaktion der Umwelt aus, die über die Sinne wahrgenommen wird und zu elektrischen, elektromagnetischen und biochemischen Veränderungen im Körper führt. Diese wiederum initiieren grundlegende emotionale Reflexe, die eine Veränderung in der Gefühlslandschaft bewirken, was zum Erleben eines Gefühls führt. Dieses Gefühl wirkt sich auf den kognitiven Apparat und auf die Fähigkeiten aus, die ein Mensch einsetzt, was wiederum das Verhalten beeinflusst. Was ist nun also unter einem biopsychosozialen Modell des Verhaltens zu verstehen? Der Begriff biopsychosozial arbeitet mit einem breiteren Paradigma, innerhalb dessen der Mensch betrachtet wird. Im medizinischen Modell etwa dreht sich alles um den Körper, und der Körper kann als Maschine betrachtet werden: Funktion und Dysfunktion sind das Ergebnis einer ordnungsgemäßen oder nicht ordnungsgemäß funktionierenden Maschinerie (des Körpers). Das biopsychosoziale Paradigma nimmt eine ganzheitlichere Sichtweise ein. Diese Sichtweise ist keineswegs neu, da Tomkins bereits in den 1950er-Jahren mit dieser Perspektive arbeitete (Tomkins, 1995). Das Paradigma gewann um die Jahrhundertwende wieder an Popularität, wobei Befürworter wie Kiesler (1999) vorschlugen, die psychische Gesundheit nicht nur aus der Sicht des medizinischen Modells zu betrachten, sondern in einen größeren Rahmen zu stellen. In diesem biopsychosozialen Paradigma ist die menschliche Erfahrung das Ergebnis einer Interaktion zwischen drei Bereichen: • biologisch • psychologisch und • sozial.

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Sowohl positive als auch negative Erfahrungen entstehen aufgrund von Veränderungen in einem oder mehreren dieser Bereiche. Die Wechselbeziehung zwischen diesen Bereichen sorgt jedoch dafür, dass jede Veränderung in einem Bereich automatisch auch Veränderungen in den beiden anderen Sektoren hervorruft. Das menschliche Erleben ist also das Ergebnis sowohl des Funktionierens als auch der Interaktion zwischen diesen verschiedenen Bereichen. Dieses Verhaltensmodell kann in diese drei Bereiche übertragen werden: Der biologische Bereich wird von den Sinnen, der Physiologie und den grundlegenden emotionalen Reflexen repräsentiert, der psychologische Bereich durch die Emotionen und Kognitionen. Der soziale Bereich ist derjenige, der sich in der Außenwelt befindet: Nicht nur die Fähigkeiten der Person, die sich als Verhalten zeigen, sondern auch die Reaktionen, die dieses Verhalten hervorruft, sind involviert. Zusammengefasst: Das biopsychosoziale Verhaltensmodell verdeutlicht, wie sich diese drei Bereiche gegenseitig beeinflussen und stellt dabei die Bedeutung der Emotionen in den Mittelpunkt.

3.3 Biologie und die grundlegenden emotionalen Reflexe Um Emotionen und ihre Entstehung zu verstehen, muss zunächst die Biologie der Emotionen betrachtet werden, angefangen beim Gehirn. Genauer gesagt ein kleines Organ im Mittelhirn, die Amygdala.

3.3.1 Das limbische System und die Amygdala LeDoux (1996) entdeckte die Rolle der Amygdala bei der Verarbeitung einer neuen Situation, was zu einem doppelten Weg führt: einem schnellen Weg und einer langsamen und gründlichen Variante. Zur Veranschaulichung ein Beispiel: Ein Mann spaziert in der Abenddämmerung durch den Garten und sieht plötzlich eine Schlange. Er erschrickt und lenkt seine ganze Aufmerksamkeit auf diese Schlange. Biologisch gesehen interpretiert die Amygdala das Signal und sendet den Alarm. Er braucht nicht darüber nachzudenken, es geschieht automatisch und sein Körper wird schnell in einen Zustand der Bereitschaft versetzt. Kortikosteroide (sogenannte Stresshormone) werden ausgeschüttet, was wiederum dazu führt, dass Adrenalin in seinen Blutkreislauf fließt, wodurch sich sein Herzschlag erhöht, seine Atmung beschleunigt und über die Leber Energie freigesetzt wird. Alle Ressourcen werden aktiviert und die Muskeln mit Energie versorgt, so dass der Mensch in der Lage ist, die Situation zu bewältigen. Dies ist der so genannte ­Kampf-Flucht-Erstarren-­Reflex. Vom evolutionären Standpunkt aus gesehen sehr sinnvoll: Der Mensch ist unmittelbar in die Lage versetzt, sich aus der Situation heraus zu kämpfen, vor ihr wegzulaufen oder auf der Stelle zu erstarren. Das erhöht die Überlebenschancen. Angesichts der menschlichen Evolution „weiß“ er, dass Schlangen nicht besonders gut sehen und dass seine beste Überlebenschance darin

3  Scham als funktionale und adaptive Emotion: Eine biopsychosoziale Perspektive

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besteht, zu erstarren. Wenn er ganz still steht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Schlange ihn gar nicht sieht und ihn deshalb auch nicht beißt. In der Zwischenzeit wird die Information auch an den Neokortex weitergeleitet, die langsame und gründliche Verarbeitung beginnt und die feineren Details werden wahrgenommen. Aha. Es ist keine Schlange, sondern der Gartenschlauch! Wenn sie ihn beißen würde (was sie nicht kann), hätte das keine nachteiligen Auswirkungen. Der Alarmzustand wird aufgehoben, sein Herzschlag normalisiert sich, er atmet ein wenig ruhiger und seine Aufmerksamkeit kann sich entspannen. Die Amygdala hat somit einen sehr funktionellen Einfluss auf das emotionale Erleben. Forschungen über das limbische System des Gehirns, insbesondere über die Größe des Nucleus caudatus, deuten auf einen Zusammenhang zwischen der Neigung zu Angstzuständen im Allgemeinen hin (Delgado et al., 2004). Die Amygdala und der Nucleus caudatus werden als Beispiel angeführt, da es eine Fülle von Forschungsergebnissen darüber gibt, wie physiologische Organe und Prozesse die Emotionen beeinflussen. Auch die genetische Veranlagung bringt bestimmte Prädispositionen mit sich, die sich auf die Neigung zur Wahrnehmung von Emotionen auswirken, so wie sie auch beim Temperament eine Rolle spielt.

3.3.2 Neuropeptide Die von der verstorbenen Ärztin Candace Pert initiierten Forschungen schreiben kleinen Substanzen, den so genannten Neuropeptiden, eine wichtige Rolle beim emotionalen Erleben zu (Pert, 1997). Sie nannte sie die Moleküle der Emotionen. Sie sind im Gehirn zu finden und werden sogar von normalen Körperzellen produziert. Allein im Gehirn sind mehr als 100 verschiedene Typen entdeckt worden. Diese Neuropeptide werden freigesetzt, wenn eine Emotion erlebt wird, und beeinflussen auf Zellebene, wie Emotionen körperlich empfunden werden. Es scheint, dass zum einen der Hypothalamus für die Freisetzung von Neuropeptiden verantwortlich ist, dass sie zugleich aber auch über das „Gedächtnis“ der einzelnen Körperzellen freigesetzt werden. Diese Neuropeptide binden sich an Rezeptoren an der Zellwand und ermöglichen es bestimmten Nährstoffen und anderen Substanzen, in die Zelle einzudringen, sie zu verlassen oder sie daran zu hindern. Das bedeutet, dass die Erfahrung von Emotionen die Physiologie auf zellulärer Ebene beeinflusst. Dies ist auch eine Erklärung dafür, warum Emotionen körperlich spürbar sind. Die Richtung der Kausalität ist dabei eine noch unbeantwortete Frage: Verursachen die Emotionen die Freisetzung von Neuropeptiden oder ist es umgekehrt: Weil Neuropeptide freigesetzt werden, wird ein körperliches Gefühl erlebt, das zu einem emotionalen Erlebnis führt?

3.3.3 Emotionale Grundreflexe Es ist offensichtlich, dass neugeborene Babys etwas erleben. Da sie nicht nach ihren Erfahrungen gefragt werden können, lässt sich dies nur aus ihrem Verhalten ableiten.

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M. van Alphen

Aus vielen Quellen, wie z. B. den Forschungen von Tomkins (1995) aus den 1950er-Jahren, von Ekman (1980) aus den 1970er-Jahren und vielen anderen, die sich von ihnen inspirieren ließen, geht hervor, dass bestimmte Körperreaktionen unabhängig von der Kultur bei allen Säuglingen gleich sind und bereits bei der Geburt vorhanden sind. Da­ raus lässt sich ableiten, dass bestimmte Grundreaktionen und -reflexe biologisch verdrahtet sind: Sie sind angeboren, nicht erworben. Einige dieser Reflexe verschwinden, wenn das Baby heranwächst, andere bleiben das ganze Leben lang erhalten. Schon sehr früh sind Babys in der Lage, Gesichtsausdrücke zu imitieren, nach Field und Walden (1982) bereits einige Minuten nach der Geburt. Dabei handelt es sich um sehr einfache Nachahmungen, die nicht im Gedächtnis gespeichert zu sein scheinen. Ab einem Alter von etwa 10 Monaten scheint die Nachahmung von einer Form von Bewusstsein begleitet zu sein (Legerstee & Markova, 2008). All diese Forschungen werfen die Frage auf, wann ein Gesichtsausdruck nicht mehr als das ist, oder wann er eine innere emotionale Erfahrung widerspiegelt. Diese Diskussion kann übersprungen werden, denn es ist bekannt, dass der Gesichtsausdruck eines Erwachsenen bis zu einem gewissen Grad die innerlich erlebte Emotion widerspiegelt. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad, da die Menschen in Regeln für die angemessene Darstellung von Emotionen sozialisiert werden. In diesem Absatz geht es noch nicht um die Emotionen, die Menschen erleben, sondern um die grundlegenden physiologischen Ausdrücke, die anscheinend angeboren sind. Um dies zu betonen, verwendet der Autor den Begriff „Emotionaler Grundreflex“ (und nicht den uneindeutigeren Begriff „Affektprogramme“, wie er von Tomkins und anderen genutzt wird und der eine psychologische Erfahrung zu implizieren scheint): „Emotionaler Grundreflex: Biologisch. Wenn ein grundlegender emotionaler Reflex (durch einen definierbaren Reiz) ausgelöst wird, wird ein Mechanismus aktiviert, der zu einer Kette von biochemischen und physiologischen Ereignissen führt, die körperlich empfunden (erlebt) werden.“

Ausgangspunkt ist, dass diese grundlegenden emotionalen Reflexe Menschen helfen, angemessen auf Situationen zu reagieren (indem z. B. die Aufmerksamkeit auf das gelenkt wird, was wichtig ist) und angemessene Aufmerksamkeit von Bezugspersonen sichergestellt wird. Tomkins (1995) beschreibt neun dieser grundlegenden emotionalen Reflexe, die seiner Meinung nach die Lernprozesse und damit die gesamte menschliche Erfahrung steuern, angefangen bei den grundlegenden Reflexen des Babys bis hin zu einer komplexen Interaktion zwischen Biologie und psychologischer Bedeutung beim Erwachsenen. Seine Theorie besagt, dass jeder emotionale Grundreflex eine bestimmte „Farbe“ hat und, wenn er ausgelöst wird, die Erfahrung in einer bestimmten Intensität färbt (siehe Tab. 3.1). Durch Lernprozesse assoziiert der Mensch die Erfahrung dieser emotionalen Grundreflexe mit Situationen, wodurch diesen Situationen eine Bedeutung verliehen wird. In diesem Sinne teilen die emotionalen Grundreflexe dem Menschen körperlich mit, was wichtig ist und wo­ rauf sich die aktuelle Aufmerksamkeit richten sollte. Die grundlegenden emotionalen Reflexe lassen sich je nach Valenz in drei große Kategorien einteilen, abhängig davon, wie sie erlebt werden: Zwei positive, sechs negative und eine neutrale. Der biologische Zweck ist logisch: Es ist wichtig, dass Menschen einschätzen können, was Aufmerksamkeit erfordert und was nicht. Aus evoluti-

3  Scham als funktionale und adaptive Emotion: Eine biopsychosoziale Perspektive

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Tab. 3.1  Die neun emotionalen Grundreflexe nach Tomkins Kategorie Negativ

Reflex Notsituation – Angst

Abneigung

Geruch

Zorn-Wut

Furcht – Terror

Unterbrechung Neutral

Überraschungseffekt

Positiv

Interesse – Aufregung Genuß – Freude

Körperausdruck Schluchzen, Weinen, hochgezogene Augenbrauen, Tränen, rote Wangen, mit Armen und Beinen fuchteln. Siehe Abb. 3.2 Nacken nach vorne und Kopf nach unten, Unterlippe und Zunge herausgestreckt (wie beim Ausspucken von etwas, das verdorben schmeckt) Oberlippe nach oben gezogen, Nase gerümpft und Kopf nach hinten gezogen (wie bei der Vermeidung von etwas, das schlecht riecht) Allgemeine Muskelanspannung, zusammengebissener Kiefer oder Schreien, gesenkte Augenbrauen, rotes Gesicht, erhöhte Herzfrequenz und schnelle Atmung (Kampfreaktion) Die Augen sind weit aufgerissen (und verfolgen das, was Angst auslöst), die unteren Augenlider sind angespannt; die Augenbrauen sind hochgezogen und zusammengezogen; das Gesicht ist blass, die Herzfrequenz ist erhöht und die Atmung geht schnell (flight-freeze response) Schaut weg, die Nackenmuskeln entspannen sich, so dass der Kopf fällt, sich abwendet oder versteckt, errötet. Blinzeln der Augen, hochgezogene Augenbrauen, große Augen, der „Oh!“-Effekt. Siehe Abb. 3.4 Verfolgung mit den Augen, Blick, Augenbrauen nach unten, leicht erhöhter Herzschlag und Atmung Entspanntes Gesicht, (leicht) geöffneter Mund, Lächeln, leuchtende Augen, Lachen. Siehe Abb. 3.5

onärer Sicht weist dies auf Adaptionsfähigkeit hin: Wenn nichts die Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, würde der erste hungrige Löwe eine*n ganz leicht als nächste Mahlzeit genießen. In unserer heutigen Gesellschaft in noch größerem Maße, denn es geht inzwischen um mehr als nur das physische Überleben. In einer komplexen Welt muss der Mensch die Aufmerksamkeit ständig zwischen verschiedenen Dingen aufteilen und entscheiden, was im Moment Priorität hat. Dieser Auswahlprozess erfordert Bewusstsein, und Tomkins meint, dass nichts ins B ­ ewusstsein eintritt, nichts dringend wird, bevor es nicht durch einen (biologischen) emotionalen Grundreflex verstärkt wurde. Kurz und gut: Im Körper geschieht etwas, das als Signal dient. Da diese Reflexe biologisch sind, werden sie immer dann ausgelöst, wenn es einen Auslöser gibt, unabhängig davon, ob sich die Person des Prozesses bewusst ist oder nicht. Einige dieser emotionalen Grundreflexe sind in den Abb. 3.2, 3.4 und 3.5 zu erkennen. Eine Bemerkung zu ihren Namen: Einige von ihnen sind nach erwachsenen Emotionen benannt (Tomkins verwendet sogar den Begriff „Scham“ für den Unterbrechungsreflex). Dies bedeutet nicht, dass Babys diese grundlegenden emotionalen Reflexe als Emotionen oder auf die gleiche Weise wie Erwachsene wahrnehmen, wenn sie diese Emotion erleben. Es ist der Körper- und Gesichtsausdruck, der mit dem typischen Ausdruck übereinstimmt, wenn Erwachsene diese Emotion erleben.

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Abb. 3.2  Wilma van Heerden: Basisreaktion „Notlage“

Erfahrungen sind nicht allein auf Prozesse im Gehirn zurückzuführen, sondern ein komplexes Spiel zwischen biologischen (biochemischen und physiologischen), psychologischen und sozialen Faktoren  – und folgen einem biopsychosozialen Prinzip. Erst wenn sich ein Mensch bewusst wird, dass ein grundlegender emotionaler Reflex ausgelöst wurde (was ein gewisses Maß an Bewusstsein voraussetzt), erkennt er je nach Intensität und Kontext eine Bedeutung in dem, was Tomkins ein Skript nennt. Solche Skripte können sehr einfach sein, neben im Laufe der Entwicklung an Komplexität zu, da sowohl Skripte als auch grundlegende Reaktionen zu neuen Skripten kombiniert werden. Dies ist ein weitgehend unbewusster Lernprozess, bei dem die grundlegenden emotionalen Reflexe die biologischen Bausteine sind, siehe Abb. 3.3. Skripte ermöglichen es Menschen, in fast jeder bekannten Situation angemessen (d. h. wie erlernt) und schnell zu reagieren, ohne viel Energie des Denkapparats in Anspruch zu nehmen. Vom evolutionären Standpunkt aus gesehen ist dies sinnvoll, denn dadurch werden Ressourcen frei, um anderen Reizen Aufmerksamkeit schenken zu können. Zusammengefasst: Skripte sind Bausteine der menschlichen Erfahrungen und damit der primäre Verhaltensmotivatoren. Erst nachdem ein grundlegender emotionaler Reflex ausgelöst wurde, zieht eine Situation tatsächlich unsere Aufmerksamkeit auf sich: Sie „lädt“ sie so auf, dass das Individuum motiviert wird, etwas mit dieser Situation zu tun. Und genauso, wie eine konkrete Situation „etwas mit einem macht“, verhält es sich auch mit Erinnerungen. Auch sie werden durch die grundlegenden emotionalen Reflexe, die sie in

3  Scham als funktionale und adaptive Emotion: Eine biopsychosoziale Perspektive

Situation

Auslöser

Emotionaler Grundreflex (Biologie)

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Ist es eine neue Erfahrung?

Erleben Sie

Wenn ja

Führt zu

Analysiert in

Analysiert in

Farbe (welches Gefühl?)

Intensität (Wie stark?)

Vergleichen Sie

Skripte (aus der Vergangenheit) Vergleichen Sie

Wie viel Aufmerksamkeit

Neues Drehbuch: emotionaler Grundreflex + Farbe + Intensität + ausgelöstes Skript

Speicher

Abb. 3.3  Emotionale Grundreflexe, Skripte und Erfahrungen

der Person auslösen, aufgeladen. An der Intensität der Reaktion erkennt die Person, was wichtig ist, was Aufmerksamkeit verdient und welche Reaktionsweise angemessen sein könnte. Aus diesem Grund sind sie der primäre Lernmotivator, da künftige Entscheidungen und Verhaltensweisen darauf beruhen, was ähnliche Entscheidungen bei früheren Gelegenheiten bewirkt haben. Tomkins verweist darauf, dass jedes Verhalten durch den Drang motiviert ist, positive Erfahrungen zu mehren und negative Erfahrungen zu reduzieren. Dieses Prinzip kann auch der Antrieb für das Lernen in einem sozialen Kontext betrachtet werden. Es läuft darauf hinaus, dass das, was ein Mensch in einer (sozialen) Situation wahrnimmt, durch einen grundlegenden emotionalen Reflex (biologisch) zur Kenntnis genommen wird, was zur Erfahrung eines Gefühls (physiologisch) führt. Diesem Gefühl wird durch die individuelle Geschichte (Bibliothek von Skripten im Gedächtnis) eine Bedeutung verliehen, die zu einer (emotionalen) Erfahrung (psychologisch) führt. Zum Unterschied zwischen verschiedenen emotionalen Grundreflexen: Der wohl primärste ist die Überraschung (Abb. 3.4), oder als intensivere Form die Schreckreaktion. Ihr Zweck besteht eindeutig darin, die Aufmerksamkeit auf etwas Neues oder auf eine wichtige Veränderung in der Umgebung zu lenken. Sie veranlasst des Individuums, den Aufmerksamkeitsfokus von dem, womit es gerade beschäftigt ist, auf diesen neuen Reiz zu richten. Am deutlichsten ist diese Aufmerksamkeitsverschiebung an den Augen, den hochgezogenen Augenbrauen und dem offenen Mund zu erkennen. Auch Erwachsene zeigen einen ähnlichen Gesichtsausdruck. Selbst wenn der Ausdruck unterdrückt wird, kann er sich durch eine leicht hochgezogene Augenbraue (eines oder beider Augen) bemerkbar machen.

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Abb. 3.4  Wilma van Heerden: Emotionaler Grundreflex „Überraschung“

Der Unterschied zwischen Interesse und Überraschung ist subtil: Während die Überraschung die Aufmerksamkeit fesselt, erhält das Interesse die Aufmerksamkeit aufrecht. Überraschung ist von kurzer Dauer, eine Art Reset-Taste. Wandelt sich Aufmerksamkeit in Interesse, bleiben die Augen weit geöffnet und der interessante Reiz wird verfolgt. Der größte Unterschied im Gesichtsausdruck zeigt sich darin, dass sich der Mund entspannt. Die vier negativen emotionalen Grundreflexe, die am leichtesten zu erkennen sind (sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern), sind Angst, Ärger, Abneigung und Ekel. Bei Angst sind die weit aufgerissenen Augen und die gerunzelte Stirn charakteristisch, bei Ärger die gesenkten Augenbrauen. Abneigung ist, wie der Name schon sagt, ein Gesichtsausdruck, wie er entsteht, wenn ein zunächst gut aussehendes Essen gegessen, dann aber als schlecht empfunden und ausgespuckt wird. Ekel ist dasselbe, nur dass es sich um Lebensmittel handelt, die schlecht riechen und nicht wirklich gegessen werden: Die gerümpfte Nase ist ein Versuch, sich von dieser schlecht riechenden (und daher zu meidenden) Substanz zu distanzieren. Der emotionale Grundreflex Freude (Abb. 3.5) ist aufgrund des Lächelns und des allgemein positiven Aussehens normalerweise leicht zu erkennen. Am schwierigsten zu erklären ist der emotionale Grundreflex Unterbrechung (den Tomkins Scham nennt, leicht zu verwechseln mit der Erwachsenenemotion Scham). Es ist nicht möglich, einen neuen Reiz für immer interessant zu finden, noch wird etwas, das Freude bereitet, dies bis in alle Ewigkeit tun. Etwas (biochemisches und physiologisches) muss diesen Strom unterbrechen. Das bedeutet, sich durch Entspannung der Nackenmuskulatur vom Reiz abzuwenden, so dass dieser nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Nehmen wir als Beispiel die westliche Norm für

3  Scham als funktionale und adaptive Emotion: Eine biopsychosoziale Perspektive

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Abb. 3.5  Wilma van Heerden: Emotionaler Grundreflex „Freude“

den Blickkontakt: Wenn ein Mensch den Blickkontakt während eines Gesprächs mit einer anderen Person nicht regelmäßig unterbrechen würde, würde dies zu einem Anstarren führen. Letztendlich wird sich eine oder beide Parteien unwohl fühlen. Das natürliche Herstellen und Unterbrechen des Augenkontakts ist ein perfektes Beispiel für den grundlegenden emotionalen Reflex der Unterbrechung, der das Verhalten so reguliert, dass ein unangenehmes Gefühl vermieden wird. Um es noch einmal zu wiederholen: Sehen Sie die emotionalen Grundreflexe nicht als Emotionen an. Richtig ist, dass wenn bei einer Person ein Bewußsein dafür entsteht, welche emotionalen Grundreflexe ausgelöst wurden, diese die Emotionen einer anderen Person besser einschätzen kann. Bedenken Sie aber, dass die Darstellung von Emotionen ein kulturelles Phänomen ist. Obwohl also alle Menschen über die kulturunabhängige Biologie und Physiologie verfügen, mit der sie Emotionen ausdrücken können, ist die Art und Weise, wie eine Person ihren inneren Gefühlen tatsächlich Ausdruck verleiht, an alle möglichen sozialen und kulturellen Normen gebunden. Ein Beispiel: In der japanischen Kultur ist es unangebracht, einen anderen das Gesicht verlieren zu lassen. Selbst wenn es im Inneren brodelt, wird also ein freundliches Gesicht und ein Lächeln bewahrt, um das Gegenüber nicht zu kränken. Der/die geschulte Beobachter*in wird jedoch andere Hinweise hinter dem Lächeln sehen und mit dem eigenen Wissen über kulturelle Unterschiede den inneren Zustand der anderen Person besser einschätzen können. Um es noch einmal zu wiederholen: Der Ärger im obigen Beispiel ist eine Emotion. Das Lächeln ist eine physiologische-­biologische Reaktion. Emotionen sind jedoch mehr als die physiologischen und biochemischen Reaktionen, die dem Menschen die Fähigkeit verleihen, Emotionen zu erleben und zu artikulieren.

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3.3.4 Die Biologie der Emotionen Um es noch einmal zusammenzufassen: Der Körper ist so verdrahtet, dass er auf die Außenwelt reagiert. Das limbische System spielt eine wichtige Rolle dabei, wie die Außenwelt interpretiert wird, was zur Auslösung der grundlegenden emotionalen Reflexe führt. Diese wiederum können als die physischen (d. h. physiologischen und biochemischen) Bausteine der Erfahrung angesehen werden. Indem sie bestimmte Reaktionen im Körper hervorrufen, motivieren sie den Menschen, positive Erfahrungen zu suchen und negative zu vermeiden. Im Rahmen von Lernprozessen verknüpft der Mensch diese physiologischen Reaktionen, die Intensität, mit der sie aktiviert werden, und den Kontext, in dem sie ausgelöst werden, unbewusst zu so genannten Skripten. Diese Skripte nehmen an Komplexität zu und ermöglichen es Menschen so, Situationen zu erleben und zu interpretieren, und macht sie dadurch zu den primären Verhaltensmotivatoren. Neuropeptide bieten eine mögliche Erklärung dafür, warum Emotionen körperlich erlebt werden.

3.4 Ein biopsychosoziales Modell der Emotionen Dass Menschen Gefühle empfinden, ist eine offensichtliche Tatsache. Bei der Untersuchung psychologischer Theorien darüber, was genau eine Emotion ist, wird es etwas schwieriger. Es gibt eine Reihe von Theorien, die sich hier und da überschneiden und in anderen Bereichen voneinander abweichen. In diesem Abschnitt wird ein Emotionsmodell vorgestellt, das eine Synthese mehrerer Theorien darstellt und zu einer breiteren, wenn auch nicht anderen Rolle der Emotionen führt. Häufig werden die Begriffe Gefühl, Emotion und Stimmung synonym verwendet, daher folgen zunächst einige Definitionen (Nathanson, 1996): „Fühlen: Das Bewusstsein spielt eine wichtige Rolle: Ein Gefühl wird erlebt, wenn sich der Mensch bewusst wird, dass ein grundlegender emotionaler Reflex ausgelöst wurde. Es ist körperlich.“ „Emotion: Eine Emotion ist eine komplexe Kombination aus grundlegenden emotionalen Reflexmustern und der Erinnerung an frühere Erfahrungen, in denen diese durchlebt wurden. Emotionale Grundreflexe sind biologisch, Emotionen sind biografisch. Eine Emotion ist abhängig von einer „Geschichte“. Jedes Individuum erlebt eine bestimmte Emotion aus der eigenen Perspektive (erworben durch Sozialisation und Geschichte).“ „Stimmung: Ein Zustand des anhaltenden Erlebens einer bestimmten Emotion, ein Zustand des Seins. In der Regel vorübergehend, bis sie nicht mehr durch Erinnerungen „genährt“ wird oder bis etwas Wichtigeres die Aufmerksamkeit auf sich zieht.“ „Stimmungsstörung: Wenn eine negative Stimmung so anhaltend und ausgeprägt ist, dass sie das tägliche Funktionieren stört.“

Da die Biologie der Emotionen bereits erörtert wurde, sollen nun einige der klassischen psychologischen Emotionstheorien kurz skizziert werden:

3  Scham als funktionale und adaptive Emotion: Eine biopsychosoziale Perspektive

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3.4.1 James-Lange, Tomkins und Izard Eine der ersten Theorien, die Emotionen mit Erfahrungen in Verbindung bringt, ist die James-Lange-Theorie. Ausgangspunkt ist, dass Emotionen spezifisch sind, was bedeutet, dass eine Person sich nicht fragen muss, ob sie zum Beispiel Glück oder Angst erlebt, da es sich um qualitativ unterschiedliche Erfahrungen handelt. Wenn ein Mensch sich vor Schlangen fürchtet, denkt er nicht bewusst: „Oh, da ist eine Schlange. Ich habe Angst vor Schlangen.“ Die unmittelbare Begegnung mit einer Schlange löst eine Angstreaktion aus, die, ohne dass eine Person darüber nachdenken muss, als Angst erlebt wird. LeDouxs Theorie (1996) bezüglich der emotionalen Regulation der Amygdala unterstützt diese Sichtweise: Der schnelle Weg ist es, der sofort eine Reaktion auslöst. Eine ähnliche Annahme liegt der James-­Lange-­Theorie zugrunde: Wenn etwas in der Umwelt geschieht, wird eine unmittelbare emotionale Reaktion ausgelöst, und das Individuum wird sich dieser Emotion sofort bewusst. Der von LeDoux beschriebene lange Weg wird erst dann aktiviert, wenn die Intensität der Reaktion dem Individuum signalisiert, dass das Ereignis wichtig genug ist, um die volle Aufmerksamkeit zu verdienen. Die Menschen scheinen also das, was sie erleben, erst im Nachhinein zu erfassen und ihm einen Sinn zu geben, und das ist in der menschlichen Biologie bereits fest verankert. Dies führt zur nächsten Diskussion: Inwieweit sind die Emotionen diskret, d. h. spezifisch und voneinander unterscheidbar? Fühlt sich Angst anders an als zum Beispiel Traurigkeit? Die Annahme, dass Emotionen nichts anderes sind als ein unspezifischer Erregungszustand, dem im Nachhinein auf der Grundlage der Umwelt eine Bedeutung verliehen wird (Schachter & Singer, 1962), wird durch die Forschung nicht gestützt. Siehe z. B. Marshall und Zimbardo (1979), die erfolglos versuchten, das Experiment zu wiederholen. Tomkins (1995) sagt, dass sich nur wenige Menschen die Mühe gemacht haben, den Originalartikel von Schachter und Singer zu lesen. Sie formulieren: „… trotz der Tatsache, dass es keinen statistisch signifikanten Haupteffekt gab und dass die berichteten signifikanten Effekte entweder gering waren oder in die falsche Richtung gingen.“

Kurz gesagt, der ursprüngliche Artikel zeigt bereits, dass es wenig Unterstützung für diese Theorie gibt, sie scheint von anderen Autor*innen falsch zitiert worden zu sein. Die Theorie der differenziellen Emotionen von Izard, die heute als Theorie der diskreten Emotionen bezeichnet wird (Izard et  al., 2002), nimmt an, dass es eine Reihe von Grundemotionen gibt, bei denen es sich um recht weit gefasste Emotionskategorien handelt. Jedes Individuum erstellt die eigenen emotionalen „Programme“ aus neuronalen, hormonellen, verhaltensbezogenen und Lernprozessen. Diese Assoziationen beruhen auf vergangenen Erfahrungen. Diese Programme weisen eine deutliche Ähnlichkeit mit den Tomkins’schen Skripten auf, die in Abschn. 3.3 über die grundlegenden emotionalen Reflexe beschrieben wurden. Die Theorie der diskreten Emotionen zeigt zudem viele Überschneidungen mit Tomkins’ allgemeinen Theorie, aus denen sie sich auch ableitet. Auch über die Anzahl der Basisemotionen herrscht Uneienigkeit unter den Forscher*innen: Ekman et al. (1982) nennen sechs

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(Freude, Traurigkeit, Angst, Wut, Überraschung und Ekel), während die neueste Forschung nur vier unterscheidet. Wut und Ekel werden hier als ein- und dieselbe Grundemotion verstanden, ebenso wie Überraschung und Angst (Jack et al., 2014). Der aktuelle Ansatz der diskreten Emotionen versucht, den Reichtum des emotionalen Erlebens mithilfe der Systemtheorie zu erklären (Colombetti, 2009). Im systemtheoretischen Ansatz spielen auch die Intensität und die Unterschiede im Erleben eine Rolle. Colombetti stellt außerdem die Idee einer „emotionalen Episode“ in Frage, womit sie die Fähigkeit meint, die Erfahrung einer bestimmten Emotion mit einem bestimmten Zeitrahmen zu verbinden. Der systemtheoretische Ansatz nimmt an, dass Emotionen ständig erlebt werden und sich dynamisch als Reaktion auf verschiedene Faktoren verändern, die ebenfalls ständig variieren. Ein anderer moderner Ansatz sieht Emotionen als komponentiell an, bestehend aus einer subjektiven Gefühlskomponente, einer physiologischen Komponente, einer motorischen Ausdruckskomponente und einer Handlungsbereitschaftskomponente (Vandercammen et al., 2014). Nach diesem Verständnis beurteilen Individuen zunächst, ob ein Ereignis für ihr Wohlbefinden relevant ist, und nur wenn dies der Fall ist, werden die verschiedenen Emotionskomponenten aktiviert.

3.4.2 Soziale Funktionen von Emotionen Dass der Ausdruck von Emotionen eine soziale Funktion hat, scheint klar zu sein. Van Kleef (2009) erklärt in seinem EASI-Modell (Emotions as Social Information), wie Emotionen in einer sozialen Interaktion den Betroffenen Informationen liefern, auf deren Grundlage sie dann handeln. Die Menschen „lesen“ die Emotionen der anderen, nutzen diese, um die Stimmung des anderen Menschen zu beurteilen, während diese zugleich eine Emotion in ihnen auslösen. In diesem Modell gibt es zwei Faktoren, die beeinflussen, wie sich die Emotion einer anderen Person auf das eigene Verhalten auswirkt: Informationsverarbeitung und soziale Beziehungsfaktoren, siehe Abb. 3.6. Mit Informationsverarbeitung ist gemeint, dass sowohl die Motivation als auch die Möglichkeit zur Verarbeitung vorhanden sein müssen, bevor die zur Verfügung stehenden emotionalen Informationen tatsächlich prozessiert werden. Motivation läuft auf die Intensität hinaus, mit der die eigenen Grundreaktionen ausgelöst werden: Nur wenn ein Ereignis eine Reaktion provoziert, erfolgt Aufmerksamkeitsfokussierung. Die Möglichkeiten können dabei vielfältigen Aspekten abhängen. Eine Person mit einer Autismus-Spektrum-Störung fällt es zum Beispiel schwer, die Emotionen anderer zu lesen. Oder wenn in diesem Moment für eine Person etwas anderes Vorrang hat, wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wodurch die Möglichkeit, die Emotionen anderer zu interpretieren, verringert wird. Soziale Beziehungsfaktoren beschreiben die Art der Beziehung (z. B. das Machtgefälle zwischen Menschen), kulturelle Normen (z.  B. die akzeptable Art und Weise, wie Emotionen ausgedrückt werden dürfen), definieren, worauf die Emotion gerichtet ist (auf die Person selbst oder auf die Umwelt) und als wie angemessen der Gefühlsausdruck erachtet wird (z. B. das Zeigen von Freude in einer Situation, die die meisten anderen als traurig empfinden).

3  Scham als funktionale und adaptive Emotion: Eine biopsychosoziale Perspektive

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Informationsverarbeitung: Achtung Möglichkeit

Ausdruck von Emotionen durch den Absender

Das Verhalten des Empfängers

Sozial-relational: Beziehung Kulturelles Richtung Angemessenheit

Abb. 3.6  Das Modell der Emotion als soziale Information von Van Kleef (2009)

Von besonderem Interesse ist der allgemeine Unterschied zwischen Kulturen des Westens and des Ostens in Bezug darauf, was als positive und was negative Gefühle in sozialen Situationen gelesen wird (Kitayama et  al., 2000). In einer westlichen Kultur, in der Individualität zelebriert wird, werden positive Gefühle mit Unabhängigkeit, individuellem Vertrauen usw. in Verbindung gebracht. Diese Gefühle werden mit unterscheidenden Emotionen in Verbindung gebracht, d. h. Emotionen, die die Person von anderen trennen und ihre Kompetenz betonen. In östlichen Kulturen ist die Beziehung zwischen dem Selbst und dem (direkten) sozialen Umfeld wichtiger, d. h. die Interdependenz zwischen den Menschen wird betont. Diese sogenannten engagierten Emotionen führen zu positiven Gefühlen, wenn sie mit anderen in Einklang stehen. Zusammengefasst: Eine Person wird bis zu einem gewissen Grad auf den Gefühlsausdruck einer anderen reagieren (und umgekehrt), und die Interpretation der Emotionen einer anderen Person unterliegt verschiedenen Faktoren. Der Punkt ist jedoch, dass Emotionen eine soziale Funktion haben, sowohl in Bezug auf die Reaktionen, die sie auslösen, als auch in Bezug auf die Bewertung, welche die Person vornimmt, die soziale Emotionen interpretiert.

3.4.3 Emotionsregulierung Bei der Erörterung des Modells „Emotion als soziale Information“ wurde implizit ein weiterer wichtiger Aspekt angesprochen, nämlich der der Emotionsregulierung. Damit ist gemeint, dass Menschen in gewissem Maße auch direkte Emotionen verarbeiten und Entscheidungen darüber treffen, ob sie ihre Emotionen (durch ihr Verhalten) zum Ausdruck bringen, sie unterdrücken (sowohl in Bezug auf den Ausdruck durch das Verhalten

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als auch in Bezug darauf, wie stark sie sich von ihnen beeinflussen lassen) oder ob sie neu bewertet werden sollen (wodurch sie eine andere Bedeutung erhalten). Der Zweck der Emotionsregulierung kann in zwei globale Ziele unterteilt werden: hedonistische und instrumentelle Ziele. Mit hedonistisch ist die Konzentration auf das innere Erleben von Emotionen gemeint – im Allgemeinen ziehen Menschen positive Gefühle negativen Gefühlen vor, d. h. sie möchten sich gut fühlen und vermeiden, sich schlecht zu fühlen. Mit instrumentell ist gemeint, dass man durch das eigene Verhalten die Umwelt beeinflussen kann, um bestimmte (gewünschte) Ergebnisse zu erzielen. Ein einfaches Beispiel ist, dass man durch Weinen, wenn man traurig ist, Sympathie und Trost von anderen erhalten kann. Die Emotion, die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt empfindet, kann im Hinblick auf zwei Dimensionen betrachtet werden. Die emotionale Valenz ist die Erfahrung, wie positiv oder wie negativ eine Emotion ist. Die zweite Dimension ist die Intensität: Je stärker die Intensität, desto stärker ist die Emotion ausgeprägt. Es wurde bereits erwähnt, dass eine Emotion einen ausreichenden Einfluss auf die ­Person haben muss, bevor etwas mit ihr geschieht, eine so genannte Schwelle. Oberhalb dieser Schwelle bestimmt die Intensität auch die Dringlichkeit, mit der das Individuum reagieren muss. In Abb. 3.7 ist ein vereinfachtes Modell für das Emotionsregulationssystem dargestellt. Stupar et al. (2015) fanden bestimmte Tendenzen, wie sich Valenz und Intensität auf die Emotionsregulation auswirken. Ihre erste Schlussfolgerung ist, dass die Intensität

Emotionale Wertigkeit

Emotionale Intensität Hoch (je höher, desto größer der Einfluss) Niedrig

Kulturelle Normen

Ausdruck

Neubeurteilung

Hedonistische Ziele

Unterdrückung

Instrumentelle Ziele

System zur Regulierung von Emotionen Abb. 3.7  Ein vereinfachtes Modell der Emotionsregulation

Wenn über dem Schwellenwert

Erlebtes Gefühl

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der Emotion (unabhängig von der Valenz) eine positive Korrelation mit ihrem Ausdruck hat. Sie beobachteten auch, dass besonders stark aufgearbeitete und besonders unterdrückte Erlebnisse im Durchschnitt die am negativsten bewerteten Erlebnisse sind. Dies lässt sich teilweise durch die evolutionär adaptive Negativitätsneigung erklären: Die Tendenz, negativen Informationen mehr Aufmerksamkeit zu schenken (da negative Informationen eine Bedrohung für die eigene Sicherheit oder das eigene Wohlbefinden bedeuten könnten). In Bezug auf die Intensität stellten sie fest, dass intensivere Emotionen weniger unterdrückt werden und eine stärkere Bereitschaft vorhanden ist, diese neu zu bewerten als weniger intensive Emotionen. Gleichzeitig nimmt die Variabilität der Emotionsregulation mit zunehmender Intensität zu, was darauf hindeutet, dass auch andere Faktoren wie die Persönlichkeit oder der Kontext eine Rolle spielen, insbesondere wenn die emotionale Erfahrung intensiver ist. Das ist kein so seltsames Ergebnis, wie man meinen könnte, vor allem, wenn das Emotionsregulationssystem als ein primär kognitiver Prozess verstanden wird. Mit zunehmender Intensität der Emotionen (insbesondere negativer Emotionen) wird der Mensch immer stärker in den primären Reaktionsmodus getrieben, und zwar aufgrund der Kampf-Flucht-­Erstarren-­Reaktion, bei der das limbische System den Neokortex in einem (adaptiven) Versuch, das Leben zu erhalten, „kurzschließt“. Mit anderen Worten: Die Dringlichkeit zu handeln überlagert andere, weniger wichtige Prozesse, einschließlich kognitiver Prozesse und des Emotionsregulationssystems. Dieses Prinzip lässt sich leicht veranschaulichen, wenn man einen eskalierenden Streit in einer Beziehung betrachtet: Je länger der Streit andauert, desto intensiver werden die Emotionen, desto weniger wird ihr Ausdruck kontrolliert und desto unvernünftiger werden die Parteien (und desto weniger wirksam werden rationale Argumente!). Der letzte Faktor, der in diesem Modell berücksichtigt werden muss, ist die Rolle der Kultur. Die Kultur sozialisiert Individuen nicht nur in Bezug auf die angemessene und unangemessene Art und Weise, Gefühle auszudrücken, sondern wirkt sich auch darauf aus, was er oder sie über sich selbst fühlen darf. Ein einfaches Beispiel: In der amerikanischen Kultur wird der Stolz auf die eigenen Leistungen gefördert, während er in der traditionelleren niederländischen Kultur missbilligt wird. Stupar et al. (2015) fanden jedoch heraus, dass die Kultur nur wenig Einfluss auf den Umfang des sozialen Austauschs hat und konnten nur einen geringen Einfluss der Kultur auf die Unterdrückung von Emotionen (nicht-westliche Personen unterdrücken stärker als westliche) und einen geringen Einfluss auf die Neubewertung (nicht-­ westliche Personen bewerten stärker als westliche) feststellen. Im Rahmen des nun vorgestellten biopsychosozialen Modells wird das System der Emotionsregulation in zwei Subsysteme unterteilt: ein internes System, in dem Unterdrückung und Neubewertung genutzt werden, um die Art und Weise zu verändern, wie Menschen in Bezug auf sich selbst empfinden, und ein externes System bezüglich des sozialen Bereichs, in dem der Ausdruck von Emotionen (einschließlich der verhaltensmäßigen Unterdrückung) aufgrund von Kultur und Sozialisation abgemildert wird.

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3.4.4 Ein biopsychosoziales Emotionsmodell Durch Kombination verschiedener Ansätze kann ein biopsychosoziales Modell der Emotionen, wie in Abb. 3.8. dargestellt, entwickelt werden: Zur Veranschaulichung des Modells kann eine Situation angenommen werden, die im sozialen Bereich angesiedelt ist. Diese löst über den kurzen, unbewussten Weg, den die Theorie von LeDoux beschreibt, eine körperliche Reaktion aus. Sie löst über die Skriptbibliothek den entsprechenden emotionalen Grundreflex aus, der der Person ein (komplexes) Gefühl vermittelt, wie in Abb. 3.3 dargestellt wurde. Da dieses Gefühl körperlich empfunden wird, bewirkt es eine Veränderung in der emotionalen Landschaft. Diese Umgebung ist dynamisch, d. h. sie unterliegt ständigen Schwankungen. Es ist also eigentlich die Veränderung des Gefühls, die wahrgenommen wird und als Emotion bezeichnet wird. Die Gefühle sind jedoch weitgehend biologisch (Neurotransmitter, Neuropeptide und Veranlagungen). Die Verbindung zwischen der Situation und dem Gefühl wird aufgrund der klassischen Konditionierung im Gedächtnis gespeichert. Diese Erinnerung beeinflusst sowohl die Intensität der körperlichen Reaktion als auch die Art und Weise, wie diese Reaktionen erlebt werden. Jede Wiederholung der Situation verstärkt die Intensität. Je intensiver die Erinnerung ist, desto größer ist ihre verstärkende Kraft. Um fortzufahren: Der Prozess der klassischen Konditionierung ist unbewusst. Die Erinnerung wird nicht nur im Gehirn gespeichert, sondern auch in den Körperzellen durch die Wirkung von Neuropeptiden. Wenn eine Situation die Aufmerksamkeit einer Person ausreichend auf sich zieht, wird der bewusste, lange Weg von LeDoux aktiviert, der zur kognitiven Verarbeitung und internen Emotionsregulierung führt. Wenn die Emotion neu bewertet Soziales

Intrinsische Belohnung

Kultur

Situation/Reaktion

Regulierung von Emotionen (Ausdruck/Verhaltens unterdrückung)

Verhalten

Direkte Route

Emotionaler Grundreflex

Physikalische Reaktion (=Gefühl)

Interne Route Bewusst

Bewusst Interpretation von Emotionen & Unterdrückung/ Wiederaufarbeitung

Lernen (operant/sozial)

Veränderung der Gefühle (=Emotionen) Klassische Konditionierung (unbewusst)

Unbewusst Lernen (operant)

Speicher

Psychologisch

Abb. 3.8  Ein biopsychosoziales Modell der Emotionen

Biologie

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oder unterdrückt wird, verändert dies die Art und Weise, wie sich die Person fühlt, indem wiederum die entsprechenden emotionalen Grundreflexe und Skripte in einer Art Rückkopplungsschleife ausgelöst werden. Dies wirkt sich auch auf die weitere Verarbeitung (d. h. die Interpretation der Emotion) und die Art und Weise aus, wie die Situation im Gedächtnis gespeichert wird. Bei der weiteren kognitiven Verarbeitung werden dann sowohl die Situation als auch die (möglicherweise veränderten) Gefühle, die sie auslöst, in Kombination mit dem, was im Gedächtnisspeicher hinterlegt ist, interpretiert. Diese Interpretation steuert dann das Lernen (auf einer bewussteren Ebene) mit Hilfe der Prozesse der operanten Konditionierung und des sozialen Lernens. Die Person realisiert, welche Konsequenzen eine bestimmte Situation oder ihre Reaktion darauf hat. Auch dieser bewusste Prozess initiiert eine Wechselwirkung zwischen Interpretation und Gedächtnis. Diese bewusstere (oder auf jeden Fall tiefer verarbeitete) Interpretation wirkt sich nicht nur auf die aktuelle Reaktion der Person auf die jeweilige Situation aus, sondern wird auch im Gedächtnis gespeichert und hat somit Folgen für zukünftige Verhalten. Was beim Behaviorismus im Allgemeinen nicht beachtet wird, ist, was genau das Verhalten bei der operanten Konditionierung verstärkt. Es ist nicht die eigentliche Belohnung oder Bestrafung, sondern das, was diese Belohnung oder Bestrafung für die Person bedeutet. Und das ist ein Gefühl, nicht die objektive Konsequenz. Die Verstärkung ist das Erleben der Emotion, die die objektive Konsequenz hervorruft. Eine positive Konsequenz eines bestimmten Verhaltens wird nur dann als positiv empfunden, wenn sie tatsächlich ein positives Gefühl auslöst. Aus diesem Grund kann auch das Auslösen der grundlegenden emotionalen Reflexe, das damit einhergehende Gefühl und die Veränderung der eigenen Gefühlswelt als intrinsische Belohnung angesehen werden. Die Valenz der Emotion ändert nichts an diesem Prinzip: Dass das Erleben der Emotion an sich eine intrinsisch belohnende Erfahrung ist. Dies wird zu einem späteren Zeitpunkt weiter ausgeführt werden. Nicht jedes Verhalten wird bewusst gewählt, vieles geschieht automatisch. Die unterschiedlichen Heuristiken, die Menschen anwenden, sind ein gutes Beispiel für unbewusste Entscheidungsfindung und damit auch für unbewusstes Verhalten. Dennoch wurde jedes Verhalten irgendwann und irgendwo erlernt, auch das jetzt heuristisch ausgeführte Verhalten. Auch hier spielt also das Gedächtnis eine Rolle. Wie auch immer sich eine Situation darstellt, ein Mensch reagiert bewusst oder unbewusst. Auch wenn er oder sie nichts tut, stellt dies eine Reaktion dar, genauso wie es unmöglich ist, nicht zu kommunizieren. Wie auch immer die (fehlende) Reaktion aussieht, es handelt sich dabei um Verhalten. Die Art und Weise, wie eine Person reagiert, wird durch das äußere (soziale) System der Emotionsregulierung beeinflusst, in dem das tatsächliche Verhalten von kulturell und gesellschaftlich akzeptierten Formen des Emotionsausdrucks abhängt. Und dieses Verhalten wiederum löst eine Reaktion der (sozialen) Umwelt aus, was zu einer neuen Situation führt. Damit schließt sich der Kreis: Situation – grundlegender emotionaler Reflex – körperliche Reaktion – Veränderung des Gefühls/der emotionalen Landschaft – Verarbeitung dieser Veränderung – Speicherung im Gedächtnis – Wahl der Reaktion – Reaktion – neue Situation.

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In diesem Kreis wird die Funktion des sozialen Umfelds deutlich. Zum Beispiel, wie die sozialen und kulturellen Normen für den Ausdruck von Emotionen vermittelt werden. Die meisten (psychischen oder verhaltensbezogenen) Störungen werden erst dann als solche wahrgenommen wenn der Ausdruck der innerlich erlebten Emotionen in der jeweiligen Gesellschaft als unangemessen angesehen wird. Kulturelle Normen für den angemessenen Ausdruck von Emotionen werden in erster Linie über den Lernprozess sozialisiert: Über das Verhalten der/des Einzelnen und die Reaktion, die dieses Verhalten im sozialen Umfeld hervorruft. Das erklärt, warum ein Japaner, der innerlich kocht, weiterhin lächelt: Jede andere Reaktion würde in der japanischen Kultur als unangemessen gelesen, und das wurde ihm oder ihr schon als Kind von seinen Bezugspersonen deutlich gemacht. Das äußere Emotionsregulierungssystem versucht sicherzustellen, dass diese Normen respektiert werden, indem es (kulturell) unangemessene Gefühlsäußerungen unterdrückt. Ein Verhalten ruft auch auf andere Weise eine körperliche Reaktion hervor: Direkt, ohne das Eingreifen des sozialen Umfelds, intrapsychisch genannt. Die Forschung zeigt, dass das Vortäuschen von Lachen immer noch eine Wirkung hat. Es werden Endorphine ausgeschüttet, auch wenn sich die Person unglücklich fühlt, während sie sich zum Lachen zwingt. Die Selbstwahrnehmungstheorie (Bem, 1972) unterstützt diese Annahme: In einer mehrdeutigen Situation interpretieren Menschen ihr eigenes Verhalten und ziehen aus dieser Interpretation Schlüsse. Aus der Sicht der Selbstwahrnehmungstheorie könnte formuliert werden: „Weil ich lache, bin ich wahrscheinlich glücklich“. Auf diese Weise bewirkt das Verhalten eine körperliche Reaktion im Körper, ohne Signale des sozialen Umfelds. Das Gleiche gilt für Erinnerungen, die, wenn sie aktiviert werden, ebenfalls ein emotionales Erlebnis auslösen, unabhängig davon, ob das soziale Umfeld präsent oder imaginär ist. Die operante Konditionierung als Strategie zur Änderung dysfunktionaler Verhaltensweisen gelingt oft nicht, da die Verbindung zwischen negativen Konsequenzen und Verhalten nicht immer zu einer Modifikation dieses Verhaltens führt. Manche Menschen finden sich immer wieder in Situationen wieder, die für sie nicht besonders vorteilhaft sind. Manchmal lässt sich dies durch den Unterschied zwischen kurzfristigen Vorteilen und langfristigen Nachteilen erklären. Manchmal sind Menschen einfach nicht in der Lage, Situation anders zu handhaben (d. h. es besteht ein Defizit an Fähigkeiten, wie in Abschn. 3.2 erläutert). Es gibt noch eine weitere Erklärung: Die körperliche Reaktion und ihr Einfluss auf die Gefühlswelt kann als intrinsisch belohnend angesehen werden, unabhängig davon, ob die Erfahrung positiv oder negativ ausfällt. Das bloße Erleben einer Emotion ist lohnend. Dies lässt sich anhand von Depressionen veranschaulichen: Menschen, die unter Depressionen leiden, sind im Allgemeinen apathisch und ihr emotionales Erleben ist trist. Sie sind sozusagen deprimiert, weil sie nichts erleben. Das entspricht dem, was die Verhaltenstherapeut*innen sagen: Es fehlt an belohnenden Erfahrungen. Aber Untätigkeit führt zu einem Mangel an allen Formen von Verstärkung, auch an solchen, die zu einer negativen Erfahrung führen. Um es zu übertreiben: Die Veränderung der Gefühlslandschaft sagt dem Menschen, dass er etwas erlebt und dass er deshalb lebendig ist. Und das ist an sich schon eine lohnende Erfahrung. Die Tatsache, dass Emotionen intrinsisch belohnend sind, kann sogar zu einer Sucht nach bestimmten Emotionen führen …

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Wenn Emotionen süchtig machen, kann dies zu anhaltenden Problemen führen. Ein kognitiver Ansatz hat dann wenig Wirkung, denn das Problem liegt in den Emotionen, nicht im Denken. Das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen ist in der Regel ein leichterer Weg als die Unterdrückung oder Vermeidung schwieriger Emotionen (mit anderen Worten: das Verlernen dysfunktionalen Verhaltens). Das Ausprobieren eines neuen Verhaltens führt zu einer neuen (oder zumindest anderen) emotionalen Erfahrung. Dieses neue Verhalten ruft nicht nur eine andere Reaktion des sozialen Umfelds hervor, sondern wird auch durch die intrinsische Belohnung der emotionalen Erfahrung, die es auslöst, verstärkt. Wenn die neue emotionale Erfahrung positiv oder positiver ist als diejenige, die das dysfunktionale Verhalten hervorgerufen hat, wird eine Person dazu neigen, diese neue Möglichkeit leichter zu nutzen. Das alte Verhalten muss nicht verlernt werden: Es wird immer seltener angewendet, bis es schließlich von selbst erlischt. Was ist dann mit den Kognitionen? Diesem Modell folgend sind Kognitionen, Gedanken und Überzeugungen zweitrangig. Das heißt nicht, dass sie unwichtig sind, ganz im Gegenteil. Die Art und Weise, wie ein Mensch über die Dinge denkt, hat jedoch mit dem Gedächtnis zu tun. Er denkt nicht „einfach nur“, sondern nutzt sein gesamtes Wissen und seine Erfahrungen aus der Vergangenheit als Hintergrund für den neu entstehenden Gedanken. Da die Veränderung der Gefühlslandschaft signalisiert, was wichtig ist, bestimmt sie auch, woran eine Person sich erinnert und wie sie sich daran erinnert. Emotionen sind also primär. Kognitionen beeinflussen auch das Verhalten: Im Sinne der Systemtheorie bilden sie eine der zahlreichen Rückkopplungsschleifen, die Verhalten aufrechterhalten und steuern. Da die Kognitionen durch das emotionale Erleben reguliert werden, sind sie dabei ein sogenannter Faktor zweiter Ordnung. Im Übrigen: Verhalten kann in diesem Modell ganz allgemein als alles gesehen werden, was eine Person tut (d. h. ein Verb). Das bedeutet, dass auch das Denken (ein Verb) ein Verhalten ist, eine emotionale Erfahrung vermittelt und an sich eine lohnende Tätigkeit ist! Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die emotionale Erfahrung eine große, komplexe Interaktion ist, die sich selbst in Gang hält. Die zentrale Facette ist eine dynamische, sich ständig verändernde Gefühlslandschaft, in der eine Emotion ein sich selbst belohnendes Phänomen ist, das das Denken einer Person, das, woran sie sich erinnert, und die Art und Weise, wie sie sich selbst sieht, bestimmt: Emotionen geben dem Leben und dem Augenblick einen Sinn und regeln das Verhalten des Menschen.

3.5 Scham und Schuldgefühle Aus den vorangegangenen Abschnitten sollte klar hervorgegangen sein, was Emotionen sind und dass sie eine wesentliche Rolle dabei spielen, wie Menschen etwas erleben und sich dementsprechend verhalten. Was auch klar sein sollte, ist, dass Emotionen funktional sind: Ohne Emotionen macht es keinen Sinn, überhaupt etwas zu tun. Mit anderen Worten: Emotionen sind insofern funktional, als sie dem Menschen sagen, was ihm wichtig ist, und ihr/ihm die Erfahrung vermitteln, lebendig zu sein. Das heißt, sie moti-

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vieren eine Person. Ausgehend von dieser breiten Perspektive auf Emotionen kann der Fokus nun auf das Thema dieses Buches eingegrenzt werden: Scham. Scham ist eine der Emotionen, die Menschen erleben, und sollte daher auch eine funktionale Emotion sein. Dass Menschen Scham meist als etwas Negatives empfinden, ist unbestritten. Einfach ausgedrückt hat Scham eine regulative Wirkung: Sie verhindert, dass eine Person „über die Stränge schlägt“ und hat in diesem Sinne eine schützende Funktion. Um das zu verdeutlichen, stellen Sie sich eine schamlose Gemeinschaft vor: Eine Gemeinschaft, in der es absolut keine Scham gibt. Und stellen Sie sich nicht nur eine Ansammlung vieler nackter Menschen vor. In einer schamlosen Gemeinschaft bräuchte keine Person keine ­Rücksicht auf andere zu nehmen  – jede*r wäre völlig egoistisch und egozentrisch. Scham macht, dass wir eine Gemeinschaft sind. Oder um es anders auszudrücken: Scham ist eine soziale Emotion. Wie bei allen Emotionen wird Scham nur dann problematisch, wenn sie zu stark einschränkend wirkt oder gar nicht vorhanden ist. Dies kann auf alle möglichen Faktoren zurückzuführen sein: schlechte oder fehlgeleitete Emotionsregulierung, unangemessene Bewertungen oder Erwartungen, um nur einige zu nennen. Anders ausgedrückt: Scham als normale Reaktion ist nicht problematisch und funktioniert, so wie die normale Erfahrung von Angst Menschen davon abhält, potenziell gefährliche Dinge zu tun. In diesem Abschnitt wird untersucht, wie Scham unser Erleben und Verhalten beeinflusst. Zunächst wird zwischen Scham und Schuld unterschieden, zwei Begriffen, die leicht als austauschbar für dieselbe Emotion angesehen werden. Danach wird untersucht, wie Menschen mit Scham umgehen.

3.5.1 Der Unterschied zwischen Scham und Schuld Die Diskussion über den Unterschied zwischen Scham und Schuld ist schon seit einiger Zeit im Gange. In der Alltagssprache ist der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen nicht ganz klar, und Menschen verwenden diese Begriffe oft synonym (Nathanson, 1996). Die brauchbarsten Definitionen finden sich in einem Überblick von Tangney et al. (2007): „Moralische Emotionen: Emotionen, die dazu motivieren, das Gute zu tun und das Böse zu lassen (Kroll & Egan, 2004). Was gut und böse ist, ist jedoch von der Kultur abhängig.“ „Selbstbewusste Emotionen: Diese werden durch (implizite oder explizite) Selbstreflexion und Selbsteinschätzung erlebt. Das Selbst ist das Objekt.“ „Schuldgefühle: Ist eine negative, selbstbewusste, moralische Emotion, die auftritt, wenn das Individuum zugibt, dass es etwas getan hat, das gegen eine moralische Norm verstößt. Der Schwerpunkt liegt auf unangemessenem Verhalten.“ „Scham: Ist ein negatives, selbstbewusstes, moralisches Gefühl, das auftritt, wenn jemand die eigene Person als mangelhaft ansieht, weil sie oder er mit etwas gegen eine moralische Norm verstoßen hat. Der Fokus liegt dabei auf der Person.“ „Peinlichkeit: Ist ein negatives, selbstbewusstes Gefühl, das sich auf die soziale Situation bezieht. Die Person, die diese Emotion erlebt, fühlt sich selbst unzulänglich und beobachtet, obwohl kein moralisches Gesetz übertreten worden ist.“

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Schuld, Scham und Verlegenheit sind negative, selbstbewusste Emotionen und können sich auf die Vergangenheit (etwas, das geschehen ist) oder auf die Zukunft beziehen (man erwartet, wie sich eine bestimmte Situation entwickeln wird). Verlegenheit und Schüchternheit beschränken sich jedoch auf (wahrgenommene) soziale Situationen und sind im Allgemeinen nur dann problematisch, wenn sie eine übertriebene Reaktion darstellen. Wenn eine Person beim Gehen ausrutscht, ist es nicht wirklich seltsam, wenn sie oder andere sich kurzzeitig peinlich berührt fühlt. Wenn sich eine Person sich jedoch nicht traut, soziale Kontakte zu knüpfen, kann dies ein ziemliches Hindernis für das eigene Funktionieren darstellen. Peinlichkeitsprobleme und Schüchternheit hängen oft mit Fragen des Selbstbildes zusammen, was den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde. Die Diskussion beschränkt sich in erster Linie auf die beiden negativen, selbstbewussten, moralischen (wie Tangney et al., 2007 sie definieren) Emotionen: Scham und Schuld. Es gibt zwei Möglichkeiten, wenn ein Mensch mit der Unvollkommenheit der eigenen Person oder des Verhaltens konfrontiert wird: Sie oder er kann diese Tatsache akzeptieren oder sich dagegen wehren. Wird die Tatsache akzeptiert, verlagert sich der Schwerpunkt von der Person auf das unzulängliche Verhalten, was zu Schuldempfinden führt. Aus früheren Literaturrecherchen (Van Alphen, 2004) geht hervor, dass Menschen ihre Fehler unter zwei Umständen eher akzeptieren: Wenn es sie nicht so sehr stört (z. B. weil es nicht so wichtig ist) oder wenn es so offensichtlich ist, dass sie nicht darum herum manövrieren können. Wenn Menschen sich schuldig fühlen, neigen sie dazu, das, was sie getan haben, zu bedauern, und haben den Wunsch, das, was sie durch ihre Handlungen verursacht haben, wiedergutzumachen. Dies kann durch eine Entschuldigung, durch Wiederherstellung des vorherigen Zustandes oder Erstattung des Schadens geschehen. In diesem Sinne ist Schuld eine negative Emotion mit einem positiven Ergebnis. Problematisch werden Schuldgefühle dann, wenn die Möglichkeit zur Wiedergutmachung nicht gegeben ist oder wenn die Schuldgefühle irrational oder unangebracht sind. Bei einem Trauma beispielsweise entwickeln Menschen oft Schuldgefühle im Sinne von „Hätte ich nur … getan, dann wäre das alles gar nicht passiert“. Das Opfer eines traumatischen Erlebnisses ist selten objektiv schuldig. Auch wenn jemand stirbt (unabhängig von der objektiven Schuldfrage), ist die Möglichkeit, das Geschehene ungeschehen zu machen, einfach nicht gegeben. Kurz gesagt: „Normale“ Schuldgefühle motivieren Menschen dazu, ihre Beziehung zu anderen, denen sie in irgendeiner Weise Unrecht getan haben, wiederherzustellen, während fehlgeleitete Schuldgefühle in der Regel nicht lösbar sind. Das moralische Element liegt auf der Hand: Schuldgefühle treten nur auf, wenn die Person subjektiv das Gefühl hat, gegen eine moralische Norm verstoßen zu haben. Scham hingegen wird erlebt, wenn die Person sich selbst als mangelhaft empfindet. Da der Fokus auf der Person liegt, ist die erste Tendenz der Selbstschutz, denn niemand fühlt sich gerne unzulänglich. Daher werden zauhlreiche Strategien angewandt, um die Aufmerksamkeit von dieser (nun als mangelhaft empfundenen) Person abzulenken. Nehmen wir den Alkoholiker, der seiner Partnerin versprochen hat, tagsüber nicht zu trinken. Wenn er sich nicht an sein Versprechen hält, besteht die Chance, dass seine Partnerin seinen Fehltritt über seinen Atem riecht. Die Chancen stehen auch gut, dass sie es ihm in aller Deutlichkeit sagen wird, wenn sie es he­

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rausfindet. Wenn seine Partnerin ihn also mit seinem Verhalten konfrontiert, sieht er sein eigenes Verhalten als Übertretung einermoralischen Norm. Er hat etwas getrunken, obwohl das nicht der Vereinbarung entspricht. Die Norm, gegen die er verstößt, lautet also: „Halte dich an deine Versprechen.“ Anstatt zuzugeben, dass sein Verhalten unangemessen ist („Ich weiß, dass es nicht das war, was wir vereinbart hatten, aber ich konnte mich nicht zurückhalten“), wird er wahrscheinlich versuchen, die Aufmerksamkeit seines Partners von ihm als Person abzulenken. Dies ist typisch für Scham – der Alkoholiker hält sein Verhalten nicht für unangemessen, sondern sieht sich selbst als fehlerhafte Person, weil er sein Wort nicht gehalten hat. Und das fühlt sich nicht gut an. Je schneller er also nicht mehr unter Beobachtung steht, desto schneller muss er sich diesem schlechten Gefühl nicht mehr stellen.

3.5.2 Ist Scham eine moralische Emotion? Eine berechtigte Frage ist, ob Scham auf eine selbstbewusste moralische Emotion beschränkt ist, was eine Abweichung von der Definition von Tangney et al. (2007) bedeutet. Der Autor tendiert dazu, dass Scham immer dann auftritt, wenn eine Person sich selbst als fehlerhafte Person wahrnimmt, unabhängig davon, ob ein moralisches Gesetz gebrochen wurde oder nicht. Mit anderen Worten, auch wenn eine Person sich inkompetent fühlt und dies (explizit oder implizit) darauf zurückführt, dass sie eine mangelhafte Person ist, führt dies zu Scham. Man könnte die Idee der moralischen Übertretung dehnen, indem man sagt, dass ein Individuum moralisch verpflichtet ist, eine autonome, kompetente Person zu sein … Doch was ein moralisches Gefühl ist, ist eine Frage der Diskussion (Cova et al., 2015). Das bedeutet, dass ein Individuum, das im eigenen persönlichen Bezugsrahmen das Gefühl hat, gegen einen moralischen Kodex verstoßen zu haben, das Erleben einer bestimmten Emotion wie Scham oder Schuld hervorrufen kann. Das mag wahr sein, bedeutet aber logischerweise nicht das Gegenteil. Es schließt nicht aus, dass eine Person diese beiden Gefühle empfindet, ohne die Moral in die Gleichung einzubeziehen. Daher der Vorschlag, die Definitionen von Scham und Schuld auf die Emotion zu konzentrieren, die mit dem Gefühl verbunden ist, dass ein Individuum sich als fehlerhafte Person fühlt (Scham), und mit dem Gefühl, dass das eigene Verhalten unangemessen ist (Schuld). Dabei ist zu berücksichtigen, dass beide Emotionen aus einer selbstbewussten Bewertung (d. h. das Selbst ist das zu bewertende Objekt) in Übereinstimmung mit dem eigenen Bezugsrahmen entstehen. Um es noch einmal deutlich zu machen: Wenn Scham und Schuld als soziale Emotionen betrachtet werden, motivieren sie ein Individuum über sein „Bedürfnis, dazuzugehören“, zu einem angemessen Sein oder Verhalten.

3.5.3 Umgangsweisen mit Scham Nathanson (1992) hat die Art und Weise, wie sich Menschen vor Scham schützen, in einem Modell dargestellt, das er als Kompass der Scham bezeichnet. Sein Modell wird hinreichend unterstützt (Elison et al., 2006) und ist die Grundlage für einige

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Zurückziehen

Andere angreifen

Selbst angreifen

Vermeiden Sie

Abb. 3.9  Der Kompass der Scham nach Nathanson (1992)

Fragebögen zur Messung internalisierterScham. Nach Nathanson verwenden Menschen, die mit Scham konfrontiert sind, einen von vier weit gefassten Abwehrmechanismen (ein psychoanalytischer Begriff, der die vielen Möglichkeiten beschreibt, wie Menschen mit negativen Gefühlen umgehen): Sich zurückziehen, die/den anderen angreifen, sich selbst angreifen oder Vermeidung (siehe Abb. 3.9). Hat Ihr Partner Sie schon einmal auf etwas angesprochen, das Sie getan haben, und Sie haben geantwortet: „Ja, aber du …“? Vom logischen Standpunkt aus ist es nicht einmal relevant, was ein anderer getan oder nicht getan hat, es macht das eigene Verhalten nicht plötzlich richtig. Die Ja-aber-Du-Antwort wird als Umkehrtrick bezeichnet und ist ein gutes Beispiel für einen der vier Abwehrmechanismen: Die andere Person angreifen. Diese Strategie funktioniert, weil die Aufmerksamkeit jetzt nicht mehr auf der Person und ihren wahrgenommenen Fehlern liegt, sondern auf der anderen Person. Die gegenteilige Strategie sieht vielleicht wie Akzeptanz aus, ist es aber nicht: Man greift sich selbst an: „Oh, wie konnte ich nur so dumm sein!“ Nachdem das formuliert wurde, gibt es keinen Grund mehr, darüber zu reden, geschweige denn etwas zu unternehmen. Oder die Person wird zum „Opfer“, was ebenfalls die Aufmerksamkeit von der beschämenden Tat ablenkt. Sind Sie schon einmal während eines Streits wütend weggelaufen, oder die andere Person hat das getan? Weggehen löst das Problem nicht, bedeutet aber, dass man sich (für den Moment) nicht mit dem schlechten Gefühl auseinandersetzen muss, oder zumindest in geringerem Maße. Kinder tun dies, indem sie sich verstecken, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes und manchmal, indem sie ihr Gesicht hinter ihren Händen verbergen. Auf diese Weise ist die Situation einfach nicht mehr präsent. Dies sind

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Beispiele für eine andere Strategie – Rückzug. Die vierte Strategie ist das Vermeiden. Das kann kurzfristig sein, indem man leugnet oder das Thema wechselt, oder längerfristig, indem Alkohol oder Drogen konsumiert werden, um das schlechte Gefühl zu vermeiden, oder indem man das stoxische Gefühl durch andere Formen der Erregung ersetzt. Ein Individuum wählt daher zwischen zwei „Achsen“, wenn es mit Scham konfrontiert wird: Angreifen oder Weglaufen (Kampf oder Flucht). • Wird Angriff gewählt, braucht es ein Objekt: Entweder greift man die andere Person an oder man greift sich selbst an. In diese beiden Kategorien fallen auch alle so genannten „disclaimers“: Das heißt, all die verschiedenen Arten, in denen eien Person behauptet, nicht schuld zu sein an dem, was sie getan hat. • Die andere Achse steht in engerem Zusammenhang mit Zeit. Rückzug ist unmittelbar, denn von dem Moment an, in dem sich eine Person (tatsächlich oder psychologisch) entzieht, existiert die Situation nicht mehr – so wie ein Strauß, der den Kopf in den Sand steckt. Vermeiden braucht ein wenig mehr Zeit: Das ungute Gefühl löst sich nicht sofort auf, sondern es dauert eine Weile, bis die Vermeidungsstrategie wirkt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Art und Weise, wie sich Menschen gegen die unangenehmen Implaktionen der Scham wehren, durch die vier Himmelsrichtungen symbolisiert wird, die in Abb. 3.9 dargestellt sind. Keine der vier Strategien ist an sich pathologisch. Welche dieser breit gefächerten Möglichkeiten eine Person nutzt, hängt von allen möglichen Faktoren ab, z.  B. der Persönlichkeit, der Erziehung, der Kultur und der Biographie. Auch die Situation oder situative Faktoren haben Einfluss. Ein gesund funktionierender Mensch wird seine Strategien je nach Situation variieren. Problematisch wird es, wenn eine Person immer, unabhängig von der Situation, ein und dieselbe Methode anwendet, um sich gegen das schlechte Gefühl zu wehren. Oder nie einen Schritt zurücktritt und akzeptiert, dass auch andere Handlungsoptionen denkbar gewesen wären. Scham kann je nach Häufigkeit und Intensität des Schamgefühls eine pathologische Wirkung auf die psychische Gesundheit haben, im Gegensatz zu Schuldgefühlen, bei denen die Unvollkommenheit akzeptiert wird. Um auf den fiktiven Alkoholiker und seiner Partnerin zurückzukommen. Er könnte mit seinem Gefühl des Versagens umgehen, indem er es an seiner Partnerin auslässt (die Strategie des Angriffs auf andere). Er schlägt jedoch nicht auf sie ein, weil er sie persönlich angreifen will, sondern weil sie zufällig die Person ist, die in der Nähe ist, wenn er mit seinen schlechten Gefühlen fertig werden muss. Es geht um ihn, nicht um sie. Oftmals interpretiert die Partnerin dies so, dass er seine Wut an ihr auslässt, wo­ raufhin sie reagiert, was wiederum den Streit eskalieren lässt. Der Teufelskreis (der eskalierende Streit) ist also eine Wechselwirkung zwischen der Art und Weise, wie der Mann mit seiner Scham umgeht, und der Art und Weise, wie seine Partnerin seinen Versuch interpretiert, mit diesem Schamgefühl umzugehen. Hier ist ein Beispiel dafür, wie Scham eine dysfunktionale Interaktion verursachen kann.

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3.6 Schlussfolgerung Was ist nun die funktionale und adaptive Seite der Scham? Wie beschrieben, setzt Scham ein, wenn eine Person sich selbst als fehlerhaft erlebt. Die natürliche erste Reaktion besteht darin, sich nicht damit auseinanderzusetzen, doch auf lange Sicht sollte die Scham dazu führen, dass tatsächlich eine Verhaltensänderung eintritt. Mit anderen Worten: Scham (mit ihrem Fokus auf die unzulängliche Person) wird funktional, wenn sie sich in Schuld umwandelt (indem sie den Fokus auf das unangemessene Verhalten verlagert). Anders ausgedrückt: Scham wird immer innerlich erlebt und motiviert uns langfristig dazu (oder sollte uns motivieren), ein besserer Mensch zu werden. Und es ist nicht eine andere Person, der definiert, ob ein Mensch dieses Ziel erreicht hat oder nicht, sondern es geht darum, dass die/der Einzelne sich selbst als wertvoll empfindet. In Anlehnung an das biopsychosoziale Verhaltensmodell in Abschn. 3.2, bedeutet dies, dass Scham, die in Schuld umgewandelt wird, dazu führt, dass das eigene Verhalten auf eine positive Weise verändert wird. Die verbesserte Beziehung zu anderen führt schließlich zu positiven Interaktionen, was wiederum zu Veränderungen in der emotionalen Landschaft hin zu einem positiveren Gefühl führt. Dies ist anpassungsfähig, denn das individuelle Überleben hängt vom gemeinsamen Überleben ab – die Menschen brauchen einander, sie sind voneinander abhängig. Selbst in einer Kultur, in der Unabhängigkeit zelebriert wird, sollten alle implizit wissen, dass die/der Einzelne ohne den sozialen Hintergrund einfach nicht existieren würde. Es mag kulturelle Unterschiede in der Art und Weise geben, wie Menschen Scham empfinden und ihr Ausdruck verleihen, aber das schmälert nicht ihren adaptiven Zweck. Scham motiviert die Menschen zu angemessenem Handeln. Scham, wenn sie in Schuld umgewandelt wird, erhöht daher die Chancen auf individuelles und kollektives Überleben, da sowohl das Individuum als auch die Menschheit als Ganzes eher überleben, wenn Menschen einander unterstützen, als wenn sie sich in einem ständigen Wettbewerb oder Krieg miteinander befinden. Scham hilft, Grenzen zu ziehen, und vermittelt eine emotionale Erfahrung, die es ermöglicht, die Grenzen gesellschaftlich akzeptablen Verhaltens wahrzunehmen. Scham hilft, Beziehungen wiederherzustellen. In diesem Sinne ist Scham die Essenz unserer sozialen Faser. Danksagung  Ich möchte insbesondere den folgenden Personen für ihre Beiträge zu diesem Kapitel danken: Wilma van Heerden für die Verwendung ihrer Fotos und Dr. Snežana Stupar für ihre Kommentare und Vorschläge.

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Teil II

Kulturspezifische Perspektiven auf Scham

Kapitel 4

Die positive Funktion der Scham: Moralische und spirituelle Perspektiven Thomas Ryan

Der Titel dieses Buches deutet auf eine breitere Wahrnehmung von Scham hin. Die Begriffe „Wert“, „Gesundheitsressource“ und „kulturübergreifend“ spiegeln eine zunehmende Wertschätzung der Dynamik und der Funktionen von Scham wider, die über ihre toxischen und destruktiven Formen hinausgehen. Die letzten zwei Jahrzehnte haben die Erkenntnis eines Autors bestätigt, der annimmt, dass sich „neue und fruchtbare Perspektiven“ auf Scham als Tor zu „einer Wiederherstellung des Geistes und der Lebendigkeit in unserem persönlichen und kollektiven Leben“ ergeben (Fowler, 1996, S. 96). Ziel dieses Kapitels ist es, diese Annahme vertieft zu untersuchen, wobei der Schwerpunkt auf moralischen und spirituellen Perspektiven zur positiven Rolle der Scham liegt. Dies soll in vier Phasen geschehen. Zunächst wird kurz auf die relationalen Grundlagen der Scham eingegangen. Zweitens werden moralische Perspektiven der Tradition der Tugendethik diskutiert, wie sie von Thomas von Aquin vertreten und sich aus der Tugend der Nächstenliebe erschließen lassen. Drittens wird der edukative Aspekt der Scham in zweierlei Hinsicht untersucht: persönlich im Hinblick auf die mit der Scham korrespondierende Qualität der Ehre; kollektiv anhand dreier Beispiele des kulturellen Lernens in Bezug auf Scham und Ungerechtigkeitserfahrungen im australischen Kontext. Viertens nimmt der Text Bezug auf James und Evelyn Whiteheads (und andere Autor*innen) zu Scham im Zusammenhang mit spirituellem Wachstum. Dabei stellt der Autor einige Personen vor, die die soziale Scham überwunden und ihren subversiven und transformierenden Einfluss genutzt haben.

T. Ryan (*) Australian Catholic University, Sydney, Australien

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 E. Vanderheiden, C.-H. Mayer (Hrsg.), Der Wert der Scham, https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3_4

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4.1 Beziehungsorientierte Grundlagen der Scham Wir alle kennen Momente, in denen wir erröten, da wir uns schämen. Das kann geschehen, wenn ich einen Raum betrete und dabei ein privates Gespräch unterbreche oder zwei Menschen in einer leidenschaftlichen Umarmung vorfinde. Oder ich sehe eine Person, die mich anlächelt. Ich bewege mich, um sie zu begrüßen, und stelle fest, dass das Lächeln jemandem hinter mir galt. Oder ich denke an die instinktive Reaktion von Menschen, die ihr Gesicht verdecken, wenn sie mit einer Medienmeute konfrontiert werden. Ich werde mir vielleicht bewusst, wie ich reagieren würde, wenn verletzende Dinge, die ich getan habe, in der Öffentlichkeit gezeigt würden. Elspeth Probyn geht davon aus, dass diesen Szenarien der Verlegenheit oder des „Errötens“ gemeinsam ist, dass mein Körper mir sagt, dass ich fehl am Platz bin, und dass diesem Phänomen der Wunsch zugrunde liegt, „dazuzugehören (Probyn, 2005, S. 3, 38). In diesen Situationen bin ich auf körperliche und psychologische Weise betroffen. Ich bin emotional berührt, weil mein Körper sofort spürt, dass eine Grenze im Bereich dieser sozialen, kulturellen oder moralischen Muster, die definieren, wie Menschen sich – oder wie sie sich nicht – verhalten sollen, überschritten wurde. Ich fühle mich entblößt. Ich möchte mich verstecken, sogar vor mir selbst, meinen Fehlern oder Unzulänglichkeiten. Ich werde daran erinnert, dass ich manchmal nicht die Person bin, die ich gerne wäre. Ich schäme mich. Was sind die Ursachen dafür? Als Menschen haben wir alle den Wunsch, dazuzugehören, einbezogen und geliebt zu werden. In vielerlei Hinsicht hängt unser Überleben von der Gemeinschaft ab. Exil und Verbannung sind gleichbedeutend mit einem lebendigen Tod. Zusammen mit der Schuld ist die Scham eine soziale Dynamik, die unsere soziale Identität schützt und uns vor jeder Handlung warnt, durch die wir ausgeschlossen oder von unserem Platz „verbannt“ zu werden drohen. Es würde den Rahmen unserer hier leistbaren Diskussion sprengen, die psychologischen und soziologischen Wurzeln und Muster in der Entwicklung von Scham im Detail zu erläutern. Wir destillieren die wichtigsten Ideen heraus, die für die Zwecke dieses Kapitels erforderlich sind.1 Scham gehört zu einer Reihe von Affekten, die „als ein nicht-pathologisches, angeborenes neurobiologisches Affektprogramm beim Menschen beginnen“ (Fowler, 1996, S. 104). In Tomkins’ Schema der neun grundlegenden Affekte sind hier zwei relevant: Interesse – Erregung (Blick auf ein Objekt gerichtet, Mund teilweise geöffnet) und Genuss – Freude (strahlendes Gesicht, lächelnde Reaktion). Es ist der negative Affekt Scham – Demütigung (Blickkontakt vermieden, Kopf gesenkt), der die Reaktionen Interesse  – Erregung/Freude insofern stört, als dass „das Selbstgleichgewicht, das Selbstwertgefühl oder das Ansehen bei anderen“ bedroht ist. Die Bedrohung kann durch die „Fremdheit“ der anderen Person entstehen. Sie kann aber auch aus Reaktionen anderer resultieren, die die Wahrscheinlichkeit nahelegen, dass eine Person in irgendeiner Weise abgelehnt oder abgewertet wird.  Siehe Tomkins (1963, 1995), Probyn (2005) und Fowler (1996, S. 97–103) sowie weitere Kapitel in diesem Buch. 1

4  Die positive Funktion der Scham: Moralische und spirituelle Perspektiven

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Fowler stellt ein als „stilles Gesicht“ bekanntes Experiment vor, bei dem eine Reihe von Müttern und Säuglingen gefilmt wurde (Tronick et  al., 1978). Die Mutter sitzt ihrem Säugling jeweils in angenehmer Umgebung direkt gegenüber. Sie wird aufgefordert, sich normal zu verhalten. Die in Zeitlupe gedrehten Filme zeigen das absorbierte Interesse zwischen Mutter und Kind, während sie sich gegenseitig betrachten. Die Mutter wird gebeten, den Raum für ein paar Minuten zu verlassen. Nach ihrer Rückkehr wird sie aufgefordert, sich vor ihr Kind zu setzen. Sie soll Blickkontakt aufnehmen, aber auf jegliche Mimik oder Gestik verzichten und sich so neutral wie möglich verhalten. Die Säuglinge versuchen, die Mutter in die normale Interaktion einzubeziehen. Nach einer Weile verhalten sich die Säuglinge auf zwei Arten. Einige schreien aus Verzweiflung. Andere lassen sich auf dem Stuhl nieder, drehen den Kopf nach unten und wenden den Blick vom Gesicht der Mutter ab. Das Interesse und die Freude des Kindes sind unterbrochen worden. Die Scham ist „durch ein Signal ausgelöst worden, das mit der Weigerung der Mutter zusammenhängt, sich an dem erwarteten Austausch zu beteiligen“ (Fowler, 1996, S. 100).

Daraus leitet Fowler wichtige Anhaltspunkte für den Scham-Demütigungs-Affekt ab: Er tritt im Rahmen von Face-to-Face-Beziehungen auf; er wird durch etwas ausgelöst, das in der Beziehung auftritt und die Erfahrung von Ablehnung, Missbilligung oder Ausgrenzung nahelegt; er lenkt die Aufmerksamkeit von der anderen Person ab und schärft das Bewusstsein für das eigene Ich; er bringt schmerzhafte Gefühle der Verwirrung, des Selbstzweifels und ein Gefühl der Unwürdigkeit mit sich (Fowler, 1996, S. 102). Fowler weist darauf hin, dass im Gegensatz zu den anderen acht Affekten, die auf Situationen außerhalb unseres Selbst reagieren (sie als interessant, abstoßend oder bedrohlich usw. klassifizieren), der Scham-Demütigungs-Effekt einzigartig ist, da er „reflexiv ausgerichtet“ ist, indem er „neurophysiologische Reaktionen und begleitende Gefühle hervorruft, die das Bewusstsein des Selbst referenzieren und verstärken“ (Fowler, 1996, S. 102). Dieser Affekt ist sowohl grundlegend für die entstehenden Prozesse der Selbstwahrnehmung und des Selbstbewusstseins als auch für die Motivation der kognitiven Operationen, die mit der Konstruktion der Perspektiven anderer verbunden sind, insbesondere deren Bewertungen des Selbst. Fowler schlägt in Anlehnung an die Kritik von Tomkins einen ergänzenden reflexiven Affekt vor, nämlich den Vertrauensstolz, der „das Gefühl des eigenen Wohlbefindens und der Wertschätzung“ verstärkt (Fowler, 1996, S. 103). Diese Überlegungen zeigen, dass Scham sich im Beziehungskontext ereignet, eine affektive Reaktion und den Prozess der Bewertung von sich selbst und anderen initiiert. In unserer Diskussion werden wir diese drei Aspekte in Bezug auf die moralische, edukative und spirituelle Dimension der Scham vertiefen. Ein Teil dieses Prozesses ist „kulturübergreifend“. Eine Arbeitsdefinition von Kultur ist daher hilfreich und kann als Leitfaden dienen. Don Browning versteht unter Kultur „eine Reihe von Symbolen, Geschichten (Mythen) und Verhaltensnormen, die eine Gesellschaft oder Gruppe kognitiv, affektiv und verhaltensmäßig auf die Welt ausrichten, in der sie lebt“ (Browning, 1976, S. 73).

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Auf dieser Grundlage kann Kultur so verstanden werden, dass sie Gruppen oder „Subkulturen“ innerhalb eines bestimmten breiteren kulturellen oder gesellschaftlichen Kontextes umfasst.

4.2 Die moralische Dimension Die Einschätzungen hinsichtlich der Rolle der Scham im moralischen Kontext sind uneinheitlich. Bernard Williams etwa ist in Shame and Necessity darauf bedacht, die griechische Sensibilität für die Rolle der Scham als gesunde Tugend wiederherzustellen. Dies steht im Gegensatz zu der restriktiven Auffassung von Scham als „vormoralischer“ sozialer Konformität (Williams, 1993). Im Gegensatz zur unterwürfigen Scham, die sich auf die öffentliche Meinung stützt, beruht die gesunde Scham auf der persönlichen Überzeugung. In ähnlicher Weise stellt Calhoun (2004) fest, dass einige Moralphilosoph*innen Scham als eine „primitivere und weniger nützliche moralische Emotion als Schuld“ betrachten und dass Individuen und Kulturen sie „hinter sich lassen sollten“. Scham als moralische Emotion und die damit verbundene öffentliche Bloßstellung scheint weniger auf ein begangenes Unrecht als vielmehr auf unser Erscheinungsbild oder auf das, „was andere Menschen von uns verlangen, zu tun oder zu mögen“, gerichtet zu sein (Calhoun, 2004, S. 127–8). Calhoun ist anderer Meinung und argumentiert, dass, wenn Menschen mit anderen ein Leben mit gemeinsamen moralischen Praktiken teilen, die Scham über moralisches Versagen „für die Psychologie eines/einer reifen moralischen Akteurs/Akteurin wesentlich ist“ (Calhoun, 2004, S. 129). Sowohl Williams als auch Calhoun stehen in der Kontinuität der Tradition der Tugendethik, die beispielsweise in Aristoteles’ Philosophie wurzelt, und viel später von Thomas von Aquin in seinen Ausführungen über Scham und ihre Rolle im moralischen Leben weiterentwickelt wurde. Sie stimmt auch mit den oben beschriebenen relationalen, affektiven und evaluativen Qualitäten der Scham überein. Ich werde im Folgenden die bisherigen Diskussionen über Scham durch die Brille der Liebe analysieren.2 Für Aquin ist das höchste einende und belebende Prinzip aller Tugenden die Nächstenliebe. Es ist die Liebe, die unsere Triebe, Handlungen und Wünsche in unserer Beziehung zu Gott, aber auch zu den anderen und zu uns selbst lenkt (ST 2.2.23.6-8). Aquin erachtet Gefühle als wesentlich für das moralische Leben und die menschliche Integration. Die Scham, die eng mit dem Körper (insbesondere mit der Berührung) verbunden ist, ist Teil der affektiven Tugend der Mäßigung oder der Selbstfürsorge in Bezug auf unsere körperlichen, sexuellen und affektiven Bedürfnisse und Wünsche. Im Gegensatz zu Aristoteles ordnet Aquin alle Kardinaltugenden, also auch die Mäßigung und die Scham, in erster Linie in den Zusammenhang mit der Liebe in ihren verschiedenen Erscheinungsformen und einen theologischen Rahmen ein. In Bezug auf das Selbst ist Aquin der Ansicht, dass  Eine ausführliche Erörterung dieses Themas findet sich in Ryan (2013 und auch 2008).

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(a) eine gesunde Selbstliebe ein wesentlicher Bestandteil des christlichen Lebens ist; (b) wir unseren Körper als ein Geschenk Gottes lieben müssen; (c) die Sorge um das eigene Wohl integraler Bestandteil der Tugend oder der moralischen Selbsttranszendenz ist (vgl. ST 2.2.25.4; 2.2.25.5; 2.2.26.6). Für Aquin ist die Scham als kulturelle und psychologische Realität eine der Lehrkräfte des Lebens – in sozialer, relationaler und moralischer Hinsicht. Drei Aussagen fassen den Ansatz von Aquin zur Scham zusammen. Erstens: Scham hat mit Werten, Selbsteinschätzung und dem Rahmen für ein gutes Leben zu tun. Aquins Behandlung der Scham (verecundia) in der Summa Theologiae beginnt mit einer spezifischen Frage nach der Moral der Gefühle.3 Gibt es eine Emotion, die „von Natur aus“ immer gut oder böse ist (ST 1.2.24.4). Eine Emotion, die von Natur aus gut ist, ist nach Aquin die Scham (verecundia oder Bescheidenheit oder timor turpis), die die Furcht davor ist, etwas zu tun, was in den eigenen Augen moralisch verwerflich ist, vor allem aber, weil es in den Augen der anderen schädlich für das Individuum selbst ist. Unter Berufung auf Aristoteles’ Ethik betont Aquin, dass verecundia ein lobenswertes Gefühl und eine Tugend im weitesten Sinne ist (ST 2.2.144.1).4 Sie ist Ausdruck einer gesunden Selbstfürsorge und der Sorge um das eigene Wohl.5 Es muss dabei daran erinnert werden, dass die positive Rolle der Scham bei der Selbsteinschätzung und Selbstveränderung davon abhängt,

 Thomas von Aquin behandelt die Scham als eine grundlegende moralische Reaktion in ST I-11.24.4, als eine der sechs Arten der Furcht in ST 1-11.41.4 und als integralen Bestandteil der Tugend der Mäßigung in ST 11-11.144. Er diskutiert sie auch in seinem Kommentar zur nikomachischen Ethik, Buch 4, 17 a-m et passim. Summa Theologiae 1.2. 24.4; 1.2. 41.4; 2.2. 141-144 (im Folgenden ST). Für die Übersetzungen der Summa hat der Autor die lateinisch-englische (Blackfriars) Version der englischen Dominikanerprovinz (London: Eyre and Spottiswoode, 1963–1975), die Summa Theologica des Heiligen Thomas von Aquin, 2. rev. ed. 1920, übersetzt von Patres der englischen Dominikanerprovinz in der Online-Version www.newadvent.org/ summa/ und die neue Übersetzung von Alfred J Freddoso, Online-Version unter http://www. nd.edu/~afreddos/summa-translation/TOC.htm, abgerufen am 20.12.2008, herangezogen. Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen aus der Blackfriars-Fassung. Die Zusammenfassungen oder Paraphrasen stammen vom Autor. 4  Ein von Natur aus böses Gefühl ist dagegen der Neid. Es ist Teil unserer Menschlichkeit, das Gute in anderen zu erkennen und eine grundlegende Reaktion von Mitleid und Mitgefühl auf ihr Leiden zu empfinden. Sich an der Notlage eines anderen zu erfreuen oder über ihre/seine Gaben oder Erfolg traurig zu sein, deutet auf ein mangelhaftes Selbstwertgefühl hin. Der eigene moralische Charakter ist mangelhaft. 5  Dies steht im Einklang mit Aristoteles’ Ansicht, dass eine angemessene Selbstachtung (philautia) ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Wohlbefindens ist. Scham ist in der Selbstfürsorge als moralische Sensibilität für Handlungen enthalten, die einen schlechten Eindruck auf die Person selbst erzeugen oder erzeugt haben könnten (und ein Gefühl der Reue und sogar der Wunsch nach Wiedergutmachung). Siehe Oakley (1992, S. 74). Nussbaum stellt fest, dass Scham „Selbstachtung als ihren wesentlichen Hintergrund erfordert. Nur weil eine Person von sich selbst erwartet, dass sie wertvoll oder sogar perfekt ist, wird sie vor den Beweisen für den eigenen Nichtwert oder die eigene Unvollkommenheit zurückschrecken oder sie verbergen“ (Nussbaum, 2001, S. 196). 3

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dass die Scham bewusst anerkannt wird, wie später im Kapitel deutlich wird.6 Für Aquin ist die Scham (verecundia) als Emotion in einen relationalen Kontext von Natur aus als gut oder böse einzuordnen, nämlich als ein sich „im Einklang“ (conveniens, passend) oder nicht im Einklang (dissonans, nicht passend) mit der rechten Vernunft oder der echten Menschlichkeit befindend. Es handelt sich in diesem Sinne um eine Emotion, die das persönliche und soziale Gedeihen des Menschen fördert. Scham ist zwar negativ (wir fühlen uns unbehaglich), aber ihre positive Funktion ergibt sich aus ihrem Grundverständnis, nämlich dem Wert, den sie aufrechterhalten soll, und der daraus resultierenden Haltung. Für Aquin ist es daher kein erstrebenswerter oder gar bewundernswerter Zustand, keine Scham zu empfinden (moralisch „schamlos“ zu sein) oder keine Sensibilität für den Schmerz eines anderen zu haben. Zweitens ist für Aquin die Scham ein wesentlicher Bestandteil des gesunden menschlichen Funktionierens, sowohl persönlich als auch sozial. Es gibt Dinge, für die wir uns schämen sollten, genauso wie es Dinge gibt, über die wir wütend sein oder vor denen wir Angst haben sollten. Wie jede Emotion, insbesondere jene, die wir als „negativ“ bezeichnen (wir fühlen uns unwohl), kann Scham konstruktiv oder destruktiv sein. Schamgefühle können unser persönliches Wohlbefinden fördern und unsere Reaktionen in unseren Beziehungen und im gesellschaftlichen Leben steuern.7 Andererseits kann Scham das Selbstwertgefühl untergraben und „tödlich“ sein, insbesondere als Instrument des Vorwurfs, der Macht, der Kontrolle und der Unterwerfung (Probyn, 2005, S. 92). In beiden Formen hat sie eine edukative Funktion sowohl auf persönlicher als auch auf kollektiver Ebene, wie wir später sehen werden. Nach Aquin hilft uns die Scham als Teil der Tugend der Mäßigung oder der Selbstsorge, in der Gabe unseres Körpers und dem, was mit ihm verbunden ist, in der Ähnlichkeit mit Gott zu wachsen. Sie zeigt sich in der Sensibilität gegenüber allem, was die eigene Person erniedrigt. Sie begleitet die honestas, d. h. der Sinn für moralische Vortrefflichkeit und die Liebe zu ihrer Schönheit. Aquin sieht die Scham als Missbilligung oder Gesichtsverlust gegenüber anderen (ST 2.2.144.3), und in diesem Sinne ist sie sozial und kulturell verankert.8 Die Scham macht uns sensibler  Es wird hier nicht vorausgesetzt, dass eine Person sich zu diesem bestimmten Zeitpunkt bewusst ist, dass sie Scham empfindet. Zur Bewertung gehört sicherlich die Akzeptanz, dass es legitim ist, Scham zu empfinden (ob bewusst oder unbewusst), indem das vorübergehende Gefühl des Ausgeliefertseins oder der „Zerbrechlichkeit“ anerkannt wird, das damit einhergeht. Alles, was es auf einer grundlegenden Ebene bedeuten kann, ist, dass eine Person sich schämt (errötet), sich ein wenig zurückzieht und, weil dieses Erröten nicht angenehm war, derartige Situationen in Zukunft meidet. 7  Es ist interessant, dass wir uns schämen können, wenn andere uns fälschlicherweise für unwürdiger Handlungen fähig halten. Selbst in einer solchen Situation haben wir ein tieferes Interesse daran, gut zu sein und nicht nur den Anschein zu erwecken, gut zu sein. Trotz des sozialen Charakters der Scham ist es richtig zu sagen, dass das, wofür du dich schämst, mich nicht beschämen muss. 8  Wir können auch Scham für andere empfinden, insbesondere für unsere Kinder. Darüber hinaus kann ich mich zwar vorübergehend zerbrechlich und entblößt fühlen, aber ich kann mir wünschen (und wollen), dass ich ein Gefühl der Scham habe. Außerdem kann ein größeres Schamgefühl durch eine freiwillige Selbstprüfung kultiviert werden. 6

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für das, was die Tugend, die persönliche Güte, bedroht, und vor allem für das, was unsere Reaktionsfähigkeit in Beziehungen fördert oder untergräbt (ST 2.2 142.4 und 144.1).9 Der dritte Aspekt der Scham bei Aquin ist ihre universelle Dimension. Studien aus verschiedenen Disziplinen zeigen, wie wichtig Scham ist und dass wir von Natur aus soziale Wesen sind. Trotz „essentialistischer oder ethnozentrischer Epitheta“, die „in der Luft schweben“ mögen, ist Probyn bereit, vorzuschlagen, dass wir offen sein müssen für die Beweise, dass Scham „biologisch angeboren“ sein könnte, und sehen, wohin uns dies führt (Probyn, 2005, S. 28 und 25). Aquin würde einen solchen Essentialismus nicht als außerhalb seiner „Komfortzone“ betrachten. Aquins Klassifizierung der Emotionen beruht auf der Annahme einer gemeinsamen Menschheit mit wenig Sinn für kulturelle Variationen und interkulturelle Unterschiede. Dennoch erinnern uns die Vielfalt der Schamgefühle und ihre Beziehung zu individuellen und temperamentvollen Unterschieden daran, dass die menschliche Natur als Quelle der Moral vielen Variationen unterworfen ist. Aquin räumt ein, dass es schwierig ist, über das sehr Allgemeine hinaus zu moralischen Normen zu gelangen, die eindeutig und universell sind, wenn es so viel Variabilität und Kontingenz im menschlichen Leben zu berücksichtigen gilt (ST 1.2.94.4). Aquins Beschreibung der Scham ist, wie die des Aristoteles, die Kehrseite der Beschreibung der Ehre (honestas) oder der „moralischen Vortrefflichkeit“, bei der der die Tugendhaftigkeit Anerkennung verdient. Ansehen und öffentlicher Respekt sind äußerlicher Ausdruck der Tugend und können sogar auf eine Person ohne Tugend ausgedehnt werden. Für Aquin hängt der moralische Wert einer Person nicht davon ab, wie sie in den Augen der anderen dasteht. Vielmehr spiegelt die Art und Weise, wie Menschen auf andere blicken, deren moralische Vortrefflichkeit wider.10 Ehre und Scham sind soziale Reaktionen – die eine auf moralische Güte, die andere auf ein Versagen, dieser gerecht zu werden. Sie gehen von der gemeinsamen Natur des moralischen Lebens und dem Bedürfnis nach Anerkennung und gegenseitiger Unterstützung durch andere aus, wie wir später in diesem Kapitel noch näher untersuchen werden. Wir haben den Wert der Scham als Ressource für moralische Gesundheit und Wohlbefinden im Zusammenhang mit der Tugend der Mäßigung und als Ausdruck der Selbstfürsorge beleuchtet. Was bedeutet „kulturübergreifend“ in diesem Zusam-

 Angesichts des spontanen Charakters emotionaler Reaktionen hört man oft, dass sie als psychologische Fakten beschrieben werden, die „moralisch neutral“ sind. Das ist verständlich, vor allem wenn es sich um „negative“ Emotionen handelt (solche, bei denen wir uns unwohl fühlen, wie Wut, Scham oder Angst). Die Gefahr besteht darin, dass wir, weil wir uns „schlecht“ fühlen (unser Gleichgewicht ist gestört), daraus schließen, dass wir moralisch „schlecht“ sind (dass wir etwas falsch gemacht haben). Für unsere Zwecke hier genügt es zu sagen, dass Aquinas der Ansicht ist, dass wir ein gewisses Maß an Verantwortung für unsere Gefühle und unser Gefühlsleben haben. Sie können an sich moralisch bedeutsam sein und nicht nur aufgrund unserer Einstellung zu ihnen. Es sind unsere Emotionen, die uns in der Welt der Beziehungen beeinflussen und auf die wir reagieren, und deshalb brauchen wir die affektiven Tugenden. Siehe Harak (1993), Murphy (1999) und Ryan (2001a). 10  Die Ehre als „Anerkennung“ und Wertschätzung gebührt der moralischen Vortrefflichkeit. Aquin betont, dass „das Ehrenhafte dasselbe ist wie das Tugendhafte“ (ST 2.2.145.1). 9

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menhang? Eine Möglichkeit dazu besteht darin, Scham als Teil der Tugend der Mäßigung und der vier Kardinaltugenden aus einer westlichen philosophischen und theologischen Tradition zu betrachten. Wir finden jedoch auch in anderen Traditionen Tugenden, die in ähnlicher Weise funktionieren, etwa beim konfuzianischen Philosophen Mencius (ca. 390–310 v. Chr.). „Anstand“ – im Sinne von Ehrfurcht und Respekt vor den anderen – entspricht in etwa der Rolle, die Aquin der Liebe zuweist. „Intelligentes Bewusstsein“ als die Fähigkeit, richtige Urteile zu fällen, entspricht der Tugend der Klugheit. „Rechtschaffenheit“ bezieht sich auf unsere Verantwortung gegenüber anderen und ähnelt daher der Gerechtigkeit. Für Mencius umfasst sie Scham (hsiu) und Abneigung (wu), die der Rechtschaffenheit dienen, da „die Sensibilität für beide uns hilft, in der richtigen Beziehung zu anderen zu bleiben“ (Lamoureux & Wadell, 2010, S. 136).11 Das Wohlwollen (jen) ähnelt dem Mitgefühl (wie oben beschrieben) und der Liebe (als Wille zum Guten für den anderen, ST 2.2.23.1). Die Barmherzigkeit beinhaltet eine dauerhafte Sensibilität für andere, insbesondere für deren Leiden, und die Verpflichtung, sich um deren Linderung zu bemühen. Sie umfasst die eigene Familie, alle Menschen und „eine allgemeine Achtung vor allen Wesen, zumindest vor den lebenden Kreaturen“ (Lamoureux & Wadell, 2010, S. 135). Dieser Überblick über die Scham als Teil der Tugend der Mäßigung verweist darauf, dass der Schwerpunkt von Aquins Auseinandersetzung mit gesunder Scham auf ihrem moralischen Umfeld liegt. Es geht um die persönliche Verinnerlichung von Normen sowie um die persönlichen und sozialen Konsequenzen in Folge von Verstößen. In diesem Fall wird angenommen, dass eine Person einen Grund hat, warum er oder sie Scham empfindet, sich also zu Recht schämt (schuldig ist). Es gibt jedoch auch Situationen, in denen sich Menschen schämen und nichts falsch gemacht haben. Es gibt eine natürliche Scham, die mit der Privatsphäre des Körpers und der Sexualität verbunden ist, die Ausdruck eines Aspektes der Ehrfurcht ist, oder gar von etwas Heiligem. Auch hier kann es sein, dass Menschen nicht gegen eine verinnerlichte moralische Norm verstoßen haben, ihr Zustand oder ihr Status aber dazu führt, dass sie sich hässlich fühlen und es als angemessen betrachten, aufgrund der Erwartungen anderer oder einer Normverletzung isoliert zu werden. Die Scham kann durch ein persönliches Versagen, einen medizinischen Zustand, den familiären Hintergrund, die ethnische Herkunft, eine körperliche Entstellung oder eine Behinderung bedingt sein – viele dieser Faktoren liegen ­außerhalb der Kontrolle der Person. Diese Faktoren haben einen Einfluss darauf, wie wir Scham und ihre Rolle als Gesundheitsressource im weitesten Sinne verstehen. Aus diesen Gründen möchte ich im Folgenden die Scham im Zusammenhang mit der Liebe oder der Tugend der Nächstenliebe näher untersuchen.12

 Scham „ist das Bewusstsein, einer Norm nicht zu entsprechen, eine Abneigung, die sich in Scham über die eigenen Handlungen äußert“, und „Abneigung konzentriert sich auf Einstellungen, Handlungen und Verhaltensweisen, die man vermeiden sollte“ (Lamoureux & Wadell, 2010, S. 136 unter Berufung auf Yearley (1990, S. 37, 38, 41). 12  Diese Diskussion bezieht sich auf Stump (2010, S. 91–100 et passim) und Wadell (1989). 11

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Bezüglich der verschiedenen Formen der Liebe bezeichnet die caritas für Aquin die Liebe in ihrem umfassendsten Sinn. Ihr eigentliches Ziel ist die Liebe zu Gott, und zwar in der Gestalt der Güte. Da für Aquin jeder Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen ist und als solches am Guten teilhat, schließt das Objekt der Liebe den Menschen ein, da das Objekt der Liebe das Gute ist. Für Aquin hat das Verlangen der Liebe zwei Formen: das Verlangen nach dem Wohl der/des Geliebten und das Verlangen nach der Vereinigung mit der/dem Geliebten. Aquin vertritt die Auffassung, dass einige Erscheinungsformen der Liebe als größer erachtet werden sollten als andere. Er betont, dass es möglich ist, das Wohl der Menschheit im Allgemeinen zu wünschen und eine Art Vereinigung mit der ganzen Menschheit zu ersehnen, wie in der gemeinsamen seligen Vision (ST 2.2.26. 6 ad 1). Das Verlangen nach Vereinigung kann auch die Liebe zu sich selbst einschließen, da das Verlangen nach dem eigenen Wohl das Verlangen nach Vereinigung mit sich selbst im Sinne der inneren Integration darstellt (ST 1.2.23.3). Stump bietet wichtige Impulse in Bezug auf das Verhältnis von Schuld und Scham hinsichtlich dieser Dimensionen der Liebe. Sie zitiert Ruth Benedicts Schema kollektivistischer oder schamorientierter Kulturen (äußere Sanktionen, Scham als Reaktion auf ein reales oder imaginäres Publikum) gegenüber individualistischen oder schuldorientierten Kulturen (verinnerlichte Verurteilung der Sünde, ohne dass jemand anderes davon weiß) und stellt fest, dass diese Unterscheidung heute „weitgehend verworfen“ wird. Sie erklärt, dass „sowohl Scham als auch Schuld durch verinnerlichte Normen und Sanktionen entstehen [können], und ein reales oder imaginäres Publikum für das eine genauso wenig notwendig wie für das andere [ist]“ (Stump, 2010, S. 142).13

Bei der Unterscheidung zwischen Schuld und Scham stützt sich Stump auf Card (2002) und fragt danach, was Menschen hinsichtlich Schuld und Scham anstreben oder befürchten. Wenn eine schuldige Person etwas Falsches tut, fürchtet sie die Ablehnung durch reale oder eingebildete andere. Eine Bestrafung, die aus der Sicht der anderen zwar angemessen und „gut“ ist, muss aus ihrer Sicht nicht zum eigenen Besten sein. Schuld ist insofern mit dem Wunsch nach dem Wohl der Person verbunden. Alternativ dazu ist das Schamkorrelat Ausdruck des Wunsches nach Vereinigung. Die beschämte Person hat Angst davor, „von realen oder eingebildeten an Auch wenn Benedicts Unterscheidung vielleicht eine allzu einfache Verallgemeinerung ist, ist ihre Verwendung in der neueren und aktuellen Literatur immer noch offensichtlich. Eine Schamkultur ist insofern kollektivistisch, als „Personen sich als Teil von Gruppen oder Kollektiven wie Familie, Stamm oder Nation verstehen“ (Triandis, 1995, S. 2). Sie werden durch diese Gruppen definiert und verstehen sich nicht als Personen mit einer „eigenen Identität“. Im Gegensatz zu einer individualistischen oder Schuldkultur werden die Mitglieder durch „Gruppennormen und nicht durch individuelle Bedürfnisse oder Bestrebungen“ motiviert. Siehe Rohrbaugh (2002, S. 27–43, auf 30 unter Berufung auf Triandis, 1995). Ein schärferes Bild bietet Hiebert (1985), wenn er feststellt, dass „(I)n einer Schamkultur (manchmal auch als „Ehre-Scham-Kultur“ bezeichnet) das, was andere Menschen glauben, viel stärker ist. In der Tat können sich meine Prinzipien aus dem Wunsch ableiten, meine Ehre zu bewahren oder Schande zu vermeiden, und zwar unter Ausschluss von allem anderen“ Hiebert (1985, S. 212). 13

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deren“ isoliert und ausgegrenzt zu werden. Ihre Angst richtet sich auf „eine fehlende Vereinigung, die ihr von anderen aufgezwungen wird, mit denen sie sich eine Art von Nähe wünscht“ (Stump, 2010, S. 144). Stump zitiert Card: „Wenn wir Schuld sühnen, suchen wir nach Respekt und Akzeptanz. In der Bewältigung von Scham suchen wir Wertschätzung oder Bewunderung … Schuld kann nur durch Vergebung gelindert werden, Scham hingegen nicht“ (Stump, 2010, S.  143 zitiert nach Card, 2002, S. 206).

Die schuldige Person mag es zwar als angemessen empfinden, dass andere auf sie wütend sind und sie bestrafen wollen, doch in gewisser Weise will sie dies vermeiden, da sie es nicht als gut für sich selbst ansieht. Die beschämte Person hält es hingegen – in einem gewissen Sinne von „gut“- für angemessen, dass andere „nicht das Gutsein, sondern sie als Person“ ablehnen. „So verstanden, entspricht es dem Wunsch der beschämten Person, nicht gesehen zu werden, „den Blicken der anderen zu entgehen, unsichtbar zu sein“. Eine solche Person ist davon überzeugt, dass sie etwas in sich trägt – ihre eigene Hässlichkeit oder irgendeinen Standard der Unerwünschtheit, das es rechtfertigen könnte, dass andere sie zurückweisen (Stump, 2010, S. 145). In Anbetracht der obigen Ausführungen ist in der Aussage, dass Scham eine negative Reaktion auf das, was eine Person ist, und Schuld auf das, was eine Person tut, darstellt, etwas Wahres erkennbar. Es ist ebenso zu bedenken, wie Stump anmerkt, dass es verschiedene Schamformen gibt, die sich aus den verschiedenen Ursachen für die Ablehnung des Wunsches nach Vereinigung mit einer bestimmten Person ergeben. Moralisches Fehlverhalten kann sowohl Scham als auch Schuldgefühle auslösen. Darüber hinaus kann sich jemand in dieser Situation in der eigenen Wahrnehmung schämen, weil sie/er sich „hässlich und abstoßend“ findet und sich sozusagen „von sich selbst scheiden lassen will“ (Stump, 2010, S. 146). Welche Rolle spielt bei dieser Betrachtung die Liebe bezüglich der Heilung von Scham? Wir haben bereits festgestellt, dass es, wenn wir von moralischer Vortrefflichkeit oder Tugend sprechen, eine Verbindung zwischen Ehre/Schönheit und Scham/Hässlichkeit gibt. Wir fühlen uns von der Schönheit einer Person angezogen, sei es die Schönheit des Gesichts, des Körpers, des Charakters oder der „Seele“. Ein körperlich unattraktiver Mensch kann wegen seiner „inneren“ Schönheit sehr geliebt und liebenswert sein. Wenn eine Person geehrt und bewundert wird, stellt Stump fest, führt dies dazu, dass „diejenigen, die sich zu ihr hingezogen fühlen, ein gewisses Verlangen nach ihr haben“ (Stump, 2010, S.  147, kursiv). Mit anderen Worten, sie empfinden einen Wunsch nach Vereinigung mit dieser Person. Wie oben angedeutet, können auch andere Phänomene als die „Sorge um das eigene moralische Fehlverhalten“ Scham und Selbstverachtung auslösen, und diese lösen sich möglicherweise nicht einfach auf aufgrund der „Vergebung oder Absolution der Schuld“ (Stump, 2010, S. 146). Stump zitiert Jean Vanier und seine Erfahrungen mit den L’Arche-Gemeinschaften im Umgang mit Behinderungen und der damit verbundenen Scham. L’Arche-Gruppen sind international ausgerichtet (in fünfzig Ländern) und haben klar umrissene Ziele, Werte und Praktiken. Sie stellen eine Subkultur dar, die eine notwendige Präsenz und eine notwendige Erinnerung an vernachlässigte Werte innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft oder -kultur aufscheinen lassen kann. Vanier spricht zum Beispiel davon, dass die Praxis der Gemeinschaft, „das Leben der be-

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schämten Person zu feiern“, heilend und wiederherstellend ist. Wenn wichtige Personen das Leben einer solchen Person feiern, vor allem, wenn es mit ihr geteilt wird, „offenbart dies ein Verlangen nach ihr“ (Stump, 2010, S. 147). Ehre wird hier im Kontext der Liebe ausgedrückt, als Wunsch nach Vereinigung mit dem geliebten (anderen) Menschen. Auch besteht eine wichtige Möglichkeit, die beschämte Person zu ehren, darin, sich von der beschämten oder behinderten Person nähren und umsorgen zu lassen. Das Verlangen „nach“, die Fürsorge „durch“ und „für“, das Feiern „von“ – diese Präpositionen betonen das interaktive, relationale und gegenseitige Geben und Empfangen, das einen negativen Einfluss der Scham auflösen und das vermeintlich Hässliche in das Schöne verwandeln kann. In der gegenseitigen Fürsorge der L’Arche-­Gemeinschaften bringt der Sorgeakt von Menschen mit schweren Handicaps Heilung für diejenigen, die von der Scham betroffen sind, die diese Behinderungen begleiten kann! (Stump, 2010, S. 147). Vaniers einleitende Bemerkungen über die L’Arche betreffen nicht das, was er für die Menschen mit Behinderungen getan hat, sondern das, was sie für ihn getan haben. „Das Gemeinschaftsleben mit Männern und Frauen mit geistiger Behinderung hat mich viel darüber gelehrt, was es bedeutet, Mensch zu sein“ (Vanier, 1998, S. 6).

Wir haben hier ein Beispiel für die positive Funktion von Scham beschrieben, bei dem die menschliche Begrenztheit durch Präsenz und die Kraft der Liebe verwandelt wird. In diesem Prozess wachsen die betroffenen Menschen über sich selbst hinaus in Güte und Schönheit. Sie wachsen in moralischer Exzellenz. Dieses Muster des Gebens und Empfangens ist möglicherweise paradigmatisch für die Heilung, die bei moralischer Scham notwendig ist. O’Sullivan (1995) bringt es auf den Punkt: „Wenn Verletzlichkeit auf Macht trifft, ist das Ergebnis Entfremdung; wenn aber Verletzlichkeit auf Verletzlichkeit trifft, ist das Ergebnis Intimität. Der einzige Weg zur Intimität führt über die Verletzlichkeit“ (O’Sullivan, 1995, S. 8).

Auch hier kann der L’Arche-Ansatz des Gebens und Empfangens als ein Paradigma für das moralische Leben selbst verstanden werden. Enda McDonagh unterstreicht, dass die primäre moralische Erfahrung das ist, was mit uns geschieht, wenn wir uns in der Gegenwart einer anderen Person befinden (McDonagh, 1975, S. 29–40). Die Gegenwart der/des Anderen verlangt unsere Aufmerksamkeit. Durch ihre/seine Gegenwart sind wir aufgerufen, uns selbst zu öffnen und in die Gemeinschaft mit der anderen Person einzutreten. So scheint auf, warum Freundschaft ein so geeignetes Modell für das moralische Leben ist (siehe Wadell, 1989; Sherwin, 2005). McDonagh spricht von drei Phasen der Reaktion auf die andere Person, die in den Praktiken der L’Arche-Gemeinschaften enthalten sind. Erstens wird ­Anerkennung geschenkt, bei der die Person, die der anderen Aufmerksamkeit zukommen läßt, als anderes Wesen als man selbst gewürdigt wird. Das zweite ist Respekt in Form der Bereitschaft, geduldig zu sein, sich Zeit zu nehmen, um das Gute in der anderen Person zu sehen. In diesem Prozess wird man zugleich selbst von der gewürdigten Person anerkannt und geschätzt. Damit verbunden ist drittens eine Veränderung der Selbsterkenntnis. Diese Prozesse gipfeln in folgender Reaktion: Indem sich das Individuum vom eigenen Ich ab- und dem anderen Ich zuwendet, entsteht ein Impuls zur Gemeinschaft (Wadell, 1989, S. 142–167).

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4.3 Die edukative Dimension Praktiken, wie sie in den L’Arche-Gemeinschaften zu finden sind, weisen auf andere Aspekte des moralischen Lernens hin, zunächst auf der persönlichen Ebene. Hier ist es hilfreich, Aquin in Bezug auf zwei von Probyn angesprochene Aspekte der eduktativen und prägenden Funktion der Scham zusätzlich zu beleuchten. Zunächst: Wenn Scham etwas Persönliches ist, zugleich aber in Bezügen zu anderen steht, kann sie dann lokal sein (als ein Teil von mir selbst) oder ist sie immer global (das ganze Selbst betreffend)? Bei Aquin gibt es Hinweise auf seine Haltung zu dieser Frage. Er unterstreicht, dass sich die Scham ausgehend von einem bestimmten Aspekt der Erfahrung einer Person hin zu einer allgegenwärtigen Präsenz weiten kann (ST 2.2. 144.4 ad 3). Auch hier beschränkt Aquin die Reichweite der moralischen Scham im Prinzip auf den Tadel und den Gesichtsverlust für schuldhafte Handlungen. In der Praxis jedoch können Gefühle von Scham und Schande durch die Haltung anderer auch weitere Aspekte der eigenen Person erfassen, z. B. den wirtschaftlichen Status, die Herkunft, den Beruf usw. (ST 2.2.144.2 ad 2). Dies deutet auf das ungerechte Gesicht der Scham hin, bei dem das Ansehen einer Person in den Augen der anderen auf Eigenschaften beruht, die für die moralische Bewertung der Person als nicht relevant erachtet werden. Aquin nimmt hier die negativen Auswirkungen der kulturellen Scham vorweg. Für Aquin kann die Scham über einen Teil des Selbst (eine Einstellung oder eine Handlung) mit der Aburteilung durch andere verknüpft sein, ohne dass dies zwangsläufig bedeutet, dass sich das Selbst auflöst. Ein Mensch kann stets lernen und sich entwickeln. Das moralische Leben ist ein Weg der ständigen Entwicklung. Für Aquin bezieht sich die Rolle der Scham auf vergangene und zukünftige Handlungen (ST 1.2. 41.4).14 Ebenso soll sie den Menschen darin unterstützen, aus Fehlern zu lernen. Ihre edukative Funktion zeigt sich in der Erfahrung der retro­ spektiven oder „Schande-Scham“ in Bezug auf unsere Beziehungen zu anderen und die Muster des sozialen Lebens. Sie umfasst den nichtmoralischen und den moralischen Bereich, wie die Höflichkeit, die Rücksichtnahme, die sozialen Entgleisungen bis hin zu Verstößen gegen die Moral und die Rechte anderer. Scham beschreibt insofern ein umfassendes Gefühl, von sich selbst und anderen als fehlerhaft oder ungenügend in Bezug auf bestimmte Normen angesehen zu werden. Schuld beinhaltet ein Urteil (und eine Selbstbeurteilung) hinsichtlich einer bestimmten Handlung. Hier kann das Selbst und „die Frage nach seinem Wert von seinen Handlungen abgegrenzt werden“ (Fowler, 1996, S. 106f.). Diese Form der Scham baut auf prospektiver oder „Ermessens-Scham“ auf und kann diese auf mögliche zukünftige Handlungen erweitern (ST 1.2. 41. 4), wobei Scham einer moralischen Antenne ähnelt. Diese Form der Scham beinhaltet

 Zu den Begriffen „Schande“ und „diskretionäre“ Scham siehe Schneider (1992). Er bringt sie mit zwei Wörtern im Französischen in Verbindung: „honte“, die Aquinsche „Schamhaftigkeit“ (erubescentia) = „Diskretion-Scham“, und „pudeur“, die Aquinscher „Scham“ (verecundia) = „Scham-Schande“ entspricht; siehe ST 2.2.144.2. 14

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„sowohl instinktive bewertende Reaktionen als auch die Ausübung dessen, was wir als moralische Vorstellungskraft bezeichnen können, und spielt eine wichtige Rolle bei der Ausbildung und Stärkung des Gewissens“ (Fowler, 1996, S. 105, eigene Übersetzung).

Diese Lerneffekte erfolgen jedoch nicht als isolierte Effekte. Das Korrelat der Scham ist die Ehre (honestas) oder moralische Vortrefflichkeit, die von einer Gemeinschaft und ihren Mitgliedern aufrechterhalten und gefördert wird. Wird ein Mitglied der Gemeinschaft dieser Ehre nicht gerecht, haben die Mitglieder ein Interesse an einer Modifikation des Verhaltens der Person, da sich dies auf das Gemeinwohl auswirkt. Aquin bietet einen aufschlussreichen Einblick in die praktische Umsetzung dieses Prinzips. Scham kann jemanden dazu motivieren, von den drei Beziehungskreisen einer Gemeinschaft zu lernen (ST 2.2.144.3), da dort ein hohes Maß an Nähe und ein starkes Zeugnis für die Wahrheit zu finden ist. In diesen Interaktionskreisen fördert Scham die Offenheit für Kritik, Meinungsverschiedenheiten und Veränderungen. Es gibt eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen Aquin und Calhoun, die darauf hinweist, dass es ein Zeichen dafür ist, dass eine Person die Meinungen anderer „ernst nimmt“ (und damit das Potential hat, sich zu schämen), wenn sie diese anderen „als Mitbeteiligte an einer moralischen Praxis“ als relevant erachtet. Auch Calhoun argumentiert, dass die Scham über moralische Versäumnisse ein wesentlicher Bestandteil der Psyche eines/einer reifen moralischen Akteur*in ist und dass die Bereitschaft, sich vor denjenigen zu schämen, mit denen eine moralische Praxis geteilt wird, selbst wenn man mit deren moralischer Kritik nicht einverstanden ist, oft ein Zeichen moralischer Reife ist“ (Calhoun, 2004, S. 129, kursiv im Original). Zudem kann die edukative Funktion der Scham auf kollektiver Ebene wirken. In diesem Zusammenhang werden drei Beispiele ausgeführt, die den positiven Einfluss der Scham einer Gruppe auf die gesamte Gesellschaft oder hinsichtlich kultureller Traditionen illustrieren. Ich konzentriere mich dabei auf die südliche Hemisphäre und insbesondere auf den australischen Kontext. Im ersten Fall geht es um die Reform des Homosexuellenrechts, ein internationales Thema, das im Hinblick auf einen australischen Bundesstaat beleuchtet werden soll. In einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung wurde die Frage der Tilgung der strafrechtlichen Verurteilungen von Personen angesprochen, die in Queensland wegen homosexueller Handlungen verurteilt wurden, bevor das Gesetz 1990 geändert wurde und wodurch homosexuelle Handlungen zwischen einwilligenden Erwachsenen entkriminalisiert wurden. Auffallend war in diesem Bericht der Kommentar eines Mannes, der von einer Verurteilung vor über dreißig Jahren betroffen war und in Folge dessen von Lehrtätigkeiten ausgeschlossen wurde. Er beschreibt seine Situation in folgender Weise: „Man wird in seiner Scham isoliert und will das verbergen. Eine wirklich interessante Entdeckung ist, dass ich nur einer von Hunderten bin, denn was mir passiert ist, betrifft Hunderte und Aberhunderte von Menschen da draußen“ (Higgins, 2016).

Es liegt auf der Hand, dass private Scham isoliert, geteilte Scham aber vereint. Menschen, die sich zusammenschließen, können ihre gemeinsame Scham kanalisieren und sich für eine gemeinsame Sache einsetzen. In diesem Fall ist es Aufgabe der Regierung, die Rechtsreformkommission von Queensland mit der Frage zu befas-

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sen, wie Verurteilungen aus dem Strafregister getilgt werden können. Scham betrifft somit Fragen der Gerechtigkeit, die von einer Gruppe ausgeht, aber die gesamte Gemeinschaft betrifft. Zweitens kann Scham, richtig eingesetzt, ein positives Instrument für Heilung und Versöhnung sein und Formen des Lernens über kulturelle Traditionen hinweg fördern. Ein Beispiel dafür sind die rechtlich anerkannten Verfahren der Wiedergutmachungsjustiz oder auch Praktiken wie die Kreisverurteilung, wie sie in der südlichen Hemisphäre bei den Maori und den indigenen Völkern üblich sind (Probyn, 2005, S. 90–98). Probyn nimmt in ihren Ausführungen Bezug auf rechtliche Initiativen (z.  B. gemeinschaftliche oder „zirkuläre“ Verurteilungen), die in Neuseeland in Bezug auf Maori-Straftäter*innen und in Australien in Bezug auf indigene Völker umgesetzt werden. In engen Gemeinschaften ist es wirksamer, Straftäter*innen zu beschämen, als formale Sanktionen (vergeltende Gerechtigkeit) anzuwenden. Denn es ist den Menschen sehr wichtig, was Familie und Freund*innen über sie denken. Außerdem hilft es den Täter*innen, die Folgen ihres Handelns besser zu verstehen, wenn sie denjenigen, denen sie in irgendeiner Weise geschadet haben, gegenüberstehen (Probyn, 2005, S. 90–98). In diesen Prozessen wird erkennbar, wie Kulturen voneinander lernen können, in diesem Fall individualistische/schuldorientierte von kollektivistischen/schamorientierte Kulturen. Auch können sie insbesondere Menschen aus westlichen Kontexten vor der Gefahr warnen, kollektivistische/schamorientierte Kulturen als im Wesentlichen konformistisch zu betrachten, d.  h. anzunehmen, dass sie ein Moralsystem haben, das sich auf das konzentriert, was andere von einer Person erwarten. Eine solche Sichtweise könnte auch bedeuten, dass ein individualistischer/schuldorientierter Sozialisationsrahmen besser geeignet ist, die Mitglieder von Gemeinschaften darin zu unterstützen, Werte zu kultivieren, die sie sich persönlich in dem Maße zu eigen machen, wie sie sie als handlungsleitend annehmen. Drittens ereignet sich kollektives Lernen zwischen kulturellen Traditionen, innerhalb eines spezifischen kulturellen und nationalen Kontextes und der jeweiligen Beziehung zur Scham als „Gesundheitsressource“. Ich möchte mich auf die Ungerechtigkeiten konzentrieren, die den Ureinwohner*innen Australiens in Bezug auf die Enteignung von Land und die „gestohlene Generation“ von Kindern widerfahren sind.15 Die Gerichtsurteile und Berichte zu diesen Ereignissen stellen für viele Australier*innen eine zunehmende Schamquelle dar, lösen sogar Schuldgefühle aus. Eine solche Reaktion zeigt „dass wir zu Recht zu einer gemeinschaftlichen Reaktion auf diejenigen aufgerufen sind, die Opfer unseres Unrechts oder des Unrechts derer sind, die uns vorausgegangen sind“ (Gaita, 1999, S. 87).

 Dieser Ausdruck wird verwendet, um die Politik der Entfernung von Aborigine-Kindern aus ihren Familien und Stämmen zu beschreiben. Die Überprüfung dieser Politik erfolgte im April 1997  in „Bringing Them Home“ – dem Bericht der Nationalen Untersuchung über die Trennung der Kinder von Aborigines und Torres Strait Islanders von ihren Familien. Was die Landrechte anbelangt, so war Mabo gegen Queensland (1992) eine bahnbrechende Entscheidung des High Court of Australia, in der zum ersten Mal die Rechte der Ureinwohner*innen in Australien anerkannt wurden. 15

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Wir erkennen an, dass die kollektive Verantwortung eine Schuld nach sich zieht, wenn eine Gemeinschaft handeln kann und sollte, um eine schädliche oder ungerechte Handlung oder Politik zu verhindern. Es ist nur sehr schwer möglich, nachfolgenden Generationen von Australier*innen, die nicht absichtlich und vorsätzlich gehandelt haben, um Schaden anzurichten, Schuld zuzuweisen oder sie zu beschuldigen. Diese Form der kollektiven Verantwortung lässt sich am besten als „nationale Scham“ beschreiben, meint Gaita (1999, S. 95). Er weist auch darauf hin, dass zwar eine klare Unterscheidung zwischen Schuld und Scham erforderlich ist, diese sich aber nicht immer scharf beschreiben lässt. Gaita beschreibt bezugnehmend auf eine griechische Tragödie einen Zustand, der sich von Schuld und Scham unterscheidet, aber beide Elemente aufnimmt und am besten als „Beschmutzung“ beschrieben wird. In der Ödipus- Mythologie tötet ein Mann seinen Vater und heiratet die eigene Mutter, ohne deren wahre Identität zu kennen. Es handelt sich eindeutig um einen Fall von Unwissenheit, durch den er sich nicht schuldig gemacht hat. Als Ödipus jedoch erkennt, was er getan hat und zu welch schlechtem Menschen er geworden ist, „ist sein Entsetzen von der Art, die wir „Reue“ nennen würden“ (Gaita, 1999, S. 94). Ödipus selbst und der Chor des Stücks sehen ihn nicht als Schuldigen, sondern als Verantwortlichen, also „als einen, der auf die moralische Bedeutung seiner Taten angemessen reagiert“ (Gaita, 1999, S. 95). Es besteht eine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft, die „verunreinigt“, befleckt, belastet ist, weil sie „in die bösen Taten der anderen verwickelt ist“ (Gaita, 1999, S. 94). In welchem Sinne können wir also sagen, dass die australische Gemeinschaft als Ganzes für solche Handlungen oder Praktiken „verantwortlich“ ist, die in der Vergangenheit Unrecht verursacht haben und deren Auswirkungen bis heute andauern? Gaita weist darauf hin, dass es keine echte Übernahme von Verantwortung ohne eine „echte Reaktion“ gibt. Scham und Reue sind Reaktionen, die widerspiegeln, was es bedeutet, jemandem Unrecht zuzufügen. Sie gehen insofern über Schuld hinaus, als dass sie „eine Möglichkeit darstellen, die die Wahrheit dessen anerkennt, worin wir – oft ohne eigenes Verschulden – verstrickt sind“ (Gaita, 1999, S. 102).16 Scham ist eine kollektive Reaktion auf das von unseren Vorfahren begangene Unrecht, „eine wahrheitsgemäße Antwort auf das Böse in unserer Geschichte – auf die Tatsache, dass es unsere Geschichte ist“ (Gaita, 1999, S. 102). Eine knappe, aber umfassende Zusammenfassung bietet Danielle Celermajer: „Die Ursache der Scham resultiert nicht aus einer einzelnen Tat (actus reus), sondern aus der Tatsache, dass die Menschen den kulturellen und politischen Kontext, der der Tat zugrunde liegt, ertragen und aufrechterhalten …“

 Wir können in Analogie eine Person betrachten, die den Tod von jemand anderem verursacht hat, obwohl diese Person völlig schuldlos ist. Sie wird dennoch von einem „Verantwortungsgefühl“ sprechen, von der Erinnerung, die immer noch „an ihr nagt“ – eine Sprache, die der von „Reue“ in ihren etymologischen Wurzeln ähnelt. Das Buch Half a Life von Darin Strauss ist ein Erinnerungsbuch über seine Erfahrungen, nachdem er einen Radfahrer angefahren und getötet hatte. Er beschreibt sein Gefühl als das einer „schuldlosen Schuld“. Er sagt, der Vorfall habe sich „in sein Gehirn eingebrannt“ und „ich habe mich von innen heraus aufgefressen“. Siehe Todd Leopold, „Sie haben einen Tod verursacht. Können Sie sich selbst verzeihen?“ Siehe CNN 23. Juni 2011 unter http://edition.cnn.com/2011/LIVING/06/22/forgiving.yourself/. Abgerufen am 26. Juni 2015. 16

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Sie führt weiter aus, dass wenn „… kollektive Scham eine gültige Grundlage für die öffentliche Politik ist, im Gegensatz zu einer emotionalen Reaktion von versammelten Individuen,“

muss sie geerdet sein in „… der politischen Identität der Nation, die mit einem politischen Imperativ verbunden ist und einem politischen Ziel dient, wie z. B. der Gerechtigkeit, der Konsolidierung der Nation oder der Stärkung oder Reform der verfassungsmäßigen Werte. Indem die Mitglieder einer Nation über die politische Kultur und die Herstellung der Bedingungen der ursprünglichen politischen Handlung (Beseitigung) hinaus mit Scham und Verantwortung verbunden werden, liefert man eine Rechtfertigung für die politische Handlung (Entschuldigung). Diese Scham ist keine außerpolitische Reaktion, die wir dann rechtfertigen müssten, um sie in die politische Sphäre zu bringen. Vielmehr ist diese Scham selbst in der politischen Sphäre verankert“ (Celermajer, 2006, S. 170–2).

Es zeigt sich der Bezug zur Scham als einer Tugend (im weitesten Sinne), die von Aquin als Ausdruck und Schutz moralischer Vortrefflichkeit beschrieben wurde. Die Anerkennung des Unrechts, das den Aborigines angetan wurde, geht über die „materiellen oder psychologischen Folgen“ hinaus (Gaita, 1999, S.  101). Es bedeutet vor allem, sich von ihren Qualen und ihrem Leiden tief berühren zu lassen, davon „betroffen“ zu sein, sich sogar damit zu identifizieren. Das ist es, was die Aborigines mit ihrer Forderung nach einer nationalen Entschuldigung anstreben (Gaita, 1999, S. 101). Hilfreich ist hier Gaitas Unterscheidung zwischen zwei Ansätzen für Scham und Reue: entweder als Kriterien für das Verständnis der Notlage und Ungerechtigkeit der Aborigines oder als Ausdrucksformen eines solchen Verständnisses (Gaita, 1999, S. 101). Ich würde sagen, dass bei ersterem der Schwerpunkt auf externen Standards liegt, an denen das Verständnis gemessen wird. Der letztgenannte Ansatz scheint sich der Sprache der Tugend anzunähern, nämlich der affektiven Disposition, die das moralische Verständnis informiert und formt. Es ließe sich argumentieren, dass es einen impliziten Aufruf gibt, von der Scham als externem Bezugspunkt überzugehen zu einer internen und persönlichen Aneignung von Werten auf kultureller und gemeinschaftlicher Ebene. Scham und Reue informieren und befruchten das „gefühlte Wissen“ oder die affektive oder wertschätzende Erkenntnis, die für Aquin und die Tugendtradition die praktische Vernunft beschreibt.17 Scham als edukative Kraft ist eine moralisch lobenswerte Emotion, die unseren kollektiven moralischen Horizont erweitert, unser moralisches Empfinden vertieft und unsere affektive Reaktionsfähigkeit (und Verantwortung) gegenüber denjenigen verfeinert, die aufgrund von Ungerechtigkeit gelitten haben. Damit kommen wir zum spirituellen Aspekt der Scham.

4.4 Die spirituelle Dimension In dieser Diskussion wird der Begriff „spirituell“ in einem umfassenden Sinn verwendet. Er lässt sich am besten auf der Basis von Sandra Schneiders Definition von Spiritualität wie folgt zusammenfassen als  Siehe Maguire (1986, S. 258), der für die Formulierung „ratio practica seu affectiva“ Aquinas de Malo, Q. 16, a 6 ad 13 und ad 8 zitiert. 17

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„die Erfahrung der bewussten Einbindung in das Projekt der Lebensintegration durch Selbsttranszendenz in Richtung auf den letzten Wert, den ein Mensch wahrnimmt“ (Schneiders, 2005, S. 1).

Bemerkenswert an dieser Aussage ist, wie weit sie gefasst ist. Sie könnte auf einen Menschen christlichen, muslimischen oder buddhistischen Glaubens zutreffen oder auch relevant sein für eine Person ohne religiösen Glauben, die bemüht ist, ein gutes Leben zu führen. Zweitens verweist sie über sich selbst hinaus auf etwas, das größer ist als das Selbst – auf etwas oder jemanden, das über allem steht. Drittens geht es um eine bewusste Entscheidung über die Richtung des eigenen Lebens. Viertens suggeriert die Formulierung „Wahrnehmung“, dass eine Person nach ihrem „Licht“ lebt und aufrichtig ihr Bestes tut. Ausrichtung und Qualität eines solchen Lebens bestehen schließlich darin, über sich selbst hinauszuwachsen und auf die Bedürfnisse anderer zu reagieren, was ein fortlaufendes Lebensprojekt darstellt. Das ultimative „Ziel“ sind moralische Werte und Güte, auf die hin sich die Person ausrichtet und durch die sie in der Wirklichkeit definiert und gestaltet, wer sie ist. Eine Schwäche von Schneiders Definition ist vielleicht, dass sie eher beim Individuum ansetzt als bei der Person im Kontext von Beziehungen – wo das menschliche Leben beginnt und sich entwickelt. Wie gestaltet sich Praxis auf der Basis dieses spirituellen Verständnisses? Im Allgemeinen umfasst diese spirituelle Suche drei Aspekte: erstens ein Bewusstsein für tiefere Ebenen der Realität. Dies führt oft zu einem notwendigen Gefühl des Staunens, das Formen des kontemplativen Bewusstseins bezüglich des Geheimnisses des Lebens und der Welt eröffnet. Zweitens gibt es den Wunsch nach persönlicher Integration – danach, ein ganzer Mensch zu werden, Wege zu finden, um dem Druck zu widerstehen und ihn zu überwinden, der dazu führen kann, dass sich unser Leben fragmentiert. Drittens gibt es das Bedürfnis, anderen die Hand zu reichen und sich für sie einzusetzen. Die Art und Weise, wie diese drei Aspekte zum Tragen kommen, kann von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. All dies ist Ausdruck der Sehnsüchte, die in jedem Menschen und in jeder Kultur zu finden sind. Es gibt die Suche nach Sinn – nach dem Sinn der Welt und unseres Lebens. Diese Suche dreht sich um die drei großen Fragen: nach den Ursprüngen („Woher komme/n ich/wir?“), nach der Identität („Wer bin ich/wer sind wir“) und nach dem Ziel („Wohin gehe ich/gehen wir?“). Auf der ganz persönlichen Ebene findet all dies seinen Rahmen in dem, was uns allen gemeinsam ist: die Suche nach uns selbst und der Wunsch, in Beziehung zu leben: ein Individuum zu sein und Teil von Gemeinschaft zu sein. Wie kann die Auseinandersetzung mit der spirituellen Dimension unseres Lebens erfolgen, insbesondere im Hinblick auf die Scham? Der Schlüsselbegriff ist „aufmerksam sein“. Es braucht eine Haltung des Bewusstseins, des „Innehaltens, Hinschauens und Zuhörens“ in Bezug auf das Leben und die Welt um uns herum. Ohne ein gewisses Maß an Achtsamkeit gegenüber dem Leben werden wir die Tiefe oder die geheimnisvolle Dimension, die uns umgibt, nicht erkennen können – in Ereignissen, Menschen und der Schöpfung, insbesondere in Zeiten des Aufruhrs, des Leidens und des Verlusts. Mit anderen Worten, wir werden nicht erkennen, dass uns etwas oder jemand zu sich ruft.

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Dieser Ansatz stimmt mit dem von David Ranson überein, der sich auf die französische Philosophin und Mystikerin Simone Weil beruft. Sie vertrat die Auffassung, dass jede religiöse Praxis von der Sehnsucht beseelte Aufmerksamkeit ist. Ich denke, sie bietet uns einen sehr hilfreichen Ansatz für das, was viele heute als „Spiritualität“ bezeichnen und der Schneiders Ansatz ergänzt. „Spiritualität ist eine gewisse Achtsamkeit gegenüber dem Leben – eine Achtsamkeit, die eine gewisse Sehnsucht, eine gewisse Hoffnung, eine gewisse Erwartung in sich trägt. Spiritualität ist Aufmerksamkeit in Verbindung mit Absicht. Aufmerksamkeit, die vom Wunsch beseelt ist, oder Aufmerksamkeit, die zur Absicht wird, erweckt in uns das Bewusstsein einer vertieften Beziehung zu uns selbst und zu anderen, zur Welt und zu einem größeren Sinn“ (Ranson, 2002, S. 17).

„Aufmerksamkeit mit Absicht“ stimmt mit Whiteheads Position zu Scham, Schuld und Wut überein, da es sich um „lästige“ Emotionen handelt, die jedoch „Ressourcen darstellen, auf die wir nicht verzichten können“. Es ist der Schmerz negativer Emotionen, der „unsere Aufmerksamkeit erregt“ (Whitehead & Whitehead, 1994, S.  92, 178). Diese Autor*innen bieten Strategien an, um diesen emotionalen Bewegungen und Zuständen gegenüber „aufmerksam“ zu sein, so dass es möglich wird, sich damit in Freundschaft zu verbinden und nicht dazu, in Feindschaft zu verharren. Ihre Vier-Schritte-Strategie besteht, vereinfacht ausgedrückt, darin, unsere negativen Emotionen zu benennen, zu zähmen und zu lenken.18 Dies erfordert Zeit und viel Geduld. Es ist eine Reise der „Präsenz und Teilnahme“, bei der wir diesen Emotionen, wie z. B. der Scham, erlauben, ihre Aufgabe zu erfüllen (Whitehead & Whitehead, 1994, S. 176–188). Aber sie müssen, wie bereits erwähnt, bewusst eingesetzt werden. Indem sie die Rolle der Aufmerksamkeit betonen, schließen sich Whitehead und Whitehead (1994) und Weil (1951) Konfuzius an, für den das „aufmerksame Bewusstsein“ (ssü) eine zentrale Tugend im „moralischen Arsenal“ darstellt. Es ist die bewusst kultivierte Fähigkeit, sich auf eine bestimmte Weise auf ein ausgewähltes Objekt zu konzentrieren (Whitehead & Whitehead, 1994, S. 178). Indem wir uns für das öffnen, was objektiv da ist, und was unser Bewusstsein und unseren emotionalen Zustand in irgendeiner Weise betrifft oder bewegt, werden wir empfänglich für das Objekt, wie Simone Weil sagt. Wir werden geschmeidig für das, was wirklich ist, und können „von dem Objekt durchdrungen werden“ (Myers, 2012, S. 102).19 Scham und alle unsere Emotionen sind letztlich interaktive Reaktionen auf Objekte, also Menschen und Ereignisse außerhalb des Selbst.20 Ranson (2002) erinnert uns daran, dass die Aufmerksamkeit den Objekten gegenüber „impliziert“ oder zumindest „einschließt“, was außerhalb des „Selbst“ liegt. Sich ihnen mit „Aufmerksamkeit“ zuzuwenden, ist ein Gegenentwurf zur Spiritualität, die im kartesischen Sinne als „Suche nach dem wahren Selbst“ verstanden wird. Hier wird die Suche nach Transzendenz als unabhängig vom „Beziehungsgeflecht, durch das die Persönlich Es ist interessant, dass Aquin einen ähnlichen Ansatz verfolgt. Zum Beispiel findet sich in ST 1. 2. 38. 1–5 eine fünfstufige Strategie zum Umgang mit Traurigkeit, Depression, Verlust und Kummer. 19  Myers zitiert Weil (1951), jedoch ohne einen Seitenverweis auf den Originaltext ihres Waiting on God. 20  Für eine ausführliche Erklärung der Natur einer Emotion siehe Ryan (2001a, b). 18

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keit definiert werden muss“ (Ranson, 2002, S. 81) angesehen. Diesem Verständnis folgend spielt die Scham eine notwendige Rolle, um uns in der Welt des Anderen verankert zu halten. Und schließlich ist zu erörtern, inwiefern Scham gegenkulturell oder subversiv sein und „kulturübergreifendes“ Lernen historisch verstanden werden kann? Die Beispiele, die wir im Rahmen unserer Arbeitsdefinition von Kultur erörtert haben, und ihre analogen Ausdrucksformen auf internationaler (L’Arche) und nationaler Ebene (drei Fragen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im australischen Kontext) stellen jeweils eine Form des Widerstands gegen oder innerhalb einer umgebenden Kultur dar. Diese besonderen Situationen verdeutlichen, dass Scham, wenn sie einen Anreiz für ein verändertes Verhalten auf kultureller Ebene bieten soll, mit einer zugrunde liegenden kognitiven und affektiven Veränderung verbunden sein muss. Mit anderen Worten: Brownings Arbeitsdefinition muss in der Realität „funktionieren“. Es geht nicht nur darum, wie wir die Welt und andere sehen. Es geht auch darum, dass wir dazu bewegt werden, entsprechend zu reagieren. Vor diesem Hintergrund ist daran zu erinnern, dass die Geschichte Menschen hervorbringt, die durch ihre Sichtweise und ihre Reaktionen auf die Welt und das kulturelle Leben ihre persönliche und soziale Scham überwinden und gleichzeitig die Einstellung anderer prägen. Im letzten Jahrhundert waren dies beispielsweise Mahatma Gandhi und Nelson Mandela. In der Vergangenheit war es Jesus Christus, der den Griff der sozialen Scham kritisierte und zu relativieren versuchte, nur um dann in Schande zu sterben – die Maßstäbe seiner eigenen Kultur anlegend. Unter den jungen Menschen blicken wir auf jemanden wie die 21-jährige Sophie Scholl, die zusammen mit ihrem Bruder in Nazi-Deutschland für ihre Widerstandsbemühungen hingerichtet wurde. Bestimmten Maßstäben der vorherrschenden Kultur ihrer Zeit entsprechend hatte sie sich schamlos und ehrlos verhalten. Jetzt wird sie (zusammen mit den anderen Student*innen) als bewundernswert, ja sogar als heldenhaft angesehen, weil sie nach Maßstäben lebte und starb, die auf Gerechtigkeit und Wahrheit beruhen. In ihrem Akt der Selbsttranszendenz finden wir die leuchtende Präsenz moralischer Schönheit und wahrer Ehre, auch wenn ihre Geschichte völlig vergessen wurde (Stump, 2010, S. 149, 329).

4.5 Schlussfolgerung Wie diese Ausführungen zur Scham zeigen, zeichnet sich diese durch eine vielschichtige und ständige Präsenz in unserem Leben aus. Sie kann, wie wir gesehen haben, konstruktive und destruktive Formen annehmen. Wir haben uns auf den moralischen und den spirituellen Bereich und die ihnen zugrunde liegende Beziehungsebene konzentriert. Manchmal scheinen sich diese Bereiche in Bezug auf persönliches Wohlbefinden und Bedeutung zu überschneiden. Es kann festgehalten werden, dass wir ohne ein Gefühl für Scham, mit all ihren Komplexitäten und Variationen, nicht wirklich menschlich wären. Sie ist unverzichtbar, um empfänglich, verantwortungsbewusst und wirklich liebevoll zu sein.

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Kapitel 5

lajjA in der indischen Psychologie: Spirituelle, soziale und literarische Perspektiven auf Scham Dharm P. S. Bhawuk

5.1 Einleitung om lajjAyai namaH! (# 740)1 Ich verbeuge mich vor der Person, die die Form von lajjA annimmt! om hrImatyai namaH! (# 302) Ich verneige mich vor der Person, die mit hrI ausgestattet ist! om udArakIrtaye namaH! (# 848) Ich verneige mich vor der Person, die großzügig Ruhm gewährt! om doSavarjitAyai namaH! (# 195) Ich verneige mich vor der Person, die von Fehlern ausgenommen (oder frei von Fehlern) ist! om icchAzaktijJAnazaktikriyAzaktisvarUpiNyai namaH! (# 658) Ich verneige mich vor der Person, die die Macht des Willens, die Macht der Weisheit und die Macht des Handelns ist!

Watson (1913) legte das Fundament der Psychologie in Abgrenzung zur Philosophie und widmete sein Leben der Trennung der beiden Disziplinen, wie das nachfolgende Zitat verdeutlicht: „Die Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht, ist ein rein objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft, der ebenso wenig der Introspektion bedarf wie die Wissenschaften der Chemie und Physik. Man geht davon aus, dass das Verhalten von Tieren untersucht werden kann, ohne an das Bewusstsein zu appellieren. … Hier wird die  lalitAsahasranAma präsentiert 1000 Namen von devI, und die Zahl bezieht sich auf diese Liste.

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D. P. S. Bhawuk (*) Universität von Hawaii in Manoa, Honolulu, USA E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 E. Vanderheiden, C.-H. Mayer (Hrsg.), Der Wert der Scham, https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3_5

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D. P. S. Bhawuk ­ osition vertreten, dass das Verhalten des Menschen und das Verhalten der Tiere auf P ­derselben Ebene betrachtet werden müssen, da sie für ein allgemeines Verständnis des Verhaltens gleichermaßen wesentlich sind… In diesem Sinne lässt sich sagen, dass das Bewusstsein das Instrument oder Werkzeug ist, mit dem alle Wissenschaftler arbeiten. Ob dieses ­Werkzeug gegenwärtig von den Wissenschaftlern richtig benutzt wird, ist ein Pro­ blem der Philosophie und nicht der Psychologie (S. 176).“

Ich habe dieser separatistische Bewegung widersprochen, um in der Lage zu sein, die reiche indische philosophische Tradition nutzen zu können, die eine Fülle psychologischer Einsichten birgt (Bhawuk, 2011), und dieses Kapitel ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Die Theoriebildung dient nicht nur der Vorhersage künftigen Verhaltens, sondern hilft auch beim Verständnis von Verhaltensweisen und Phänomenen. Moore (1967) betonte, dass „ein echtes Verständnis umfassend sein muss, und ein umfassendes Verständnis muss die Kenntnis aller grundlegenden Aspekte des Geistes des ­betreffenden Volkes [d.  h. der Psychologie] beinhalten“. Die Philosophie ist das wichtigste Medium des Verstehens, da sie sich ihrer selbst bewusst ist und sich in vielleicht einzigartiger Weise mit den grundlegenden Ideen, Idealen und Einstellungen eines Volkes befasst, aber auch weil allein die Philosophie versucht, das Gesamtbild zu erfassen und daher alle wichtigen Aspekte des Lebens eines Volkes in ihren Blick nimmt (S. 2–3). Von daher nimmt die Analyse der indischen Schriften, in denen das philosophische Gedankengut Indiens niedergelegt ist, eine wichtige Rolle bei der Entwicklung indischer psychologischer Konstrukte ein, die eine der in dieser Arbeit verwendeten Methoden darstellt. Auf der Suche nach indigenen Konstrukten, die nicht in das westliche Schema passten, suchte Triandis in den 1960er-Jahren Hilfe bei seinen internationalen ­Mitarbeiter*innen, was sich zu seiner Enttäuschung als nicht erfolgreich erwies. Professor Terry Prothro wies ihn darauf hin, dass es für westlich ausgebildete Wissenschaftler*innen schwierig sei, ihre Kultur aus indigener Sicht zu untersuchen (Triandis, 1994a). Um diese seit langem bestehende Lücke in der Literatur zu schließen, habe ich Modelle aus indigener Sicht entwickelt, ohne dabei auf westliche Theorien oder Erkenntnisse zurückzugreifen (Bhawuk, 1999, 2005, 2008, 2011). Diese beruhen auf der Weisheit der alten Texte, die in Indien noch immer im Alltag genutzt werden. In diesem Beitrag stelle ich das Konzept von lajjA aus der Perspektive der indischen Psychologie vor. Im Sanskrit bedeutet lajjA Scham, Bescheidenheit oder Schamhaftigkeit und wird als eine verhaltensleitende Tugend edler Menschen verstanden, nicht nur relevant für Frauen, sondern auch für Männer. Ich wende eine Methodik an, die für die Entwicklung indigener Konstrukte dienlich sein kann und die zunächst vorgestellt wird. Daran schließt sich eine Untersuchung der Wörterbuchbedeutungen, Synonyme und Antonyme des Wortes in Sanskrit und Hindi an. Dann analysiere ich die Verwendung des Begriffes in zwei populären heiligen Texten, dem BhagavadgItA und dem DrugA SaptazatI. Es handelt sich dabei um kulturelle Texte, die von spirituell Praktizierenden als Teil ihrer svAdhyAya oder ihres täglichen Studiums verwendet werden, aber auch von Menschen in alltäglichen

5  lajjA in der indischen Psychologie: Spirituelle, soziale und literarische …

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Konversationen genutzt werden. Der Autor selbst studiert sie regelmäßig und ist mit den Texten vertraut. Anschließend wird das Konstrukt in einem literarischen Text, kAmAyanI, analysiert, der von jayazaGkar prasAd in Hindi geschrieben wurde, Außerdem wird der Gebrauch des Wortes im täglichen Gebrauch, inklusive ­Sprichwörtern, in Hindi und Urdu untersucht.2 Schließlich wird das Synonym von lajjA in urdu, hayA, das im Arabischen verwurzelt ist, analysiert, um einen interessanten Vergleich und erweiterten Einblick in das Konstrukt von lajjA zu bieten. Der Beitrag endet mit einer Diskussion des Konstrukts, wie es im indischen Kulturkreis in Erscheinung tritt sowie seiner Auswirkungen auf die globale Psychologie. Es wird erwartet, dass dieser multimethodische Ansatz die Entwicklung einer umfassenden Beschreibung (Geertz, 1973) des Konstrukts ermöglicht und eine Triangulation seiner Bedeutungen erlaubt.

5.2 Methodik Der lexikalische Ansatz, der von Galtons (Galton, 1884) Studie über die Persönlichkeit inspiriert ist, basiert auf der Annahme, dass kulturell stabile Persönlichkeitsmerkmale Teil der Sprache werden und einzelne Begriffe die wichtigsten dieser Merkmale erfassen. Allport und Odbert (1936) stellten in ihrer psycholexikalischen Studie über Persönlichkeit oder Charaktereigenschaften unter Verwendung des ungekürzten Webster’s New International Dictionary fest, dass die Übereinstimmung zwischen sprachlicher Konvention und psychologischer Wahrheit durch die Kultur vermittelt wird, die sowohl unsere Psychologie als auch unsere Sprache prägt. Austin (1964) vertrat die Ansicht, dass Wörter nicht einfach nur Fakten oder Dinge sind, sondern Werkzeuge, die uns helfen können, unser Bewusstsein und damit unser Verständnis für Phänomene in der Welt zu schärfen. In dieser Studie untersuche ich Konstrukte auf linguistischer Ebene durch eine Untersuchung von Wörtern, was mit den Vorschlägen von Philosophen (Austin, 1964) und Psychologen (Allport & Odbert, 1936) übereinstimmt. Ich erweitere diese Vorschläge, indem ich die Entwicklung der Bedeutung des Zielworts durch die Untersuchung mehrerer Texte in verschiedenen Kulturkreisen nachzeichne. Die Synonyme und Antonyme eines Konstrukts bilden den Grundrahmen für die Suche in den Schriften und literarischen Texten. Sie helfen, die Suche zu erweitern, da sie die nötige Tiefe bieten, um ein Konstrukt zu verstehen. Sie helfen auch dabei, die Suche einzugrenzen, indem sie bestimmte Wörter ausschließen, da sie eher abzulenken scheinen als dem Konstrukt Bedeutung zu verleihen. Heilige Texte oder Schriften erschließen die tiefen kulturellen Wurzeln eines Konstrukts, während die Literatur (mündlich oder schriftlich, Poesie oder Prosa) die

 Die Analyse wurde auch in Nepal und Belgien durchgeführt, was die Ergebnisse weiter untermauerte. Aufgrund der Seitenbegrenzung werden diese hier nicht aufgeführt. 2

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Äste des Konstruktbaumes verdeutlichen, und die Größe der Äste zeigt, wie das Konstrukt über die Jahre in einem bestimmten Bereich gewachsen ist. Sowohl Schriften als auch Literatur stellen Archivdaten dar und sind notwendige Bestandteile der symbolischen Struktur einer Kultur. In den Kulturwissenschaften ist die Untersuchung eines Konstrukts in den Schriften und der Literatur von wesentlicher Bedeutung, denn sie ermöglicht die notwendige dichte Beschreibung, die das ­Konstrukt in verschiedenen Kontexten oder Verhaltenssettings definiert und darstellt. Eine auf diese Weise destillierte dichte Beschreibung kann die kulturelle Grundlage für ein Konstrukt liefern, die ansonsten nicht verfügbar wäre. Die Untersuchung der zeitgenössischen Verwendung des Konstrukts in Sprichwörtern und in der alltäglichen Kommunikation ist notwendig, um sicherzustellen, dass das Konstrukt kein totes oder ungenutztes Konzept ist. Sprichwörter wurden mit Thematischen Organisationspaketen (TOPs) verglichen, da sie uns helfen, unser kulturelles kognitives System zu organisieren (Bhawuk & Doktor, 2000). Die Verwendung von mehr als einem Text ermöglicht eine dahingehende Untersuchung, inwiefern die Themen, die sich in einem Text herauskristallisiert haben, empirisch gesättigt sind, wie es die Methodologie der Grounded Theory empfiehlt (Glaser & Strauss, 1967). Der Einsatz mehrerer Methoden bietet die Möglichkeit, die Gültigkeit der Sättigung der Kategorien über verschiedene Methoden hinweg zu testen. So kann die systematische Anwendung vielfältiger Methoden dazu beitragen, eine solide Grundlage für ein Konstrukt in einer bestimmten Kultur zu entwickeln. Die Ergebnisse einer solchen Untersuchung können für die vergleichende oder kulturübergreifende Forschung in einer viel sinnvolleren Weise genutzt werden als der derzeit populäre pseudo-etische Ansatz, bei dem Konstrukte aus westlichen Kulturen das intellektuelle Streben nach einem Verständnis der menschlichen Psychologie und des Verhaltens dominieren (Triandis, 1994b).

5.3  lajjA: Synonyme und Antonyme lajjA wird von Monier-Williams im Sanskrit-Englisch-Wörterbuch, das online verfügbar ist, mit Scham, Bescheidenheit, Schamhaftigkeit, Verlegenheit oder ­ Schüchternheit übersetzt. hrI ist ein Synonym von lajjA im Sanskrit und bedeutet „Scham empfinden, erröten, schüchtern oder bescheiden sein oder sich für jemanden oder etwas schämen“. Es kann auch bedeuten, „jemanden zu Beschämen, zum Erröten zu bringen, zu verwirren, oder im übertragenen Sinne zu übertreffen“. Beide Wörter bedeuten „Scham, Bescheidenheit, Schüchternheit oder Ängstlichkeit“. trapA und vrIDA sind zwei weitere Synonyme von lajjA. apamAnaH, ebenso duSkIrti, kalaGka, akIrtihetuH, lajjAspadaM. Die Antonyme von lajjA sind nirlajja, nirvRIDa, apatrapa, und lajjAhIna. All diese Begriffe werden in Hindi, Nepal, Bengalisch und vielen anderen indischen Sprachen genutzt. lajjA bezieht sich auch

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auf die empfindliche Pflanze Touch-me-not, die im Lateinischen Mimosa Pudica genannt wird. Im Hindi wird sie chuimui oder lAjawanti genannt und hat damit die gleiche Bedeutung wie shame im Englischen. Chambers’s Etymological Dictionary of the English Language (Findlater, 1900) definiert Scham als „das Gefühl, das durch die Entblößung dessen, was verborgen werden sollte, oder durch ein Schuldbewusstsein hervorgerufen wird, die Ursache von Scham, Entehrung, die Körperteile, die aus Gründen der Bescheidenheit verborgen werden müssen, sehr bescheiden, schamhaft, leicht verwirrbar, schändlich, bei anderen Scham erregend, unanständig, unbescheiden, ohne Scham handelnd und dreist“. Als Verb bedeutet Scham „beschämen, erröten lassen oder mit Vorwürfen überziehen“. In der englischen Sprache werden Scham und Schuld als Synonyme füreinander verwendet, und Tracy und Robins (2006) haben gezeigt, wie Menschen sie in der normalen Kommunikation auf verwirrende Weise einsetzen. Lewis (1971) konzeptualisierte Scham so, dass sie sich auf die eigene Person bezieht (z.  B. wie schlecht ich bin), während sich Schuldgefühle auf ein bestimmtes Verhalten beziehen (z. B. wie konnte ich diese schlechte Handlung begehen oder dieses schlechte Verhalten zeigen). Scham wird mit Unbehagen, Angst, Depression und Wut in Verbindung gebracht. Sie argumentierte, dass Scham im Extremfall als Ursache für alle negativen Interaktionen angesehen wird. Sie betrachtete Scham als eine Emotion, die Depressionen verursacht, und empfahl, sie aus der emotionalen Verankerung einer Person zu entfernen. Tracy und Robins (2006) übernahmen diese Konzeptualisierung und stellten fest, dass Scham und Schuld sich beide auf interne Zuschreibungen von Versagen beziehen, beschrieben Scham jedoch als stabil und unkontrollierbar, während Schuld als instabil und kontrollierbar gilt. In der westlichen Psychologie werden Schuldgefühle als nützlich für Lernen und Wachstum angesehen und sind daher im Vergleich zu Schamgefühlen weniger negativ. In der indischen rasa-Theorie oder Ästhetik hingegen ist vrIDA oder lajjA eines der 33 vyabhicAri oder untergeordneten bhAvas oder Emotionen. Es ist auch kein Teil oder Bestandteil eines der acht rasas oder essentiellen emotionalen Zustände, nämlich zRGgAr oder erotisch, hAsya oder komisch, karuNA oder pathetisch, raudra oder wütend, vIra oder heroisch, bhayAnak oder schrecklich, bIbhatsa oder abscheulich, und adbhuta oder wunderbar; oder des neunten rasa, zAnta oder quietistisch. In der indischen Psychologie ist lajjA also eine sanfte, vorübergehende Emotion, während doSa ein Fehler oder eine Sünde ist, die prAyazcitta oder Buße erfordert. Es ist auch wichtig zu bemerken, dass anders als im Westen, wo die Menschen bekanntlich jahrelang eine Schuld mit sich herumtragen und therapeutische Beratung brauchen, in Indien eine Person prAyazcitta für den doSa macht und weitergeht und schwört, den Fehler nie wieder zu machen. Es ist keine Überraschung, dass dharma-sindhu, ein Schrifttext, der Anleitungen für Verhaltensweisen bietet, ein ganzes Kapitel enthält, in dem verschiedene prAyazcittas aufgezählt werden, die für eine Vielzahl von doSas oder Übertretungen verwendet werden sollen.

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5.4  lajjA in der bhagavadgItA In der bhagavadgItA kommt das Wort lajjA kein einziges Mal vor. Sein Synonym hrI erscheint jedoch einmal im zweiten Vers des sechzehnten Canto, zusammen mit den 25 anderen Tugenden, die in den ersten drei Versen3 als daivIk sampadA ­(göttlicher Reichtum oder Vermögen) vorgestellt werden. Diese 26 Tugenden werden auch als sAttvik vrittis oder positive Neigungen des manas oder Geistes betrachtet.4 Mit anderen Worten, das manas kann kultiviert werden, um zu diesen Tugenden hingezogen zu werden. Diese edlen Tugenden müssen von den Menschen in ihrem Leben durch Übung erworben und im täglichen Leben umgesetzt werden. Das Gegenteil dieser Tugenden wird AsurIka genannt, oder diejenigen, die zu den Asuras oder bösen Wesen gehören, und werden im vierten Vers5 des sechzehnten Canto aufgelistet und dann in den folgenden zwanzig Versen weiter ausgeführt. Zu den Vorzügen der Asurika gehören sechs unerwünschte Eigenschaften: dambha (Täuschung, Betrug, Verstellung oder Heuchelei), darpa (Stolz, Arroganz, Hochmut, Anmaßung oder Eitelkeit), atimAna (zu viel Rücksicht, Achtung, Respekt oder Ehre), krodha (Zorn; pAruSya oder Rauheit, Härte oder Gewalt) und ajJana (Unwissenheit). Diese sechs rAjasik oder tAmaski vrittis oder negativen Neigungen sind im täglichen Leben systematisch zu vermeiden. Es ist wichtig, die 26 Tugenden zu untersuchen, um die Bedeutung von hrI oder lajjA als edle Tugend zu verstehen, da ihr Wert im Zusammenhang mit diesen Tugenden transparent wird. In der ersten Strophe von Canto 16 werden neun Tugenden vorgestellt: abhayam oder Furchtlosigkeit, sattvasaMzuddhi oder Läuterung des Selbst mit Güte (oder Läuterung des Selbst, um die spirituelle Essenz zu erfahren), jJanayogavyavasthiti oder sich ständig in der Erkenntnis des spirituellen Selbst zu befinden (oder sich ständig des spirituellen Selbst bewusst zu sein), dAnaM oder Nächstenliebe, damaH oder Zurückhaltung der Sinne, yajJaH oder spirituelle Aktivität (alle selbstreinigenden Aktivitäten stellen eine Art von yajJa dar), svAdhyAyaH oder Studium der Schriften, das hilft, das manas oder den Geist zu beruhigen, tapaH oder spirituelle Enthaltsamkeit, einschließlich Aktivitäten wie Fasten, die helfen, den Körper und das manas zu kontrollieren, und ArjavaM oder Geradlinigkeit (d. h. eine von Unschuld geprägte Einfachheit, die dazu führt, dass eine Person ihre Gedanken aus-

 Vers 16.1: abhayM sattvasaMzuddhirjJanayogavyavasthitiH, dAnaM damazca yajJazca svAdhyAyastapa Arjavam; Vers 16.2: ahiMsA satyamakrodhastyAgaH zAntirapaizunam, dayAbhuteSvaloluptvaM mArdavaM hrIracApalaM; Vers 16.3: tejaH kSamA dhRtiH zaucamadroho nAtimAnita, bhavanti sampadaM daivImabhijAtasya bhArata. 4  manas in Sanskrit oder mana in Hindi ist das Zentrum für Kognition, Affekt und Verhalten (Bhawuk, 2008, 2011), und daher ist es schwierig, es ins Englische zu übersetzen. Mind ist eine weit verbreitete Übersetzung, die nur die kognitive Funktion von manas erfasst, nicht aber die affektiven und verhaltensbezogenen Funktionen. Daher verwende ich in meinen Texten manas und von Zeit zu Zeit „manas oder mind“, um die Leser*innen an das Übersetzungsproblem zu erinnern. 5  Vers 16.4: dambho darpo’atimAnazca krodhaH pAruSyameva ca, ajJanaM cAbhijAtasya pArtha sampadamAsurIm. 3

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spricht, ohne Informationen zurückzuhalten, selbst wenn das Gesagte gegen die eigene Person gerichtet ist). Im zweiten Vers von Canto 16 werden elf Tugenden vorgestellt: ahiMsA oder Gewaltlosigkeit in Gedanken, Worten und Taten, satyaM oder Wahrheit (die Wahrheit zu sagen und die Absichten klar darzulegen ist ein Aspekt von satyaM), akrodhaH oder Nicht-Gefahr, tyAgaH oder Nicht-Anhaftung, zAntiH oder Frieden, apaizunaM oder Nicht-Verleumdung, dayAbhuteSu oder Mitgefühl für alle Wesen, aloluptvaM oder Nicht-Gier (d. h., Abwesenheit von Gier), mArdavaM oder Sanftmut (d. h. Freundlichkeit oder Nachsicht gegenüber allen Wesen), hrIH und a­ cApalaM oder Abwesenheit von Unbeständigkeit (capal bedeutet unbeständig, mutwillig, wankelmütig oder unbeständig). Im dritten Vers von Canto 16 werden die letzten sechs Tugenden vorgestellt: tejaH oder moralische Kraft,6 kSamA oder Vergebung, dhrItiH oder Standhaftigkeit,7 zaucaM oder äußere und innere Selbstreinigung,8 adrohaH oder Abwesenheit von Groll,9 und nAtimAnita oder Abwesenheit des Strebens nach Aufmerksamkeit oder Bedeutung.10 Die Bedeutung von lajjA zeigt sich in seiner Verbindung mit den 26 oben ­genannten Tugenden. Wenn man die 26 Tugenden kultiviert, wird lajjA der Torwächter oder der „Go/No-Go“-Test für die Kultivierung jeder der anderen 25 Tugenden. Bin ich furchtlos? Wenn nicht, dann ist lajjA erregt, und ich fühle mich motiviert, furchtlos zu handeln. Bin ich wohltätig? Wenn ja, dann bin ich auf dem richtigen Weg, wenn nicht, dann ist LajjA erregt und ich werde daran erinnert, Nächstenliebe zu pflegen. Als der heilige kabir über die Bedeutung der Kultivierung dieser Tugenden sprach, beklagten sich seine Schüler, dass es ­unmöglich sei, sie alle zu kultivieren. kabir soll darauf geantwortet haben, dass, wenn man nur eine von ihnen kultiviert, alle Tugenden kultiviert werden. gaandhiji ist bekannt dafür, dass er ahiMsA und satya kultiviert hat, die beiden Tugenden, die im zweiten Vers des oben erwähnten sechzehnten Canto vorgestellt werden. Es könnte argumentiert werden, dass die Kultivierung von lajjA die einzige Tugend sein könnte, die einen im täglichen Verhalten leitet und zur Kultivierung aller anderen 25 Tugenden führt. Um die Bedeutung und Interpretation von hrIH oder lajjA weiter zu beurteilen, wurden verschiedene Kommentare zur bhagavadgItA herangezogen (Sadhale, 1936). Adi Zankara (788–820 n. Chr.) übersetzte hrIH als lajjA, ohne dies weiter  Andere Bedeutungen von tejaH sind: energisch, Respekt einflößend, würdevoll, ungeduldig, feurige Energie, energische Opposition, Glut, Lebenskraft, Geist, die scharfe Schneide eines Messers, Flammenspitze, Glühen, Glanz, Brillanz, Licht, Feuer und geistige Kraft. 7  Andere Bedeutungen von dhrIti sind: halten, ergreifen, behalten, unterstützen, Festigkeit, Beständigkeit, Entschlossenheit, Wille und Befehl. 8  Andere Bedeutungen von Zauca sind: Sauberkeit, Reinheit, Läuterung, Reinheit des Geistes, Integrität und Ehrlichkeit. 9  Das Antonym von droha ist adroha. Andere Bedeutungen von droha sind: Verletzung, Unfug, Schaden, Perfidie, Verrat, Unrecht und Beleidigung. 10  mAna bedeutet Rücksicht, Achtung, Respekt und Ehre; atimAna bedeutet übermäßige Achtung; nAtimAna ist das Antonym von atimAna. 6

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auszuführen. Die Bedeutung von lajjA und hrIH muss für die Gelehrten seiner Zeit offensichtlich gewesen sein. rAmAnuja (1017–1137 n. Chr.) erklärte hrIH als akAryakaraNe vrIDA (wenn eine Person in Erwägung zieht, etwas Unangemessenes zu tun, entsteht ein verbotenes Gefühl, das sie daran hindert, eine solche Aufgabe zu erfüllen; dieser innere Verbotsmechanismus ist hrIH, vrIDA oder lajjA). Madhusudan Saraswati (1540–1640 n. Chr.) erklärte hrIH als akAryapravRttyArambhe tatpratibandhikA lokalajjA (in dem Moment, in dem eine Person darüber nachdenkt, eine unangemessene Aufgabe zu erledigen, wird die negative Bewertung, die andere über die Handlung abgeben würden, im manas oder im Geist hervorgehoben und so schränkt die Ausführung einer solchen Tätigkeit eingeschränkt). Unter den Gelehrten herrscht allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich der B ­ edeutung von lajjA in Gestalt eines reflektierenden Bewertungsprozesses, der automatisch in den kognitiven Prozess eintritt und die Ausführung bestimmter Aufgaben einschränkt, die von den zAstras oder Schriften als unangemessen betrachtet werden. Es ist wichtig zu verstehen, was die zAstras sind. Ein erleuchteter Heiliger der Neuzeit, zrI zrI sitArAm dAs omkArnAth, sagte: „Wer sagt, dass der Mensch die zAstras geschrieben hat? Der Mensch ist sicherlich der Sammler der zAstras, aber der Schöpfer ist Gott allein. Gott hat diese Schriften in den Herzen der in tiefer Meditation versunkenen RSis veröffentlicht“ (Jeeyar, 2008, S.  184). Er erläuterte weiter den Zweck der zAstras: „Die Rolle der zAstras ist es, einem Menschen zu helfen, die Wahrheit zu erkennen und mit der großen Einheit eins zu werden. Der Mensch kann sich nicht mit einem einzigen Sprung erheben; er kann Frieden erlangen, indem er beständig auf dem Pfad der zAstras geht. Wenn es möglich wäre, alles allein durch nAm [Name Gottes] zu erlangen, wozu dann die Veden, upniSads, samhitAs, purANa, tantra usw.? Ihr Zweck ist es, liebende Hingabe zu nAm zu entwickeln. Wie kann man liebevolle Hingabe zu nAm entwickeln, ohne zAstras zu lesen? (S. 185). Der menschliche Geist sehnt sich nach Neuem, weshalb so viele Texte verfasst worden sind (S. 192).“ Als Beispiel führt zrI zrI sitArAm dAs omkArnAth seine eigene Erfahrung zur Unterstützung der zAstras an: „Um den Geist mit religiösen Gefühlen zu überfluten, ist es notwendig, täglich einen religiösen Text zu lesen – ein Buch, das das Herz zum Schmelzen bringt. sitArAm liest täglich das göttliche Drama; und das Lesen, in seinem Gefolge, bringt große Erregung im Körper hervor. Ich empfinde mehr Vergnügen beim Lesen von Schriften als bei der Meditation (S. 185).“ Heilige wie zrI zrI sitArAm dAs omkArnAth interpretieren die zAstras, indem sie die Gebote in ihrem Leben leben und auch die Bedeutung erläutern, wenn Menschen Zweifel haben, wie sie sie als Leitfaden für ihr Leben nutzen können. Die zAstras sind lebendige kulturelle Texte, die dem Leben der Menschen einen Sinn geben, und lajjA leitet an, dem von den zAstras aufgezeigten Weg zu folgen. So wird eien Person in bezug auf Aktivitäten kulturell sozialisiert, die nicht ausgeführt werden sollen, und lajjA leitet an, auf solche Aktivitäten zu verzichten. Die bhagavadgItA wirft ein Licht auf solche Aktivitäten in der Diskussion über karma im vierten canto. In Vers 4.17 werden drei Arten von Karma oder Handlungen vorgestellt: Karma (Handlung), Vikarma (verbotene Handlung) und Akarma

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(Untätigkeit).11 Zu den auszuführenden Handlungen gehören svadharma12 oder Pflichten des Selbst (bhagavadgItA Vers 3.35), die sich nach der eigenen varNAzrama dharma oder Eignung und Lebensphase (oder Stadium) richten. Zum Beispiel sind die ersten 25 Jahre die Studien- oder Lernphase, und das Individuum sollte Zeit und Energie aufwenden, um die Fähigkeiten entsprechend der eigenen Begabung zu erlernen. In der zweiten Lebensphase, bis zum Alter von 50 Jahren, sollte man ein „Hausherr*in“ sein und artha (oder Reichtum) und kAma (Vergnügen) verfolgen, geleitet von dharma (Pflicht), mit einem Auge auf das ultimative Ziel des Lebens, mokSa oder Befreiung. Dies ist die Beziehungsphase des Lebens, in der man eine Familie gründet und sich um alle sozialen Pflichten kümmert. In der dritten Lebensphase wird der Mensch „Waldbewohner*in“ und kultiviert Kontemplation, indem die Person sich auf spirituelle Praktiken konzentriert und nach mokSa oder Befreiung strebt. Und schließlich, im Alter von 75 Jahren, wird man Mönch oder Entsagnde*r und widmet alle Mühe und Energie dem Streben nach mokSa oder Befreiung durch Entsagung. In jeder Lebensphase gibt es einige Aktivitäten, die ausgeführt werden sollten, und andere, die zu vermeiden sind, und lajjA wird zum inneren Regulator, der eine*n nicht nur dazu anleitet, nicht das zu tun, was unangemessen ist, sondern auch das zu tun, was angemessen ist, denn nicht zu tun, was angemessen ist, erregt auch lajjA. In den Versen 2313 und 2414 des sechzehnten Canto belehrt KRSNa Arjuna über die Wichtigkeit, bei der Ausführung von Handlungen den zAstras zu folgen. In Vers 23 belehrt er ihn, dass eine Person, die die Wege der zAstras oder Schriften verlässt und dem Weg der Wünsche folgt, weder in der materiellen Welt noch im Jenseits Glück oder Erfolg finden wird. In Vers 24 betont er, dass eine Person ihre Handlungen in der Welt entsprechend ausrichten sollte, wenn sie den Weg der Schriften  Vers 4.17: karmaNo hyapi boddhavyaM boddhavyaM ca vikarmaNaH, akarmaNazca bodhavyaM gahanA karmaNo gatiH – da es schwierig ist, die Natur des Karmas zu verstehen, ist es wichtig zu verstehen, was Handlung ist, was Untätigkeit ist und was verbotene Handlung ist. 12  Vers 3.35: zreyAnsvadharmo viguNaH pardharmAtsvanuSThitAt, svadharme nidhanaM zreyaH pardharmo bhayAvahaH  – man sollte sein svadharma oder die vorgeschriebenen Pflichten erfüllen, auch wenn es nicht attraktiv ist, denn es ist besser, bei der Erfüllung der vorgeschriebenen Pflichten zu leiden, als auf die attraktiven Pflichten anderer oder auf das, was für andere vorgeschrieben ist, auszuweichen. Ein Mensch, der in einer Organisation arbeitet, denkt oft in Kategorien von Vorlieben und Abneigungen. Wenn eine Person mit der Arbeit an einem zugewiesenen Projekt nicht zufrieden ist, wird sie es wahrscheinlich als unattraktiv, nicht zufriedenstellend oder nicht dem eigenen Karriereziel dienend betrachten. Eine Person kann unter der Arbeit an einem solchen Projekt oder Job leiden oder das Projekt, das einer anderen Person zugewiesen wurde, als attraktiver erachten. Es ist ratsam, mit dem/der Vorgesetzten über die Aufgaben, Pflichten oder Projekte zu sprechen, bevor sie zugewiesen werden, aber sobald ein Projekt zugewiesen ist, muss man es nach besten Kräften ausführen, als wäre es das eigene svadharma, ohne darauf zu achten, was anderen zugewiesen wird. Das ist die Essenz dieses Verses. 13  Vers 16.23: yaH zAstravidhimutsRjya vartate kAmakArataH, na sa siddhimavApnoti na sukhaM na parAM gatim – eine Person, die die Wege der zAstras oder Schriften verlässt und dem Weg der Wünsche folgt, findet weder in der materiellen Welt noch im Jenseits Glück oder Erfolg. 14  Vers 16.24: tasmAcchAstraM pramANaM te kAryAkAryavyavasthitau, jJatvA zAstravidhAnoktaM karma kartumihArhasi – deshalb sollte man Handlungen in der Welt ausführen, wenn man den Weg der Schriften kennt und weiß, was zu tun und was zu lassen ist. 11

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kennt und weiß, was sie tun und was sie nicht tun sollte. Später in den Versen 24, 25 und 2715 im siebzehnten Gesang nennt er yajJa oder Opfer, dAna oder ­Wohltätigkeit, tapaH oder spirituelle Enthaltsamkeit und karma oder Handlungen als vier Aktivitäten, die ohne Ausnahme ausgeführt werden müssen. In Vers 17.24 weist er an, dass diejenigen, die dem brahman nachjagen oder die Aufbewahrer*innen und Vermittler*innen des heiligen Wissens sind, alle Aktivitäten – Opfer, Wohltätigkeit, spirituelle Enthaltsamkeit und Handlungen – mit dem Aussprechen von om beginnen. In Vers 17.25 sagt er, dass diejenigen, die Befreiung wollen, yajJa, tapaH, dAna und Handlungen verfolgen sollten, ohne sich an der Frucht auszurichten. Und schließlich verherrlicht er in Vers 17.27 yajJa, tapaH, dAna und karma, indem er sagt, dass sat oder die absolute Wahrheit in Opfern, Wohltätigkeit, spiritueller Enthaltsamkeit und Handlungen liegt. Schließlich wird im achtzehnten Gesang derselbe Gedanke, dass Opfer, Wohltätigkeit, Entbehrungen und Handlungen, die von den Schriften geleitet werden, niemals aufgegeben werden dürfen, in den Versen 18.3 und 18.5 mit dem Argument unterstrichen, dass solche Aktivitäten helfen, das manas des Praktizierenden zu reinigen.16 Sollte eine Person also versucht sein, Opfer, Wohltätigkeit, Entbehrungen oder Handlungen zu vernachlässigen, oder sich unmotiviert fühlen, diese auszuführen, dann wird lajjA zur kognitiven Hürde, und die Person wird daran gehindert, ihre Pflichten zu vernachlässigen. Als Arjuna seinen Bogen und seine Pfeile ablegt und kRSNa ausführlich erklärt, dass er nicht in einem Krieg kämpfen wolle, in dem er seine Verwandten töten würde, sagt kRSNa ihm, er solle nicht so denken, da die Muschelzellen bereits geblasen worden seien, um den Krieg zu beginnen. Er tadelt Arjuna, nicht der Ohnmacht nachzugeben, und ermahnt ihn, aufzustehen und zu kämpfen, indem er den Leichtsinn überwindet. kRSNa betont, dass das Weggehen vom Schlachtfeld kein angemessenes Verhalten für edle Krieger sei, zum Verlust des Himmels nach dem Tod führe und langanhaltende Schande nach sich ziehe (bhagavadgItA Verse 2.2

 Vers 17.24: tasmAdomityudAhRtya yajJadAnatapaH kriyAH, pravartante vidhAnoktAH satataM brahmavAdinAm – diejenigen, die dem brahman nachgehen oder die Aufbewahrer und Vermittler des heiligen Wissens sind, beginnen alle Opfer, Wohltätigkeit, spirituelle Enthaltsamkeit und Handlungen mit dem Aussprechen von om. Vers 17.25: tadityanabhisaMdhAya phalaM yajJatapaHkriyAH, dAnakriyAzca vividhAH kriyante mokSakAGkSibhiH  – wer Befreiung will, sollte yajJa, tapaH, dAn und Handlungen verfolgen, ohne auf die Frucht zu zielen. Vers 17.27: yajJe tapasidAne ca sthitiH saditi cocyate, karma caiva tadarthIyaM sadityevAbhidhIyate-­sat oder die absolute Wahrheit befindet sich in Opfern, Wohltätigkeit, spiritueller Enthaltsamkeit und Aktivitäten. 16  Vers 18.3: tyAjyaM doSavadityeke karma prAhurmanISiNaH, yajJadAntapaHkarma na tyAjyamiti cApare – einige weise Menschen sagen, dass alles Karma Knechtschaft verursacht und daher aufgegeben werden sollte, während andere sagen, dass yajJa, dAna, tapaH und das von den zAstras geführte Karma nicht aufgegeben werden sollten. Vers 18.5: yajJadAnatapaHkarma na tyAjyaM kAryameva tat, yajJo dAnaM tapazcaiva pAvanAni manISiNAm – Opfer, Wohltätigkeit und Entbehrungen helfen, die manas der Weisen zu reinigen, und sollten daher nicht aufgegeben werden. 15

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und 2.3).17 Hier stellen wir fest, dass lajjA apkIrti oder Schande vermittelt, indem lajjA die intrinsische Motivation ist, Handlungen zu vermeiden, die zu Schande führen würden. Die Beziehung zwischen lajjA und Schande ist so wichtig, dass kRSNa noch einmal betont, wie arjuna sein svadharma oder seine natürliche soziale Pflicht vernachlässigen würde, dadurch pApaM oder Sünde verdienen würde, von Leuten, die ihn als großen Krieger respektierten, als ängstlicher Aussteiger bezeichnet würde und für Generationen zur Zielscheibe erniedrigender Referenzen werden würde. Aus all diesen Gründen kommt kRSNa zum Schluss, dass Schande schlimmer ist als der Tod, und bittet Arjuna, sich auf den Kampf einzulassen (BhagavadgItA Verse 2.31–2.37).18 Auf lajjA wird also in beiden Situationen Bezug genommen wenn Menschen versucht sind, nicht zu tun, was getan werden sollte (oder eine Aufgabe aufzugeben, weil sie schwierig oder herausfordernd ist), und zu tun, was nicht getan werden sollte. lajjA ist also das innere Hindernis, das durch die Schrift oder die kulturelle Norm der Angemessenheit geleitet wird und eine Person dazu bringt, angemessen zu handeln. Es ist ein geistiger Prozess, der ein Verhalten oder einen anderen geistigen Prozess, d. h. einen Gedanken oder ein Verlangen, kanalisiert.

5.5  lajjA in der DrogeA saptazatI durgA saptazatI ist ein Teil des mArkanDeya purANa, so wie das bhagavadgItA ein Teil des Epos mahAbhArata ist. Der Text besteht aus 13 Cantos und 579 Versen, 78, 68, 41, 36, 76, 20, 25, 62, 39, 28, 51, 38 und 17 im ersten bis dreizehnten Canto  Vers 2.2: kutastvA kazmalamidaM viSame samupasthitam, anAryajuSTamasvargyamakIrtikaramarjuna – wie kommst du in dieser schwierigen Zeit auf diese schlechte Idee, die edlen Kriegern nicht gut tut, zum Verlust des Himmels führen und Schande verursachen würde. Vers 2.3: klaibyaM mA sma gamaH pArtha naitattvayyupapadyate, kSudraM hRdayadaurbalyaM tyaktvottiSTha parantapa – es ziemt sich nicht für dich, einen Meister der Entbehrungen, der Unmännlichkeit nachzugeben; überwinde also deine Schwäche und steh auf, um zu kämpfen. 18  Vers 2.31: svadharmamapi cAvekSya na vikampitumarhasi, dharmyAddhi yuddhAcchreyo’nyat-kSatriyasya na vidyate – auch in Anbetracht deiner natürlichen sozialen Pflichten solltest du nicht schwanken, denn es gibt nichts Besseres für einen Krieger, als an einem fairen Krieg teilzunehmen. Vers 2.32: yadRcchayA copapannaM svarga-dvAramapAvRtam, sukhinaH kSatriyAH pArtha labhante yuddhamIdRzam  – Krieger sind glücklich, an einem solchen Kampf teilzunehmen, denn er öffnet ihnen leicht die Tore des Himmels. Vers 2.33: atha cettvamimaM dharmyaM saGgrAmaM na kariSyasi, tataH svadharmaM kIrtiM ca hitvA pApamavApsyasi- wenn du dich nicht an diesem Kampf für Gerechtigkeit beteiligst, wirst du deine natürlichen sozialen Pflichten verletzen, Dich schändlich verhalten und eine Sünde begehen. Vers 2.34: akIrtiM cApi bhUtAni kathayiSyanti te’vyayAm, sambhAvitasya cAkIrtirmaraNAdatiricyate – die Leute werden endlos über deine Schande reden, und Schande ist schlimmer als der Tod für edle Menschen. Vers 2.35: bhayAdraNAduparataM maMsyante tvAM mahArathAH, yeSAM ca tvaM bahumato bhUtvA yAsyasi lAghavam – nicht nur die großen Krieger würden denken, dass du den Krieg aus Angst aufgegeben hast, sondern auch diejenigen, die dich als Krieger respektieren, würden dich verachten. Vers 2.36: avAcyavAdAMzca bahUnvadiSyanti tavAhitAH, nindantastava sAmarthyaM tato duHkhataram nu kim – was könnte schmerzhafter sein, als dass deine Feinde dich herabsetzen und schlecht über dich reden? Vers 2.37: hato vA prApsyasi svargaM jitvA vA bhokSyase mahIm, tasmAduttiSTha kaunteya yuddhAya kRtanizcayaH – falle in der Schlacht und komme in den Himmel oder gewinne den Krieg und genieße das Königreich; entscheide dich und steh auf, um zu kämpfen. 17

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(Sharma, 1988). Die Geschichte von devI (Göttin), die die Beschützerin sogar der Götter ist und seit der Erschaffung des Universums verschiedene Formen angenommen hat, wird von mArkanDeya RSi erzählt. Im ersten Gesang wird bald Medhas RSi als Erzähler vorgestellt, der König Surath, der auf der Flucht war und sein Königreich verloren hatte, und dem Geschäftsmann namens SamAdhi, der sein Geschäft verloren hatte und von seiner Frau und seinen Kindern gemieden wurde, erklärt, wie DevI der Schöpfer, Beschützer und Zerstörer des Universums ist. Im ersten Gesang wird die Geschichte erzählt, wie devI brahmA, den Schöpfer des Universums, beschützt. In den Gesängen zwei, drei und vier wird erzählt, wie devI entstand, indem er die Essenz aller Götter nahm, um sie vor mahiSAsura zu schützen, und wie sie ihn und seine Armee vernichtete. Von Gesang 5 bis 11 wird die Zerstörung der beiden Brüder zuMbha und nizuMbha geschildert, die die Götter besiegt und sie ihrer Rechte und Privilegien beraubt hatten. In den letzten beiden Cantos wird berichtet, wie der König und der Geschäftsmann ihr Königreich bzw. ihr Wissen erlangen konnten, indem sie zu devI beteten. Dieser Text beinhaltet vier lange Gebete. Im ersten spricht brahmA (Canto 1), der Schöpfergott, der devI bittet, viSNu, den Schutzgott, zu erwecken, damit er ihn vor den beiden Dämonen madhu und kaiTabha schützen kann. Das zweite Gebet wird von allen Göttern gesprochen, nachdem devI mahiSAsura und seine Krieger getötet hat (Canto 4). Das dritte Gebet wird von allen Gött*innen gesprochen, um devI zu bitten, sie vor zuMbha und nizuMbha zu schützen (Canto 5), und das letzte Gebet wird von allen Gött*innen gesprochen, um devI für die Vernichtung der beiden Brüder und ihrer Krieger zu danken (Canto 11). lajjA wird in jedem der vier Gebete verwendet, um devI zu personifizieren. Die Verse und die Interpretation von lajjA durch verschiedene Gelehrte helfen, ihre Bedeutung weiter zu entschlüsseln. Im ersten Gesang lobt BrahmA DevI in 14 Versen (Verse 54–67). Das Gebet beginnt damit, dass sie als Empfängerin aller Opfergaben vorgestellt wird, die in einem yajJa den Göttern und den Ahnen dargebracht werden, und symbolisiert sie so als Inbegriff aller yajJas (svAhA, svadhA und vaSaTkAraH: svAhA ist die Opfergabe an einen Gott und die letzte Äußerung jedes Mantras in einem yajJa; svadhA ist die Speisegabe an die verstorbenen Ahnen; vaSaTkAraH ist die Anrufung der Mantras, mit der die Götter zu den yajJas eingeladen werden). Sie ist die Personifizierung von Vokalen und Konsonanten. Sie ist der Nektar, der Leben spendet. Sie ist der Klang om und bildet ihn mit den drei Buchstaben a, u und m. Auf dem Symbol om ist sie der anusvAra oder Punkt (d.  h. das Punktzeichen), der nicht ausgesprochen werden kann. Sie ist sandhyA (Morgen- oder Abenddämmerung), sAvitrI (die der Sonne dargebrachte Hymne, auch gAyatri genannt, Vers III.62.10 im Rgveda) und die göttliche Mutter.19 Sie hält das Universum. Sie ist die Schöpferin, Beschützerin und Zerstörerin des Universums. Sie ist mahAvidyA (das große Wissen oder Lernen), mahAmAyA (die große illusorische Kraft), mahAmedhA (die große Weisheit oder Intelligenz), ma durgAsaptazatI Vers 1.54: tvam svAhA tvam svadhA tvam hi vaSaTkAraH svarAtmikA, sudhA tvamakSare nitye tridhA mAtrAtmikA sthitA. Vers 1.55: ardhamAtrAsthitA nityA yAnuccAryA vizeSataH, tvameva sandhyA sAvitri tvam devi janani parA. 19

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hAsmRtiH (das große Gedächtnis) und mahAmohA (die große Unwissenheit verursachende Kraft, die die Menschen dazu bringt, an die materielle Welt zu hängen), mahAdevI (derjenige, der größer ist als die Devas oder Götter), und mahAsuri (derjenige, der die Form der großen Asuras wie Madhu, KaiTabha, MahiSAsura oder HiraNyAkSa annimmt).20 Sie teilt die prakRti oder Natur in die drei guNas oder Stränge von sattva (Reinheit oder Güte), rajas (Handlung) und tamas (Dunkelheit), und sie nimmt die Form von kAlarAtri (wenn sie das Universum beendet), mahArAtri (wenn sie Zeuge von ziva wird, um mahApralaya oder die Zerstörung des Universums durchzuführen) und moharAtri (wenn sie das Universum in Unwissenheit verdammt, die von „ich“ und „mein“ überlagert ist).21 In Vers 60, im Anschluss an die obige Lobrede, personifiziert brahmA sie weiter als zrI (Reichtum), izvarI (Herrscher des Universums), hrI (lajjA), buddhibodhalakSaNA (Weisheit oder Intelligenz), lajjA, puSTi (Nahrung), tuSTi (Zufriedenheit), zAntiH (Frieden) und kSAntiH (Vergebung). Es werden sowohl lajjA als auch hrI verwendet. Einige Kommentatoren interpretieren hrI als das Ein-Buchstaben-­ Mantra (hrIM), andere als lajjA und wieder andere als eines von beidem (siehe Sharma, 1988). lajjA wird von Kommentatoren auch definiert als (i) die Natur des „inneren Organs“ oder Gewissens (nagojIbhaTTs Definition: antaHkaraNavRttivizeSaH), (ii) Selbstabscheu vor unangemessenem Verhalten und Scham über das, was andere sagen könnten (daMzoddhArs Definition: hrIH svata evAkAryato vaimukhyaM lajjA lokazaGkayA; er gibt auch zwei andere Bedeutungen von hR an: prANa oder Lebenskraft und Samenmantra-hrImiti pAThe prANarUpA. hRMkAro vai prANaH iti zruteH. yadvA hRMbIjarUpA), und (iii) das schlechte Gefühl, nicht zu wissen, was zu tun ist (caturdharIs Definition: „lajjA kRte karaNIye param ajJanazaGkayA duHkham“). Diese Definitionen stimmen mit den im vorigen Abschnitt vorgestellten Definitionen überein und zeigen die gemeinsame Auffassung, dass lajjA sowohl als interner als auch als externer Präventionsmechanismus wirkt (intern: eien Person fühlt sich nicht gut, wenn sie ein angemessenes Verhalten nicht ausführt, und sie fühlt sich schlecht, wenn sie ein unangemessenes Verhalten ausführt; und extern: sie lässt sich davon leiten, was andere sagen würden, wenn sie nicht das tut, was von der Person erwartet wird, und wenn sie das tut, was nicht von ihr erwartet wird). Somit ist lajjA ein wichtiges Attribut von devI, gleichwertig mit

 Nach dem Atharvaveda ist devI sowohl zUnya als auch azUnya, Anand und anAnand, vijJana und avijJana, brahman und abrahman, veda und aveda, vidyA und avidyA, aja und anaja, und daher jenseits jeder Dualität (siehe zrIdurgAsaptazatI (1990), S.  44–45: ahaM brahmasvarUpiNI. mattaH prakRtipuruSatmakaM jagat. zUnyaM cAzUnyaM ca. ahamAnandAnAnandau. ahaM vijJanAvijJAne. ahaM brahmAbrahmaNI veditavye. ahaM paJcabhUtAnyapaJcabhUtAni. ahamakhilaM jagat. vedo’hamavedo’ham. vidyAhamavidyAham. ajAhamanajAham, adhazcordhvaM ca tiryakcAham). 21  durgAsaptazatI strophe 1. 56: tvayaitaddhAryate vizvaM tvayaitatsRjyate jagat, tvayaitatpAlyate devi tvamatsyante ca sarvadA. Vers 1.57: visRSTau sRSTirUpA tvaM sthitirUpA ca pAlane, tathA saMhRtirUpAnte jagato’sya jaganmaye. Vers 1.58: mahAvidyA mahAmAyA mahAmedhA mahAsmRtiH, mahAmohA ca bhavatI mahAdevI mahAsurI. Vers 1.59: prakRtistvaM ca sarvasya guNatryavibhAvinI, kAlratrirmahArAtrirmoharAtrizca dAruNA. Vers 1.60: tvaM zRstvamIzvarI tvaM hRstvaM buddhirbodhalakSaNA, lajjA puSTistathA tuSTistvaM zAntiH kSAntireva ca. 20

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und sicherlich nicht weniger wichtig als jedes ihrer anderen Attribute. Dies verdeutlicht die Bedeutung des Konstrukts lajjA. Im vierten Gesang erscheint lajjA im vierten Vers des 26-strophigen Gebetes, das alle Götter an devI richten, nachdem sie mahiSAsura und seine Armee vernichtet hat. Der Vers beschreibt, wie Gott in fünf Formen wohnt: als zrIH oder Reichtum in den Häusern derer, die fromme Handlungen vollziehen, als alakSmI oder Armut in den Häusern derer, die sündig sind oder im Widerspruch zu den zAstras handeln, als buddhi in denen, die innerlich rein sind, als zraddhA oder Ehrfurcht in frommen Menschen und als lajjA in Menschen aus edlen Familien.22 Dieser Vers liefert ein nomologisches Netzwerk für das Konstrukt der lajjA, da devI mit edlen Menschen als Reichtum, Weisheit, Ehrfurcht und lajjA assoziiert wird; und mit unedlen Menschen als Armut.23 Die Kommentator*innen fügen keine neue Definition hinzu, aber nAgojibhaTTa führt seine Definition als akaraNIyApravRttilakSaNAntaHkaraNavRttivizeSaH oder Willenskraft des inneren Organs aus (antaHkaraNa ist ein Begriff, der Manas oder Geist, Buddhi oder Weisheit und ahaGkAra oder Ego einschließt), das den Impuls zu einer unangemessenen Handlung verhindert. LajjA ist also eher ein positives als ein negatives psychologisches Konstrukt. Es ist eher zu kultivieren als zu vermeiden, denn es lenkt unser Verhalten in eine edle Richtung. Im fünften Gesang erscheint lajjA im sechzehnten Vers des 27-strophigen Gebetes, das von allen Göttern an devI gerichtet wird, um sie zu bitten, zuMbha und nizuMbha zu zerstören. In diesem Vers wird formuliert, dass devI in allen Wesen als

 durgAsaptazatI Vers 4.4: yA zrIH svayaM sukRtinAM bhavaneSvalakSmIH pApAtmanAM kRtadhiyAM hRdayeSu buddhiH, zraddhA satAM kulajanaprabhavasya lajjA tAM tvAM natAH sma paripAlaya devi vizvam. Wir verbeugen uns vor der Göttin und beten zu ihr, dass sie sich um das Universum kümmert. Sie ist der personifizierte Reichtum für diejenigen, deren Handlungen edel sind. Sie bringt den Sündern Armut. Sie gibt denjenigen Weisheit, die richtig handeln. Sie schenkt denjenigen Ehrfurcht, die rein sind. Sie wohnt in edlen Menschen als lajjA. 23  Dieses nomologische Netzwerk wird in einem Vers aus der nitizlokAH unterstützt: vidyA dadAti vinayaM vinayAdyAti pAtratAm, pAtratvAddhanApnoti dhanAt dharamaM tataH sukham – Wissen oder Weisheit gibt Demut, Demut gibt Empfänglichkeit, Empfänglichkeit gibt Reichtum, Reichtum wird genutzt, um die Pflicht zu erfüllen, und die Erfüllung der Pflicht führt zu Glück. Da Wissen oder Weisheit einer Person lajjA gibt, die Schablone, die sie anleitet, angemessene Handlungen auszuführen und keine unangemessenen Aktivitäten zu unternehmen, ist lajjA ähnlich wie vinaya oder Demut. Sowohl vinaya als auch lajjA sind zarte Tugenden. Wenn jemand Reichtum erwirbt, leitet lajjA die Person dazu an, diesen zum lokasaGgraha oder zum Wohle der Allgemeinheit zu verwenden, und das steht im Einklang mit dem Befolgen des eigenen dharma oder der eigenen Pflicht. Daher taucht lajjA in diesem Glücksmodell zweimal auf, zuerst explizit als vinaya oder Demut, nachdem ein Mensch Wissen erlangt hat, und später implizit, wenn ein Mensch Reichtum erwirbt, um eien Person dazu anzuleiten, das Dharma gemäß den zAstras zu erfüllen. Ohne lajjA würde eine Person Wissen und Reichtum nicht angemessen nutzen und sich daher nicht auf dem Weg zum Glück befinden. Das Netzwerk der Tugenden im Gebet (zrIH, alakSmi, buddhi zraddhA und lajjA) und dieser Vers aus dem nitizlokAH (vidyA, vinaya, pAtratA, dhana, dharma und sukha) haben eine bemerkenswerte Überschneidung. Es sollte auch beachtet werden, dass lajjA die Mutter von vinaya ist, der der Sohn von dharma und lajjA ist. lajjA folgt dharma, so wie man sagt, dass eine Ehefrau sahacArinI ist, oder eine, die immer zusammen reist. Wo immer wir also dharma finden, werden wir lajjA finden. vinaya ist sanft wie seine Mutter lajjA, daher ist die Überschneidung zwischen den beiden Modellen natürlich. 22

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lajjA anwesend ist, oder sie ist lajjA in Person.24 devI soll in allen Wesen als buddhi (oder Weisheit), nidrA (oder Schlaf), kSudhA (oder Hunger), chAyA (oder Schatten), zakti (oder Energie), tRSNA oder (Leidenschaft), kSAnti (oder Vergebung), jAti (oder Geburt), lajjA, zAnti (oder Frieden), zraddhA (oder Verehrung), kAnti (oder Glut), lakSmI (oder Reichtum), vRtti (oder Motivation zur Arbeit), smRti (oder Erinnerung), dayA (oder Mitgefühl), tuSTi (oder Zufriedenheit), matR (oder Mutter) und bhrAnti (oder Illusion). lajjA ist kein auf den Menschen beschränktes Kon­ strukt, sondern ist in allen Wesen vorhanden, so haben auch Tiere und Pflanzen ein Gefühl dafür, was natürlich ist (angemessenes Verhalten in der menschlichen Welt) und was nicht natürlich ist (unangemessenes Verhalten in der menschlichen Welt), und dies leitet ihr Verhalten. Auch hier wird lajjA als ein positives Konstrukt zusammen mit anderen Konstrukten dargestellt. Da devI in allen Wesen als Grundbedürfnisse wie Schlaf, Hunger, Leidenschaft und Geburt vorhanden ist, wird die Bedeutung von lajjA und den anderen Tugenden in einem größeren Rahmen oder einer Weltanschauung hervorgehoben.25 Im elften Gesang erscheint lajjA in der einundzwanzigsten Strophe des 35-­strophigen Gebets, das alle Götter devI darbringen, nachdem zuMbha und nizuMbha und ihre Armee zerstört wurden. In diesem Vers wird devI als lakSmI (Reichtum), lajjA, mahAvidyA (oder großes Wissen), zraddhA (oder Ehrerbietung), puSTi (oder Nahrung), svadhA (Opfergaben an die Vorfahren) angesprochen, dhruvA (unbeweglich), mahArAtri (die große Nacht der Auflösung des Universums), mahA’vidyA (die große Unwissenheit), und narAyaNi (die weibliche Form von nArAyaNa oder viSNu; In der hinduistischen Dreifaltigkeit ist brahmA der Schöpfer, viSNu ist der Beschützer und ziva ist der Zerstörer; brahmANI, vaiSNavI und mAhezvarI sind die weiblichen Formen der drei Götter, die in diesem Gesang angebetet werden). Die meisten Konstrukte mit Ausnahme von puSTi und dhruvA wurden bereits oben besprochen, und wie bereits erwähnt, wird lajjA als ein positives Kon­ strukt dargestellt und erscheint in Verbindung mit anderen positiven Konstrukten. Die Verherrlichung von LajjA zeigt sich auch in seiner Aufnahme in die tausend Namen des DevI im LalitAsahasranAm: om lajjAyai namaH! (Ich verneige mich vor der Person, die die Form des lajjA annimmt, # 740). Es gibt noch drei weitere Namen, die zu Beginn der Abhandlung vorgestellt wurden und die mit lajjA in Verbindung stehen: om hrImatyai namaH! (Ich verneige mich vor der Person, die mit hrI begabt ist, # 302; hrI ist ein Synonym für lajjA, aber wie oben besprochen, hat es auch andere Konnotationen wie prANa oder Lebensatem); om udArakIrtaye namaH! (Ich verbeuge mich vor der Person, die großzügig Ruhm gewährt, # 848;  durgAsaptazatI Vers 5.16: yA devI sarva bhUteSy lajjA rupeNa samsthitA, namastasyai namastasyai namastasyai namo namaH. devI, der als lajjA in allen Wesen gegenwärtig ist, wir verbeugen uns vor ihr, wir verbeugen uns vor ihr, wir verbeugen uns vor ihr. 25  Das einzige negative Attribut, das in diesen Gebeten verwendet wird, ist bhrAnti oder Illusion. medhas RSi erklärt, dass wir nur durch das Gebet zu devI aus der negativen Denkweise herauskommen können, die nur sie bietet. Es wurde bereits erwähnt, dass DevI jenseits der Dualität ist und daher sowohl positive als auch negative Qualitäten besitzt. Wie in Fußnote 21 erwähnt, wird gesagt, dass DevI jenseits der Dualität angesiedelt ist, und so wird das negative Konstrukt verwendet, um uns an diesen Aspekt von DevI zu erinnern. 24

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kIrti oder Ruhm ist eines der Antonyme von lajjA); om doSavarjitAyai namaH! (Ich verbeuge mich vor der Person, die von Fehlern ausgenommen ist, # 195; doSa bedeutet Fehler oder Schuld, und da devI davon ausgenommen ist, ist es eindeutig nicht mit lajjA verbunden, wie oben erwähnt). Da devI der personifizierte lajja ist und von doSa oder Schuld ausgenommen ist, sind lajjA und doSa, Scham bzw. Schuld, in der indischen Weltsicht unterschiedliche Konstrukte. Es gibt viele interessante Namen in den tausend Namen des DevI, aber der eine, der einen Einblick in die Bedeutung von LajjA gibt, ist om icchAzaktijJAnazaktikriyAzaktisvarUpiNyai namaH! (Ich verbeuge mich vor der Person, die die Macht des Willens) (oder des Verlangens), die Macht der Weisheit und die Macht des Handelns ist! # 658). Die Reihenfolge der drei Namen, Wille (oder Wunsch), Weisheit und Handlung, ist aufschlussreich. Wenn wir ein Verlangen verspüren, treibt es uns zum Handeln an, und da beides von derselben Quelle, devI, gespeist wird, würde es sofort geschehen. Aber sie stellt auch die Kraft der Weisheit zur Verfügung, die zwischen Wunsch und Handlung steht, und lajjA ist diese Weisheit, da sie uns anleitet, Wünsche zu wählen, die angemessen sind, und solche zurückzuweisen, die es nicht sind. LajjA vermittelt also zwischen Wunsch und Handlung, gemäß diesem Namen von DevI, der ein Modell dafür liefert, wie Wunsch, LajjA und Handlung zusammenhängen.

5.6  lajjA in der Literatur kAmAyanI ist ein mahAkAvya oder ein episches Gedicht, das von jayazaGkar prasAd (Prasad, 1936) in Hindi geschrieben wurde. Es besteht aus 15 sargas oder cantos, und lajjA ist der sechste canto des Textes. Die Namen und die Anordnung der Gesänge sind psychologisch bedeutsam, da die männliche Hauptfigur des Epos, Manu, die fünfzehn emotionalen Stadien durchläuft: cintA (oder Angst), AzA (oder Hoffnung), zraddhA (oder Ehrfurcht), kAma (oder Verlangen), vAsanA (oder Lust), lajjA, karma (oder Handlung), IrSyA (oder Eifersucht), iDA (Lob oder Anbetung), svapna (oder Traum), saGgharSa (oder Kampf), nirveda (vairAgya oder Losgelöstsein), darzana (oder Philosophie), rahasya (oder Geheimnis) und Anand (oder Freude). lajjA ist die Emotion, die von zraddhA erlebt wird, die manu heiratet, und wird in erster Linie als weibliche Emotion dargestellt, aber viele ihrer Eigenschaften sind auch auf Männer anwendbar. lajjA erscheint nach dem Canto über kAma (oder Begehren) und vAsanA (oder Lust) und vor karma (oder Handlung) und IrSyA (oder Eifersucht), was an sich bedeutsam ist. Wie bereits erwähnt, ist lajjA ein Leitfaden für Handlungen und wird daher vor karma dargestellt. lajjA wird im sechsten Gesang gegen Ende definiert, aber ihre Eigenschaften oder Attribute werden gleich zu Beginn des Gesangs vorgestellt. Im sechsten Gesang werden 32 Attribute von lajjA vorgestellt, und eine formale Definition wird am Ende mit poetischer Schönheit präsentiert. Der Dichter stellt diese Eigenschaften als einen Dialog zwischen zraddhA, der ersten Frau von manu, und einer imaginären Figur, lajjA, dar, die ihren emotionalen Zustand zu diesem Zeitpunkt in ihrem

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Leben einfängt. manu hat zraddhA gerade einen Heiratsantrag gemacht und sie hat akzeptiert, eine eheliche Beziehung mit ihm einzugehen. In gewisser Weise ist dieser Gesang ein Monolog von zraddhA, denn sie spricht mit der imaginären Figur von lajjA. Sie beginnt damit, lajjA zu fragen, wer sie ist, aber in ihren Fragen stellt sie 15 Eigenschaften vor, die lajjA charakterisieren und die ihre eigenen Emotionen oder Gefühle einfangen. (1) LajjA ist zart, wie eine Knospe, die sich in ihren zarten neuen Blütenblättern versteckt, oder eine Lampe, die gerade in der Dämmerung angezündet wurde und durch den Staubschleier gesehen wird, den die Hufe der Kühe aufgewirbelt haben, die am Ende des Tages nach Hause kommen (komal kisalaya ke aJcal meM nanhIM kalikA jyoM chipatI-sI, godhUlI ke dhUmil paTa meM dIpak ke svar meM dipatI-sI). Wenn eine Person, gewöhnlich eine Frau, lajjA erfährt, (2) legt sie ihren Finger auf ihre Lippen (vaise hI mAyA se lipaTI adharoM par uGgali dhare huye), (3) sie hält ihren Kopf gesenkt (sir nIcA kar ho gUMtha rahI mAlA jisase madhu dhAra Dhare), (4) ihr Körper wird weich und geschmeidig wie schmelzendes Wachs (sab aGga moma se banate haiM, komalatA meM bal khAti huM), (5) ein fließendes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht (smit ban jAtI hai taral haMsI), (6) ihre Augen strahlen vor Verspieltheit (nayanoM meM bhara kar bAMkapanA), (7) sie zögert, etwas zu berühren (chUne meM hicak), (8) ihre Augenlider sind gesenkt und verdecken die Augen beim Schauen (dekhane meM palakeM AMkhoM par jhukatI haiM), (9) ihre Gedanken gefrieren spöttisch auf den Lippen (d.  h.e., sie werden nicht ausgedrückt) (parihAs bharI gUMjeM adharoM tak sahasA rukatI haiM), (10) sie antwortet in Gemurmel oder ihre Stimme ist kaum hörbar (chAyA pratimA gungunA uThI, zraddhA kA uttar detI-sI), (11) ihre Wangen sind gerötet (lAlI bana saral kapoloM meM), (12) sie fühlt sich wie ein Schmuckstück oder die Wimperntusche in ihren Augen (AMkhoM meM aJjan sI lagatI), (13) ihre Ohren färben sich rot (maiM vah halakI sI masalan hUM jo banatI kanoM kI lAlI), (14) sie fühlt, dass sie sich wie ein mit Früchten beladener Baumzweig biegt (jhuka jAtI hai man kI DAlI apanI phalabharatA ke Dar meM), und (15) sie fühlt sich, als würde sie innerlich schrumpfen (maiM simaTa rahI sI apane meM parihAs gIta sun pAtI hUM). Diese 14 Attribute sind psycho-somatische Ausdrücke der Emotion lajjA und wären anregend für eine Untersuchung, welche Verhaltenseinstellungen sie in Indien und anderen Kulturen hervorrufen. Diese Emotionen treten am Anfang einer Beziehung in einer arrangierten Ehe auf, wenn das Paar eine eheliche Beziehung eingegangen ist, sich aber überhaupt nicht kennt. Dann antwortet lajjA auf zraddhA und stellt sich selbst vor. lajjA (16) ist eine Zurückhaltung, die sagt: „Halte inne, denke über die Handlung nach, die du auszuführen gedenkst (maiM ek pakaD hUM jo kahatI Thaharo kuch soMca vicAra karo);“(17) ist der Blitz der Besonnenheit, der die Manas besänftigt (vaha kauMdha kI jis se aMtar kI zItalatA ThanDhak pAtI ho); (18) lehrt den Wert der Würde (maiM zAlInatA sikhAtI hUM); (19) erinnert einen sanft an das bevorstehende Straucheln (Thokar jo lagane wAlI hai usko dhIre se samajhAtI); (20) lehrt den Wert von Ehre und Keuschheit (gaurava mahimA hUM sikhalati); und (21) schützt die unbeständige und jugendliche Schönheit (caJcal kizore sundaratA kI maiM karatI rahatI rakhawAlI). Diese Definitionen von lajjA stimmen mit den Definitionen

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überein, die in den vorangegangenen Abschnitten des bhagavadgItA und des durgAsaptazatI diskutiert wurden, und sind kulturelle Ausdrücke dafür, wie lajjA eine Person durch angemessenes und unangemessenes Verhalten leitet. lajjA ist (22) über zRGgAra oder Verzierung, und kann sowohl äußerlich als auch innerlich sein (pulkit kadaMva kI mAlA-sI pahanA detI ho antar meM – wie eine Girlande, die in den manas getragen wird), (23) eine Erfahrung, von jemand anderem kontrolliert zu werden (tum kaun! hRdaya kI paravazatA?), (24) eine, die die im Leben blühenden Blumen der Unabhängigkeit abzupft (sArI svatantratA chIna rahI, svachanda suman jo khila rahe jIvan-vana se ho bIna rahI!), (25) vergleichbar mit der Röte der Dämmerung (sadhyA kI lAlI meM haMsatI, usakA hI Azraya letI-­sI), (26) gekennzeichnet durch Unschuld, (27) ein Verlangen, etwas zu tun (bholA suhAg iThalAtA ho aisA ho jisame hariyAlI), (28) die Trägerin der Spontaneität der Jugend (maiM usa capal kI dhAtrI hUM), (29) die Personifizierung der Venus26 (maiM rati kI pratikRti lajjA hUM), (30) hilflos ohne ihre eigenen Pfeile (maiM deva-sRSTi kI rati-rAnI nija paJcabANa se vaMcit ho), (31) nicht zufrieden mit ihrer vergangenen Erfahrung (avazISTa raha gaI anubhava meM apanI atIta asaphalatA-­sI, lIlA vilAs kI kheda-bharI avasAdamyI zrama-dalitA-sI), und (32) wie ein Fußkettchen an den Füßen einer jungen Frau, denn der Klang des Fußkettchens warnt davor, dass jemand kommt (matawAlI sundaratA paga meM nUpur sI lipat manAtI hUM). Diese 12 Attribute, zu denen auch das allererste Attribut gehört, das am Anfang vorgestellt wurde, sind literarische Ausdrücke von lajjA und können wahrscheinlich bei der Analyse von Scham in Literaturen verschiedener Kulturen nützlich sein. lajjA kommt auch in anderen Cantos von kAmAyanI vor, aber ihre Bedeutung wird in diesem Canto ziemlich gesättigt, vor allem weil 47 Verse verwendet werden, um die 32 Attribute darzustellen. Diese 32 Verwendungen konvergieren nicht nur in der Grundbedeutung von lajjA als Vorwarnung vor der Nichterfüllung angemessener Verhaltensweisen und der Ausführung unangemessener Verhaltensweisen, sondern stellen auch viele andere physische und psychologische Attribute von lajjA vor und liefern so eine dichte Beschreibung des Konstrukts. Ein Blick auf andere Texte, z. B. Tulsis mAnas (oder rAmAyana), fügte keine neue Bedeutung des Konstrukts hinzu und wird daher hier nicht erwähnt.

5.7  lajjA im täglichen Gebrauch Es gibt einige gebräuchliche Ausdrücke oder Sprichwörter, die in Hindi verwendet werden und die lajjA oder zarm in alltäglichen Gesprächen einfangen. Die folgenden Beispiele sollen dies verdeutlichen: (1) Ein Erwachsener kann zu einem Jugend rati, die Frau von kAmadeva, dem Gott der Liebe im Hinduismus, symbolisiert Schönheit, Anmut, Fruchtbarkeit und andere weibliche Qualitäten. rati ist vergleichbar mit Venus, der römischen Göttin, zu deren Funktionen sexuelle Liebe und Begierde gehören, mit dem Unterschied, dass rati in Partnerschaft mit ihrem Mann arbeitet und nicht allein. 26

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lichen, der oder die ständig etwas nicht schafft, was die Familie in Verlegenheit bringt, sagen: „cullu bhar pAnI me dUba maro“ (ertränke dich im Wasser in deiner schalenförmigen Hand, was bedeutet, dass die Person sich schämen sollte). Dies ist identisch mit dem, was kRSNa zu Arjuna sagt: „Schande ist schlimmer als der Tod für edle Menschen“ in Vers 2.34 in der bhagavadgItA (siehe Fußnote 18). In der indischen Kultur wird Peinlichkeit um jeden Preis vermieden. Dies ist verwandt mit dem Konzept des Gesichts und der Gesichtswahrung, das auch in anderen kollektivistischen Kulturen wie in China und Japan zu finden ist. Wenn es jemandem zutiefst peinlich ist, etwas nicht getan zu haben oder etwas zu tun, was nicht hätte getan werden sollen, wird der Ausdruck zarma se pAnI-pAnI ho gayA/gayI verwendet. Die Zielperson ist so beschämt, dass sie sich am liebsten vor allen verstecken würde. Diese Situation ist weniger schwerwiegend als die vorherige, in der eine Person sich so sehr schämt, dass sie das Gefühl hat, das Leben zu beenden sei der einzige Ausweg. Eltern oder Vorgesetzte können die Redewendung „zarma nahiM AtI hai?“ als Frage verwenden (Schämst du dich nicht?), was bedeutet, dass die Person sich für ihre Tat schämen sollte. Wenn ein Kind oft mehr als seinen Anteil am Essen nimmt, können die Eltern diesen Ausdruck verwenden, um es zu tadeln. Wenn ein*e Arbeitnehmer*in oft zu spät zur Arbeit kommt oder die zugewiesenen Aufgaben nicht erledigt, kann er oder sie vondem/der Vorgesetzten in dieser Weisegetadelt werden. Wenn Erwachsene über das wiederholte Verhalten ihrer Kinder verärgert sind, das ihnen Probleme bereitet, schreien sie vielleicht: „are bezarma, kuch to zarma karo!“ Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher immer wieder etwas tut, das den Eltern Probleme oder Peinlichkeiten bereitet, dann sagen sie vielleicht: „is nAlAlyak ne to hame kahiM mUha dikhAne ke lAyak nahiM rakkhA hai!“ (Ihretwegen/Seinetwegen können wir anderen nicht unser Gesicht zeigen). Die Eltern eines solchen Kindes sind so verlegen, dass sie es vermeiden, zu gesellschaftlichen Veranstaltungen zu gehen. Wenn jemand in einer Gruppe etwas sagt, das unangemessen ist, dann schweigt er oder sie eine Zeit lang, um die Peinlichkeit zu kompensieren, und die Redewendung jheMpa gayA/gayI (oder der ganze Satz, vah/maiM jheMpa gayA/ gayI) wird genutzt, um die Situation der Person zu beschreiben. Einige Redewendungen sind romantischen Situationen oder weniger ernsten Situationen vorbehalten. Ein frisch verheiratetes Paar scheut sich vielleicht, vor anderen Menschen etwas für seine*n Ehepartner*in zu tun. Und wenn sie von anderen dabei gesehen werden, fühlen sie sich vielleicht schüchtern, und andere würden sagen: „aur vo zarmA gayA/gayI“ (und sie oder er hat sich geschämt). Es kann sein, dass eine Person ihr Gesicht einigen Leuten nicht zeigt, und dann wird die Redewendung „zarmA ke muMha chupA liyA“ (er oder sie hat sein oder ihr Gesicht aus Schüchternheit versteckt) verwendet. In einer ähnlichen Situation kann eine Person auch einfach den Blick senken: „zarmA ke AmkheM nichi kar lI“ (aus Schüchternheit senkte er oder sie den Blick). Manchmal kratzen Menschen, die sich schüchtern fühlen, mit den Zehen am Boden (paira ke uGgaliyoM se dharatI kuredane lagA/lagI). Ein weiteres Wort, das verwendet wird, um lajjA zu beschreiben, ist lihAz, was einen kulturell inspirierten Ausdruck beschreibt, der Respekt und Ehrerbietung aus-

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drückt. Normalerweise erweisen jüngere Menschen den Älteren Respekt. Ein Sohn darf vor seinem Vater nicht rauchen; eine Frau darf vor ihren Schwiegereltern im ländlichen Indien nicht mit ihrem Mann sprechen; ein*e Schüler*in darf den/die Lehrer*in nicht auf einen Fehler hinweisen; und ein Dienstleister darf Kund*innen nicht durch den Hinweis auf einen Fehler beschämen; alles aus Respekt vor der/den Person(en). Dies sind einige der Beispiele für lihAz im täglichen Umgang miteinander. Alle Ideen, die in der BhagavadgItA, der DurgAsaptazatI und der KAmAyanI enthalten sind, und alle Verhaltensweisen, die in diesen Texten genannt werden, finden sich auch heute noch im täglichen Verhalten und in der Kommunikation wieder. Daher ist das Konstrukt der lajjA in Indien immer noch nützlich und relevant.

5.8  hayA Im UrdU wird lajjA mit zarma oder hayA übersetzt, deren Antonyme bezarma oder behayA sind, was zeigt, dass das Konzept nicht nur die Sprachen, sondern auch die religiösen Überzeugungen sowohl der Hindus als auch der Muslim*innen in Südasien überspannt. hayA stammt aus dem Arabischen und ist in seiner Bedeutung mit lajjA identisch. al-hayyee ist einer der vielen Namen von allAh.27 Dieser Name wird im Koran nicht erwähnt, aber der Prophet stellt ihn in einer seiner Erzählungen vor – allAh ist al-haleem oder nachsichtig, al-hayyee oder schüchtern und al-sitteer oder bedeckt.28 allAh ist vollkommen und in seiner Vollkommenheit ist er bescheiden oder schüchtern. Er ist die Güte in Person und stellt das Fehlverhalten seiner Anhänger*innen nicht bloß, damit sie ihr Gesicht nicht verlieren. Stattdessen will er, dass sie sich durch Reue korrigieren; und wahre Reue bedeutet, die Tat nicht zu wiederholen. Er vergibt großzügig die Übertretungen der Gläubigen.29 Der Pro sAhih al-bukhari ist der Hadith, der von ImAm muhammad al-bukhari (870 n. Chr.) zusammengestellt wurde. Sie gilt als authentische Sammlung von Berichten über die Sunna des Propheten Muhammad. Sie enthält etwa 7500 Hadithe in 97 Büchern. Viele der Hadithe wiederholen sich in der gesamten Sammlung. In diesem Abschnitt wird die Übersetzung von Dr. M. Muhsin Khan verwendet. Sie ist online verfügbar unter: http://sunnah.com/bukhari. 28  Als der Gesandte Allahs einen Mann sah, der an einem offenen Ort Ghusl (oder Bad) verrichtete, pries und verherrlichte er Allah, dann sagte er: „AllAh, der Mächtige und Erhabene, ist al-haleem oder nachsichtig, al-hayyee oder bescheiden und al-sitteer oder verhüllend, und Er liebt Bescheidenheit und Verhüllung. Wenn jemand von euch ghusl verrichtet, soll er sich verbergen.“ [sunAn an-nasa’i 406]. 29  Der Prophet sagte: „Allāh wird am Tag der Auferstehung die Mängel (Fehler) desjenigen ­bedecken, der die Fehler der anderen in dieser Welt bedeckt. [Buch 1, Hadith 240]. Der Prophet (s.a.w.s) sagte: „Wer einen Gläubigen von einer seiner Schwierigkeiten im Diesseits befreit, dem wird ALLAH am Tag der Auferstehung eine seiner Sorgen nehmen; und wer einem Bedrängten ­Erleichterung verschafft, dem wird ALLAH am Tag der Auferstehung die Dinge leicht machen; wer (die Fehler und Sünden) anderer zudeckt, dem wird ALLAH (seine Fehler und Sünden) im Diesseits und im Jenseits zudecken. Allāh unterstützt seinen Sklaven, solange der Sklave seinem Bruder beisteht; und wer den Weg auf der Suche nach Wissen beschreitet, dem macht Allāh diesen 27

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phet sagte: „Wahrlich, AllAh ist hayyee, großzügig, und wenn ein Mensch seine Hände zu Ihm erhebt, ist Er zu schüchtern, sie ihm leer und verworfen zurückzugeben (jami` at-tirmidhi 3556).“ Das bedeutet, dass wir so großzügig sein sollten, wie AllAh beim Geben ist. Und wenn wir es nicht sind, dann sollten hayA oder lajjA unser Verhalten sanft korrigieren. Es gibt viele Aussagen und Anweisungen, die dem Propheten Mohammad in den Hadithen zugeschrieben werden und die die Bedeutung und Praxis von hayA beleuchten. Im Folgenden wird eine Handvoll von ihnen vorgestellt, um einen Sinn für das Konstrukt zu entwickeln. Der Gesandte Allahs sagte: • „Betet ALLAH allein an und setzt Ihm nichts zur Seite; und gebt alles auf, was eure Vorfahren gesagt haben. Verrichtet SalAt (Gebete), sprecht die Wahrheit, beachtet HayA, und stärkt die Bande der Verwandtschaft.“ [Buch 1, Hadith 56] • „Du hast zwei Eigenschaften, die allAh mag: Duldsamkeit und hayA.“ [Bd. 5, Buch 37, Hadith 4188] • „Wann immer hayA in einer Sache vorhanden ist, schmückt es sie. Wann immer in einer Sache Abscheulichkeit ist, entwürdigt sie sie. al-fuhsh (Obszönität) ist in nichts vorhanden, ohne es zu verderben, und al-hayA ist in nichts vorhanden, ohne es zu verschönern.“ [al-adab al-mufrad 601] • „al-hayA bringt nichts außer dem Guten.“ [Buch 2, Hadith 2] • „Jede Religion hat ihr besonderes Merkmal, und das besondere Merkmal des Islam ist hayA.“ [Band 5, Buch 37, Hadith 4181] • „al-hayA’ und al-’iy sind zwei Zweige des Glaubens, und al-badha und al-bayan sind zwei Zweige der Heuchelei.“ [jami` at-tirmidhi 2027] • „Wenn das Essen serviert wird, soll der Mensch nicht aufstehen, bis es weggenommen wird, und er soll seine Hand nicht wegnehmen, auch wenn er satt ist, bis die Leute aufgegessen haben. Und er soll weiter essen. Denn es kann sein, dass ein Mann seinen Gefährten schüchtern macht und ihn veranlasst, seine Hand zurückzuhalten, und vielleicht hat er ein Bedürfnis nach dem Essen.“ [Bd. 4, Buch 29, Hadith 3295] • „O ihr jungen Leute! Wer von euch heiraten kann, soll heiraten, denn es hilft ihm, seinen Blick zu senken und seine Scham zu bewahren (d.  h. seine Geschlechtsteile vor unerlaubtem Geschlechtsverkehr usw.), und wer nicht heiraten kann, soll fasten, denn das Fasten vermindert seine sexuelle Kraft.“ (sahih al-bukhari 5066) • „hayA und Vertrauenswürdigkeit werden die ersten sein, die diese Welt verlassen; deshalb bitte AllAh immer wieder um sie.“ (baihaqi). • „Einer der Sprüche der frühen Propheten, den die Menschen erhalten haben, lautet: Wenn du dich nicht schämst, tue, was du willst.“ (Siehe Hadith Nr. 690, 691, Band 4) [sahih al-bukhari 6120; Buch 78, Kap. 78] Weg leicht, der ihn nach Dschannah führt; Die Leute, die sich in einem der Häuser Allāhs versammeln und das Buch Allāhs rezitieren, es lernen und lehren, auf sie senkt sich Ruhe herab, und Barmherzigkeit bedeckt sie, die Engel scharen sich um sie, und Allāh erwähnt sie in der Gegenwart derer, die Ihm nahe sind; und wer in der Ausführung guter Taten zurückbleibt, dessen edles Geschlecht wird ihn nicht vorwärtskommen lassen.“ [Buch 1, Hadith 245].

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hayA kann in drei Arten eingeteilt werden – spirituell (bezieht sich auf unsere Beziehung zu allAh), sozial (bezieht sich auf unsere Beziehung zu anderen Menschen) und reflexiv oder persönlich (bezieht sich auf Selbstbeobachtungen). Wir sollten uns vor allem hüten, was AllAh missfallen würde, einschließlich der Nichtbefolgung der im Koran30 gegebenen Anweisungen und dem, was im Koran verboten ist.31 hayA hält einen von Sünden fern. hayA ist Glaube“.32 Dieser Gedanke ist ähnlich wie das Befolgen der zAstras, die oben erörtert wurden. Das soziale hayA leitet uns an, uns gegenüber unseren Eltern, Lehrer*innen und anderen Verwandten angemessen zu verhalten. Das reflexive hayA macht uns sensibel für jede Handlung, die wir tun, und wir sind sind gehalten stets zu reflektieren, ob unser Verhalten angemessen ist, sowohl gegenüber dem, was allAh von uns erwartet, als auch gegenüber dem, was unsere sozialen Rollen von uns verlangen. Jeder Fehltritt wird vom Selbst bemerkt, selbst wenn er als Gedanke auftaucht, und wird vermieden. Dies wird als die höchste Stufe von imAn oder Charakter angesehen. Auch dies ähnelt der Idee von lajjA, die oben besprochen wurde.

5.9 Diskussion Die beiden Texte, bhagavadgItA und durgA saptazatI, stimmen in vielen Ideen bezüglich lajjA überein. In beiden Texten wird lajjA als ein reflektierender Selbstbewertungsprozess dargestellt, der die Menschen dazu anleitet, dem von den zAstras oder Schriften aufgezeigten Weg zu folgen. lajjA ist eine Tugend, die in edlen Menschen von Natur aus vorhanden ist, und daher ist sie etwas, das kultiviert werden kann und sollte. Sie wird in der Konstellation der Tugenden vorgestellt, die in beiden Texten als sAttvik vrittis oder positive Neigungen betrachtet werden, und  „Sprich zu den gläubigen Männern, daß sie ihren Blick senken und ihre Sittsamkeit bewahren sollen. Das wird ihnen größere Reinheit verschaffen; und Allah weiß wohl, was sie tun. Und sprich zu den gläubigen Frauen, daß sie ihren Blick senken und ihre Bescheidenheit bewahren sollen, daß sie ihre Schönheit und ihren Schmuck nicht zur Schau stellen sollen, außer dem, was davon zu sehen ist, und daß sie ihre Schleier über ihren Busen ziehen und ihre Schönheit nicht zur Schau stellen sollen …….“ (qur’an nUr, 30–31). 31  Abdullah bin Mas’Ud überlieferte, dass der Gesandte Allahs (s.a.w.) sagte: „Habt Haya’ für AllAh, wie es Ihm gebührt.“ Wir sagten: „O Prophet AllAhs, wir haben haya’, und alles Lob gebührt AllAh.“ Er sagte: „Nicht das, sondern das hayA für allAh zu haben, was Ihm gebührt, bedeutet, den Kopf und das, was er enthält, zu schützen, und das Innere und das, was es enthält, zu schützen, und sich an den Tod und die Prüfung zu erinnern, und wer das Jenseits beabsichtigt, der läßt die Zierden der Welt zurück. Wer das also tut, der hat in der Tat hayA erfüllt, das heißt das hayA, das allAh gebührt.“ [Bd. 4, Buch 11, Hadith 2458]. 32  Der Prophet sagte: „Der Glaube hat siebzig ungerade Zweige und die Bescheidenheit (al-hayA) ist ein Zweig des Glaubens.“ [sunan an-nasa’i 5004, 5006] Der Prophet ging an einem Mann vorbei, der seinen Bruder bezüglich hayA ermahnte und sagte: „Du bist sehr schüchtern, und ich fürchte, das könnte dir schaden.“ Daraufhin sagte der Gesandte Allahs: „Lass ihn, denn hayA ist (ein Teil) des Glaubens.“ [sahih al-bukhari 6118]. 30

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b­ eschreibt eine wichtige Tugend. Das Praktizieren einer der Tugenden kann zum Erwerb aller Tugenden führen, und lajjA scheint die grundlegendste Tugend zu sein, da sie dazu benutzt werden kann, sich selbst zu testen, ob eigene Fortschritte bei der Kultivierung anderer Tugenden erzielt werden. Somit ist lajjA eher ein positives als ein negatives psychologisches Konstrukt. Sie sollte eher kultiviert als vermieden werden, da sie unser Verhalten in eiene edle Richtung lenkt. lajjA wird als automatischer Bestandteil von Wahrnehmung verstanden und schränkt das Ausführen von Handlungen ein, die von den Schriften als unangemessen angesehen werden. Mit anderen Worten, lajjA ist die innere Richtschnur, die von den Schriften und der kulturellen Norm der Angemessenheit geprägt ist und eine Person dazu bringt, unangemessene Aktivitäten zu vermeiden. In jeder Lebensphase gibt es einige Aktivitäten, die ausgeführt werden sollten, und andere, die zu vermeiden sind, und lajjA ist der innere Kompass, der eine Person nicht nur dazu anleitet, nicht zu tun, was unangemessen ist, sondern auch, was angemessen ist. Sollte ein Mensch also geneigt sein, Opfer, Wohltätigkeit, Entbehrungen oder Handlungen zu vernachlässigen, oder sich zu faul fühlen, sie auszuführen, dann motiviert lajjA eine Person dazu, dies nicht zu tun, und sie wird daran gehindert, ihrePflichten zu vernachlässigen. Mit anderen Worten, lajjA vermittelt zwischen Wunsch und Handlung und ist die Weisheit, die uns dazu anleitet, Wünsche zu wählen, die angemessen sind, und solche abzulehnen, die nicht angemessen sind. lajjA ist äußerlich, da die Menschen in der Familie und in der Gesellschaft darüber sozialisiert werden, welche Art von Verhalten soziale Zensur oder lajjA erfordert, und so äußere Maßstäbe dafür liefern, was angemessen ist und was zu vermeiden ist. lajjA betrifft das Äußere, wenn eine Person sich daran orientiert, was andere sagen würden, wenn sie nicht das tut, was von ihr erwartet wird, und wenn sie das tut, was nicht von ihr erwartet wird. lajjA berührt das Innere, wenn die Person sich nicht gut fühlt, weil sie ein angemessenes Verhalten nicht zeigt, und sich schlecht fühlt, da sie ein unangemessenes Verhalten zeigt. lajjA wirkt also sowohl als interner als auch als externer Präventivmechanismus, der zwischen Wunsch und Handlung vermittelt. lajjA berührt auch Verhaltensmerkmale, die in der Literatur ausführlich beschrieben und im oben vorgestellten kAmAyanI festgehalten wurden. Diese Marker waren in der bhagavadgItA und der durgA saptazatI nicht vorhanden. Es handelt sich also um einen einzigartigen Beitrag von kAmAyanI und seinem Autor jayazaGkar prasAd, der den Wert der Multi-Methoden-Forschung zeigt. lajjA wird mit dem Zögern einer Person beim Sprechen, Berühren oder direkten Anschauen der Zielperson in Verbindung gebracht. Es wird auch damit assoziiert, dass er/sie den Kopf und die Augen nach unten bewegt. Es verursacht Rötungen der Wangen und Ohren. Es geht damit einher, dass die Person andere meidet und wenig oder gar keinen Raum einnimmt, d. h. er/sie neigt dazu, sich zu verbeugen oder von der Zielperson wegzulaufen, um ihr nicht gegenüberzustehen. Diese Verhaltensmarker können als Folgen von lajjA verwendet werden, und indem einer Stichprobe von Menschen Verhaltensweisen vorgestellt werden, können die kontextuellen Voraussetzungen von lajjA empirisch bestimmt werden. Aus kAmAyanI und allgemeinem kulturellen Wissen wissen wir, dass lajjA zwischen Paaren erlebt wird, wenn sie sich neu

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kennen lernen oder heiraten. Dies könnte kulturübergreifend weiter untersucht werden, um so eine Grundlage für eine sinnvolle kulturübergreifende Forschung über lajjA zu schaffen. Aus der Sicht der Praktizierenden können diese Verhaltensmarker als Signale verwendet werden, um zu erkennen, dass ein Mensch lajjA erlebt, und dann kann eine Person entweder so handeln, dass sie sich darauf einlässt oder dagegen entscheidet. Daher können diese Marker in der Beratung von Menschen genutzt werden, z. B. für Menschen, deren soziale Interaktionen unter übermäßigem lajjA leiden. Es kann auch andere Anwendungen von lajjA geben. Zum Beispiel kann eine Führungskraft (Sinha, 1980) lajjA in einem/einer Mitarbeiter*in wecken, der/die nicht die beste Leistung erbringt, und da lajjA ein innerer Kompass oder Steuerungsmechanismus ist, wird diese Person in der Lage sein, sich in Zukunft selbst zu steuern, indem sie die eigene Leistung im Auge behält. Ein*e gute Vorgesetzte*r ist wahrscheinlich in der Lage, lajjA effektiv einzusetzen, da sie/er hat sich selbst eine hohe moralische Position verschafft, indem sie/er in das Wohlergehen der Mitarbeitenden investiert, sowohl bei der Arbeit als auch im sozialen Umfeld. lajjA kann auch als Werkzeug zur Verhaltenskorrektur und zur Entwicklung ethischen Verhaltens am Arbeitsplatz eingesetzt werden. Da lajjA mit zAstra oder Schriften in Verbindung gebracht wird, könnten die in Berufsverbänden und Organisationen geltenden ethischen Verhaltenskodizes als „neue Schriften“ für berufliches und organisatorisches Verhalten genutzt werden, und lajjA kann in Menschen geweckt werden, wenn die Kodizes nicht angewendet werden. So kann lajjA zu einem Werkzeug oder Mechanismus werden, um ethische Verhaltensweisen in Organisationen zu formen. In Anbetracht dieser Beobachtungen ist klar, dass lajjA in sozialen und organisatorischen Kontexten viele Anwendungsmöglcihkeiten impliziert, und diese Möglichkeiten für neuartige Anwendungen von lajjA können eine reiche Basis für innovative zukünftige Forschung bieten. LajjA als die Tendenz, selbstdiszipliniert und pflichtbewusst zu handeln, ähnelt der Gewissenhaftigkeit, einem der Big-Five-Persönlichkeitsfaktoren (McCrae & John, 1992). Es könnten verschiedene Szenarien entwickelt werden, um herauszufinden, ob die Menschen Gewissenhaftigkeit oder LajjA als das leitende Gefühl betrachten, um in diesen Situationen angemessen zu handeln. Ein Vergleich dieser Konstrukte könnte die kulturübergreifende Literatur zur Persönlichkeit bereichern. Da lajjA mit unserem Gewissen oder dem Über-Ich im Sinne Freuds (Freud & Bonaparte, 1954) vergleichbar ist, wäre es auch interessant, diese beiden Konstrukte sowohl qualitativ als auch quantitativ zu vergleichen. Diese neuen Forschungsansätze können unser Verständnis von lajjA und den damit verbundenen Konstrukten in anderen Kulturen bereichern. Die Entwicklung des indigenen Konstrukts der LajjA zeigt, dass es möglich ist, ein in der Kultur verankertes Konzept zu entwickeln, indem einn ein systematisches Verfahren genutzt wird, wie es in dieser Arbeit zum Einsatz kommt. Diese Arbeit leistet somit in zweierlei Hinsicht einen Beitrag zur Literatur: erstens durch die Vorstellung einer Methodik, die zur Entwicklung indigener Konstrukte verwendet werden kann, und zweitens durch den Nachweis, dass die Entwicklung indigener Kon­

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strukte möglich ist und dafür ein Bedarf besteht. Sie liefert eine Grundlage und eine tiefere kulturelle Erklärung für die Arbeit anderer Forscher*innen (Menon & Shweder, 1994), die herausgefunden haben, dass Scham mit einem erhöhten Bewusstsein verbunden ist und als gesunde Emotion und als Gegenmittel zu Wut (oder vielen anderen negativen Emotionen) angesehen wird. Die Anwendung eines methodenübergreifenden Ansatzes hat zu einer umfassenden Beschreibung des Konzepts geführt und gezeigt, dass lajjA sowohl intern als auch extern ist und Schuld und Scham zusammenfasst, die in der westlichen Literatur als unterschiedliche und sich nicht überschneidende Konstrukte betrachtet werden (Lewis, 1971; Tracy & Robins, 2006). Darüber hinaus wird lajjA als eine Tugend angesehen, die das menschliche Verhalten leitet, und nicht als ein negatives Konstrukt, wie es in der westlichen Literatur zu finden ist. Der Glaube, dass es Schuld- und Schamkulturen gibt, muss angesichts der indigenen Ideen, die sich aus diesem Papier ergeben, überdacht, wenn nicht gar begraben werden. Es ist klar, dass „Schuld- und Schamkulturen“ westliche soziale Konstruktionen sind, die für die große Bevölkerung Südasiens, des Nahen Ostens und vieler anderer kultureller Regionen der Welt nicht von Nutzen sein können. Obwohl Scham und Schuld in der westlichen Psychologie eng miteinander verbunden sind, werden lajjA und doSa in der indischen Weltanschauung nicht miteinander in Verbindung gebracht, wie in allen Abschnitten dieses Kapitels nachvollzohen werden kann. lajjA ist das Attribut von devI und hayA ist das Attribut von allAh, und daher sind sie insofern ähnlich, als sie Attribute des Göttlichen sind. Da devI lajja personifiziert und von doSa oder Schuld ausgenommen ist, sind lajjA und doSa, Scham bzw. Schuld, in der indischen Weltanschauung unterschiedliche Kon­ strukte. doSa bezieht sich auf „Fehler, Laster, Mangel, Not, Unannehmlichkeit oder Nachteil“. Es bedeutet auch Schlechtigkeit, Bösartigkeit, Sündhaftigkeit, Vergehen, Übertretung, Schuld, Verbrechen, Schaden, schlechte Folge, nachteilige Auswirkung, Anschuldigung, Affekt, krankhaftes Element oder Krankheit. Schuld ist eines der Wörter, die zur Übersetzung von doSa verwendet werden. doSa kommt im Ayurveda häufig vor, und die drei doSas sind: Pitta, vAyu oder vAta und zleSman oder kapha, die sich jeweils auf gallige Stimmung oder Hitze, windige Stimmung und Schleim oder Feuchtigkeit beziehen. Die Antonyme von doSa sind niraparAdh, anaparAdhin, apApa, niSpApa, akRtadoSa, nirdoSa, anagha, zuddha, pApa-­doSa-­ hIna (oder nicht schuldig, nicht sündig, oder rein). Chambers’s Etymological Dictionary of the English Language (Findlater, 1900) definiert Schuld als „strafbares Verhalten, als den Zustand, ein Gesetz gebrochen zu haben, Verbrechen, eine Zahlung oder Geldstrafe“, die für ein Vergehen zu zahlen ist. Schuldlos bedeutet „frei von Verbrechen oder unschuldig“ zu sein. Es gibt keine Überschneidungen zwischen den Bedeutungen von lajjA und doSa, im Gegensatz zu Scham und Schuld in der westlichen Psychologie. Es ist klar, dass in der westlichen Kultur Scham eine viel engere Bedeutung beigemessen und Schamgefühl mit ernsthafter Selbstzerstörung assoziiert wird. Wie in diesem Beitrag erörtert, werden lajjA, zarm oder hayA nicht als negativ angesehen. lajjA deckt einen viel größeren konzeptionellen Raum für Emotionen ab, vergleichbar

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mit dem, was Keltner und Haidt in ihrem Forschungsprogramm herausgefunden haben (Keltner & Haidt, 1999), und stimmt nicht überein mit den anderen Forschungen zu Scham oder Schuld (Lewis, 1971; Tracy & Robins, 2006). In diesem Beitrag wird hervorgehoben, dass mehr indigene Forschung über Scham notwendig ist, bevor wir kulturübergreifende Vergleiche anstellen können, indem wir einen Rahmen wie den von Shweder (2003) vorgeschlagenen verwenden. Er argumentierte, dass Emotionen oft eine Mischung aus Gefühlen, Wünschen, Überzeugungen und Werten sind, und um komplexe emotionale Konstrukte kulturübergreifend zu analysieren, sollten sie mit multiplen Ansätzen untersucht werden, einschließlich einer „symbolischen“, „kognitiven Bewertung“ oder „bedeutungszentrierten“ Perspektive. Das Kapitel stellte einen Rahmen vor, der sieben Faktoren umfasst, darunter (i) situative Determinanten oder Vorläufer der Emotion, (ii) Merkmale der Selbsteinschätzung, die sich auf die persönliche Identität, die ­ Handlungsfähigkeit, die soziale Stellung und die Selbsteinschätzung der Zielpersonen auswirken, (iii) somatische Phänomenologie oder körperliche Reaktionen auf emotionale Stimuli (siehe die oben dargestellte Liste der Verhaltensmarker von LajjA), (iv) affektive Phänomenologie oder existenzielle Gefühle, (v) positive oder negative soziale Bewertung, (vi) Selbstmanagement und (vii) verbale und nonverbale Kommunikation. Er vertritt die Auffassung, dass ein solches Modell notwendig ist, um Emotionen zwischen verschiedenen Kulturen in einer angemessenen Tiefe zu vergleichen. Dieses Kapitel liefert den notwendigen ersten Schritt, nämlich die Entwicklung eines Konstrukts im indigenen Raum, ohne das alle kulturübergreifenden Vergleiche einem pseudo-etischen Ansatz folgen müssen (Triandis 1994a). Die Konstrukte werden zumeist zum Artefakt eines westlichen Konzeptes, das durch die Übersetzung eines Instruments in viele Sprachen erfasst wird (siehe beispielsweise die von Cheung et al. Cheung et al., 2011 zusammengefasste Persönlichkeitsforschung). Um zu verstehen, wie lajjA die indische Weltanschauung durchdringt, ist es wichtig, einen oft gesungenen Vers aus dem mahAbhArata zu untersuchen. Dieser Vers erscheint gegen Ende des viSNu sahasranAma (Tausend Namen von viSNu, dem Schutzgott) und wird daher von Tausenden von Menschen täglich, wöchentlich, vierzehntägig, monatlich oder ein paar Mal im Jahr gesungen. Der Vers lautet wie folgt: sarvAgamAnAmAcAraH prathamaM parikalpate, AcAraprabhavo dharmo dharmasya prabhuracyutaH (Verhalten oder Benehmen, im Gegensatz zum Intellektualisieren, wird als die Essenz aller Agamas betrachtet, die nyAya zabdakoSa als vedazAstramantrAdi oder vedas, zAstras und mantras definiert wird; Verhalten ist abgeleitet von dharma oder dharma ist die Quelle des Verhaltens; und acyuta, einer, der fest oder unbeweglich ist oder nicht von der Rechtschaffenheit abweicht, was einer der 1000 Namen von viSNu ist, ist der Herr des dharma). Der Vers verbindet Verhalten, zAstra, dharma und viSNu in einer kausalen Verbindung: dharma leitet sich von viSNu ab, dharma ist in zAstras kodiert, und dharma treibt das Verhalten an. In dieser kausalen Verbindung wirkt lajjA zwischen Verhalten und Dharma. Somit ist lajjA in diesem Vers implizit die Verbindung zwischen AcAra (Verhalten) und Dharma. In der indischen Mythologie ist lajjA die Frau von Dharma, dem Gott der Gerechtigkeit (siehe Fußnote 24). Eine Ehefrau ist eine sahacArinI oder eine, die

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immer zusammen mit ihrem Mann reist. Wo immer wir also dharma oder Pflicht finden, werden wir lajjA finden. Mit anderen Worten, dharma und lajjA haben eine hohe positive Korrelation. Wie in der obigen Ausführungen erörtert wurde, erscheint lajjA immer dann, wenn eine Person erwägt, dem dharma nicht zu folgen, um die Person davon abzubringen. Und wann immer eine Person in Erwägung zieht, adharma zu folgen, scheint lajjA die Person davon zu überzeugen, dies nicht zu tun. Da lajjA zart, sanft und eine flüchtige Emotion oder saJcari bhAva ist, ist es ähnlich wie das schwache Band (Granovetter, 1973) zwischen Dharma und Handeln (oder Adharma und Nichthandeln). Die Stärke des Charakters eines Menschen liegt darin, dass er diesem schwachen Band zwischen Wille und Handlung folgt. Wenn dies igno­riert wird, d. h. wenn lajjA ignoriert wird – mit den Worten des Propheten Mohammad: „Wenn ihr euch nicht schämt, tut, was ihr wollt“ -, bewegen wir uns auf Asuri oder böse Aktivitäten und die Schaffung einer unethischen Gesellschaft zu. Der theoretische Beitrag dieses Konstrukts besteht darin, dass lajjA eine tiefe und grundlegende Bedeutung für Granovetters Idee der „Stärke schwacher Bindungen“ liefert, die keinen peripheren Beitrag der indischen Psychologie zur westlichen Literatur darstellt. Wenn man sich die Anweisung des Propheten Mohammad vor Augen hält: „hayA und Vertrauenswürdigkeit werden die ersten sein, die diese Welt verlassen; deshalb bittet AllAh immer wieder um sie“, liegt der Beitrag dieses Kon­ strukts für die Welt der Praxis darin, dass es dringend notwendig ist, lajjA zu kultivieren, und dass alle anderen Tugenden als ein Geschenk dieser schwachen Verbindung zwischen Wunsch und Handlung folgen werden. Danksagung Ich möchte AcArya Satya Chaitanya, den Professoren Jai B. P. Sinha, Anand Paranjpe, Arindam Chakrabarty, Shamsul Khan, Dr. Mrigaya Sinha, Dr. Vijayan P Munusamy, Dr. Om P Sharma, Anand C. Narayanan und Eric Rhodes für ihre aufschlussreichen Kommentare danken, die zur Verbesserung des Papiers beigetragen haben. Ein früherer Entwurf des Kapitels wurde auf dem Internationalen Kongress der International Association for Cross-Cultural Psychology, Nagoya, Japan, 31. Juli bis 3. August 2016, vorgestellt.

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Kapitel 6

Individuelle und organisationale Strategien zur Überwindung von Scham in der südafrikanischen Arbeitswelt Claude-Hélène Mayer und Louise Tonelli

6.1 Einleitung Scham ist ein Konzept, das in den letzten Jahrzehnten an Popularität gewonnen hat, und die Frage von Scham und Kultur wurde in allen psychologischen Teildisziplinen untersucht (Markus & Kitayama, 1995). Scham wurde international in verschiedenen Hochschulkontexten (Qian et al., 2001; Wertenbruch & Röttger-Rössler, 2011), im Hinblick auf Kulturen, Gesellschaften und Nationalitäten (Walker, 2012), Geschlecht (Miller, 2002) und Persönlichkeitsstörungen (Luoma et al., 2008) erforscht. Es wurde jedoch auch darauf verwiesen, dass das Thema Kultur in der Schamforschung oft übersehen wird, obwohl „Scham systemisch ist“ (Bigliani et al. 2013 S. 175) und, dass die Methoden zur Erforschung von Scham sowie die untersuchten Kontexte oft westliche Kulturen sind und daher mehr Forschung in anderen kulturellen Zusammenhängen erforderlich ist (Fessler, 2004).

C.-H. Mayer (*) Department of Industrial Psychology and People Management, University of Johannesburg, Johannesburg, Südafrika L. Tonelli Abteilung für Arbeits- und Organisationspsychologie, Universität von Südafrika (UNISA), Pretoria, Südafrika E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 E. Vanderheiden, C.-H. Mayer (Hrsg.), Der Wert der Scham, https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3_6

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Scham wird als eine destruktive, negative und immobilisierende Emotion beschrieben (Tangney & Dearing, 2002) und von Konzepten wie Schuld (Wong & Tsai, 2007), Verlegenheit und Stolz (Tangney & Fischer, 1995) unterschieden. Poulson II (2000) stellt fest, dass es drei Schlüsselelemente der Scham gibt. Scham als: 1. einen Verstoß gegen eine Rolle oder einen Standard 2. Nichterfüllung der Erwartungen 3. einen Defekt, der nicht einfach repariert werden kann. Diese drei Schlüsselelemente unterscheiden zwischen „normaler Scham“, d. h. den alltäglichen Peinlichkeiten und der Demütigung, die wir bei uns selbst und bezogen auf andere empfinden, also der Ausdruck der ersten beiden besprochenen Schlüsselelemente, und „pathologischer“ Scham, d.  h. dem irrationalen Gefühl, eine Grenze nicht überschritten zu haben, was dem letzten Element von Poulsens Ansatz entspricht. Scham ist jedoch auch aus der Perspektive der Positiven Psychologie (Seligman & Csikszentmihalyi, 2000) und der Resilienz (Tangney & Dearing, 2002) erforscht worden. Schamgefühle scheinen noch lange nach den Episoden anzuhalten, die diese Gefühle ausgelöst haben (Lewis, 2004). Damit Scham entstehen kann, muss ein Individuum offenbar ein Selbstbewusstsein entwickelt haben und über andere kognitive Fähigkeiten verfügen, wie z.  B. evaluative individuelle Standards und Ziele, die zu selbstbewussten evaluativen Emotionen führen, denen Scham zuzuordnen ist (Poulson II, 2000). Scham scheint sich durch einen Prozess des sozialen Lernens zu entwickeln, wobei Scham eindeutig mit zwischenmenschlichen Beziehungen und Bindungen verbunden ist. Die Beschädigung dieser Bindungen kann ein Katalysator für Scham sein (Poulson II, 2000). Scham wird aus kulturspezifischer Sicht (Westerman, 2004) oder aber kultur­ übergreifend (Casimir & Schnegg, 2002) betrachtet. Nach Poulson II (2000) sind die Unterschiede in der Scham zwischen den Kulturen besonders deutlich, wenn westliche und östliche Kulturen verglichen werden, und können auch zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen beobachtet werden. Poulson II (2000) stellt fest, dass Studien über Scham und Geschlecht, insbesondere bei den Beduin*innen des Negev, Scham mit dem Weiblichen und Ehre mit dem Männlichen in Verbindung zu bringen scheinen. Nach Poulson II (2000) scheint es in westlichen Kulturen so zu sein, dass Frauen eher dazu neigen, Scham als Mittel zur Organisation von Informationen über das Selbst mit individualisierten Antworten zu nutzen. Es hat den Anschein, dass Frauen aufgrund von Scham eher Depressionen erleben, während Männer eher zu Wut neigen. Poulson II (2000) postuliert, dass dies auf Gefühle von Machtlosigkeit in der Kindheit zurückgeführt werden kann, die die Grundlage aller Scham bilden. Poulson II (2000) zufolge ist die Kindheit die Wurzel der Scham, in der wir machtlos geboren werden, und sie scheint im Laufe des Lebens zu wachsen. Im Südlichen Afrika und noch mehr an den Arbeitsplätzen oder in den Hochschulen des südlichen Afrikas wird dem Thema Scham wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dieses Kapitel konzentriert sich auf Scham in der Arbeitswelt Südafrikas, insbesondere im Hochschulkontext und auf die in der Literatur über Südafrika identifi-

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zierten Schamthemen. Im Anschluß werden die Forschungsmethodik und die Ergebnisse vorgestellt. Abschließend werden Schlussfolgerungen und Empfehlungen für Theorie und Praxis präsentiert.

6.2 Scham im historischen und zeitgenössischen Kontext Südafrikas In jüngster Zeit mehrten sich die Ereignisse, die im gesellschaftlichen Kontext Südafrikas als beschämend empfunden werden, darunter Betrug (Llewellyn, 2000), die Tötung gefährdeter Wildtiere (Della-Ragione, 2013), die Misshandlung von Haustieren (Mail and Guardian, 2013), kriminelle und politische Vergehen des Präsidenten (Van Susteren, 2015) sowie Mobbing und Viktimisierung in Schulen (Ahmed et al., 2001). Darüber hinaus werden im südafrikanischen Kontext Gewalt, Kriegserfahrungen und Traumata mit Scham in Verbindung gebracht (Baines, 2008; Munusamy, 2015a, b). Nach Munusamy (2015a) ist Südafrika ein „Ort der Scham, der Gewalt und der Trennung“, und Südafrika ist für die hohe Anzahl an Gewaltakten bekannt, die der Autor als beschämend bezeichnet, insbesondere im Hinblick auf die wiederkehrenden Ausbrüche und die Verbreitung fremdenfeindlicher Gewalt im Land. In einem anderen Artikel hebt Munusamy (2015b) einen weiteren beschämenden Vorfall hervor, nämlich das „Marikana-Massaker“, bei dem vierunddreißig Bergleute während eines Streiks im Bergbausektor getötet wurden. Dieses Massaker der südafrikanischen Sicherheitskräfte war das blutigste Ereignis seit dem Ende der Apartheid. Das Konzept der Scham bezieht sich jedoch nicht nur auf die jüngsten gewalttätige Auschreitungen, Fremdenfeindlichkeit und Tötungsdelikte, sondern auch auf die Geschichte des Landes. Baines (2008, S. 221) betont, dass ehemalige Wehrdienstleistende der südafrikanischen Streitkräfte „versucht haben, mit Schuld und Scham umzugehen, indem sie ihre Geschichten erzählten“. Offensichtlich ist Scham für sie mit dem Krieg, der Brutalität, der Viktimisierung und den traumatischen Erfahrungen innerhalb der Defence Force verbunden. Doch kaum eine berichtende Person gibt die „Mitschuld an der Aufrechterhaltung des Apartheidsystems“ zu. (Baines, 2008, S. 222) und viele von ihnen würden gerne die „Scham loswerden, als besiegte Soldaten betrachtet zu werden, die den Krieg verloren haben und damit auf der falschen Seite der Geschichte stehen“ (Baines, 2008, S. 226). Bailey (2011) bezieht sich ebenfalls auf Scham in Südafrika im Zusammenhang mit der jüngsten Geschichte des Landes. Sie verbindet Scham mit Ethnie und Kultur, indem sie auf die Scham der weißen Südafrikaner*innen in Bezug auf die Apartheid Bezug nimmt. Die so genannte „weiße Scham“ ist mit Solidarität, Reue und Verletzlichkeit verbunden und stellt nach Ansicht der Autorin eine angemessene moralische Reaktion auf den historischen Kontext dar. Tessman (2001) betont, dass es für weiße Südafrikaner*innen nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder mit der Scham zu leben (und zu leiden) oder die Scham der Vergangenheit zu ignorieren und weiterzuleben. Der Umgang mit der Scham aufgrund der Vergangenheit würde

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dann zu hybriden neuen „weißen Identitäten“ führen, die nicht auf den Hierarchien von einfachen Kultur- oder Ethnienzuschreibungen, sondern auf heterogenen Identitäten beruhen. Andere Forschungen haben ergeben, dass Scham auch bei der Konstruktion von „farbigen Identitäten“ („Farbige“ werden in Südafrika historisch als „gemischte Rasse“ definiert) und dem schamhaften Umgang mit „farbigen Frauen“ und Khoi-­ Frauen (also Frauen einer bestimmten ethnischen Herkunft) zu finden ist (Wicomb, 1998). Wicomb (1998, S. 91) nennt als Beispiel die schamhafte Behandlung von Saartje Baartman, einer Khoi-Frau, die von 1810 bis 1815 in London und Paris ausgestellt wurde und an deren Körper medizinische Untersuchungen durchgeführt wurden, um die „sexuelle Lüsternheit“ schwarzer Frauen festzustellen. Andere Untersuchungen (Julius, 2004) haben ergeben, dass bei einem Vergleich von Personen aus den unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Gruppen farbige Menschen in Südafrika wenig Scham empfinden: Dies bedeutet, dass Menschen der farbigen ethnischen Gruppen sich im Gegensatz zu anderen ethnischen Gruppen definieren, die Scham bezüglich der Vergangenheit empfinden. Ahmed et al. (2001, S. 13) heben die Tatsache hervor, dass es Nelson Mandela, der sich schämte, weil er zum Terroristen erklärt wurde und fast 27 Jahre seines Lebens inhaftiert war, gelang, seine Scham durch sein individuelles Handeln zu überwinden. Die Autoren meinen (Ahmed et al., 2001, S. 14–15), dass es für Mandela möglich wurde, diese Scham zu überwinden, indem er im Rahmen der Untersuchungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission seine Geschichte erzählte, innere Perspektiven teilte und sich so rehabilitierte. Neben den historisch-politischen Aspekten von Scham und „Rasse“ wird Scham mit Krankheit und Depression in Verbindung gebracht (Brown et al., 2010; Lauer, 2006). Jilek-Aall (1999, S. 382) betont, dass beispielsweise Epilepsie in traditionellen afrikanischen Kulturen (wie in der tansanischen Gesellschaft) „ambivalente Gefühle bei den Zeug*innen“ hervorruft und „eine Atmosphäre der Angst, der Scham und des Mystizismus“ schafft, da sie hauptsächlich als durch Ahnen oder böse Geister verursacht interpretiert wurde. Epilepsie verursacht jedoch nicht nur Scham bei den Zeug*innen, sondern auch bei der Familie und der von Epilepsie betroffenen Person selbst, insbesondere wenn eine Behandlung nicht die gewünschte Wirkung zeigt (Jilek-Aall, 1999). Die Autorinnen vertreten die Auffassung, dass die Aufklärung über Epilepsie dazu beitragen sollte, Scham-, Schuld-, Angst- und Beklemmungsgefühle bei den betroffenen Personen und Familien zu überwinden. HIV/AIDS ist ein Thema, das in afrikanischen Kontexten stark mit Scham verknüpft ist (Lauer, 2006). Durch die Messung AIDS-bezogener Stigmata in Südafrika konnten Kalichman et al. (2005, S. 137) aufzeigen, dass AIDS mit der „Schamhaftigkeit des Verhaltens von Menschen mit AIDS“ korreliert und das AIDS-Stigma generell mit Schamhaftigkeit verknüpft ist. Neben AIDS werden auch Vergewaltigung und häusliche Gewalt mit Scham, Schuldgefühlen und Angst vor Schuldzuweisungen in Verbindung gebracht (WHO, 1999). Im südafrikanischen Kontext haben Jewkes und Abrahams (2002) festgestellt, dass eine große Zahl von Fällen von Vergewaltigung, sexueller Belästigung,

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sexueller Ausbeutung und sexueller Nötigung nicht öffentlich gemeldet wird, was mit den erwähnten Scham- und Schuldgefühlen und der Angst vor Schuldzuweisungen sowie mit anderen sehr komplexen sozioökonomischen Umständen zusammenhängen könnte. Murray (2014) untersuchte die Darstellungen von Scham, Geschlecht und weiblichem Körper in ausgewählten zeitgenössischen südafrikanischen Kurzgeschichten und betont, dass Scham oft mit dem weiblichen Körper assoziiert wird. In ihrer Analyse weist sie darauf hin, dass weibliche Protagonistinnen Objekte der Scham sind, wenn es zum Beispiel um das Stillen geht, das nicht gelingt, oder um die Geburt eines Kindes und nach Mitchell (2012, S. 1), wenn es um die „Verschiebung von Scham auf den weiblichen Körper“ geht. Murray (2014, S.  12) kommt zu dem Schluss, dass südafrikanische Kurzgeschichten die Weiblichkeit von Frauen auf den Kontext der patriarchalischen Gesellschaft reduzieren, indem sie die Körper und die Weiblichkeit von Frauen als solche „als schamhaft“ bezeichnen. Auch Schwangerschaftsabbrüche werden im südafrikanischen Kontext mit Scham- und Schuldgefühlen, mit Weiblichkeit und dem weiblichen Körper assoziiert (Subramaney et al., 2015)

6.3 Scham an südafrikanischen Arbeitsplätzen Nach Poulson II (2000) werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Schamgefühle bei Arbeitnehmer*innen entstehen, wenn die Erwartungen nicht klar an die Mitarbeitenden kommuniziert werden, wenn der „psychologische Vertrag“ (also die ausgesprochenen oder unausgesprochenen Abmachungen zwischen Arbeitnehmer*in und Arbeitgeber*in) verändert oder verletzt wird, oder wenn Ziele für die Arbeitnehmenden ohne deren Einbeziehung vorgegeben werden. Potenzielle Auslöser für Schamreaktionen, die durch organisationale Praktiken und Strategien hervorgerufen werden, sind Kündigungen, nicht erfolgte Beförderungen, negative Leistungsbeurteilungen und Ähnliches (Poulson II, 2000). Informelle organisationale Praktiken können ebenfalls einen großen Einfluss haben, ebenso Verhaltensweisen wie Mobbing, Diskriminierung, Belästigung und Ausgrenzung. Führungspraktiken, die die Macht der Führungskraft und die Ohnmacht des/der Arbeitnehmer*in demonstrieren und verstärken, wie z. B. Abmahnungen und Verweise, können nach Poulson II (2000) dazu führen, dass der/die Einzelne Schamgefühle entwickelt. Selbst wenn Programme darauf abzielen, den Arbeitnehmer*innen am Arbeitsplatz Einflussnahme zuzusichern, können sie doch nicht entsprechend agieren. In Bezug auf den Arbeitskontext hat die skandinavische Forschung darauf hingewiesen, dass Schamerfahrungen häufig aus der Arbeitslosigkeit resultieren (Rantakeisu et  al., 1997). Dementsprechend erleben Langzeitarbeitslose mehr beschämende Situationen als Kurzzeitarbeitslose, und die Schamerfahrungen tragen zu

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den gesundheitlichen Folgen von Arbeitslosigkeit bei. Die Autor*innen fanden he­ raus, dass insbesondere Arbeitslose, die in einem stärker beschämenden Umfeld leben, mehr psychische Störungen aufweisen als andere (Rantakeisu et al., 1997). In der südafrikanischen Arbeitswelt gibt es nur wenige Untersuchungen zum Thema Scham im Arbeitsumfeld. Eine Studie von Sefalafala und Webster (2013) hat jedoch gezeigt, dass Scham am Arbeitsplatz mit Berufen mit niedrigem Status verbunden sein kann. Dies ist der Fall, wenn etwa Sicherheitskräfte einen ­Universitätsabschluss haben und gezwungen sind, für ein geringes Einkommen in der gefährlichen und statusarmen Sicherheitsindustrie zu arbeiten.

6.4 Der südafrikanische Arbeitskontext der Hochschulbildung Das Hochschulwesen hat sich seit dem Ende der Apartheid im Jahr 1994 stark ­verändert (Louw & Mayer, 2008), insbesondere im Hinblick auf Internationalisierungsstrategien sowie auf Veränderungen in der Kultur-, Ethnien- und Geschlechterpolitik. Eine Reihe von Autor*innen (z.  B.  Bitzer & Botha, 2011) hat gezeigt, dass Scham in der Vergangenheit an Hochschulen strukturell dazu genutzt wurde, Menschen afrikanischer Herkunft in Bezug auf ihre Kultur und Sprache zu entmenschlichen. Es besteht Forschungsbedarf bezüglich der diesbezüglichen Erfahrungen von Studierenden und Ausdrucksformen in der Organisationskultur. Die südafrikanischen Universitäten wurden öffentlich als „Universitäten der Scham“ bezeichnet, weil es an den Universitäten im ganzen Land zu rassistischen Vorfällen gekommen ist, die deutlich machen, dass es immer noch einen „allgegenwärtigen Rassismus“ gibt, wie z. B. an der University of the Free State, wo Studierende schwarze Reinigungskräfte zwangen, „zu rennen und Urin zu trinken“ (University World News, 2009). Ein weiteres Thema, das im Zusammenhang mit Hochschuleinrichtungen als beschämend bezeichnet wurde, ist Plagiarismus (Mail and Guardian, 2015). So hob kürzlich der Minister für Hochschul- und Berufsbildung, Blade Nzimande, hervor, dass Plagiate zu den schlimmsten Angriffen auf die Hochschulen gehören und als akademischer Betrug angeprangert werden müssen (Mail and Guardian, 2015). Neben den spezifischen Erscheinungsformen von Scham in Hochschuleinrichtungen werden auch andere Themen, die in der breiten Gesellschaft als beschämend empfunden werden, im Hinblick auf Hochschuleinrichtungen diskutiert: Das Ministerium für Hochschul- und Berufsbildung (2012) hat beispielsweise eine Politik und einen Strategierahmen zu HIV und AIDS für die Hochschulbildung veröffentlicht, um die umfassende und wirksame Reaktion der Hochschulen auf die Pandemie zu stärken und den Hochschulsektor von Stigmatisierung und Diskriminierung im Zusammenhang mit HIV und AIDS zu befreien.

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6.5 Zielsetzung und Forschungsfragen Dieses Kapitel trägt zu einem vertieften Verständnis der Erfahrungen und des Umgangs mit Scham im Arbeitskontext von Hochschullehrenden in Südafrika bei. Es schließt so die Lücke in der spärlichen Literatur über Scham im südafrikanischen Arbeitskontext. Das Ziel dieser Studie war es, sich auf die Schamkonzepte in einem ausgewählten Arbeitsumfeld zu konzentrieren und Scham in einem situativen und kulturellen Kontext aus einer emischen, vertiefenden Perspektive zu verstehen. Dabei sollte ein tieferes Verständnis von Scham als intensivem, emotionalem Konzept am Arbeitsplatz gewonnen werden. Die Studie zielt darauf ab, die kulturspezifischen Verflechtungen von Schamerfahrungen und deren Bewältigung im südafrikanischen Arbeitskontext zu erforschen, um damit einen Beitrag zum internationalen Diskurs über Kultur, Emotionen und Scham zu leisten. Folgende Forschungsfragen standen im Fokus: 1. Wie definiert der/die Einzelne Scham? 2. Welche Situationen werden in dem beschriebenen Kontext als beschämend ­erlebt? 3. Was sind die persönlichen Strategien der betroffenen Person im Umgang mit Scham? 4. Welche Strategien gibt es für den Umgang mit Scham auf organisatorischer Ebene?

6.5.1 Forschungsmethodik Diese qualitative Forschungsstudie über Scham im südafrikanischen Hochschulkontext verfolgt einen explorativen und deskriptiven Ansatz. Sie ist in einer sozialkon­struktivistischen (Berger & Luckmann, 2009) Perspektive angesiedelt, die die grundlegenden Annahmen der Sinnstiftung durch die Integration der Erfahrungen und Überlegungen der Teilnehmenden zum Thema Scham und der theoretischen Vorannahmen und hermeneutischen Linsen (Dilthey, 2011) der Forscher*innen einbezieht. 6.5.1.1 Die Stichprobe Insgesamt nahmen elf Personen an dieser Forschungsstudie teil. Das einzige Auswahlkriterium war, dass die Teilnehmenden zum Zeitpunkt der Befragung an einer Hochschuleinrichtung in Südafrika tätig sein sollten. Alle Teilnehmenden hatten mittlere und höhere Führungspositionen im Hochschulbereich inne, entweder in akademischen oder administrativen Positionen.

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Die Teilnehmer*innen wurden gezielt ausgewählt, da sie im Hinblick auf das Forschungsziel sehr aussagekräftig waren. Die Stichprobe umfasste eine heterogene Gruppe von Männern und Frauen aus vier ethnischen Gruppen, wie im Employment Equity Act (, 1998) definiert, und umfasste vier weiße, zwei farbige, zwei indische und drei afrikanische Teilnehmende. 6.5.1.2 Datenerhebung Die Daten wurden durch halbstrukturierte Interviews und Beobachtungen der Forscherinnen an einer Hochschule erhoben. Die Interviews wurden entweder persönlich oder in schriftlicher Form durchgeführt. Im ersten Fall stellten die Forscherinnen den Teilnehmenden vier Fragen. Die Interviews wurden aufgezeichnet und wortwörtlich transkribiert. Im zweiten Fall wurden die Fragen zu den biografischen Daten und die vier Interviewfragen den Teilnehmer*innen per E-Mail zugesandt, um eine schriftliche Antwort zu erhalten. Bei sieben der Interviews handelte es sich um persönliche Gespräche, während die Antworten auf die anderen vier Interviews in schriftlicher Form eingingen. Mit zwei Teilnehmenden, die sich entschlossen, ihre Antworten schriftlich zu übermitteln, wurde jeweils eine Folgesitzung durchgeführt, um über die entsprechenden Aussagen zu sprechen und sie auf einer tieferen Ebene zu untersuchen. Die Forscherinnen nutzten einen abduktiven Denkansatz (Kelle, 2005), der von der klassischen und traditionellen Perspektive des induktiven Denkens (Glaser & Strauss, 1967) und dem theoretischen Agnostizismus (Henwood & Pidgeon, 2003) abweicht. Die Interviewfragen wurden auf der Grundlage des zu untersuchenden Konzepts der Scham und einer umfassenden Literaturrecherche zum Thema Scham entwickelt. Die Interviews enthielten Fragen zu den biografischen Daten, wie Alter, Muttersprache und Position in der Organisation, sowie vier Fragen zu Scham, wie „Was bedeutet Scham für Sie? Bitte definieren Sie es.“, „Bitte schildern Sie eine beschämende Situation, die Sie im Arbeitskontext erlebt haben.“, oder „Was sind Ihre persönlichen Strategien, um mit Scham umzugehen?“ und „Wie ist der Umgang auf organisationaler Ebene mit Situationen, die Sie am Arbeitsplatz als beschämend erleben? Bitte erläutern Sie, was Sie beobachten und wie die Organisation idealerweise mit Scham am Arbeitsplatz umgehen könnte.“. Diese Fragen wurden im Gespräch zwischen Forscherinnen und den Befragten anlassbezogen erweitert und vertieft. 6.5.1.3 Datenanalyse Die Forscherinnen orientierten sich hinsichtlich der Datenanalyse (Bryant & Charmaz, 2007) an einen konstruktivistischen Grounded-Theory-Ansatz (GT). Bei diesem Ansatz richten sich die Forschenden an sozial-konstruktivistischen

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erkenntnistheoretischen Annahmen aus, während die klassischen GT-Methoden als flexibler Leitfaden und nicht als starres Regelwerk für die Methodik dienen (Charmaz, 2011). Beide Forscherinnen analysierten das erste Interview und begannen mit der zeilenweisen Dekonstruktion und Kennzeichnung des Textes, wobei zahlreiche Codes erstellt wurden. Durch den kontinuierlichen Vergleich zwischen Daten und Kontext konnten die Codes in sinnvolle Kategorien integriert, abgegrenzt und durch schriftliche Memos ergänzt werden. Im weiteren Verlauf der Analyse kamen vertiefende Interviews hinzu, und die GT-Strategien des Kodierens und  Notierens wurde genutzt, um Bedeutungskategorien für alle Interviews zu entwickeln. Der stete Vergleich zwischen den Interviews führte zur Datensättigung. Im Anschluß an die Analyse einer Reihe von Interviews ergaben sich keine neuen Analysekategorien. Aus den intersubjektiven Validierungsprozessen zwischen den Forscherinnen und dem anschließenden Vergleich von Kategorien, Texten und Forschungskonstrukten ließen sich die Hauptthemen ermitteln. Die Forscherinnen konzentrierten sich auf die Identifikation von Kategorien und Themen, die den Themenkomplex Scham am Arbeitsplatz berührten. Die intersubjektive Validierung ermöglichte eine eingehende Reflexion und Analyse dieses Phänomens. 6.5.1.4 Forschungsethik Alle Befragten erklärten sich mit der Teilnahme an der Studie einverstanden. Den Teilnehmenden wurde Anonymität und Vertraulichkeit zugesichert, und sie konnten ihr Einverständnis zur Teilnahme zu jedem Zeitpunkt zurückziehen. Die iterative GT-Strategie des ständigen Vergleichs (Charmaz, 2011) und die intersubjektive Validierung der ersten Analyse (Yin, 2009) stellten eine rigorose Analyse sicher.

6.6 Forschungsergebnisse Im Hinblick auf die Darstellung der Ergebnisse ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass viele weitere Personen im Rahmen von Stichprobenverfahren eingeladen wurden, an der Studie teilzunehmen; mehrere der angesprochenen Teilnehmer*innen lehnten jedoch ab, u.  a. mit der Begründung: „Ich habe keine Erfahrungen mit Scham am Arbeitsplatz“, „Mir fallen keine beschämenden Erfahrungen ein“, „Das ist ein schwieriges Thema“. Diese Reaktionen zeigen, dass für viele Menschen das Thema Scham als belastend erlebt wird und dies sogar mit Gefühlen von Angst, Unsicherheit oder Irritation verbunden sein kann.

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Im Hinblick auf die durchgeführten Interviews gaben die Teilnehmenden an, dass sie sich auf die Teilnahme freuten, aber „nicht sicher waren, was sie erwarten würde“, dass sie sich ein wenig ängstlich fühlten und dass es ihnen nicht leichtfiel, über Scham zu sprechen. Im Laufe der Interviews und bei der Erkundung des ­Themas Scham schienen sich die Teilnehmenden jedoch verschiedener Situationen bewusst zu werden, die sie am Arbeitsplatz als beschämend erlebt hatten. Außerdem ist der Hinweis wichtig, dass einige Teilnehmende sich selbst nicht nach dem allgemeinen, im südafrikanischen Kontext üblichen Klassifizierungssystem (Schwarz, Weiß, Farbig, Indisch, Chinesisch) (siehe Tab. 6.1) einstuften, sondern ihren kulturellen Hintergrund aus einer religiösen, sprachlichen oder ethnischen Perspektive betrachteten. In ihren finalen Feedbacks brachten die Befragten zum Ausdruck, dass es ihnen Spaß gemacht habe, über diese „privaten Themen“ zu sprechen, dass sie die Interviews sogar zur Klärung dieser Themen nutzen konnten. Sie formulierten ebenfalls, dass es das erste Mal war, dass sie mit jemandem darüber gesprochen und dass sie ihr zukünftiges Selbstbewusstsein in Bezug auf schambesetzte Situationen und Erfahrungen gestärkt hätten. Tab. 6.1  Demografische Informationen Mutter­ Nr. Sex Alter sprache 1 Männlich 48 Afrikaans 2 Weiblich 46 Afrikaans 3

Männlich 57

4 5 6

Männlich Männlich Männlich

7

Männlich

8 9

Weiblich Weiblich

10

Weiblich

11

Weiblich

Kultureller Hintergrund Christlich Weißes Afrikaans Afrikaans Afrikaans

Position in der Nationalität Organisation Südafrikanisch Dozent Südafrikanisch Professorin

Südafrikanisch Professor, HOD 42 Arubakati Kongolesisch Kongolesisch Dozent 52 Tswane Südafrika Südafrikanisch Dozent 61 Afrikaans Niederländisch- Südafrikanisch Professor reformierte Kirche 61 Afrikaans Niederländisch- Südafrikanisch Professor reformierte Kirche 54 Englisch Indisch Südafrikanisch Direktorin 43 N-Sotho Sepedi Südafrikanisch Professorin, HOD 40 Englisch Indisch Südafrikanisch Verwaltungskoordinatorin K.A. Englisch Südafrikanisch Südafrikanisch Professorin

Höchster Bildungs­ grad Meister Ph.D. DPhil. Ph.D. Meister Ph.D.

Ph.D.

Ph.D. Ph.D. Immatri­ kulation Ph.D.

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6.6.1 Schamdefinitionen Sieben Themen kristallisierten sich in den persönlichen Schamdefinitionen durch die Teilnehmer*innen heraus (Tab. 6.2): In der Anfangsphase des Gesprächs waren sich einige Teilnehmende nicht sicher, was sie unter Scham verstehen und fanden es schwierig, sie zu definieren. Im weiteren Verlauf des Interviews thematisierten die Teilnehmer*innen die schambelegten Situationen, die sie bei der Arbeit erlebt hatten, beschrieben ihre Umgehensweise damit und formulierten Ideen, wie die Organisationen die Mitarbeitenden unterstützen könnten. Am Ende waren alle Teilnehmenden in der Lage zu beschreiben, was Scham für sie bedeutet. Im Wesentlichen wurde Scham als ein Gefühl des Ausgeliefertseins beschrieben, das mit den Dimensionen des Persönlichen, des Verdrängten, eines Fehlurteils und des Nicht-gut-genug-Seins assoziiert wurde. Die intrinsischen Schamgefühle bezogen sich auf Fehleinschätzungen, entweder weil die befragten Personen das Gefühl hatten, persönlich etwas falsch gemacht

Tab. 6.2  Definition von Scham Kategorie Definition Entblößt

Anzahl der Codes/ Anzahl der Aussagen in den Codes 5/11

Persönlich

4/8

Verdrängt

7/8

Irrtum im Urteil

4/6

Verstehen

5/5

Nicht gut genug

5/5

Codes Ertappt (3) Verwundbar (3) Menschen sprechen darüber (3) Entmachtet (1) Unsicherer Raum (1) Selbstkritik(4) Ansehen (2) Persönliche Reaktion (1) Wahrnehmung (1) Kann dich heimsuchen (2) Tiefster Teil der vergessenen Geschichte (2) Gerne vergessen (1) In der Vergangenheit begraben (1) Nicht erinnert (1) Etwas falsch gemacht (3) Etwas nicht verhindert Nicht angemessen verhalten, entgleisen Verbindung nicht möglich Schwierig zu definieren, keine Definition Keine Beschreibung der Scham Nicht sicher, was Scham ist Nicht Manns genug Nicht genügend Publikationen Nicht genug Zeit Nicht die richtige Zeitschrift Zu weiß

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oder etwas zugelassen zu haben, dass sie hätten verhindern sollen. Selbstkritik und der Wunsch, nicht an die als beschämend empfundenen Erlebnisse erinnert zu werden, wurden häufig geäußert, wie in der folgenden Aussage von Teilnehmer 1 deutlich wird: „Ich habe mich damals sehr geschämt, wissen Sie, das tue ich immer noch, ich habe sogar gedacht, vielleicht muss ich ein Gespräch mit ihm führen und ihn fragen, ob er sich noch an diesen Tag erinnert.“ Extrinsisch wird Scham als Entblößung definiert, sei es gegenüber Kolleg*innen, der Familie oder der Gemeinschaft. Eine Reihe von Teilnehmer*innen definierte es als die Offenbarung der eigenen Verletzlichkeit, wie Teilnehmer 6: „Ertappt zu werden, entblößt zu werden und in unsicheren Räumen verletzlich zu sein – ob für das, was ich bin, für das, was ich nicht bin, für das, was ich getan oder nicht getan habe“.

6.6.2 Beschämende Situationen am Arbeitsplatz Die Teilnehmenden berichteten über ein breites Spektrum beschämender Situationen am Arbeitsplatz, sowohl außerhalb als auch innerhalb des Hochschulbereichs. Diese fanden in den folgenden Kontexten statt • • • • • • •

Hochschulbildung Militär Unternehmen religiöse Organisation Schule Universität Juristische Institution.

Die Teilnehmenden sehen einen engen Zusammenhang zwischen Kompetenz und beschämenden Erfahrungen am Arbeitsplatz. Die Schamerfahrungen beziehen sich auf begründete oder unbegründete innere Selbstzweifel und die Infragestellung der eigenen Kompetenz durch andere. Wie Teilnehmerin 8 bemerkt: Der Vizekanzler bat mich unerwartet, an einer Senatssitzung teilzunehmen, und ich musste buchstäblich aus meinem Büro rennen und zum Senat gehen, ohne zu wissen, was ich gefragt werden würde. Als ich den Raum betrat, überkam mich ein beklemmendes Gefühl, als sich ein Raum voller überwiegend weißer Männer umdrehte, um mich eintreten zu sehen. Ich hatte Mühe, außer dem Vizekanzler eine einzige vertraute freundliche Frau oder schwarze Person zu entdecken. In diesen wenigen Augenblicken fühlte ich mich entmachtet. Meine kritische innere Stimme versuchte, mich während meiner Rede zu sabotieren, und ohne Wissen meiner Zuhörenden musste ich zwei Gespräche führen, nämlich mit meiner inneren kritischen Stimme und mit den Mitgliedern des Senats.

Teilnehmerin 11 war von ihrer eigenen Kompetenz überzeugt; ihre Kompetenz wurde jedoch auf die Probe gestellt, was für sie eine beschämende Erfahrung am Arbeitsplatz darstellte: „Ich dachte, ich würde eine logische Interaktion mit ihr führen, eine nützliche Bemerkung machen, aber sie sah mich nur an. Es war eine totale Missachtung meiner Person, und sie schaute mich an. Ich erlebte sie als wütend. Die

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Tatsache, dass sie mich einfach ansah, während alle meine Kollegen dies sahen, war das Beschämende daran. Die Tatsache, dass sie älter war, war auch beschämend.“ Die Teilnehmerin fühlte sich entblößt, als sie bemerkte, dass ihre ältere Kollegin sie nur ansah. In einem anderen Fall erlebte Teilnehmerin 9 Scham, weil Kolleg*innen von ihr Details zu einem Fall, an dem sie arbeitete, wissen wollten: Ich wusste nicht, dass ich jemals auf so etwas stoßen würde. Es war einfach mein erster Job. Ich konnte nicht einmal schlafen, weil ich ständig über dieses Erlebnis nachdachte. Dass ein so älterer und reifer Mensch so eine dumme Entscheidung treffen konnte, wissen Sie? Gleichzeitig war es mir peinlich, dass die Klatschtanten im Büro und einige andere Leute von mir wissen wollten, ob sie etwas zugegeben hat. Ich stand irgendwie unter Druck zu sagen, dass sie es zugegeben hat oder was auch immer. Ich war beschämt, weil sie die blutigen Details wissen wollten, was passiert ist und warum.

In anderen Situationen empfinden Teilnehmende Scham, weil sie ein anderes Teammitglied nicht unterstützt hatten. Teilnehmer 1 bemerkte: Unser Kollege wurde von dieser Gruppe angegriffen, und wir waren so schockiert, wir waren nicht darauf vorbereitet. Wir haben alle geschwiegen und es gab Zeiten, in denen er uns tatsächlich ansah. Er schaute zurück zum Publikum, zu den Teilnehmenden. Wir haben uns nicht eingemischt, wir haben nichts gesagt. Am Ende der Sitzung schaute er uns wieder an, und ich war so tief, tief enttäuscht von mir selbst, dass ich nicht aufgestanden bin und meinem Kollegen sozusagen den Rücken gestärkt habe. Ihm wenigstens geholfen habe, denn ich konnte sehen, dass er nicht wusste, wie er mit dieser Situation umgehen sollte.

Der Ausschluss des/der Einzelnen scheint eine wichtige Rolle zu spielen, sei es durch die Aufforderung, sich physisch zu entfernen, „nach Hause zu gehen“ oder zu kündigen, sei es durch das Versäumnis, Einzelne zur Teilnahme an einer Gruppe einzuladen oder das Ignorieren eines Beitrags eines Teammitglieds in einer Sitzung. Eine Person, die Scham empfindet, kann Ausgrenzung als Bewältigungsstrategie einsetzen und somit Scham vermeiden. Teilnehmer 3 erinnert sich: „Ich habe mir Mühe gegeben, nicht zu viel Kontakt mit ihr zu haben, sondern sie wissen zu lassen, dass ich nicht so bin und ihr nicht mitzuteilen, was ich tue und wer ich bin.“

6.6.3 Persönliche Strategien im Umgang mit Scham am Arbeitsplatz Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilnehmenden über verschiedene persönliche Strategien im Umgang mit Scham am Arbeitsplatz verfügen. Tab.  6.3 gibt einen Überblick. Insgesamt konnten fünf Kategorien hinsichtlich persönlicher Strategien im Umgang mit Scham identifiziert werden. Diese beinhalten innere Strategien (Einstellung), Kommunikationsstrategien, körperliche Ausdrucksstrategien, den Kontext und die Auswirkungen zukünftiger Handlungen (Tab. 6.4). Bezogen auf die inneren Strategien ist es den Befragten im Zusammenhang mit Scham wichtig, sich selbst zu reflektieren, positiv zu sein, die erlebte Scham zu ana-

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Tab. 6.3  Beschämende Arbeitssituationen Kategorie der Definition Kompetenz

Anzahl der Codes/ Anzahl der Aussagen in den Codes 15/15

Entblößt

9/9

Nicht unterstützend sein

7/7

Ausschluss

6/6

Codes Kritische innere Stimme (3) Sich dumm fühlen (2) Habe einen Fehler gemacht (2) Schneller Kommentar (2) Beschämende Daten (2) Überprüfen Sie die Daten (2) Einen Vorschlag machen Als logisch erachtet (1) Nützlicher Kommentar (1) Sieh mich an (5) Sitzungsteilnahme (1) Informieren Sie die Gemeinschaft (1) Informieren Sie die Organisation (1) Bitte um Informationen (1) Keine Unterstützung (5) Ein Kollege sah uns an (1) Wir haben geschwiegen (1) Mich vernachlässigt (1) Nach Hause gehen (1) Zurücktreten (1) Nicht zum jährlichen Festessen eingeladen (1) Aufenthalt im Zelt (1) Gemieden werden (1)

lysieren, zu verstehen und ihr einen Sinn zu geben. Es wird auch als bedeutsam erachtet, konstruktiv zu rationalisieren, sich nicht von den Gefühlen leiten zu lassen und sich Sorgen zu machen, sich zu sortieren und die Erfahrungen zu verarbeiten. Teilnehmer 3, ein 57-jähriger Afrikaans sprechender männlicher Angestellter, erklärte: „Ich rationalisiere konstruktiv, indem ich mir einrede, dass ich das Recht hatte, auf eine bestimmte Weise zu handeln. Wenn mir das nicht gelingt, entschuldige ich mich bei der/den Person(en) und fühle mich danach besser.“ In Bezug auf die Kommunikationsstrategie ist zu betonen, dass die Einschaltung einer dritten Person als Vermittler*in und die Entschuldigung bei der beschämten Person als wichtigste Strategien benannt wurden, gefolgt von der Aussage, dass andere nicht mit beschämenden Themen konfrontiert werden sollten. Des Weiteren wird die Wichtigkeit von Diskussionen unterstrichen: so sollten Maßnahmen ergriffen werden, Gespräche mit anderen Personen über das Thema geführt werden und die Beteiligten sollten auf eine „gute Art“ miteinander reden. Neben den Gesprächsstrategien hob ein Teilnehmer die Tatsache hervor, dass er einen Bericht über die betreffende beschämende Situation schreiben musste (Teilnehmer 1): „Mir wurde gesagt, ich solle einen Bericht schreiben“ und „ich solle einen Spaziergang machen“.

6  Individuelle und organisationale Strategien zur Überwindung von Scham …

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Tab. 6.4  Persönliche Strategien zum Umgang mit Scham am Arbeitsplatz

Strategiekategorie Innere Strategien (Einstellung)

Anzahl der Codes/ Anzahl der Aussagen in den Codes 13/15

Kommunikationsstrategien

8/13

Körperliche Strategien (Ausdruck)

4/5

Kontextgebundene

3/5

Auswirkungen auf künftige Maßnahmen

2/2

Codes Selbstreflexion (2) Positiv sein (2) Der Scham einen Sinn geben (1) Auswertungen (1) Bedenken Sie die Auswirkungen (1) Rationalisieren Sie/ konstruktiv bleiben (1) Bücher lesen (1) Sortieren Sie sich selbst (1) Mach dir keine Sorgen (1) Auszug (1) Etwas herunter schlucken (1) Ruhig verweigern (1) Selbst schuld (1) Sagen Sie es einer dritten Person (3) Entschuldigen Sie sich (3) Konfrontieren Sie die Person nicht (2) Diskutieren Sie mit anderen (1) Maßnahmen ergreifen (1) Mit Person sprechen (1) Thema auf eine gute Art und Weise ansprechen (1) Bericht schreiben (1) Weinen (2) Singen und Summen (1) Spaziergang (1) Atmen (1) Kontext ändern (2) An den Kontext anpassen (2) Aus dem Zusammenhang reißen (1) Nächstes Mal zählen Sie bis zehn! (1) Aus Fehlern lernen (1)

Nur in vier Codes wird die Notwendigkeit eines körperlichen Ausdrucks der Strategie zur Bewältigung der Scham formuliert: Weinen, Singen, Gehen/Joggen und Atmen, während die Person bis zehn zählt. Eine weitere persönliche Strategie bezog sich auf den Kontext der Situation: den Kontext ändern, in dem die Scham erlebt wird, sich dem Kontext anpassen und sich aus diesem zurückziehen (Tab. 6.5). Ein Teilnehmer teilte mit, dass eine weitere Strategie im Umgang mit Scham darin besteht, Pläne für das Verhalten in beschämenden Situationen zu machen und aus den gemachten Fehlern zu lernen.

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Tab. 6.5  Organisationale Auswirkungen auf den Umgang mit Scham Kategorie des organisationale Kontexte Führung

Anzahl der Codes/ Anzahl der Aussagen in den Codes 7/9

Persönliche Strategien

5/8

Strategien der Organisation

4/7

Vernachlässigung durch die Organisation Kolleg*innen

3/3

1/2

Codes Sollte Scham zur Motivation und Verhaltensänderung nutzen (2) Die Entscheidungsfindung liegt bei den Vorgesetzten (2) Sprechanlässe schaffen (1) Unterstützung durch Vorgesetzte (1) Rat von Leitung einholen (1) Beschämer*innen müssen konfrontiert werden (1) Mitleid mit dem „Opfer“ haben (1) Seien Sie selbstbewusst und bescheiden (2) Vermeiden Sie peinliche Situationen, indem Sie sich an die Normen halten (2) Reparieren Sie es selbst und übernehmen Sie die Verantwortung für Ihr Handeln (2) Durchführung nach Standards (2) Negative Gedanken/Gefühle abwehren (kritische innere Stimme) (1) Disziplinarverfahren (3) Unterstützungsprogramme für Arbeitnehmer*innen (2) Beratung in Organisationen (1) Sollte Stellung beziehen (1) Hat nichts mit Scham zu tun (1) „Träum weiter“ – keine Rettung! (1) Unterstützt nicht bei der Lösung (1) Sich gegenseitig unterstützen (2)

6.6.4 Organisationale Auswirkungen auf den Umgang mit Scham Nach ihrer Meinung zu den Strategien von Organisationen im Umgang mit Scham befragt, bezogen sich die Teilnehmer*innen auf fünf Kategorien: persönliche Strategien im Umgang mit Scham, den nachlässigen Umgang der Organisation mit Scham und Beschämung, Strategien der Organisation im Umgang mit Scham, Leitung und Kollegium. In den meisten Aussagen zu den organisationalen Strategien für den Umgang mit Scham und Beschämung betonten die Teilnehmenden, dass sie hier die Leitung gefordert sehen: Nach Meinung der Teilnehmenden sollten Führungskräfte einerseits Scham nutzen, um das Verhalten des/der Einzelnen am Arbeitsplatz zu motivieren und zu ändern und um „Übeltäter*innen“ zu konfrontieren (Teilnehmer 3). Andererseits sollten Führungskräfte Gelegenheiten schaffen, über Scham zu sprechen, Mitarbeitende im Umgang damit unterstützen, Mitgefühl mit Opfern haben, bei der Entscheidungsfindung im Umgang mit Scham helfen und betroffene Mitarbeitende emotional unterstützen.

6  Individuelle und organisationale Strategien zur Überwindung von Scham …

161

Neben Führungsstrategien, die im Zusammenhang mit Scham angewandt werden sollten, waren die Teilnehmenden der Meinung, dass sie persönliche Strategien zum Umgang mit Scham in Organisationen entwickeln sollten. Sie waren überzeugt, dass sie im Umgang mit Scham zugleich selbstbewusst und bescheiden sein und beschämende Situationen vermeiden sollten, indem sie die Normen der Organisation und des Umfelds anerkennen und einhalten. Sie brachten die Überzeugung zum Ausdruck, dass es hinsichtlich arbeitsplatzbezogener Scham sinnvoll ist, ihre eigenen Kompetenzen zu nutzen und für ihr Handeln einstehen. Da arbeitsplatzbezogene Scham meist mit Leistung verknüpft wird, sind die Teilnehmer*innen überzeugt, dass eine dem erwarteten Standard entsprechende Leistung hilft, die Handhabung von Schamereignissen zu erleichtern und beschämende Situationen zu vermeiden. Schließlich besteht eine weitere persönliche Strategie innerhalb von Organisationen darin, „negative Gefühle abzuwehren“ und die „innere kritische Stimme“ zu beruhigen. Teilnehmerin 7, eine 61-jährige Afrikaans sprechende Berufstätige, erklärte: „Teil meiner Überlebensstrategie während meiner gesamten Laufbahn war es, mögliche peinliche Situationen oder Situationen, die dazu führen könnten, dass ich mich schäme, zu minimieren“. Die Teilnehmenden vertraten die Auffassung, dass die Hochschulen über Strategien verfügen sollten, die die Mitarbeitenden darin unterstützen, mit Scham umzugehen, z.  B.  Disziplinarverfahren (insbesondere, wenn Scham mit Mobbing ­verbunden ist), Hilfsprogramme für Mitarbeitende und individuelle Beratungsangebote. Schließlich forderten die Teilnehmenden, dass die Einrichtungen einen klaren Standpunkt in Bezug auf den Umgang mit arbeitsplatzbezogener Scham einnehmen sollten. Drei Teilnehmende formulierten jedoch, dass Organisationen den Umgang mit Scham vernachlässigen, dass sie keine geeigneten Verfahren haben und sich nicht mit Scham auseinandersetzen, obwohl sie es sollten. Teilnehmer 6 betonte: „Träumen Sie weiter! In dieser Angst erzeugenden Maschine, die wir Hochschulbildung nennen, gibt es keine „Rettung“ – und man muss den Mut aufbringen, selbstbewusst und bescheiden zu leben.“ Schließlich teilte ein*e Teilnehmer*in mit, dass die Unterstützung von Kolleg*innen dabei helfen kann, erfolgreich und ressourcenorientiert mit Scham umzugehen, und dass kollegiale Unterstützung wichtig ist, um Unterstützung für den Umgang mit Scham in Organisationen zu erfahren. Im Hinblick auf das Gesamtbild, dass sich aus den Daten ergibt, berücksichtigen die meisten Teilnehmenden jedoch nicht die Kolleg*innen als Ressource für den Umgang mit Scham. Sie verstehen es vorrangig als persönliches und Führungsthema.

6.7 Diskussion Was die Diskussion der Ergebnisse im Kontext der Literaturübersicht betrifft, so gibt es Hinweise darauf, dass Scham systemisch ist (Mason, 1992, S. 175). In der südafrikanischen Arbeitswelt wird Scham oft als destruktiv, negativ und immobilisierend beschrieben - wie auch für andere Kontexte dargestellt (Tangney & Dearing,

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2002; Wong & Tsai, 2007). Peinlichkeit und Schuldgefühle sind oft eng mit Schamerfahrungen verbunden und nicht so klar voneinander abzugrenzen, wie Tangney und Fischer (1995) und Wong und Tsai (2007) vorschlagen. In dieser Studie gibt es Anzeichen für die „normale“ Scham, auf die Poulson II (2000) am Arbeitsplatz anspielt, wobei Scham oft mit Verlegenheit und „systemischer Scham“, also mit Erfahrungen außerhalb des Arbeitsumfelds, verbunden ist, die in einem engen kulturübergreifenden Zusammenhang mit kulturspezifischen Perspektiven steht (Westerman, 2004). In dieser südafrikanischen Stichprobe war die Unterscheidung zwischen westlichen und östlichen Kulturen sowie individualistischen und kollektivistischen Kulturen nicht so offensichtlich, wie von Poulson II (2000) beschrieben. Dies könnte darauf hindeuten, dass die von Julius (2004) vorgenommenen Vergleiche zwischen Individuen aus weißen, schwarzen, indischen und farbigen Gruppen derzeit neu verhandelt werden. Südafrika ist auf dem Weg zu einem Selbstverständnis ohne Schamempfinden aller kulturellen Gruppen, um eine integrative Gesellschaft herzustellen. Diese soll eine Gesellschaft weg vom Stigma Südafrikas als einem „Ort der Scham, der Gewalt und der Trennung“ sein. Der südafrikanische Arbeitsplatz könnte eine Rolle bei der „Normalisierung“ der südafrikanischen Schamtendenzen spielen. Insbesondere die „weiße Scham“ scheint sich zu verändern. Es ist bemerkenswert, dass nur eine der weißen Teilnehmerinnen ihren kulturellen Hintergrund als „weiße Afrikaanerin“ beschrieb, während die anderen Teilnehmer*innen ihren kulturellen Hintergrund in Bezug auf Sprache und/oder Religionszugehörigkeit explizit benannten. Es ist möglich, dass diese Teilnehmer*innen die „weiße Scham“ erleben, die Bailey (2011) in Bezug auf die Apartheid erwähnt. Dies bedeutet, dass weiße Südafrikaner*innen die Scham der Vergangenheit ignorieren, indem sie sich nicht über die Hautfarbe identifizieren. Dies kann eine Bewältigungsstrategie sein. Ignoranz bezüglich der Vergangenheit erleichtert den Teilnehmer*innen den Umgang mit der Vergangenheit und der Scham. Im Gegensatz dazu und in Bestätigung der Forschungsergebnisse von Julius (2004) machte eine farbige Teilnehmerin deutlich, dass sie vor Scham nicht in die Knie gehen würde und sich mit diesem Gefühl nicht identifizieren könne, insbesondere im Arbeitskontext. Sie vertrat die Auffassung, dass „die Menschen zum Arbeiten da sind und diese Probleme hinter sich lassen müssen“. Scham wird dadurch besser erträglich, dass über sie gesprochen wird, wie eine Studie über ehemalige Wehrpflichtige der südafrikanischen Streitkräfte zeigt (Baines, 2008). Entsprechend trug nach der Apartheidszeit die Wahrheits- und Versöhnungskommission (Ahmed et  al., 2001) zu einem verbesserten Umgang mit der Last der Vergangenheit bei. Hier nutzen Menschen in Bezug auf Scham und Schuldgefühle Kommunikationsstrategien aus der Perspektive der Positiven Psychologie und stärken so die Widerstandskraft gegenüber beschämenden Erfahrungen am Arbeitsplatz. Aus einer organisationalen Perspektive und bezogen auf den Hochschulkontext sind die Ergebnisse dieser Studie nicht auswertbar. Die Teilnehmenden dieser Studie äußern sich als Einzelpersonen bezüglich ihres Umgangs mit Scham am Ar-

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beitsplatz und gehen kaum auf den spezifischen Hochschulkontext ein. Dies wäre insbesondere angesichts der Tatsache wünschenswert, dass die Hochschulbildung in der Vergangenheit zur Entmenschlichung von Menschen afrikanischer Kulturen und Sprachen beigetragen hat. Was die Beschäftigten betrifft, so wird in der Literatur auf den allgegenwärtigen Rassismus innerhalb des Systems verwiesen (University World News, 2009). Einige Teilnehmende merkten an, dass die Hochschulleitungen Scham zur Motivation und Verhaltensänderung nutzen sollten. Wenn Scham als positiver Faktor für die Motivation der Belegschaft angesehen werden soll, scheint die Frage danach sinnvoll, ob dies im südafrikanischen Kontext den gewünschten Effekt erzeugen würde, da einige Befragte sich der Scham nicht beugen und nicht anerkennen, dass sie am Arbeitsplatz existiert.

6.8 Schlussfolgerungen Ziel der Studie war es, sich auf Konzepte und Erfahrungen mit Scham im Hochschulsektor in Südafrika zu konzentrieren und Scham und Bewältigungsstrategien sowohl auf persönlicher als auch auf organisatorischer Ebene in einem situativen und kulturellen Kontext aus einer emischen, vertiefenden Perspektive zu verstehen. Auch ging es darum, ein tieferes Verständnis von Scham als intensivem emotionalen Konzept am Arbeitsplatz zu erhalten und Antworten auf die vier Forschungsfragen zu finden. Abschließend kann Folgendes hervorgehoben werden: Die Teilnehmenden definierten Scham in ihren Arbeitszusammenhängen als das zutiefst persönliche Gefühl, nicht gut genug zu sein, wobei sie sich aufgrund möglicher Fehleinschätzungen beschämenden Erfahrungen ausgesetzt fühlten. Dieses Empfinden kann, selbst wenn es verdrängt wird, mit negativen Konnotationen oder als Katharsis erlebt werden. Dies spiegelt sich in den positiven Äußerungen der Teilnehmenden über das Interview als Medium zu künftiger Selbsterkenntnis in Bezug auf beschämende Situationen und Erfahrungen wider. Ein Angriff auf die intrinsische und extrinsische Kompetenz einer Person, eines/ einer Mitarbeiter*in, ob begründet oder nicht, ist für die Teilnehmenden dieser Studie von besonderer Bedeutung und scheint der vorherrschende Auslöser für eine beschämende Situation am Arbeitsplatz zu sein. Kolleg*innen in einer als beschämend wahrgenommenen Situation nicht zu unterstützen oder sie in einer vergleichbaren Situation als betroffene Person nicht zu spüren, löst ebenfalls Scham aus. Während Zweifel an der Kompetenz und mangelnde Unterstützung die Auslöser von Scham zu sein scheinen, erscheint der Ausschluss das Ergebnis einer beschämenden Erfahrung, wobei die/der „Schuldige“ aus der Situation genommen wird, was widerum beschämende Erfahrungen am Arbeitsplatz verstärkt. Andererseits können sich Personen auch freiwillig einer solchen Situation entziehen und dies als eine Bewältigungsstrategie nutzen.

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Andere persönliche Strategien zur Bewältigung von Scham umfassen vor allem innere individuelle Strategien, die nicht unbedingt mit anderen oder dem Umfeld geteilt werden. Zusätzlich zu inneren Strategien werden Kommunikationsstrategien genutzt, die sich insbesondere auf die Intervention Dritter und die Entschuldigung beziehen. Der körperliche Ausdruck bei der Bewältigung von Scham scheint weniger wichtig zu sein. Die Veränderung des Kontextes durch Rückzug, Anpassung oder aktives Eingreifen wird in Betracht gezogen. Die Antizipation der Zukunft kann sich auf die gegenwärtig angewendeten Strategien auswirken. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Bezug auf die Organisation nach Ansicht der Teilnehmenden die Leitungsebene von zentraler Bedeutung ist, wenn es um den organisationalen Umgang mit Scham in Kombination mit persönlichen Strategien geht. Die Teilnehmenden vertraten die Auffassung, dass die Organisation über Verfahren zum Umgang mit Scham verfügen sollte, waren sich aber auch bewusst, dass Organisationen sich oft nicht mit Scham auseinandersetzen und das Thema lieber vernachlässigen. Eine Teilnehmerin gab an, dass sie gerne die Unterstützung von Kolleg*innen im Umgang mit Scham erfahren würde. Führungskräfte und die Selbstverantwortung der einzelnen Personen scheinen die Hauptstellschrauben im Zusammenhang mit Scham zu sein. Interessanterweise erwarteten die Teilnehmenden von den Führungskräften einerseits, dass sie Scham nutzen, um Moral, Ethik und Prinzipien in der Organisation aufrechtzuerhalten, und andererseits, dass sie die Mitarbeitenden dabei unterstützen, angemessen mit Scham umzugehen, indem sie Ratschläge und emotionale Unterstützung geben.

6.9 Theoretische und praktische Empfehlungen Das Thema Scham am Arbeitsplatz ist für Arbeitnehmer*innen in südafrikanischen Betrieben wichtig. Es ist ein Thema, das nicht einfach zu erforschen ist, da es mit Gefühlen von Angst und Unsicherheit verbunden ist. Auf theoretischer Ebene sind umfänglichere Forschungen im organisationalen Kontext in Südafrika im Hinblick auf die Definition und die Erfahrungen bezüglich Scham und beschämende Erfahrungen erforderlich. Die Forschung muss sich mit den Auswirkungen kultureller Heterogenität und Scham am Arbeitsplatz sowie mit der Differenzierung der Konzepte von Scham, Schuld und Peinlichkeit in verschiedenen kulturellen und organisationalen Kontexten in Südafrika befassen. Auf praktischer Ebene müssen Mitarbeitende und Organisationen das Bewusstsein für Scham am Arbeitsplatz sowie für deren Auswirkungen auf Mitarbeitende und Organisationen schärfen. Es sollten kontext- und kulturspezifische Schulungen und Programme entwickelt werden, um das Bewusstsein zu stärken und Strategien für Mitarbeitende (individuell) und Organisationen (Programme) für eine angemessene und effektive Handhabung von Scham am Arbeitsplatz zu entwickeln. Solche Programme und Trainings sollten Scham als eine Ressource für die persönliche und organisationale Entwicklung betrachten und sich an einem transkulturellen und südafrikaspezifischen Ansatz für den Umgang mit Scham ausrichten, indem vielfältige

6  Individuelle und organisationale Strategien zur Überwindung von Scham …

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kulturelle Perspektiven auf Scham einbezogen werden. Organisationen müssen ihre Führungskräfte in die Lage versetzen, sich mit dem Thema Scham auseinanderzusetzen und ihre Existenz im Arbeitskontext anzuerkennen, um eine Organisationskultur zu entwickeln, die kompetent, offen, ressourcenorientiert ist und bewusstseinsbildend mit Scham umgeht. Danksagung  Wir danken den Teilnehmerinnen für die aufschlussreichen Informationen, die sie zu diesem Forschungsprojekt beigetragen haben.

Anhang A. Anhang: Interview-Protokoll Das Interview wurde mit der schriftlichen Zustimmung der Teilnehmenden aufgezeichnet. Der Prozess begann mit Fragen zu biografischen Details: Geschlecht: Alter: Muttersprache: Kultureller Hintergrund: Staatsangehörigkeit: Position in der Organisation: Höchster Bildungsabschluss: Die nachstehenden Fragen wurden in der folgenden Reihenfolge an alle Teilnehmenden gerichtet: 1. Was ist für Sie Scham? Bitte definieren Sie. 2. Bitte schildern Sie eine beschämende Situation, die Sie im beruflichen Kontext erlebt haben. 3. Zum Thema Scham und Kultur: Bitte erklären Sie, wie Ihre Kultur das Erleben von und den Umgang mit Scham beeinflusst. 4. Was sind Ihre persönlichen Strategien für den Umgang mit Scham? (Was sagen, tun, denken und fühlen Sie?) 5. Wie wird auf organisationaler Ebene mit Situationen umgegangen, die als beschämend empfunden werden? Die Teilnehmenden wurden am Ende des Gesprächs gefragt, ob sie noch etwas hinzufügen wollten. Falls dies verneint wurde, wurde das Interview beendet und die Tonaufzeichnung gestoppt.

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C.-H. Mayer und L. Tonelli

shame-­on-­president-­jacob-­zuma-­of-­south-­africa-­does-­he-­have-­no-­conscience-­first-­south-­ africa-­lets-­president-­bashir-­under-­indictment-­visit-­south-­africa-­and-­then-­flee-­like-­a-­rat-­and-­ now. Zugegriffen am 29.05.2016. Walker, R. (2012). Cultural conceptions of poverty and shame as portrayed in seven diverse societies: A brief summary of findings. Synthesis Working Paper 1. Wertenbruch, M., & Röttger-Rössler, B. (2011). Emotionsethnologische Untersuchung zu Scham und Beschämung in der Schule. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Westerman, T. (2004). Engagement of Aboriginal clients in mental health services: What role do cultural differences play? Australian e-Journal for the Advancement of Mental Health, 3(3), 3. Wicomb, Z. (1998). Shame and identity: The case of the coloured in South Africa. In D. Attridge (Hrsg.), Writing South Africa: Literature, apartheid and democracy (S. 1970–1995). Cambridge University Press. Wong, Y., & Tsai, J.  L. (2007). Cultural models of shame and guilt. In J.  Tracy, R.  Robins, & J. Tangney (Hrsg.), Handbook of self-conscious emotions (S. 201–223). Guilford Press. World Health Organisation. (1999). Putting women’s safety first: Ethical and safety recommendations for research on domestic violence against women. World Health Organisation. Yin, R. K. (2009). Case study research: Design and methods. Sage Publications.

Kapitel 7

Kanada/Nordamerika: Scham im Zwischenfeld von indigener Kultur und kolonialistischer, konsumorientierter Einflüsse Barbara Buch

7.1 Einleitung Der Fokus dieses Kapitels liegt auf Kanada, obwohl Einflüsse des Kolonialismus, sowie die Unterdrückung der Ureinwohner*innen in den Vereinigten Staaten eine sehr ähnliche Geschichte durchliefen. Die offensichtlichen Folgen der Vergangenheit sind in überwältigender Weise präsent: Drogenmissbrauch, Suchtkrankheiten, Kriminalität, emotionaler, körperlicher und sexueller Missbrauch, Selbstmord und andere chronische Gesundheitsprobleme treten bei den kanadischen Ureinwohner*innen deutlich häufiger auf, als in der übrigen Bevölkerung (Adelson, 2005; Armstrong, 2006; Kaháwi & Gill, 2002). Eine der vielen gesundheitlichen Folgen ist der hohe Prozentsatz des fetalen Alkoholsyndroms (FAS), was mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Lernfähigkeit einhergeht, und kontinuierliche Anstrengungen in Bezug auf Pädagogik und FAS-Prävention erfordert (Salmon, 2005). Neben anderen Genozid-Methoden der kanadischen Regierung (gegründet 1867) (Waldram et al., 2006) werden vor allem die kirchlich geführten Internatsschulen für indigene Kinder („Residential Schools“) für die heutigen Herausforderungen der indigenen Bevölkerung verantwortlich gemacht (Armstrong, 2006). Diese Internatsschulen wurden zwischen den 1870er-Jahren bis 1996 betrieben (Canadian Encyclopedia, 2008). Neben allen Arten von Gewalt, die darauf abzielten „den Indianer im Kind zu töten“, war die Beschämung eine der gängigsten Praktiken (z.  B.Armstrong, 2006 ; McKegney, 2013) in diesen Einrichtungen. Es ist bekannt, dass Scham eine der Hauptursachen für Sucht ist (Bradshaw, 2005). ­Obwohl dieser Teil der

B. Buch (*) Zentrum für Salutogenese, Burns Lake, Kanada

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 E. Vanderheiden, C.-H. Mayer (Hrsg.), Der Wert der Scham, https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3_7

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B. Buch

Scham aus der Vergangenheit stammt, müssen wir uns mit ihren intergenerationalen Folgen in der Gegenwart auseinandersetzen (Armstrong, 2006; McKegney, 2013). Doch in welcher Form trat Scham in vorkolonialen, indigenen Traditionen auf, bevor die rassisch-motivierte Beschämung durch unterdrückende weiße Kolonialist*innen ins Bild kam, und welche Funktionen erfüllte sie? Welche Rolle spielt Scham heute in der modernen, mediendominierten nordamerikanischen Gesellschaft? Kann Scham in diesen Kontexten geheilt werden oder hat sie sogar das Potenzial, eine Gesundheitsressource zu sein oder werden? Dieses Kapitel trägt hoffentlich dazu bei, das „Geheimnis der [Scham]“ (Gesundheit) zu enträtseln (Antonovsky, 1987).

7.2 Allgemeine Überlegungen zur Scham Scham deckt ein weites Spektrum von Bedeutungen und Implikationen ab. Sie reicht von innerer Emotion oder Affekt mit vielen Ebenen und verwandten Begriffen (Schüchternheit, Demütigung, Verlegenheit, Unbehagen, Ablehnung, Versagen, Unsicherheit, verhaltensbedingter Schuld usw.), die bewusst oder unbewusst durch die (reale oder imaginäre) Anwesenheit anderer ausgelöst wird, bis hin zum psychologischen Werkzeug des ‚Beschämens‘, welches zur Förderung oder Zerstörung von Gesundheit genutzt bzw. missbraucht werden kann: Von einem kulturellen Regulativ für ethische, überlebensorientierte Verhaltensweisen, innerhalb und außerhalb einer Gruppe (Stamm, Gemeinschaft, Familie), über Lynchjustiz, Unterdrückung, Mobbing bis hin zu einem Instrument für Völkermord, basierend auf Neid und Gier nach Reichtum, Ressourcen und Macht.

7.2.1 Das Schamkontinuum Um das komplexe und schwer fassbare Phänomen der Scham zu erhellen, wird es hier als Teil eines Kontinuums vorgestellt. Scham kann als intensiver emotionaler Stress betrachtet werden, der die gesamte Integrität einer Person betrifft und nach Munt (2007) der Identitätsbildung vorausgeht. Sie formt das Selbst- und Identitätsgefühl vor allem in der Kindheit (Bradshaw, 2005), wo sie sich im Gehirn und damit in den Verhaltensmustern und der Wahrnehmung der Realität einprägt. Daher hängt die Anfälligkeit einer Person für Scham von persönlichen Merkmalen ab, die auf Erziehung und Selbstwertgefühl beruhen (z. B. Bradshaw, 2005), vom Kontext ihres Auftretens, sowie von der Absicht der beschämenden Instanz (Person, Gruppe, Institution). Scham kann sowohl als Stressor, wie in Antonovskys Salutogenese Modell (Antonovsky, 1985) beschrieben werden, als auch als Bewältigungsmechanismus. Das

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Das Kontinuum der Scham Destruktive Scham Analoge Konsequenzen ERKRANKUNGEN

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Konstruktive Scham GESUNDHEIT

Abb. 7.1  Eigene Konstruktion der Autorin: Das Schamkontinuum

Zeigen von Scham ist ein Mechanismus zur Rehabilitierung und Wiederaufnahme in die Gruppe: „Wo immer man Scham sieht […], hofft jemand auf Wiedereingliederung.“ (Nathanson, 2008, S. 3). Unter Bezugnahme auf das dichotome Konzept „toxische und gesunde Scham“ von Bradshaw (2005) wird in diesem Kapitel die Scham als ein Kontinuum zwischen ‚destruktiver‘ und ‚konstruktiver‘ Scham, und deren Folgen für die Gesundheit dargestellt. Gesunde Scham ist nach Bradshaw (2005, 160) „[…] die Erlaubnis, menschlich zu sein. Menschlich zu sein bedeutet im Wesentlichen, begrenzt [fehlerhaft] zu sein.“ (Abb. 7.1).

7.2.2 Zwei Seiten einer Medaille: Scham und Stolz Das Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“ (z. B. Giffney, 2007, S. X), wobei der Fall Scham bedeutet, bringt den dualistischen Aspekt von Scham und ihrem Gegenstück Stolz, deutlich zum Ausdruck. Das eine kann nicht ohne das andere existieren. Stolz, als das Gegenteil von Scham, ist das, wonach wir streben, damit unser Bedürfnis nach Akzeptanz und Liebe erfüllt wird. Identität wird durch die Reflexion durch andere geformt, insbesondere während der prägenden Kindheitsjahre (Bradshaw, 2005; Munt, 2007). Stolz und Scham als Emotionen der Selbsteinschätzung (z. B. Taylor, 1985) werden durch andere ausgelöst. Beide sind entscheidend für diesen Prozess und entscheiden über den Selbstwert. Auch Stolz kann als ein Kontinuum betrachtet werden: Von ‚gesundem Stolz‘, der mit Ehre und Würde einhergeht und auf inneren Werten und Leistungen beruht, die von anderen geschätzt werden, bis hin zu dem, was als ‚toxischen Stolz‘ (falscher Stolz) bezeichnet werden kann, der nur auf äußerem ‚Glanz‘ beruht, ohne adäquate innere Übereinstimmung. Eine vereinfachte grafische Darstellung (unten) soll helfen, bestimmte Phänomene und grundlegende Elemente von Scham und Stolz zu beschreiben (Abb. 7.2).

7.2.3 Das ‚Scham-Stolz‘-Modell Beide Kontinua sind auf einem Kreis dargestellt, der die Identität und das Selbstwertgefühl einer Person (oder eines Kollektivs) umschließt, formt und definiert (z. B. Zembylas, 2008; Bradshaw, 2005 usw.). Die Phasen zwischen Scham und Stolz sind Momente, in denen keines von beiden stark in der inneren Wahrnehmung empfunden wird.

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B. Buch

PRIDE ISOLIERUNG

gesund

IDENTITÄT destruktiv (giftig)

SHAME

VERBINDUNG

giftig

konstruktiv (gesund)

Abb. 7.2  Eigene Konstruktion der Autorin: Das Scham-Stolz-Modell

Das Netz um die Identität der Person symbolisiert die Einbettung in ein System von Verbindungen, das den salutogenen Sinn für Kohärenz widerspiegelt (Antonovsky, 1985). Dieses Netz des Eingebundenseins kann beispielsweise gewachsene Verbindungen zu anderen Menschen, Familie, Gemeinschaft/Gruppen (mit bestimmten moralischen Werten und Verantwortlichkeiten), zum Selbst, aber auch zu Vorfahren, zu göttlichen Kräften (Spiritualität), zur Natur und Umwelt, zum Universum usw. beinhalten. Das Netz auf der rechten Seite ist (wird) (als) stark ausgeprägt (wahrgenommen), während es auf der linken Seite entweder nicht wahrgenommen wird, bzw. nicht (stark) ausgeprägt ist. Ob Scham-Erfahrungen eher auf der destruktiven (toxischen) oder der konstruktiven (gesunden) Seite auftreten, hängt von unserer Erziehung, unseren Erfahrungen (Kindheit), unserem Selbstwertgefühl und unserer Sensibilität für Scham ab, aber auch von der Exposition durch andere, der Leitkultur, den Menschen und ihren Absichten, sowie von den Bewältigungsfähigkeiten und verfügbaren Ressourcen (vgl. Bradshaw, 2005; Brown, 2006). Im salutogenetischen Sinne wird das Ausmaß des Schamgefühls durch unsere (meist unbewusste) Wahrnehmung beeinflusst, die wiederum vom inneren (erlernten) Glaubenssystem abhängt. Es kann aber auch durch lernbare Bewusstheit und andere salutogene Ressourcen verändert, verstärkt oder geschwächt werden. Gesunde Scham ist mit Reue und Demut verbunden und erinnert uns an unser unvollkommenes Menschsein, denn „nur Gott wäre makellos“ (Bradshaw, 2005). Auf der anderen Seite, mit Bradshaws Worten, die:

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[…] toxische Scham ist ein Seelenmörder. Durch sie werden wir zu anders gearteten menschlichen Wesen, ohne inneres Leben und ohne inneren Frieden. (Bradshaw, 2005, S. 165).

Gesunder Stolz im Sinne von Ehre und Würde erhebt den Menschen und befriedigt das wichtige Bedürfnis nach Anerkennung, während Scham den Menschen zu Fall bringt. Die linke und die rechte Seite des Modells sind, da sie Kontinua sind, nicht klar getrennt. Die rechte Seite (gesunder Stolz/konstruktive Scham) spiegelt eine Einbettung in ein System sinnvoller Verbindungen und dem Gefühl der Zugehörigkeit (Netz) wider. Die Grundlage für eine gesunde Schamfähigkeit eines Individuums wird in der Kindheit durch die Beziehung zu vertrauten Bezugspersonen entwickelt (Bradshaw, 2005). Hier wird Beschämung von Eltern, Älteren, der Gemeinschaft usw. als Regulativ für die Korrektur von ‚selbst- und gruppenschädigendem‘ Verhalten eingesetzt. Interventionen dieser Gruppe unterstützen den/die Beschämte*n, sich wieder aus seinem/ihrem Verstecken-Wollen zu erheben, und durch persönliche besondere Anstrengungen und Leistungen (z.  B.  Strickland, 1997) möglicherweise sogar, Stolz – im Sinne von Würde – zu verdienen. In diesem Sinne basiert gesunder Stolz auf erarbeiteter, verdienter Ehre durch Anerkennung seitens der Gruppe (auf Grundlage ihrer Werte) und auf persönlicher Leistung. Die linke Seite des Modells (toxischer Stolz, destruktive Scham) sind in einem Bereich der Isolation, oder Unverbundenheit (Antonovsky, 1985) angesiedelt, der durch ein fehlendes oder schwaches Netz zum Selbst, zur Gruppe (Gemeinschaft) und dem Universum usw. gekennzeichnet ist. Dies basiert in der Regel auf einem geringen oder fehlenden Selbstwertgefühl. Letzteres wurde oft in der Kindheit, durch unangemessene Beschämung, Missbrauch – oft durch Bezugspersonen – usw. entwickelt. Erlerntes, mangelndes Vertrauen zu Anderen ergibt sich daraus oft als Folge (Bradshaw, 2005). Das Fehlen entsprechender Ressourcen und Bewältigungsmechanismen, wie z. B. einer Gemeinschafts-Rückbindungsstruktur ist dafür ebenso verantwortlich zu machen. Im Bereich der toxischen Beschämung gibt es kein gefühltes, sinnvolles, erreichbares oder kohärentes Werte- oder Glaubenssystem, keine sinnstiftende Moral oder Ethik, die in der Kindheit oder Jugend erlernt wurden. Toxischer Stolz und destruktive Scham basieren oft nur auf äußeren, oberflächlichen und materialistischen oder fehlenden ‚Werten‘. Dies ist Ausdruck einer fehlenden stabilen, gesunden, gesellschaftlichen Struktur und Kultur. Dementsprechend gibt es keine Möglichkeit, von außen wirkungsvoll sinnstiftend und kohärent zu intervenieren. Stattdessen kommt es zu toxischer Isolation, Verstecken und fehlender Verantwortungsübernahme. Voraussetzungen für, aber auch Folgen von toxischer Scham sind die Abkopplung vom Selbst, von anderen, von Traditionen, von Vorfahren, vom ­Werte-/Glaubenssystem, von Spiritualität und von der Gruppe, zu der ein Individuum gehören möchte. Gesundheitliche Auswirkungen können Depressionen, Süchte, Angstzustände, Aufmerksamkeitsstörungen (eigene Beobachtungen) usw. sein (siehe Abschn. 7.1) (z. B. Bradshaw, 2005).

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Auf der Grundlage dieses Modells werden im Folgenden einige wichtige Beispiele von Scham – von früher bis heute – vorgestellt.

7.3 Beispiele für Quellen der Scham in Nordamerika – Vergangenheit und Gegenwart In dieser Untersuchung kulturell-traditioneller, sowie gegenwärtiger Aspekte von Scham (und Stolz) als potenziellen Gesundheitsressourcen, werden Beispiele indigener nordamerikanischer Gruppen – den ursprünglichen, kulturell und damit ökologisch angepassten Gesellschaften  – und der inzwischen dominierenden (europäisch-­christlich-kapitalistisch geprägten), kolonialistischen Schamkultur gegenübergestellt – historisch und aktuell. Anschließend werden heute weit verbreitete Schamvorkommnisse mit ihren möglichen Ursachen und Folgen beschrieben.

7.3.1 Traditionelle Lebensweisen indigener Gruppen in Kanada In vorkolonialer Zeit gab es unter den Ureinwohner*innen Kanadas, den so genannten Indigenen, zahlreiche Stämme und Gruppen mit unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und anderen Merkmalen (Waldram et al., 2006). Es gab jedoch auch ökologisch und kulturell sehr ähnliche „Kulturräume“ (Waldram et al., 2006, S. 7). Die Wechselwirkungen zwischen ökologischen Bedingungen, Ressourcen, Kultur und Sprache sind offensichtlich (Waldram et al., 2006). Die soziale Einheit war in der Regel vergleichsweise klein (50–100 Personen), mit der noch kleineren Kernfamilie als Basis, auf die das Individuum in Zeiten der Not zurückgreifen konnte (Waldram et al., 2006). Ausnahmen bestanden nur bei Stämmen, die auf Landwirtschaft und Präriewild basierten. Das Überleben eines kleinen Stammes konnte nur gesichert werden, wenn jede*r Einzelne sehr gut funktionierte und über ein vielfältiges Maß an Fähigkeiten verfügte (Waldram et al., 2006). Die Kenntnisse über vorkoloniale Ureinwohner*innen ist sehr lückenhaft, da ein Großteil ihres Wissens und ihrer Geschichte ausgelöscht wurde (Kroeber, 1992; Waldram et al., 2006). Trotz dieses Versuchs, ein wenig Licht in einige Schambräuche zu bringen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass ein einzelner Brauch – „[…] so wenig von seiner Funktionsweise preisgibt, wie ein aus dem lebenden Körper herausgeschnittenes Organ“ (Kroeber, 1992, S. 6), insbesondere in Anbetracht der mit den indigenen Gruppen verbundenen Weltanschauungen und Lebensweisen (Strickland, 1997). Dennoch hilft es uns, einen Eindruck zu gewinnen. In traditionellen indigenen Verwandtschaftsgesellschaften waren „[…] die Lebens- und Rechtsformen der Menschen Teil einer kontinuierlichen, integrierten, ganzheitlichen Gesellschaft“. „Leben, Recht und Religion […] waren so miteinan-

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der verwoben, dass diese nicht voneinander zu trennen waren.“ (Strickland, 1997, S. 1045). Das bedeutet, dass auch Scham und Stolz mit den vielfältigen Aspekten des Lebens, des Rechts und übernatürlicher Kräfte verschmolzen waren. In diesen vorkolonialen, funktionalen Sippen-Gesellschaften kann davon ausgegangen werden, dass Scham und Stolz meist auf der gesünderen (rechten) Seite des Modells auftraten: Als Regulativ für das Gemeinschaftsleben, seinen Werten, Regeln und angemessenen Verhaltensweisen, wie im obigen Modell gezeigt und beschrieben. Dieses Instrument sicherte den Beitrag und die Verantwortung eines jeden Mitgliedes für das Überleben der Gemeinschaft. Sicherlich war Missbrauch in Einzelfällen immer möglich, aber wir können annehmen, dass alle Stämme ein bestimmtes „System sozialer Kontrolle“ besaßen, d. h. eine „wertebasierte Rechtsprechung, die das Verhalten des Stammes und des/der Einzelnen leitete.“ (Strickland, 1997, S.  1045). In dieser Hinsicht waren die Ältesten in der Regel die Entscheidungsträger*innen oder Berater*innen, sowie auch die Richter*innen (z. B. Deloria, 2006; Strickland, 1997): […] es gab ein System von Wahrheitsträgern, Beratern, Entscheidern und Vollstreckern, das sich aus Personen zusammensetzte, die sich durch ein lebenslanges respektvolles, verantwortungsvolles Beispiel und Verhalten Respekt verdienten. (Strickland, 1997, S. 1060).

Dazu gehörten auch bestimmte, mehr oder weniger strenge Regeln für jedes Mitglied einer Gruppe, wie sich Personen untereinander, aber auch gegenüber den Gottheiten (Parsons, 1992), den lebenden und nicht-lebenden Dingen zu verhalten hatte (z. B. Strickland, 1997; Deloria, 2006). Insofern war die entsprechende Kommunikation mit allen Wesen entscheidend für das Gleichgewicht des Lebens und der Gesundheit. War diese Balance aus dem Gleichgewicht geraten, musste sie wiederhergestellt werden (Buch, 2006). Das Letztere geschah in der Regel mit Hilfe eines Ältesten, einer Medizinperson usw. (Buch, 2006; Deloria, 2006). Da Scham eine ausgewogene Kommunikation mit anderen absolut unterbricht, musste auch dieser Mangel durch Unterstützung und Intervention von außen ‚behoben‘ werden. Die folgenden Beispiele für Scham und Stolz werden alle in Bezug auf unterschiedlichen nordamerikanischen Stämmen beschrieben, allerdings meist aus Sicht europäischer Beobachter: Von Jungen und Mädchen wurde erwartet, dass sie unterschiedliche, ehrenvolle Aufgaben hatten, sowie den Normen für geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Regeln folgten. Allerdings galt es als beschämend, wenn ein Mädchen „Jungen-­ Dinge“ tat und umgekehrt (Parsons, 1992). Ähnliches galt für Männer und Frauen. „Frauenarbeit“, wie z. B. Gartenarbeit galt für einen Mann als schambelegt, während es für eine Frau unwürdig war „eine unweibliche Sache“ zu tun (Parsons, 1992, S. 124). Vor allem Kinder, aber auch Erwachsene, mussten die Älteren respektieren; dies nicht zu tun, war beschämend und ist es auch heute noch vielerorts. Es galt als respektlos und damit schambesetzt für Kinder, sich sprechenden alten Menschen zu nähern (Parsons, 1992). Bei naturverbundenen indigenen Gruppen, wie den Nootka-Stämmen, galt Nacktheit bei Kindern in der Regel als normal (Parsons, 1992) und somit nicht als schambelegt, was im Gegensatz zu den christlichen Werten der Kolonialist*innen stand. Von den Kriegern wurde erwartet, dass sie mit

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ihrem Leben für den Schutz und die Ehre des Stammes kämpften. Sie waren „stolz darauf“, Unannehmlichkeiten und Leiden zu ertragen, wie z. B. tagelanges Reisen ohne Nahrung (Parsons, 1992). Schwäche zu zeigen, galt als unehrenhaft, was gleichbedeutend mit beschämend war. Von einem Häuptling wurde erwartet, dass er sich gegenüber anderen Stämmen auf eine bestimmte, ehrenvolle Weise verhielt, da er sonst „Schande über sein Volk“ brachte (Parsons, 1992, S. 105). Menstruierende (und manchmal auch schwangere) Frauen durften weder an bestimmten Zeremonien teilnehmen noch sich in der Nähe von Jagdausrüstung aufhalten, so z. B. bei den Nootka (Parsons, 1992). Wenn dies aus Versehen geschah – wie bei einer Heilungszeremonie – wurde es als schambelegt oder peinlich empfunden. In diesem Fall diente die Scham möglichen pragmatischen Zwecken, wie z. B. Keime einzudämmen und Jagdausrüstung frei von Blutgeruch zu halten, der das Wild verschrecken könnte (Parsons, 1992). Diese Regeln und Tabus hatten offensichtlich eine präventive (gesundheits- und überlebensfördernde) Bedeutung und bestimmten daher die entsprechenden Verhaltensweisen (Parsons, 1992). Bei den Nootkas u. a. Stämmen gab es das gesellschaftlich wichtige, öffentliche Potlatch, ein ‚Verschenk-Fest‘. An diesem waren „drei Parteien [beteiligt]: die/der Gebende, die Gäste und die Person, zu deren Ehre das Potlatch gegeben wird“ (Parsons, 1992, S. 315; Buch, 2015). Es unterlag vielen und sehr detaillierten Regeln. Wenn es richtig umgesetzt wurde, folgte daraus ein hohes soziales Ansehen für die organisierende Person, die schenkende Person und ihrer Familie (Verschenken ihres Reichtums), oder für die Person, zu deren Ehre es veranstaltet wurde (Pubertätspotlatch, Geburtspotlatch etc.). Der soziale Status und damit Ehre und Stolz konnten durch dieses Ereignis gesteigert werden. In diesem Sinne war bei den Nootka die Geburt eines Mädchens ein besonderer Segen (Parsons, 1992, S. 317). Wurden die Regeln jedoch nicht genau befolgt, folgte daraus für die Potlatch-organisierende Person ein Schamereignis (Parsons, 1992). Das kollektive Bewusstsein und Wohlergehen wurde höher bewertet, als das individuelle Wohlergehen, wie diese hochgeschätzte Praxis der Potlatch-Zeremonie bestätigt, denn das Überleben und die Gesundheit eines jeden Individuums hing von ihrem Funktionieren ab (Waldram et al., 2006). Ein Beispiel für die Regelung von Problemen mit Außenstehenden (andere Stämme, Anführer usw.) durch Scham war der Schand-Pfahl. Dieses ist eine spezielle Variante der verschiedenen Formen von Totempfählen, die bei Stämmen an der Nordwestküste errichtet wurden (Stewart, 1993). Totempfähle dienten in der Regel als Symbol des Familien- und Stammesstolzes durch Zurschaustellung der Geschichte, Herkunft, Leistungen, Status usw. Der Schandpfahl hingegen wurde aufgestellt, um jemanden öffentlich zu beschämen oder lächerlich zu machen, z. B. eine Person (oder Gruppe), die ein nicht akzeptiertes Verhalten, wie z. B. eine Beleidigung gegenüber dem Häuptling oder Stamm begangen hatte. Sobald eine a­ kzeptierte Wiedergutmachung erfolgte, wurde der Pfahl abgenommen (Stewart, 1993). Ein Schandpfahl konnte möglicherweise Kriege und Tötungen durch die öffentliche Verurteilung und Beschämung einer Person oder Gruppe verhindern. Zugleich kann die intensive Arbeit des Schnitzens und Aufstellens des Pfahls als eine Art der gemeinschaftlichen Wutbewältigung angesehen werden.

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Aus diesen Beispielen können wir schließen, dass Beschämung in den Kulturen der indigenen Bevölkerung wahrscheinlich gängige Praxis war und als Instrument diente, die soziale Einheit sicher zu stellen, sie vor Bedrohungen von außen zu schützen und das reibungslose Funktionieren des Individuums und damit das Überleben unter oft schwierigen Lebensbedingungen (z. B. im Winter) zu sichern. Der Schandpfahl war ein Versuch, Konflikte ohne Krieg zu lösen und so auch das Überleben des eigenen Stammes zu sichern. Das Überleben einer Stammesgruppe in der natürlichen Umgebung hing stark von der Akzeptanz und Einhaltung von Regeln als Teil der Kultur ab. So mussten z. B. die Ältesten mit ihrer Lebenserfahrung, ihrem Wissen und ihrer Weisheit respektiert werden, um das zukünftige Gedeihen des Stammes zu gewährleisten. Daher war es sinnvoll, respektloses Verhalten gegenüber Älteren zu korrigieren, indem die entsprechende Person vor dem ganzen Stamm in Verlegenheit gebracht wurde. Jemandem das Gefühl zu geben, sich schämen zu müssen, war ein Korrektiv, das dazu beitragen sollte, dass diese Person diesen Fehler nie wieder begehen würde. Die Re-Integration dieser Person in die Gemeinde allerdings war nur durch das Eingreifen eines leitenden Ältesten oder einer Medizinperson möglich, indem eine entsprechende Wiedergutmachung und Verhaltensänderung in Kooperation mit der Gemeinschaft eingefordert und demonstriert wurde. So fungierte die Scham als wichtiges Regulativ und Gesundheitsressource für die Gruppe und ihre Mitglieder. Eine Wiederbelebung dieser indigenen traditionellen Scham-Praktiken und Werte, die zu mehr Stärke, Verbundenheit, Überleben und damit Gesundheit des Stammes und damit jedes Stammesmitglieds führen, wird z. B. seit 1996 in Saskatchewan, Kanada, als „Restorative Justice System“ praktiziert (Handel, 2007). Dieser Ansatz eines traditionellen Rechts- und Justizsystems wurde im Interesse der Ureinwohner*innen eingeführt (Handel, 2007, S. 1). Wesentliche Elemente der Verhaltenskorrektur sind hier Beschämung, Wiedergutmachung und anschließende, mögliche Wiedereingliederung. Voraussetzung dafür ist die Verantwortungsübernahme der/ des Übeltäter(s) in Angesicht des/der Geschädigten, sowie die gemeinschaftliche Problemlösung (anstelle von Stigmatisierung und Bestrafung), durch Familie, Rat, Gemeinschaft, Gleichaltrige (Peergroup) und Opfer (Handel, 2007). In den meisten Fällen wird kulturell unangemessenes Verhalten nach interner und externer Scham vermieden (Handel, 2007). Die äußere Quelle der Scham ist die Missbilligung durch Familie und Gleichaltrige, die zu einem Verlust von sozialem Status und Zuneigung führt; die innere Quelle der Scham ist das Gewissen und das Gefühl dafür, was richtig und falsch ist. Man geht davon aus, dass die soziale Missbilligung durch die eigene Gemeinschaft eine wirksamere Abschreckung für wiederholtes strafbares Verhalten darstellt als die Bestrafung durch staatliche Repräsentanten. (Handel, 2007, S. 1).

So wird Kriminalität als […] als persönliche Angelegenheit zwischen Individuen [verstanden]. Dieser Ansatz konzentriert sich auf: Problemlösung, Einbeziehung von Opfern, Tätern und der Gemeinschaft sowie Eingehen auf ihre Bedürfnisse, Vergebung des Täters und Wiedereingliederung des Täters in die Gemeinschaft. (Handel, 2007, S. 1).

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Auch hier dient die Scham als potenzielle (Gesundheits-)Ressource für die Wiedereingliederung, anstelle von lebenslanger Stigmatisierung. Munt (2007) bestätigt, dass Scham der Grund für eine auf Reue basierende Verhaltensmodifikation und Wiedergutmachung ist, die von Straftäter*innen erwartet wird. Allerdings ist ehrliche Reue in einem entfremdeten Rechtssystem als Teil einer fernen, unterdrückerischen Regierung zweifelhaft. Essenziell ist hier die direkte Konfrontation mit den Geschädigten (Empathie, Verantwortung) und Menschen, die für den/die Straftäter*in von Bedeutung sind. Jedoch wird im heutigen gängigen nordamerikanischen (Rechts-)System (ohne Wiedergutmachung), „öffentlich eine „gerechtere Strafe“ gefordert“, wenn ein „Übeltäter kein angemessenes Maß an Scham zeigt“ (Munt, 2007, S. 4).

7.3.2 Konfrontation mit Kolonialist*innen und indigener Völkermord Bei den ersten Kontakten zwischen europäischen Kolonialist*innen und nordamerikanischen Ureinwohner*innen prallten zwei völlig unterschiedliche Kulturen aufeinander und es kam zu zahlreichen Missverständnissen (Waldram et al., 2006). Die traditionellen Werte der indigenen Gruppen standen oft im Gegensatz zu den kapitalistischen, profit-orientierten Normen der christlichen Kolonialist*innen, auch in Bezug auf die Scham. Das Ziel, neue Ressourcen und Land zu gewinnen (Besiedlung), sowie intentionale Ausbeutung und mangelndes Verständnis führten dazu, dass europäische christliche Kolonialist*innen die Ureinwohner*innen als Primitive und Wilde abwerteten. Diese Rassendiskriminierung diente als Rechtfertigung für die Ausrottung der traditionellen nordamerikanischen Kulturen und Menschen (Waldram et al., 2006; Woolford et al., 2014). Während (Teil-)Nacktheit und viele andere Bräuche in indigenen Gesellschaften als kultureller Ausdruck ihrer Naturverbundenheit gesehen werden können, demonstrierte dieses ‚schändliche‘ Verhalten in den Augen der meist puritanischen britischen Kolonialist*innen mit ihrer bekannten Prüderie, ‚Primitivität‘. In der patriarchalischen, europäisch-kolonialistischen, christlichen ‚Kultur‘ ist Scham eng mit dem weiblichen Aspekt verwoben. Auffällig ist zunächst, dass in der europäischen Sprachfamilie das Wort Scham meist weiblich ist, wie z. B. im Deutschen (die Scham/Schande), Französischen (la honte), Spanischen (la vergüenza). Auffallend ist in diesem Zusammenhang ebenso, dass das deutsche Substantiv ‚Scham‘ nicht nur das Gefühl der Scham, sondern auch die Anatomie des weiblichen Genitalbereiches bezeichnet. Schon in der biblischen Geschichte von Adam und Eva ist die erste Frau Eva die Beschämte, nachdem sie die Frucht gekostet hat. Sowohl Adam als auch Eva werden aus dem Garten Eden hinausgeworfen (Gemälde von Masaccion: Die Vertreibung: Morrison, 1996, S.  7). Ebenso wird das Erröten in Verbindung mit Scham als eine meist weibliche Eigenschaft ‚minderwertiger‘ Menschen angesehen, wie bereits Darwin ausführte (schamlos zu sein wird hier mit ‚besser sein‘ gleichgesetzt):

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[…] im Griff der Scham sind in erster Linie Frauen, überempfindliche Männer, Idioten, Mischlinge, Albinos und eine Vielzahl von rassischen und ethnischen Beispielen […].

In seinen Beschreibungen kommt auch Nacktheit in Verbindung mit „beschämten europäischen Frauen“ vor. Darwin stützte sich bei seiner Aussage hauptsächlich auf Informationen von Missionar*innen (Munt, 2007, S. 6). Diese Beispiele spiegeln die degradierte weibliche Stellung in patriarchalisch-christlichen Gesellschaftsstrukturen wider, die im absoluten Gegensatz zu den meist matriarchalischen nordamerikanischen Ureinwohnergesellschaften steht, in denen Frauen in der Regel hoch geachtet wurden (z. B. McKegney, 2013). Biblische Geschichten, wie jene von Adam und Eva (Altes und Neues Testament), zeigen Scham als eines der „Leitprinzipien“ im christlichen Glaubenssystem (Giffney, 2007, S. X; Morrison, 1996), das den Menschen als Sünder*in darstellt. Der Beichtstuhl in der katholischen Kirche demonstriert praktisch die Implikationen der Scham im Christentum: Der/die Sünder*in wird ermutigt, versteckt in diesem Kasten zu beichten, ohne Angst haben zu müssen, von dem zuhörenden Priester auf der anderen Seite gesehen zu werden. Der/die Delinquent*in kann sich schamvoll verbergen und so die schändlichen Sünden zugeben. Auf diese Weise wird ein tiefes Gefühl der Scham forciert, denn ein*e Christ*in muss Scham zeigen, um Demut vor dem männlichen Gott zu demonstrieren. Der Beichtstuhl dient als Instrument der Beschämung, um Scham zu erleben, zu erzwingen und aufrechtzuerhalten. Der Beichtstuhl kann als Symbol für diesen Hauptaspekt der katholischen Kirche gesehen werden. Munt beschreibt die „Wiederbelebung [des] Gefühls der Scham und Sündhaftigkeit vor dem Allmächtigen“ als „zutiefst befriedigende Riten, ja Sakramente sogar“ der Reinigung und Erneuerung (Munt, 2007, S. 4). Ein weiterer grundlegender Unterschied bestand darin, dass die traditionelle Verwandtschaftskultur der indigenen Gruppen mit ihren Werten, Ritualen und Zeremonien auf Gemeinschaft und nicht auf dem Individuum beruhte (Strickland, 1997). Die ‚Give-away‘- oder Potlatch-Zeremonie symbolisiert dies. Das Wohlergehen der Gruppe sicherte das Überleben durch Anpassung an die Umwelt. Im Gegensatz dazu zeigten die europäischen Kolonialisten genau das Gegenteil und konzentrierten sich auf die individuelle Anhäufung von Reichtum, was zum Verbot des „Potlatches“ und anderer grundlegender indigener sozialer Bräuche führte (Waldram et al., 2006). Kleine soziale indigene Gemeinschaften, die auf matriarchalen Verwandtschaftssystemen mit direkter sozialer Kontrolle und Einfluss der Ältesten beruhen – mit Scham als Verhaltensregulativ, um das Überleben des Stammes zu sichern -standen der dekonstruktiven Scham eines kapitalistischen, christlich-individualistischen Akkumulationssystems mit hierarchischen Institutionen und autoritären, patriarchalischen Machtsystemen gegenüber (z. B. Strickland, 1997).

7.3.3 Internatsschulen Die kolonialistische kanadische Regierung (1867; Waldram et  al., 2006) wandte viele verschiedene Methoden im Rahmen des perfekt organisierten Genozids der Ureinwohner*innen und ihrer Kultur an (Armstrong, 2006). Hier betrachten wir

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hauptsächlich die ‚Residential Schools‘. Diese waren die wichtigsten Einrichtungen, um „den Indianer im Kind zu töten“, wie der kanadische Premierminister Harper offiziell zugab (Canadian Encyclopedia, 2008). Direkt nach der Gründung der (britischen und französischen kolonialistischen) kanadischen Regierung im Jahr 1867, wurden seit den 1870er-Jahren Internatsschulen für indigene Kinder unter kirchlicher Leitung eingerichtet und betrieben („katholische, anglikanische, methodistische und presbyterianische“, Waldram et al., 2006, S. 15). Die letzte dieser Einrichtungen wurde erst 1996 geschlossen. Extreme Rassendiskriminierung, sowie Folter-Praktiken, die in diesen kirchlichen Einrichtungen angewandt wurden, führten zu katastrophalen Folgen, die in der indigenen Bevölkerung bis heute stark nachwirken (Armstrong, 2006; McKegney, 2013; Waldram et al., 2006). Auf diese Weise sollte das christliche Glaubenssystem indoktriniert, die „Wilden“ „zivilisiert“ und die Seelen der „barbarischen“ Menschen „gerettet“ werden (Waldram et al., 2006, S. 14). Indigene Kinder wurden gewaltsam aus ihren Familien, ihrer Heimat und damit ihrer traditionellen Erziehung, ihrer Kultur und ihrer natürlichen Umgebung herausgerissen (Waldram et al., 2006), um sie in diesen Indoktrinierungsanstalten (Residential Schools) gewaltsam in die neue ‚euro-kanadische Kultur mit christlichen Glaubenssystem‘ zu assimilieren. Die staatlichen Einrichtungen der ‚Residential Schools‘ unter kirchlicher Führung nutzten die Scham, als grundlegendes Merkmal christlicher Lehren, nicht nur als kulturelles Konstrukt, sondern insbesondere als politisches Instrument zur Auslöschung einer unerwünschten Kultur (Armstrong, 2006; Leverenz, 2012; McKegney, 2013; Munt, 2007). Für diese Indoktrination wurden verschiedene grausame Mittel eingesetzt. Berichte über Folter, emotionalen, körperlichen und sexuellen Missbrauch und der Tatsache, dass Hunderte (oder mehr?) Kinder nie mehr aus den Internaten nach Hause zurückkehrten, sind weit verbreitet (z. B. Armstrong, 2006; McKegney, 2013; Waldram et al., 2006; KDRV News, 2021). Die Kinder wurden dazu gebracht, sich für jeden Aspekt ihrer eigenen Kultur zu schämen: Schwere Strafen und Folter folgten auf jede Äußerung der eigenen indigenen Kultur (Sprache, Bräuche, Achtung vor Frauen usw.) (McKegney, 2013). Rassendiskriminierung wurde so zum Hauptinstrument, um Kultur, Verhaltensregeln, sowie soziale Beziehungen in hilflosen Kindern auszulöschen (McKegney, 2013). Der verbreitete sexuelle Missbrauch indigener Kinder durch Priester (McKegney, 2013) verursachte schwere Wunden (physisch and mental), sowie wiederum tiefe Scham in den Opfern (McKegney, 2013). Die persönliche Rechtfertigung dieses barbarischen, schamlosen Verhaltens durch die Sexualschänder*Innen und Folterknechte in Form von Priestern und Nonnen, welche ihren eigenen Lehren zuwiderhandelten, bestand oft darin, dass die „Wilden“, insbesondere Frauen/Mädchen, innere Triebe erregt hätten, die zum Missbrauch führten, weshalb sie dafür beschämt werden mussten: Es war der Priester, der sagte, es sei die Schuld der Frauen. (McKegney, 2013, S. 6).

Im Hinblick auf diese Kirchenführer*innen, die in der Vergangenheit wahrscheinlich selbst toxisch beschämt worden waren, muss ich auf Bradshaw (2005) verweisen:

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Wenn Menschen, die sich schämen, sich in ihren Vertuschungen verfestigen, werden sie immer schamloser. Sie verstecken ihre Fehler mit Perfektionismus, Kontrolle, Tadel, Kritik, Verachtung usw. (Bradshaw, 2005, S. 160)

Dieses kann als Beispiel für toxischen ‚Stolz‘ gesehen werden. Die Hauptopfer dieser Verheimlichungskonsequenzen waren insbesondere, aber nicht ausschließlich, hilflose Kinder in den Internaten. Psychologisch gesehen sind Kinder für diese ‚Methoden‘ am anfälligsten, so dass die Anwendung dieses ‚Entkulturalisierungs‘-Instruments auf indigene Kinder (Waldram et al., 2006, S. 15) sehr effektiv war. Das ursprüngliche, kulturell gewachsene Beziehungsgeflecht (siehe Scham-Stolz-Modell oben), das auf Rat und Leitung der Familie und Ältesten beruhte, wurde zerstört und ersetzt durch Isolation und toxische Scham. Vertrauensvolle Beziehungen zu einer Betreuungsperson (meist Eltern) während der prägenden Jahre ist für die Entwicklung des Selbstwerts (Bradshaw, 2005) und der eigenen elterlichen Fähigkeiten von wesentlicher Bedeutung. Die Internatsschulen waren eine absichtlich geschaffene Plattform für die schizophrene Kombination aus christlichen Lehren und dem, was die ‚Betreuer*innen‘ faktisch praktizierten und im Gegensatz zu Ersterem stand (Missbrauch, Beschämung, Folter usw.). Die überlebenden Kinder blieben nicht nur ohne Verbindung zur eigenen Kultur, Familie, Land, sondern auch ohne Zugehörigkeitsgefühl zu den christlichen/weißen Menschen zurück (Waldram et al., 2006) (Linke Seite des Modells). Das Ergebnis war und ist „[…] ein ernster Schaden an den Leben und der Kultur indigener Menschen“ mit „direkten Auswirkungen auf die geistige und körperliche Gesundheit und das Wohlbefinden der indigenen Menschen heute“. Das so genannte „Residential-­School-Syndrom“ (Waldram et al., 2006, S. 15) hinterließ verlorene und beschämte Individuen, die nie ein „gesundes Schamgefühl“ (Bradshaw, 2005, S. 12) entwickeln konnten. Als Kinder erlebten sie nie positive Aufmerksamkeit oder Vertrauen und verinnerlichten ihre Schamgefühle (Bradshaw, 2005; McKegney, 2013). Kinder in Internaten wurden der notwendigen, sicheren Bindungen und verwandtschaftlichen Beziehungen beraubt, fühlten sich ungeliebt, abgelehnt und waren aufgrund eines verzerrten Selbstbildes (kein Selbstwertgefühl) meist nicht in der Lage, gesunde Beziehungen zu entwickeln. Dieses führte meist später im Leben zu einer verinnerlichten elterlichen Rolle, welche auf gelerntem Misstrauen, Respektlosigkeit, Gewalt, Kontrolle und Missbrauch beruhte (Bradshaw, 2005; McKegney, 2013). Hier ist eine Erklärung für einige Folgen, die bei den Ureinwohner*innen noch heute bestehen (siehe Abschn. 7.1): Toxisch beschämte Menschen neigen dazu, im Laufe ihres Lebens immer mehr zu stagnieren. Sie leben verhalten, verschlossen und defensiv. Sie versuchen entweder, perfekt und damit einhergehend, kontrollierend zu sein oder verlieren das Interesse am Leben und bleiben in Suchtverhalten stecken (Bradshaw, 2005, S. 18).

Der systematische „koloniale Völkermord an den Ureinwohnern Nordamerikas“ (Woolford et al., 2014) dauerte über mehr als 120 Jahre, bis 1996 (!) an. All die unmenschlichen Gräueltaten, denen die Ureinwohner*innen ausgesetzt waren (Woolford et al., 2014), müssten mit entsprechenden Konsequenzen zu einer inter-

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nationalen Beschämung der kanadischen (und amerikanischen) Regierung, sowie den beteiligten christlichen Kirchen führen. Doch stattdessen handeln westliche Kolonialisierungsgeschichten immer noch nur von glorifizierten ersten Siedler*innen und dem Stolz auf die weiße Geschichte in Amerika. Die prunkvolle ‚stolze‘ Katholische Kirche mit dem Papst an der Spitze demonstriert trotz andauerndem, endemischen, weltweitem sexuellem Missbrauch ihrer männlichen Repräsentanten nach wie vor ihre „höchste Lehrgewalt“ für Christ*innen in Fragen „des Glaubens oder der Sitte“ und gilt als „unfehlbar“ (Katholisch.de, 2023; Wikipedia 2023). Damit handelt es sich um ein Kapitel toxischer Scham, auf das international nicht angemessen reagiert wird, trotz z. B. offizieller Regierungs-Entschuldigung im Jahr 2008 (Canadian Encyclopedia, 2008), sowie der Indian Residential Schools Truth and Reconciliation Commission (IRS TRC, McKegney, 2013) und anderer Bemühungen, wie z. B. der Aboriginal Healing Foundation (AHF) (Waldram et al., 2006). Gleichzeitig ist die gefühlte Scham, die darin besteht ‚indianisch‘ zu sein, immer noch viel zu verbreitet.

7.4 Scham und Stolz als politische Instrumente Scham und Stolz sind äußerst wirksame psychologische und damit auch politische Instrumente (z. B. Tarnopolsky, 2004, zitiert in Zembylas, 2008). Dies kann/konnte auf positive und konstruktive Weise genutzt werden  – wie in den beschriebenen traditionell gewachsenen Gemeinschaften  – oder bewusst destruktiv und toxisch, als politisches oder persönliches Werkzeug im Interesse eines Zugewinns an Macht und Reichtum. Es gibt also ‚zwei Seiten der Medaille‘. Die politischen Instrumente der Scham und Stolz sind hochaktuell und in vielen Bereichen relevant. So wird beispielsweise das Töten von Menschen in den zehn christlichen Geboten  – und somit in einer christlich geprägten Gesellschaft  – als Sünde and schändlich angesehen. Allerdings wird dies plötzlich zu einer Quelle des Stolzes, wenn es von Soldaten im Krieg getan wird: Anstelle von Scham und Schuldgefühlen tritt nun Stolz auf und Soldat*innen werden zu Held*innen. Scham und Stolz sind in jede Richtung wirksame Mittel zur Unterdrückung und Ermutigung: […] Stolz wird als eine rechtmäßige Emotion gefördert, die als legitime Kraft zum Aufbau einer Nation dient. (Tarnopolsky, 2004, zitiert in Zembylas, 2008, S. 264).

Ein jährliches offizielles Gedenken der Kriegshelden am ‚Remembrance Day‘ in Kanada soll diesen Stolz verstärken, damit auch künftige Generationen Soldat*innen werden. Ob eine Teilnahme am Krieg immer als Verteidigung zum Überleben notwendig ist, bleibt fraglich. Diese Beispiele zeigen, dass die medienwirksam propagierte Umkehrung von Scham und Stolz leicht dazu nutzbar ist, sogar prinzipielle ethische Wertesysteme außer Kraft zu setzen, um die Macht (und Gewinn) -Gier einiger weniger zu befriedigen (historisch und gegenwärtig). Munt bestätigt dies:

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Scham hat politisches Potenzial, da sie im Rahmen hegemonialer Ideale eine Trennung sozialer Konventionen auslösen kann, was eine Neu-Ordnung des sozialen Verständnisses ermöglicht. (Munt, 2007, S. 4).

Wenn die schwerwiegenden Folgen der toxischen Beschämung, sowie der Glorifizierung – an Stelle von traditionell-kulturell angepassten kooperativen Kontexten – für hegemoniale und unterdrückerische Bestrebungen missbraucht werden, können sie Menschen und ganze Nationen zu Fall zu bringen. Dieses kann bis zum Selbstmord (des Individuums), sowie zum Völkermord reichen. Hier dient die Scham nicht mehr als gemeinschaftlich-kulturelles Regulativ, welches dem Überleben (der Gesundheit) des Individuums und seiner Gemeinschaft dient, sondern dem Gegenteil, ihrem Verderben (Vernichtung) zu Gunsten einiger Weniger, die davon profitieren. In Vergangenheit und Gegenwart gibt es unzählige Beispiele für Machthabende/Regierungen und Kirchen, die weltweit im Namen von Scham und Stolz, Verbrechen an der Menschheit begangen haben und begehen. Der deutsche Holocaust, der zweifellos mehr als ein grausames Verbrechen an der Menschheit war, ist nur ein Beispiel. Die sogenannte Rassenschande des jüdischen Volkes stand dem Stolz, „arisch“ zu sein, gegenüber. Das Ergebnis ist immer noch – nach der 12-jährigen Hitlerzeit, die vor mehr als 70 Jahren endete – eine schuldige und beschämte Identität der Deutschen und Deutschlands (z. B. Heimannsberg & Schmidt, 1993). Allerdings reicht die germanische Geschichte der deutschen Nation weit über die kurze Hitler-Ära hinaus. Nichtsdestotrotz umfasst diese Schande die Gesamtheit der Geschichte, Wurzeln, Traditionen und Feste, einschließlich Sitten und Bräuche der germanischen Vorfahren. Sie findet ihren Ausdruck darin, oft als „Nazi“ bezeichnet zu werden, wenn es eine Person wagt, sich mit prähistorischen, germanischen Traditionen und Mythologie öffentlich auseinanderzusetzen. Dieses führte u. a. zu einer Abwesenheit von volkstümlichen Traditionen, wie germanischer Mythologie und Volkstänzen usw. als fester Bestandteil in Schullehrplänen – bis heute, da Hitler diese bewusst genutzt und missbraucht hatte. Einem weitaus mehr als 120 Jahre andauernden Völkermord in Nordamerika – bis vor nur 20 Jahren (bis 1996, Kanada und ähnlich USA) – stehen 12 Jahre Völkermord – bis vor über 70 Jahren (bis 1945, Deutschland) gegenüber: Die eine Nation ist immer noch stolz auf ihre „glorreiche“ Geschichte von weißen Kolonialist*innen, ohne den „Preis“ des Völkermordes weltweit auch nur zu erwähnen, während die andere Nation mit einer jahrtausendealten Geschichte vor diesen 12 Jahren immer noch beschämt über ihre eigenen Wurzeln ist und ständig von der Weltgemeinschaft daran erinnert und stigmatisiert wird. In Nordamerika hatten indigene Stämme mit ihren traditionellen spezifischen Glaubenssystemen in der Regel Krieger, die die Gruppe und ihr Territorium verteidigten, um das Überleben des Stammes direkt zu schützen. In vielen Stämmen war es daher die größte Ehre und Stolz, ein guter Krieger zu sein (McKegney, 2013; Strickland, 1997).

7.5 Zeitgenössischer Jugendwahn auf der Grundlage von Materialismus und Konsum Heutzutage sind praktizierte Traditionen nordamerikanischer Ureinwohner*innen -in­ klusive Spiritualität, sowie Scham und Stolz-Aspekte  – meist eng verwoben mit

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christlich-kolonialistischen Wert- und Glaubenssystemen. Allerdings gibt es eine große Vielfalt indigener Gruppen, so dass keine Verallgemeinerungen möglich sind (Waldram et  al., 2006). Einige indigene Stammes-Gemeinschaften und Personen versuchen, alte Traditionen wiederzubeleben und zu praktizieren, was mancherorts nur geheim und in bestimmten Kreisen passiert, als eine der Folgen des kolonialistischen kulturellen Völkermords. Andere wurden so indoktriniert, dass sich diese Christ*innen nun sogar gegen die Wiederbelebung bestimmter eigener, alter Traditionen aussprechen, während viele weder mit einer bestimmten Kultur, noch Glaubenssystem verbunden sind. Die jüngsten Einflüsse in Nordamerika betreffen jedoch alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen, da sie den Werten der Mainstream-Gesellschaft ausgesetzt und von ihnen beeinflusst sind. Die heutige nordamerikanische ‚Mainstream-­Kultur‘ hat ihre eigenen Regeln der Scham und des Stolzes, mit noch nie dagewesenen Folgen. In diesem Zusammenhang müssen wir einen Blick auf den heutigen massiven Mediensektor in Nordamerika, sowie weltweit werfen, da er das tägliche Leben nicht nur dominiert, sondern wie eine ‚Gehirnwäsche‘ funktioniert, die Werte und Ethik in jeder Hinsicht prägt. Die daraus resultierende Gesellschaft basiert auf Jugend, in der Gleichaltrige und deren medienbasierten Meinungen und Werte mehr zählen als Familie, Eltern usw. (Neufeld & Maté, 2013). Dahinter steht das kapitalistische Unternehmenssystem, das ständig neuen und steigenden (Medien- u. a.) Konsum schafft. In dieser schnelllebigen Zeit – die in der Geschichte beispiellos ist – verfügen Kinder in der Regel über mehr Wissen als Erwachsene in einem Bereich (Technik, Medien), der eine grundlegende Qualifikation für unser tägliches Funktionieren, unser ‚Überleben‘, in der Arbeitswelt ist. Die Technologie und damit der permanent expandierende Markt entwickelt sich extrem schnell, und täglich kommen neue Mediengeräte, sowie ‚Apps‘ auf den Markt. Bildschirme sind heute normale, einfache und billige Babysitter für überforderte Eltern, die ohne diese ­hilflos sind. Alle Arten von derartigen sozialen Medien, Spielgeräten, Handys, sowie in PKWs eingebaute Bildschirme, mit denen die Kinder ‚betreut‘ werden, sind die Norm. Ein Besuch in einem Restaurant oder einer typisch nordamerikanischen Kneipe, einem großen Geschäft oder Einkaufszentrum, eine Flugreise ist nicht mehr möglich, ohne ständig von laufenden Bildschirmen bombardiert zu werden, zusätzlich zu der gängigen Handysucht, die immer wieder Unfälle verursacht. Vom Kleinkindalter an wird die meiste Zeit des Tages vor Bildschirmen und interaktiv mit Spielen etc. verbracht, einschließlich unterschwelliger Botschaften, Werbung, Gewalt, Sex/Pornographie, Musik usw. Der ständige Kontakt mit diesen Medien, inclusive ihrer schädlichen Botschaften und Folgen auf die Gehirnentwicklung, führt zu einer Desensibilisierung und Akzeptanz dieser ‚Normalität‘. Ein Beispiel hierfür ist z. B. die US-amerikanische Kategorie „Gangster-Rap“, die Botschaften, Darstellungen und Aufrufe zu Gewalt, Rassismus, schamloser Sexualität, Sexismus bis hin zu Vergewaltigungsaufrufen und Aufforderungen zum Drogenkonsum enthält (Giovacchini, 1999). Weitere Beispiele sind Computerspiele, bei denen erfolgreiches Töten und Vergewaltigen Hauptziele des Spiels sind [Wikipedia 1, 2016: Liste kontroverser Videospiele (Gewalt, Sexismus, Rassismus etc.)].

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Unmoralisches und unethisch-schamloses Verhalten (im traditionellen Sinne) wird in dieser ‚Alles ist möglich‘-Gesellschaft des heutigen Nordamerikas zur Norm, da es kein (gesundes) ‚traditionelles‘ Schamgefühl als Verhaltensregulativ für die Einhaltung von Normen und Werten mehr gibt. Wie Bradshaw es ausdrückt: „Schamlos zu sein bedeutet, Gott zu spielen.“ (Bradshaw, 2005, S. 161). Die entsprechenden Folgen können zum Zerfall der Gesellschaft, zu Krankheiten, Epidemien und zum Zusammenbruch führen. Techno-ekstatischen und medienhypnotisierten Kindern und Erwachsenen werden ständig vielfältige Image-Bedürfnisse suggeriert, die sie in Wirklichkeit gar nicht haben. In diesem fast unentrinnbaren ‚Gehirnwäsche‘-System werden die Mitglieder der Gesellschaft zum ewigen Konsument*innen degradiert: Immer auf der Suche nach dem neuesten ‚Shopping-Kick‘ oder ‚social media clicks/likes‘, um die innere Leere zu füllen, die durch das unwirkliche Cyber-Leben – ohne wirkliche Verbindungen – das wir führen, entsteht. All dies ersetzt Erfahrungen, Begegnungen und Interaktionen im wirklichen Leben. In der nordamerikanischen Jugend von heute gibt es eine zunehmende Orientierung an Gleichaltrigen (basierend auf ‚Schein‘-Darstellungen in Sozialen Medien) und Gruppendruck, wenn es um Werte, Verhalten und Identität geht, wodurch der Einfluss der Älteren auf Familie und Gemeinschaft und deren Zusammenhalt zunehmend zerstört wird (Neufeld & Maté, 2013). Neufeld und Maté beschreiben diese juvenile, auf Peer-Medien basierende „Selbstbestimmung“ als zerstörerisch für die Gesundheit, sowie dem familiären Zusammenhalt, indem sie „eine feindselige und sexualisierte Jugendkultur“ fördert und Kinder hervorbringt, die „übermäßig konformistisch, desensibilisiert und entfremdet“ sind (Neufeld & Maté, 2013, Rückseite). Sax bestätigt diese Tendenz des Leistungsabfalls bei Jugendlichen und die Zunahme schwerer psychischer und anderer gesundheitlicher Probleme (Sax, 2015). Die zunehmende Leistungsschwäche bei Jugendlichen (Sax, 2015) könnte auf die mentalen Folgen, wie Konzentrationsschwäche, eigene Unzulänglichkeitsgefühle (Scham), z.  B. im Vergleich zu sozialen Medien-Darstellungen anderer, oder auch mangelnde Scham über schlechte Arbeitsleistungen zurückzuführen sein. Nachteilige Folgen werden von Sax (2015), Neufeld und Maté (2013) beschrieben. Spitzer spricht in diesem Zusammenhang vom „Digital Native“ (geboren nach 1980) (Spitzer, 2012, S. 204), der/die keine funktionalen, sozialen Fähigkeiten entwickelt, ganz zu schweigen vom Entstehen weitere (psychischer) Gesundheitsproblemen, Süchten usw. Jugendliche sind aufgrund ihrer Hirnstruktur (Spitzer, 2012) die am leichtesten zu beeinflussende Zielgruppe, bei der die Prägung, den Selbstwert nur auf materialistische äußere ‚Werte‘ zu gründen (der/die perfekte Konsument*in!), ohne viel Aufwand funktioniert. Die meisten Menschen unterwerfen sich den aktuellen, gesellschaftlich vorherrschenden ‚Werten‘, bei denen Image und äußere Erscheinung, basierend auf dem, was andere denken könnten, nun grundlegende Überlebensinstinkte auslöst. Somit werden destruktiver Scham und Stolz in Abwesenheit von bedeutungsvollen kulturellen Verbindungen, Werten oder gesundem Menschenverstand definiert.

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Die am weitesten verbreiteten Quellen von Scham und Stolz (siehe Modell linke Seite) beruhen heute daher auf der allgegenwärtigen Medienwerbung zum Erzeugen endloser Bedürfnisse und Konsum, sowie zweifelhafter medizinischer Eingriffe. Hauptaspekte sind hier das Körperbild (normierte Schönheitsoperationen, Designerkleidung etc.) und der soziale Status, der darauf beruht, was ein Individuum besitzt (Stolz), oder nicht (Scham), wie er/sie aussieht, wie er/sie sich anpasst und konform verhält, oder eben nicht. Diese Einflüsse untergraben und ersetzen traditionelle soziale Werte, wie z. B. Bewunderung für, sowie Ehre und Stolz von Mitgliedern der Gemeinschaft für ihre selbstlosen, gemeinschaftsfördernden Leistungen. Der Kapitalismus, an dessen Basis die gewinnorientierten Wirtschafts-Konzerne stehen, die ein schamloses Spiel von Konsum, Gier, Wachstum und Macht ‚spielen‘, ist und handelt schamfrei. Angestellte großer Institutionen fühlen sich in der Regel nicht persönlich verantwortlich für das Agieren ihres Arbeitgebers, da sie i. d. R. nicht in der Lage sind, verschiedene Hierarchieebenen und Entscheidungsprozesse zu durchschauen. So schaffen unzählige, schamlose Handlungen großer Institutionen (Konzerne, Kirchen, Regierungen) gegenüber Menschheit, Natur und Umwelt, eine schamlose Gesellschaft, der es an Ethik und Moral mangelt. Letztere sind allerdings zwingend erforderlich, um das harmonische gesunde Funktionieren des Ganzen, der Wieder-Verbindung mit allen Elementen (Natur, Mensch), wie in natürlich gewachsenen traditionellen Kulturen zu gewährleisten.

7.5.1 Cool ist der neue Stolz Im Bereich von Sprache kann der in Nordamerika gebräuchliche Begriff ‚cool‘ als ein exemplarischer Ausdruck im Zusammenhang von Jugend, Scham und Stolz angesehen werden. In der heutigen nordamerikanischen Gesellschaft des Jugendwahns ist ‚cool sein‘ für Jugendliche wichtiger als alles andere (Neufeld & Maté, 2013). ‚Cool‘ kann alles Mögliche bedeuten, oft schließt es ein, beschämende Dinge zu tun. An der Wurzel steht der Versuch, von einer Gruppe (i. d. R. der von den Medien beeinflussten Peer Group) akzeptiert zu werden. ‚Cool‘ ist das neue ‚Stolz-Sein‘ auf der persönlichen emotionalen Bedürfnisebene, um den individuellen Drang nach Akzeptanz, Anerkennung und Liebe zu erfüllen. Es basiert in der Regel auf Image, Körperbild und äußerer Erscheinung, aber alles kann dazugehören. Peinlich oder ‚uncool‘ zu sein, ist das Gegenteil: ein äußeres Erscheinungsbild, das nicht zu den Mainstream-Medienbildern passt. In diesem Sinne beruht es meist auf Abkopplung vom Selbst, Kultur und Ethik. Gleichzeitig fehlt das Potenzial für einen gesunden Stolz, der auf Verbundenheit, Ehre, Traditionen, Gemeinschaftswerten (die nicht unterdrücken), Moral und Ethik beruhen würde. Dies geht einher mit dem ‚Jugendwahn‘, bei dem Eltern und Ältere nicht mehr respektiert werden. In diesem Sinne muss alles, was für die heutige Jugend von Wert ist, ‚cool‘ sein. Viele Erwachsene, Lehrer*innen, vor allem auch die Werbung usw. haben sich an diesen Begriff angepasst und verwenden ihn, um von den Jugendlichen akzeptiert zu werden. Vielleicht sollte dieser Begriff mit seinen Implikationen überdacht werden.

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Ein weiterer Faktor der kulturellen Abkopplung der breiten Massen im heutigen Nordamerika, besteht darin, dass bestimmte christliche Werte für viele Menschen nicht mehr gelten. Priester und andere Repräsentanten der christlichen Kirchen zum Beispiel haben oft keinen Bezug zu den Problemen des wirklichen Lebens. Traumatische (Scham-)Erfahrungen, verursacht durch ‚christliche‘ Kirchen, sowie der Verlust alter, angestammter, traditioneller Werte, die sich in kultureller Anpassung an die Umwelt durch die Vorfahren lange vor dem aufgezwungenen Christentum entwickelt hatten, können auch in anderen als den indigenen Kulturen Nordamerikas ein Gefühl von Unverbundenheit und Abgetrenntheit hervorrufen. Die heutige multikulturelle, mobile kanadische Gesellschaft besteht aus vielen Individuen ohne enge Gruppenzugehörigkeit, die auf der Suche nach Anschluss sind. Die Kinder dieser Menschen wachsen oft noch losgelöster auf, ohne Struktur, ohne Werte, ohne Gemeinschaft gleichgesinnter Kulturen/Traditionen, ohne Verbindung zu Vorfahren. Der medienvermittelte Jugendwahn scheint die einzige massiv angebotene Option in Ermangelung älterer Ratgeber oder „Richter“ (Bô Yin Râ, 1979).

7.5.2 Öffentliche Beschämung und Lynchjustiz Die zunehmenden Vorfälle von Mobbing und insbesondere Cybermobbing zeigen, wurde der Missbrauch von Scham und Stolz zu einem weit verbreiteten Phänomen in dieser kulturell abgekoppelten Gesellschaft (Bullying Statistics, 2016). Mobbing in Schulen ist heutzutage in Kanada/Nordamerika ein großes Thema, wie der jährliche „Pink-Shirt-Day“ vermuten lässt: Einzelne Personen werden von anderen beschämt und ausgeschlossen, weil sie anders sind, andere Dinge tun, besondere Interessen haben, keine Designerkleidung tragen usw. Eifersucht, Neid, Unsicherheit und eigene Scham der Täter*innen sind oft Grundmotive. Das Internet als globale Plattform, potenziert zerstörerische Auswirkungen von Mobbing mit unzähligen Beispielen, die zu Selbstmord oder psychischen Problemen der Opfer führen können (Bullying Statistics, 2016). Die Online-Möglichkeiten, eine Person (oft ungerechtfertigt) global zu beschämen sind zahllos: bekannte Beispiele sind die Verbreitung von intimen, persönlichen Fotos, Gerüchten, Lügen, falschen Anschuldigungen über eine Person, um diese zu schädigen oder zu zerstören. Mobbing findet meist ‚hinter dem Vorhang‘ des Internets statt, hinter dem sich Täter*innen zu verstecken suchen. Das destruktive Beschämen durch Cybermobbing stellt eine Form der Lynchjustiz dar, oft mit tödlichen Folgen (Cavanaugh, 2011). Der Mangel an positiven und re-integrativen Strukturen in der Gesellschaft, sowie der Zusammenbruch des elterlichen Einflusses fördert diese Entwicklung (Juuls, 2016; Neufeld & Maté, 2013). Das kanadische/nordamerikanische Rechtssystem und die Gesellschaft sind in Bezug auf diese Mobbing- und Lynchjustiz leider nicht auf dem neuesten Stand. Der allgemeine Fokus liegt nur auf Schulen oder innerhalb von Arbeitsplätzen. Außerhalb dieses Rahmens gibt es kaum Hilfs- oder Schutzeinrichtungen und kein Gesetz zur Bekämpfung von Mobbing. So kann beispielsweise Rufmord als eine

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Form des (Cyber-)Mobbings nur dann erfolgreich strafrechtlich verfolgt werden, wenn finanzielle Schäden nachgewiesen werden können (Glen Greene, Anwalt, persönliche Mitteilung, April Greene, 2015). Dabei ergibt sich die Frage, wie sich psychische oder andere gesundheitliche Auswirkungen von Scham finanziell bemessen lassen? Es scheint, dass weder das (kanadische) Rechtssystem, noch die Gesellschaft, in der Lage sind, gegen destruktive Formen öffentlicher Beschämung und Lynchjustiz vorzugehen, welche oft auf Neid, Missgunst und Gier anderer beruhen.

7.6 Scham als Gesundheitsressource Im Folgenden wird das Potenzial von Scham im salutogenen Sinne, für positive Gesundheitsauswirkungen, betrachtet. Kann Scham in den betrachteten Kontexten eine Gesundheitsressource sein oder werden? Wie können die Auswirkungen der Beschämung und Scham positive Gesundheitsfolgen haben? Es werden mögliche Ressourcen für die Transformation von Scham in eine Gesundheitsressource aufgeführt, von denen einige auch von anderen Autor*innen beschrieben wurden (z. B. Brown, 2006; Bradshaw, 2005). Scham ist Stress in Isolation und Salutogenese bedeutet Wiederverbindung. Scham ist eine Reaktion auf ein belastendes Ereignis und verursacht Stress. Die Wahrnehmung von und Reaktion auf Stress ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Während manche Menschen Scham empfinden, ist dies bei anderen nicht der Fall. Dieses hängt (siehe oben) hauptsächlich von Erziehung, früheren Erfahrungen und Selbstwertgefühl ab (Bradshaw, 2005). Belastende Scham kann sowohl durch ein intrinsisches Gefühl allein (imaginiertes Verurteilt-Werden durch andere), als auch durch beabsichtigtes oder unbewusstes beschämendes Verhalten anderer ausgelöst werden, gerechtfertigt oder nicht. Dennoch werden alle Formen als Stress empfunden, als Angriff auf die ganze Person, die infolgedessen Scham empfindet. Die bekannte grundlegende biologische Stressreaktion auf einen Angriff wäre die allgemein bekannte ‚Kampf oder Flucht‘-Reaktion, die von Walter Cannon (Williams & Bracha, 2004) in den dreißiger Jahren beschrieben wurde. Im Falle von Scham ist jedoch weder Flucht noch Kampf möglich, da das (gefühlte) Bedürfnis besteht, Teil der beschämenden Gruppe zu sein. Entwicklungsgeschichtlich sind Menschen soziale Wesen, deren Gruppenzusammenhalt das Überleben sicherte. Daher strebt ein Individuum psychologisch immer danach, von der eignen Gruppe akzeptiert, anerkannt und geliebt zu werden, insbesondere, wenn sie von der beschämenden Person abhängig ist und sich als schwächer wahrnimmt (z.  B. ein Kind). Infolgedessen versucht die beschämte Person, sich zu verstecken (wenn möglich), oder auch gefällig zu sein, die körperliche Stressreaktion geht nach innen, anstatt eine Kampf- oder Fluchtreaktion zu ermöglichen. Scham, als der ultimative emotionale Stressor im salutogenen Sinne, spiegelt ein Gefühl des Getrenntseins wider und verlangt nach Wiedereingliederung (Nathanson, 2008). Die Grundlage des salutogenen Modells ist das wahrgenommene Kohä-

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renzgefühl (Gefühl der Verbundenheit). Gefühlte Scham ist das Gegenteil davon. Sie impliziert Verstecken, Isolation, sich allein and wertlos zu fühlen. Ihr zentraler Stress-Aspekt für unser tägliches Leben, der bei fast jedem Verhalten eine Rolle spielt, wird von Scheff und Retzinger (Scheff & Retzinger, 1991, zitiert in Zembylas, 2008, S. 266) als „Master Emotion“ beschrieben. „Scham und Stolz sind vielleicht die mächtigsten Kräfte in der menschlichen Welt“, so Scheff (Scheff, 1994, zit. in Zembylas, 2008, S. 266). Dies geht damit einher, dass sie häufig die Quelle weiterer Stressfaktoren, wie Angst, Depression (Lewis, zitiert in Morrison, 1996, S. 3), Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen, Dissoziation und anderer psychologischer Herausforderungen sind, die zu Süchten usw. führen können (u. a. Bradshaw, 2005). Daher sollte die Scham als mögliche Ursache anderer Symptome eine größere Rolle bei therapeutischen Behandlungen spielen, damit diese wirksamer behandelt werden können (Lewis, zitiert in Morrison, 1996, S. 3). Auf diese Weise könnte sich die oft unerkannte Scham in eine Quelle der Heilung verwandeln. Nach Antonovsky können Stressoren  – und damit auch Scham  – mit entsprechenden Ressourcen potenziell überwunden werden, was zu mehr Gesundheit führt (Antonovsky, 1985). Die Ressourcen müssen vorhanden sein, bzw. erkannt/aktiviert oder geschaffen werden, was in Therapie erfolgen kann. Bei den potenziellen Ressourcen zur Bewältigung von Scham geht es vor allem um die Wiederherstellung von Beziehungen (Kohärenzgefühl)  – zu sich selbst, zu anderen, zur Natur, zum Göttlichen (einer höheren Macht als dem Menschen) und zu einem gesunden Glaubenssystem (Weltanschauung). Diese sind durch toxische Scham zerstört worden. Wie Bradshaw den metaphorischen Fall Adams in der Bibel beschreibt, geht es bei der Scham um die Wiederherstellung der Beziehung zu Gott, der Beziehung zu sich selbst, der Beziehung zu Bruder und Nachbar und der Beziehung zur Welt (Natur). (Bradshaw, 2005, S. 160).

Munt bestätigt, dass „[…] Scham einige latente, positive Effekte in sich tragen kann“ (Munt, 2007, S. 4). Sie beschreibt, wie Scham als schmerzhaftes Gefühl in positive Energien umgewandelt werden kann, wie es in den „sozialen Befreiungsbewegungen“ geschah, die auf „der binären Opposition von Stolz/Scham […]“ basierten (Munt, 2007, S. 4). In kleinen Stammesgemeinschaften stellte das Instrument der Beschämung ein wichtiges Verhaltensregulativ zum Nutzen der Gemeinschaft (Überleben) und somit auch für das beschämte Mitglied dar (z. B. wiederbelebt im Modell der wiederherstellenden Gerechtigkeit „Restorative Justice“, Handel, 2007). Angemessene Beschämung für schädigende Handlungen, damit der/die Täter*in sein/ihr Verhalten ändert, anpasst oder verbessert, kann als Beitrag zum Überleben der Gemeinschaft und um seiner/ihrer selbst willen funktionieren. Diese ideale Form der gesunden Beschämung/Scham ist sowohl für die gesamte Gruppe als auch für das Individuum von Vorteil. In diesem Sinne kann die Scham zur Gesundheit eines Menschen beitragen, indem die Person die Chance zur Wiedergutmachung bekommt, sich angemessener verhält, bessere Ergebnisse erzielt und somit soziale Anerkennung, Wohlstand und Akzeptanz in der Gruppe wieder-erlangen kann (Ressourcen/Salutogenese). So kann eine ehemals beschämte Person erfolgreicher werden, Ressourcen im salutogenen

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Sinne anhäufen (Anerkennung, Gemeinschaft usw.) und gesünder werden (Salutogenese). Damit salutogenetische Scham jedoch funktionieren und konstruktiv sein kann, muss ein gesellschaftlich verankerter, gemeinschaftlicher Prozess vorhanden sein (restaurativer Prozess), der die Möglichkeit bietet, sich auf kluge, unterstützende und intervenierende Weise wieder zu verbinden. 1. Diese potenzielle erste Ressource des Beschämens ist „reintegrativ“, anstelle von „stigmatisierend“, wie Handel es formuliert (Handel, 2007, S.  3): Hier stellt die Beschämung schädlichen oder destruktiven Verhaltens, einschließlich der folgenden potenziellen sozialen Wiederanbindung nach akzeptierter ‚Wiedergutmachung‘ ein sinnvolles verhaltensregulierendes Mittel zur Unterstützung der Gruppe und ihrer Mitglieder dar. 2. Zweite Ressource: Die Erkenntnis, dass jeder Mensch Scham-Probleme hat, kann als verbindende Ressource wirken. ‚Ich bin damit nicht allein‘ (Gefühl der Verbundenheit). Wesentlich für den Selbstermächtigungsprozess ist das bewusste Entdecken und Anerkennen der eigenen Anfälligkeit für Scham (Brown, 2006; Morrison, 1996). 3. Dritte Ressource: Die Anerkennung der eigenen Scham und Verletzlichkeit In Verbindung mit der Verletzlichkeit ist es wichtig, persönliche verborgene Schamgefühle zu offenbaren und offen darüber zu sprechen (Bradshaw, 2005; Brown, 2006). Die Fähigkeit, öffentlich über eigene Schamerfahrungen zu sprechen, ist auch ein Beweis für die Überwindung von Scham (Bradshaw, 2005). Diese „Selbstentblößung“ ist nach Morrison (1996, S. XI) „eine der wichtigsten Methoden zur Heilung von Scham“. Sie kann als Befreiung von traumatischen Schamerfahrungen empfunden werden und insbesondere zu einem neuen (verloren gegangenen) Gefühl von Macht und Verbundenheit führen, und zwar durch das Einverständnis und die Unterstützung von Gleichgesinnten, die ähnliche beschämende Erfahrungen gemacht haben – wie im Fall der indigenen Völker Nordamerikas. Das Teilen von Schamerfahrungen führt zur Verbindung mit anderen Menschen. Aus dem Verständnis und der Offenheit über eigene Scham entsteht Empathie für andere, die wiederum verbindet. Die Verbindung kann sogar noch stärker sein, wenn die gleiche oder eine ähnliche Kultur geteilt wird und reaktiviert werden kann (siehe Ressource 2). Bradshaw beschreibt den Effekt so: „Die zwischenmenschliche Brücke wurde repariert.“ (Bradshaw, 2005, S. 160). „Wenn man sich nicht mehr darum schert, dass man beschämt wird, vor allem, wenn horizontale Bindungen, die durch Gemeinschaften der Beschämten entstanden sind, in den kollektiven Wunsch umgewandelt werden können, politische Präsenz und ein legitimes Selbst zu beanspruchen, kann dieses neue Identitätsgefühl voranschreiten und Rechte und Schutz erlangen. Es gibt auch eine gewisse Freude, die durch das Herausschlüpfen aus der Scham befreit werden kann, wie es in den frühen Epochen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, der Schwulenbefreiungsfront und der Frauenbefreiungsbewegung in den 1970er-Jahren der Fall war“.

„Von der Scham befreit zu sein, kann ein Hochgefühl erzeugen, [...]“ (Munt, 2007, S.  4) oder mit einem anderen Wort: Empowerment bedeuten. Munt (2007) beschreibt, wie diese Öffnung von Scham zu Stolz führen und sogar einen sozialen

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Wandel bewirken kann. Da Scham eine gruppenbezogene Emotion ist, müssen wir auch erkennen, dass wir heutzutage unsere eigene, bewusst gewählte kulturelle oder andere gleichgesinnte Gruppe brauchen, um unsere Werte aufrechtzuerhalten. 4. Vierte Ressource: Offener Umgang mit persönlichen Schamgefühlen. 5. Fünfte Ressource: Der Kontakt zu Gleichgesinnten und Gruppen, die ähnliche Schamtraumata erfahren haben (Brown, 2006). 6. Sechste Ressource: Einfühlungsvermögen für andere (beschämte) Menschen zeigen (Brown, 2006). Der zentrale Aspekt von Antonovskys Modell ist das Kohärenzgefühl, das auf dem Gefühl der Verbundenheit beruht. Kulturen haben sich in Anpassung an die Umwelt und die Lebensumstände entwickelt. Wir sollten uns niemals für unsere eigenen Wurzeln schämen – im Gegenteil: Wenn wir Scham als Gesundheitsressource nutzen, müssen wir erkennen, wie entscheidend und wichtig die eigenen Wurzeln und Traditionen sind. In den Gruppen der Ureinwohner*innen ist die (Wieder-)Verbindung zu Tradition und Kultur eines der wichtigsten praktischen Mittel zur Stärkung der Selbstbestimmung, selbst wenn keine enge und stabile soziale Lebensgemeinschaft besteht (z. B. in städtischen indigenen Gruppen und in der heutigen nordamerikanischen Mainstream-Gesellschaft) (Hunter et al., 2006; McCormick, 2007; Schiff & Pelech, 2008). Auch die Verbindung zu einer höheren Macht und in diesem Sinne die Spiritualität sind wesentlich, um sich verbunden zu fühlen. Bradshaw beschreibt die göttliche Rückverbindung als: „Die Wiederherstellung eines Bandes der Gegenseitigkeit mit Gott hat eine enorme Kraft, toxische Scham zu heilen.“ (Bradshaw, 2005, S. 160). Diese Rückverbindungen, auch zu den Vorfahren, können in Verbindung mit der Unterstützung bewusst gewählter kulturell gleichgesinnter Gruppen besonders bedeutsam für die Heilung von destruktiver, toxischer, ungerechtfertigter und generationenübergreifender Scham sein. Die Wiederherstellung der Verbindung zueinander durch die Kultur trägt zum Empowerment und zum Mut bei, ein „Alpha-­Leader“ (Juuls, 2016) für die Jugend zu werden. Louth (2012) beschreibt, wie die Überwindung des „Scham“-Faktors „indigene Menschen dazu befähigen kann, ihre Kultur mit der breiteren Gemeinschaft zu teilen und zu feiern“ (Louth, 2012, S.  1) anhand eines australischen Beispiels, das die Erfahrungen indigener Menschen in der Vergangenheit mit kolonialistischer Erfahrungen beschreibt, die viele Parallelen zu den hier beschriebenen Beispielen zeigen. Shchetinin, der Gründer der Tekos-Schule in Russland, beschreibt, dass Kinder, um ihr volles Potenzial zu erreichen, „mit der kollektiven ethnischen Seele“ und „mit ihren Vorfahren“ verbunden sein müssen. Sie müssen „in der Natur ihres Heimatlandes verwurzelt sein“ (Rotter, 2013, S. 1; Shchetinin, 1989). 7. Die potenzielle siebte Ressource ist die (Rück-)Verbindung zu unseren Wurzeln: Tradition, (nicht unterdrückende) Kultur, Ahnenverbindungen und göttliche Kraft (Spiritualität/geistige Wesen), Natur usw. in Form von Zeremonien, Ritualen usw. Um unsere eigene Scham zu heilen, müssen wir uns bewusst mit der Quelle der Scham, mit ihrem Ursprung und ihrem Zweck auseinandersetzen. Wir müssen uns bewusst machen, wer uns beschämt hat und warum? Warum empfinde ich Scham?

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Wird Scham benutzt, um individuelles Verhalten für eine gesündere Gemeinschaft zu korrigieren, oder als Mittel zur Unterdrückung aus Gier, Neid oder Eifersucht, bzw. als Folge von toxisch beschämenden Bezugspersonen? Wurde es nur als Scham wahrgenommen? Stammt sie aus einer fremden Quelle, die nichts mit mir und meinen wahren inneren Werten zu tun hat/hatte? Welches sind diese Werte? Wird sie innerhalb einer bedeutsamen kulturellen Tradition oder als Teil meiner Kultur verwendet? Scham und Beschämung wurden als Mittel eingesetzt, um unerwünschte Kulturen auszulöschen und durch ‚Kultur‘ der Unterdrücker (Kolonialisten, christliche Kirche) zu ersetzen. Sie werden auch heute noch zur Unterdrückung von Frauen oder Andersgesinnten eingesetzt, wenn diese bestimmten Machtstrukturen entgegenstehen. Für das Gefühl von Scham spielt es keine Rolle, ob ich mir etwas als beschämend oder peinlich vorstelle, oder ob es wirklich passiert. Selbst wenn Menschen versuchen, mich zu beschämen, ich es aber nicht bemerke, geht es nur um meine eigene Wahrnehmung. Die Wahrnehmung basiert auf früheren Erfahrungen, der Erziehung (z. B. Erröten, Angst vor dem Sprechen) und damit auf dem Selbstwert und dem Glaubenssystem (Bradshaw, 2005). Damit Scham als Gesundheitsressource genutzt werden kann, muss wir uns der Quelle der Scham und damit unseres Glaubenssystem in Bezug auf unsere Schamerfahrungen bewusst sein. Es muss möglicherweise explizit neu justiert werden (Glaubenssystem als Gesundheitsressource, Antonovsky, 1985, Ressource 8), notwendigerweise mit Unterstützung einer gleichgesinnten Gemeinschaft (vgl. Ressource 6). Das erlernte Bewusstsein, dass die Scham ungerechtfertigt war (z.  B.  Rassenscham), kann zu neuer Stärke verhelfen. Insbesondere in Situationen toxischer Scham, in denen „es keinen Grund oder keine Rechtfertigung für die Stigmatisierung durch Scham gibt“ (wie rassistische oder homosexuelle Scham), kann eine Bewältigungsstrategie von Einzelpersonen und Gruppen darin bestehen, dass „Scham in Stolz umgewandelt wird […], um den Diskurs umzukehren“, wobei sich die entwürdigte beschämte Person in eine stolze Person verwandelt (Munt, 2007, S. 4). Der Stolz kann sich auf die eigenen Vorfahren und die eigene Kultur stützen, insbesondere in Verbindung mit der Rückbindung an die Kultur, die kulturelle Gemeinschaft und die Traditionen der Vorfahren (Ressource 2). 8. Die potenzielle achte Ressource ist das Bewusstsein für das Wer, Warum und Wie der Scham. Eine so gewonnene neue Perspektive auf das Thema Scham kann ermächtigen. Ein weiteres Beispiel für die Entwicklung einer anderen Sichtweise ist die Aufstellungsarbeit. Diese ist besonders sinnvoll für die Heilung der intergenerationalen Weitergabe von Scham. Bei diesem Ansatz werden z.  B. aktuelle persönliche (Scham-)Themen mit breiteren Beziehungsgeflechten und Verständnis verknüpft: z. B. Gemeinschaft, Familie und Ahnen, und können möglicherweise bis zu einem gewissen Grad gelöst werden (Boring, 2012; Mayer & Hausner, 2015). Die Bedeutung von Ahnenverbindungen für die Wiederherstellung von Harmonie und Gesundheit am Beispiel der (Familien-)Aufstellungsarbeit wird auch in Mayer und Hausner (2015) und Buch (2015) beschrieben. Mason Boring (2012) zeigt diese Zusammenhänge aus der Perspektive der amerikanischen Ureinwohner*innen auf. Diese besondere Gruppenmethode, sowie Methoden von Virginia Satir (Bradshaw,

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2005), die die Teilnehmenden validieren und fördern, können bei der Lösung „ungelöster Probleme in [der] Herkunftsfamilie“ helfen, um Scham zu reduzieren und sie von toxisch in gesund zu verwandeln (Bradshaw, 2005, S. 169). Die Familienaufstellung verdeutlicht auch die entscheidende Bedeutung der Ahnenbeziehungen für unser Kohärenzgefühl (Verbundenheit) und unsere Heilung und kann unser unbewusstes, inneres Glaubenssystem (Salutogenese) beeinflussen. Wahrnehmung kann durch Bewusstsein und ein verändertes Glaubenssystem verändert werden. Das Vertrauen in eine größere Einheit (das Göttliche), sowie die Verbindung mit eigenen Vorfahren ist hier hilfreich. Sich als Nachkomme einer Ahnenreihe zu sehen, kann ein Gefühl der Verbundenheit schaffen (Antonovsky, 1985). 9. Neunte Ressource: Veränderung der Sichtweise von Scham und damit des Glaubenssystems mit verschiedenen Methoden, zum Beispiel durch ­Aufstellungsarbeit und andere Interventionen, aber auch durch das Annehmen einer höheren Macht (Bradshaw, 2005). 10. Zehnte Ressource: Verringerung der Scham durch Veränderungen im eigenen Leben (Umwandlung von destruktiver in konstruktive Scham). Bradshaws (Bradshaw, 2005) Beispiel ist der Wechsel von Alkoholabhängigkeit zu z. B. Gruppenabhängigkeit und die Lösung von Problemen mit Herkunftsfamilie bzw. Kindheitstraumata, indem ein Individuum endlich „erwachsen“ wird (Bradshaw, 2005). Louth (2012) beschreibt einen Fall von Empowerment ehemals beschämter australischer Ureinwohner*innen (vergleichbare Geschichte zu nordamerikanischen Ureinwohner*innen),1 der zu einem Gefühl des Stolzes durch ein traditionelles kulturelles Fest führte, bei dem Respekt und Einbeziehung durch die lokale Gemeinschaft und Bildungseinrichtungen eine entscheidende Rolle spielten. Das Ergebnis war ein verstärktes Gefühl der Verbundenheit mit der lokalen Gemeinschaft und ihrem Bildungssystem. Wichtig für diese „Überwindung des Schamfaktors“ (Louth, 2012, S.  1) und die Umwandlung in Empowerment waren, dass Wunsch und Initiative von der Gemeinschaft selbst kamen, und Respekt für die kulturellen Darbietungen erfahren wurde. 11. Elfte Ressource: Wiederherstellung der Beziehungen (Bradshaw, 2005) und Verbindung zu anderen: Nachbar*innen usw. Das Willkommenheissen anderer, insbesondere ehemals beschämender Gruppen (Weiße), ist für diesen Schritt entscheidend. Aus dieser Liste, sowie den Erfolgsgeschichten von Heilung und Stärkung durch Rückbindung, Lernen, Einbindung in persönliche traditionelle kulturelle Praktiken, sowie dem zentralen Aspekt des Salutogenen Modells – dem Kohärenz-/Verbindungsgefühl – können wir schließen, dass die Rückbindung an und die Wiederentdeckung von Traditionen der Vorfahren, Geschichte, Familien usw. eine wichtige Rolle für die Gesundheit spielen kann. Dies gilt nicht nur für die Traditionen der nordamerikanischen Ureinwohner*innen und deren Heilung von Scham. Jeder Mensch hat Ahnenwurzeln, Verbindungen, die zum Teil weit in die Geschichte, in die Familie, in die kulturellen Ursprünge zurückreichen. Kultur hat sich immer in Wechselwirkung mit Umwelt und Lebensbe Ein Artikel von Sharon Louth findet sich auch in diesem Buch als Kap. 8.

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dingungen entwickelt, um zu überleben. Dieser Aspekt wird umso wichtiger, wenn wir die Weitergabe von Scham über Generationen hinweg betrachten. Die Überlegung, worin sich bestimmte Ursprünge kultureller Traditionen gründen, geht weit über die Christianisierung hinaus, die leider meist gewaltsam erfolgte, ohne natürliche Integration oder bewusste Beibehaltung früherer kultureller Traditionen und Glaubenssysteme. Bestimmte Eigenschaften und Merkmale können immer noch Teil der Mentalität eines Menschen sein, die als Teil der evolutionären, kulturellen Anpassung zum Überleben entstanden sind. Diese Eigenschaften mögen eine enorme Bedeutung dafür haben, wer wir heute sind und welchen Beitrag wir zum globalen Leben und zur Entwicklung der zukünftigen Welt leisten. Wenn es uns gelingt, sie wiederzuentdecken, a­ nzuerkennen, wertzuschätzen, zu ehren und einzubringen, könnten wir in einem verbindenden Sinn als Nation stolz auf sie sein. Allerdings nicht als etwas, das andere verdrängt oder beherrscht, sondern als etwas Wertvolles, das beigetragen werden kann. Aufgrund des zunehmenden Mangels an kultureller Struktur und Verbindung könnte das Bewusstsein für Verflechtungen zu unseren Ahnen mehr verbundene und somit ‚globale‘ verantwortungsbewusste, selbstbewusste Bürger*innen schaffen. In diesem Sinne wirkten Scham und Stolz in vielen traditionellen Kulturgesellschaften als soziales Regulativ, um die Gruppe mit ihren Wert- und Glaubenssystemen zusammenzuhalten, als auch zu anderen Gruppen abzugrenzen. Toxische Beschämung fand in Form von rassistischer Schändung statt, wie z. B. in ‚Residential Schools‘ gegenüber Ureinwohner*innen, sowie gegenüber andersartigen Gruppen, Individuen und Frauen – und ereignet sich auch heute noch (Leverenz, 2012). Eltern, die selbst toxisch beschämt wurden und nicht in der Lage waren, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln, setzen diesen Weg fort (Bradshaw, 2005). Mit Intervention und Hilfe von außen kann dies vielleicht in Empowerment umgewandelt werden. Die Herausforderung bei dieser Form der Beschämung besteht vor allen Dingen darin, dass sie generationenübergreifend ist. Das führt dazu, dass die Nachkommen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, wenn sie nicht aufgelöst werden. Interventionen zur Wiederherstellung der Verbindung mit Hilfe von entsprechend trainierten Therapeut*innen, Ältesten und gleichgesinnten Gruppen können auf der Wiederbelebung alter Traditionen (Ahnen), spirituellen Verbindungen und Gruppenunterstützung beruhen (Bradshaw, 2005). Im Falle der nordamerikanischen Ureinwohner*innen wurde dies bereits in einigen Fällen erfolgreich praktiziert, z. B. bei Schwitzhüttenzeremonien und anderen (McCormick, 2007; Waegemakers Schiff & Pelech, 2008). Beschämung, die auf fehlenden intrinsischen Werten und auf ‚Image‘- materialistischen, ‚jugendlichen‘- Werten beruht, und durch ständige Medienexposition in Gehirne ‚implantiert‘ wird, benötigt Interventionen, die vor allem auf Bewusstheit, Verbindung mit kulturellen Werten und Strukturen und den oben genannten Aspekten basieren, um Empowerment zu ermöglichen. Präventive Maßnahmen zum Schutz unserer Kinder vor Image-basiertem destruktivem ,Shaming‘ beschreiben Neufeld und Maté (2013), Sax (2015) und Juuls (2016): Eltern müssen wieder die Verantwortung übernehmen, ihren Kindern mit Liebe eine Struktur zu bieten und „das Familienrudel“ zu führen. Daher ist die Befähigung der Eltern, echte Eltern zu sein und ihre Kinder zu begleiten, von größter Bedeutung.

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Heute wird Scham nicht mehr als überlebenswichtiges Regulativ genutzt. Kleinere, kooperative Gemeinschaften und ihren Traditionen mit ursprünglicher regulativer Schamfunktion sind in vielerlei Hinsicht verloren gegangen. Gleichzeitig sind in heutiger nordamerikanischer Gesellschaft ursprüngliche kulturelle Werte durch gesundheitsschädigende Werte ersetzt worden. Weiterhin gibt es viele Praktiken weltweit, in denen Scham zur Unterdrückung bestimmter Mitglieder eingesetzt wird. Das positive Relikt der Beschämung, das einer Person hilft, ‚richtiges‘ Verhalten zu erlernen (richtig bedeutet überlebenswichtig und gesundheitsfördernd für die Gruppe und den Einzelnen), müsste innerhalb unserer eigenen Wurzeln rekultiviert werden. Um seine ursprüngliche Kraft innerhalb einer Gemeinschaft wiederzuerlangen, sollten ähnliche Ansätze, wie das „Restorative Justice System“ (Handel, 2007), als fester gesellschaftlicher Prozess, integriert werden.

7.7 Schlussfolgerungen Der Mensch ist als Teil seiner ursprünglichen Überlebensstrategie ein soziales Wesen. Beschämung als inhärentes Werkzeug mit potentieller Wiedereingliederung/ Wiederanbindung funktioniert innerhalb interaktiver, wechselseitig verbundener sinngebender Gruppensysteme: Gemeinschaft mit individueller Unterstützung der Mitglieder, in der alle zum Überleben voneinander abhängig sind. Hier dienen Scham und Stolz der Bewahrung von Werten, Moral, Ethik und Fähigkeiten bei jedem Mitglied. Der Prozess der Wiederherstellung der Einbindung durch Eingriffe von außen, ist ein unerlässlicher Teil der Beschämung; Er ist notwendigerweise diesem auf Gegenseitigkeit beruhenden Gemeinschaftssystem inhärent. Im Gegensatz dazu ist die moderne individualistische (kapitalistische) nordamerikanische Gesellschaft durch große, hierarchische Institutionen (Regierungen, Kirchen, Konzerne), ohne wirkliche sinnvolle Nähe zum Individuum gekennzeichnet, die nur eine einseitige Ausbeutung ihrer Mitglieder betreiben. Eine ähnliche Struktur gab es schon bei der frühen kanadischen Kolonialregierung, nur dass damals die Kolonialist*innen auf Basis der Ausbeutung der Ureinwohner*innen profitierten. Die Beschämung (Ausrotten der Kultur) der Ureinwohner*innen Nordamerikas mit dem Ziel, diese gefügig zu machen (McKegney, 2013), war möglich, weil die Schwächsten, nämlich die Kinder, in Internatsschulen toxisch indoktriniert wurden. Ähnliche Prozesse finden heute statt – zumeist unbemerkt und subtil in einer neuen technischen Dimension. Damals in den Internaten und heute in der Medienwelt waren und sind leicht beeinflussbare Kinder und Jugendliche das Hauptziel für die Indoktrination von profit- und machtfördernden Scham- und Stolz- ‚Werten‘, die darauf ausgelegt ist, egoistische Gier zu befriedigen und sie zu wirksamen, krankmachenden und zerstörerischen Werkzeugen zu machen. Die heutige Indoktrination läuft ungehindert über die Medien und beeinflusst Denkweise und Sprache. Die Regierungen empfehlen sogar die verfrühte Nutzung von Medien (Computer, Smartphones, Ipads usw.) für Kleinkinder und Vorschulkinder gegen besseres wissenschaftliches Wissen (Spitzer, 2012).

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Hinzu kommt, dass die Menschen in der modernen, auf sozialen Medien basierenden Gesellschaft, die Fähigkeit zu wesentlichen, wirklich bedeutungsvollen sozialen Verbindungen und gesundem Menschenverstand verlieren. Cyber-­Verbindungen und zensierte, oft unwahre Informationen werden zunehmend zu einer süchtig machenden Illusion, da das Bedürfnis nach direkten menschlichen Interaktionen nicht durch entfernte, anonyme und oberflächliche technische Verbindungen erfüllt werden kann (z. B. Spitzer, 2012). Isolation und Sucht sind direkt mit Scham verbunden. (Cyber-)Mobbing ist eine weitere Form des Missbrauchs der Scham. Eine häufige Folge ist, dass beschämte oder gemobbte Menschen ­schließlich selbst zu Mobber*innen werden und andere beschämen, um mit ihrer Wut und ihrem Zorn umzugehen. Anstatt wirksame Maßnahmen gegen schamloses Verhalten zu ergreifen, fördert die hierarchische Struktur großer Konzerne und Institutionen der modernen Gesellschaft selbst schamlose Handlungen von Einzelpersonen für persönlichen Gewinn, Macht oder Nutzen. Beispiele dafür gibt es zuhauf, wie die Umweltzerstörung oder Verletzung von Menschenrechten durch große Unternehmen, sowie die sexuellen Missbrauchsopfer von Priestern im Fall der katholischen Kirche (McKegney, 2013 usw.) zeigen – ohne ernsthafte Konsequenzen. Gleichzeitig werden erfahrene Alte im Zeitalter der Jugend-Verherrlichung oft missachtet und beschämt, anstatt als wichtige Ratgeber*innen respektiert zu werden. Sowohl in traditionellen, auf gegenseitigem Nutzen beruhenden Gesellschaften, als auch in den modernen, ausbeuterischen Systemen, wurden und werden Scham und Stolz als mächtige psychologisch-politische Instrumente eingesetzt: Erstere dem Gemeinschaftswohl konstruktiv dienenden, letztere auf egoistische, zerstörerische Weise. Indigene Gruppen haben traditionelle, weise Führungsfiguren durch Völkermord verloren. Ebenso mangelt es vielen jungen Menschen an Führung und Begleitung durch ältere, potenzielle Berater*innen, da Gleichaltrige und Cyberspace-­Verbindungen mehr wertgeschätzt werden, als Familie und elterlicher Einfluss untergraben wird, durch heutige mediale „Gehirnwäsche“ (Neufeld & Maté, 2013; Sax, 2015). Scham und Stolz existieren in der modernen Gesellschaft nur noch als missbrauchtes emotionales soziales Relikt. Sie sind kein integraler Bestandteil moderner individualistisch orientierter Gesellschaften. Die Reintegration eines Individuums nach einer Beschämung ist weder für das Überleben der Gesellschaft notwendig, noch erwünscht. Es gibt also kein systemimmanentes Eigeninteresse oder eine Motivation, zu intervenieren und der beschämten, gelynchten Person zu helfen. Daher gibt es auch keine systemimmanente Möglichkeit, Scham zu einer Gesundheitsressource werden zu lassen. Scham kann nur durch Eigeninitiative und den Verbund von Geschändeten zum potenziellen Empowerment führen. Ist diese Form der individualistischen versus gemeinschaftsorientierten Gesellschaft gar der Ursprung des destruktiven ‚Shamings‘, das sich dann mit den beschriebenen Folgen intergenerational fortsetzt? Ein Ausweg besteht darin, im wirklichen Leben sinnvolle Verbindungen aufzubauen, die auf gemeinsamen Lebenserfahrungen, auf Beziehungen (inclusive Natur, Universum), Familie, Vorfahren, kulturellen Werten usw. beruhen. Im Mittelpunkt

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steht dabei die Rückbesinnung auf die Familieneinheit, die gestärkt und geheilt werden muss. Wir müssen zuerst unsere persönliche Scham heilen und uns dann auf die Wiederherstellung der elterlichen Rolle (als Kerngruppe) mit Strukturen und sinnvollen Werten in der Familie konzentrieren. Generell ist Scham nicht ‚nur schlecht‘ und destruktiv, wie viele frühere Veröffentlichungen formuliert haben (Tarnopolsky, 2004, zitiert in Zembylas, 2008). Sie ist weder „gut noch schlecht, sondern ambivalent“ (Zembylas, 2008, S. 277) und dualistisch: wie ein Messer, das zum Überleben (Ernte und Nahrungszubereitung) oder zum Töten (Tod) verwendet werden kann. Wie das immer noch verbreitete Verbergen, Verleugnen und fehlende Anerkennen dieses Themas vermuten lässt (z. B. Zembylas, 2008), werden wir jedoch in Wirklichkeit alle irgendwann von Scham „getroffen“, und „der kulturelle, politische und pädagogische Einsatz der Scham“ (Zembylas, 2008, S. 263) ist in allen Lebensbereichen präsent. Helen Block Lewis glaubte, dass die in der Behandlung übersehene Scham („by-passed shame“) eine Hauptursache für das Scheitern von Psychotherapie ist (Morrison, 1996). Scham ist ein normaler Teil des Lebens eines jeden Menschen. Diese Anerkennung kann eine salutogenetische Erinnerung an unsere Verbundenheit durch Scham sein. Scham ist eine starke Emotion und Ausdruck eines sozialen Wesens, das Teil einer Gruppe sein, anerkannt werden und einen Beitrag leisten möchte. Ihre Grundlage ist das Verlangen nach Gemeinschaft, nach Rückverbindung (Nathanson, 2008). „[…] Scham kann [in der Politik der interkulturellen Bildung] auch produktiv sein – indem sie etwas zu sozialen und kulturellen Begegnungen beiträgt, und neue Erkenntnisse darüber liefert, wie verschiedene kulturelle Gruppen in der Gesellschaft leben.“ (Zembylas, 2008, S. 265). Wichtige Schritte für die Umwandlung von Scham in Ermächtigung (Empowerment) und Gesundheit sind: die Anerkennung der eigenen Scham, das Bewusstwerden der Gründe, warum die Scham entstanden ist, und die Wiederherstellung der Verbindung zu sich selbst, zu anderen Menschen/Gemeinschaften, zum Göttlichen/ Überirdischen, zu Ahnen, Kultur und zur Welt (Natur). Auf diese Weise kann das Gefühl der Kohärenz (Antonovsky, 1985) in Form von „ansprechenden, bestätigenden Beziehungen“ (Morrison, 1996, S. 113) wiederhergestellt werden. Nur mit entsprechenden Ressourcen und Unterstützung sind wir in der Lage, uns über die Scham zu erheben. Der mit Scham verbundene Stress (Spannung, Reibung) kann als Herausforderung zur Überwindung eines Hindernisses betrachtet werden, das unserem Leben einen Sinn geben kann. Die (zur Verfügung stehenden) Ressourcen (Salutogenese) können dann wie Schmiermittel wirken, um Reibung (Spannung) zu verringern. Im Rahmen einer positiven oder „konstruktiven Politik der Scham in interkultureller Bildung“ innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft wie Kanada, schlägt Zembylas vor, dass Lehrkräfte ihre Schüler*innen in der Entwicklung eines Bewusstsein und einer Offenheit für die Ambivalenz der Scham unterstützen, einschließlich einer grundlegenden Untersuchung vergangener und gegenwärtiger Ereignisse, die dann zu einem „tiefe-

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ren Verständnis von Andersartigkeit, Identität und historischem [sowie gegenwärtigem] Trauma“ führen kann. (Zembylas, 2008, S. 271). Auch auf politischer Ebene müssen wir uns der Ambivalenz von Beschämung bewusstwerden und stets den Kontext ihrer Anwendung hinterfragen. Damit Beschämung als salutogenes Verhaltensregulativ wirken kann, brauchen wir in der heutigen Gesellschaft festgelegte Strukturen zur Bewusstmachung von Scham, sowie zur Wiederherstellung der Verbindung(en). Der Ansatz der „Restorative Justice“ (wiederherstellende Gerechtigkeit) in Saskatchewan (Handel, 2007) ist ein positives Beispiel, aus dem hoffentlich Lehren für die Gesellschaft als Ganzes gezogen werden können. Auch wenn es nicht mehr überlebensnotwendig für die Gesellschaft ist (jedoch für die/den Einzelnen sein kann), sollte die mögliche und aktiv unterstützte Wiedereingliederung nach einer öffentlichen Beschämung ein soziales Menschenrecht sein. Die nordamerikanische Mainstream-Gesellschaft mit ihren zunehmenden Jugendproblemen bringt das Bedürfnis nach gesunder Scham in Form einer Rückbindung der Jugend an die Älteren zum Ausdruck, aber auch deren unabdingbar notwendige Hingabe: befähigte Eltern, Ältere mit Weisheit, Traditionen, und Werten, die wiederbelebt werden müssen (Juuls, 2016; Neufeld & Maté, 2013). Diese Werte der Älteren müssen die reflektierte Grundlage für die Beurteilung der Jungen und ihres Verhaltens sein: was ist beschämend und muss korrigiert werden, damit es möglicherweise zu Ehre und Stolz wachsen kann. Der wesentliche Aspekt bei all dem sind die Älteren, Erfahrenen und Weisen, ihr Wissen, Kultur, Traditionen, die Verbindung zu den Vorfahren, sowie ihr notwendiger Rat und ihre reflektierte Führung. Ihr Einfluss wurde in Vergangenheit und Gegenwart unterminiert und zerstört. Bô Yin Râ drückte in seinem Gedicht die Symbolik der „sich selbst formenden Jugend“ aus, (basierend auf eigenen Werten, die auf „lustvollen Verrücktheiten“ beruhen, und die leicht aktiviert und gesteigert werden können), was den beginnenden Zusammenbruch eines Volkes beschreibt. Jugend schafft Werte nur im Warten! Jugend ist ein keimfreudiger Garten! Nur bei den Alten reifen die Früchte! Der Jugend verderben sie lüsterne Süchte! Jugend kann sich niemals selbst gestalten, Findet sie Former nicht bei den Alten! Jegliches Volk wird sich selbst zum Vernichter, bleiben die Alten nicht seine Richter. (Bô Yin Râ, 1979, S. 105).

Wenn es uns gelingen sollte, die toxische Scham innerhalb patriarchischer, hierarchischer, autoritärer Systeme – als eines der größten Hindernisse – zu überwinden, könnten wir vielleicht gesunden Stolz in neu zu entwickelnden kooperativen Gemeinschaften empfinden.

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Kapitel 8

Indigenes Australien: Scham und Respekt Sharon Louth

8.1 Einleitung „Oh, Miss, das ist eine Schande für mich, Miss, wenn Sie über meine Leute, meine Tänze, meine Zeichnungen, meine Musik spreche, das ist eine Schande, ich will nicht, dass man sich über mich lustig macht, denn ich bin ein Teil davon, das bin ich.“ (Louth, 2012)

Die Erfahrung von Scham ist eine Verletzung des Selbstwertgefühls, ein schmerzhaftes Gefühl der Erniedrigung, das durch das Bewusstsein hervorgerufen wird, etwas getan zu haben, das der früheren Vorstellung von der eigenen Vortrefflichkeit nicht gerecht wird (Lynd, 2013). Es wird angenommen, dass Scham entsteht, wenn eine Person unvorbereitet ist und das Gefühl hat, von allen Seiten beobachtet zu werden (Erikson, 1994). Das obige Zitat von Beck, einer jungen australischen Ureinwohner*in, verkörpert diese Definitionen von Scham, indem es klar zum Ausdruck bringt, wie ihr eigenes Selbstwertgefühl verletzt wird und wie sie sich in den Augen anderer entehrt fühlt. Becks Worte vermittelten ihr Gefühl der Bloßstellung und der wahrgenommenen Minderwertigkeit gegenüber anderen, da die Diskussion über die Kultur der australischen Ureinwohner*innen ihr Gefühl der Verletzlichkeit und Demütigung verstärkte. Die von Beck angesprochene Scham ist Ausdruck der Auswirkungen der Kolonialisierung Australiens auf die indigenen Völker und ihr Selbstverständnis, sowohl individuell als auch kollektiv. Die Geschichte der australischen Ureinwohner*innen nach der Invasion ist durch rassistische Diskriminierung, Unterdrückung und Marginalisierung gekennzeichnet, die sich über mehrere Generationen erstrecken. Die langfristigen negativen Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung Australiens zeigen sich in den Bereichen Gesundheit und Bildung (Andersen & Walter, 2010). Ein schlechter GesundheitsS. Louth (*) School of Education, Fraser Coast Campus, Universität der Sunshine Coast, Hervey Bay, Australien E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 E. Vanderheiden, C.-H. Mayer (Hrsg.), Der Wert der Scham, https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3_8

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zustand behindert den Schulbesuch, was wiederum das Lernen und den Bildungserfolg beeinträchtigt (Harrison, 2011). Durch diese Faktoren wird der Kreislauf von Armut und Benachteiligung innerhalb der indigenen Bevölkerung aufrechterhalten. Da das Selbstwertgefühl durch den sozialen Kontext und soziale Vergleiche beeinflusst wird (Bandura, 1977b), sollte es nicht überraschen, dass ­sowohl das individuelle als auch das kollektive Selbstwertgefühl der indigenen Völker Australiens niedrig ist. Das Selbstgefühl (oder die Identität, der Charakter) bezieht sich auf das Bewusstsein des eigenen Platzes in der sozialen Welt. Dieses Selbst steht in engem Zusammenhang mit dem, was andere von einem selbst denken (Holstein & Gubrium, 2000), oder wie eine Person von anderen wahrgenommen wird. Zu lernen, sich selbst wertzuschätzen, ist ein entscheidendes Instrument zur Stärkung des Selbstwertgefühls und zur Erhöhung der eigenen Erwartungen für die Zukunft (Bandura, 1977a). Der Mensch entwickelt das eigene Selbstwertgefühl durch verschiedene Erfahrungen, sei es im persönlichen oder beruflichen Bereich oder in einem akademischen oder sozialen Kontext. Kinder und Jugendliche entwickeln ihr Selbstverständnis auf der Grundlage einer Reihe von Wahrnehmungen, die sie von anderen und ihren Erfahrungen sammeln. Wenn die Begriffe „Rasse“ und „Kultur“ als eine Form des sozialen Vergleichs verwendet werden, kann dies typischerweise dazu führen, dass einige Menschen an den Rand gedrängt werden, während andere Macht und Kontrolle erhalten (McMaster & Austin, 2005). Bei der Prüfung von Möglichkeiten, sich selbst und seine Gruppe wertzuschätzen und eine positive Vision für die Zukunft zu schaffen, ist es wichtig, wiederherstellende Praktiken in Betracht zu ziehen, um die negativen Auswirkungen der Scham zu verringern. Eine dieser Praktiken besteht darin, Respekt für die Kultur zu schaffen, indem Möglichkeiten geboten werden, das Wissen, das Verständnis und die Erfahrung der Kultur zu erweitern. Res­ pekt wird als Bewunderung für jemanden oder etwas empfunden oder gezeigt, von dem eine Person überzeugt ist, dass diese Person oder Sache sich durch gute Ideen oder Qualitäten auszeichnet (Le Messurier, 2010). Die Bedeutung der Entwicklung von Respekt in benachteiligten Bevölkerungsgruppen wurde auch durch Paulo Freires Arbeit mit Lehrer*innen in Brasilien hervorgehoben. Er betonte die Notwendigkeit von Bescheidenheit, allen zuzuhören, die zu uns kommen, ungeachtet ihrer Umstände, und von Toleranz im Zusammenleben (Freire, 1998). Bei der Frage, wie ein positives individuelles und kollektives Selbstverständnis der australischen Ureinwohner*innen geschaffen werden kann, ist es wichtig, den Kontext der australischen Bevölkerung zu berücksichtigen. Vierzig Prozent der indigenen Bevölkerung Australiens sind unter 15 Jahre alt, verglichen mit 20 % der nicht-indigenen Bevölkerung, wobei junge indigene Menschen etwa 5 % der Bevölkerung im Schulalter ausmachen (Australian Bureau of Statistics, 2011). Zwei Drittel der indigenen Kinder leben in ländlichen oder abgelegenen Gegenden, wo sie von Bildungseinrichtungen isoliert sind. In sozioökonomischer Hinsicht füh­ ren Marginalisierung, Armut, schlechter Gesundheitszustand und andere Benachteiligungen dazu, dass der Zugang zu und die Teilnahme an Bildung eingeschränkt sind (Andersen & Walter, 2010). Das geringere Bildungsniveau vergrößert die Kluft zwischen den dominanten Bildungskulturen mit ihrer Forderung

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nach Respekt, die in der australischen Gesellschaft verankert ist, und der indigenen Kultur, die über wenig kulturelles Kapital verfügt. In diesem Kapitel wird die Scham anhand der Konstrukte Selbst, Kultur und Identität im Zusammenhang mit den australischen Ureinwohner*innen untersucht, und zwar im Hinblick auf die Wertschätzung des eigenen Selbst und der ­Wertschätzung des eigenen Volkes. Anhand von Beispielen aus Projekten, die in einer regionalen Gemeinde in Queensland, Australien, von und mit der dortigen indigenen Bevölkerung durchgeführt wurden, wird ein Einblick in die Begriffe Scham und Respekt im Kontext der indigenen Volksgruppen Australiens gegeben.

8.2 Konstruktionen des Selbst 8.2.1 Definitionen in Bezug auf die Konstrukte der Selbstidentität Wer wir sind, was uns einzigartig macht und wer wir glauben zu sein, ist der Kern unserer Selbstwahrnehmung. Unsere Selbstwahrnehmung ist mehrdimensional und wird durch unsere Interaktionen mit Menschen und unserer Umwelt beeinflusst. Häufig werden Begriffe wie Selbstvertrauen, Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit als miteinander verbundene Begriffe oder Synonyme verwendet, um unser Selbstverständnis zu beschreiben. Diese Begriffe verdeutlichen die verschiedenen Dimensionen des Selbst und sollen als solche definiert werden, um Klarheit für die weitere Diskussion zu schaffen. Der Terminus Selbstvertrauen bezieht sich darauf, wie sicher eine Person sich in Bezug auf bestimmte Fähigkeiten fühlt, so dass es sich je nach der zu prüfenden Fähigkeit und der Gruppe, vor der die Fähigkeit demonstriert werden soll, ändern kann (McClelland et  al., 1953), mit anderen Worten, es ist aufgaben- und zielgruppenspezifisch. Wie das Selbstvertrauen ist auch die Selbstwirksamkeit aufgaben- oder fähigkeitsspezifisch, allerdings ist sie Ausdruck des Gefühls einer Person, eine Aufgabe in einem bestimmten Bereich effektiv und erfolgreich bewältigen zu können. Weder Selbstvertrauen noch Selbstwirksamkeit werden hier als ganzheitliche Begriffe verwendet, sondern sind fähigkeits- und aufgabenspezifisch, d. h. sie können sich in verschiedenen Kontexten ändern. Das Selbstkonzept ist zu verstehen als die Sammlung von Informationen, Ideen, Einstellungen und Überzeugungen, die eine Person über sich selbst hat, ihre Wahrnehmung der Eigenschaften, die sie als Mensch hat, während das Selbstwertgefühl die Bewertung des eigenen Wertes als Person ist und durch den sozialen Kontext und die sozialen Vergleiche, die eine Person anstellt, beeinflusst wird. Alle diese Begriffe beeinflussen das Selbstwertgefühl einer Person, d. h. den Wert, den eine Person sich selbst beimisst, indem sie sich selbst wahrnimmt und bewertet, wie sie sich selbst sieht und wie sie sich deshalb fühlt. Diese Selbstwahrnehmungen und -einstellungen wirken sich letztlich auf die Gesundheit und das Wohlbefinden des

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einzelnen Individuums aus. Wenn sich dies innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft, z. B. bei den australischen Ureinwohner*innen, negativ auswirkt, kann dies Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden einer solchen kulturellen Gemeinschaft über Generationen hinweg haben.

8.2.2 Auswirkungen von Scham und Respekt auf die Selbstidentität indigener Australier*innen Wie eine Person sich selbst wahrnimmt und wie sie sich selbst bewertet, ist Ausdruck einer zyklischen Beziehung, die sich darauf auswirken kann, wie eine Person in bestimmten Kontexten reagiert. Dies gilt beispielsweise für die Beziehung zwischen Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl und die Art und Weise, wie sich diese beiden Faktoren auf die Motivation einer Person auswirken, ihre Leistung zu verbessern (Woods, 2001). Die bahnbrechende Arbeit von McClelland et  al. (1953) zum Thema Leistung und Motivation führte zum McClelland-Atkinson-Modell der Leistungsmotivation, das von zwei Motiven ausgeht: das eine ist die Vermeidung von Misserfolg, das andere das Erreichen von Erfolg. Diese Theorie lässt sich auf den Bildungsbereich anwenden, wo die Beobachtung des Verhaltens von Kindern einen Hinweis auf die zugrunde liegenden Motive geben kann, die ihre Handlungen und ihr Verhalten bestimmen. Das Verhalten vieler australischer Ureinwohner*innen in Bildungseinrichtungen wird häufig von der Motivation bestimmt, Misserfolge zu vermeiden, anstatt den Erfolg zu suchen (Harrison, 2011). Ein gängiges Beispiel für Vermeidungsverhalten ist die Nichtteilnahme, da man so der Peinlichkeit ausweichen kann, die durch einen Fehler vor einer Gruppe von Menschen entsteht, und damit die Vermeidung von Scham. Das Vermeiden von Scham hat einen großen Einfluss auf das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl, da es „das Denken, Reden und Verhalten vieler Aborigine-Kinder im Klassenzimmer dominiert“ (Harrison, 2011, S. 54). Untersuchungen haben gezeigt, dass sich indigene Kinder in der Regel darauf konzentrieren, „mit wem sie sprechen müssen, worüber sie sprechen sollen, wer sie beobachtet und was ihnen peinlich sein könnte, wenn sie das Falsche sagen“. Sie konzentrieren sich oft auf die Menschen um sie herum und trauen sich nicht, „etwas zu wagen“ und Fehler zu machen (Harrison, 2011). Einige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass dies auf Geschichten zurückzuführen ist, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und die sich auf die Vergangenheit beziehen. Diese Geschichten erzählen von Aborigine-Kindern, die ihren Familien weggenommen wurden, um zu Hausangestellten und Arbeiter*innen ausgebildet zu werden, und davon, dass Aborigines noch vor nicht allzu langer Zeit einen Antrag stellen mussten, um heiraten zu dürfen, dass sie ohne Erlaubnis der Regierung weder Eigentum besitzen noch über ein Bankkonto verfügen durften, dass sie in Reservaten lebten und eine Erlaubnis zum Verlassen der Reservate beantragen mussten und dass es ihnen verboten war, ihre eigene Sprache zu spre-

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chen (Phillips & Lampert, 2005). Die Politik der Regierung setzt weiterhin Gesetze und Vorschriften ohne umfassende Verhandlungen mit den Gemeinschaften durch, an die sie sich richten, und daher wissen viele Aborigine-Kinder, dass ihre Familien historisch gesehen den größten Teil ihres Lebens der weißen Autorität unterworfen waren. Die Angst vor dem Scheitern beeinflusst in hohem Maße die Risikobereitschaft eines Menschen, während die Bildung darauf angewiesen ist, dass Kinder sich ausprobieren und ein Risiko eingehen, um zu versuchen, etwas richtig zu machen. Wird die Angst vor dem Scheitern und die Vermeidung von Scham zusammen mit der seit Generationen bestehenden Marginalisierung bedacht, ist es verständlich, dass indigene Kinder lieber zusehen, als sich in eine neue Situation zu stürzen. Bei australischen Ureinwohner*innen zeigt sich die Vermeidung von Scham oft in ihrem Verhalten (Hughes et  al., 2004). Sie zögern zum Beispiel, etwas in der Öffentlichkeit auszuprobieren, wenn sie nicht sicher sind, dass sie es korrekt machen. Sie können wenig enthusiastisch erscheinen, weil sie ihre Angst und ihre Verletzlichkeit zu verbergen suchen. Wie bereits erwähnt, hängt ihr Verhalten in einem Bildungskontext außerdem stark davon ab, wer sie beobachtet und ihnen zuhört (Harrison, 2011). Zeitgenössische Bildungstheorien setzen darauf, dass die Lernenden Risiken eingehen und die Ergebnisse bewerten (McGee & Fraser, 2011). Indigene Menschen nähern sich diesen schrittweise an und bleiben dadurch oft zurück. Der geringere Bildungserfolg indigener Kinder setzt dann den Kreislauf des Rückgangs ihres Bildungsniveaus fort. Das Projekt Birrbam Gambay: Learning Together-Projekt (Louth, 2012) zeigte die Auswirkungen von Scham auf junge indigene Menschen und ihr Selbstverständnis. Anfänglich zögerten indigene Kinder, an Aktivitäten teilzunehmen, insbesondere am Tanz, da sie diesen als schambehaftet empfanden. Diese Schüler*innen standen in den kleinen Aktivitätsgruppen, die aus etwa 30 Kindern bestanden, mit gesenktem Kopf und nach vorne gebeugten Schultern im Hintergrund. Sie nahmen nur widerwillig an den Tanzaktivitäten teil und besaßen wenig Selbstvertrauen in Bezug auf ihr indigenes Erbe. Am Ende des Festes beendete die lokale indigene Tanzgruppe die Veranstaltung mit weiteren Tänzen und bat um Freiwillige, die mit ihnen tanzen wollten. Alle indigenen Kinder meldeten sich und tanzten mit ihnen vor über 350 Zuschauer*innen, darunter auch einige nicht-indigene Kinder. Ihre Körpersprache vermittelte Vertrauen und Stolz auf ihre Kultur. So hielten sie beispielsweise ihre Köpfe hoch, ihre Schultern waren zurückgenommen und sie lächelten. Diese Veränderung in der Körpersprache ist ein Beweis für das gestiegene Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Bei der Befragung am Ende des Tages sagten alle indigenen Kinder, es sei ein „tröstlicher Tag“ gewesen und sie seien „stolz, dabei gewesen zu sein“. Alle Kinder fragten, ob die Veranstaltung im nächsten Jahr wieder stattfinden würde und boten an, sich erneut an der Durchführung der Veranstaltung zu beteiligen. Die deutlichen Unterschiede in der Einstellung und im Verhalten, die diese indigenen Kinder während des Kurses an den Tag legten, lassen sich auf die positiven Erfahrungen zurückführen, die sie mit anderen gemacht haben, als sie ihre Kultur teilten. Es wurde deutlich, dass die indigenen Kinder durch die Teilnahme am Birr-

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bam Gambay: Gemeinsam lernen-Projekt ein größeres Selbstvertrauen und ein höheres Selbstwertgefühl entwickelt haben, was sich positiv auf ihr Selbstwertgefühl auswirkte. Das gesteigerte Gefühl der Wertschätzung, das diese indigenen Kinder erfahren haben, zeigt sich auch in ihrer Bereitschaft, sich an der Organisation künftiger Veranstaltungen zu beteiligen. Die Kinder hatten durch die Teilnahme an dem Programm so viel Erfolg erlebt, dass sie bei künftigen Programmen eine aktivere Rolle spielen wollten. Ihr Verhalten wurde nicht mehr durch das Motiv bestimmt, ­Misserfolge zu vermeiden und sich nicht zu schämen, sondern durch das Motiv, Erfolg zu haben und an künftigen Veranstaltungen teilzunehmen. Theorien zur Leistungsmotivation (McClelland et  al., 1953; Woods, 2001) haben gezeigt, dass Leistungsschwache von Vermeidungsmotiven angetrieben werden, während Leistungsstarke von Erfolgsmotiven angetrieben werden. Daher scheint es, dass Programme, die das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl stärken und ein positives Selbstverständnis fördern, die Motive einer Person zur Teilnahme verändern können, was einen großen Einfluss auf ihre Fähigkeit hat, ein*e Leistungsträger*in zu werden, um in Zukunft erfolgreich zu sein und eine positive Selbstwahrnehmung entwickeln zu können.

8.3 Gruppenkonstrukte 8.3.1 Definition in Bezug auf die Konstrukte der Gruppenidentität Bei der Untersuchung der Interaktionen und Beziehungen innerhalb von Gruppen gehen Psycholog*innen davon aus, dass die wichtigsten Merkmale von Gruppen darin bestehen, dass sich die Mitglieder miteinander verbunden fühlen, dass sie eine kollektive Identität haben, in der sie sich als eine Einheit sehen, die sich von anderen Gruppen unterscheidet, und dass sie einen gemeinsamen Zweck verfolgen (Woods, 2001). Menschen scheinen eine natürliche Tendenz zu haben, sich selbst und andere in Gruppen einzuteilen, indem sie sich mit Individuen zusammenschließen, von denen sie glauben, dass sie ähnliche Schlüsselmerkmale wie sie selbst besitzen (Tajfel, 1978, 2010). Das Selbstverständnis einer Person wird durch ihre Beziehung zu anderen und ihrer Umwelt vertieft. Die Wissens-, Glaubens-, Werte- und Verhaltenssysteme, die von einer Gruppe von Menschen geteilt werden, werden als Kultur bezeichnet und spielen eine entscheidende Rolle dabei, wie wir uns selbst sehen, wie wir uns anderen gegenüber verhalten und was wir schätzen. Ethnizität ist eine Form der Gruppenzugehörigkeit auf der Grundlage von Rasse, Nationalität oder religiösem Hintergrund, die zu einem kulturellen Bewusstsein innerhalb dieser Gruppe führt. Kultur ist etwas, das alle Menschen definiert und die Art und Weise prägt, wie sie denken, sich verhalten und die Welt sehen. Diese Art zu wissen, zu handeln und

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zu sprechen wird von der Gruppe hoch geschätzt und wird an alle Gruppenmitglieder weitergegeben und an jüngere oder neuere Generationen tradiert. So entstehen Sozialisierungsprozesse (Hyde et  al., 2014), bei denen kulturelle Überzeugungen, Wissen, Werte und Verhaltensweisen unter den Mitgliedern einer Gruppe weitergegeben werden.

8.3.2 Auswirkungen von Scham und Respekt auf die Gruppenidentität indigener Australier*innen Wenn Gruppen in verschiedenen kulturellen Kontexten untersucht werden, ergeben sich einzigartige Perspektiven auf das Selbst und die Identität, wobei sich die Ansichten über das Selbst von Kultur zu Kultur unterscheiden (Purdie et  al., 2000; Wang, 2004). Wie sich diese Unterschiede auf die australische Gesellschaft beziehen und wie sie sich auf das Selbstkonzept des Einzelnen auswirken, lässt sich am besten durch eine Einteilung der Kulturen in individualistische und kollektivistische Kulturen erklären (Krause et al., 2010). In individualistischen Kulturen steht das individuelle Selbst im Mittelpunkt, das autonom und einzigartig ist und in dem der/die Einzelne die jeweils eigenen Ziele verfolgt. Westliche Gesellschaften, wie z. B. Australien, sind ein typisches Beispiel für eine individualistische Gesellschaft. Im Gegensatz zu individualistischen Gesellschaften sind kollektivistische Kulturen eher gruppenzentriert und betrachten das Individuum in Bezug auf dessen Beziehungen zu anderen in einer zusammenhängenden Gemeinschaftsgruppe. Die Kultur der australischen Ureinwohner*innen ist ein Beispiel für eine kollektivistische Kultur. Untersuchungen haben ergeben, dass junge australische Ureinwohner*innen ihre Identität auf Faktoren wie ihre Verwandtschaftsgruppe, ihre gemeinsame Geschichte, ihre Sprache, traditionelle Praktiken und ihren Wohnort gründen (Purdie et  al., 2000). Andere Studien mit indigenen australischen Jugendlichen (Louth, 2012; Shweder & Haidt, 2000) fanden heraus, dass indigene Kinder sich über Rollen, Verantwortlichkeiten und Beziehungen innerhalb ihrer Gemeinschaft definieren, und zwar in einem Maße, dass die Konzentration auf ihre eigenen persönlichen Ziele zu Verlegenheit oder Scham führt. Diese Studien zeigen den kollektivistischen Charakter der indigenen australischen Kultur, der so sehr im Gegensatz zur individualistischen Kultur der dominanten australischen Gesellschaft steht. Das australische Bildungssystem ist einer der wichtigsten Sozialisationsfaktoren in der australischen Gesellschaft und funktioniert innerhalb einer Kultur des Individualismus, in der unabhängiges Lernen und der Wettbewerb mit Gleichaltrigen tief verwurzelte Formen des Lernens und des akademischen Erfolgs in der Schule sind. Mehrere Forscher*innen haben festgestellt (Harrison, 2011; McInerney, 2003), dass australische indigene Kinder nur selten die Initiative ergreifen oder ihre eigenen Erfolgschancen maximieren, insbesondere nicht auf Kosten anderer in einem sehr wettbewerbsorientierten und stark disziplinierten Bildungssystem.

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Hughes et al. (2004) bestätigen die These, dass viele australische indigene Kinder unabhängiges Lernen als manipulativ und egoistisch ansehen und sich nur ungern an Problemlösungsaktivitäten beteiligen. Darüber hinaus werden Aktivitäten, die Kinder dazu ermutigen, andere zu beurteilen und zu kritisieren, von indigenen Kindern häufig vermieden, da dies als respektlos empfunden wird und ihre Beziehung zu diesen Menschen schädigen würde. Untersuchungen von Hughes et  al. (2004) ergaben, dass indigene australische Kinder besser in Gruppen arbeiten, weil sie voneinander lernen und die stärkeren Kinder innerhalb der Gruppe die weniger leistungsstarken unterstützen. Cahill (1999) stellte fest, dass indigene australische Kinder eher bereit sind, Risiken einzugehen, wenn sie in einer Gruppe arbeiten, weil sie sich in der Gruppe sicher fühlen und die Gruppe ihnen das Vertrauen gibt, Risiken einzugehen. Diese Faktoren wurden in mehreren von Louth (2011, 2012, 2013) durchgeführten Projekten bestätigt, bei denen die Kinder Scham und Verlegenheit vermieden, indem sie in kleinen Gruppen mit anderen, die ihre Kultur teilten, über mehrere Altersgruppen und Fähigkeitslevel und -bereiche hinweg zusammen arbeiteten. Die Auswirkungen von Scham und Verlegenheit für indigene Völker auf ihre Beteiligung und ihr Lernverhalten müssen berücksichtigt werden, damit der Kreislauf von Scham und Versagen verstanden wird und für künftige Generationen durchbrochen werden kann.

8.4 Strategien zur Steigerung des Respekts und zur Reduktion der Scham „Bildung ist der größte Einzelfaktor, der mit den derzeitigen schlechten Ergebnissen für die Beschäftigung australischer Ureinwohner*innen in unserer Gesellschaft in Verbindung gebracht wird“ (Hyde et al., 2014, S. 74).

Armut, schlechte Lebensbedingungen und Gesundheitsprobleme vieler indigener Kinder führen dazu, dass sie im australischen Bildungssystem stark benachteiligt und zum Scheitern verurteilt sind. Ihre Angst vor dem Versagen führt zu einem Verhalten, das Scham vermeidet, und in der Bildung bedeutet dies, dass sie nicht anwesend sind, zu spät kommen und nicht bereit sind, an den Aktivitäten im Klassenzimmer teilzunehmen. Diese Verhaltensweisen schaffen die Voraussetzungen für weiteres Versagen indigener Kinder und lassen sie in den Kreislauf wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung und Ungleichheit innerhalb der australischen Gesellschaft geraten. Daher und aus den im obigen Zitat genannten Gründen konzentrieren sich die in diesem Abschnitt erörterten Strategien zur Überwindung von Scham und zur Steigerung des Respekts auf den Aufbau eines positiven Selbstbewusstseins, sowohl individuell als auch kollektiv, insbesondere in Bezug auf australische indigene Völker. Es ist von entscheidender Bedeutung, den Respekt für indigene Völker und ihre Kultur zu fördern, um die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls zu fördern (Louth, 2012). Mehrere Studien haben positive Zusammenhänge zwischen der

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Selbstidentität indigener Kinder und besseren Bildungsergebnissen festgestellt (McRae, 2002; Purdie et al., 2000). Es ist daher von entscheidender Bedeutung, gemeinschaftsweit Respekt für die indigene Kultur zu entwickeln, um Möglichkeiten zur Stärkung des Selbstwertgefühls innerhalb der indigenen Gemeinschaft zu schaffen. Dies wird von Garrett und Wrench (2010) in ihrer Studie zur Inklusion unterstützt, in der sie feststellten, dass die Stärkung des Respekts für alle Aborigines und Torres Strait Islander ein positives Gefühl der Selbstwirksamkeit fördert (Garrett & Wrench, 2010). Eine von Louth (2012) angewandte Strategie bestand darin, die indigene Bevölkerung vor Ort zu ermutigen, ihre Kultur mit den örtlichen Lehrkräften zu teilen und zu feiern, um das Verständnis für die indigene Kultur vor Ort zu verbessern. Die Frage, wie indigenes Wissen sensibel und respektvoll innerhalb lokaler Gemeinschaften geteilt werden kann, galt es sorgfältig und überlegt anzugehen, um Scham zu vermeiden und den Respekt für die lokale indigene Bevölkerung zu erhöhen. Zwei Hauptfaktoren wurden als entscheidend für das Feiern der indigenen Kultur angesehen: der Respekt vor der Kultur und das Teilen innerhalb der indigenen Gemeinschaft. Das Teilen und Feiern der indigenen Kultur ist nur möglich, wenn die lokale indigene Gemeinschaft bereit ist, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten an andere weiterzugeben. Dies ist nur dann möglich, wenn der Respekt für indigene Völker von den Machthabenden in den Bildungskreisen aktiv gefördert und kultiviert wird. Pädagog*innen können nicht länger Respekt einfordern, ohne sich diesen tatsächlich zu verdienen, insbesondere innerhalb der indigenen Gemeinschaft. Der zweite Faktor ist „innerhalb der Gemeinschaft“, d. h. die Initiative für jede Feier oder jeden Austausch von Kultur muss sich aus der Gemeinschaft heraus entwickeln und darf ihr nicht von einer externen Quelle aufgezwungen werden, die ihre eigenen Leistungsindikatoren realisieren will. Die Weitergabe und Präsentation indigener Kultur von Quellen außerhalb der lokalen Gemeinschaft kann zu weiterer Frustration und Ressentiments bei allen Beteiligten führen. Damit ein Projekt aus der Gemeinschaft heraus entsteht, muss die Gemeinschaft ein Gefühl der Eigenverantwortung entwickeln und mit der Überzeugung verbunden sein, dass ein Engagement Vorteile für die gesamte Gemeinschaft hinsichtlich der Programmziele mit sich bringt (Garrett & Wrench, 2010). Das Projekt Birrbam burunga gambay (Louth, 2013) hat erfolgreich respektvolle Beziehungen zwischen der lokalen Bildungsgemeinschaft und der indigenen Gemeinschaft gepflegt und die folgenden Ergebnisse erzielt: • Es bot eine Plattform für die Ältesten der indigenen Bevölkerung, um ihr Wissen und ihre Erfahrung weiterzugeben; • Die Geschichte, Kultur und Errungenschaften der Aborigines und Torres Strait Islander wurde in der Region gefeiert; • Es wurde ein Festival veranstaltet, das alle teilnehmenden Schulen zusammenbrachte und die vielen kleineren, unzusammenhängenden Veranstaltungen der einzelnen Schulen ersetzte;

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• Die Förderung der Netzwerke zwischen Pädagog*innen vor Ort und einheimischen Menschen und Ressourcen trug dazu bei, weitere Gelegenheiten zu schaffen, die indigene Kultur zu teilen und zu feiern; • Vertrauen zwischen der indigenen Gemeinschaft und den lokalen Bildungsanbietern konnte aufgebaut werden und • Dadurch die Motivation indigener Kinder erhöht werden, ihre Schulausbildung abzuschließen und eine Hochschulausbildung anzustreben. Diese Ergebnisse ergaben sich aus der Etablierung eines respektvollen Dialogs, bei dem in vielen Treffen und Diskussionen mit dem Moderationsteam Respekt wuchs und sicherstellte, dass die Einstellung zum Projekt mit dem Gesamtziel des ­Projekts – Birrbam burunga gambay – übereinstimmte, nämlich gemeinsam zu lernen und zu spielen. Der Respekt vor allen Mitgliedern des Moderationsteams wurde durch einen Zuschuss, der die Bezahlung ihrer Dienste ermöglichte, noch verstärkt. Dies zeugte von Respekt vor dem Wissen der indigenen Personen, da die Moderator*innen für ihr Fachwissen mit westlichen Werten wie Zeit und Geld belohnt wurden, die mit Respekt assoziiert werden. Der Anstoß für das Projekt ergab sich aus dem bewußten Wahrnehmen der Bedürfnisse der verschiedenen Gruppen in der Gemeinde und der Zusammenstellung von Ideen und Aktivitäten, die diesen Bedürfnissen entsprachen. Das Projekt schuf solide Verbindungen innerhalb der Gemeinde durch die Verbesserung der Kommunikation und die Entwicklung von Beziehungen, die auf Vertrauen und Respekt zwischen der Universität, den Schulen in der umliegenden Gemeinde und den lokalen indigenen Gemeindegruppen beruhen. Dies unterstützt die Ergebnisse von McRae et al. (2000), die feststellten, dass positive Partnerschaften ein entscheidendes Element für die Schaffung eines Gefühls des Stolzes und der Verbundenheit innerhalb der Gemeinden sind. Im Rahmen des Projekts Birrbam burunga gambay wurden die Aktivitäten erfolgreich in Zusammenarbeit mit indigenen Vermittler*innen geplant und durchgeführt. Deren Beiträge wurden dadurch gewürdigt, dass spezialisierte indigene Tutor*innen für die Durchführung von Aktivitäten für Kinder auf dem Festival eingesetzt wurden. Dadurch wurden Eigenverantwortung, Stolz und ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft geschaffen, was zu einem Gefühl der Verbundenheit mit der Universität führte. Zusammenfassend kann formuliert werden: Das Gefühl der Verbundenheit, das das Projekt innerhalb der Gemeinschaft erzeugte, basiert auf den Schlüsselprinzipien, nach denen Birrbam burunga gambay organisiert wurde. In erster Linie gründete das Projekt auf einem von der Zielgruppe identifizierten Bedarf und der aktiven Beteiligung der Mitglieder dieser Gruppe an der Planung und Durchführung der Veranstaltung. Zweitens wurde das indigene Wissen durch die offizielle Anerkennung der besonderen Fähigkeiten und Kenntnisse der Menschen in der Gemeinschaft gewertschätzt. Dadurch werden gleiche Voraussetzungen geschaffen, die Respekt und Wertschätzung fördern und den indigenen Völkern die Möglichkeit geben, ihre Kultur zu teilen und zu feiern. Diese Erfolgskreise sollten jeder Veranstaltung zugrunde liegen, deren Ziel es ist, glaubwürdige Wege zur Verringerung der negativen Auswirkungen der Scham für die indigenen Völker Australiens zu finden.

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Die von Louth (2013) genutzte Vorgehensweise entsprach den von Thompson (2010) vorgeschlagenen Strategien, die von indigenen Ältesten, Sozialepidemiologe*innen, Psychiater*innen und Soziolog*innen empfohlen wurden, um die Entwicklung von Wissen und Verständnis für die indigene Kultur innerhalb der Gemeinschaft zu stärken. Diese Strategien lassen sich folgendermaßen umreißen: Schaffung von Gelegenheiten zur Stärkung der Verbindungen mit dem Land; Durchführung kultureller Aktivitäten; Legitimierung traditioneller Systeme; Anerkennung der Notwendigkeit von Verbundenheit, Hoffnung, Wirksamkeit, Sicherheit, Ruhe, Würde, Verantwortung, Wahrheit; einfühlsames Zuhören und Zusammenarbeit (Thompson, 2010). Frühere Studien haben ähnliche erfolgreiche Strategien zur Weitergabe indigener Kultur in Schulen identifiziert (Garnett et  al., 2009; Kreig, 2009; Spencer, 2000). Hyde et al. (2010, 2014) entwickelten diese Ideen in Bezug auf den Aufbau von Lernumgebungen weiter, die auf die besonderen Bedürfnisse der australischen Ureinwohner*innen eingehen. Ihre Ergebnisse spiegeln ähnliche Botschaften wider: Konsultation, Anpassung, Lokalisierung und Anerkennung erwiesen sich als entscheidende Faktoren für die Schaffung erfolgreicher Lernerfahrungen für indigene Kinder. Harrison (2011) hat weitere Strategien vorgeschlagen, um das Wissen und das Verständnis für die indigene Kultur in den Bildungseinrichtungen zu verbessern, z.  B. die Einbeziehung der Eltern und der weiteren Gemeinschaft in die Entscheidungsprozesse in diesen Einrichtungen. • Bilden Sie einen Schulausschuss für indigene Eltern, der von den Eltern verwaltet und geleitet wird. • Sprechen Sie mit allen Eltern über die lokale Beratungsgruppe für indigene Bildung. • Richten Sie eine Anlaufstelle für Eltern ein. • Organisieren Sie kulturelle Ausflüge für alle Mitglieder der Schulgemeinschaft. • Führen Sie Fortbildungsveranstaltungen für Eltern durch. • Veranstalten Sie ein Abendessen außerhalb der Schule, um den Eltern zu zeigen, was ihre Kinder in der Schule lernen. • Veranlassen Sie, dass die Eltern im Namen der Schule einheimische Ressourcen kaufen. • Die Finanzierung von Projekten des National Aboriginal and Islander Day Observance Committee (NAIDOC) sollte angestrebt werden. • Laden Sie indigene Gastredner*innen in die Schule ein. Strategien zur Verbesserung der Bildungsergebnisse für indigene Kinder, die die indigene Kultur anerkennen und unterstützen, tragen unweigerlich zum Aufbau von Fähigkeiten und Kenntnissen bei. Wenn diese Erfahrungen Spaß machen, erleben Kinder positive Emotionen, die sie motivieren, sich zu beteiligen, Ziele zu verfolgen und ihr Vertrauen in ihre Fähigkeit zum Erfolg zu stärken. Wenn Kinder angenehme Erfahrungen machen, sind ihre Einstellungen und Wahrnehmungen in Bezug auf ihre Beteiligung und ihre Fähigkeiten konstruktiv, so dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit positive Einflüsse auf ihre Selbstwirksamkeit erfahren.

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8.5 Zukünftige Richtungen für die indigene Kultur und Identität Australiens Die oben dargestellten Strategien können eine Grundlage für die gemeinsame Nutzung und Würdigung der australischen indigenen Kultur bieten. Die Regierungen auf Bundes-, Landes- und Regionalebene haben gesetzliche Maßnahmen ergriffen, um die Lücke zu schließen und die Benachteiligung indigener Bevölkerungsgruppen in den Bereichen Bildung und Gesundheit in Australien zu überwinden. Für die Regierungssektoren, insbesondere für das Bildungswesen, gibt es viele Herausforderungen, da Richtlinien erlassen werden, für die nur begrenzte Strategien oder Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Scham zu verringern und den Respekt für indigene Menschen in der australischen Gesellschaft zu erhöhen. Die Bedeutung der Darstellung indigener Perspektiven für die breitere Gemeinschaft wird durch mehrere bereits erwähnte Projekte deutlich (Garrett & Wrench, 2010; Louth, 2012, 2013), da diese Programme ein tieferes Verständnis und Respekt für die Kultur der Aborigines und Torres-Strait-Insulaner fördern. Solche Programme wecken ein Gefühl des Stolzes auf die indigene Bevölkerung und ihr Wissen und entwickeln gleichzeitig ein Gefühl der Verbundenheit mit Schulen und Universitäten. Die Überwindung des Schamgefühls unterstützt indigene Menschen darin, ihre Kultur mit der breiteren Gemeinschaft zu teilen und zu feiern. Pädagog*innen vor Ort können einen direkten Einfluss auf die Verringerung der Scham und die Erhöhung des Respekts für indigene Kinder in lokalen Gemeinschaften ausüben, indem sie eine Reihe von Fragen berücksichtigen: • Wie können Distrikte das Bewusstsein für indigene Kultur und Wissen auf lokaler Ebene schärfen, um ein kulturbewusstes Gemeinwesen zu fördern? • Wie kann die Achtung der indigenen Kultur und des indigenen Wissens in der gesamten Gemeinschaft gefördert werden? • Wie kann die Kommunikation und Zusammenarbeit innerhalb der Gemeinschaft gestärkt werden? • Wie können gemeinschaftsbasierte Aktivitäten als Bausteine strukturiert werden, um der indigenen Bevölkerung Australiens ihre Macht zurückzugeben? • Wird dies die indigene Bevölkerung Australiens in die Lage versetzen, ihre Bildungs- und Gesundheitschancen zu verbessern? • Welche Art von Gemeinschaftsprojekt kann Respekt fördern, Verbundenheit schaffen und Stolz und ein starkes Selbstbewusstsein innerhalb der lokalen indigenen Gemeinschaft fördern? • Wie kann dies nicht-indigenen Bevölkerungsteilen vermittelt werden, ohne die indigene Bevölkerung und ihre Kultur zu vernachlässigen? • Wenn das Selbstwertgefühl entscheidend für Motivation und Leistung ist, dann ist die Anerkennung und Würdigung der australischen indigenen Kultur und die Überwindung des „Schamfaktors“ für die Verbesserung der Bildungsergebnisse unerlässlich.

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Die Überwindung des Schamfaktors und die Unterstützung der indigenen Bevölkerung dabei, ihre Kultur mit anderen zu teilen und zu feiern, hängt in hohem Maße von der Kultivierung eines gegenseitigen Respekts zwischen der indigenen Bevölkerung und der Bildungsgemeinschaft ab. Ein entscheidender Faktor bei der Überwindung des Schamfaktors ist die Notwendigkeit, solche Ereignisse aus den lokalen Gemeinschaften heraus zu fördern. Dies schafft ein Gefühl der Eigenverantwortung bei den indigenen Völkern vor Ort und stärkt ihr Engagement für das Projekt. Die Einbindung lokaler indigener Gemeinschaften durch Konsultationen hilft bei der Schaffung einer kollektiven Identität und schafft ein gemeinsames Interesse der indigenen und der Bildungsgemeinschaften, ihre einzigartige indigene Kultur zu t­eilen und zu feiern. Die Berücksichtigung der Bedürfnisse der lokalen Bildungsgemeinschaften stellt sicher, dass die Schulen bereit sind, Zeit und Ressourcen für die Unterstützung indigener Kinder, ihrer Familien und Gemeinschaften bereitzustellen. Kehren wir also zu den Konstrukten des Selbst, der Kultur und der Identität zurück, wie sie sich auf die australischen Ureinwohner*innen beziehen. Der Gedanke, dass die australischen Ureinwohner*innen Schande über sich selbst bringen, steht in direktem Zusammenhang mit der Schande über die eigene indigene Kultur und das eigene Erbe. Die Beziehungen zu anderen Menschen und zur Umwelt sind entscheidende Faktoren für die Bildung des Selbst, der Kultur und der Identität der australischen Ureinwohner*innen. Ihre Erfahrungen mit der vorherrschenden australischen Kultur und Ideologie waren historisch gesehen negativ, da ihre Interventionen auf einem Defizitmodell basierten. Seit Generationen sind indigene Australier*innen individuell und kollektiv Missachtung und Demütigung ausgesetzt, was ihr Selbstvertrauen, ihre Selbstwirksamkeit und ihr Selbstwertgefühl stark und nachhaltig beeinträchtigt hat. Die langfristigen Auswirkungen der Ausgrenzung und Beschämung haben sich negativ auf das Selbstwertgefühl der australischen Ureinwohner*innen, ihres Volkes und ihrer Kultur ausgewirkt. Daher sollten die negativen Auswirkungen auf die kollektive Identität der australischen Ureinwohner*innen in der australischen Gesellschaft ein wichtiges Anliegen sein. Denn nur wenn die Bedrohung durch Respektlosigkeit und Demütigung vollständig beseitigt ist, kann die Scham überwunden werden und Stolz und Respekt ihren Platz im individuellen und kollektiven Selbstverständnis der australischen Ureinwohner*innen einnehmen.

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Kapitel 9

Scham und Resilienz: Eine neuseeländische Untersuchung des resilienten Umgangs mit Scham Samantha Brennan, Neville Robertson und Cate Curtis

9.1 Einleitung Scham kann eine starke und aufrüttelnde Erfahrung sein. Es wird selten offen darüber gesprochen, und wenn doch, können die Gespräche sehr schnell emotional werden. Zur Einleitung dieses Kapitels haben wir einige besonders emotionale Zitate aus den Interviews ausgewählt, die im Rahmen unserer Forschungsstudie geführt wurden. Über Scham nachdenkend, sagten die Teilnehmer*innen: John: Ich glaube einfach, dass Scham ein großes Thema ist. Ich denke, sie ist der Motivator, ich denke, sie ist der Killer, ich denke, es ist die Sache, die Ehen kaputt macht, ich denke, es ist die Sache, die die Menschheit immer und immer wieder [leiden] lässt. Schuldzuweisungen, Scham, mit dem Finger auf jemanden zeigen, Trennung, Mangel an Intimität, Mangel an Verletzlichkeit, sich verstecken müssen, sich in Sicherheit bringen. Lucy: [seufzt] Oh, Scham ist einfach das Schlimmste … [Lachen]. Das schlimmste Gefühl, das man jemals haben kann, denke ich. Emotionales Leid ist schwer zu verarbeiten und zu erleben, aber Scham – das würde ich als das absolut schlimmste emotionale Erlebnis bezeichnen.

Diese kurzen Auszüge veranschaulichen die mögliche Tiefe und Dunkelheit der emotionalen Erfahrung von Scham. Für viele Menschen ist Scham ein wichtiger Motivator, der die Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen einer Person beeinflusst. Oftmals unausgesprochen und ungeprüft, kann Scham eine tiefgreifende Auswirkung auf die Fähigkeit eines Menschen haben, im Leben erfolgreich zu sein. Einige unserer Forschungsteilnehmenden stellten Scham und Resilienz als widersprüchliche Konstrukte dar. Die Teilnehmer*innen beschrieben, dass es schwierig ist, sich von einer überwältigenden Erfahrung von Scham zu erholen, aber nicht unmöglich. Einige Teilnehmer*innen beschrieben auch positive ErgebS. Brennan (*) · N. Robertson · C. Curtis Fakultät für Psychologie, Universität von Waikato, Hamilton, Neuseeland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 E. Vanderheiden, C.-H. Mayer (Hrsg.), Der Wert der Scham, https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3_9

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nisse auf der Basis von Schamerfahrungen. Eine Teilnehmerin berichtete, dass sie eine intensive und unmittelbare Erleichterung verspürte, als sie sich endlich entschloss, einer Freundin ein Geheimnis zu beichten, das sie schon seit Jahren plagte. Ein anderer Teilnehmer beschrieb die Wiedervereinigung mit seiner Mutter, nachdem er sich endlich die Scham über sein früheres gewalttätiges und respektloses Verhalten eingestanden hatte. Obwohl die Scham für diese Teilnehmer*innen eine große Macht darstellte, wurde die Macht der Scham durch die anschließenden positiven Entscheidungen, die sie trafen, abgeschwächt. Diese Teilnehmer*innen entschieden sich dafür, auf Scham nicht zu reagieren, sondern ihr standzuhalten, was zu emotionaler Erleichterung und wiederhergestellten Beziehungen führte. In unserer Studie ging es darum, sowohl Scham als auch Resilienz zu verstehen, um diese Konstrukte in ein umfassendes Verständnis von Scham und Resilienz zu integrieren. Die Ergebnisse haben zahlreiche praktische Auswirkungen auf den positiven Umgang mit Schamerfahrungen.

9.2 Bisherige Forschung Scham ist seit jeher ein zu wenig beachteter Auslöser für ein schlechtes psychosoziales Funktionieren. Die These, dass Scham ein zugrundeliegender Faktor bei psychischen Problemen und Problemen der öffentlichen Gesundheit ist, findet jedoch zunehmend Beachtung, was durch eine Reihe von quantitativen und qualitativen Forschungsstudien belegt wird. Jüngste Studien haben Scham als einen beitragenden Faktor bei Angststörungen (Fergus et al., 2010), posttraumatischen Belastungsstörungen (Beck et al., 2011), depressiven Störungen (Gilbert et al., 2010) und Essstörungen (Unikel et al., 2012) identifiziert. Es hat sich gezeigt, dass Scham negativ mit dem körperlichen Gesundheitszustand einer Person korreliert, und in der psychologischen Literatur wird Scham als wichtiger Einflussfaktor bei Traumata sowohl bei Opfern als auch bei Tätern genannt (Persons et al., 2010; Sweezy, 2011). Scham hat einen erheblichen Einfluss auf negative psychologische und soziale Ergebnisse; daher ist Scham sicherlich ein Thema, das weitere Untersuchungen sinnvoll erscheinen läßt. Da oft die negativen Auswirkungen von toxischer Scham im Vordergrund stehen, ist die Versuchung groß, Scham als ein durchweg negatives Konstrukt zu betrachten. Einige Theoretiker*innen (z. B. Brown, 2006) haben vor allem die negativen Dimensionen der Scham unterstrichen und gefordert, dass die Überwindung von Scham in der Gesellschaft eine durchweg positive Wirkung auf die psychische Gesundheit hätte. Andere Forscher*innen betonen den adaptiven Wert der Scham, und unsere Forschung unterstützt diese Meinung. Unsere Teilnehmer*innen beschrieben Scham als ein starkes, verstecktes, andauerndes und manchmal lähmendes Erlebnis. Viele Teilnehmer*innen unterstrichen jedoch auch die potenziellen Vorteile von Scham. Wie Lucy sagte,

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Aber auf der positiven Seite denke ich, dass meine Erfahrungen mit Scham mich motiviert haben, viel an mir zu arbeiten…

Unsere Teilnehmer*innen beschrieben Scham nicht nur als Motivator für persönliches Wachstum, sondern auch als Schlüssel zur Entwicklung eines gesunden Stolzes. Gesunder Stolz umfasst ein grundlegendes Gefühl der Selbstachtung, der Würde und der Fähigkeit, auf die eigenen Leistungen stolz zu sein. Ohne ein Bewusstsein für die eigenen Grenzen, so die Teilnehmer*innen, wäre es unmöglich, die eigenen Stärken zu erkennen. Darüber hinaus beschrieben unsere Teilnehmer*innen Scham als einen Mechanismus, der eine Person vor sozialem Schaden schützt. Diese Sichtweise deckt sich mit den Positionen einer Reihe von Schamtheoretiker*innen, darunter Scheff (2003). Wie Scheff beschreibt, schärft Scham unser Bewusstsein für Störungen unseres Stolzes und lässt uns wissen, dass unsere sozialen Bindungen bedroht sind. Der Schamliteratur liegt die ungeschriebene Annahme zugrunde, dass die Einbindung in gesunde Beziehungen für ein gesundes, gesetzestreues Funktionieren unerlässlich ist. Scham hat das Potenzial, ein wertvolles soziales Feedback zu liefern, das uns helfen kann, soziale Bindungen aufrechtzuerhalten.

9.3 Scham in einem Pākehā-Kulturkontext Ein aussagekräftiges Zitat von Jean-Paul Sartre (zitiert in Elison, 2005, S. 6) verdeutlicht den relationalen Charakter der Scham: Doch obwohl bestimmte komplexe Formen, die sich aus der Scham ergeben, auf der Reflexionsebene erscheinen können, ist die Scham ursprünglich kein Phänomen der Reflexion. … sie ist in ihrer primären Struktur Scham vor jemandem.

Scham ist ein komplexes Konstrukt, und die vorhandene Forschungsbasis bietet keinen eindeutigen Konsens über seine Natur, Definition und Ausprägung. Unsere Forschung versucht, diese Konzeptualisierung von Scham zu klären. Es ist jedoch klar, dass Scham weitgehend sozialer Natur ist und in bestimmten sozialen und kulturellen Kontexten entsteht und interpretiert wird. Unsere Forschung fand in Neuseeland statt und konzentrierte sich auf die Untersuchung von Scham in einem spezifischen neuseeländischen sozialen und kulturellen Kontext. Daher ist es wichtig zu beachten, dass unser Forschungsprozess und unsere Ergebnisse mit den Werten, Überzeugungen und Bräuchen der neuseeländischen Kultur verwoben sind. Bei der Betrachtung von Scham im neuseeländischen Kontext ist es auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass es keine einheitliche, universelle kulturelle Erfahrung unter Neuseeländern gibt. Neuseeland ist eine multikulturelle Nation, die sich aus Pākehā, Māori, Pazifikinsulaner*innen, Asiat*innen und mehreren anderen subkulturellen Gruppen zusammensetzt. Da es unmöglich war, eine so große Vielfalt an kulturellen Erfahrungen in einem ohnehin schon breiten Thema effektiv abzudecken, haben wir uns entschieden, den Fokus der Untersuchung auf eine bestimmte kulturelle Gruppe zu beschränken, nämlich die Pākehā-Neuseeländer*innen.

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9.4 Die Schlüsselfrage: Was sind die widerstandsfähigen Reaktionen auf Scham? Aktuelle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass praktisch jeder Mensch Scham empfindet; allerdings wird Scham nur bei einer kleinen Zahl von Menschen zu einem ursächlichen Faktor für schwächende soziale und psychische Probleme (Brown, 2010). Während Scham bei einigen Menschen ernsthafte psychologische und soziale Probleme verursacht, erleben andere Menschen Scham ohne dauerhafte negative Auswirkungen. Wir wollten verstehen, warum und wie manche Menschen durch Scham am Boden zerstört werden, während andere im Angesicht der Scham widerstandsfähig werden. Eine klare und konsistente Schlussfolgerung der Resilienzliteratur ist, dass 50–70 % der Menschen unter widrigen Bedingungen in der Regel gut abschneiden (Jain et al., 2012). Resilienz ist also nicht nur ein abstraktes Konzept, sondern die reale Möglichkeit eines guten Ergebnisses, selbst für Menschen, die erheblichen Risikofaktoren ausgesetzt sind. Zu unseren Forschungsfragen gehörten die Kernfragen: Wie reagieren Pākehā-Neuseeländer*innen (Nachfahren der europäischen Siedler*innen) auf Schamgefühle? Und wie zeigen sich resiliente Reaktionen der Pākehā-Neuseeländer*innen auf Scham? In unserer qualitativen Studie befragten wir siebzehn Pākehā-Teilnehmer*innen, die über ihre Erfahrungen mit Scham und Resilienz berichteten. Diese Interviews wurden aufgezeichnet und transkribiert, und die Daten wurden mithilfe einer thematischen Analyse ausgewertet.

9.4.1 Scham verstehen Wir beginnen mit der Klärung unseres allgemeinen Verständnisses von Scham und Resilienz, das die Grundlage für unsere Diskussion in diesem Kapitel bildet. Die von uns befragten Teilnehmer*inneninnen beschrieben Scham als mit einer Reihe von spezifischen Merkmalen verbunden. Scham wird wie folgt beschrieben: stets negativ, stark, inhärent menschlich, versteckt, dauerhaft, oft schwächend, körperlich, sozial und manchmal unauffällig. Viele dieser Merkmale stimmen mit Forschungsergebnissen aus anderen westlichen Kulturen überein. Weil sich Scham so schrecklich anfühlen kann, sind viele Menschen (auch Forscher*innen) skeptisch, dass sie der Menschheit irgendeinen Nutzen bringen kann. Die mächtige Natur der Scham wird in Forschungsergebnissen angedeutet, die Scham mit erheblichen psychologischen und sozialen Problemen in Verbindung bringen (z. B. Beck et al., 2011; Gilbert et al., 2010). Dies verweist auf die Notwendigkeit, die mit der Scham verbundene Macht weiter zu erforschen, um ein besseres Verständnis davon zu erhalten, wie Scham Menschen schwächt und warum sie für einige eine so dauerhafte und allgegenwärtige Erfahrung ist.

9  Scham und Resilienz: Eine neuseeländische Untersuchung des resilienten …

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Wir erfragten die Quellen der Scham – und fanden eine enorme Vielfalt an situativen Auslösern für Scham. Besonders ausgeprägt war die Scham in der Kindheit, wo sie durch den negativen Einfluss von Eltern, anderen Familienmitgliedern, Lehrer*innen und Gleichaltrigen ausgelöst wurde. Die Teilnehmer*innen berichteten, dass Scham in der Kindheit oder im Erwachsenenalter durch die Handlungen anderer initiiert werden kann, in der Regel durch offene Scham oder Ablehnung, oder durch die eigenen Handlungen, zu denen moralische Übertretungen, Versagen oder ein Gefühl der Verantwortung für die Enttäuschung oder Verletzung anderer Menschen gehören können. Die Quelle der Scham kann nicht eindeutig als intern oder extern identifiziert werden. Vielmehr verschmelzen innere und äußere Einflüsse zu einem Gefühl der Scham, das in einer sozial und kulturell begründeten Erfahrung besteht. Alle Teilnehmer*innen identifizierten eine einzige, zugrundeliegende Quelle der Scham, die ihren Schamerfahrungen gemeinsam war, nämlich das Urteilsvermögen. Insbesondere wurde festgestellt, dass Scham mit Urteilen verbunden ist, die sich gegen die eigene Identität richten oder die Sicherheit der eigenen Beziehungen bedrohen. Die Urteile, die Scham auslösen, können innerlich erfolgen, von anderen mitgeteilt werden oder beides. Im Gegensatz zu der von Schuldtheoretiker*innen vertretenen Auffassung, dass Scham generell nicht hilfreich ist (z. B. Ahmed, 2001; Brown, 2006), deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass Scham manchmal nützlich sein kann. Während einige Forscher*innen (z. B. Deonna & Teroni, 2008) Scham als ein Konstrukt beschreiben, das gleichbedeutend ist mit der Aussage „Ich bin schlecht“, und Schuld als ein Konstrukt, das gleichbedeutend ist mit der Aussage „Ich habe etwas Schlechtes getan“, würden wir argumentieren, dass diese Verbindungen fehlerhaft sind, da es sich nicht um allgemein akzeptierte Ausdrücke handelt. Auch wenn die Verinnerlichung von Scham als negative Kernüberzeugung „Ich bin schlecht“ sicherlich nicht hilfreich ist, bedeutet dies nicht, dass Scham selbst niemals nützlich ist. Unsere Teilnehmer*innen beschrieben Scham als eine schmerzhafte Erfahrung, die jedoch in unterschiedlicher Intensität erlebt wird und auf die eine Person auf verschiedene Weise reagieren kann. Scham kann als das gefühlte Bewusstsein einer durchtrennten oder bedrohten sozialen Bindung dienen oder als das gefühlte Bewusstsein, dass die eigene Identität in Frage gestellt wird, vielleicht durch ein Verhalten, das gegen die eigene Moral oder die der Gesellschaft verstößt. Es wurde festgestellt, dass wir von einem gesteigerten sozialen Bewusstsein profitieren können, wenn wir uns auf die Scham einstellen, anstatt sie zu verdrängen und zu vermeiden, was letztlich zu einer Stärkung der sozialen Bindungen führen kann.

9.4.2 Resilienz verstehen Da das Hauptaugenmerk unserer Untersuchung darauf lag, Resilienzreaktionen auf Scham aufzudecken, ist es wichtig, kurz auf das Wesen der Resilienz einzugehen. Resilienz ist ein komplexes und flexibles Konstrukt. Unsere Teilnehmer*innen beschrieben Resilienz als Überwindung von Widrigkeiten. Bei der Frage, was

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­ esilienz ausmacht, wurden subtile Komplexitäten deutlich. Bei der Analyse der R von den Teilnehmer*innen bereitgestellten Daten wurden die Begriffe „wahre“ und „falsche“ Resilienz identifiziert. Die Teilnehmer*innen kontrastierten eine falsche Fassade von Stärke mit wahrer Resilienz, die tiefer liegt, oft chaotischer ist und schmerzhafter zu erreichen. Eine wichtige Erkenntnis im Zusammenhang mit Resilienz ist, dass diese aus Kampf entsteht. Frühere Forschungsarbeiten bestätigen viele der von den Teilnehmer*innen formulierten Resilienzbeschreibungen sowie Faktoren, die sich auf Resilienz auswirken, einschließlich Biologie, Erziehung und positive und unterstützende Beziehungen (z. B. Bonanno, 2004; Masten, 2001; Montpetit et al., 2010; Peters et al., 2005; Roisman, 2005). Die Notwendigkeit, Kämpfe auszuhalten, um Resilienz aufzubauen, wurde jedoch in keiner der untersuchten früheren Forschungsarbeiten fokussiert. Dies scheint eine bedeutende Lücke im phänomenologischen Verständnis von Resilienz zu sein, und die Ergebnisse dieser Studie bieten einen Ausgangspunkt, von dem aus dieses Resilienzmerkmal weiter erforscht werden kann. Es wurde vielfach festgestellt, dass Scham ausnahmslos negativ ist; ihre Erfahrung wird als eine Härte oder ein Kampf akzeptiert. Während einige Forscher*innen argumentieren, dass die Schmerzhaftigkeit von Scham verheerend und destruktiv ist, widersprechen wir diesem Argument. Wir schlagen vor, dass Scham zwar schmerzhaft, aber dennoch nützlich und manchmal notwendig ist. Sie wird als Kampf erlebt, aber wie unsere Ergebnisse in Bezug auf Resilienz zeigen, sind Kämpfe oft eine Chance für Wachstum. Wenn wir mit Scham kämpfen, können wir letztlich selbstbewusster werden, uns sozial besser in stabilen Beziehungen verankern und widerstandsfähiger werden.

9.5 Reaktionen auf Scham: Einblicke von Pākehā-­Neuseeländer*innen Scham und Resilienz sind beide für sich genommen wertvolle Studienobjekte. Unser Ziel war es jedoch, diese beiden wichtigen Forschungsbereiche miteinander zu verknüpfen – mit dem letztendlichen Ziel, Resilienzreaktionen auf Scham zu entdecken und zu erforschen. In unserer Resilienzforschung konnten wir feststellen, dass es möglich ist, sich von Widrigkeiten zu erholen, wenn auch der Prozess der Resilienzentwicklung nicht einfach ist. Dazu gehört die Erfahrung der Überwindung von Schwierigkeiten, zusammen mit anderen Faktoren wie Persönlichkeit, Beziehungen und mentaler Perspektive. Resilienz ist ein dynamisches Konstrukt, das sich im Laufe der Zeit in unterstützenden Beziehungen und aufgrund von Kämpfen entwickelt. In Bezug auf Scham haben wir festgestellt, dass Scham als eine durchweg negative Erfahrung beschrieben wurde, dass aber der Kampf mit der Scham unter bestimmten Umständen auch von Vorteil sein kann. Scham hat zahllose situative Auslöser, aber letztlich ist die Quelle der Scham eng mit der Beurteilung verbunden. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden wir unsere Erkenntnisse über

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Scham und Resilienz in eine Diskussion einfließen lassen, die darauf abzielt, die Schlüsselfrage zu beantworten: Worin bestehen rezilienzstärkende Schamreaktionen für Pākehā-Neuseeländer*innen? Diese Fragen wurden mit den Teilnehmer*innen, die sich freiwillig für unsere Studie gemeldet hatten, eingehend diskutiert. Eine thematische Analyse der Interviewtranskripte ergab sechs Schlüsselthemen, die sich auf die Reaktionen der Teilnehmer*innen auf Scham beziehen. Diese können hinsichtlich der Schamreaktionen in zwei Gruppen unterteilt werden. Zunächst werden wir die „natürlichen“ Reaktionen auf Scham beschreiben. Dies sind die Reaktionen, die häufig und unmittelbar als Reaktion auf akute Schamgefühle (oder die Erwartung davon) auftreten. Der Begriff „natürlich“ soll in diesem Fall keine biologische Determination implizieren. Vielmehr soll er den gemeinsamen und inhärent menschlichen Aspekt dieser besonderen Reaktionen widerspiegeln. Zu den natürlichen Reaktionen auf Scham gehören das Vermeiden von Scham, das Flüchten vor Scham und das sich Ergeben in Schamgefühle. Die zweite Gruppe von Reaktionen  – die resilienzstärkenden Reaktionen auf Scham – besteht darin, der Scham gegenüber verletzlich zu sein, mit der Scham präsent zu sein und bereit zu sein, sich aufgrund des Schamempfindens zu verändern. Es mag zwar verlockend sein, diese Reaktionen kategorisch in gut und schlecht oder richtig und falsch einzuteilen, aber in diesem Kapitel werden die möglichen Vorteile jeder Reaktion untersucht. Während die letztgenannte Gruppe langfristig eher Resilienz entwickeln kann, gibt es Zeiten, in denen das Vermeiden und die Flucht vor der Scham die geeignetste Reaktion sein kann.

9.6 Natürliche Reaktionen auf Scham Die natürlichen Reaktionen auf Scham sind das Vermeiden von Situationen, die Schamgefühle auslösen könnten, die Flucht vor der Scham, wenn sie empfunden wird, und das Erstarren in der Scham, was oft dazu führt, dass sie das psychische und soziale Wohlbefinden lähmt. Es ist wichtig, die Bezeichnung hervorzuheben, die wir für diese Gruppe von Reaktionen gewählt haben – „natürlich“, nicht schlecht oder falsch. Scham ist komplex, und die Reaktionen darauf sind vielfältig. Die beschriebenen Reaktionen können natürliche Abwehrmechanismen gegen Scham oder Auswirkungen von Scham sein. Diese Reaktionen können problematisch sein, aber in manchen Situationen können sie auch schützend wirken.

9.6.1 Vermeidung Die erste Reaktion auf Scham, die untersucht werden soll, ist das Vermeiden. „Vermeiden“ ist ein Wort, das während der Interviews immer wieder auftauchte, wenn die Teilnehmer*innen gefragt wurden, wie sie mit Scham umgehen oder darauf re-

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agieren. Die meisten Menschen würden, wenn es möglich wäre, nicht nur Scham selbst vermeiden, sondern auch jede Situation, die Scham hervorrufen könnte. Lilia führt dieses Thema im folgenden Gespräch ein, in dem sie über die Scham nachdenkt, die sie empfand, als sie ihren Freund betrog: Forscher*in: Wie sind Sie mit der Scham in dieser Situation umgegangen? Lilia: Ich habe ihn total gemieden. [Lachen] Und alles, was mit ihm zu tun hatte, und ging einfach [abschneidende Geste] und beendete es und versuchte, nie wieder daran zu denken. Forscher*in: Und wie hat das für Sie funktioniert? Lilia: Nun, ich würde nicht sagen, dass es funktioniert hat. [Lachen] Ich glaube, man kann Dinge nur eine bestimmte Zeit lang vermeiden.

Lilia vermied Scham sowohl physisch als auch psychisch. Sie ging ihrem ehemaligen Freund aus dem Weg und vermied so jede Situation, in der sie an ihre Handlungen, die zerbrochene Beziehung oder ihre Schamgefühle wegen der Trennung erinnert werden würde. Sie schottete sich auch mental von der Scham ab, indem sie sich weigerte, die Scham aufgrund des tiefen Schmerzes, den sie verursachte, anzuerkennen. Dies brachte zwar ihre Scham vorübergehend zum Schweigen, half ihr aber nicht, an der Situation zu wachsen oder daraus zu lernen. Wie Lilia vermeidet auch Peter die Scham, indem er Situationen verhindert, in denen er auf Menschen trifft, von denen er annimmt, dass sie ihn verurteilen würden. Peter sagt: „Es gibt bestimmte Geschäfte und Gegenden, in die ich nicht gehe, weil ich dort auf mehr Menschen treffe, die mich noch mehr verurteilen.“ Peter verbindet seine Scham eindeutig mit den Urteilen anderer, und indem er sich Situationen entzieht, in denen er möglicherweise verurteilt werden könnte, vermeidet er die Scham. Während viele Teilnehmer*innen beschrieben, dass sie Situationen, in denen sie Scham empfinden könnten, physisch vermeiden, liefert Charlotte ein anderes Beispiel für das Vermeiden von Scham. Im folgenden Auszug beschreibt Charlotte den Perfektionismus als einen Mechanismus zur Schamvermeidung. Charlotte reflektiert über die Auswirkungen der übermäßigen, äußerlichen Scham durch ihre Mutter, wenn sie sagt: Das führte dazu, dass ich hohe Erwartungen an mich selbst stellte, die immer unrealistisch waren. So lobte ich mich nie für die Arbeit, die ich geleistet hatte, sondern sagte mir: „Das ist einfach nicht gut genug“.

Charlotte beschreibt, dass sie sehr hohe Erwartungen an sich selbst stellt. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass sie die hohen Ansprüche ihrer Mutter verinnerlicht hat, aber es dient auch als Versuch, Scham zu vermeiden. Als Reaktion auf die Scham versucht Charlotte stets, härter zu arbeiten und besser zu werden, um sich nicht dem Gefühl stellen zu müssen, nicht „gut genug“ zu sein. Die Schamvermeidung scheint eine verständliche, menschliche Reaktion auf eine emotionale Erfahrung zu sein, die manchmal sehr belastend sein kann. Viele Menschen benutzen das Wort „Verstecken“, wenn sie ihre Reaktionen auf Scham beschreiben. Elisabeth sagt: „Wie kann ich sonst mit Scham umgehen? Ich verstecke mich auf jeden Fall.“ Peter erweitert die Versteckensthematik aufgrund

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von Scham dahingehend, dass er sein Gesicht mit einer Sonnenbrille verbirgt, um zu vermeiden, dass er erkannt wird und sich folglich schämt, wenn er mit anderen Menschen in Kontakt kommt. Peter sagt: Wenn ich in diesem Raum bin und in den Supermarkt muss, wähle ich einen anderen, oder ich trage meine Sonnenbrille. Nicht, dass … Ich bin groß, die Leute werden mich trotzdem sehen, aber ich habe das Gefühl, dass ich mich verstecke.

Peter findet Trost in der Vorstellung, sich verstecken zu können. Seine Sonnenbrille bildet eine Barriere zwischen ihm und anderen, die ihm ein Gefühl des Schutzes vor Scham vermittelt. Dieses Verstecken hilft Peter zwar emotional, würde aber auch seine soziale Isolation verschärfen. Eine Reihe von Teilnehmer*innen beschrieb eine interessante Art, sich vor Scham zu verstecken – hinter einer Maske. Kathleen sagt: „Man lernt, Masken aufzusetzen. Das ist schlecht – es ist schlecht, ich weiß, es ist nicht gut. Aber es ist ein vertrauter Bewältigungsmechanismus. Verstehen Sie?“ Anstatt sich zurückzuziehen und sich physisch und sozial zu verstecken, war Kathleen weiterhin sozial engagiert, sichtbar und verbunden. Sie weigerte sich jedoch, ihre wahren Gedanken und Gefühle zu zeigen; sie weigerte sich, verletzlich zu sein. Indem sie eine „Maske“ aufsetzte, konnte Kathleen sich vor Scham schützen, allerdings um den Preis einer echten Verbindung zu anderen. Kathleen empfindet diese Reaktion als „schlecht“. Möglicherweise glaubt Kathleen, dass ihre Reaktion falsch oder nicht hilfreich ist, weil sie die isolierende Wirkung dieser Reaktion erkannt hat, auch wenn es immer noch eine Reaktion ist, die sie antreibt. Elisabeth erläutert das Konzept des Versteckens hinter einer Maske mit den Worten: Ich dachte, ich würde mich verstecken, aber für andere war ich das verrückte Mädchen, das nach vorne schaut. Ich begab mich in Situationen, in denen ich der Mittelpunkt der Party war, aber für mich war es ein Verstecken, weil sie meine Angst nicht sahen, sie sahen nicht die Wörter in meinem Kopf, sie sahen nicht die Tatsache, dass ich einfach verzweifelt verletzt war. Sie sahen diese fröhliche und lebensfrohe Person, aber seitens anderer Menschen wurde das wahrscheinlich nicht als Verstecken wahrgenommen.

Wie Kathleen hatte auch Elisabeth das Gefühl, sich vor Scham zu schützen, indem sie sich weigerte, ihre wahren Gefühle von Angst und Versagen zu offenbaren. Sie schuf sich eine alternative Persönlichkeit, die von anderen gemocht wurde, die aber verhinderte, dass ihr wahres, verletzliches Selbst bekannt wurde und sie deshalb nicht geliebt und unterstützt wurde. Eine letzte Methode zur Vermeidung von Scham ist das Verstecken, indem sich eine Person klein und möglichst unsichtbar macht. Mark erwähnt, dass er als Kind, um beschämende Situationen zu vermeiden, „überlebte, indem er still war und ­versuchte, einfach unsichtbar oder still zu sein und nicht zu viel Ärger zu machen“. Wenn er nicht bemerkt wurde, konnte er nicht beschämt werden, und so war das Verstecken durch „Unsichtbarkeit“ ein schützender Bewältigungsmechanismus für Mark. Zum Abschluss der Diskussion über das Verstecken und Vermeiden als Reaktion auf Scham beschreibt Mark die entsprechenden Auswirkungen. Er sagt: „Ich habe

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also immer etwas verheimlicht. Und dieses Verstecken oder Alleinsein, das Alleinsein mit den eigenen Problemen – niemand weiß wirklich, was in Dir vorgeht.“ Wie Mark beschreibt, führt beides, das Vermeiden und das Verstecken vor Scham, oft dazu, dass Menschen Beziehungen vermeiden – oder sich zumindest nicht auf authentische Beziehungen einlassen. Derartige Schamreaktionen hemmen und verhindern letztlich zwischenmenschliche Beziehungen. Dies kann zu einem kurzfristigen Schutz vor sozialen Gefahren führen, aber auch dazu, dass eine Person sich chronisch isoliert und nicht in der Lage ist, mit anderen in Kontakt zu treten oder Unterstützung von anderen zu erhalten. Dies behindert die Entwicklung von Resilienz, die durch unterstützende Beziehungen erheblich gefördert wird.

9.6.2 Flucht Die meisten Teilnehmer*innen beschrieben den Wunsch, Schamgefühle zu vermeiden  – manchmal sogar um jeden Preis. Wenn Menschen jedoch nicht in der Lage sind, Scham zu vermeiden, ist die nächste natürliche Reaktion, der Scham zu entkommen. Dies kann auf viele Arten geschehen. Oftmals reagieren Menschen auf Schamgefühle mit physischer Flucht. Als Kath­ leen zum Beispiel gefragt wurde, wie sie mit Schamgefühlen umgeht, war ihre Antwort: Hauptsächlich sitze ich da und ziehe mich zurück. Ich ziehe mich zurück; ich laufe weg. Das ist mein … Kennen Sie den Kampf-Flucht-Reflex? Ich ziehe mich buchstäblich zurück.

Wenn Kathleen Scham empfindet, ist ihre unmittelbare Reaktion, zu fliehen – sich zurückzuziehen. Es ist interessant, den Kontrast zwischen Kathleens Handlungen und ihrer Beschreibung des emotionalen Prozesses zu beobachten. Während sie körperlich reagiert, indem sie sich einfach hinsetzt oder zurückzieht, eine passive, energiearme Reaktion, ist die emotionale Beschreibung der Kampf- oder Fluchtreaktion eine sehr energiereiche Reaktion. Kathleen beschreibt, dass sie sich hinsetzt und sich zurückzieht – sie entfernt sich emotional aus einer gefährlichen Situation. Dabei kann ein sehr hohes Maß an emotionaler Volatilität zurückbleiben – unverbrauchte Energie, die dann zu zahlreichen anderen Problemen wie Angst oder Aggression beitragen kann. Kathleens Beschreibung der Flucht vor der Scham ruft ein Bild hervor, das an das zuvor beschriebene Bild des Versteckens erinnert. Wenn Kathleen sich in einer Situation befand, in der sie emotional exponiert und der Scham ausgesetzt war, führt das Gefühl der Scham dazu, dass sie sich sofort wieder versteckt. Sie weicht dem Gefühl aus, soweit es ihr möglich ist, und kehrt in einen wachsamen Zustand der Schamvermeidung zurück. Mehr als ein/e Teilnehmer*in beschrieb, dass er/sie in ein anderes Land zog, um der Scham zu entkommen. Lilia beschreibt ihre Erfahrungen wie folgt: Ich bin weggelaufen. [Lachen] Ich bin umgezogen. Ich bin umgezogen und habe [meine Eltern] gemieden. Scheint das zu sein, was ich tue … Das habe ich mein ganzes Leben lang

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getan, seit ich alt genug war, um wegzulaufen […] Ich begann, das Gefühl zu erkennen, als ich etwas älter war, und es war immer das gleiche Muster. Es passierte etwas, und dann wollte ich weglaufen. Und ich fing an, nach einem anderen Ort in einem anderen Land zu suchen, um dorthin zu ziehen, und ich würde verdammt noch mal das Land wechseln. [Lachen] … Ich ging einmal nach Amerika, ein anderes Mal nach Australien, dann nach China.

Lilia flüchtete immer wieder vor ihrer Scham, indem sie in andere Länder umzog. Dadurch wurde sie wahrscheinlich isoliert und war nicht in der Lage, angemessene Unterstützungsnetze aufzubauen. Ein weiteres Mittel, um der Scham zu entkommen, ist die Betäubung der Scham. Viele Teilnehmer*innen berichteten, dass sie der Scham entkommen sind, indem sie ihre Scham betäubt haben – am häufigsten durch den Gebrauch von Substanzen. John führt dieses Thema ein, indem er einen Prozess der emotionalen Flucht vor der Scham in verschiedene „Verstecke“ beschreibt. John sagt, Immer wenn so etwas in meinem Leben passiert ist, habe ich mich versteckt. Und ich hatte immer mehrere Verstecke: Alkohol, Essen, Mädchen … Also verstecke ich mich einfach.

Verstecken als Schamreaktion wurde bereits bei der Erörterung des Vermeidens als Reaktion auf Scham angesprochen. Wenn eine Person mit akuten Schamgefühlen konfrontiert wird, besteht eine natürliche Reaktion darin, diesem schmerzhaften Gefühl zu entkommen, indem sie sich in die Sicherheit von Verstecken flüchtet. Das Verstecken durch Eskapismus unterscheidet sich von Verstecken oft dadurch, dass die Flucht vor der Scham zurück in das einfache Verstecken oft ein aktiveres Bemühen beinhaltet, als vor dem Schamgefühl zu fliehen oder es zu betäuben. Petrus erwähnte bei der Beschreibung von Möglichkeiten zur Bewältigung von Scham, Ja, und zwischendurch betäubt man sich einfach – Alkohol, Gras.

Oft konsumieren Menschen Substanzen, um diese emotionale Betäubung zu erreichen. John nennt Alkohol und Essen sowie Mädchen als Kontexte, in die er sich begibt, oder als Methoden, die er als Versteck benutzt. Max setzt die Diskussion über Substanzen als Flucht vor der Scham im folgenden Zitat fort. Er bezieht sich darauf, dass er zum ersten Mal mit Drogen in Berührung kam, als er als junger Teenager das Haus seines Vaters besuchte. Ich und mein Cousin, und da lag dieses grüne Zeug herum, und wir wussten, was es war, und wir fingen an, es zu rauchen, und dann boom! Das war’s. Wir waren beide süchtig. Ja, wir fanden es beide toll; es war einfach die perfekte Flucht.

Max bezeichnet das Gefühl, zum ersten Mal high zu sein, als „erstaunlich“, „die perfekte Flucht“. Für einige Teilnehmer*innen bedeuteten die Substanzen eine Befreiung von der schmerzhaften Schamerfahrung und ermöglichten es ihnen, in eine Form der Erleichterung und des Glücks zu flüchten. Diese Flucht ist jedoch nur vorübergehend und birgt erhebliche Gefahren, wie unangemessenes Verhalten oder Abhängigkeit. Die Teilnehmer*innen reflektierten auch über den Schmerz, die Schwierigkeiten und die langfristigen Folgen, die sie durch den Missbrauch von Substanzen erlitten haben, um ihrer Scham zu entkommen.

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Eine andere, weniger bekannte, aber ebenso häufige Fluchtmöglichkeit, die die Teilnehmer*innen nannten, war das Essen. Auf die Frage, wie sie mit Schamgefühlen umgeht, sagte Elisabeth: Was ich sonst noch tue? Essen, ich esse. Ich esse eine Menge. [Pause] Verdammter Mechanismus: das Essen, wenn man sich schlecht fühlt. [Gelächter].

Elisabeth beschreibt übermäßiges Essen als einen Mechanismus, um der Scham und anderen schlechten Gefühlen zu entkommen. Wie Drogen oder Alkohol kann auch das Essen kurzfristig Trost spenden und schmerzhafte Gefühle lindern. Übermäßiges Essen hat jedoch seine eigenen negativen Langzeitfolgen, die Schamgefühle eher verschlimmern als lindern können. Einige Teilnehmer*innen berichteten, dass sie sich für ihren Körper schämen, weil sie übergewichtig sind. Eine letzte Methode, der Scham durch Substanzen zu entkommen, wird von Jennifer vorgestellt. Jennifer bezieht sich auf die Betäubung der Scham durch verschriebene Antidepressiva und Medikamente gegen Angstzustände. Auf eine Frage nach dem emotionalen Erleben von Scham antwortet Jennifer: Ich glaube, es zieht dich einfach runter. Wie eine große Decke über deinem Kopf oder so. Aber wie ich schon sagte, weil ich mich nicht wirklich damit auseinandergesetzt habe, ist es auf andere Weise gekommen. Ich war, wie Sie sich vorstellen können, im Laufe der Jahre bei mehreren Ärzten. Aber man hat sich nie darum gekümmert. Es wurde vertuscht. [flüsternd] Drogen! [Gelächter].

Es mag umstritten sein, zu behaupten, dass medizinisch sanktionierte Behandlungen tatsächlich ein Fluchtmechanismus sein können. Dennoch ist es interessant, Jennifers Gedanken zu diesem Thema zu lesen. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass die Medikamente die Probleme, mit denen sie konfrontiert war, eher überdeckten, als sie zu lösen. Die verschriebenen Medikamente verschafften ihr vorübergehend Erleichterung bei akuten Schamgefühlen, aber sie ist überzeugt, dass die Ärzt*innen und die Medikamente ihr nicht helfen konnten, ihre Scham zu überwinden. Durch die jahrelange medizinische Behandlung konnte sie ihre Scham gut verstecken, aber sie war sich bewusst, dass die Scham zusammen mit anderen negativen Gefühlen immer noch unter der Oberfläche lauerte. Die Medikamente boten eine Flucht vor der Scham, aber keine Heilung. Eine weitere Möglichkeit, der Scham zu entkommen, besteht darin, die eigene Scham durch Schuldzuweisungen auf andere zu übertragen. Elisabeth führt dieses Thema ein, wenn sie sagt, Es gibt einige Wege, wie ich mit Schamgefühlen umgehe… also, ignorieren, andere beschämen [Lachen] oder anderen die Schuld geben  – in mir selbst, nicht wirklich ihnen gegenüber!

Elisabeth beschreibt das Beschämen, Ignorieren oder Beschuldigen anderer als defensive Reaktion auf ihre eigenen Schamgefühle. Auch wenn sie einschränkt, dass sich dies in ihrem eigenen Kopf abspielt und sich nicht offen gegenüber der anderen Person äußert, ist davon auszugehen, dass Menschen manchmal offen beschuldigt werden, weil sich eine andere Person schämt. In ähnlicher Weise antwortete Drew auf eine Frage zur Bewältigung von Scham mit den Worten:

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Ich glaube, ich habe das Bedürfnis, Steve zu beschuldigen und zu beschämen, weil ich das Gefühl habe, dass er viel besser hätte gehen können und all das hätte vermieden werden können. […] Ich würde ihm gerne ins Gesicht schlagen, weil ihn das verletzen würde, oder sein Auto in die Luft jagen oder etwas anderes Schlimmes. […] Ja, er ist die Person, die ich in meinem Leben am meisten verabscheut habe. Das war also schwierig. Da muss eine Menge Scham mit im Spiel gewesen sein…

Auch hier bezieht sich Drew auf seine inneren Fantasien und nicht auf physische Gewalttaten, aber er gibt Steve eindeutig die Schuld an seiner eigenen Scham. Drews Worte zeigen einen körperlichen Energieaufbau, da sich seine Scham in Wut verwandelt, die er durch die Vorstellung von gewalttätigen Angriffen abreagiert. Michelle liefert ein weiteres Beispiel dafür, dass man auf Scham mit Wut reagieren kann, wenn sie sagt: „Ich bin nicht wütend“: Weil ich in der Schule so schrecklich war, oder weil ich die Schreckliche in der Schule war, die Verliererin, die niemand mochte, wurde ich gehänselt, verprügelt … Das führte dazu, dass ich, wenn ich zu Hause bei meinen Geschwistern war, eine Tyrannin war. Ich war richtig gemein, sehr körperlich, sehr wütend.

Michelle bezieht sich auf die Auswirkungen, die das Mobbing in der Schule auf sie hatte. Die Scham, die sie empfand, wurde auf ihren Bruder und ihre Schwester umgelenkt und verlagert. Michelle deutet an, dass sie ihren Geschwistern gegenüber körperlich gewalttätig war, um ihre Wut über die Scham auszudrücken, die sie von ihren Mitschüler*innen in der Schule ertragen musste. Die Flucht vor der Scham ist eine natürliche Reaktion, die die unmittelbare Negativität des Schamgefühls mindern kann. Eskapismus kann jedoch langfristige negative Folgen haben. Die Flucht vor der Scham durch Substanzkonsum kann zur Abhängigkeit führen; sowohl physische als auch emotionale Fluchtwege können zu sozialer Isolation führen. Wenn jemand vor Scham flüchtet, anstatt sie anzuerkennen, ist er oder sie nicht in der Lage, sich mit dem Gefühl zu beschäftigen, daraus zu lernen und konstruktiv damit umzugehen.

9.6.3 Sich der Scham ergeben Die letzte natürliche Reaktion auf Scham ist es, sich der Scham zu ergeben. Jennifer führt dieses Thema im folgenden Gespräch ein, in dem wir über Kindheitserinnerungen sprechen, die sowohl mit vergangenen als auch mit aktuellen Schamgefühlen durchtränkt sind: Forscher*in: Wie sind Sie mit ihnen umgegangen, als Sie nicht über sie gesprochen haben? Jennifer: Indem ich Angstzustände hatte und jahrelang nicht schlafen konnte! (Gelächter) Ich bin also nicht damit klargekommen.

Jennifer berichtet, dass sie mit der Scham einfach nicht zurechtkommt. Angstzustände und chronische Schlaflosigkeit waren körperliche Symptome ihrer Scham, die sie viele Jahre lang überwältigte. In ähnlicher Weise bezieht sich Sarah auf ihre Reaktion auf die Scham, wenn sie sagt: „Weil ich früher überhaupt nicht damit um-

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gehen konnte. Ich wurde depressiv und rauchte in Kette.“ Depressionen und eine starke Abhängigkeit vom Zigarettenrauchen waren Auswirkungen, die Sarah auf ihre Unfähigkeit zurückführte, mit der Scham fertig zu werden. Jennifer und Sarah sprechen mit einem Gefühl der Vergeblichkeit und Hilflosigkeit hinsichtlich ihrer früheren Reaktionen auf Scham. Sie hatten keine Möglichkeit, mit der Scham umzugehen, und diese hat sie schließlich überwältigt. Einige Teilnehmer*innen verbalisierten die Internalisierung der Scham. Die Verinnerlichung von Scham beinhaltet, dass eine Person sich negative Urteile über sich selbst zu eigen macht und sie in das eigene Identitätsgefühl einbaut. Elisabeth beschreibt im folgenden Text, dass sie Erfahrungen mit Scham internalisiert hat: [Die] Scham hat sich wahrscheinlich negativ auf meine Ehe ausgewirkt, weil ich zum Beispiel oft daran gezweifelt habe, dass wir normal sein werden. Ich habe eine zugrunde liegende Annahme – und es ist ein Irrglaube und der ist falsch. Wenn ich irrational bin, denke ich, dass ich keine Normalität verdiene, und deshalb wird er mich irgendwann verlassen, oder die Dinge werden sich ändern, oder es wird etwas passieren.

Elisabeth beschreibt, dass sie grundsätzlich glaubt, sie sei anormal oder eines „normalen“ Lebens nicht würdig. Wenn sie gestresst ist, zweifelt sie daran, dass ihr Mann bei ihr bleiben wird, oder sie befürchtet, dass sich andere schlimme, unvorhergesehene Veränderungen negativ auf ihr Leben und ihre Familie auswirken werden. Dies steht im Zusammenhang mit einer früheren Aussage Elisabeths, dass sie sich schämt, weil ihr Vater gestorben ist, als sie noch sehr jung war. Sie schämte sich, weil ihre Familie nicht „normal“ war. Elisabeth verinnerlichte diese Scham, was zu einem langanhaltenden Bild von sich selbst als anders als andere und zu ihrer zukünftigen Identität als anomal führte. Dieses Beispiel veranschaulicht die langfristigen Auswirkungen des Ergebens in die Scham durch deren Verinnerlichung. In Elisabeths Fall wirkt sich diese Art der Reaktion auf Scham bis weit ins Erwachsenenalter hinein auf ihre Beziehungen aus. Die verinnerlichten negativen Urteile über sich selbst und ihre Identität und die Überzeugung, dass sie eines normalen Lebens nicht würdig ist, führen zu weiterer, anhaltender Scham und Angst. Dies könnte Elisabeth dazu verleiten, sich in Situationen zu schämen, in denen andere ganz anders reagieren würden. Wenn Elisabeths Mann sie zum Beispiel in der Zukunft verlassen würde, wäre es sehr wahrscheinlich, dass sie sich sehr schämen würde. Im Gegensatz dazu würde eine andere Person mit einem anderen Hintergrund vielleicht mit einer anderen Primärreaktion reagieren, etwa mit Wut. Caleb erweitert die Diskussion über die Verinnerlichung von Scham mit den Worten: Und so wurden meine Schwächen durch das, was auch immer mit mir passiert ist, zu … als wären sie schreckliche Dinge. Ich bin von Grund auf fehlerhaft und defekt, anstatt dass ich einfach nur hilfsbedürftig bin oder nicht weiß, wie ich etwas tun soll, und das ist schlecht, das ist schlecht an mir.

Im Rückblick auf sein Leben beschreibt Caleb, wie er die Scham verinnerlichte und glaubte, seine Schwächen seien schreckliche Charakterfehler und keine normalen menschlichen Einschränkungen. Er glaubte, dass ihm etwas „Schlechtes“ anhaftete, wenn er eine Aufgabe nicht bewältigen konnte, anstatt zu erkennen, dass es ein normales und akzeptables Merkmal des Menschen ist, Hilfe zu benötigen.

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In ähnlicher Weise veranschaulicht Charlotte, wie Scham verinnerlicht werden kann und daher zu anhaltendem Schmerz und Unsicherheit führt. Charlotte beschreibt, wie sie die Scham, die sie empfand, als ihr langjähriger Freund sie verließ, verinnerlichte und sagte: Als mein Ex und ich uns trennten, schämte ich mich sehr, weil er beschloss, dass es eine bessere Frau gibt. (Lachen) Das ist eine Menge Scham. Das war wahrscheinlich auch ein Echo auf viele dieser Gefühle – wie, ich bin offensichtlich nicht gut genug, ich kann nicht das sein, was du von mir erwartest. Diese Hoffnungslosigkeit ist auch hier zu spüren. Sie spiegelte viel von der Stimme meiner Mutter wider. […] Ja, das war wahrscheinlich wirklich eine ziemlich beschämende Zeit im Leben. Ich musste meine Zeit damit verbringen, herauszufinden, ob ich wirklich etwas zu bieten habe. Diese Scham hat wahrscheinlich ein Gefühl der Unsicherheit in mir ausgelöst, so nach dem Motto: „Bin ich wirklich so schlecht? Bin ich wirklich so wenig liebenswert?“

Aufgrund des Verhaltens ihres Ex-Freundes kam Charlotte zu dem Schluss, dass sie „offensichtlich nicht gut genug“ sei und nicht in der Lage, seine Bedürfnisse zu erfüllen. Sie beschrieb ein Gefühl der Unsicherheit, das sie in sich trug. Charlotte ist ein reales Beispiel für das hypothetische Szenario, das zuvor in Bezug auf Elisabeths Ängste erörtert wurde. Ein gewisses Maß an Scham ist eine normale Reaktion auf eine beendete Beziehung. Charlottes Schamgefühl wurde jedoch wahrscheinlich durch die Verinnerlichung negativer Urteile über sich selbst verstärkt, die sie früher in ihrem Leben aufgrund des strengen und beschämenden Erziehungsstils ihrer Mutter erfahren hatte. Die eigene Identität in Frage zu stellen, ist eine zu erwartende Reaktion auf Scham, aber wenn diese Fragen chronisch wiederholt und innerlich mit unrealistisch negativen Einschätzungen beantwortet werden, kann die Scham verinnerlicht worden sein. Dies kann zu einer langanhaltenden Unsicherheit führen, die der psychischen Gesundheit schadet und zukünftige Beziehungen beeinträchtigt.

9.7 Resiliente Reaktionen auf Scham Vermeidung, Flucht und Aufgabe sind natürliche Reaktionen auf Scham, und in manchen Fällen können sie schützend wirken. Wenn sie jedoch übermäßig und unausgewogen eingesetzt werden, behindern diese Reaktionen die Entwicklung von Resilienz eher, als dass sie sie befördern. In unserer Analyse haben wir eine Gruppe von Schamreaktionen identifiziert, die die Resilienzentwicklung befördern können. Diese Reaktionen sind: verletzlich sein, präsent sein und bereit sein, sich zu verändern.

9.7.1 Verletzlichkeit Die erste der belastbaren Schamreaktionen, die in unserer Analyse ermittelt wurden, ist Verletzlichkeit. Unsere Teilnehmer*innen berichteten von einer natürlichen Tendenz, jede Situation zu vermeiden, die Schamgefühle hervorrufen könnte. Die Teil-

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nehmer*innen räumten jedoch auch ein, dass Vermeidungsverhalten zu sozialer Isolation und schließlich zu Depression, Angst oder Verzweiflung führen kann. Wenn Menschen hingegen bereit sind, sich auszusetzen und das Risiko einzugehen, Schamgefühle zu empfinden, können ihre sozialen Beziehungen gestärkt werden, und ihr Wohlbefinden nimmt tendenziell zu. Zunächst soll proaktive Verletzlichkeit in den Blick genommen werden. Anstatt jede Situation zu vermeiden, die möglicherweise Schamgefühle auslösen könnte, kann sich eine Person dafür entscheiden, Risiken einzugehen, die ihr die Möglichkeit lassen, Schamgefühle zu empfinden, die aber zugleich Erfahrungen ermöglichen, die Wachstum und Widerstandsfähigkeit fördern. John gibt im folgenden Text einen Einblick in diese Form der Verwundbarkeit: Ich erlebe im Training häufig Menschen, die durch Scham motiviert sind. „Ich trainiere besser, damit ich das Rennen beenden kann, denn wenn ich das Rennen nicht beende, werde ich mich schämen.“ Oder ich beobachte es anders, ich habe mit vielen Menschen zu tun, die nicht trainieren oder nicht lernen, damit sie, wenn sie versagen, sagen können: „Oh, ich habe sowieso nicht trainiert, also ist es mir egal.“ Das sehe ich sehr oft. Ich finde das komisch, denn ich habe ein Bedürfnis nach Leistung. Aber ich habe das öfter gesehen, als ich es je erwartet hätte. Ich habe es bei jungen Menschen gesehen, und jetzt sehe ich es auch bei Erwachsenen. „Ach, ich habe sowieso nicht trainiert, es hat mir nicht so viel bedeutet.“ Aber ich weiß genau, dass es so war. Es ist also so, als ob sie ihre Scham benutzen, um sich zu schützen, damit sie nie das erleben müssen, was für sie möglicherweise unerträglich ist – Versagen oder was auch immer es sein mag“.

John beschreibt viele leicht unterschiedliche Schamvermeidungsbeispiele. Er beschreibt, dass Menschen es unterlassen, Risiken einzugehen, um Scham zu vermeiden, z. B. das Sprechen in der Öffentlichkeit. Er beschreibt auch, wie Menschen hart trainieren oder sich übermäßig auf eine Präsentation vorbereiten, um Schamerleben zu vermeiden, dass sich daraus ergibt, dass eine Aufgabe nicht rechtzeitig fertig wurde oder die Gefahr bestand, zu versagen. Umgekehrt beschreibt er Menschen, die sich dafür entscheiden, nicht zu trainieren oder zu lernen, um sich vor einer starken Schamerfahrung zu schützen. Indem sie sich gar nicht erst auf das bevorstehende Ereignis vorbereiten, verdrängen sie die Verwundbarkeit und sind in der Lage, ein Versagen zu rationalisieren und zu rechtfertigen, was die damit verbundene Scham verringern kann. John kontrastiert dieses Verhalten mit seinem eigenen Bedürfnis nach Leistung und weist darauf hin, dass eine Folge der Vermeidung von Scham ein Mangel an Leistung und Fortschritt sein könnte, anstatt sich zu erlauben, verletzlich zu sein. Eine andere Folge könnte die Unfähigkeit sein, zu wachsen und Resilienz zu entwickeln. John stimmt mit der Position vieler anderer Teilnehmer*innen überein, indem er Schmerzen als unbestreitbar unangenehm, aber nicht unbedingt als schädlich beschreibt. Die Teilnehmer*innen konstruierten Resilienz eindeutig als etwas, das aus dem Kampf und aus positiven Erfahrungen bei der Überwindung dieses Kampfes entsteht. Schamgefühle sind unangenehm, aber sie können einen Menschen stärken. Der Scham um jeden Preis auszuweichen, führt dazu, dass Leistung, Verbindung, Wachstum und Lernen vermieden werden. Wenngleich die Verwundbarkeit das Risiko birgt, Scham zu erleben, stärkt sie doch auch die Widerstandskraft und erhöht die Resilienz.

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Eine weitere Möglichkeit von Schamverletzlichkeit besteht darin, auf Scham zu reagieren. Einige Teilnehmer*innen gaben an, dass es bei Schamgefühlen hilfreich sein kann, sich selbst und anderen gegenüber das Schamgefühl einzugestehen und in der Beziehung zu anderen Verletzlichkeit zu zeigen. Lucy führt dieses Thema mit dem folgenden Zitat ein: Und ich denke, wenn man sich mit anderen Menschen darüber austauscht, hilft das definitiv, Scham zu reduzieren. [Lachen] Und ich glaube, das habe ich früher nicht getan. Ich habe einfach versucht, allein damit umzugehen, anstatt darüber zu reden. Es ist immer noch schwierig, darüber zu reden, aber ich glaube, es ist hilfreich. Und, darüber zu lesen. Zu erkennen, dass Scham ein wirklich grundlegender Teil der menschlichen Erfahrung ist, und nicht nur bei mir der Fall ist.

Lucy räumt ein, dass es schwierig ist, Gefühle der Scham mit anderen zu teilen. Sie konstruiert jedoch auch eine verletzliche Verbindung als „definitiv hilfreich“. Lucy beschreibt, dass es vorteilhaft sein kann, sich anderen gegenüber verletzlich zu zeigen und dadurch Scham als normalen und natürlichen Bestandteil des Menschseins anzuerkennen. Unsere Ergebnisse zur Resilienz zeigen, dass positive und unterstützende Beziehungen die Resilienz fördern, indem sie das Gefühl vermitteln, dass eine Person mit ihren Problemen nicht allein ist. In ähnlicher Weise ermöglicht es Lucy, sich in Bezug auf Scham mit anderen zu verbinden, Erfahrungen und Erkenntnisse auszutauschen, zu erkennen, dass sie nicht allein ist, und letztendlich Resilienz aufzubauen. Caleb führt dazu aus: Man kann nicht heilen, was man nicht fühlen kann. Du kannst es nicht allein tun; es muss ein Gesicht sein, das nicht beschämt. Wir schämen uns durch Beziehungen, und deshalb müssen wir auch durch Beziehungen geheilt werden […]. Man muss tatsächlich von jemandem geliebt werden in dem, wofür man sich schämt – und es in seinem Gesicht sehen, in seinem Verhalten sehen und in seiner Stimme hören. Man kann sich nicht intellektuell aus der Sache herauswinden.

Caleb beginnt mit den Worten: „Man kann nicht heilen, was man nicht fühlen kann“. Diese Erkenntnis vermittelt die Einsicht, dass es nicht sinnvoll ist, Scham um jeden Preis zu vermeiden, denn Vermeidung hindert einen Menschen letztlich daran, sich der Scham zu stellen, aus Scham zu lernen und Scham zu heilen. Im Gegensatz dazu kann eine Person, die ihre Scham anerkennt und sie mit einer anderen Person teilt, ihre Scham verringern. Caleb spricht davon, dass Beziehungen eine heilende Kraft haben. Er benennt als das einzig wahre Mittel sich aus seiner Scham zu befreien, von einem anderen Menschen wirklich geliebt und akzeptiert zu werden. Scham wurde bereits früher als eine soziale Emotion beschrieben – das emotionale Bewusstsein einer unterbrochenen oder bedrohten sozialen Bindung. Scham wird durch ein Urteil ausgelöst, das die Furcht vor dem Urteil einer anderen Person oder die Vorstellung davon einschließen kann. Freiheit von toxischer Scham kann entstehen, wenn eine Person sich dafür entscheidet, verletzlich zu sein, einen Teil von sich preiszugeben, für den sie sich schämt, und wenn sie als Antwort darauf Akzeptanz und Liebe erhält, statt Ablehnung und Beschämung. Wie Caleb betont, kann keine noch so große Intellektualisierung oder Rationalisierung auf kognitiver Ebene mit der Kraft sicherer sozialer Bindungen verglichen werden, wenn es darum geht, die Schamresilienz zu stärken.

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9.7.2 Wahrnehmung und Anerkennung Die nächste belastbare Reaktion auf Scham, die es zu erforschen gilt, besteht darin, die Scham wahrzunehmen. Caleb sagt: „Der einzige Weg, die Scham zu heilen, besteht darin, die Scham zu fühlen“. Unsere Forschungen haben ergeben, dass Scham sehr viel Kraft aus ihrer stillen und verborgenen Natur bezieht. Oft verbergen die Menschen die Scham durch Flucht sogar vor sich selbst. Wie im vorangegangenen Abschnitt über Verletzlichkeit erwähnt, meint Caleb, dass man nie von Scham geheilt wird, wenn man sich nicht erlaubt, Scham zu fühlen. In ähnlicher Weise sagt Lucy, als sie gebeten wird, die belastbarste Reaktion auf Schamgefühle zu beschreiben: Zuerst müsste man die Scham anerkennen. Ich denke, hier geht es um die Verarbeitung und ein kognitives Bewusstsein dafür und die Fähigkeit, aus dem Prozess herauszutreten und sich nicht von ihm überwältigen zu lassen. Und die bewusste Nutzung von Fähigkeiten, um sie zu integrieren. Es wäre schön, wenn ich sagen könnte, dass ich einen Punkt erreicht habe, an dem Scham [Lachen] nicht mehr wirklich ein Faktor ist, ich bin so widerstandsfähig dagegen. Aber ich glaube nicht, dass das realistisch ist. Ich denke, die belastbarste Reaktion ist es, sich bis zu einem Punkt durchzuarbeiten, an dem man damit umgehen kann, es akzeptiert, und es einen nicht mehr bestimmt.

Lucy unterstreicht, wie wichtig es ist, Scham anzuerkennen, und schlägt vor, sich bewusst zu machen, dass sie Scham empfindet, um sich positiv weiterzuentwickeln, sich aus der Erfahrung heraus zu entwickeln, anstatt sie zu leugnen oder vor ihr zu fliehen. Sie weist darauf hin, dass es ein unrealistisches Ziel ist, nicht von Schamgefühlen betroffen zu sein. Im Gegensatz dazu schlägt sie vor, dass eine gesunde Erwartung für den Umgang mit Scham darin besteht, ihren Einfluss zu akzeptieren, aber nicht zuzulassen, dass sie ihre Identität definiert. Max kommentiert die Notwendigkeit, Scham zu akzeptieren, in dem folgenden Zitat weiter: Manchmal muss man einfach mit der Achterbahn fahren und sagen: „Ja, das habe ich getan, und das habe ich getan“, wenn es auftaucht. Denn bestimmte Dinge lösen Scham aus, lösen einen Gedanken aus, an den man sich erinnert, und dann kommen die Emotionen und alles andere dazu. Man muss einfach akzeptieren, was man getan hat, und es dann aus dem Kopf gehen lassen, so wie es in den Kopf gegangen ist. Denn wenn du anfängst, darüber nachzudenken, hilft dir das überhaupt nicht weiter. Es wird dein Selbstvertrauen nur noch mehr zerstören und so weiter. Es hat keinen Sinn, zu sehr in der Vergangenheit zu schwelgen. Sicher, wir alle tun Dinge, für die wir uns schämen, aber man muss lernen, sie zu ­akzeptieren und weiterzumachen und es zuzulassen, es kann etwas Positives daraus entstehen, wenn man es zulässt. Es wird dich nicht neu formen, du musst nur daraus lernen  – aufwärts und weiter.

Max formuliert, dass die ideale Reaktion auf Scham darin besteht, beschämende Erinnerungen oder vorübergehende Schamgefühle einfach anzuerkennen. Er hält Akzeptanz für den Schlüssel zur positiven Bewältigung von Scham. Anstatt sich über Schamgefühle aufzuregen oder sie zu verleugnen, glaubt Max, dass Scham positive Auswirkungen haben kann, wenn er sie zulässt. Sie kann das Lernen, das Verstehen und das Wachstum fördern.

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Auf die Frage, wie er am besten mit Schamgefühlen umgeht, antwortet John: „Das ist die stärkste Reaktion“: Es ist, was es ist. Ich habe kein Bedürfnis, es zu beurteilen, zu korrigieren, zu erklären oder zu kontrollieren. Ich kann es beobachten, ich kann lernen, ich kann wachsen, ich kann es nutzen, um ein Segen für mich selbst und für andere zu sein, wenn ich es erlebe, ich kann andere und mich selbst empathisch darin beobachten. Aber in dem Moment, in dem ich beschuldige, beschimpfe, verurteile, spalte, bin ich wieder in der Scham-Sache. Es ist also, was es ist.

Ähnlich sieht es Michelle: Nimm das Gefühl wahr. Gefühle werden dich nicht umbringen, es ist nur ein Gefühl.

John und Michelle beschreiben beide das Zulassen der Scham als wirksame Methode. John hebt die Relevanz der Präsenz der Emotion hervor, ohne zu versuchen, ihr durch Fixieren, Erklären, Projizieren oder Kontrollieren zu entkommen, ohne ihr zu erliegen und negative Urteile zu verinnerlichen. In diesen Berichten wird der Schamakzeptanz ein Gefühl von Macht zugeschrieben. John beschreibt, dass ein Mensch, der versucht, der Scham zu entkommen (z.  B. durch Schuldzuweisungen), sich letztlich noch mehr Scham einhandelt. Wenn man die Scham akzeptiert, kann man sich selbst und anderen Empathie entgegenbringen und wachsen.

9.7.3 Veränderungsbereitschaft Die letzte belastbare Reaktion auf Scham ist die Bereitschaft, sich zu ändern. Dies ist eng mit der Anerkennung der Scham verbunden. Liam verbindet diesen Aspekt mit der Bereitschaft, sich in Folge der Scham zu verändern. Er sagt: Scham ist ein ziemlich negatives Gefühl. Sie zieht einen nach unten, aber ich denke, in gewisser Weise ist es vielleicht gar nicht möglich, angesichts der Scham so perfekt zu sein. Vielleicht ist es realistischer, die Scham einfach an sich abprallen zu lassen. Spüre sie einfach und lasse sie Deine Sünden wegwaschen. Ja, geh durch die Mangel, die du dir selbst eingebrockt hast. Weißt du, du fühlst dich schlecht und hast ein schlechtes Gewissen und alles, aber anstatt es zu verdrängen und zu sagen: „Oh, ich werde von jetzt an ein guter Mensch sein“, solltest du es einfach aussitzen. Nimm Deine Medizin und sage am Ende: „Gut, ich werde das nicht wieder tun.“ Vielleicht ist es eine realistischere und gesündere Art und Weise, damit umzugehen, als nur zu spüren: „Oh, die Scham kommt, ich werde mich ganz sicher bessern“, und wegzulaufen.

In Liams Beschreibung sind mehrere Reaktionen auf Scham verwoben. Er verweist darauf, mit der Scham präsent zu sein und bereit, sich ihr zu stellen und den Schmerz auszuhalten, anstatt vor ihr zu fliehen. In Bezug auf die Scham, die man sich selbst als Ergebnis eines moralischen Versagens auferlegt hat, sagt Liam, dass das Fühlen der Scham und das Zulassen, dass sie „ihren Lauf nimmt“, eine Person in die Lage versetzen kann, sich aufgrund ihrer Erfahrung mit der Scham zu verändern. Dies veranschaulicht eine Umgehensweise mit Scham, die das An-

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erkennen und Trauern über den Verlust der Unschuld einschließt. Liam verleiht der Scham die Macht, „Sünden wegzuwaschen“. Die Scham stellt damit die Basis für das Wachstum aufgrund notwendigen Leidens und für das Lernen notwendiger Erfahrungen bereit. Wenn eine Person anerkennt, dass auch Scham das Resultat einer eigenen Entscheidung sein kann, und bereit ist, sie zu akzeptieren und da­ raus zu lernen, dann kann Scham eine Person darin unterstützen, ihr künftiges Verhalten zu ändern, so Liams Position. Dies wird letztendlich ihr Verhalten verbessern, ihre Beziehungen stärken und ihrer Charakterentwicklung dienlich sein. Liam sieht die Präsenz der Scham als eine notwendige Voraussetzung für echtes Wachstum. Im Gegensatz zu dem Versprechen, „ein guter Mensch zu sein“, das eine Form der Flucht darstellt, zeichnet Liam das Bild eines Menschen, der aufgrund von Scham Schmerzen und Leiden ertragen hat, bereit war, dies zu akzeptieren und sich auf den Kampf einzulassen, und der aus diesem schmerzhaften Prozess als wirklich veränderter, widerstandsfähigerer und weiserer Mensch hervorgegangen ist. Ein Aspekt der Bereitschaft, sich aufgrund von Scham zu ändern, ist die Bereitschaft, Unrecht zu korrigieren. Letztendlich führt dies zu einer gesunden Vermeidung von Scham, da soziale Beziehungen eher repariert als vermieden werden. Sophie führt diese Form der positiven Vermeidung und Bereitschaft zur Veränderung ein, wenn sie sagt: Als ich z. B. mit der Frau auf der Arbeit gesprochen habe und so entsetzt war, wie ich mit ihr gesprochen habe, weil das einfach nicht zu mir passt, habe ich mich selbst angeschaut und gedacht: „Warum zur Hölle hast du das getan?“ und es nicht wieder getan. Und man muss daraus lernen, man muss daraus lernen.

Sophie bewertete ihr eigenes Verhalten – eine negative Art, mit einer Kollegin zu sprechen – als beschämend. Dies führte dazu, dass Sophie ihre Entscheidung, so zu handeln, hinterfragte und bewusst Änderungen vornahm, um daraus zu lernen und denselben Fehler in Zukunft zu vermeiden. Eine letzte Anmerkung zur Reaktion auf Scham mit der Bereitschaft zur Veränderung betrifft die Empathie. Viele Teilnehmer*innen stellten fest, dass ihre Erfahrungen mit Scham sie empathischer gegenüber anderen machten, die ähnliche Erfahrungen teilten. Michelle sagte, als sie über die Scham, als Kind ins Bett gemacht zu haben, nachdachte, Es bedeutet, dass ich mitfühlen kann, wenn ich von anderen kleinen Menschen höre, die ins Bett machen. Und sie sagen: „Oh, du weißt ja gar nicht, wie das ist.“ Und ich sage: „Doch, das weiß ich. Ja, ich weiß es wirklich.“

Das Wahrnehmen und Anerkennen ihrer eigenen Scham versetzt Michelle in der Lage, eine echte Verbindung zu anderen herzustellen und Kindern Unterstützung zu bieten, die sonst das Gefühl hätten, mit ihrer Scham allein zu sein. In ähnlicher Weise berichtet Lukas, dass eigene Schamerfahrungen der Vergangenheit ihn veranlasst haben, seine Reaktionen auf andere zu überdenken, um sicherzustellen, dass sie nicht durch Scham verletzt werden. Lukas sagt: Nun, ich denke, dass ich dadurch ein bisschen weiser im Umgang mit anderen Menschen geworden bin. Ich mag keine Ungerechtigkeit, sei es aufgrund von Scham-Erfahrungen…

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Wenn ich mit Kindern oder Teenagern zu tun habe, mag ich es nicht, wenn sie vor Gleichaltrigen beschämt werden. Ich würde also sagen, dass ich dadurch in bestimmten Situationen etwas behutsamer reagiere, die Dinge durchdenke und die Konsequenzen abwäge, bevor ich etwas unternehme.

Lukas hat bereits in seinem Interview erwähnt, dass er Scham in öffentlichen Situationen als besonders stark empfindet. Nachdem er den starken Einfluss von Scham in der Öffentlichkeit erlebt hat, achtet Lukas im Umgang mit gefährdeten Menschen darauf, dass sie unterstützt und respektiert werden. Die positive Wirkung der Scham in Lukas Fall besteht darin, dass sie seine Reaktionen entschleunigt und ihm ermöglicht hat, die Auswirkungen seiner Worte und Handlungen sorgfältig zu bedenken, anstatt intuitiv zu reagieren, indem er eigenes Schamerleben durch Schuldzuweisungen an andere vermeidet. Dieses Verhalten könnte die Bereitschaft beinhalten, seine eigene Scham anzuerkennen und die Beschämung anderer zu verhindern. Dies würde zu hilfreicheren Ergebnissen sowohl für Lukas als auch für die andere Partei führen.

9.8 Scham und Resilienz: Praktische Implikationen Wir haben eine Reihe von Reaktionen auf Scham vorgestellt und diskutiert. In unserer Untersuchung wurden sechs Reaktionen auf Scham identifiziert, die in zwei große Themenkomplexe unterteilt wurden. Die natürlichen Reaktionen auf Scham sind Vermeidung, Flucht oder Aufgabe. Die Teilnehmer*innen berichteten, dass sie Scham vermeiden, indem sie jede Situation meiden, die Scham hervorrufen könnte, oder dass sie der Scham entkommen, indem sie physisch vor der Scham davonlaufen oder sie durch den Konsum von Drogen emotional betäuben. Wenn es nicht möglich war, die Scham zu vermeiden oder ihr zu entkommen, bestand die nächste natürliche Reaktion auf die Scham darin, sich der Scham zu ergeben – am häufigsten durch lähmende Angst oder Depression. Natürliche Reaktionen können zwar manchmal kurzfristig hilfreich sein, sind aber in der Regel mit negativen Langzeitfolgen verbunden. Die Teilnehmer*innen beschrieben auch drei schwierigere, resiliente Schamreaktionen. Diese bestanden darin, der Scham gegenüber verletzlich und bereit zu sein, Risiken einzugehen, sich mit der Scham zu zeigen und ihren Einfluss aktiv anzuerkennen; und bereit zu sein, als Folge der Kämpfe mit der Scham zu wachsen und sich zu verändern. Diese widerstandsfähigen Reaktionen auf Scham, die von den Teilnehmer*innen auf individueller Ebene beschrieben wurden, können auch auf einer breiteren, gemeinschaftlichen Ebene anwendbar sein. Wie von Brown (2006) und Van Vliet (2009) argumentiert und von unserer eigenen Forschung unterstützt, ist das Anerkennen und Benennen von Scham entscheidend für Schamresilienz. Indem wir Scham in unserer Gesellschaft aktiv anerkennen, schärfen wir das Bewusstsein für ein bedeutsames Phänomen. Wenn wir bereit sind, über Scham zu sprechen, andere nicht zu beschämen und die Art und Weise, wie wir Schamerleben und Beschämung unbeabsichtigt gefördert

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haben, zu hinterfragen und zu ändern, können wir Schamresilienz auf breiter Ebene fördern. Diese Ergebnisse haben interessante Auswirkungen auf die psychologische Praxis. Unter Berücksichtigung der etablierten Forschung zu Scham und Resilienz sowie unserer eigenen Forschungsergebnisse, wird deutlich, dass positive und unterstützende Beziehungen für die Entwicklung von Resilienz wichtig sind. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein sicherer Raum, in dem eine Person sich Scham eingestehen und ihre Erfahrungen mit Scham in verletzlicher Weise mitteilen kann, für die Überwindung von Scham und den Aufbau von Resilienz von Vorteil ist. Aus der Perspektive der klinischen, psychologischen Praxis legt dies nahe, dass es unabhängig von der jeweiligen Therapieform hilfreich wäre, sich an eine*n Therapeuten*in zu wenden, der/die die jeweilige Person und ihre Schamgefühle akzeptiert und nicht verurteilt, und so einen Beitrag zur individuellen Resilienzförderung zu leisten. Für eine Person, die lange Zeit verinnerlichte Schamgefühle erlebt hat, kann ein kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ansatz hilfreich sein, um negative Grundüberzeugungen zu bekämpfen, die zu anhaltenden und schwächenden Schamerfahrungen geführt haben. Einem Menschen, der sich durch Vermeidung oder Flucht vor der Scham zunehmend isoliert hat, muss ein*e Therapeut*in möglicherweise langfristige Stabilität und Unterstützung bieten, damit sich eine echte Beziehung entwickeln kann, in der sich die Person sicher fühlen und verletzlich zeigen kann. Für eine Person, die nicht Gefahr läuft, von verinnerlichter Scham überwältigt zu werden, kann ein Achtsamkeitsansatz hilfreich sein und dazu beitragen, ihr Bewusstsein für die Scham zu schärfen und sie in die Lage zu versetzen, achtsam Optionen für Veränderungen zu erwägen. In Anbetracht der beträchtlichen Vielfalt von Schamerfahrungen sollten wir in unserer Herangehensweise an das Thema Scham flexibel sein und sorgfältig vorgehen, indem die individuelle Geschichte und der spezifische Kontext jeder Person, mit der wir arbeiten, Berücksichtigung erfährt. Für Therapeut*innen ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie in der Lage sind, sich in der Einzeltherapie sicher mit dem Thema Scham auseinanderzusetzen. Wie Sedgwick und Frank (1995) jedoch betonen, kann die Verlagerung der Scham in den Therapieraum die Vermeidung von Gesprächen über Scham in anderen Bereichen verstärken. Eine weitere wichtige Auswirkung der Ergebnisse auf die psychologische Praxis ist die Notwendigkeit, die Schamresilienz auf breiterer Ebene zu fördern. Die Bereitschaft, sich verletzlich zu zeigen und Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist eine wichtige individuelle Reaktion auf Scham, aber ohne Menschen in der Gemeinschaft, die man um Hilfe bitten kann, wäre dies nicht möglich. Es ist demzufolge wichtig, proaktiv soziale Unterstützung und die Akzeptanz anderer zu fördern. Für eine Person, die von anderen ausgegrenzt oder stigmatisiert wird, gibt es ­möglicherweise keine sicheren Anlaufstellen, an die er oder sie sich wenden kann, um Unterstützung zu erhalten. Auf Gemeinschaftsebene müssen wir uns der Scham und ihrer potenziellen Macht bewusst sein, wenn sie anderen gegenüber offenbart wird. Sich mit der eigenen Scham zu zeigen, ist also nicht nur eine individuelle Reaktion, sondern impliziert auch einen potenziell nützlichen gesellschaftlichen Wert.

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Wenn wir unsere Kultur und unsere Gesellschaft kritisch reflektieren, uns der Scham bewusst sind, sie benennen und über ihren Einfluss diskutieren, kann dies ein entscheidender Beitrag dazu sein, der Scham ihre negative Macht zu nehmen. Sowohl auf individueller als auch auf breiterer gesellschaftlicher Ebene müssen wir damit beginnen, Scham wahrzunehmen und sie in unseren Gesprächen anzuerkennen. Sie ins Licht zu holen, kann ihre negativen Auswirkungen verringern. Indem wir unsere Aufmerksamkeit auf die Scham lenken, sind wir besser in der Lage, proaktiv auf Scham zu reagieren.

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Kapitel 10

Von der Scham zur Schuld: Zur Überwindung von Mobbing in verschiedenen Kulturen und in den USA Rebecca S. Merkin

10.1 Von Scham zu Schuld: Die Beendigung von Mobbing in den USA und in anderen Kulturkreisen In diesem Kapitel soll die Schamforschung erweitert werden, indem die antisozialen Verhaltensweisen von tyrannisierenden Personen untersucht werden, die uneingestandene Scham empfinden (Ahmed & Braithwaite, 2004). Zu diesem Zweck wird in diesem Kapitel über eine kürzlich durchgeführte US-Studie berichtet, in der die Beziehungen zwischen Scham, Schuldgefühlen und der Neigung zum Tyrannisieren untersucht wurden, sowie über vergleichbare Untersuchungen, die kürzlich in kulturübergreifenden Studien veröffentlicht wurden. Tyrannisierende Personen neigen wie andere antisoziale Persönlichkeitstypen dazu, Probleme in Schulen und am Arbeitsplatz zu provozieren, worauf die Zielperson oft mit negativen Gefühlen, Stress und Aggression reagiert (Neuman et al., 2011). Daher lohnt es sich, mit der Identifizierung der Merkmale von Personen zu beginnen, die dazu neigen, andere zu schikanieren, um den Modus Operandi dieses problematischen Persönlichkeitstyps besser zu verstehen und Menschen bei der produktiven Bewältigung von Situationen zu unterstützen, in denen Mobbing – eine anhaltende schädliche Form der Aggression (Lutgen-Sandvik & McDermott, 2011)  – auftritt. So könnten beispielsweise Überwindungsstrategien wie Schuldbewältigung und Harmoniestärkung als Ressourcen zur Verhinderung von Mobbing geplant werden. Wie noch zu erörtern sein wird, trägt ein Mangel an angemessenen Schuldgefühlen zu Mobbing bei, und daher kann die Verbesserung der eigenen Fähigkeit, Schuldgefühle zu empfinden, möglicherweise zu einer Verringerung von Scham und Mobbing führen. Die bisherige Forschung zu Mobbing-Interaktionen konzentriert sich in erster Linie auf die Zielpersonen von Mobbing und darauf, was gegen das Problem getan R. S. Merkin (*) Baruch College-CUNY, New York, USA E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 E. Vanderheiden, C.-H. Mayer (Hrsg.), Der Wert der Scham, https://doi.org/10.1007/978-3-031-36229-3_10

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werden kann. Über die Täter von Mobbing ist jedoch nur sehr wenig bekannt (Rayner et al., 2002; Rayner & Keashly, 2005; Rivers & Noret, 2010; Zapf & Einarsen, 2011). Sobald mobbende Personen Teil der Struktur eines Arbeitsplatzes werden, entsteht ein unerträglich toxisches Arbeitsumfeld. Es ist wichtig, mehr über die Verantwortlichen für Mobbing zu erfahren, um ihre maladaptiven komplexen antisozialen Verhaltensweisen zu verhindern (Sutton et al., 1999; Vaughn et al., 2010; Vega & Comer, 2005). In einer Studie von Sutton et al. (1999) wurde festgestellt, dass Mobber*innen Menschen so manipulieren können, dass sie anderen auf subtile und destruktive Weise Schaden zufügen, während sie selbst unentdeckt bleiben. Um diese Neigung zum Tyrannisieren zu erklären und aufgrund der Komplexität des Themas stützt sich diese Untersuchung auf frühere Forschungen zu antisozialem Verhalten, das aus Scham resultiert. Als Vergleichspunkt für die Ergebnisse der vorliegenden US-Studie wird auch auf kulturübergreifende Forschung zu Scham und Mobbing Bezug genommen. Frühere Forschungen zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen uneingestandener Scham und Wut gibt (Lewis, 1971; Scheff & Retzinger, 2001). Studien haben auch eine Verbindung zwischen uneingestandener Scham und Mobbing festgestellt (Ahmed & Braithwaite, 2004; Dzurec et  al., 2014; Fast, 2015). Das vorliegende Kapitel vertieft diese Ansätze und versucht, Persönlichkeitsdispositionen zu identifizieren, die wahrscheinlich bei mobbenden Personen anzutreffen sind, um  so die Förderung der Schamsanierung als positive Strategie zur Mobbingbekämpfung zu unterstützen. Dies ist verbunden mit der Annahme, dass negative Emotionen wie Schuld dafür bekannt sind, prosoziale Reaktionen zu fördern (Bandura, 1991; Fisher & Exline, 2006), wohingegen auf Scham basierende emotionale Reaktionen sich eher antisozial äußern (Hall & Fincham, 2005; Tangney & Dearing, 2002). Dies wird darauf zurück geführt, dass Schuldgefühle die Aufmerksamkeit einer Person darauf lenken, dass eine bestimmte Handlung verwerflich oder unmoralisch ist (Fisher & Exline, 2006; Tangney & Dearing, 2002). Das führt dazu, dass sie sich auf ihr Fehlverhalten konzentriert und motiviert wird, es innerlich zu korrigieren. Aufgrund der Verstärkung der Schuldgefühle, die eine Person empfindet, wenn sie jemanden verletzt hat, kann sich Empathie entwickeln und so die Wahrscheinlichkeit fortgesetzten feindseligen Verhaltens verringern (Stanger et al., 2012). Die Fokussierung auf Schuldgefühle motiviert daher eher dazu, an der Wiederherstellung beschädigter Beziehungen infolge von Übertretungen zu arbeiten (z.  B.  Baumeister et  al., 1994, 2007; Fisher & Exline, 2006; Tangney et  al., 2007). Die bisherige Literatur zeigt auch, dass Scham zu negativen zwischenmenschlichen Beziehungen führt (Tangney & Dearing, 2002), von denen eine Mobbing ist (Lutgen-Sandvik et al., 2009). Es ist daher gerechtfertigt, die Auswirkungen von Scham auf Mobbingverhalten genauer zu untersuchen, um derartige Versuche durch die Förderung von Schuldgefühlen, einer moralischen Emotion, zu transformieren (Malti & Ongley, 2014). Die vorliegenden Daten wurden daraufhin untersucht, ob Scham in direktem Zusammenhang mit Mobbing steht, um die Vermutung zu untermauern, dass uneingestandene Scham für dieses antisoziale Verhalten verantwortlich ist, wie in frühe-

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ren Studien festgestellt wurde (Tangney & Dearing, 2002). So gibt es zwei Hauptmerkmale von Mobber*innen, nämlich, (a) einen Mangel an Empathie (Gini et al., 2011; Jolliffe und Farrington; Warden & MacKinnon, 2003) und (b) eine Tendenz, die Verantwortung für ihr Verhalten zu leugnen (Menesini et al., 2003; Naimie & Naimie, 2009). Beide Merkmale werden positiv mit Scham assoziiert (Fisher & Exline, 2006; Proeve & Howells, 2002; Tangney, 1991). Diese Studie zeigt also, dass diejenigen, die schikanieren, ähnliche Persönlichkeitsmerkmale aufweisen wie diejenigen, die sich in einem Zustand der Scham befinden. Der Aspekt der Scham, der einem Mangel an Empathie, d. h. dem Erleben mitfühlender Emotionen, ähnelt (Dovidio et al., 2006), zeichnet sich durch die Externalisierung von Schuld und Distanzierung aus (Proeve & Howells, 2002; Tangney & Dearing, 2002). Die vergleichbare Emotion, die der Übernahme von Verantwortung entspricht – Schuld – ist das unerwünschte Gefühl, nach eigenen Maßstäben falsch gehandelt zu haben. Es gibt Belege dafür, dass Schuldgefühle als Katalysator für Selbstverbesserung und Verbundenheit wirken (Schaumberg & Flynn, 2012) und in einem negativen Zusammenhang mit Scham stehen (Tangney & Dearing, 2002). Es wird angenommen, dass die Neigung zum Mobbing auch mit Schamkorrelaten zusammenhängt. Daher wird in dieser Studie der Zusammenhang zwischen Korrelaten der Scham (d. h. Schuld, Externalisierung von Schuld und Losgelöstheit) und der Neigung zum Mobbing, die durch mangelnde Empathie und fehlende Übernahme von Verantwortung für das eigene Verhalten gekennzeichnet ist, untersucht.

10.2 Mobbing, Scham und Schuldgefühle 10.2.1 Mobbing Personen, die zu Mobbing neigen, waren häufig selbst zuvor Ziel von Scham, weil sie mit häuslicher Gewalt aufgewachsen sind (Tangney et al., 2007), als Kind Opfer von Missbrauch waren (Randall, 2001) oder Zielscheibe aggressiven Verhaltens waren (Douglas & Martinko, 2001). Scham und andere mit Aggression verbundene Merkmale spielen wahrscheinlich eine Rolle beim Mobbing anderer (Ahmed & Braithwaite, 2004; Lutgen-Sandvik et al., 2009). Insbesondere zeigen Studien, dass ein Mangel an Empathie (Gini et al., 2011; Stanger et al., 2012; Warden & MacKinnon, 2003), wie er sich in der Ablösung (Gini, 2006; Menesini et al., 2003; Stuewig et al., 2010) zeigt, mit Aggression verbunden ist. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass die Weigerung, Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen, was sich in der Externalisierung von Schuld zeigt (Ahmed & Braithwaite, 2004; Gini, 2006; Stuewig et  al., 2010), ebenfalls mit Aggression in Verbindung steht (Ahmed & Braithwaite, 2004).

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Ähnlich wie bei Mobbing neigen Täter*innen, die Scham empfinden, dazu, Konflikte zu verschärfen. Andererseits neigen Täter*innen, die sich schuldig fühlen, zu prosozialem Verhalten, um ihre Konflikte zu schlichten (Folger & Skarlicki, 2005; Menesini und Camodeca). Eine Studie zu posttraumatischem Stress und Schamgefühlen im Gegensatz zu Schuldgefühlen zeigte einen Zusammenhang zwischen Stress und Schamgefühlen, der häufiger zu physisch und psychisch aggressivem Verhalten führt als bei Personen, die Stress zusammen mit Schuldgefühlen erleben (Schoenleber et al., 2015). In ähnlicher Weise ist es wahrscheinlich, dass tyrannisierende Personen, die Scham empfinden, auch eher antisoziale Interaktionen zeigen. Obwohl es Belege dafür gibt, dass Scham auch prosoziale Reaktionen wie eine Entschuldigung oder Hilfsbereitschaft fördern kann (Gausel et  al., 2012; Shepherd et al., 2013; Tangney et al., 2014), ist es unwahrscheinlich, dass Mobber*innen auf diese Weise reagieren, da sie keine Mobbing-Taktiken anwenden würden, wenn sie „helfen“ wollen würden. Alternativ ist es wahrscheinlicher, dass mobbende Personen, die Scham empfinden, sich auf konfliktverschärfende Themen konzentrieren, weil sie dazu neigen, die Verantwortung für ihre Handlungen abzulehnen (Menesini et al., 2003; Naimie & Naimie, 2009). Zudem zeigen sich beschämte Aggressor*innen defensiv, wenn sie von der Zielperson und/oder der Organisation mit antisozialen Handlungen konfrontiert werden (Folger & Skarlicki, 2005). Kurz gesagt, Täter*innen in Mobbingkonfliktsettings, die Scham empfinden, neigen dazu, antisoziale Mittel zur Konfliktlösung einzusetzen (Ahmed & Braithwaite, 2004).

10.2.2 Scham und Schuldgefühle Früheren Forschungsarbeiten ist zu entnehmen, dass Scham- und Schuldgefühle zwar umgangssprachlich oft synonym verwendet werden, sie sich aber bezüglich ihrer Auswirkungen deutlich unterscheiden (Tangney et  al., 1996, 2005, 2007). Scham ist eine selbstbeurteilende Emotion, bei der der Gesamtwert einer Person beurteilt wird, während Schuldgefühle eine ausschließliche Verurteilung des Verhaltens einer Person darstellen (Tangney & Dearing, 2002). Wenn eine Person insgesamt als schlecht beurteilt wird, kann sie folglich nichts ändern, um zu einer guten Bewertung zu gelangen. Aber wenn ein Verhalten als schlecht angesehen wird, kann die Person ihr Verhalten ändern. Insofern wird Scham als schwerwiegender erlebt als Schuld, da sie starke Gefühle der Unzulänglichkeit hervorruft (Donnellan et  al., 2005). Möglicherweise sind es diese Gefühle, die als Ursache der defensiven Handlungen von tyrannisierenden Personen angenommen werden können. Tatsächlich hat sich gezeigt, dass maladaptive Scham (Roos et al., 2014; Tangney et al., 1992; Tangney & Dearing, 2002) mit destruktiven Wutreaktionen wie direkter, indirekter und verdrängter Aggression zusammenhängt, weil sie bei den Betroffenen das Gefühl hervorruft, dass ihr Selbstwertgefühl und ihr Stolz beschädigt wurden (Tangney et  al., 1992). Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass Scham mit Bitterkeit, Feindseligkeit, mangelndem Einfühlungsvermögen und der Tendenz, andere für negative Ereignisse verantwortlich zu machen, zusammenhängt (Ahmed &

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Braithwaite, 2004; Tangney & Dearing, 2002) und allgemein zu einem Rückgang des prosozialen Verhaltens führt (Roos et al., 2014). Ein Beispiel hierfür geben Jakupcak et al. (2005) in ihrer Studie über Männer. Ihre Ergebnisse zeigten, dass Männer, die ihre Scham verbergen möchten, häufig Angst davor haben, verletzliche Gefühle auszudrücken, was wiederum dazu führt, dass sie stattdessen Aggression und Feindseligkeit zeigen. Andererseits ist denjenigen, die Schuldgefühle empfinden, auch bewußt, dass sie manchmal gegen ihre eigenen Normen verstoßen; gleichzeitig wissen sie jedoch, dass sie die Verantwortung für das Unrecht, das sie begangen haben, übernehmen sollten (Malouf et al., 2013; Tangney & Dearing, 2002). Dahinter steht die Annahme, dass das Eingeständnis von Schuld per Definition voraussetzt, dass die betroffene Person die Verantwortung für ihr Handeln übernimmt (Stuewig et al., 2010). Schuldgefühle werden positiv mit Empathie assoziiert, die von anderen verlangt, dass sie sich in die Lage eines anderen Menschen versetzen. Infolgedessen hat sich gezeigt, dass Schuldgefühle auch für prosoziale Kommunikationsformen verantwortlich sind (Malouf et  al., 2013; Tangney & Dearing, 2002). Tatsächlich zeigen Forschungsergebnisse, dass Schuldgefühle zwar zunächst aggressiveres und weniger prosoziales Verhalten hervorbringen, später aber zu einem Anstieg des prosozialen Verhaltens führen (Roos et al., 2014). Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass Schuldgefühle Menschen dazu bringen, ihr Fehlverhalten zu akzeptieren. Im Nachgang zur Erkenntnis, dass ihr Verhalten falsch war, können sie ihr Fehlverhalten wiedergutmachen oder ihr zukünftiges Verhalten korrigieren. Wenn eine Person jedoch Scham empfindet, ist das Gefühl globaler, da der Fokus auf der Person liegt. Wenn Menschen empfinden, dass sie als Person als Ganzes schlecht sind, gibt es wenig Spielraum, um etwas zu ändern oder wiedergutzumachen. Wenn jedoch eine Person annimmt, dass lediglich ihr Verhalten falsch war, fühlt sie sich eher in der Lage, etwas zu ändern. Ähnlich wie Personen, die Scham empfinden, fühlen diejenigen, die sich an Mobbing-Interaktionen beteiligen, mehr Wut, während sie gleichzeitig nur ein geringes Maß an Schuldgefühlen empfinden (Rieffe et al., 2012; Tangney & Dearing, 2002). In Anbetracht der bisherigen Forschung über die Beziehung zwischen Aggression (ähnlich wie bei Mobbing), Scham und Schuldgefühlen kann man die Hypothese aufstellen, dass: H1: Mobbing in einem negativen Zusammenhang zu Schuldgefühlen steht. H2: Mobbing in einem positiven Zusammenhang zu Scham steht.

10.2.3 Interkulturelle Unterschiede bei Scham, Schuld und Mobbing China gilt als ein prototypisches Beispiel für eine kollektivistische Kultur (Hofstede & Hofstede, 2001; Jackson & Wang, 2013). Zu den ostchinesischen Werten gehören Kommunikationsmuster, die in die historischen und religiösen Grundlagen des Konfuzianismus eingebettet sind (Fu et al., 2007).

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In konfuzianischen Kulturen wird die Familie als das „große Selbst“ verstanden, und die Grenzen des Selbst sind flexibel genug, um Familienmitglieder und wichtige andere Personen zu inkludieren (Bedford & Hwang, 2003). Im Gegensatz zum individualistischen Konzept des Selbst ist das Individuum verpflichtet, dieses große Selbst gegen jede Bedrohung von außen zu schützen. Die chinesische Identität wird, wie andere kollektivistische Identitäten auch, über das Beziehungssystem definiert, in das eine Person eingebunden ist (Markus & Kitayama, 1991; Triandis et  al., 1988). Infolgedessen können andere persönliche Beziehungen als Teil des Selbst betrachtet werden, und das kollektivistische Selbst einer Person wird nur durch zwischenmenschliche Beziehungen bestätigt (Bedford & Hwang, 2003; Kwan et al., 1997). Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe setzt voraus, dass die Person von dieser Gruppe geschätzt wird, was zugleich bedeutet, dass bestimmte Anforderungen an eine Person gestellt werden, während diese im Gegenzug berechtigt ist, bestimmte Ansprüche an andere in der Gruppe zu stellen (Bedford & Hwang, 2003). Tatsächlich haben Menschen in kollektivistischen Kontexten ein stillschweigendes Verständnis davon, dass die Gruppenmitglieder während ihres gesamten Lebens verpflichtet sind, einander zu schützen, um im Gegenzug bedingungslose Loyalität zu erhalten (Hofstede & Hofstede, 2001). Es hat sich beispielsweise gezeigt, dass Menschen aus dem kollektivistischen Spanien (Hofstede & Hofstede, 2001) aufgrund der Verflechtung mit ihrer Familie eher verärgert sind, wenn sie in der Öffentlichkeit beschämt werden, weil dies ihre Familienehre schmälert, im Gegensatz zu den individualistischen Niederländer*innen, die unangenehm berührt sind, weil die öffentliche Beschämung darauf hindeutet, dass mit ihnen persönlich etwas nicht in Ordnung sei (Mosquera et al., 2000). Die miteinander verknüpften relationalen Erwartungen sind es, die dem kollektivistischen Individuum einen Wert verleihen, so dass mit dem Verlust der Stellung als Gruppenmitglied der Verlust des Status für die betreffende Person einher geht. Die kollektivistische persönliche Identität hängt also von den fortgesetzten Beziehungen zu ihrer Gruppe ab (Bedford & Hwang, 2003). In Übereinstimmung mit den subjektiven moralischen Vorschriften der chinesischen Kultur wird von den Menschen erwartet, dass sie sich gemäß der Verhaltenskodizes verhalten, die ihre Beziehungen definieren. Das als angemessen erachtete Verhalten variiert dabei, abhägig von den spezifischen Umständen und den verschiedenen Beziehungen, die betroffen sind. Richtig und falsch sind insofern gesellschaftlich definiert. Diese relationale Identität erschwert auch die Zuweisung von Schuld im objektiven Sinne, wie sie in der westlichen Welt verstanden wird (Bedford & Hwang, 2003), da sich die Grenzen der Identität einer kollektivistischen Person über das Individuum hinaus auf die Beziehungen der Person erstrecken. Wenn also eine Person identifiziert werden kann, die für Mobbing verantwortlich ist, dann umfasst die Verantwortung für das Verhalten die Gruppe und die Konsequenzen erstrecken sich auch auf die Gruppe. Wenn beispielsweise ein*e Angestellte*r etwas falsch macht, wird der/die Vorgesetzte dieser Person dafür verantwortlich gemacht, dass sich die Mitarbeiter*in nicht adäquat verhalten hat. Der/ die Vorgesetzte wird sozial für das Fehlverhalten des/der Mitarbeiter*in zur Rechenschaft gezogen. Darüber hinaus führt das kollektivistische Prinzip des Respekts

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gegenüber Vorgesetzten in einer Hierarchie dazu, dass die Beziehungen zwischen den Akteur*innen bestimmen, was in einer bestimmten Situation als angemessene Umgangsweise mit dem Konflikt oder als Lösungsstrategie betrachtet wird. In ähnlicher Weise beinhaltet Scham im kollektivistischen Japan die Angst, die eigene Familie zu verunglimpfen, im Gegensatz zum US-amerikanischen Konzept der Scham, das die Vorstellung eines herabgesetzten Selbst gegenüber anderen umfasst (Thonney et al., 2006). Darüber hinaus zeigen weitere Ergebnisse, dass Menschen im japanischen Kontext, die zu Schamgefühlen neigen, mit größerer Wahrscheinlichkeit Wut empfinden als Europäer*innen, die weniger zu Schamgefühlen neigen (Ramírez et al., 2001). Die relationale Identität ist also im Wesentlichen mit dem Einsatz von Scham und mit situativer Moral als Form der sozialen Kontrolle verbunden. Sie ist nicht in gleicher Weise mit der Verwendung objektiver Moral wie Schuldgefühlen vereinbar (Bedford & Hwang, 2003). Bedford und Hwang (2003) weisen darauf hin, dass das pflichtbewusste Moralkonzept in konfuzianischen Kulturen Scham beinhaltet, um die Konformität mit der Gruppe sicherzustellen. In diesem Sinne wird Scham in konfuzianischen Kulturen als eine hoch geschätzte Emotion angesehen. Aufgrund der übergreifenden Verbundenheit in konfuzianischen Gesellschaften ist außerdem zu erwarten, dass das Erleben von Schamgefühlen im Vergleich zu Menschen aus westlichen Kulturen länger andauert (Cardon, 2006). Mak et al. (2015) zufolge erfahren Menschen in konfuzianischen Kulturen wie der chinesischen vergleichbare Scham- und Schuldgefühle wie Menschen in westlichen Kulturen. Sie erleben diese Gefühle jedoch im Falle von Übertretungen als Reaktion auf Bedrohungen, als Selbstbewertung oder Selbstbestrafung. Genauer gesagt, wird in konfuzianischen Kulturen Scham durch die Missbilligung oder Kritik anderer verursacht, weil eine Person die gesellschaftlichen Normen nicht erfüllt, während Schuld eine Reaktion auf die Verletzung sozialer Normen ist. Schuldgefühle können also verstanden werden als eine Reaktion auf die Verletzung verinnerlichter sozialer Normen (Mak et al., 2015). Wie Bedford (2004) betont, werden Schuldgefühle unabhängig von den eigenen Fähigkeiten zur Erfüllung moralischer Verpflichtungen empfunden, zu denen angesichts der starken zwischenmenschlichen Bindung im konfuzianischen China auch Pflichten gegenüber der Familie (Bedford, 2004) und Verpflichtungen zur Gegenseitigkeit gehören (Yang & Kleinman, 2008). Wenn eine Person diesen moralischen Verpflichtungen nicht nachkommt, fühlt sie sich nicht nur wegen ihres persönlichen Versagens schuldig, sondern auch, weil sie möglicherweise den Ruf ihrer Familie beschädigt hat. In Anbetracht der engen Verbindung zwischen der Sorge um die Gesichtswahrung und moralischen Emotionen ist es möglich, dass moralische Emotionen als Vermittlungsmechanismus fungieren, der die Sorge um die Gesichtswahrung mit der Selbststigmatisierung verbindet. Folglich führt das Erleben von Schuldgefühlen dazu, dass eine Person die Verantwortung für das Ausüben eines positiven Verhaltens übernimmt. In einer kulturübergreifenden Studie zwischen Koreaner*innen, Japaner*innen und US-Amerikaner*innen wurde beispielsweise, ähnlich wie in den USA, das Schuldbewusstsein mit der Tendenz in Verbindung gebracht, die Verantwortung für

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Versagen und Übertretungen zu übernehmen (Furukawa et al., 2012). Andererseits wurde in allen drei Kulturen eine positive Korrelation zwischen Schamgefühlen und aggressionsrelevanten Konstrukten festgestellt, was darauf hindeutet, dass uneingestandene Scham mit Wut verbunden ist (Tangney et  al., 1992). Weitere Untersuchungen, die im kollektivistischen Festlandchina durchgeführt wurden, zeigten, dass Schamneigung ein Problem für moderne intime Beziehungen sein kann (Johnson et al., 2015). Dabei zeigte sich, dass die Schamneigung indirekt mit einer geringeren Beziehungszufriedenheit bei männlichen und weiblichen Partner*innen und mit weniger adaptiven Interaktionen (z. B. konstruktive Problemlösung) verbu­den ist. Dieser Befund ist für Mobbing relevant, da sich gezeigt hat, dass auch unsichere Bindung mit Mobbing in Verbindung steht (Eliot & Cornell, 2009). Der Zusammenhang zwischen Schamneigung und unsicherer Bindung könnte auf eine größere Wahrscheinlichkeit hindeuten, dass Mobbing-Verhalten von zu Scham neigenden Mitgliedern einer kollektivistischen Kultur ausgeübt wird. Untersuchungen haben beispielsweise gezeigt, dass in Japan (einer schamgeprägten Kultur) Angestellte doppelt so häufig von Mobbing betroffen sind wie Angestellte in anderen Ländern (Giorgi et al., 2013). Bei Untersuchungen der Rolle der Kultur hinsichtlich kollektivistischer Erfahrungen von Schuld und Scham stellte Bedford (2004) in einer phänomenologischen Studie fest, dass die kollektivistische Erfahrung von Schuld im chinesischen Kontext der von individualistisch geprägten Amerikaner*innen in dem Sinne ähnelt, dass in beiden Kulturen Schuldgefühle bei moralischen Übertretungen auftreten. Bedford (2004) unterstreicht, dass in Mandarin drei Arten von Schuldgefühlen unterschieden werden können, die im Englischen keine Entsprechung haben. Bei diesen drei Varianten handelt es sich um Schuldgefühle durch Nichterfüllung einer Verpflichtung gegenüber einer anderen Person(nei jiu), aufgrund einer moralischen Übertretung (zui e gan) und aufgrund der Übertretung eines Gesetzes (fan zui gan). Bedford argumentiert, dass sich das Schuldgefühl, das aus der Nichterfüllung einer Verantwortung gegenüber einem/r anderen (nei jiu) entsteht, vom westlichen Schuldgefühl insofern unterscheidet, als es eine Verantwortung gegenüber anderen beinhaltet. Wenn etwa Patient*innen eine*n traditionellen Arzt/ Ärztin, der/die nicht über die Zulassung zur Chirurgie verfügt, bitten, eine medizinische Operation durchzuführen, fühlt diese*r nei jiu-Schuld, weil er/sie dazu nicht autorisiert ist (Bedford, 2004). Daraus ließe sich ableiten, dass Menschen aus kollektivistisch orientierten Gemeinschaften Schuldgefühle empfinden, diese aber einen eher gruppenorientierten Charakter haben, der mit ihrer stärker vernetzten, gruppenorientierten Identität übereinstimmt. Auch im kollektivistischen Südkorea wurde ein hohes Maß an gruppenorientierter Schuld festgestellt, was darauf hindeuten könnte, dass der Kollektivismus mit dem Begriff der Schuld interagiert (Furukawa et al., 2012). Je stärker sich das Selbst über eine Gruppe definiert, desto wahrscheinlicher ist es, dass Gruppenbezug und Scham im Zusammenhang mit der Gruppe einen starken Einfluss auf das Selbstkonzept haben.

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Die Verflechtung macht Scham zu einer mächtigen sozialisierenden Kraft, denn wie Retzinger (1991) andeutet, wirkt Scham wie ein Thermometer, falls das Selbst von als bedeutend empfundenen anderen Personen entfremdet wird. Bleibt Scham jedoch uneingestanden, wird es außerordentlich schwierig, das Selbst in Bezug auf andere zu kontrollieren. Das führt oft zu dysfunktionalem Verhalten wie intensiven Konflikten. Die Kultur bestimmt in der Regel, wie stark der/die Einzelne das Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit im Vergleich zum Bedürfnis nach Abgeschiedenheit erlebt. So neigen Menschen aus der japanischen Kultur eher zum „Einverleiben“, während US-Amerikaner zu Rückzug neigen (Retzinger, 1991). Nach Lebra (2010) sind Scham und Schuld einerseits im individuellen Selbst verankert, spiegeln aber zugleich auch die Sorge um andere wider. Lebra nimmt an, dass sowohl Scham als auch Schuld für kollektivistisch ausgerichtete Japaner*innen wichtige moralische Sanktionen sind. Dabei wird der Schuld eine relative Priorität gegenüber Scham eingeräumt, möglicherweise weil ihr ultimativer moralischer Wert mit Selbstverleugnung verbunden ist, die als konfuzianischen Idea gilt. Scham beinhaltet eine egozentrische Sorge um das Selbstbild. Diese mit der Scham verbundene Egozentrik ruft bei japanischen Personen eine gewisse Ambivalenz hervor, wenn sie Schamgefühle zugeben, während mit dem Eingeständnis von Schuldgefühlen keine solche Ambivalenz verbunden ist. Einge Forscher*innen nehmen an, dass egozentrisches Denken auch mit Mobbing verbunden ist (Menesini & Camodeca, 2008). Schuld ist im japanischen Moralsystem stärker verankert als Scham, weshalb in Japan Scham oft in Schuldbegriffe übersetzt wird (Lebra, 2010). Dieser Gedanke stimmt mit den US-amerikanischen Vorstellungen von Scham und Schuld überein, da Scham oft uneingestanden bleibt und dysfunktional ausgelebt wird – möglicherweise durch Mobbing –, während Schuld weniger mehrdeutig ist und daher klarere Maßnahmen erfordert.

10.3 Empathie, Ablösung, Externalisierung von Beschämung und Mobbing Im vorangegangenen Abschnitt wurde aufgezeigt, dass angesichts der Ähnlichkeiten zwischen Personen, die uneingestandene Scham empfinden, und solchen, die Mobbing betreiben, davon auszugehen ist, dass mobbende Personen sich wahrscheinlich in einem Zustand uneingestandener Scham befinden. Ausgehend von dieser Annahme sollen nachfolgend weitere Zusammenhänge zwischen Scham und Mobbing untersucht werden. Insbesondere wird die Beziehung von Scham zu E ­ mpathie, Distanzierung und Externalisierung von Beschämung untersucht, um zu sehen, ob diese ebenfalls mit Mobbing in Verbindung stehen.

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10.3.1 Empathie, Ablösung und Mobbing Im Folgenden wird der Zusammenhang zwischen Scham, Mobbing und Ablösung untersucht. Schamgefühle sind für negative Kommunikation verantwortlich, denn die Ergebnisse zeigen durchweg, dass Scham positiv mit Wutausbrüchen, Misstrauen, Groll, Reizbarkeit, der Tendenz, andere für negative Ereignisse verantwortlich zu machen, und indirekten Äußerungen von Feindseligkeit korreliert (Tangney et  al., 1992). Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass tyrannisierende Personen auch indirekte Aggressionen einsetzen, indem sie ihr Verhalten durch externa­ lisierende Schuldzuweisungen rechtfertigen und ihr Verhalten vor sich selbst als akzeptabel darstellen (Marini et al., 2006; Zapf et al., 2011). Die Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass in diesem Zuammenhang häufig indirekte Taktiken zum Einsatz kommen, zum Teil weil diese Personen eher zu Machiavellismus und Narzissmus neigen (Baughman et al., 2012), die nachweislich mit Empathiedefiziten zusammenhängen (Jonason & Kroll, 2015). Im Gegensatz dazu wurde gezeigt, dass die prosoziale psychologische Eigenschaft der Empathie die Wahrscheinlichkeit verringert, dass eine Person Mobbing betreibt und umgekehrt (Ayala et  al., 2014). Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass Studien generell darauf hinweisen, dass prosoziales Verhalten mit Empathie zusammenhängt (Telle & Pfister, 2012). Während Scham nachweislich mit antisozialem Verhalten zusammenhängt, hat sich gezeigt, dass die Neigung zu „schamfreien“ Schuldgefühlen umgekehrt mit der Externalisierung von Schuld und einigen Indizes von Wut, Feindseligkeit und Groll korreliert (Tangney et al., 1992). Scham scheint also mit antisozialem und möglicherweise schikanösem Verhalten zusammenzuhängen, während Schuldgefühle eher mit Engagement, Empathie und prosozialem Verhalten in Verbindung gebracht werden. In der Tat besteht ein Zusammenhang zwischen moralischem Disengagement und aggressivem Verhalten, der durch verminderte Schuldgefühle vermittelt wird (Bandura et al., 1996). Studienergebnisse deuten ferner darauf hin, dass Schuld mit Empathie zusammenhängt, während Scham mit einem Mangel an Empathie verbunden ist (Tangney & Dearing, 2002). Der Grad der Empathie einer Person bestimmt, ob sie sich für prosoziale oder antisoziale Kommunikation entscheidet (Sakurai et al., 2011; Sze et al., 2011). So zeigen Studien, dass empathischere Menschen eher hilfsbereiteres Verhalten zeigen (Pavey et al., 2012) und eher prosozial kommunizieren als weniger empathische Menschen (Sakurai et al., 2011). Darüber hinaus wurde festgestellt, dass Menschen, denen es an Empathie gegenüber anderen mangelt, eher zu aggressivem Verhalten und in einigen Fällen zu Gewaltverbrechen neigen (Day et al., 2012; Stanger et al., 2012). Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass ein Mangel an affektiver Empathie häufiger zu Mobbing gegenüber anderen führt (Jolliffe & Farrington, 2006). Ebenso zeigt die Forschung, dass mobbende Personen über Mechanismen des moralischen Disengagements (Gini, 2006) und ein geringes Maß an empathischer Reaktionsfähigkeit verfügen (Gini et  al., 2011). Randall nimmt an (1997), dass mobbende Personen im Allgemeinen nicht in der Lage sind, die Gefühle anderer zu verstehen. Da es den Täter*innen an empathischen Fähig-

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keiten mangelt (Shaw, 2012) und sie Gleichgültigkeit gegenüber ihren Opfern empfinden, wiederholt sich ihr aggressives Verhalten gegenüber ihren Opfern. Diese Annahme wird durch die Feststellung unterstützt, dass das Verhalten der mobbenden Personen dadurch verstärkt wird, dass das Opfer Schmerz zeigt (Davis, 1994). In Anbetracht der oben erwähnten Studien über jugendliches Mobbing wird die folgende Hypothese aufgestellt: H3: Mobbing steht in einem positiven Zusammenhang mit Distanziertheit.

10.3.2 Kulturübergreifende Unterschiede bei Empathie/ Distanzierung und Mobbing Die kulturübergreifende Forschung in drei europäischen Städten in Italien und Spanien hat gezeigt, dass Mobber*innen im Vergleich zu Opfern ein höheres Maß an abgekoppelten Emotionen und Motiven aufweisen und egozentrisch argumentieren (Menesini et  al., 2003). Dieses Ergebnis wurde in Japan bestätigt (Giorgi et  al., 2013), ebenfalls in Schweden, wo Mobbing unter „moralisch ungebundenen“ Schüler*innen häufiger vorkommt (Thornberg, 2010). Die Ergebnisse zeigten auch, dass in Süditalien, wo Mobbing und Gewalt weiter verbreitet scheinen und durch gesellschaftliche Überzeugungen unterstützt werden (was durch Kriminalitätsstatistiken belegt wird, die einen höheren Prozentsatz an Gewaltdelikten und organisierter Kriminalität ausweisen), die Teilnehmenden häufiger Rechtfertigungen verwenden und ein höheres Maß an Entflechtung aufweisen als in Spanien. Die aufgezeichneten Rechtfertigungen zeigten, dass Mobber*innen ein Profil egozentrischer Argumentation aufweisen, das besonders deutlich wird, wenn sie die Konfrontation mit sich selbst in der Rolle der mobbenden Person erleben. Diese Ergebnisse stützen die Annahme, dass Mobbing mit moralischem Rückzug einhergeht, einem Korrelat der Scham. Darüber hinaus scheint ein kulturspezifisches Umfeld die Reaktionen auf Mobbing zu verstärken, die mit moralischem Disengagement einhergehen. Im Gegensatz zur Abkopplung ist Empathie wichtig, weil sie zu mitfühlendem Verhalten gegenüber anderen, moralischem Handeln und ethischem Verhalten führt (Harris, 2007). Einerseits gibt es Hinweise darauf, dass Kollektivismus (asiatisch) mit Empathie korreliert ist (Heinke & Louis, 2009). So zeigte beispielsweise eine Studie über dienende Führung, dass die Dimensionen Empathie und Demut in asiatischen Kulturen stärker ausgeprägt waren als in europäischen Kulturen (Mittal & Dorfman, 2012). Andererseits ergab eine Studie, in der thailändische (kollektivistische) und amerikanische (individualistische) Auszubildende in der Beratungsbranche verglichen wurden, dass amerikanische Auszubildende mehr Empathie zeigten als thailändische Auszubildende (Kaelber & Schwartz, 2014). Möglicherweise lässt sich dies durch definitorische Unterschiede in der Literatur erklären. Realo und Luik (2002) fanden beispielsweise heraus, dass Kollektivismus positiv mit dispositioneller intellektueller Empathie und empathischen Emotionen korre-

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liert war und dass Individualismus intellektuelle Empathie vorhersagte. Duan et al. (2008) führen dieses Argument jedoch weiter, indem sie zeigen, dass empathische Dispositionen eher mit kollektivistischen Werten als mit individualistischen Werten übereinstimmen. Sie gehen davon aus, dass kollektivistische Werte Individuen dazu motivieren, sich sowohl intellektuell als auch emotional in andere einzufühlen, indem sie sich auf die Bedürfnisse und Interessen anderer konzentrieren, was ein integraler und wesentlicher Bestandteil jedes Empathieprozesses ist. Andererseits steht der Individualismus, der sich auf das eigene Ich konzentriert, der Bereitschaft des Einzelnen zur Empathie entgegen, da er seine Aufmerksamkeit von den Gefühlen und Gedanken anderer abwendet. Künftige Studien sind jedoch erforderlich, um diesen Gedanken zu überprüfen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die vorhandene Literatur über Empathie, wie sie oben beschrieben wurde, noch in der Entwicklung begriffen ist. Die angegebenen kulturübergreifenden Ergebnisse scheinen in dieselbe Richtung zu gehen wie die US-amerikanischen Studien, die darauf hinweisen, dass Scham wahrscheinlich mit Mobbing korreliert, einem Beispiel für eine feindselige Handlung, die wahrscheinlich positiv mit Gefühlen der Abgehobenheit korreliert ist.

10.3.3 Externalisierung von Schuldzuweisungen und Mobbing Scheff und Retzinger (2001) weisen darauf hin, dass Scham und Entfremdung Aspekte ein und derselben Realität sind, da Scham der emotionale Aspekt der relationalen Entfremdung ist. Wenn eine Person zum Beispiel Scham empfindet, löst sie sich von anderen. Dieser Rückzug führt zu Entfremdung. Da eine Verbindung zu anderen der Normalzustand ist, praktizieren diejenigen, die bei der Kommunikation nicht mit anderen verbunden sind, wie im Fall von mangelndem Einfühlungsvermögen, eine dysfunktionale Kommunikation. Zu den weiteren dysfunktionalen antisozialen Merkmalen, die neben der Entfremdung mit Scham in Verbindung gebracht werden, gehören das Beschuldigen anderer und das Leugnen der Verantwortung für das eigene Handeln (Scheff & Retzinger, 2001), d.  h. die Externalisierung der Schuld (Tangney, 1991). Bei der Externalisierung von Schuld wird die Ursache der eigenen antisozialen Kommunikation externen Quellen oder einer anderen Person zugeschrieben (Tangney & Dearing, 2002). Tangney et al. (1992) berichteten über eine durchweg positive Beziehung zwischen der Neigung zu Schamgefühlen und der Tendenz zur Externalisierung von Schuld. Mit anderen Worten: Menschen, die sich schämen, neigen dazu, keine Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen und anderen die Schuld für ihre negativen Handlungen zu geben. Obwohl die Externalisierung von Schuldgefühlen den Schmerz der Scham vorübergehend lindern kann, kann sie entweder zu einem anschließenden Rückzug von der beschuldigten Person oder zu ­einer Eskalation einer antagonistischen, gedemütigten Wut führen (Lewis, 1971; Scheff, 1987), weil es demütigend ist, eine Handlung, die Scham verursacht, zuzugeben oder die Verantwortung dafür zu übernehmen.

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Im Falle von Mobbing-Interaktionen wird die Schuldzuweisung der mobbenden Person häufig an das Ziel des Mobbings gerichtet und als Sündenbock eingesetzt (Jackson et al., 2009; Rothschild et al., 2012). Eine Studie mit Schulkindern hat gezeigt, dass Mobber*innen ihren Opfern eher die Schuld geben als Kinder, die andere Rollen einnehmen (Hara, 2002). Weitere Untersuchungen zeigen, dass ein positiver Zusammenhang zwischen Schamgefühl, Wut, Feindseligkeit und Externalisierung von Schuld besteht (Bennett et al., 2005; Hoglund & Nicholas, 1995; Tangney et al., 1992, 1996). In Anbetracht der Beweise aus früheren Untersuchungen mit Kindern und der Beziehungen, die sich aus früheren Untersuchungen ergeben, ist es wahrscheinlich, dass Mobbing bei Erwachsenen mit der Externalisierung von Schuld in Verbindung steht. Daher, H4: Mobbing steht in einem positiven Zusammenhang mit der Externalisierung von Schuldgefühlen.

10.3.4 Kulturübergreifende Unterschiede in der Externalisierung von Schuldzuweisungen und Mobbing Kulturübergreifende Belege deuten darauf hin, dass Scham in individualistischen amerikanischen Stichproben in geringerem Maße mit externalisierenden Konsequenzen verbunden ist als in kollektivistischen asiatischen Stichproben (Sheikh, 2014). Retzinger (1991) erklärt, dass es fast unmöglich ist, persönliche und soziale Verantwortung zu übernehmen, wenn man sich in einem uneingestandenen Zustand der Scham befindet. Ein scheinbares Beispiel dafür ist, dass Kinder in Schweden (einer individualistischen Kultur), die gegenüber Mobbing desensibilisiert waren, glaubten, Mobbing sei eine normale Folge von verschiedenen Verhaltensweisen der Opfer (Thornberg, 2010). Wenn sie an Mobbing beteiligt waren, wiesen die beteiligten schwedischen Kinder die Verantwortung zurück und gaben anderen die Schuld, da sie eine psychologische Distanz zwischen sich und ihren Opfern aufbauten (Thornberg, 2007). Die mit kollektivistischen japanischen Kindern durchgeführte Forschung stützt ebenfalls die Idee, dass Mobber*innen sich in ihren Handlungen gerechtfertigt fühlen, weil sie keine Verantwortung für den Schaden übernehmen, den sie ihren Opfern zufügen, indem sie die „Verleugnung der Opfer“ und die „Verleugnung der Verletzung“ betreiben (Hara, 2002). Die Ergebnisse der Studie von Hara (2002) deuten darauf hin, dass die Rechtfertigung von Mobbing in Japan mit der Bedeutung zusammenhängt, die Gruppenzielen beigemessen wird, was bedeutet, dass die Misshandlung als zum Wohle der Allgemeinheit und daher als akzeptabel und sogar richtig angesehen wird. Während die Schamanfälligkeit bei japanischen Kindern die Externalisierung von Schuld positiv vorhersagte, war sie bei amerikanischen Kindern, die ebenfalls eine Anfälligkeit für Wut zeigten, nicht vorhersagbar (Tangney et al., 1992). Dies könnte auf ihre kollektivistischen Werte der Harmonie zurückzuführen sein, die sie dazu veranlassen, sich mit ihrer Gruppe verbunden zu fühlen, was durch das Aus-

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drücken von Wut möglicherweise vereitelt werden könnte. Tatsächlich weist Sheikh (2014) darauf hin, dass kollektivistische japanische Kinder ein größeres Verantwortungsbewusstsein für ihr Verhalten zeigen als Kinder in individualistischen Kontexten, was sich darin zeigt, dass sie eher dazu neigen, Scham- und Schuldgefühle zu empfinden, und weniger dazu, die Schuld insgesamt nach außen zu tragen. Die Nichterfüllung der Erwartungen bedeutender anderer Personen spiegelt nicht nur unangemessene soziale Fähigkeiten wider, was verhaltensspezifische Schuldgefühle hervorruft, sondern wird auch als respektlos gegenüber der japanischen moralischen Identität angesehen, was zu hartnäckigeren Gefühlen der Scham über das eigene Selbstgefühl (und Defizite bei den sozialen Fähigkeiten) führt. Auf diese Weise wirken Scham- und Schuldgefühle als verinnerlichte Sanktionen gegen gemeinschaftlich und ethisch unangemessenes Verhalten und veranlassen das Individuum, konsequent innerhalb seines kulturellen Wertesystems zu handeln, um intensive Scham- oder Schuldgefühle zu vermeiden (Kitayama et al., 1997). In einem kulturübergreifenden Vergleich zwischen japanischen, koreanischen und amerikanischen Kindern (Furukawa et  al., 2012) wurde festgestellt, dass Schamempfinden in allen Kulturen positiv mit aggressionsrelevanten Konstrukten korreliert ist. Auf der anderen Seite wurde Schuldbewusstsein mit einer Tendenz zur Übernahme von Verantwortung für Versagen und Übertretungen in Verbindung gebracht. Im Gegensatz dazu fanden Bear et al. (2009) heraus, dass Scham bei amerikanischen Kindern Aggression voraussagte, wie von Klassenlehrer*innen berichtet, nicht aber bei japanischen oder koreanischen Kindern. Schließlich ergab eine Studie, in der japanische und türkische Erwachsene auf Schamreaktionen untersucht wurden, dass die kollektivistischen Japaner*innen, die stärker auf die Aufrechterhaltung von Beziehungen und Gesichtswahrung ausgerichtet waren, mit Scham ohne Wut reagierten, während die kollektivistischen türkischen Befragten, die stärker auf Ehre ausgerichtet waren – unabhängig von Beziehungsfragen –, Scham und Wut erlebten, was darauf hindeutet, dass auf Ehre bezogene Bedürfnisse, die stärker nach außen gerichtet sind, die Beziehung zwischen Scham und Wut vermitteln. Die drei oben zitierten Studien, die den Zusammenhang zwischen Scham und externalisierenden Konsequenzen in „nicht-westlichen“ Kulturen untersuchten, fanden weniger Wut und Aggression als Schamfunktionen bestätigt. Möglicherweise spiegeln die Ergebnisse die positive Konnotation von Scham wider, die in kollektivistischen Kulturen vorherrscht, sowie die negative Konnotation von Wut als zerstörerisch für zwischenmenschliche Beziehungen – und obwohl individualistische Kulturen Wut manchmal auch in einem negativen Licht sehen, tun sie dies in einem viel geringeren Ausmaß als diejenigen aus kollektivistischen Kulturen (Sheikh, 2014). Der Befund, dass weniger Wut vorhanden ist, könnte daher auf die positive Rolle der Scham für die soziale Harmonie und das Potenzial der Wut, die Harmonie zu stören und zwischenmenschliche Beziehungen zu beschädigen, zurückzuführen sein (Sheikh, 2014). So werden die interdependenten Japaner*innen ausdrücklich dazu erzogen, ihre negativen Emotionen (z. B. Frustration oder Wut) zu beherrschen, um die Gruppenharmonie zu erhalten (Giorgi et al., 2013). Es scheint, dass Mobbing trotz einiger Meinungsverschiedenheiten in den meisten Kulturen positiv mit der Externalisierung von Schuld verbunden ist. Insgesamt

10  Von der Scham zur Schuld: Zur Überwindung von Mobbing in verschiedenen …

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wurden die Ergebnisse, die Scham mit dem Ausdrücken von Konsequenzen wie Wut und Gewalt in Verbindung bringen, vor allem in individualistischen Kulturen (z.  B.  Nordamerika) gefunden, während diejenigen, die Scham mit restaurativen Konsequenzen in Verbindung bringen, vor allem in kollektivistischen Kulturen gefunden wurden (Sheikh, 2014). Die Forschung deutet jedoch darauf hin, dass Scham in allen Nationen mit Rückzugsneigungen verbunden ist. Obwohl der aktuelle Stand der Literatur nur begrenzt aussagekräftige Schlussfolgerungen über die Beziehung zwischen Kultur und den Folgen von Scham zulässt, gibt es einige Belege für eine Ressourcenorientierung, bei der Scham dazu dient, zwischenmenschliche Beziehungen wiederherzustellen, indem der Schwerpunkt auf interdependenter Harmonie bei der Wiedergutmachung des von einem Individuum selbst verursachten Schadens liegt. Dieser Schwerpunkt wurde deutlich, als Studien, die mit kollektivistischen Kulturen durchgeführt wurden, Ergebnisse lieferten, die darauf hinwiesen, dass Wut für Menschen aus interdependenten Kulturen aufgrund ihres Schwerpunkts auf Harmonie inakzeptabel ist. Im Folgenden werden die Methode und die Ergebnisse der US-Stichprobe beschrieben, über die in diesem Kapitel berichtet wird.

10.4 Methode 10.4.1 Teilnehmende Eine Stichprobe von 192erwerbstätigen Erwachsenen füllte die Fragebögen über den Mechanical-Turk-Dienst von Amazon aus, der mit den gängigen akademischen Methoden vergleichbare Stichproben erzeugt (Buhrmester et al., 2011). Die Teilnehmenden waren 74 Männer und 118 Frauen im Alter von 18–66 Jahren (M = 28; SD = 9,3).

10.4.2 Forschungsinstrumente Mobbing wurde anhand eines Szenarios gemessen, in dem die Befragten aufgefordert wurden, so zu handeln, als ob sie jemanden mobben würden. Konkret wurden die Befragten gefragt, „Gab es in Ihrem Leben schon einmal jemanden, der Sie einfach nur genervt hat? Behalten Sie diese Person im Hinterkopf und beantworten Sie bitte die Frage, inwieweit Sie die folgenden Verhaltensweisen bei der Arbeit gegenüber dieser Person an den Tag gelegt haben (falls dies auf das Beispiel zutrifft).“

Anschließend wurde der überarbeitete Negative Acts Questionnaire (NAQ; Einarsen & Raknes, 1997; Einarsen et al., 2009), die am weitesten verbreitete Skala zur Identifizierung von Mobbingopfern, als Antwort-Item vorgelegt (α = 0,97). Die Be-

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fragten verwendeten eine 10-stufige Antwortskala für die Items des NAQ-­ Fragebogens (Nie  =  1; Immer  =  10). Da es kein weit verbreitetes Maß zur Bewertung von Mobbing gibt, ermöglichte die Verwendung der NAQ-Fragen als Antwortitems die Einbeziehung des gesamten Universums möglicher Mobbingversuche in Relation zur Mobbingneigung. Insbesondere wurde in dieser Studie operationalisiert, dass Personen, die zu Mobbing neigen, eine hohe Punktzahl bei der Ausführung von Mobbing-Verhaltensweisen aufweisen, die bereits in früheren Untersuchungen identifiziert wurden. Da es nur wenig Einigkeit darüber gibt, wie die Merkmale von mobbenden Personen zu messen sind, wurde, dem Vorschlag folgend, dass mehrere Ansätze eine nützliche Möglichkeit für Forschende darstellen, Mobbing in Organisationen zu bewerten (Cowie et al., 2002), auch eine Kontrollmessung verwendet, um eine Korrelation zu den NAQ-Ergebnissen herzustellen. Um sicherzustellen, dass das gewählte Szenario tatsächlich Mobbing-Täter*innen und nicht Opfer erfasst, wurde eine zusätzliche Frage hinzugefügt: „Wurden Sie in den letzten sechs Monaten jemals belästigt?“ Scham, Schuld, Abkopplung und Externalisierung von Schuld wurden mit dem TOSCA-3 (Tangney & Dearing, 2002) gemessen, einem Selbstbeurteilungsinstrument, das aus einer Reihe von 11 negativen und fünf positiven Szenarien besteht, wobei jede der Auswirkungen mit vier oder fünf Antworten bewertet wird. Jedes Item des TOSCA-3 wurde auf einer 5-Punkte-Skala bewertet (1 = nicht wahrscheinlich, 5 = sehr wahrscheinlich). Die Alpha-Reliabilität für Scham lag bei 0,79, für Schuldgefühle bei 0,82, für Abkopplung bei 0,69 und für Externalisierung von Schuld bei 0,80. Den Befragten wurde zunächst ein Inventarszenario vorgelegt, z. B. „Sie machen bei der Arbeit etwas kaputt und vertuschen es dann.“ Gefolgt von a. Sie würden denken: „Das macht mich unruhig. Ich muss es entweder reparieren oder jemand anderen damit beauftragen“; b. Sie würden darüber nachdenken, zu kündigen; c. Sie würden denken: „Heutzutage werden viele Dinge nicht sehr gut gemacht“; d. Sie würden denken: „Es war nur ein Unfall“. Mit jedem Item wurden Scham, Schuldgefühle, Distanzierung oder Externalisierung der Schuld gemessen.

10.4.3 Ergebnisse Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass die Verwendung des vorgegebenen Szenarios zusammen mit dem NAQ das Konstrukt des Mobbings erfasst, da der NAQ signifikant negativ mit der Kontrollfrage nach dem Ziel von Mobbing verbunden war (r(134) = − 0,30; p = 0,05). Darüber hinaus waren die Korrelationen für H1–H4 wie angenommen signifikant korreliert. Mobbing stand in einem negativen Zusammenhang mit Schuldgefühlen (r(191)  =  − 0,20, p