Der Wert der Musik: Zur Ästhetik des Populären [1. Aufl.] 9783839407349

Was bietet uns Musik, dass wir ihr so viel Zeit und Geld opfern? Wie soll sie beschaffen sein, damit sie die hohen Erwar

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German Pages 344 [343] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
I. AUSGANGSPUNKTE
I.0 Ein erster Ausgangspunkt: Ich
I.1 Ein zweiter Ausgangspunkt: Der blinde Fleck der Popularmusikforschung
Pop und Ästhetik: ein problematisches Verhältnis
Andrew Chester
Dörte Hartwich-Wiechell
Dieter Baacke
Tibor Kneif
Weitere Entwicklungen
Peter Wicke und Simon Frith
Außereuropäische Beiträge zur Ästhetik populärer Musik
Theodore Gracyk
Resümee
I.2 Ein dritter Ausgangspunkt: Kneifs Bestimmung der Musikästhetik
II. KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK
II.0 Methode und Stichprobe
Qualitative Inhaltsanalyse
Auswahl der Population und Charakterisierung der Textgrundlage
Die Auswahl der zu untersuchenden Alben
Die Auswahl der Kundenrezensionen
Das Kategoriensystem
Quantitative Inhaltsanalyse
II.1 Qualitäten der Songtexte
Quantitative Ergebnisse
Realismus und Weltbezug
Kognitive Orientierung
Lyrische Qualitäten
Weitere Bewertungskriterien: Humor, Härte und Distinktionspotential
Resümee
II.2 Kompositorische Qualitäten
Quantitative Ergebnisse
Formale, rhythmische und harmonische Gestaltungsmittel
Komplexität und Einfachheit
Melodische Qualitäten
Langlebigkeit und Zeitlosigkeit
Besonderheiten im HipHop
II.3 Interpretatorische Qualitäten
Quantitative Ergebnisse
Stimme, Gesang und Sprechgesang
Qualitäten des Instrumentalspiels
Qualitäten der Produktion, der Instrumentierung und des Arrangements
II.4 Authentizität und andere menschliche Qualitäten
Quantitative Ergebnisse
Authentizität als ethisches und soziales Phänomen
Authentizität als Bewahrung des Individuellen
Authentizität als Treue zu einer sozialen Gemeinschaft
Ein Zwischenspiel: Authentizität im Zeichen der Postmoderne
Authentizität als wahrhaftiger, persönlicher Ausdruck
Weitere menschliche Qualitäten
II.5 Emotionale Qualitäten
Quantitative Ergebnisse
»Gefühl«
»Energie«
Resümee
II.6 Originalität, Neuheit, Vielfalt, Langeweile: das Interessante
Quantitative Ergebnisse
Originalität
Neuheit
Vielfalt
Langeweile
Originalität, Neuheit, Vielfalt und Langeweile aus psychobiologischer Sicht
II.7 Sonstiges
Kombinierte Kriterien
Weitere Kriterien von geringer Bedeutung
II.8 Bewertung der empirischen Studie
Methodenreflexion
Beantwortete und offene Fragen
III. ÄSTHETISCHE DIMENSIONEN DER MUSIKREZEPTION
III.0 Einleitung
Funktionen
Die (neue) Ästhetik
Martin Seel — Einige Grundzüge seiner Ästhetik
III.1 Das bloße Erscheinen: Musik als Objekt der Kontemplation
Das kontemplative Urteil
Das Beispiel Norah Jones
Die Wertkriterien aus dem Blickwinkel der Kontemplation
Das Rauschen als Extremfall
Das Beispiel Neil Young
Versenkung und Taumel
Das Rauschen im Techno und zuvor
Resümee
III.2 Das atmosphärische Erscheinen: Musik als Objekt der Korrespondenz
Die atmosphärische Macht der Musik
Atmosphäre und Charakter
Atmosphärisch-Situative Korrespondenzen
Charakterliche Korrespondenzen und Identität
Charakterliche Korrespondenzen und Distinktion
Resümee
III.3 Das artistische Erscheinen: Musik als Objekt der Imagination
Verstehen und ästhetische Erfahrung
Exkurs: Gegen das Musikverstehen
a) Situationspräsentation und Verfahrenspräsentation
b) Imagination
c) Die persönliche Bedeutsamkeit von Sichtweisen der Welt
Die Rezeption artistischen Erscheinens in der Stichprobe
Einige Beispiele
Exkurs: Gegen das Verstehen populärer Musik
Resümee
III.4 Der Wert der Musik
Epilog: Ich (und der Apfelmann)
Literaturverzeichnis
Auswahldiskographie
ANHANG
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Der Wert der Musik: Zur Ästhetik des Populären [1. Aufl.]
 9783839407349

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Ralf von Appen Der Wert der Musik

texte zur populären musik 4 Herausgegeben von Winfried Pape und Mechthild von Schoenebeck

Ralf von Appen (Dr. phil.) ist Musikwissenschaftler an der Universität Gießen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte, Theorie, Analyse und Ästhetik der populären Musik sowie Musikästhetik und Musikpsychologie.

Ralf von Appen Der Wert der Musik. Zur Ästhetik des Populären

Gießener Dissertation im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: DJ Genius »Medien in Gold«, © Photocase, 2007 Lektorat & Satz: Ralf von Appen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-734-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I n h al t I.

AUSGANGSPUNKTE

I.0

Ein erster Ausgangspunkt: Ich

11

I.1

Ein zweiter Ausgangspunkt: Der blinde Fleck der Popularmusikforschung Pop und Ästhetik: ein problematisches Verhältnis Andrew Chester Dörte Hartwich-Wiechell Dieter Baacke Tibor Kneif Weitere Entwicklungen Peter Wicke und Simon Frith Außereuropäische Beiträge zur Ästhetik populärer Musik Theodore Gracyk Resümee

15 16 21 23 25 26 29 31 34 37 40

Ein dritter Ausgangspunkt: Kneifs Bestimmung der Musikästhetik

45

I.2

II.

KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK

II.0 Methode und Stichprobe Qualitative Inhaltsanalyse Auswahl der Population und Charakterisierung der Textgrundlage Die Auswahl der zu untersuchenden Alben Die Auswahl der Kundenrezensionen Das Kategoriensystem Quantitative Inhaltsanalyse

53 53

II.1 Qualitäten der Songtexte Quantitative Ergebnisse Realismus und Weltbezug Kognitive Orientierung Lyrische Qualitäten Weitere Bewertungskriterien: Humor, Härte und Distinktionspotential Resümee

81 81 82 87 89

II.2 Kompositorische Qualitäten Quantitative Ergebnisse Formale, rhythmische und harmonische Gestaltungsmittel Komplexität und Einfachheit Melodische Qualitäten Langlebigkeit und Zeitlosigkeit Besonderheiten im HipHop

54 63 67 71 76

90 92 95 95 97 99 100 102 103

II.3 Interpretatorische Qualitäten Quantitative Ergebnisse Stimme, Gesang und Sprechgesang Qualitäten des Instrumentalspiels Qualitäten der Produktion, der Instrumentierung und des Arrangements

105 105 106 110

II.4 Authentizität und andere menschliche Qualitäten Quantitative Ergebnisse Authentizität als ethisches und soziales Phänomen Authentizität als Bewahrung des Individuellen Authentizität als Treue zu einer sozialen Gemeinschaft Ein Zwischenspiel: Authentizität im Zeichen der Postmoderne Authentizität als wahrhaftiger, persönlicher Ausdruck Weitere menschliche Qualitäten

115 115 117 118 122 126 129 131

II.5 Emotionale Qualitäten Quantitative Ergebnisse »Gefühl« »Energie« Resümee

135 136 139 151 159

II.6 Originalität, Neuheit, Vielfalt, Langeweile: das Interessante Quantitative Ergebnisse Originalität Neuheit Vielfalt Langeweile Originalität, Neuheit, Vielfalt und Langeweile aus psychobiologischer Sicht

112

163 163 165 168 175 178 179

II.7 Sonstiges Kombinierte Kriterien Weitere Kriterien von geringer Bedeutung

185 185 186

II.8 Bewertung der empirischen Studie Methodenreflexion Beantwortete und offene Fragen

189 189 193

III. ÄSTHETISCHE DIMENSIONEN DER MUSIKREZEPTION III.0 Einleitung Funktionen Die (neue) Ästhetik Martin Seel — Einige Grundzüge seiner Ästhetik

201 201 203 205

III.1 Das bloße Erscheinen: Musik als Objekt der Kontemplation Das kontemplative Urteil Das Beispiel Norah Jones Die Wertkriterien aus dem Blickwinkel der Kontemplation Das Rauschen als Extremfall Das Beispiel Neil Young Versenkung und Taumel

211 214 215 217 221 222 224

Das Rauschen im Techno und zuvor Resümee

227 229

III.2 Das atmosphärische Erscheinen: Musik als Objekt der Korrespondenz Die atmosphärische Macht der Musik Atmosphäre und Charakter Atmosphärisch-Situative Korrespondenzen Charakterliche Korrespondenzen und Identität Charakterliche Korrespondenzen und Distinktion Resümee

233 236 237 238 242 249 256

III.3 Das artistische Erscheinen: Musik als Objekt der Imagination Verstehen und ästhetische Erfahrung Exkurs: Gegen das Musikverstehen a) Situationspräsentation und Verfahrenspräsentation b) Imagination c) Die persönliche Bedeutsamkeit von Sichtweisen der Welt Die Rezeption artistischen Erscheinens in der Stichprobe Einige Beispiele Exkurs: Gegen das Verstehen populärer Musik Resümee

259 260 263 265 267 268 273 275 280 285

III.4 Der Wert der Musik

289

Epilog: Ich (und der Apfelmann)

293

Literaturverzeichnis

297

Auswahldiskographie

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ANHANG

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I. A U S G A N G S P U N K T E

Musik übersteigt menschliche Logik. Es muss aber ein Geheimnis bleiben, wieso man Musik so liebt. Man darf es nicht selbst aufdecken (Björk in Venker 2003: 144). Es gehört zu den besonderen Bedürfnissen des Menschen, wissen zu wollen, warum er zu diesem oder jenem Verhalten neigt, was der Grund seiner Vorlieben und Abneigungen ist, weshalb er lacht oder weint, obgleich doch »nur« Musik erklungen ist. Aufklärung über sich selbst ist das Grundmotiv allen Fragens und damit aller Wissenschaft (Rösing/Petersen 2000: 16). Im Philosophieren können wir jederzeit bei uns selbst beginnen. Wir dürfen nur nicht bei uns bleiben (Seel 2002a: 196).

I.0 Ein erster Ausgangspunkt: Ich Regen prasselt auf das Dach, das Wasser spritzt zwischen den Autos, die Scheibenwischer kommen kaum nach, außerdem hinken sie dem Rhythmus der Musik mit jedem Takt mehr hinterher. Es ist kalt, selbst die sprichwörtlichen Hunde wollte man jetzt nicht auf die Straße jagen. Bis Hamburg sind's noch rund vierzig Minuten, dann Parkplatz suchen, Karte kaufen (hoffentlich gibt's noch welche), eine Stunde 'rumstehen. Zwei Stunden Musik. Wieder raus in das Sauwetter, Stadtverkehr, 100 Kilometer zurückfahren, mit diesem penetranten Pfeifen in den Ohren, verrauchten Klamotten und schmerzenden Füßen — aber bestimmt glücklich! Die zwei Stunden des Konzerts werden für alles entschädigen, hoffentlich! Aber warum bloß? Pathologisch scheint es nicht zu sein, zumindest geht es jährlich etwa 34 Millionen Konzertbesuchern und knapp 26 Millionen CD-Käufern in Deutschland ähnlich (Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft 2004: 4 u. 17). Was ist an der Musik, das mich und all die anderen viel Zeit, viel Geld und nicht-erneuerbare Energien opfern lässt? Warum riskieren Menschen vor den Bühnen und in den Discos ihr Gehör, warum gehen sie das Risiko empfindlicher Freiheitsstrafen wegen illegaler Downloads ein? Warum streiten sie sich wegen abweichender Vorlieben, warum bewundern sie Popstars mehr als Nobelpreisträger, warum wissen sie, wenn sie die Plattensammlung ihres Nachbarn gesehen haben, dass sie mit diesem Menschen nichts mehr zu tun haben wollen? Was bietet Musik dem Menschen und wie soll sie beschaffen sein, damit sie die hohen Erwartungen erfüllt?

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I. AUSGANGSPUNKTE Wer Antworten auf solche Fragen sucht, mag mit der Suche in der wissenschaftlichen Disziplin der Musikästhetik beginnen. Doch ein Blick in die Fachzeitschrift Musik & Ästhetik, in das aktuelle Handbuch Musikästhetik (Motte-Haber 2004a) oder in den betreffenden Artikel der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart (Nowak 1997 u. Behne 1997) zeigt, dass die dort beschriebene Gegenwart sich leider nicht mit der Gegenwart der Hörer populärer Musik deckt — und diese Majorität sollte man doch eigentlich nicht unberücksichtigt lassen. Also versuchen wir es einmal bei der sogenannten Popularmusikforschung. Aber auch dort will man nicht weiterhelfen: Ästhetik? Um diese als Ideologie enttarnte elitäre Kunsttheorie aus der Welt zu räumen, die stets das zum wertvollen Werk erklärt, was dem gut situierten Musikwissenschaftler und der sozialen Klasse, aus der er stammt, gerade gefällt und zur Abgrenzung von den vermeintlichen Banausen dient, sei man doch überhaupt erst angetreten! Den Fehler, das objektive (und angeblich objektiv gute) Werk in Form einer Partitur in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses zu stellen und darüber die kulturelle, soziale, mediale, psychologische und körperliche Bedingtheit des Musikhörens zu verleugnen, wolle man im Umgang mit Pop und Rock nicht wiederholen! Überhaupt, so erklärt uns auch der MGG-Artikel, sei die philosophische Ästhetik mit dem Aufkommen der empirischen, an naturwissenschaftlichen Erkenntnisidealen orientierten Einzelwissenschaften stark unter Legitimationsdruck geraten. Die Frage der »spekulativen« Philosophie, was »das Schöne« und die Kunst sei, sei weitgehend von der in Experimenten und mit Fragebögen zu bearbeitenden Frage abgelöst worden, was verschiedenen Menschen und Teilkulturen in verschiedenen Situationen jeweils als schön gelte (auf den Kunstbegriff wird dabei sicherheitshalber verzichtet). Entsprechend hat man den Abschnitt über Werturteile lieber einen ausgewiesenen Musikpsychologen verfassen lassen (vgl. Nowak 1997: 972 u. Behne 1997). Also setzen wir die Suche in Musikpsychologie und -soziologie fort, wobei wir erfahren, dass unsere Musikvorlieben davon abhängen, welche Bildung wir genießen durften, welchen Geschlechts und wie alt wir sind, dass Persönlichkeitsfaktoren wie Neurotizismus, Psychotizismus oder das persönliche Arousal-Bedürfnis bei Präferenzentscheidungen eine wichtige Rolle spielen, dass sich unser Urteil in Abhängigkeit von der momentanen Stimmung ändert und es von Minder- und Mehrheiten in starkem Maße manipuliert werden kann, dass wir uns über unsere Lieblingsmusik gesellschaftlich repräsentieren und abgrenzen, dass also das Urteil auch davon abhängt, wem gegenüber wir es äußern usf. Am Ende bedanken wir uns für die vielen wertvollen Informationen, werden aber das Gefühl nicht los, dass dies nicht

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I.0 EIN ERSTER AUSGANGSPUNKT: ICH alles sein kann, dass wir immer noch nicht wissen, warum wir das Konzert gestern Abend so großartig fanden und warum uns der erste Song auf der neuen Lieblings-CD besser gefällt als der zweite. Pop und Ästhetik: schließen sie sich denn wirklich aus? Die Antwort muss wohl »Ja« lauten — aber nur, solange man einem Ästhetik-Begriff anhängt, den die wissenschaftliche Ästhetik selbst seit circa 20 Jahren überwunden hat — dies erfahren wir auf unserer weiteren Suche von den Philosophen, von denen wir bezüglich unserer Lust an populären Musikformen eigentlich keine Aufklärung erwartet hatten. Das Interesse philosophischer Ästhetik gelte nach aktueller Auffassung ganz allgemein den Möglichkeiten und Gewinnen, die uns eine Wahrnehmungsform bietet, der es um den Vollzug dieser Wahrnehmung selbst gehe (s. Kap. III.0). Da wir der Meinung sind, dass wir Musik durchaus gerne hören, um Musik zu hören, und da dies offenbar die Fragen sind, um die es uns ursprünglich ging, bitten wir darum, uns hier einmal etwas genauer umschauen zu dürfen, denn hier sind wir vermutlich richtig. Doch bevor wir uns in die Gedanken gegenwärtiger Ästhetik vertiefen dürfen, rät man uns dringend, nicht den direkten Weg einzuschlagen, sondern empfiehlt den Gang über zwei Vorräume: »Umwege erhöhen die Ortskenntnis« steht über der Tür des ersten und mit »Erkenne Dich selbst (im Spiegel der Anderen)!« ist der zweite überschrieben. Man wolle uns vor dem Vorwurf beschützen, nicht zu wissen, was die Vorfahren und die Gegner gedacht haben — dazu sei der erste Raum gut (Kap. I.1). Der zweite aber helfe, sich der eigenen Ansichten bewusster zu werden, und bewahre zugleich davor, sie nicht für allgemein verbreitet und einzig wahr zu halten (Kap. II). Wir sollten uns die dortige Ausstellung fremder und vertrauter Sichtweisen genauestens ansehen, denn Antworten, die nur für uns und nicht auch für andere Geltung hätten, seien keine. Wir müssten dort ganz leise sein, den anderen genau zuhören und uns selbst für eine Weile in den Hintergrund stellen. Dann könnten wir uns aus der Distanz besser erkennen und uns zugleich zum Anwalt der Exponate aus Raum II machen. Von ihnen, so werden wir ermuntert, sollten wir als Zeugen reichlich in den dritten, unseren Ziel-Raum (Kap. III) mitnehmen, um für die Lösung der uns bewegenden Rätsel gut gerüstet zu sein und um immer wieder zu überprüfen, ob die eigene Wahrheit auch die der anderen sei. Am Ausgang aber müssten wir die anderen zurücklassen und noch einmal allein in den Spiegel schauen, um uns selbst wieder in den Blick zu nehmen und gewissenhaft zu fragen, ob der Gang durch das Haus der Ästhetik der richtige Weg war. Also los!

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I . 1 E i n z w e i te r A u sg a n g s p u n k t: D e r b l i n d e F l e c k d e r P o p u l ar m u si k f o r sc hu n g Um es noch einmal deutlicher zu fassen: Diese Arbeit versucht den Wert der Musik aus der Perspektive des Individuums zu verstehen. Ziel ist es, nachvollziehen zu können, was Menschen an der von ihnen bevorzugten Musik liegt und worum es ihnen beim Musikhören geht, was Musik ihnen also zu bieten hat. Sie bemüht sich, individuelle Bewertungen von Musik und damit zusammenhängend den Sinn des Musikhörens für den Einzelnen zu verstehen. Das Feld der populären Musik wird dabei nicht nur gewählt, um eine große Forschungslücke zu verkleinern, sondern vor allem, weil jede Musikrezeptionsforschung, die zu verallgemeinerbaren und gesellschaftlich relevanten Ergebnissen gelangen möchte, ihren Ausgang bei der Musik mit der größten Verbreitung nehmen sollte.1 Es ist bekannt, dass Vorlieben, Bedürfnisse und Verständnisformen in nicht unerheblichem Maße sozial bedingt und vermittelt sind, schließlich hat sich die Popularmusikforschung unter dem Einfluss der Cultural Studies, der Adorno'schen Kulturindustrie-These, der Bourdieu'schen Kultursoziologie, der Foucault'schen Diskurstheorie sowie verschiedener kulturhegemonialer Ansätze in der Folge Gramscis vornehmlich dieser gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Ebene gewidmet. Gerade aber weil diese Betrachtungsweise den wissenschaftlichen Blick auf populäre Musik prägt, möchte ich in dieser Arbeit das persönliche ästhetische Erlebnis des Einzelnen, zu dem die Popularmusikforschung bislang keinen Zugang gefunden hat, in den Mittelpunkt stellen.

1

Den Begriff der populären Musik werde ich hier mit Verweis auf Wicke (1997b) nicht näher bestimmen. Eine Definition anhand ästhetischer Merkmale ist zumindest an dieser Stelle nicht zu leisten, ist es doch gerade Teil dieser Arbeit, die Möglichkeiten einer solchen Bestimmung zu untersuchen. Während engere Begriffe wie Schlager, Jazz, HipHop oder Rockmusik vor allem diskurstheoretisch betrachtet werden sollten, also unter dem Gesichtspunkt, welchen sozialen Interessen verschiedene im Alltag kursierende Definitionen folgen, reicht es für die Absicht der vorliegenden Arbeit aus, den umfassenderen Begriff der »populären Musik« operational rein quantitativ als Musik mit der größten gesellschaftlichen Verbreitung zu bestimmen (s. dazu im Detail Abschnitt II.1). Zur Begriffsproblematik s. Kneif (1979: 11-18), v. Schoenebeck (1987: 9-23), Cutler (1991), Lugert (1994), Rösing (1996 u. 2001), Heuger (1998, mit ausführlicher Bibliographie), Shuker (1998: 225-228), Wicke (1992, 1997a, 1997b u. 1998a) sowie Helms (2002: 95-97). Daten zur tatsächlichen Verbreitung verschiedener Musikrichtungen finden sich im Jahreswirtschaftsbericht des Bundesverbands der phonographischen Wirtschaft (2004).

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I. AUSGANGSPUNKTE Konkret werden dazu zwei grundverschiedene Zugangsweisen erprobt: Der Ansatz von Kapitel II besteht darin, eine empirische Wirklichkeit der Pop-Bewertung erstmals systematisch zu dokumentieren und zu analysieren. Eine Stichprobe von rund 1000 Amazon-Kundenrezensionen zu zehn sehr erfolgreichen Alben der letzen Jahre wird inhaltsanalytisch auf zugrunde liegende Kriterien und Ideale untersucht. Einer Anregung Tibor Kneifs (1970: 164) folgend, wird Musikästhetik dort als »Hermeneutik musikalischer Werturteile« verstanden. Begrifflich zu unterscheiden ist dabei zwischen (a) Ästhetik als einem meist unreflektiert bleibenden Geflecht sozial beeinflusster und sich historisch wandelnder Wertvorstellungen, die sich in der individuellen Begegnung mit Musik konkretisieren und manifestieren, und (b) einer nach wissenschaftlichen Kriterien verfahrenden Ästhetik, die selbst keine Werturteile fällt, sondern wertende Aussagen zum Gegenstand hermeneutischer Interpretation macht. Ziel wissenschaftlicher Musikästhetik (im Sinne von (b)) ist Kneifs Vorschlag zufolge das durchdringende Verständnis verschiedener historischer, sozialer oder individueller Ästhetiken (im Sinne von (a)). Kapitel III dagegen versteht Ästhetik aus philosophischer Sicht als Reflexion über eine spezielle menschliche Wahrnehmungs- und Handlungsweise, die sich selbstzweckhaft und vollzugsorientiert auf das sinnliche Erscheinen von Objekten und Situationen der Natur, des Alltags oder der Kunst einlässt. Ziel einer so bestimmten Ästhetik ist das Verständnis der Möglichkeiten und des Wertes dieser Wahrnehmungsform. Bezogen auf populäre Musik soll also untersucht werden, welche Attraktionen diese Musik den verschiedenen Spielarten ästhetischer Aufmerksamkeit bietet und ob gegenwärtige ästhetische Theorie ein tieferes und abstrakteres Verständnis der empirischen Ergebnisse des zweiten Kapitels eröffnet. Zunächst aber möchte ich am Beispiel einiger wichtiger historischer Stationen aufzeigen, warum die Rezeption populärer Musik bislang nicht hinreichend in ihren ästhetischen Dimensionen untersucht worden ist und woran es vielen diesbezüglichen Ansätzen meiner Auffassung nach mangelt.

Pop und Ästhetik: ein problematisches Verhältnis Rezeptionsforschung, darauf hat Peter Ross 1983 in einem grundlegenden Artikel hingewiesen, sollte stets interdisziplinär verfahren. Sie muss, um nicht zu verzerrten Ergebnissen zu gelangen, wahrnehmungs-, sozial- und persönlichkeitspsychologische, soziologische und ästhetische Dimensionen zusammenführen. Diesem Desiderat wurde bezüglich populärer Musik bislang aber keineswegs entsprochen. Während die sozialwissenschaftliche Per-

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG spektive, die sich in der werkzentrierten Historischen Musikwissenschaft erst gegen große Widerstände etablieren musste, in der Popularmusikforschung von Beginn an den Forschungsmainstream bestimmt hat, wurden psychologische und ästhetische Zugänge zur Popmusik und ihrer Rezeption weitgehend ignoriert.2 Zwar beginnt die amerikanische Psychologie seit kurzem, die Rezeption populärer Musik als aufschlussreichen Gegenstand persönlichkeits- und emotionspsychologischer Fragestellungen wahrzunehmen (vgl. bspw. McCown et al. 1997, Gerra et al. 1998, Rentfrow/Gosling 2003, Nater et al. 2005). Doch finden ihre Ergebnisse, die meist nur in psychologischen Fachzeitschriften publiziert werden, in der Popularmusikforschung bislang keine Öffentlichkeit und kein Interesse. Der deutschen, in der Systematischen Musikwissenschaft beheimateten Musikpsychologie geht es ihrem Selbstverständnis entsprechend nicht um konkrete Musikformen und deren jeweils spezifische Rezeptionsweisen, sondern um allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Musikwahrnehmung und -auswahl, der Informationsverarbeitung, der Entwicklung musikalischer Fähigkeiten etc. Auch in Arbeiten zum Musikhören im Alltag, einem Thema, dem in jüngster Zeit großes Interesse entgegengebracht wird, erfahren wir vieles über Funktionalisierungen, aber nichts über ein selbstzweckhaftes sinnliches Interesse an populärer Musik (vgl. North/ Hargreaves 1997, Hargreaves/North 1999, DeNora 2000, Sloboda/O'Neill 2001, Hesmondhalgh 2002, Vorderer/Schramm 2004, North/Hargreaves/Hargreaves 2004). Dabei schließt sich beides nicht aus, sind doch viele Funktionalisierungen ohne eine Aufmerksamkeit für das sinnliche Erscheinen gar nicht möglich. Eine spezielle Musikpsychologie der populären Musik, die Besonderheiten der Rezeption populärer Musikformen bewusst in den Fokus nimmt, die Ergebnisse der Popularmusikforschung zur Kenntnis nimmt und von ihr zur Kenntnis genommen wird, gibt es bislang leider nicht. Zum Teil vielversprechende, aber leider nicht weiterverfolgte Ansätze finden sich allerdings bei Jost (1976), Clemens (1986), Russell (1986 u. 1987), Niketta (1991) und Hafen (1992). Während es innerhalb der Psychologie solche Untersuchungen aber immerhin gibt (wenn sie auch von der Musikforschung ignoriert werden), wird ein ästhetischer Zugang im Feld der Popularmusikforschung weitgehend bewusst abgelehnt. Eine Hauptursache dafür liegt in dem nicht immer ganz unbegründeten Verdacht, Musikästhetik verfahre normativ und wolle end- und allgemeingültige Urteile über Musik treffen, ohne die soziale und historische Bedingtheit der eigenen Position kritisch zu hinterfragen. Viele 2

Überblicke über die Themen und Ergebnisse musiksoziologischer Popforschung bieten u.a. Frith (1978), Longhurst (1995) und Negus (1996).

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I. AUSGANGSPUNKTE Forscher, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit populärer Musik aufgewachsen waren, haben während ihrer Ausbildung die vermeintlich ästhetisch fundierte Ablehnung ihrer Musik zugunsten eines unhinterfragten Kanons klassischer Meisterwerke durch die traditionelle Musikwissenschaft am eigenen Leib zu spüren bekommen. So bezeichnete bspw. Hans Heinrich Eggebrecht als einer der führenden Musikwissenschaftler der 1970er Jahre populäre Musik als funktionale »Unmusik«, die in ästhetischen Kategorien nicht zu fassen sei: »Ästhetische Musik« war für ihn allein »das als funktionslos intendierte Gebilde, […] das musikalische Kunstwerk, die Kunstwerke-Musik« (Eggebrecht 1974: 82f., s. auch Eggebrecht 1973). Ähnlich argumentierten Carl Dahlhaus (1967b: 8ff. u. 1980: 263) sowie Hermann Rauhe (1968).3 Obwohl die Ästhetik bei Alexander Gottlieb Baumgarten und Immanuel Kant noch als allgemeine Wissenschaft der »Urteilskraft«, eines speziellen sinnlichen Verhältnisses zur Welt (und damit vor allem auch des Naturschönen) entworfen wurde, erscheint Ästhetik hier in der idealistischen Tradition Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Theodor W. Adornos als reine Kunsttheorie, die zudem stark normativen, ja dogmatischen Charakter angenommen hat. Gerade von Adornos radikaler Autonomie-Ästhetik (»Soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren läßt, ist es ihre Funktionslosigkeit«, Adorno 1970: 336) und seiner nicht nur ästhetisch, sondern auch psychoanalytisch und politisch begründeten Verachtung der »leichten Musik« waren viele der damaligen Musikwissenschaftler stark beeinflusst. Populäre Musik war bei Adorno ein ästhetisch rückständiges, vollkommen anspruchsloses und affirmatives Werkzeug der »Kulturindustrie« und somit gefährlich für das Ideal einer aufgeklärten, befreiten Gesellschaft (vgl. Adorno 1941, 1955, 1956, 1975 sowie Horkheimer/Adorno 1969). Einige Schlaglichter mögen ausreichen, dies in Erinnerung zu rufen: Die ernste Musik seit Brahms hatte alles, was am Jazz etwa auffällt, längst aus sich heraus hervorgebracht, ohne dabei zu verweilen (Adorno 1955: 148). Regressiv ist aber auch die Rolle, welche die gegenwärtige Massenmusik im psychologischen Haushalt ihrer Opfer spielt. Sie werden nicht nur von Wichtigerem abgezogen, sondern in ihrer neurotischen Dummheit konfirmiert (Adorno 1956: 29). Wer sich von der anwachsenden Respektabilität der Massenkultur dazu verführen läßt, einen Schlager für moderne Kunst zu halten, weil eine Klarinette

3

John Shepherd (2003) beschreibt die Verhältnisse an kanadischen Universitäten in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren analog: In Zeiten großer kultureller Umbrüche habe die Musikwissenschaft dort populäre Musik sowie soziale Aspekte der Musikproduktion, -vermittlung und -rezeption rigoros ausgeklammert.

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG falsche Töne quäkt, und einen mit »dirty notes« versetzten Dreiklang für atonal, hat schon vor der Barbarei kapituliert (Adorno 1955: 154). Der angesprochene Einfluss Adornos auf die Musikwissenschaft der 1960er und 1970er Jahre zeigt sich bspw. eindeutig in dem vernichtenden Urteil, das Konrad Boehmer 1970 über die populären Musikformen fällt: in rein musikalischen Kategorien ist da nicht viel zu untersuchen. Stets hat die populäre Musik aus der ernsten geschöpft, stets hat sie den technischen Kanon der ernsten — und zwar durchaus mit beträchtlicher Verspätung und in überaus simplen Formen — sich angeeignet. Und wenn sie auch im Laufe der Geschichte manchmal zu eigenen Gestalten und Ausdrucksformen fand, so waren diese Formen ihrer Originalität und der Intensität ihres Ausdrucksvermögens nach in nichts denen der authentischen Musik zu vergleichen. Populäre Musik erweckt fast durchweg den Eindruck, als sei sie von denjenigen, denen die ernsthafte Musik bestimmt ist, dem Volke vor die Füße geschleudert, als sei sie ein Brei, aus dem Abfall gebraut, der von der »höheren« Musik übriggeblieben sei, und den Verdammten dieser Erde zum Fraß hingeworfen (Boehmer 1970: 7f.; ähnlich, wenngleich weniger polemisch, auch Dahlhaus 1984: 21-24). Die Einstellung jener Wissenschaftler, die aufgrund ihrer Sozialisation keinerlei persönliche Bezüge zur populären Musik hatten, wird daran deutlich. Doch wie verhielten sich diejenigen Studenten der 1960er und 1970er Jahre, die intellektuell von Adorno (und nicht selten von Karl Marx), kulturell aber von den Beatles und den Rolling Stones geprägt waren? Wie sollten sie, die Minima Moralia und die Dialektik der Aufklärung vielfach begeistert aufgenommen hatten und mit Adorno in der politischen Grundhaltung und der Ablehnung der Kulturindustrie weitgehend übereinstimmten, dies mit ihren eigenen Musikvorlieben und ihrer tiefen Skepsis gegenüber der bürgerlichen Ästhetik des »Establishments« in Einklang bringen? Die Einsicht in dieses Dilemma ist hilfreich, um den weiteren Verlauf der Popularmusikforschung zu verstehen. Es wurden nämlich zwei verschiedene Wege eingeschlagen, welche das Dilemma beide nicht lösen konnten, welche die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit populärer Musik aber nichtsdestotrotz bis heute prägen: So wurde bei der Beschäftigung mit populärer Musik entweder der Aspekt des Populären oder aber der Aspekt des Musikalischen vernachlässigt. Diejenigen, die versuchten, eine künstlerische, an »hochkulturellen« Maßstäben wie Komplexität, Beziehungsreichtum oder Fortschritt des Materials ausgerichtete Qualität populärer Musik musikwissenschaftlich-analytisch nachzuweisen, beschränkten sich zwangsläufig auf avancierte Musiker wie die Beatles, Frank Zappa oder typische Vertreter des Progressive Rock (vgl. bspw. Mellers 1973, Moore 1997 u. 2003, Everett

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I. AUSGANGSPUNKTE 1999 u. 2001, Reising 2002 sowie die Beiträge in Covach/Boone 1997, Everett 2000 u. Middleton 2000). So kommen sie z.B. bei der hermeneutischen Analyse der Beatles-Aufnahme »A Day In The Life« zu hervorragenden Ergebnissen (Geuen/Hiemke 2001), haben aber zugleich keine Möglichkeit, den Reiz einfacherer Stücke wie bspw. »Twist And Shout« zu erklären. Die Popmusik der Charts, die Musik, die den Alltag der Vielen tatsächlich bestimmt, versperrt sich ihren Methoden und Idealen. Sie ist von diesem Zweig der Forschung somit unbeachtet geblieben, so auch in neueren pop-musikwissenschaftlichen Arbeiten, wie denen von Allan F. Moore (2001) oder David Brackett (1995), welcher mit Elvis Costello, Hank Williams, James Brown und Billie Holiday nicht eben den popmusikalischen Mainstream in den Blick nimmt. Der alternative Zugang stellte den musikwissenschaftlich-analytischen Weg und damit Fragen nach künstlerischem Wert und sogar nach ästhetischem Hören unter Ideologieverdacht, klammerte sie also von vornherein aus. Die vom Marxismus ausgehenden Cultural Studies respektierten populäre Musik als alltagskulturelles (später auch politisches) Phänomen und deckten in emanzipatorischer Absicht bis dahin in der Wissenschaft unberücksichtigte Lesarten auf. Eine erneute institutionalisierte Kanonbildung wie in der sogenannten Kunstmusik wollte man in den Cultural Studies und den von ihr von Beginn an geprägten »Popular Music Studies« nach Kräften vermeiden (vgl. Hebdige 1979: Chapter 9, Fiske 1989: Chapter 6, McClary/ Walser 1990: 281, Middleton 1990: 103ff., Brackett 1995: 19f., Frith 1998: Chapter 1, Tagg 1998 u. Moore 2001: 7). Um Adornos pessimistische Anklage zu widerlegen, betonte diese Forschungsrichtung den gesellschaftspolitischen Wert populärer Musik, ihr identitätsstiftendes und mutmaßlich gegenkulturelles, subversives oder demokratisches Potential. Ästhetische Ansätze, so glaubte man, seien mit diesem Interesse nicht vereinbar: Aesthetics is a disciplinary system, an attempt by the bourgeoisie to exert the equivalent control over the cultural economy that it does over the financial. […] Aesthetics is naked cultural hegemony, and popular discrimination properly rejects it. […] one reading cannot be »better« than another if the criteria are ones of social relevance rather than aesthetic quality. The evaluative work of popular criticism becomes social or political, not textual (Fiske 1989: 131). However, insofar as the traditional agenda of aesthetics is tied to appeals to universal consensus that eliminate the possibility of political struggle over discourse, aesthetic approaches per se are incompatible with studies that treat music as socially constituted (McClary/Walser 1990: 281).

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG Deutet man als zentrales Moment bürgerlicher Ästhetik die auf Kant zurückgehende und auch bei Adorno noch als essentiell angesehene Idee der Zweckfreiheit ästhetischer Objekte, so wird verständlich, warum solch eine Ästhetik einer Popularmusikforschung aus dem Geiste der '68er und der politisch ausgerichteten Cultural Studies höchst suspekt sein musste: Zum einen glaubte man nicht an die Rede von Funktionslosigkeit oder interesselosem Wohlgefallen, sondern sah in ihr ein verdecktes Instrument zur Reproduktion gesellschaftlicher Hierarchien. Zum anderen brauchte die Musik ihrer Ansicht nach gar nicht zweckfrei zu sein: Sie sollte dem politischen Kampf dienen, verkrustete Wahrnehmungsmuster aufbrechen, den Unterdrückten kulturelle Freiräume und eine eigene Stimme geben oder dem Körper und der Sexualität Ausdruck verschaffen (in diesem Sinne s. Marcuse 1969: 61, Merton 1968 u. 1970, Salzinger 1972).

Andrew Chester Dass viele Fürsprecher populärer Musik diese entweder nach Maßstäben bewerteten, die aus der ernsten Musik übernommen worden waren, oder aber die ästhetische Ebene zugunsten der politischen aus den Augen verloren, kritisierte zuerst Andrew Chester. In der marxistisch orientierten New Left Review forderte er 1970 im Rahmen einer Buchbesprechung dazu auf, populäre Musik endlich in ihrer ästhetischen Dimension ernst zu nehmen, statt ihre Bedeutung nur mit der gesellschaftlichen Relevanz zu begründen. Vor allem kritisierte er den Zustand der Musikkritik, die aufgrund dieses Zuganges die Musik überhaupt nicht um ihrer selbst willen, als ästhetische Attraktion, sondern nur im Hinblick auf ihre vermutete soziale Wirkung beurteilt habe. Ein Problem sah er bereits in der Benennung der Musik. Als »Pop« würde sie über soziokulturelle, nicht über musikalische Kriterien definiert: Pop denotes a cultural, not an aesthetic object; [...] The acceptance of a cultural definition of the object of criticism leads inevitably to a cultural as opposed to an aesthetic criticism. Musical form and musical practice are studied as an aspect of social relations, and significance is determined by social, not musical, criteria. [...] Pop criticism is not concerned with a musical appreciation of Presley or Holly, Beach Boys or Byrds, Stones or Beatles, Jefferson Airplane or Moby Grape. Of course the pop critics are lavish with pseudoaesthetic judgement. But because their basic premise precludes the possibility based on the specificity of rock as a musical genre, they appraise either on totally extra-musical criteria, or on criteria imported illegitimately from the aesthetics of other musical forms (Chester 1970a: 83).

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I. AUSGANGSPUNKTE Dagegen forderte Chester, die spezifisch ästhetischen Eigenschaften der neuen Musikform zu untersuchen, um herauszufinden, worum es den Musikern eigentlich aus künstlerischer Perspektive gehe (»What, underneath all prevalent mystification, are the artistic projects at work in current musical projects?«, ebd.: 87). Weiterhin verlangte er Aufklärung über die ästhetischen Kriterien, nach denen ihre Hörer diese Musik im Alltag beurteilten (»What specific criteria have been developed in practice to attribute aesthetic value to rock instrumentation, vocal technique, group playing, song writing, and to what extent do these define a coherent aesthetic field?«, ebd.). Doch die Forderung nach einem ästhetischen Zugang fand in der New Left Review, wie zu erwarten war, keine Zustimmung. Richard Merton verfasste einen Kommentar zu Chesters Artikel, der noch in derselben Ausgabe abgedruckt wurde. Darin unterstellt er Chester, die soziale Basis zu vernachlässigen (Merton 1970: 88f.). Besondere Errungenschaften ästhetischer Art traut Merton der Rockmusik nicht zu, stattdessen stellt er noch einmal deutlich die gesellschaftliche Bedeutung der populären Musik aus marxistischer Perspektive heraus: The unique aesthetic significance of rock is not its creation of a musical art of a complexity comparable to Vivaldi or Telemann. This kind of claim it will probably never be able to honour. The true merit and significance of rock lies elsewhere: it is the first aesthetic form in modern history which has asymptotically started to close the gap between those who produce and those who appropriate art. It alone thereby prefigures, amidst its innumerable poverties and confusions, the structure of future art, in a liberated social formation: communism. It is in this deepest sense of all that it deserves to be called a people's [sic] music. With a promise such as this, what need is there to borrow supernumary [sic] credentials for it? The limits of rock can be calmly accepted (ebd.: 96, Herv. i. Orig.). Entsprechend bezeichnete Merton die Rockmusik bereits zwei Jahre zuvor in einer Würdigung der Rolling Stones als »perhaps the only art form which has an authentic expressive vitality in England« (Merton 1968: 117), während er zeitgenössischen Romanen, Filmen und Theaterproduktionen keinerlei Bezug zum tatsächlichen Leben attestierten wollte. Chester versuchte dann in einer Replik auf Mertons Kritik, selbst einige der Fragen zu beantworten, die er für besonders virulent hielt. Das wichtigste Ergebnis seiner Überlegungen ist die These, dass auch die populäre Musik durchaus eine gewisse Komplexität beinhalte, die sich von der Komplexität der »western classical music« allerdings grundlegend unterscheide. Während diese ihre strukturelle Komplexität wie z.B. in Fugen, Sonaten und

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG Sinfonien durch die horizontale und vertikale Architektur verhältnismäßig einfacher Grundbausteine erreiche — Chester bezeichnet dies als »extensionale«, sich quasi durch Ausdehnung ergebende Komplexität —, sei die Komplexität der populären Musik aufgrund ihres afroamerikanischen Erbes primär eine »intensionale«, die durch Binnendifferenzierung, etwa durch interpretatorische Stilmittel der Tonhöhen-, Sound- und (Mikro-)Rhythmengestaltung, entstehe (Chester 1970b: 78f.). Während die »Klassik« Werktreue und klar definierte Instrumentalklangfarben voraussetze, beruhe die Ästhetik der Rockmusik auf den Freiheiten der individuellen Ausgestaltung. Den übergreifenden Wert der Komplexität an sich stellt Chester dabei nicht in Frage. Doch Chesters Forderungen und Vorschläge blieben viele Jahre ungehört. Die ästhetikfernen Cultural Studies dominierten mit wichtigen Veröffentlichungen wie Stuart Halls und Tony Jeffersons Resistance through Rituals (1976), Simon Friths Sociology of Rock (1978) oder Dick Hebdiges Subculture: The Meaning of Style (1979) die britische Popforschung der 1970er Jahre. Dieser Weg hat viel dazu beigetragen zu verstehen, welche Funktionen populäre Musik in verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten erfüllt und wie ihr von den Rezipienten Bedeutung zugeschrieben wird. Die möglichen Funktionen und Bedeutungen aber in Beziehung zum musikalischen Material zu setzen, zu untersuchen, wie Musik diese Funktionen erfüllen kann, warum gerade die gewählte und keine andere Musik funktionalisiert wird — das lag nicht im Interesse der Cultural Studies.

Dörte Hartwich-Wiechell In Deutschland wurde zu Beginn der 1970er Jahre der Druck auf die Musikpädagogik immer größer. Sie konnte die populäre Musik nicht einfach wie die Musikwissenschaft aus ihrem Forschungsgebiet ausschließen, wenn sie die Schüler, die durch ihren alltäglichen Umgang mit populärer Musik das Interesse am Kanon der »Meisterwerke« immer mehr verloren, noch erreichen wollte.4 Zuerst versuchte man, Lehrern Hilfsmittel an die Hand zu geben, mit denen sie ihren Schülern beweisen könnten, wie minderwertig deren Musik sei. So führte Hermann Rauhe (1968) eine Reihe von Argumenten an, anhand derer objektiv bewiesen werden sollte, dass populäre Musik trivial sei. Ähnlich ging Bernhard Binkowski (1962) vor. Auch die Dahlhaus-Schülerin Dörte Hartwich-Wiechell, die 1974 als Erste eine wissenschaftliche Monographie zur Popmusik veröffentlichte, geht vom 4

Über die Entwicklung des Verhältnisses von populärer Musik und Musikpädagogik berichtet ausführlich Terhag (1998).

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I. AUSGANGSPUNKTE Ideal der autonomen Kunstmusik aus, wenngleich sie bemerkt, dass mit Wertungen, die gemessen an diesem Ideal die Minderwertigkeit jedweder Popmusik feststellen, niemandem geholfen sei. So führt sie neben den ästhetischen (womit sie die Dogmatik der »absoluten Musik« im Sinne Dahlhaus' meint) zusätzliche funktionale Wertungskriterien ein, da die zahlreichen strukturellen Analysen, die sie in ihrem Buch erarbeitet, darauf hindeuteten, dass populäre Musik aufgrund ihres »niedrigen kognitiven Verarbeitungsanspruches« und ihres »hohen affektiven Reizniveaus« primär für ein funktionales statt für ein aufmerksames und distanziertes Hören geschaffen sei (Hartwich-Wiechell 1974: 54). Komplexität und Beziehungsreichtum sind für sie die notwendigen Konstituenten aller wertvollen Musik; eine »intensionale« Komplexität im Sinne Chesters bedenkt sie nicht.5 Hartwich-Wiechell bemüht sich sehr, den Schülern und ihrer Musik gerecht zu werden, sieht sich aber als Pädagogin verpflichtet, vor Manipulationen und Funktionalisierungen zu warnen, die dem Hörer schadeten. In erster Linie denkt sie dabei an rauschhaftes, selbstvergessenes Hören ohne rationale Distanz, das sie mit Adorno als »regressiv« bezeichnet (ebd.: 39). So sehr Hartwich-Wiechells Analysen ihr Ziel auch häufig verfehlen, da sie traditionellen Maßstäben der »Kunstmusik« verhaftet bleiben, ist doch bemerkenswert, dass die Autorin die Objekt-Seite des Musikwerkes nicht absolut setzt, sondern durch die Einbeziehung der Funktionalisierungen verstärkt den Rezipienten in den Blick nimmt. So ist sie die erste Musikwissenschaftlerin, die bezüglich populärer Musik nicht nur auf die Unangemessenheit der Werkästhetik hinweist, sondern in einem weiteren Schritt wichtige Fragen nach soziodemografischen Einflüssen, nach den Bedürfnissen der

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Zu einem ähnlichen Ergebnis über den »geringen kognitiven Verarbeitungsanspruch« war Peter Stadlen schon 1962 gekommen. In dem vielversprechend betitelten Aufsatz »The Aesthetics of Popular Music«, der im British Journal of Aesthetics erschien, schlägt er zur Unterscheidung von Pop- und Kunstmusik allen Ernstes vor: »I am all in favour of adopting the principle of listener research; and the method I have in mind is no less objective and reliable for being medical rather than sociological. [...] I suggest taking the listener's encephalogram: for it is a reliable symptom of Light Music that a minimum of brain activity is required for it to be savoured and understood. [...] [In popular music] we have a low incidence of harmonic and rhythmic change, a virtual absence of polyphonic complication, a clear unambiguous division into melody and accompaniment and, consequently, either short pieces or the mere juxtaposition of the potpourri. This is where my encephalogram comes in: an uneventful chart will indicate that the patient is in fact listening to popular music — though we must beware of a source of error: he may be merely listening to Stockhausen, always assuming that he had done without the pre-auditory study of scores, programme notes and theoretical declarations which is where the complexities of avant garde music exclusively reside« (Stadlen 1962: 353-355).

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG Hörer und der Bedeutung der Musik für das alltägliche Leben stellt (ebd.: 44ff.). Diese Funktionen der Musik sind für sie aber rein psychische oder soziale; Ästhetisches bleibt für Hartwich-Wiechell etwas absolut Funktionsloses, das seinen Wert ausschließlich in sich selbst hat. Auch sieht sie nicht, dass psychische und soziale Funktionen in vielen Fällen erst über die Aufmerksamkeit für die ästhetische Dimension zur Wirkung kommen, worauf z.B. Peter Faltin (1977) hinweist.6

Dieter Baacke Wie sehr der Blick der Musikwissenschaftler und Musikpädagogen auf die populäre Musik durch ihre Ausbildung und die verinnerlichten Normen regelrecht verstellt war, wird besonders deutlich, wenn man deren Ergebnisse mit denen des Pädagogen Dieter Baacke vergleicht. Baacke hatte schon 1968 eine Studie zur Bedeutung des Beat für die Jugendlichen veröffentlicht, in der er Adornos Befürchtungen zurückweist und die populäre Musik nicht wie später Hartwich-Wiechell als gefährdend, sondern im Gegenteil als wertvollen Beitrag für die »Entfaltung der Identität« sowie für die ethische und ästhetische Erziehung der Teenager ansieht (vgl. Baacke 1968: 211 u. 215). Diesen Wert erhalte der Beat u.a. durch seinen Kunstcharakter, den der Autor durch den Verweis auf die Authentizität und Individualität des Ausdrucks sowie auf avantgardistische Verfahren wie Collage und elektroakustische Klangexperimente zu belegen versucht (ebd.: 221ff.). In der Popmusik wie auch in damaligen Entwicklungen der kunstmusikalischen Avantgarde und der Pop-Art sieht Baacke ein »ganz neue[s] Kunstverständnis«, das einen veränderten Blick auf die Welt erlaube, während bisherige Kunstformen zum »Klischee« verkommen seien: Die Beat- und Pop-Kunst hat keinen Werkcharakter, ist kein ehrfürchtig zu bestaunendes Monument einsamer Schöpferlaune; vielmehr ist sie Experiment, Spiel mit den Möglichkeiten, gestaltende Improvisation, vergänglich wie der Augenblick, in dem sie geschieht. Nur Wachheit der Sinne kann sie vorübergehend wahrnehmen, festhalten, vielleicht aufbewahren (ebd.: 226f.) 6

»Die ästhetische Funktion nämlich kommt nicht nur der sogenannten Kunstmusik zu, sondern jeder Art von Musik, somit also auch der ›funktionalen‹, der Pop- oder politisch engagierten Musik. Sie löst sich in der sozialen, politischen oder Gebrauchsfunktion so lange nicht völlig auf, als auch diese Funktion von Artefakten getragen wird, die noch als Musik zu identifizieren sind. Auch wenn man aus dem Ausdruck ›Kunstmusik‹ die ›Kunst‹ streicht, bleibt die ›Musik‹ übrig, die als solche immer und vor allem ästhetisch wirksam ist, auch wenn sie unter Umständen (z.B. in Verbindung mit einem Text) eine andere Funktion zu erfüllen vermag. Sie erfüllt sie jedoch als ein ästhetisches Phänomen« (Faltin 1977: 101).

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I. AUSGANGSPUNKTE Damit misst Baacke populäre Musik nicht mehr wie Hartwich-Wiechell und Merton an hochkultureller Kunst, sondern sieht sie im Verbund mit anderen Avantgarden als deren legitimen Nachfolger. Neben den ästhetischen Qualitäten lobt er diese neue Kunst (wie Merton) auch aus gesellschaftspolitischer Perspektive: »Kunst ist nicht mehr einmalig und für wenige; sie wird zur allgemeinen Erfahrung« (ebd.: 227). Adornos Verdikt über populäre Musik sei damit abgewehrt, denn »gerade das Verbrauchte, Alltägliche wird hier zum Gegenstand von neuer Erfahrung, fordert eine ursprüngliche Aufmerksamkeit für das, was wir scheinbar schon immer wußten« (ebd.): Adornos Vorwurf gegenüber Jazz und Beat, sie überschritten »den Umkreis des Festgelegten« in keiner Weise, gilt höchstens für das, was man eben »musikalische Substanz« nennt. Tatsächlich bleibt der Beat […] innerhalb der traditionellen Tonalität und Harmonik. Dennoch bietet er eine Weiterentwicklung, indem die »Verpackung« des musikalischen Materials und seine spontane Darbietung hier zu den entscheidenden Bewußtseinsmaßstäben werden. Beat ist sinnlich, insofern er die technischen Medien benützt, in denen er erst wirklich wird. Er ist nicht reduzierbar auf einen »inneren musikalischen Gehalt« (ebd.: 66). Daneben benennt er mit »feeling« und »Atmosphäre«, »drive«, »show« und »involvement« (ebd.: 67-73) wesentliche ästhetische Merkmale, deren Bedeutung die Musikwissenschaft erst Jahre später akzeptierte. Baacke gelingt es als Erstem, sich von der Werkästhetik und den mit ihr verbunden Werten sowie vom übermächtigen Adorno-Einfluss zu befreien, ohne die gesellschaftspolitische Bedeutung der Musik aus den Augen zu verlieren. Problematisch und zu optimistisch ist seine Argumentation allerdings, wenn er die beschriebenen positiven Auswirkungen aller Popmusik zuschreibt, obwohl er zuvor selbst eingesteht, dass der Beat nur »in seinen reflektiertesten Vertretern die Chance erhielt, artifiziell zu sein«. Seine Ausführungen sind daher, zumal sie an dieser entscheidenden Stelle der Empirie entbehren, nur als spekulative Utopie einer Verschmelzung von Kunst und Pop zu lesen.

Tibor Kneif Im Bereich der Musikwissenschaft erlangte die Auseinandersetzung mit der ästhetischen Dimension populärer Musik in den zahlreichen Arbeiten Tibor Kneifs ein neues Niveau. Nachdem der Musiksoziologe und -historiker 1974 in Berlin die erste musikwissenschaftliche Lehrveranstaltung zur populären Musik abgehalten hatte, bezeichnet er Rock — die Popmusik der Charts verachtet er — 1975 als »eigene Kunst«, die zwar »Elemente aus einer überholten Phase der sogenannten höheren Kunstmusik« verwende, zugleich aber

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG die »Avantgarde in mancher anderer Hinsicht an Modernität« übertreffe (Kneif 1975: 20). Einen als Grundlegung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Rockmusik gedachten Aufsatz schließt er mit der Forderung: »zunächst gilt es, technologische Vermitteltheit wie ästhetische Eigenart der Rockmusik ohne falsche Rücksicht auf bisherige Fachkonventionen zu erkennen« (ebd.: 24). Hatte er sich zuvor in seinen auf die »Kunstmusik« bezogenen »Ideen zu einer dualistischen Musikästhetik« (1970) für die zentrale Bedeutung einer vom Werk fast abgelösten Rezeptionsästhetik eingesetzt und in seiner »Anleitung zum Nichtverstehen eines Klangobjekts« (1973) den ästhetischen Wert des sinnlichen Hörens und des »staunenden Hinhorchens« gegenüber einem verstehenden Zugang betont, überrascht es nicht, dass ihn am Rock das Vitale, Leibliche, Sinnliche und die Lust am »Identitätsverlust« (Kneif 1975: 25) reizt, wohingegen ihm die »abstrakte, formbezogene Schicht der Komposition häufig austauschbar« (Kneif 1978: 17) erscheint. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Trivialitätsvorwurf (Kneif 1976) nimmt er sich in den Veröffentlichungen von 1977 und 1978 explizit ästhetischer Fragen an. Dabei versucht er in erster Linie, so wie er es 1971 der wissenschaftlichen Musikästhetik generell empfohlen hatte, die Grundlagen von Werturteilen aufzudecken, obwohl verbindliche Werte im Rockbereich nicht zu erkennen seien: Im Lager der Rockhörer herrscht ein Zustand, den man überspitzt und ohne negativen Nebensinn ästhetische Anarchie nennen könnte. Normen der Beurteilung gibt es selbst im Ansatz nicht, und angesichts der durchgehenden Toleranz, die den Rockbereich gegenüber dem zu Dogmatismus neigenden Bildungshörern [sic] kennzeichnet, erscheint es zweifelhaft, ob sich an dieser Gegebenheit etwas ändern könnte oder sollte (Kneif 1977: 103). Das hält ihn nicht davon ab, in der vermeintlichen Anarchie einige Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Zunächst geht er von der soziologischen Unterscheidung von »Alternativ-« und »Primärhörern« (ebd. 104ff.) aus. Erstere stammten (wie er selbst) aus dem Bildungsbürgertum, und übertrügen ihre Wertungsmaßstäbe unbewusst aus dem Bereich der »Bildungsmusik« auf die Rockmusik. Dementsprechend favorisierten sie in der Musik Originalität, Fortschritt, Komplexität, »Durchkomponiertheit«, einen »abgerundeten Werkcharakter« u. dgl. mehr. Der Primärhörer dagegen höre ausschließlich Rock, da er der »Bildungssphäre« distanziert gegenüberstehe und zur »Bildungsmusik« keinen Zugang habe. Ihm gehe es in der Musik weniger um ästhetische Qualitäten (wobei Kneif wohl die vermeintlich musikimmanenten Werte der Moderne meint) als um scheinbar Außermusikalisches wie Ehrlichkeit und Authentizität (verstanden als Distanz des Musikers gegen-

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I. AUSGANGSPUNKTE über der Vermarktung), politische und moralische Aussagen sowie den Stimmungscharakter. Distanziertes, analysierendes Hören liege dem Primärhörer fern. 1978 nennt er (nun ohne soziologische Differenzierung) als weitere Kriterien der Bewertung die erotische Ausstrahlung der Musizierenden und die Eignung einer Musik zur »Betätigung motorischer Reflexe durch Stampfen, Händeklatschen und Tanzbewegungen« (Kneif 1978: 16). Zudem bringt er dort erstmals die philosophische Ästhetik-Tradition ins Spiel, um aufzuzeigen, dass die herrschende »dogmatische« Musikästhetik mit ihrem zentralen Wert der »kompositorischen Arbeit« eine historisch zu sehende Verengung des Ästhetik-Begriffes darstellt. Statt solch einer Ästhetik der Arbeit erkennt er in der Rockmusik eine dem Baumgarten'schen ÄsthetikKonzept seiner Auffassung nach eher entsprechende Ästhetik der (Klang-) Sinnlichkeit. Nach dem Pädagogen Baacke ist Kneif somit der erste deutsche Musikwissenschaftler, der die Relativität der vorherrschenden KunstmusikÄsthetik aufdeckt. Leider führt er diesen Gedanken aber nicht konsequent durch. In allen nachfolgenden Texten bleibt der Begriff des Ästhetischen streng vom Funktionalen getrennt, ohne die ästhetische Grundlage möglicher psychischer oder sozialer Funktionalisierungen ernst zu nehmen. Wie Hartwich-Wiechell sympathisiert Kneif nur mit jenen Spielformen der Rockmusik, die kunstmusikalischen Ansprüchen genügen. Die kommerziell erfolgreiche Popmusik ignoriert er in all seinen Schriften, wenn er sie nicht übel beschimpft. So sieht er bei Plattenfirmen und Musikern 1978 einen Anteil von 90% wirtschaftlicher und nur 10% künstlerischer Interessen, vier Jahre später erschöpften sich dann »etwa 95 Prozent der Rockmusik […] in klanglichen Gemeinplätzen, die keinen ästhetischen Informationswert besitzen« (Kneif 1982: 46): »Was in einem Musikstück den künstlerischen Rang ausmacht, mutet demnach wie ein Zufallsprodukt an, welches freilich in dem Maße zugleich kalkuliert ist, als man von ihm Absetzbarkeit auf dem Markt erwartet« (Kneif 1978: 16). Um welche kalkulierten ästhetischen Effekte es dabei gehe und inwiefern diese sich von einer »höherwertigen« ästhetischen Ebene unterschieden, erklärt er leider nicht. Der sinnliche, körperliche, leicht anarchische Reiz der Rockmusik, von dem sich Kneif anfangs anziehen ließ, ist 1982 einer tiefen Verachtung für die Musik und ihre Hörer gewichen, die sich so nicht einmal Dahlhaus zu formulieren erlaubt hätte: Eine Musik aber, die man nach wenigen Takten durchschaut und deren Fortsetzung man sogar mit einiger Bestimmtheit voraussagen kann, wirkt ganz besonders aufdringlich, wenn sie in ihrer Bedeutungslosigkeit nicht sogleich verstummt, sondern vielmehr ihre Plattheiten weiter mit großer Selbstsicherheit ausposaunt. Solche Musik wird dadurch erst überhaupt erträglich, daß

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG man ihr gar nicht richtig zuhört, sondern sie als eine unvermeidliche akustische Kulisse bloß im Unterbewusstsein registriert. […] Solche Musik und der »zerstreute Hörer« sind wie füreinander geschaffen. Die substanzlose Musik verdient ihren Hörer, der sie als Musik gar nicht wirklich ernst nimmt, und umgekehrt verdient der zerstreute Hörer gar nichts anderes als ein solches Plätschern, das ihm unaufhörlich und ohne Qualitätsabstufungen in die Ohren dringt. […] Daß die Umwelt bei uns vor allem durch Rockmusik verseucht wird und nicht etwa durch klassische, romantische und moderne Werke, hat seine Erklärung im Wesenszug der Rockmusik selbst, die mit dem genannten Prozentsatz schlicht Zivilisationsabfall und tönender Schund ist, den man nicht anders auf öffentlichen Plätzen und in Verkehrsmitteln ausstreut als leere Papiertüten und Zigarettenschachteln (Kneif 1982: 46). Auffällig ist dabei nicht nur, wie sehr er von seiner früheren Bewertung der Rockmusik abweicht, sondern auch, dass er hier sämtliche Prinzipien seines Entwurfs einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Musikästhetik verletzt, der zufolge der Wissenschaftler keine Werturteile treffen sollte, da die Gültigkeit ästhetischer Wertkriterien nicht nachweisbar sei (Kneif 1971). Davon abgesehen besteht Kneifs Methode aus Introspektion und nicht-systematisierter Beobachtung. Er verpasst, seine ästhetischen und soziologischen Behauptungen empirisch abzusichern.

Weitere Entwicklungen Seit den Arbeiten Kneifs hat sich die universitäre Musikwissenschaft zumindest in Deutschland kaum weitergehend auf die populäre Musik eingelassen. Zwar gibt es an einigen (bei weitem nicht an allen) Instituten regelmäßig Seminare zur populären Musik, auch haben sich sowohl national wie auch international einschlägige Verbände etabliert. Es gibt eigene Zeitschriften, Veröffentlichungsreihen, Tagungen, Dissertationen etc., doch ist dabei eine strikte personale Trennung von traditioneller Musikwissenschaft und einer interdisziplinär orientierten Popularmusikforschung zu beobachten.7 Nur sehr wenigen Wissenschaftlern ist es gelungen, sich sowohl in der histori7

So befassen sich beispielsweise im Wintersemester 2003/2004 weniger als drei Prozent der gut 1000 an die Musikforschung gemeldeten Veranstaltungen in der BRD wissenschaftlich-theoretisch mit Pop- oder Rockmusik. Der Anteil Pop-relevanter Artikel im zehnten Band der neuen MGG (Personenteil) beträgt 0,5%, weitere 0,5% befassen sich mit Jazz-Musikern. In der Musikforschung ist bislang exakt ein Aufsatz zum Thema erschienen, genau einer auch in der Zeitschrift Musik & Ästhetik (Stand Sommer 2003). Popularmusikforschung ist nur an sehr wenigen Hochschulen verankert, die Anzahl der bundesdeutschen Universitäten mit mehr als zwei theoretischen Pop-Veranstaltungen pro Semester betrug im oben genannten Semester: zwei.

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I. AUSGANGSPUNKTE schen oder systematischen als auch in der popularmusikalischen Forschung zu profilieren. Das hat zur Folge, dass Popularmusikforscher nur selten über die Tradition der Musikästhetik und der philosophischen Ästhetik informiert sind und fast nie die Vielfalt der in der Systematischen Musikwissenschaft erarbeiteten empirischen Methoden anwenden (s. dazu Riggenbach 2002). In der soziologisch geprägten Popularmusikforschung aber steht man ästhetische Fragen aus den oben ausgeführten Gründen bis heute skeptisch gegenüber. In den Beiträgen zur Popularmusikforschung, der seit 1986 bestehenden Veröffentlichungsreihe des Arbeitskreises Studium Populäre Musik (ASPM), werden sie ebenso selten gestellt wie in dem international besetzten Journal Popular Music (seit 1981) oder dem US-amerikanischen Pendant mit dem bezeichnenden Titel Popular Music and Society. Symptomatisch dafür ist auch die erste, von Simon Frith und Andrew Goodwin zusammengestellte Anthologie On Record (1990), mit der zentrale Texte der PopForschung einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. In ihrer Einleitung heißt es: »One purpose of On Record is to show that popular music studies require an interdisciplinary approach — in the end, sociological, political and semiotic arguments cannot be disentangled from one another« (Frith/Goodwin 1990: xi). Musikästhetik oder philosophische Ästhetik werden offensichtlich nicht als relevant angesehen. Mit Wertfragen will man sich aus ideologischen Gründen nicht befassen, wie Frith und der israelische Soziologe Motti Regev auch in den 1990er Jahren noch feststellen müssen, wobei sie die dargestellten Ursachen noch einmal zusammenfassen: the aesthetics of popular culture continues to be at best neglected and at worst dismissed. One obvious reason for neglect is that cultural studies emerged from disciplines in which questions of taste and judgement were already kept well away from issues of academic analysis and assessment. Sociologists, anthropologists, and social and cultural historians have always been wary of proclaiming the activities they study as good or bad (Frith 1996: 11). The avoidance of the musical value is understandable. Popular music studies emerged to a large extent as a response to and as a critique of traditional musicology and its apparatus of analysis. The argument was that underneath the scientific pretension of objective analysis of musical texts, musicology in fact activates sophisticated instruments of evaluation and judgement. As such, traditional musicology was conceived by the emerging popular music studies as basically an ideological apparatus (Regev 1992: Abs. 3). Dabei unterliegen beide wieder dem zu engen Verständnis von Ästhetik: Niemand verlangt von ihnen, dass sie eigene Werturteile über einzelne Stücke oder gleich über den gesamten Bereich populärer Musik wissenschaftlich begründen. Es wäre dagegen schon viel gewonnen, wenn einmal versucht

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG würde, wertende Handlungen der Musikhörer nachzuvollziehen und de facto angewandte Kriterien zu systematisieren (was Kneif versucht hatte), ohne dabei selbst zu urteilen (was Kneif gründlich misslungen ist). Denn ob es den Forschern in ihre Ideologie passt oder nicht: Ohne Erkenntnisse über die Grundlagen der Wertungen, die jeder Musikhörer beim CD-Kauf, beim Einschalten des Radios und in der alltäglichen Musikauswahl trifft, kann keine Musikrezeptionsforschung ihrem Gegenstand gerecht werden. Dies ist auch Regev (ebd.: Abs. 4) bewusst, wenn er schreibt: »the research strategy which avoids dealing with the issue of musical value leaves a crucial component of the field of popular music unexplained.« Er selbst zieht daraus die Konsequenz, Kanonbildungen im Bereich der populären Musik zu erforschen (Regev 1992 u. 1994), dies allerdings wiederum ausschließlich mit Mitteln der Soziologie, speziell der Diskursanalyse: the question is not what is there in the music of the Beatles, the Rolling Stones, Bob Dylan and Jimi Hendrix that makes it great, but how did those who believe in the greatness of this music succeed in turning their belief into an objective reality, into an accepted truth (Regev 1992: Abs. 10; ein ähnliches Vorgehen findet sich bereits bei Kealy 1982). Dies ist selbstverständlich eine wichtige Fragestellung, doch bleibt wunderlich, warum man sich nach Kräften weigert, auch einmal zu untersuchen, was den Menschen an ihrer Musik eigentlich gefällt, bevor sie ausziehen, alle Welt von ihrem Geschmack zu überzeugen. Mit soziologischen Ansätzen allein ist diese Frage nicht erschöpfend zu beantworten (vgl. v.Appen/ Doehring 2006).

Peter Wicke und Simon Frith Diesen blinden Fleck der Cultural Studies-orientierten Popularmusikforschung hatten Peter Wicke und Simon Frith, beides Vertreter eines solchen sozial- und kulturwissenschaftlichen Zugangs zur Musik, bereits Mitte der 1980er Jahre erkannt. So stellte Wicke (1985b: 236f.) am Ende eines Überblicks über das Schrifttum der Popularmusikforschung fest: »Nicht zufällig hat sich nicht eine der vorliegenden Arbeiten der Ästhetik der populären Musikformen zu nähern versucht. Die Kriterien, nach denen musikalisches Material hier strukturiert ist, liegen so nach wie vor im Dunkeln.« Als marxistisch geprägter Musikwissenschaftler der DDR, der seine Aufgabe darin sah, nicht nur die »hohe Kunst«, sondern auch und vor allem die ästhetischen Erfahrungen der Arbeiterklasse ernst zu nehmen und zum Thema der Musikwissenschaft zu machen (vgl. Wicke in Wicke/Schneider 1986), erhob

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I. AUSGANGSPUNKTE Wicke daraus die Forderung, es bedürfe »einer dialektischen und materialistischen Analyse der kulturellen und ästhetischen Werte«, die sich in der populären Musikpraxis manifestierten (Wicke 1985b: 237). Ästhetik hat bei Wicke keinerlei philosophischen oder speziell kunsttheoretischen Bezug, sondern er bezeichnet mit dem Begriff einen »übergreifende[n] Modus von Gestaltung« (Wicke 1985a: 277). Wenn er wie in den Arbeiten von 1982, 1985a und 1987a Ästhetik betreibt, so geht es ihm dabei (wie vor ihm Jerrentrup 1981) um allgemeine Tendenzen der Musikproduktion in ihrem historischen Wandel. Hinter der Musik der Beat-Ära sieht er bspw. eine »Ästhetik der Sinnlichkeit«, die Musik der 1980er Jahre deutet er als von einer »Ästhetik des Synthetischen« geprägt (Wicke 1987a). Damit gelingt es Wicke durch die Kombination musik- und kulturwissenschaftlicher Ansätze als Erstem, aus der Analyse der Musik und aus Dokumenten ihrer Rezeption überzeugende Rückschlüsse auf zugrunde liegende Gestaltungsprinzipien zu ziehen, ohne dabei selbst zu werten. Was jedoch den Hörern an den jeweiligen Ästhetiken liegt, was den speziellen Reiz der jeweiligen Musiken als Objekt der sinnlichen, vollzugsorientierten und selbstzweckhaften Wahrnehmung ausmacht, das untersucht auch Wicke nicht. Denn populäre Musik bleibt für ihn »zweifellos eher ein soziales Ereignis denn ein ästhetisches Objekt kontemplativer Aneignung« (Wicke 1987b: 127). Simon Frith, der 1978 eine grundlegende soziologische Studie zur Rockmusik verfasst hatte, erkannte 1987, dass die vorherrschende Betrachtung »ernster« Musik als ästhetisches Objekt und populärer Musik als soziales Phänomen überwunden werden müsse, und forderte zur Abwechslung einen entgegengesetzten Zugang: »In analyzing serious music, we have to uncover the social forces concealed in the talk of ›transcendent‹ values; in analyzing pop, we have to take seriously the values scoffed in the talk of social functions« (Frith 1987a: 133). Dementsprechend begann er sich in den 1980er und 1990er Jahren zunehmend für die Frage zu interessieren, wie Werturteile nicht nur soziologisch, sondern auch aus der ästhetischen Erfahrung des Einzelnen begründet werden können (vgl. die Aufsätze von 1987, 1988, 1990 und 1999 sowie die 1996 erschienene Monographie Performing Rites. On the Value of Popular Music, in der die Resultate der zuvor publizierten Arbeiten zusammengefasst und weitergeführt werden). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass Frith nicht nur als Soziologe, sondern auch als Rockkritiker anerkannt ist. Frith stellt dabei Fragen, die auch das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit leiten: »how do we make musical value judgments? How do such value judgments articulate the listening experiences involved?« und »Even if pop tastes are the effects of social conditioning and commercial manipulation,

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG people still explain them to themselves in terms of value judgment. Where, in pop and rock, do these values come from? When people explain their tastes, what terms to they use?« (Frith 1987a: 134 u. 135). Obwohl er dieses Interesse als eines an der Ästhetik populärer Musik bezeichnet, findet Frith seine Antworten nicht im Anschluss an die philosophische Ästhetik, sondern doch wieder über den Weg der Soziologie. Er glaubt nämlich, die Anziehungskraft der Musik, ihren ästhetischen Wert, auf soziale Funktionen zurückführen zu können. Im Einzelnen sind dies die Funktionen der Schaffung sozialer Identifikation, der angemessenen »Versprachlichung« und Bewältigung (»management«) von Emotionen sowie der »Organisation der Zeit«, womit er zum einen die Erfahrung einer intensivierten Gegenwart, zum anderen die besondere Eignung der Musik zur Vergegenwärtigung vergangener Erlebnisse meint (ebd.: 140-144). Damit spricht er (wenn auch nur knapp) bereits einige wesentliche Momente der Pop-Rezeption an, die auch Gegenstand des philosophischen Zugangs in Kapitel III sein werden. Friths Annahme, man könne ästhetische Wertungen auf die Beurteilung der Erfüllung sozialer Funktionen reduzieren, halte ich jedoch aus dreierlei Gründen für falsch: Erstens erfasst er mit dieser Argumentation nur einen Teil des in Kapitel II und III beschriebenen Werts der Musik. Das häufig künstlerischer Musik zugeschriebene Potential, unsere Sichtweise der Welt zu verändern, bleibt in den aufgezählten Funktionen bspw. unerwähnt. Zum Zweiten ist nicht einsichtig, warum die genannten Funktionen soziale sein sollen. Gerade der verbesserte Umgang mit Gefühlen scheint mir klarerweise einen psychologischen Nutzen zu bezeichnen, auch die Intensivierung des Präsenzerlebens halte ich nicht für ein Phänomen, welches primär die Soziologie betrifft. Drittens verkennt auch Friths Ansatz, dass soziale bzw. psychische und ästhetische Funktionen einander nicht ausschließen. Wie zuvor erwähnt, können Erstere häufig nur durch gelingende ästhetische, also zunächst einmal selbstzweckhafte Wahrnehmung erreicht werden (vgl. das Faltin-Zitat auf S. 25 dieser Arbeit). Nichtsdestotrotz hat Frith mit seinen Texten versucht, den Cultural Studies die Augen für ästhetische Fragen zu öffnen, und er hat die Popularmusikforschung um zahlreiche wertvolle Erkenntnisse zur Rezeption populärer Musik bereichert. Insbesondere gilt das meiner Ansicht nach für den Aufsatz »Art Ideology and Pop Practice« (1988) und das gemeinsam mit Howard Horne verfasste Buch Art into Pop (1987), in dem der Einfluss britischer Kunsthochschulen, der »Art Schools«, auf die Produktionsästhetik britischer Musiker sozialgeschichtlich nachgewiesen wird. In beiden Arbeiten gelingt es Frith ähnlich wie zeitgleich Wicke, ästhetische Leittendenzen (im Sinne von dominanten künstlerischen Wertgeflechten) verschiedener historischer Pha-

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I. AUSGANGSPUNKTE sen der populären Musik aufzudecken. Frith beschreibt dort als Erster die in den 1960er und 70er Jahren dominierenden Ideale der Rockmusik als eine im Kern romantischen Kunstvorstellungen entsprechende Ästhetik, während er in der Ästhetik des Punk, der New Wave und der Popmusik der 1980er Jahre einen Paradigmenwechsel zu postmodernen Kunstvorstellungen erkennt, die einem gänzlich konträren Authentizitätsideal folgen.

Außereuropäische Beiträge zur Ästhetik populärer Musik Die Popularmusikforschung der USA war lange Zeit von ethnologischen und soziologischen Ansätzen geprägt, welche Wertfragen und philosophische Zugänge bewusst ausgeschlossen haben (siehe bspw. Riesman 1950, Becker 1963, Lomax 1964 u. 1968, Keil 1966, Hirsch 1972, Blacking 1973, Peterson 1976, Shepherd et al. 1977, Chapple/Garofalo 1977). In den 1980er und 1990er Jahren gewannen zudem auch dort die Cultural Studies großen Einfluss. Ihnen ging es in den USA insbesondere um den Kampf für einen kulturellen Pluralismus, um die Kritik am dominanten »weißen«, männlichen, heterosexuellen Blick auf Kunst und Kultur, speziell um die Anerkennung der Kulturen ethnischer Minderheiten sowie um Kulturen Homosexueller. Unter dem Einfluss dieser neuen Forschungsrichtungen und der damit in Zusammenhang stehenden Critical oder New Musicology, die die elitäre und hegemoniale Ideologie des eigenen Faches kritisierte, öffnete sich die bis dahin stark von historischen Forschungsinteressen geprägte Musikwissenschaft erst in den 1990er Jahren allgemeineren kulturwissenschaftlichen Ansätzen und damit Musiken, die nicht in der Tradition der »großen Meister« stehen (siehe bspw. Shepherd 1991, McClary 1991, Walser 1993, Whiteley 1997). Abgesehen von Donald C. Meyers (1995) Aufsatz, der bezogen auf die bislang referierten Positionen nichts Neues bringt, finden sich in der USamerikanischen Musikwissenschaft keine Beiträge zur Ästhetik populärer Musik: That there is a particular aesthetic of rock is doubtlessly true, although what exactly it constitutes has eluded our grasp for some 25 years. […] In scholarly circles, rock theorizing has mostly fallen to sociologists and those studying popular culture in general (for example John Shepherd and Peter Wicke). Whether music scholars have avoided rock due to disinterest or inability is not clear, but the result is a general lack of informed discussion of rock as music (Meyer 1995: 2). Dagegen waren es anders als in Europa vor allem Philosophen, die sich im Kontext pragmatischer und analytischer Ästhetik mit populärer Musik auseinandergesetzt haben. Der Erste unter ihnen war Richard Shusterman, der

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG sich 1991 in dem Aufsatz »Form and Funk: The Aesthetic Challenge of Popular Art« und 1992 in der Monographie Pragmatist Aesthetics: Living Beauty, Rethinking Art bemüht, die Ästhetik am Beispiel von Funk und HipHop für die populären Künste der Massenmedienkultur zu öffnen, um die ideologische Beschränkung auf das, was er John Dewey folgend »elitistische« und unterdrückende »Museumskunst« nennt, zu überwinden (Shusterman 1994: 68). Ziel seiner Analysen ist nachzuweisen, dass auch »populäre Kunstwerke tatsächlich genau die ästhetischen Werte besitzen, die ihre Kritiker ausschließlich der hohen Kunst vorbehalten« (ebd.: 155). Genau wie deutsche und britische Wissenschaftler zwanzig Jahre zuvor, lässt er, um sich wie sie von Adornos Ästhetik zu emanzipieren, einigen wenigen populären Werken die hohe Würde der Kunst zukommen, weil sich an ihnen ebenfalls »Einheit und Komplexität, Intertextualität und offen-strukturierte Polysemie, Experimentieren und deutliche Aufmerksamkeit auf das Medium« entdecken ließen (ebd.). Zudem lobt er wie zuvor Kneif die spezielle Sinnlichkeit und Leiblichkeit des Pop (ebd.: 131). Die Musik der Pop-Charts bleibt aber wiederum unbeachtet: Wenn ich die populäre Kunst gegen sie [die ästhetischen Vorwürfe ihrer Kritiker, RvA] verteidige, dann versuche ich nicht, sie vollständig ästhetisch reinzuwaschen. Ich gebe zu, daß die Produkte der populären Kunst oft ästhetisch erbärmlich und bedauernswert wenig ansprechend sind, genauso, wie ich anerkenne, daß ihre sozialen Auswirkungen sehr schädlich sein können, besonders, wenn sie in einer passiven, alles hinnehmenden Weise konsumiert werden. Was ich allerdings bestreiten werde, sind die philosophischen Argumente, die darauf hinauslaufen, daß die populäre Kunst immer und notwendig ein ästhetischer Fehlschlag, ihrem inneren Wesen nach minderwertig und unangemessen ist (ebd.: 120). Da er aber von Deweys Begriff der ästhetischen Erfahrung ausgeht, sieht er das Hören populärer Musik in erster Linie als ästhetische Praxis an. Shusterman verurteilt und lobt populäre Musik auf der Basis genuin ästhetischer Werte, er sieht sie nicht, wie in der europäischen Debatte lange üblich, als primär funktionales und soziologisches Phänomen. Während Shusterman Popmusik an den Werten der »hohen« Kunst messen wollte, entfachte sich im amerikanischen Journal of Aesthetics and Art Criticism zwischen den Jahren 1993 und 1999 eine Diskussion darüber, ob diese Musik nicht ganz eigenen Idealen folge. Diese Position nahm jedenfalls der kanadische Philosoph Bruce Baugh in einem »Prolegomena to Any Aesthetics of Rock Music« betitelten Aufsatz ein, mit dem die Debatte eröffnet wurde. Wer Rockmusik verstehen wolle, der müsse ihr eigenes System ästhetischer Werte kennen, so Baugh, der sich anschließend in Unkenntnis

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I. AUSGANGSPUNKTE jeglicher relevanter Literatur daran macht, diese Werte annäherungsweise zu bestimmen. Grob pauschalisierend kommt er zu dem fragwürdigen Ergebnis, dass es im Pop um Bedeutungen (»matter«) gehe, in der »klassischen« Musik dagegen vorwiegend um Form. Die Gehalte des Pop würden durch den hohen Einfluss des Sounds, der Lautstärke, des Rhythmus und des emotionalen Vortrags gefühlt, wohingegen »Klassik« eher intellektuell verstanden werden müsse. Des Weiteren sei in populärer Musik nicht die Komposition entscheidend, sondern das, was der Interpret während der »performance« daraus mache (Baugh 1993). Damit richtet er sich explizit gegen die Anwendbarkeit der Ästhetiken Kants, Eduard Hanslicks und Adornos und kommt zu Erkenntnissen, die Baacke und Chester in ähnlicher Form bereits 1968 bzw. 1970 formuliert hatten. Wie Shusterman argumentiert Baugh dabei rein ästhetisch, wie ihm geht es Baugh um die Emanzipation der populären Musik. Durch die Bestimmung unabhängiger Werte, die vor allem das hedonistische, emotionale und körperliche Erleben betonen, glaubt er die Rede von der Minderwertigkeit populärer Musik widerlegen zu können. Doch da er traditionelle künstlerische Werte wie Komplexität, Fortschritt, gesellschaftspolitisches Potential und Sinngehalt in Bezug auf beide Musikformen schlicht nicht erwähnt, tut er seinem Vorhaben mit dieser unausgereiften Arbeit keinen Gefallen. Sein Kritiker James O. Young geht auf dieses schwerwiegende Problem in seiner Replik allerdings gar nicht ein. Er versucht stattdessen nachzuweisen, dass die von Baugh formulierten Werte auch in der »Kunstmusik« von Bedeutung und somit nicht spezifisch für eine Ästhetik populärer Musik seien: »Baugh has not identified standards of performance which apply uniquely to rock music. This is not to say that no difference exists between rock and classical music. For better or worse, however, rock music has to be judged by the standards which have always been used to judge music« (Young 1995: 81). Ähnlich, allerdings von größerer Sachkenntnis getragen, argumentiert der neuseeländische Musikphilosoph Stephen Davies in seiner Reflexion »Rock versus Classical Music« (1999), die ebenfalls im Journal of Aesthetics and Art Criticism erschienen ist. Er verweist auf die so richtige wie triviale Tatsache, dass es eine Frage des Abstraktionsgrades sei, ob Rock und »Klassik« vergleichbaren Ästhetiken folgten. Auch innerhalb der zahllosen Spielarten populärer Musik gebe es grundverschiedene ästhetische Tendenzen, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen seien: »while expressive tone, loudness, and rhythm might be crucial for heavy metal, it is far from obvious that they are similarly important in songs such as ›She's Leaving Home‹ and ›Strawberry Fields‹« (Davies 1999: 202). Generell aber, quasi aus der Vogelperspektive, glaubt er nicht, dass die Differen-

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG zen zwischen »Klassik« und Rock so groß seien, dass man von unterschiedlichen Ästhetiken sprechen sollte: Considered at a higher level, an aesthetic interest does not vary from genre to genre. Many aesthetically important properties — such as narrational, representional, and expressive ones, or others such as unity in diversity — are common to many genres, periods or styles (though they might depend on low-level features that differ according to the particular work's type (ebd.).

Theodore Gracyk Am umfangreichsten und differenziertesten hat sich der US-amerikanische Philosoph Theodore Gracyk mit ästhetischen Aspekten der Rockmusik befasst (auch er ignoriert indes die populäre Musik der Charts vollständig). In Rhythm and Noise. An Aesthetics of Rock (1996) beschreibt er den besonderen ontologischen Status, den Rock-Aufnahmen im Unterschied zu notierten Musikwerken haben. Werkcharakter komme, so Gracyk, im Rock dem Master-Tape einer Studioproduktion zu, nicht einer Live-Aufführung, einer allen Interpretationen gemeinsamen Idee oder gar einer Partitur. Ausführlich widmet er sich dort mit den Methoden der analytischen Philosophie den Konsequenzen dieses gewandelten ontologischen Status' für die Produktion und Rezeption populärer Musik (s. auch Gracyk 1997).8 Daneben thematisiert Gracyk die zentrale Rolle des Rhythmus, die ästhetische Bedeutung der Lautstärke sowie der elektronischen Verstärkung und diskutiert die Unangemessenheit des weit verbreiteten romantisierenden Blicks auf Rockmusik. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2003 stellt er zudem die konstitutive Bedeutung des Sounds heraus, indem er ihn mit der Rolle der Farbe in der Malerei vergleicht. Gracyk hängt nicht der traditionellen Werkästhetik an, er hält nicht an der Rede von objektiven Bedeutungen, verbindlichen Autorintentionen u. dgl. fest. Seine Auseinandersetzung mit dem Werkcharakter ist vielmehr in einem rein theoretischen Interesse begründet. Gracyk ist über die Ergebnisse der Cultural Studies gut informiert, er setzt voraus, dass Musikrezeption von zahlreichen Faktoren der jeweiligen Kultur bestimmt wird und dass populäre Musik im Alltag viele nicht-künstlerische Funktionen erfüllt. Soziologische und gesellschaftspolitische Fragen der Identitätsbildung durch populäre Musik bilden sogar den Schwerpunkt einer weiteren Monographie (s. Gracyk 2001). Über weite Strecken richten sich seine Ausführungen 8

Zuvor hatte sich lediglich Halbscheffel (1983) dieses Themas angenommen, dies allerdings recht knapp und undifferenziert.

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I. AUSGANGSPUNKTE gegen Kulturkritiker wie Allan Bloom und Adorno, deren Anklagen er differenziert widerspricht, ohne gleich wie John Fiske jeden Popkonsum als potentiell subversive Handlung zu deuten. Zugleich argumentiert er, dass eine Anwendung ästhetischer Theorien auf Rockmusik nicht zwangsläufig zur Übernahme traditioneller Kunstverständnisse führen müsse und dass sich gegenwärtige Ästhetiker durchaus der historischen und sozialen Begrenztheit von Wertsystemen bewusst seien: if an aesthetics of rock employs the ideology of art for art's sake, Fiske is correct to attack it as naked cultural hegemony. But the two do not have to go together, and not every appeal to musical autonomy is equally hegemonic (Gracyk 1996: 218). Bei Gracyk verbinden sich profunde Kenntnisse sowohl der Rockmusik als auch der philosophischen Ästhetik, was leider (vielleicht abgesehen von Shusterman) kein anderer der zuvor referierten Autoren für sich in Anspruch nehmen kann. Er ist leidenschaftlicher Rockhörer, der nie den Warencharakter der Musik aus den Augen verliert und kritisch die zahlreichen Mythen aufdeckt, die für viele eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung verhindern. Gracyk befrachtet die Musik nicht mit umfassenden Erwartungen, weder mit politischen noch mit künstlerischen. Seine Sichtweise scheint zunächst von keiner Ideologie und keinen normativen Absichten verzerrt zu sein, etwa wenn er kein Interesse daran zeigt, Popmusik zur Kunst zu erklären. Vermutlich möchte er seine Musik von Ansprüchen frei halten, in denen er nicht ihren entscheidenden Wert sieht. Doch leider spricht er dieses Problem in Rhythm and Noise nicht explizit an, wie er überhaupt um alle Fragen des Wertens einen großen Bogen macht. Nachgeholt hat Gracyk diese Auseinandersetzung dann im Aufsatz »Valuing and Evaluating Popular Music« (1999), der sich mit beidem: der Frage nach der Beurteilung einzelner Stücke ebenso wie nach der Bewertung der gesamten Rockmusik befasst. Zunächst hält Gracyk es darin für nötig, mit Blick auf Pierre Bourdieu, Fiske und Dick Hebdige noch einmal darauf hinzuweisen, dass Bewertungen von Rockmusik vielfach aus einer vollzugsorientierten, ästhetischen Rezeptionshaltung getroffen würden: As music, it [music, RvA] requires an aesthetic interest in attending to the unfolding soundscape. By an »aesthetic interest,« I mean interest taken in hearing and grasping the music under a particular interpretation as the sounds unfold, a type of interest that cannot be taken in the music by someone who does not interpret it in light of other music to which it is linked historically (Gracyk 1999: 208, Herv. i. O.).

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG Darauf aufbauend lautet seine Grundthese, dass die persönliche Wertschätzung eines Stückes und der persönliche Gewinn, den das Hören von Musik verspreche, nicht von der Bewertung des potentiellen Kunstcharakters der Musik abhingen. Zwar könne Rockmusik sicher auch in Kategorien artistischen Wertes diskutiert werden, doch sei subjektiv empfundener ästhetischer Wert, der sich im Übrigen weder auf bloß hedonistisches Vergnügen noch auf rein strukturelle Parameter beschränke, sondern emotionale wie auch kognitive Prozesse umfasse, ausreichend, um unsere Begeisterung für Musik zu erklären und zu rechtfertigen. Gracyk verneint nicht nur die Vorherrschaft der Kunst im Bereich des Ästhetischen, er räumt auch der ästhetischen Rezeption keinen höheren Wert ein als einer, der es bspw. um die Beeinflussung der Stimmung oder um Abgrenzungen und Identifizierungen geht: In accounting for the behaviours displayed by its fans (their desiring and valuing it), the fundamental point is that people do value it. But they value different performers, songs, and recordings for different reasons, and the same ones for different reasons on different occasions. Sometimes rock is valued in acts of aesthetic appraisal. Sometimes its aesthetic value takes a back seat to its symbolic value. Recognizing this diversity, the problem is to avoid evaluating it by appeal to a uniform and limited standard, such as appraisal of the music's aesthetic dimension. Recognizing the diversity of standards, the question is whether these standards are reasonable when considered from an impartial perspective. My intuition is that they generally are (ebd.: 212). Die Frage, aus welcher Musik ein »idealer Hörer« den größten Gewinn ziehen könne, weist Gracyk als irrelevant zurück. Als Pragmatist fragt er sich vielmehr, ob es angeraten sei, dem mit Rockmusik aufgewachsenen Hörer zu empfehlen, sich das Wissen anzueignen, um »klassische Musik« genießen zu können, auch wenn er an ihr kein persönliches Interesse habe. Diese Frage verneint er: In sum, an individual's social, practical, and personal concerns are not relevant to evaluating individual musical works, but they are quite relevant to evaluating an individual's musical tastes. […] Arguments that champion classical music at the expense of rock are ultimately criticisms of popular taste, leaping from the real value of great music to the conclusion that everyone in our culture should value it. Such arguments downplay the degree to which the formation of taste is a function of the situation in which it is to be exercised (ebd.: 217). So kommt er aus einer typisch amerikanischen, pragmatisch-liberalen Haltung zu dem Ergebnis, dass die Bevorzugung von Rockmusik für viele Hörer

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I. AUSGANGSPUNKTE »perfectly justified« sei, weil sie ihre tatsächlichen täglichen Bedürfnisse, seien sie ästhetisch, sozial oder psychisch, offenbar gut zu befriedigen vermöge. Dies hört sich lobenswert demokratisch an, impliziert aber auch, dass — wie in den USA üblich — Komponisten, Orchester und Opernhäuser den Gesetzen des freien Marktes zu überlassen seien. Auch fragt sich, warum Gracyk vor dem Hintergrund dieser Ideologie nur von Rockmusik, nicht aber bspw. von HipHop und dem Pop der Billboard-Charts spricht.9 So richtig und wichtig es ist, zwischen ästhetischer Wahrnehmung und Kunstrezeption zu differenzieren, so bedenklich finde ich es, dass Gracyk dem Kunstbegriff als Ästhetik-Professor so gleichgültig gegenübersteht. Sicher ist es für die Ästhetik populärer Musik entscheidend, den Wert jener ästhetischen Rezeptionsformen aufzuzeigen, die ihr Objekt nicht als Kunst wahrnehmen. Doch die Möglichkeit, populäre Musik als Kunst aufzufassen (nach welchen Kriterien auch immer), darf nicht von vornherein aus der theoretischen Betrachtung ausgeschlossen werden. Ansonsten bliebe man weiterhin blind für eine Dimension dessen, was Musik uns wert ist.

Resümee Die Rede vom blinden Fleck der Popularmusikforschung scheint sich angesichts der Textmenge, die zur Ästhetik des Pop doch offensichtlich bereits vorliegt, zu relativieren. Doch die vermeintliche Fülle täuscht. Im Wesentlichen handelt es sich bei den zusammengetragenen Texten um kleinere, ver-

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Auch die Gegenposition, die populärer Musik jeglichen ästhetischen Wert abspricht, gibt es in der amerikanischen Musikästhetik noch heute. So sieht Roger Scruton (1997: 497f.) die Demokratisierung des Geschmackes alles andere als positiv: »Democratic culture presses us to accept every taste that does no obvious damage. A teacher who criticizes the music of his pupils, or who tries to cultivate, in the place of it, a love for the classics, will be attacked as ›judgemental‹. […] This attitude has helped America to survive and flourish in a world of change. An aristocratic culture has an instinctive aversion to what is vulgar, sentimental, or commonplace; not so a democratic culture, which sacrifices good taste to popularity, and places no obstacles whatsoever before the ordinary citizen in his quest for a taste of his own. […] In a democratic culture, people believe themselves to be entitled to their tastes. But it does not follow that good and bad taste are indistinguishable, or that the education of taste ceases to be a duty.« Das Hören von bspw. R.E.M. oder Nirvana habe schlimme Auswirkungen auf den Charakter der Rezipienten, also seien Musikwissenschaft und Pädagogik gefordert dem entgegenzuwirken, auch wenn es sich bei gegenwärtiger Popmusik eigentlich gar nicht um Musik handele: »To withhold all judgement, as though a taste in music were on a par with a taste in ice-cream, is precisely not to understand the power of music« (ebd.: 502). »Popular music ceases to be music, just as sexual love ceases to be love« (ebd.: 505).

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG streute Aufsätze, in denen kaum eine Tradition oder ein Fortschritt der Erkenntnisse zu erkennen ist: Ausgehend von Adorno und der historisch orientierten Musikwissenschaft, die beide nicht nur den Kunstcharakter, sondern jeglichen ästhetischen Charakter populärer Musik negieren, verurteilt Hartwich-Wiechell weite Teile populärer Musik als ästhetisch minderwertig. Ihren Nutzen sieht sie allenfalls in weniger wertvollen, ja mitunter gefährlichen psychischen Funktionen. Merton bestimmt den Wert gerade durch die gesellschaftlichen Wirkungen, während auch ihm die ästhetische Ebene der Musik, gemessen an unreflektiert übernommenen hochkulturellen Maßstäben, austauschbar erscheint. Chester hält am Wert der Komplexität fest, versucht diese aber alternativ zu bestimmen, wohingegen Baacke die »alte« Kunst durch eine neue (Pop-)Kunst mit einer ganz eigenen Ästhetik abgelöst sieht. Kneif zeigt mit Klang-Sinnlichkeit und Körperlichkeit Qualitäten populärer Musik auf, die er zwar für ästhetisch, nicht aber für künstlerisch hält; letztlich bleibt er, wie später Shusterman, traditionellen Kunstmaßstäben verhaftet. Auch Wicke sieht solche Qualitäten, für viel wichtiger hält er jedoch die soziale Dimension der Musik. Über einen möglichen Kunstcharakter verliert er wie auch Frith, der ästhetische Qualitäten auf soziale Funktionen zurückführen will, kein Wort. Baugh postuliert ähnlich wie Chester ein eigenes Wertsystem, um populäre Musik zu emanzipieren. Davies relativiert dies, während Gracyk sich einer Antwort enthält, da für ihn der Kunstaspekt populärer Musik im Vergleich mit anderen ästhetischen und nicht-ästhetischen Funktionen unwesentlich ist. Viele Autoren haben ihre Vorgänger nicht zur Kenntnis genommen, sodass Resultate auch zwanzig Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung von anderen Autoren als originell und innovativ präsentiert werden. Rechnet man Frith's Performing Rites als im Kern soziologische Untersuchung, so verbleibt mit Rhythm and Noise eine einzige Monographie zum Thema, die Fragen der Wertung und des individuellen Wertes allerdings ausklammert. Es gibt keine Textanthologien, keine thematischen Sonderausgaben der popmusikwissenschaftlichen Zeitschriften (geschweige denn eine eigene Zeitschrift) und keine entsprechenden Tagungen. Keiner der referierten Autoren stützt seine Thesen auf empirische Befunde, nur wenige schließen die Tradition der philosophischen Ästhetik konstruktiv in ihre Überlegungen ein. Dies führt u.a. dazu, dass niemand seinen Kunstbegriff explizit darlegt. Stattdessen hält sich auch heute noch das Vorurteil, der Ästhetik gehe es um die wissenschaftliche Absicherung bürgerlicher Kunstpraxis. Hinzu kommt, dass sich fast alle Autoren auf die vermeintlich authentische Rockmusik beschränken, während die implizit verachtete Popmusik ignoriert

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I. AUSGANGSPUNKTE wird. Die Diskrepanz zwischen dieser eigenen Wertung und dem IdeologieVorwurf an die Ästhetik wird nicht thematisiert. Das größte Problem besteht in diesem Zusammenhang darin, dass philosophische Ästhetik als Schießbudenfigur herhalten muss, ohne dass man ihre aktuelleren Entwicklungen zur Kenntnis nimmt. Vieles was man ihr vorwirft, trifft zwar auf Adornos idealistische Werkautonomie und die Kunstmetaphysik des deutschen Idealismus zu. Doch schon in den späten 1960er Jahren wandte sich die Disziplin unter dem Einfluss der Semiotik, des Strukturalismus, der Sprachphilosophie, der Hermeneutik, der phänomenologischen Ästhetik Ingardens und der pragmatischen Ästhetik Deweys von dieser Verengung auf das »in sich ruhende« Kunstobjekt ab, um das Interesse auf »Prozesse der Aneignung, Beurteilung, Verwendung und Veränderung« zu richten (Küpper/Menke 2003: 7). Rüdiger Bubner, Max Imdahl, Wolfgang Iser, Hans Robert Jauß, Hans Ulrich Gumbrecht und andere kritisierten die Werkästhetik als überkommen und vollzogen einen Paradigmenwechsel hin zur Untersuchung der Rezeption, bzw. allgemeiner, der ästhetischen Erfahrung (vgl. Küpper/Menke 2003 u. Liessmann 2003: 11-20). Mit Bezug auf die Anfänge der wissenschaftlichen Ästhetik bei Baumgarten erweiterte sich das Untersuchungsgebiet wieder auf die Betrachtung der Natur (Böhme 1989, Seel 1996a [1991]) sowie vor allem auf Phänomene der Alltagswahrnehmung und die Ästhetisierung des Alltags (Barck et al. 1990, Welsch 1990 u. 1993, Böhme 1995, 2001a u. 2001b, Seel 2003 [2000], Liessmann 2002). Damit hatte die philosophische Ästhetik zum Teil schon in den 1970er Jahren vollzogen, was ihre Gegner bis heute einfordern. Man muss den Kritikern der Ästhetik grobe Unkenntnis ihres Gegners vorwerfen, sollte dabei aber bedenken, dass selbst die institutionalisierte Musikästhetik von diesen Entwicklungen offenbar lange Zeit keine Kenntnis genommen hat. Erst in dem vor kurzem erschienenen Handbuch Musikästhetik preist man die dort im letzten Kapitel unternommene Thematisierung ästhetischer Erfahrung als Auseinandersetzung mit den »neuesten Ansätze[n] der philosophischen Ästhetik« (Motte-Haber 2004b: 11). Die Rede von einem blinden Fleck erscheint mir also angesichts der kommentierten Literatur in mehrerlei Hinsicht gerechtfertigt. Gestützt wird sie dadurch, dass in steter Regelmäßigkeit Forderungen nach einer wissenschaftlichen Ästhetik der populären Musik erhoben werden. Was bislang veröffentlicht wurde, wird also entweder nicht zur Kenntnis genommen oder es lässt zu viele wichtige Fragen offen: it would be necessary to create new criteria by the means of which the correct evaluation of the aesthetic values of rock music compositions could be carried out, and usefully applied in a broader music education (RaĀiþ 1981: 202).

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I.1 DER BLINDE FLECK DER POPULARMUSIKFORSCHUNG many problems concerning analysis and aesthetics are still insufficiently elucidated. […] This raises the question of whether the various important contributions within the philosophy of art are relevant in any sense to the popular arts. Another way of approaching the same problem would be to ask whether a piece of rock music can be conceived of as an aesthetic object (Brolinson/ Larsen 1990: 115). Die Notwendigkeit ästhetischer Diskussion ist in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Pop bis jetzt auf so absurde Weise unterschätzt bzw. schlicht vergessen worden, daß es fast angebracht erscheinen könnte, zur Abwechslung einmal für einige Dekaden — zumindest bis die Grundlagen geklärt sind — in einen exzessiven Immanentismus der ästhetischen Popbetrachtung zu verfallen, der nicht mehr länger um die soziologische Erklärung der Ränder zielt, sondern endlich einmal explizit auf das ästhetische Verständnis des Kerns zielt (Ullmaier 1995: 92f.). Konstruktiv gewendet geht es darum, Kriterien für eine pragmatische, also konkret handlungsbezogene Popästhetik zu entwickeln. Es gilt Charakteristika einer bsthetik zu benennen, die nicht lediglich die formalen Kategorien der traditionellen Kunstbetrachtung adaptieren oder sich mit der Entschlüsselung des sozialen Raumes, in dem sich Musik vollzieht, begnügen (Geuen/ Rappe 2001: 12). Wie Ullmaier nun einen Immanentismus zu fordern, ist aber mit Sicherheit der falsche Weg. Gegenstand der Ästhetik sind nicht frei schwebende Werke, sondern ist die menschliche Rezeption von Gegenständen und Situationen, welche die Aufmerksamkeit für einen Moment zu fesseln vermögen. Diese Rezeption mag zwar primär selbstzweckhaft sein, doch bedeutet dies nicht, dass man sie von kulturellen, historischen, sozialen und psychischen Kontexten trennen könnte. Das Ästhetische ist nicht ein Filetstück, von dem man bloß den soziologischen Fettrand abschneiden müsste — die ästhetische Wahrnehmung ist ein Entrecôte, das unlösbar mit Soziologischem und Psychologischem marmoriert ist. Hinter die Beiträge der Cultural Studies und der anderen benachbarten Disziplinen darf die Ästhetik nicht zurückfallen — wenn sie sie auch nicht alle akzeptieren muss.

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I . 2 E i n d r i tt er A u sg a n g s p u n k t: K n e i f s B e s ti m m u n g d e r M u si k äs t h e t i k Gegen die Werkzentriertheit und den Glauben an die wissenschaftlich nachweisbare Gültigkeit von Expertenurteilen regte sich um 1970 nicht nur in der Literaturwissenschaft und in der philosophischen Ästhetik erheblicher Widerstand. Auch in der Musikästhetik wurde Kritik an der von Carl Dahlhaus in Analyse und Werturteil (1970) vertretenen These geübt, Werturteile ließen sich mit dem Anspruch auf Objektivität durch Analyse begründen. Es war Tibor Kneif, der in seinen Aufsätzen von 1970 und 1973 für eine radikal rezipientenorientierte Ästhetik plädierte und 1971, ausgerechnet in dem von Dahlhaus herausgegebenen Band Einführung in die systematische Musikwissenschaft, eine grundsätzliche Neubestimmung der Musikästhetik versuchte. Musikästhetik solle davon absehen, selbst Urteile zu fällen und zu begründen, so seine zentrale Forderung, um stattdessen fremde Urteile hinsichtlich impliziter Normvorstellungen zu analysieren. Kneifs Ausgangspunkt ist die Frage nach einem musikästhetischer Forschung angemessenen Wissenschaftsbegriff. Orientiert am Kritischen Rationalismus Karl Poppers fordert er für die Aussagen der Disziplin prinzipielle Falsifizierbarkeit sowie für ihre Arbeitsweise »Kontinuität des Denkens« und einen »Fortschritt der Einsichten« (Kneif 1971: 134). Damit beabsichtigt Kneif, die Musikästhetik von jenen Traditionen abzusetzen, die ihr den Vorwurf eingebracht hätten, nicht mehr als nur metaphysische Spekulation zu sein. »Geschichtsunabhängige Normen des Musikalisch-Schönen oder des Geschmacks« aufzustellen, könne nicht Aufgabe einer wissenschaftlich betriebenen Musikästhetik sein, da Werturteile den Anspruch auf Falsifizierbarkeit prinzipiell nicht erfüllten und der historisch zu beobachtende Wandel ästhetischer Werthaltungen bloß einen Wandel der Ansichten, nicht aber einen Fortschritt der Einsichten darstelle (vgl. ebd.: 135). Die den bisherigen Anspruch der Musikästhetik stark provozierende These, Werturteile seien prinzipiell nicht widerlegbar und damit nicht wahrheitsfähig, begründet Kneif wie folgt: In logischer Hinsicht bestünden Werturteile aus zwei Schlüssen, und zwar erstens aus der eher beschreibenden Zuordnung musikalischer Phänomene unter bestimmte Kriterien (z.B. »Abgerundetheit, Offenheit der Form, Gediegenheit der satztechnischen Arbeit«, ebd.: 136) und zweitens aus der meist unbewusst und verborgen bleibenden Einschätzung und Abwägung des Wertes der jeweiligen Kriterien. Zwar können Urteile, so gesteht Kneif gern ein, auf falschen Beobachtungen fußen, sodass sie wegen nicht tragfähiger Grundlagen als Irrtum entlarvt

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I. AUSGANGSPUNKTE und damit falsifiziert werden können, doch betreffe dies lediglich den ersten Schritt des Urteils. Nicht widerlegbar bleibt nach Kneifs Wissenschaftsverständnis die individuelle Höherwertung des einen Kriteriums vor einem anderen, etwa die Bevorzugung einer geschlossenen vor einer offenen Form oder der Komplexität vor der Einfachheit. »Grundsätze, aus denen deduktiv die ästhetische Qualität« eines Stückes bewiesen werden könnte, vermöge die Wissenschaft nicht zu formulieren (ebd.: 135). Da also eine allgemeingültige Bezugsbasis fehle, könnten Werturteile nicht wahr oder falsch sein — und dürften dementsprechend auch nicht aus wissenschaftlicher Position geäußert werden. Für Kneif sind einander widersprechende Bewertungen somit prinzipiell gleichberechtigt. Dahlhaus' Position, der zufolge ein triftiges Urteil sich auf Analysen und die Kenntnis des Metiers stützen müsse, kritisiert Kneif mit Verweis auf Richard Wagners Ästhetik als »unhistorisch« (ebd.: 143). Zudem betreffe diese Forderung nur die kompositionstechnische Dimension, nicht aber die Ebene der ästhetischen Wirkung, die ein jeder auch ohne musikanalytische Kenntnisse bewerten dürfe (ebd.: 144f.). Damit öffnet Kneif den Blick der Musikästhetik zwangsläufig — und das ist ein entscheidender Zug — für die Einstellungen, Präferenzen und Rezeptionsweisen der NichtExperten, die man zuvor mit dem Hinweis auf mangelnde Kontextkenntnisse, Undifferenziertheit und rein subjektiv oder funktional geprägte Ansprüche schlicht ignoriert hat (vgl. Dahlhaus 1973b: 17: »Das Urteil eines Schlagerpublikums über ein Stück von Webern ist irrelevant: nicht sozialpsychologisch, als Dokument über die Hörer, aber ästhetisch, als Zeugnis über die Sache«). Betrachtet man übrigens die Entstehungszeit seines Textes, ist der Perspektivenwechsel unschwer mit einer politischen Motivation in Zusammenhang zu bringen: der Forderung nach der Emanzipation des Individuums gegenüber einer für hochmütig und arrogant gehaltenen Bildungsaristokratie (vgl. unter diesem Aspekt auch Kneif 1970). Die Auseinandersetzung von Dahlhaus und Kneif scheint mir dabei allerdings von polemischen Übertreibungen, Verkürzungen und Missverständnissen geprägt zu sein, die der Sache nicht dienlich sind. Beide meinen bspw. mit »ästhetisches Urteil« nicht dasselbe. Kneifs Beispiele betreffen meist kompositionstechnische Aspekte, während das, was er im engeren Sinne »ästhetisches Urteil« nennt, abstrakt und unbestimmt bleibt. Emotionale und leibliche Aspekte der ästhetischen Erfahrung lässt er (wie auch Dahlhaus) vollständig unberücksichtigt. Auch auf ein Hören, das zu verstehen versucht, das »Bedeutung« in außermusikalischen Bezügen der Musik sucht, geht Kneif an keiner Stelle ein. Er diskutiert den Kunstbegriff nicht, sondern unterschlägt ihn einfach, vermutlich, weil er ihn für eine soziale Konstruk-

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I.2 KNEIFS BESTIMMUNG DER MUSIKÄSTHETIK tion hält, die nicht mit seinem aus den Naturwissenschaften gewonnenen Wissenschaftsverständnis zu vereinbaren ist. Kneifs Argumentation gegen die Objektivität von Werturteilen wird der Komplexität des Urteilens meiner Ansicht nach bei weitem nicht gerecht. Problematisch ist z.B., dass er nur von mehr oder weniger differenzierten Werturteilen spricht und nicht zwischen »Geschmacksurteil« und »Sachurteil« (Dahlhaus) bzw. »Sinnen-Geschmack« und »Reflexions-Geschmack« (Kant) unterscheidet. Dabei müsste man noch viel stärker differenzieren, um die verschiedenen Urteilsformen und ihre verschiedenen Objektivitätsansprüche zu verstehen.10 Es bleibt somit fraglich, ob Kneifs positivistischer Wissenschaftsbegriff sinnvoll auf die Kunstwissenschaften übertragen werden kann, ohne dass einige ihrer zentralen Fragestellungen unberücksichtigt bleiben. 11 Doch trotz all dieser Kritik halte ich Kneifs Vorstoß für wichtig und innovativ, denn aus seiner Absage an eine dogmatisch verfahrende Musikästhetik entwickelt er einen neuen Anspruch und eine weiterbringende Methode. Gegenstand der Disziplin ist bei Kneif nicht mehr das Werk, sondern »die ästhetische Subjekt-Objekt-Beziehung« zwischen Hörer und Musik (Kneif 1971: 139). Statt in der Aufstellung eigener ästhetischer Urteile sieht Kneif die Aufgabe wissenschaftlich betriebener Musikästhetik in der Analyse der Kategorien und Normen, auf denen explizite wie implizite Werturteile gründen. »Wertende Aussagen über Musik«, so seine zentrale Forderung, »bilden nicht das Produkt, wohl aber den Gegenstand einer wissenschaftlichen Musikästhetik« (ebd.: 137). Ziel müsse es sein, das diffuse »Spannungsfeld« 10 So unterscheidet der Philosoph Martin Seel Urteile über die ästhetische Relevanz (die Frage, ob es sich lohnt, etwas ästhetisch wahrzunehmen), von Urteilen über ästhetische Signifikanz (die den Aspekt der autonomen Gelungenheit vernachlässigen), Geschmacksurteilen (die nicht interpretierend verfahren), Vorlieben (die nur idiographisch, nicht allgemein begründbar sind), Urteilen über die ästhetische Gelungenheit (die festhalten, ob die ästhetische Artikulation reichhaltig ist) und interpretierenden Urteilen der Kunstkritik (die deuten, was im Werk artikuliert wird) (Seel 1997: 180-277). Zum Problem der Objektivität ästhetischer Werturteile s. Haller (1975), Müller (2002) u. Piecha (2002). 11 Vgl. Dahlhaus (1978: 2): »Daß sich die positivistische Philosophie als Wissenschaftstheorie — als Theorie der exakten Wissenschaften — bewährt, sollte jedoch nicht darüber täuschen, daß ihre Ausbreitung über andere Bereiche durchaus willkürlich ist: eine Sache des Bekenntnisses und der subjektiven Wahl. Die Entscheidung, daß auch in der Ästhetik — wie in der Physik — Urteile, die sich nicht verifizieren oder falsifizieren lassen, als ›sinnlos‹ gelten sollten, stellt eine Wertentscheidung dar, zu der niemand durch Tatsachen und logische Schlüsse gezwungen werden kann. Mit anderen Worten: Der Satz, ästhetische Urteile seien ›sinnlos‹, ist nach positivistischen Kriterien selbst ›sinnlos‹.« Dahlhaus bezieht sich offensichtlich auf Kneifs Aufsatz, ohne ihn beim Namen zu nennen. Dass ästhetische Urteile sinnlos seien, hatte dieser allerdings nie behauptet.

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I. AUSGANGSPUNKTE verschiedener (mitunter auch gegensätzlicher) wertbesetzter Kategorien, in dem konkrete Urteile entstehen, systematisch zu gliedern, einzelne Kriterien zu identifizieren und diese hermeneutisch zu untersuchen (ebd.: 159). Als Aufgabe des Musikästhetikers fasst Kneif somit zusammen: Im fremden Urteil stellt der bsthetiker eine bestimmte Werthaltung fest; er versucht anschließend, die im Urteil enthaltenen Voraussetzungen auseinanderzulegen und zuletzt die für den Urteilenden geltende Wertstruktur zu beleuchten. Dies ist das Höchste, was die ästhetische Analyse zu leisten vermag, hingegen wird ihr der Nachweis, daß etwa geschlossene Form, leichte Sangbarkeit und Simplizität höher rangieren als deren Gegenteil, schlechterdings nicht gelingen, und Versuche eines solchen oder ähnlichen, auch gegenteiligen Beweises sind von vornherein unwissenschaftlich (ebd.: 147). Zu einem guten Teil ist die Musikästhetik damit beschäftigt, daß sie solche [wertenden, die Wahrnehmung leitenden, RvA] Begriffe an gegenwärtiger wie vergangener Musik aufdeckt, begrifflich klärt, ihre Ergiebigkeit prüft und sie in systematischer Durchdringung aufbewahrt, um in ihrem Besitz dem Geflecht von Motiven und Intentionen, die ein Werturteil enthält, immer subtiler beizukommen. Musikästhetik ist, vereinfachend gesagt, eine Hermeneutik musikalischer Werturteile, und ihr Fortschritt in wissenschaftlichem Betracht vollzieht sich im Zuwachs und in der Differenzierung jener ästhetischen Begriffe (ebd.: 164). Schon im Interesse einer »Gewaltenteilung« zwischen einer Grundlagen erforschenden Ästhetik und einer konkrete Werke interpretierenden Kunstkritik halte ich den Verzicht der Ästhetik, Werturteile zu fällen, für sinnvoll. Angesichts berechtigter Vorwürfe der kulturellen Hegemonie könnte eine Trennung der Institutionen für gegenseitige Kontrolle und Kritik sorgen. Zudem wäre eine weitestmöglich wertfrei betriebene Ästhetik ein wertvoller Ausgangspunkt für verschiedene andere Disziplinen: Die Pädagogik bekäme eine Grundlage, um mit Schülern die breite Palette der Wertungsmöglichkeiten in ihrem historischen Wandel und ihrer sozialen Bedingtheit vorurteilsfrei zu erarbeiten, sodass sie von dieser Basis aus befähigt werden könnten, selbst differenziert zu werten, statt bloß vorverdaute, nicht mehr hinterfragte Urteile zu übernehmen. Musikkritiker könnten sich der Grundlage eigener Urteilsbildungen bewusster werden, Musikhistoriker könnten die Geschichte gestützt auf Rezipienten- und Produzentenaussagen mit Blick auf sich wandelnde Wertverhältnisse erzählen. Die Musikanalyse könnte sich zur Aufgabe machen, Korrespondenzen zwischen der Musik und den jeweiligen Wertvorstellungen ihrer Schöpfer bzw. ihres Publikums herauszuarbeiten. Auch der journalistischen Berichterstattung und der Musiksoziologie

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I.2 KNEIFS BESTIMMUNG DER MUSIKÄSTHETIK würde die Musikästhetik das Vokabular und das Wissen liefern, um Wertungen in ihrer ästhetischen Relativität zu verstehen. All diese Funktionen sind für die Ästhetik der sogenannten Kunstmusik nichts Neues — eine dieserart verstandene Ästhetik der populären Musik gibt es dagegen aus den in Abschnitt I.1 genannten Gründen bislang nicht. Kneifs Ansatz erscheint mir als Ausgangspunkt für eine solche Ästhetik überaus geeignet, da sie das Problem der eigenen Wertung in den Hintergrund treten lässt. Statt vorab entscheiden zu müssen, inwiefern der Wert populärer Musik an den der »ernsten Musik« heranreicht (was nicht weniger als eine explizite Kunstdefinition voraussetzt), stellt sie die Mittel zur Verfügung, um die tagtäglich de facto stattfindenden Wertungen der Produzenten, Vermittler und Hörer zu verstehen, ohne die Ergebnisse beständig durch die eigenen Werthaltungen zu kontaminieren. Auf diese Weise versuche ich in Kapitel II also zunächst einmal zu klären, wie, nach welchen Kriterien populäre Musik beurteilt wird. Zu verstehen, warum diese Kriterien und keine anderen von Bedeutung sind, das ist die weitere Aufgabe von Kapitel III, bei deren Beantwortung Kneifs Ansatz aufgrund der genannten Beschränkungen dann nicht mehr weiterhelfen kann. Anzumerken ist noch, dass Kneifs Vorschlag in der Musikwissenschaft kaum weiter verfolgt worden ist. Im aktuellen Handbuch Musikästhetik (Motte-Haber 2004a) wird sein Name nicht einmal erwähnt, obwohl seine Methode in einigen Beiträgen wiederzuerkennen ist. Zudem dürfte deutlich geworden sein, wie krass Kneif in seiner eigenen Auseinandersetzung mit populärer Musik gegen die 1971 entwickelten Maßstäbe verstoßen hat (vgl. das Zitat auf S. 28).

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II. K R I T E R I E N

DE R

BEWERTUNG

POPULÄRER

MUSIK

I I . 0 M e th o d e u n d S ti c h p r o b e Qualitative Inhaltsanalyse Ziel des empirischen Teils dieser Arbeit ist also, die Erwartungen und Ideale, die Menschen an populäre Musik herantragen und die diese offenbar auch zu erfüllen vermag, zu dokumentieren, zu systematisieren und möglichst tiefgehend zu analysieren. Dem Vorschlag Kneifs folgend, sollen dazu Werturteile hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Kriterien untersucht werden. Während Kneif die Musikästhetik allgemein als »Hermeneutik der Werturteile« bezeichnet, aber keinen konkreten methodischen Weg präzisiert, wende ich in dieser Arbeit als Weiterentwicklung der hermeneutischen Methode die computergestützte qualitative und quantitative Inhaltsanalyse an. Die qualitative Inhaltsanalyse ist ein zunächst für kommunikations- und sozialwissenschaftliche Problemstellungen entwickeltes Verfahren des »wissenschaftlich kontrollierten Fremdverstehens«, welches sich von einer freien, intuitiven Interpretation durch sein regelgeleitetes und systematisiertes Vorgehen unterscheidet (Lamnek 2005: 510; vgl. Bortz/Döring 1995: 139ff.; Wegener 2005, Kuckartz 2005). Im Vergleich zur traditionellen Hermeneutik soll diese Systematik die einzelnen Analyseschritte intersubjektiv nachvollziehbar machen und eine Überprüfbarkeit der Resultate anhand von Gütekriterien ermöglichen, sodass eine höhere Objektivität der Ergebnisse erreicht werden kann. Von der sogenannten Objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann und von der Diskursanalyse im Anschluss an Michel Foucault unterscheidet sie sich nicht nur in der Vorgehensweise, sondern schon bezüglich der Erkenntnisabsicht: Sie interessiert sich gerade für den subjektiv gemeinten Sinn von Aussagen, weniger für dahinter stehende objektive Bedeutungsstrukturen. Auch geht es ihr nicht um die Rekonstruktion kollektiver Wissensordnungen oder um die Aufdeckung Gesellschaft organisierender Funktionen diskursiver Praxis (zum Verhältnis von Inhaltsanalyse und Diskursanalyse vgl. Diaz-Bone 2005). Innerhalb der systematisierten Inhaltsanalyse ist man auf hermeneutische Auslegung selbstverständlich weiterhin angewiesen. Das methodische Gerüst soll die subjektive Text-Deutung möglichst weitgehend kontrollieren und nachvollziehbar machen, doch ohne eine ideenreiche Interpretation und ein kreatives Kategoriensystem, das einerseits den Daten gerecht wird, andererseits aber zuvor unbekannte Muster und Zusammenhänge in ihnen ent-

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II. KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK deckt, kann auch die methodologisch strengste Inhaltsanalyse nicht funktionieren (vgl. Flick 1995: 165). Um nun die gewünschte Transparenz des Vorgehens zu erzielen, muss die zugrunde gelegte Systematik nicht nur streng befolgt, sondern dem Leser auch explizit erläutert werden; die umfangreichen Ausführungen dieses Abschnittes stellen also eine methodologische Pflicht dar.12 Dabei orientiert sich das methodische Vorgehen an den Vorschlägen Philipp Mayrings (Mayring 2001 u. Mayring/Hurst 2005; vgl. Mayring 1993, 1995), dessen Ablaufmodell im Detail den spezifischen Gegebenheiten der Materialgrundlage anzupassen war. Die beiden ersten Schritte seines Verfahrensmodells, die »Explikation und Spezifizierung der Fragestellung« sowie die »Explikation des Theoriehintergrunds« (Mayring 2001: Abs. 27-28) sind in den vorangegangen Abschnitten bereits erfolgt; im Folgenden sollen nun die weiteren Schritte beschrieben werden. Am Anfang steht dabei die Erläuterung der Überlegungen, nach denen sich die Auswahl der zu analysierenden Quellen gerichtet hat. Zudem muss das gewählte Textmaterial detailliert beschrieben und quellenkritisch durchleuchtet werden. Daran anschließend gilt es vor allem, den Weg zu dokumentieren, auf dem das Kategoriensystem der Inhaltsanalyse gewonnen wurde, und die formalen Regeln zu erläutern, nach denen die Textstellen den Kategorien zugeordnet wurden. Fragen nach der Erfüllung allgemeiner wissenschaftlicher sowie methodenspezifischer Gütekriterien werden dann im Anschluss an die Präsentation der Ergebnisse im Abschnitt II.8 angesprochen.

Auswahl der Population und Charakterisierung der Textgrundlage Wessen Auffassung ist nun als Grundlage der Analyse hilfreich, wer kann als Kronzeuge in Fragen der Bewertung populärer Musik aussagen? In der Geschichte der Musikästhetik sind es zunächst fast ausschließlich Philosophen und Musiktheoretiker, später auch Komponisten und einige Literaten, denen sich heutiges Wissen über die musikalischen Vorstellungen und Normen vergangener Zeiten verdankt. Auch für die populäre Musik liegt es nahe, einen Experten-Kreis aus professionellen Musikjournalisten, Radio-Redakteuren, Musik-

12 »Je offener das Vorgehen ist, desto genauer muß beschrieben werden, wie im einzelnen, Schritt für Schritt, der Forschungsprozeß ablief. Jede einzelne Verfahrensweise muß expliziert und dokumentiert werden. […] Dies stellt dann auch eine Grundlage dar für die Verallgemeinerung der Ergebnisse« (Mayring 1993: 17).

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II.0 METHODE UND STICHPROBE wissenschaftlern, Entscheidungsträgern der Medienkonzerne, Produzenten und natürlich den Musikern selbst als Informanten zu nutzen. Das grundsätzliche Dilemma bei der Suche nach einer aussagekräftigen Stichprobe besteht jedoch darin, dass diejenigen, die fundierte Kenntnisse haben, die sich am reflektiertesten äußern und die ihre Gedanken am besten in Worte fassen können, leider nicht die Werthaltungen des Gros der Pop-Hörer widerspiegeln. Es sind nicht ihre Ansichten, die hier erstrangig von Interesse sind. Denn über Popularität entscheidet trotz aller Manipulationsmöglichkeiten letztlich ein Publikum, und um über den alltäglichen Umgang mit Musik Auskunft zu geben, sind Experten schlicht überqualifiziert: der berufliche Umgang mit Musik verzerrt zwangsläufig ihren Blick. Ihre Wertvorstellungen sind allenfalls für wenige tausend Spezialisten repräsentativ, nicht aber auf eine breitere Hörerschaft zu übertragen. Und dass es hier nicht um den Versuch geht, »objektiv wahre« Werturteile zu finden, das ist das zumindest vorläufige Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Konzeption Tibor Kneifs. Andererseits ist auch eine statistisch gewonnene repräsentative Stichprobe einer Gesamtpopulation kein sinnvoller Weg, um der Beantwortung der Frage, was Musik ihren vielen Hörern bedeutet, näher zu kommen: Laut der GfK-Studie zum Konsumverhalten der Konzert- und Veranstaltungsbesucher in Deutschland (Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft 2004: 17) kauften im Jahr 2003 25,5 Millionen Menschen (das waren rund 40% aller konsumfähigen Bundesbürger) mindestens einen Tonträger. Unter ihnen ist der Musikkonsum keineswegs homogen verteilt: Den 59,9% Nicht-Käufern standen 3,7% »Intensivkäufer« (mehr als neun CDs pro Jahr) gegenüber, welche für 38% der Umsätze sorgten. 32,1% der Umsätze entfielen auf die 9,6% »Durchschnittskäufer« (4-9 Tonträger pro Jahr), am häufigsten fand man die 26,9% »Extensivkäufer« (1-3 CDs), die für 29,9% der Umsätze verantwortlich waren (Bundesverband der phonographischen Wirtschaft [im Folgenden: »BphW«] 2004: 34f.). Betrachtet man diese Verteilung und rechnet man von den 40% Käufern jene ab, die keine Pop-, Dance- oder Rockalben erworben haben, sondern sich für die 42% des Umsatz ausmachenden Segmente Klassik, Volkstümliche Musik, Schlager, Jazz, Filmmusik, Hörbuch oder Kinderprodukte interessieren (ebd.: 14), so bestünde eine die Gesamtbevölkerung repräsentierende Stichprobe zu deutlich mehr als zwei Dritteln aus Menschen, von denen einigermaßen wenig über das untersuchte Problem zu erfahren wäre. Sicher haben auch sie ihre legitimen und ernstzunehmenden Meinungen über Pop- und Rockmusik, doch würde eine solche Befragung bei enormem Aufwand nur sehr wenige differenzierte Aussagen zu Tage fördern, die zudem der Gefahr zahlreicher methodologischer Verzerrungen unterlägen (bspw. müssten soziale und situative Kontexte berück-

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II. KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK sichtigt werden, es wäre mit Antworten sozialer Erwünschtheit zu rechnen, man müsste die großen Unterschiede zwischen klingenden und abstrakten Fragebögen bedenken, welche beide wiederum mit kaum zu bewältigenden methodologischen Problemen verbunden sind).13 Für die Inhaltsanalyse verwertbar sind schließlich nur Statements, die interpretierbar sind; mit unbegründet bleibenden Gefallensbekundungen ist nichts gewonnen. Sachdienlicher erscheint die Beschränkung auf eine Stichprobe, die aktiv das aktuelle Musikgeschehen verfolgt, ohne selbst beruflich in die Branche involviert zu sein. Die zu untersuchenden Rezipienten müssen keine (und sollten auch nicht überwiegend) »Intensivkäufer« oder Musikmagazin-Abonnenten sein, doch es wäre wünschenswert, eine möglichst große Gruppe von Hörern zu finden, die sich einige CDs pro Jahr kauft, kopiert oder herunterlädt, sich hin und wieder in der Musikpresse oder im Internet informiert und das ein oder andere Konzert besucht. Für die Analyse wäre es weiterhin ein praktischer Vorteil, wenn diese Menschen im Formulieren von Werturteilen ein wenig Übung hätten; ja von unschätzbarem Wert wäre es, wenn ihre Texte bereits in großer Anzahl in digitalisierter Form vorliegen würden, sie freiwillig und kostenlos teilnehmen würden oder besser noch: wenn sie gar nicht wüssten, dass ihre Aussagen analysiert würden, denn dann ergäbe sich die seltene Gelegenheit für ein nonreaktives Verfahren, eine Methode, bei der die Art der Datenerhebung keinen Einfluss auf ihre Inhalte hätte. Kurzum: die auf den Webseiten des Online-Händlers Amazon in unfassbar großer Anzahl vorhandenen Kundenrezensionen bieten eine optimale Grundlage für die vorliegende Untersuchung, ohne die Stichprobe auf Experten zu reduzieren. Die Amazon.de GmbH vertreibt in Deutschland als Tochterunternehmen des US-amerikanischen Unternehmens Amazon.com seit 1998 über das Internet vor allem Bücher, Bild- und Tonträger, seit einiger Zeit aber auch Elektroartikel, Spielwaren, Haushaltsgegenstände, Heimwerkerbedarf und was sich sonst alles verschicken lässt. Weitere Websites gibt es für die USA, Großbritannien, Kanada, Frankreich und Japan. Bei Amazon.de wurden 2005 acht Prozent aller in Deutschland abgesetzten Tonträger verkauft, Amazon.de hatte damit einen Anteil von 10% am Gesamt-Marktvolumen von 1,717 Milliarden Euro (GfK 2006). Um dem Anspruch gerecht zu werden, »das kundenorientierteste Unternehmen der Welt zu sein« (Selbstdarstellung, s. Amazon o. J.), und in dem Wissen, dass das Vertrauen in die Empfehlungen von Gleichgesinnten größer ist als das in professionelle Werbung, bietet Amazon jedem Besucher seiner 13 Ausführlich diskutiert Gebesmair (2001: 76-98) derlei Probleme der Messung des Musikgeschmacks.

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II.0 METHODE UND STICHPROBE Websites die Möglichkeit, zu allen angebotenen Produkten sogenannte Kundenrezensionen zu verfassen und diese ohne redaktionelle Bearbeitung auf der Seite mit den jeweiligen Produktinformationen zu veröffentlichen. Als Verfasser kann ein Pseudonym oder der richtige Name angegeben werden, zudem wird der Autor gebeten, das Produkt zusammenfassend auf einer fünfstufigen Skala zu bewerten. Der jeweils erste Rezensent eines Produktes nimmt an der Verlosung eines Einkaufsgutscheins teil, eine weitere Entlohnung gibt es nicht. Die Motivation, der Welt seine Meinung über eine CD mitzuteilen, ist offenbar auch ohne weiteren Anreiz enorm groß: Für Madonnas aktuelles Album Confessions On A Dancefloor (2005) lagen auf der US-amerikanischen Webseite dreieinhalb Monate nach Veröffentlichung bspw. 1229 Kundenbesprechungen vor. Ähnlich hohe Zahlen finden sich für andere aktuelle Verkaufserfolge (z.B. 1041 Kritiken zu The Emancipation Of Mimi von Mariah Carey oder 1089 Texte zu Under My Skin von Avril Lavigne), aber auch Klassiker des Kanons werden retrospektiv sehr häufig besprochen (z.B. 1002 Texte zu Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band von den Beatles (1967) oder 1582 Rezensionen zu Nirvanas Nevermind (1991)).14 Entsprechend den geringeren Bevölkerungszahlen und den geringeren Umsätzen der Branche sind die absoluten Zahlen auf den deutschen und britischen Seiten deutlich niedriger (zu Madonnas Album gibt es auf der deutschen Seite bspw. 187 Texte, auf der britischen 134). Besonders erfolgreiche Bestseller werden aber auch in Deutschland knapp 1000-mal besprochen (etwa Mensch von Herbert Grönemeyer). In den USA empfiehlt Amazon.com seinen Kunden seit kurzem, sich über die Nutzung der Kreditkarte eindeutig zu identifizieren. Wer dem folgt, wird als »Real Name«-Reviewer gekennzeichnet. Da (wie in Deutschland) zudem die Möglichkeit besteht, Kundenrezensionen ihrerseits nach ihrer Qualität zu bewerten (»was this review helpful to you?«), können Rezensenten den Ehrgeiz entwickeln, zu den »Top Reviewern« zu gehören, die nach Anzahl und Qualität der verfassten Texte in einer Rangliste geführt werden und deren Besprechungen an prominenterer Stelle präsentiert werden als die der nicht registrierten, nicht hoch bewerteten Rezensenten. Neben dieser Ambition, als Experte anerkannt zu werden, weil man bspw. den Erfolg eines Albums früher als andere vorhergesagt hat, darf auch eine (wenn auch auf Gegenseitigkeit beruhende) altruistische Motivation unterstellt werden: Man möchte anderen Menschen gute Alben empfehlen und sie vor Enttäuschungen warnen. Man zieht selbst Nutzen aus anderen Kundenrezensionen, dementsprechend möchte man auch selbst zur Funktionsfähigkeit des Systems

14 Stand bei allen Angaben: 27.2.2006.

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II. KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK beitragen. Eine weitere Motivation mag in dem Gewinn bestehen, sich seiner eigenen Ansichten deutlicher bewusst zu werden, indem man sich der Herausforderung stellt, sie in Worte zu fassen. Möglicherweise sehen einige Hörer einen Sport darin, ein abschließendes Urteil über eine Neuanschaffung zu fällen, bevor sie die CD im Regal endlagern. Die Amazon-Rezensenten stellen somit genau das gesuchte Klientel: die Musik ist ihnen immerhin so wichtig, dass es ihnen ein Anliegen ist, ihre Meinung an andere weiterzugeben. Sie informieren sich im Internet über Neuerscheinungen und kaufen oder kopieren Musik aller Wahrscheinlichkeit nach regelmäßig, ohne dass es sich bei ihnen zum Großteil um Experten handelt (dies lässt sich schon allein aus der sehr variierenden Differenziertheit ihrer Texte ablesen). Bei Amazon kauft am ehesten »jedermann«: der Extensivhörer findet Bestseller zu marktüblichen Preisen, der Intensivhörer kann dort auch seltene Import-Titel einfacher erwerben als bei seinem lokalen Händler (falls der noch existiert). Stilistische Beschränkungen gibt es nicht. Doch auch wer seine Musik lieber aus dem Internet lädt, von Freunden kopiert oder vor der Haustür kauft statt zu bestellen, kann bei Amazon seine Meinung kundtun, schließlich ist das Verfassen einer Kritik nicht an den Kauf der CD gebunden. Somit ist die Stichprobe in vielerlei Hinsicht für eine breite Hörerschaft offen. Weitere Vorteile der Stichprobe betreffen die Forschungsökonomie: Die Texte liegen in digitalisierter Form vor, können also direkt mit einer Textanalyse-Software bearbeitet werden, ohne zuvor aufwändig transkribiert oder eingetippt werden zu müssen. Die Menge der Texte ist unerschöpflich, sodass auch quantitative Methoden sinnvoll eingesetzt werden können. Es bietet sich weiterhin die Möglichkeit, Rezensionen, die direkt nach der Veröffentlichung einer CD verfasst wurden, mit Besprechungen zu vergleichen, die Jahre später geschrieben wurden. Auch lassen sich mithilfe der unterschiedlichen nationalen Webseiten zu einem bestimmten Album verschiedene nationale Hörergruppen vergleichen. Ein zusätzlicher Gewinn für die Auswertung besteht darin, dass die Rezensenten ihre Wertungen freiwillig und in einer selbstbestimmten Form und Länge abgeben. Die Texte sind somit in der Regel reflektierter und differenzierter als spontan oder in Eile erhobene Aussagen per Fragebogen oder Interview, da die Möglichkeit besteht, an den Texten sprachlich zu feilen und sie zu überarbeiten, bevor sie übermittelt werden. Im Vergleich mit professionellen Rezensionen aus Musikmagazinen oder den Feuilletons der Tageszeitungen hat sich zudem gezeigt, dass AmazonKundenrezensionen sprachlich viel einfacher und effektiver zu analysieren sind. Der professionelle Kritiker erhebt, vor allem in Organen wie der Süd-

58

II.0 METHODE UND STICHPROBE deutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem Rolling Stone oder dem Magazin Intro, nicht selten literarische Ansprüche. Er kleidet seine Beschreibungen in zahlreiche Metaphern und Vergleiche, die zwar für Eingeweihte einigermaßen nachvollziehbar, dabei aber nur schwer einem systematisierten Kategoriensystem zuzuordnen sind (beispielhafte Zitate aus einem Vergleich neuer Alben von Coldplay und Oasis in der SZ: »Wurschtigkeit«, »Was für ein Schmierlappen!«, »zur Schau gestellte Feinfühligkeit«, »bescheidene Elegiker mit semi-melancholischen Songs«, »AllzuständigkeitsEpiker«, »Mädchenbeeindruck-Musik«, »aufgebrezelter Schmarrn, Pflegelotion für den Gehörgang«, »Mut zur Stumpfheit«; Fuchs 2005). Vor allem aber geht es in den Texten der Professionellen weniger um eine klare Kaufempfehlung oder -warnung als um ein distanziertes Abwägen, an dessen Ende der Leser häufig nur durch die beigefügte Sterne-Wertung weiß, ob der Kritiker das Album nun schätzt oder nicht (wobei bspw. im Rolling Stone in der Regel wenig aussagekräftige drei oder dreieinhalb von fünf Sternen vergeben werden). Der Amazon-Kritiker hat dagegen eine andere Motivation: er will sich selten als bedächtiger, kritischer Freigeist präsentieren, vielmehr geht es ihm darum, der Welt seine euphorische Begeisterung mitzuteilen oder Gleichgesinnte vor einem Fehlkauf zu bewahren. In Amazon-Rezensionen finden sich pro geschriebenem Absatz meist drei oder vier eindeutige, auf den Punkt gebrachte Wertkriterien, während man für eine vergleichbare Ausbeute die halbseitige Rezension einer überregionalen Tageszeitung bearbeiten müsste. Gegenüber dem Fragebogen oder dem Interview ergibt sich zuletzt der Vorteil, dass die Informanten sich völlig offen und unbeeinflusst vom Untersuchenden äußern können — für explorative Studien ein entscheidender Vorzug. Dabei erhöht die Anonymität die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Hörer offen und ehrlich äußern, statt sich zu sehr an sozial erwünschten Mustern zu orientieren. Doch auch die möglichen Nachteile der Stichprobe müssen reflektiert werden: So ist es prinzipiell denkbar, dass Amazon oder die Werbeabteilungen der Plattenfirmen gezielt fingierte, positiv wertende Texte einschleusen, um ihre Absätze zu erhöhen. Nach eingehender quellenkritischer Prüfung und einem Selbstversuch besteht an der Glaubwürdigkeit der Rezensionen allerdings kein Anlass zum Zweifel. Verrisse werden ebenso veröffentlicht wie euphorische Kaufempfehlungen, und die Texte wirken aufgrund ihres Stils, ihrer Orthographie sowie ihrer sehr unterschiedlichen Längen und Differenziertheit überaus authentisch. Professionelle Kritiken, Produktinfor-

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II. KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK mationen und Texte der Amazon-Redaktion werden, deutlich von den Kundenrezensionen getrennt, auf separaten Seiten veröffentlicht. Weiterhin besteht die Gefahr, dass die Rezensenten nicht wirklich frei in ihrem Urteil sind, sondern sich von bereits veröffentlichten Texten positiv oder negativ beeinflussen lassen. Dieser Fall lässt sich nicht umgehen, er stellt jedoch kein großes Problem dar: schließlich spiegelt er die soziale Wirklichkeit wider, in der Werturteile ebenfalls nicht unabhängig von den Meinungen anderer gefällt werden. Auch professionelle Kritiker werden z.T. voneinander abschreiben oder sich bewusst von gegenteiligen Auffassungen der Kollegen absetzen wollen. Als Problem könnte auch angesehen werden, dass das Verfassen einer Kundenbewertung nicht unbedingt das Musikhören in alltäglichen Situationen widerspiegelt. Dies muss zugestanden werden, wenngleich die AmazonRezensenten in ihren Texten durchaus auch vom alltäglichen Einsatz der Musik, etwa zur Entspannung oder auf Partys, berichten. Doch ist das Problem kaum zu lösen: Mit Erhebungsmethoden, die sich stattdessen auf das alltägliche Hören etwa während der Hausarbeit oder auf dem Weg zur Arbeit konzentrieren, gewinnt man zwar die Erkenntnis, dass Musik ihre Hörer die Strapazen des Bügelns oder Spülens vergessen lässt, über die Auswahl und Bewertung der eigentlichen Musik jedoch erfährt man wenig, da sie bei solchen Tätigkeiten meist eben nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht (vgl. z.B. North/Hargreaves/Hargreaves 2004, Sloboda/O'Neill 2001, DeNora 2000). Mit der Entscheidung für die Analyse von CD-Rezensionen geht weiterhin leider die Möglichkeit verloren, den spezifischen Reiz von Konzert- oder Discothekenbesuchen sowie eventuell unterschiedliche Werthaltungen beim Radiohören zu untersuchen. In dieser Auswahl besteht jedoch wiederum zugleich der Vorteil, dass sich Album-Besprechungen stärker mit der klingenden Musik befassen, wohingegen Konzertberichte meist stark von der NichtAlltäglichkeit des Ereignisses, von situativen Variablen (z.B. Gestimmtheit, Begleitung von Freunden, akustische Mängel der Halle, lange Wartezeiten) und außermusikalischen Einflüssen (Lightshow, Charisma der Stars) geprägt sind. Mit der Dissertation von Roland Hafen (1992) liegt im Übrigen bereits eine psychologisch orientierte Studie zum Livemusik-Erlebnis Jugendlicher vor. Daneben werden von der Stichprobe auch die (meist jugendlichen) Käufer bzw. Downloader von Singles nicht erfasst. Dadurch könnten sich Verschiebungen hin zu einer eher Kunstwerk-orientierten Ästhetik ergeben. Betrachtet man allerdings das Verhältnis von Album- und Singleverkäufen (für die BRD in 2003: 149 Millionen Longplayer gegenüber 24 Millionen Sing-

60

II.0 METHODE UND STICHPROBE les; BphW 2004: 24), so kommt die Beschränkung auf Alben dem tatsächlichen Hörverhalten ausreichend nahe. Um darüber hinaus die Grundlage der Analysen quellenkritisch genauer zu beschreiben, muss noch ein Blick auf die soziodemographischen Charakteristika der Stichprobe gerichtet werden. Vor allem ist wichtig zu wissen, ob die Alters- und Geschlechtsstruktur der Amazon-Kundenschaft den Daten der Gesamtbevölkerung bzw. der Population der Tonträgerkäufer entspricht oder inwiefern sich durch die Amazon-Stichprobe Verzerrungen ergeben. Dazu enthalten die Besprechungen selbst (abgesehen von jenem Drittel Rezensionen, die über die Angabe eines Namens einem Geschlecht zuzuordnen sind) keine weiteren Informationen. Diesbezügliche Daten lassen sich aber — zumindest für den bundesdeutschen Bereich — der Marktforschung entnehmen (s. Tabelle 1). Tonträger gesamt

Amazon

Pop

Rock

DeutschRock

Heavy Metal

Männliche Käufer

49,6

59,6

50,4

61

60,5

70,2

Weibliche Käufer

50,4

40,4

49,6

39

39,5

29,8

10 bis 15 Jahre

6,9

2,4

7,3

5,8

4,8

8,1

16 bis 19 Jahre

4,7

5

5,9

7,8

4,1

6,1

20 bis 24 Jahre

6,8

14,4

7,3

10,7

5,9

13,2

25 bis 29 Jahre

8

15,5

8,8

11,1

12,2

15,6

30 bis 39 Jahre

23,5

30,6

25,5

24,2

24,9

29,2

40 bis 49 Jahre

21,5

21,1

25

26,4

28,3

21,1

50 bis 59 Jahre

12,7

7,6

12,2

11,3

16

5,7

60 Jahre und älter

16

3,4

8,1

2,8

3,7

0,9

Marktvolumen (nach Stückzahlen)

100

8

34

13

2

2

Tabelle 1: Alters- und Geschlechtsstruktur der gesamten Tonträger-Kundschaft (Audio u. Video), der Amazon-Kundschaft (Audio u. Video) sowie einzelner musikalischer Stilbereiche (alle Angaben in Prozent bezogen auf die Gesamtstückzahl, Quelle: GfK 2006).

Während 52% der Bundesbevölkerung weiblich sind, ist das Geschlechterverhältnis innerhalb der Tonträgerkundschaft annähernd ausgeglichen. Diese Verteilung findet sich auch innerhalb der Pop-Kundschaft wieder, die mit 34% das größte Segment ausmacht (nähere Angaben, nach welchen Kriterien die GfK solche Stilkategorisierungen vornimmt, liegen leider nicht vor). In der Amazon-Kundschaft ist das Geschlechterverhältnis dagegen deutlich zu-

61

II. KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK ungunsten der Frauen verschoben. Noch viel stärker dominieren die Männer in der von mir untersuchten Stichprobe: Das Auszählen der 415 Fälle, in denen sich das Geschlecht der Rezensenten aus dem angegebenen Namen entnehmen lässt, ergibt ein Verhältnis von 76% zu 24%. Da nicht anzunehmen ist, dass Frauen häufiger unter Pseudonym schreiben als Männer, muss festgehalten werden, dass die Studie nicht für beide Geschlechter repräsentativ ist, sondern vor allem die Werthaltungen der Männer wiedergibt, wobei allerdings noch offen ist, ob Männer und Frauen überhaupt nach unterschiedlichen Kriterien werten. Ein vergleichbares Geschlechterverhältnis zeigt sich übrigens in der Leserschaft der Musikmagazine. So wird der deutsche Rolling Stone zu 74% von Männern gekauft (Metal Hammer: 73%, Musikexpress: 70%; Quelle: AS Young Mediahouse 2005). Zum Teil sind die auffälligen Differenzen mit der Stilistik der für die Stichprobe ausgewählten Alben zu erklären (vgl. Anhang A, Tab. 2a, 2b und 2c, S. 322). Daneben ist die Motivation der Frauen, Zeit darauf zu verwenden, Musikmagazine zu lesen und ihre Meinung in Form einer Kundenrezension zu veröffentlichen, offenbar geringer. Vielleicht definieren sich viele Frauen weniger über ihren Musikgeschmack als Männer, vielleicht hat ein Teil von ihnen weniger freie Zeit. Hinzu kommt, dass Frauen seltener das Internet nutzen als Männer (s.u.). Bezüglich des Alters ist Tabelle 1 zu entnehmen, dass die unter 15- und die über 50-jährigen verglichen mit der Gesamt-Käuferschaft in der AmazonKundschaft unterrepräsentiert sind, während die 20- bis 39-jährigen, die laut GfK tendenziell mehr Rock als Pop hören, deutlich überrepräsentiert sind. Diese Altersunterschiede sind leicht mit dem Internet-Nutzungsverhalten zu erklären: Laut dem von TNS Emnid jährlich erstellten (N)OnlinerAtlas nutzten Männer im Jahr 2003 das Internet zu 59%, Frauen hingegen zu nur 42%. Zudem waren es eher die unter 40-jährigen als die Älteren, häufiger Personen mit abgeschlossenem Hochschulstudium als Personen mit niedrigerer Bildung sowie öfter Berufstätige als Nicht-Berufstätige, die im Internet surften. Besonders verbreitet ist der Internet-Anschluss unter Studierenden (95%) und Schülern (82%), während Arbeiter, Arbeitslose, Hausfrauen und Rentner nur zu 50% über einen Zugang verfügen (TNS Emnid 200315). Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass die Amazon-Kundschaft und damit auch die Stichprobe überwiegend männlich ist, eher Rock- als Pop15 Anstelle der aktuellsten werden die Daten für 2003 angegeben, da Rezensionen untersucht werden sollen, die zwischen 2001 und 2005 verfasst worden sind. Die Daten von 2003 dürften somit eher zutreffen als die eine höhere Internetverbreitung dokumentierenden Daten von 2005.

62

II.0 METHODE UND STICHPROBE musik hört und deutlich jünger als die Gesamt-Käuferschaft ist. Bei den Rezensenten dürfte es sich vor allem um Schüler und Studierende sowie in geringerem Umfang um Berufstätige unter 50 Jahren mit höherem Bildungsabschluss handeln. Zwar erwerben Schüler und Studierende weniger Tonträger als die Berufstätigen, doch ist dies vor allem mit ihrem geringeren Budget zu erklären, nicht mit mangelndem Interesse. Diese Gruppen haben verhältnismäßig viel Freizeit, sie kennen in der Regel viele, die ihre Interessen teilen, und sind, wie die Daten zeigen, den Umgang mit Internet und CD-Brenner viel eher gewohnt als die Älteren: Die 602 Millionen im Jahr 2003 illegal heruntergeladenen Songs und die 325 Millionen mit Musik bespielten CD-Rohlinge dürften zum Großteil auf ihr Konto gehen (BphW 2004: 18). Wer eine Rezension verfasst, muss das betreffende Album ja nicht zwangsläufig gekauft haben.

Die Auswahl der zu untersuchenden Alben Allein in Deutschland wurden im Jahr 2003 ca. 45.000 verschiedene Longplay-CDs aus dem Bereich populärer Musik angeboten, hinzu kamen etwa ebenso viele Importe (BphW 2004: 38ff.). Eine Stichprobe zu konstruieren, die sowohl dieses breite stilistische Angebot als auch die quantitative Dominanz der Bestseller und zudem noch die unterschiedlichen Ansichten der bis zu 1000 Rezensenten pro Album abbildet, wäre, um es optimistisch auszudrücken, äußerst aufwändig. Die Textmenge wäre nur in einem Team zu bearbeiten, zudem wäre eine solche Stichprobe so allgemein, dass sich keine spezifischen Muster mehr analysieren ließen (bspw. die Bewertungsmaßstäbe eines bestimmten Albums oder eines bestimmten Stils). Um einen möglichst großen Informationsgewinn mit verallgemeinerbarer Gültigkeit bei weitaus geringerem Aufwand zu erzielen, empfiehlt sich stattdessen das aus der Grounded Theory stammende »theoretical sampling«, der Versuch, das weite Feld der Veröffentlichungen und Bewertungen so umfassend wie möglich durch die wohlüberlegte Auswahl einiger prototypischer, dabei aber weitestgehend unterschiedlicher Einzelfälle abzustecken (vgl. Wiedemann 1995: 441f.). Diese Methode soll in der vorliegenden Studie verfolgt werden. Während es allerdings zu den Prinzipien des theoretical samplings gehört, die Anzahl der zu untersuchenden Beispiele nicht a priori festzulegen, sondern die Suche nach weiteren Fällen genau dann abzubrechen, wenn die zuletzt untersuchten Fälle keinen weiteren Erkenntnisgewinn bringen konnten (»theoretische Sättigung«), wurde für diese Arbeit aus praktischen Gründen von vornherein eine Gesamtanzahl von etwa 1000 Rezensionen angestrebt, die sich aus jeweils 100 Besprechungen zu zehn verschiedenen

63

II. KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK Alben zusammensetzen sollte. Die Zahl 100 bietet sich dabei an, weil so zum einen bei quantitativen Angaben sehr einfach mit Prozentangaben gearbeitet werden kann und sich zum anderen nicht zu allen untersuchten Alben mehr als 100 Rezensionen finden ließen. Die Beschränkung auf zehn Alben ist für eine explorative Studie ausreichend differenziert. Sie hat den Vorteil, dass sich für jede untersuchte CD ein klares Profil angeben lässt und sich große Schnittmengen mit den anderen Alben der Stichprobe vermeiden lassen. Trotz der verhältnismäßig geringen Anzahl an Alben erscheint die Forderung nach theoretischer Sättigung erfüllt, da sich die Menge der gefundenen Kriterien von Album zu Album kaum unterscheidet und hohe Varianzen vor allem in der jeweiligen Gewichtung der Kriterien auftreten. Somit hätten auch weitere Fallbeispiele keine neuen Wertungskriterien, sondern höchstens neue Varianzen erbracht. Selbiges gilt für die Anzahl der Besprechungen pro Album: Hier wurde die als wichtiges Kriterium für die Verallgemeinerbarkeit angesehene Forderung nach theoretischer Sättigung mit jeweils 100 Fällen übererfüllt. Die Auswahl der zehn Fallbeispiele erfolgte nun nach den folgenden Gesichtspunkten: • Gemäß der oben erhobenen Forderung, nicht in erster Linie den Kanon der Musikwissenschaftler und -journalisten zu untersuchen, sondern die Präferenzen des Tonträger kaufenden Publikums ernst zu nehmen, sollte ein Teil der Stichprobe den vordersten Rängen der von Media Control, Billboard oder der British Phonographic Industry (BPI) erhobenen, auf Verkaufszahlen basierenden Jahres-Charts entnommen werden. Je populärer die Alben der Stichprobe sind, desto eher lassen sich die AnalyseErgebnisse schließlich verallgemeinern. Durch diese Bestseller finden sich vermutlich vor allem die Durchschnitts- und Extensivkäufer repräsentiert. • Eine Beschränkung auf solche Bestseller erscheint hingegen nicht sinnvoll. Wie begleitende Studien zeigen konnten, gibt es zwischen den größten Verkaufserfolgen und den bei Fans und Journalisten in »BestenListen« am höchsten angesehenen Alben keine Schnittmenge: was sich gut verkauft, hat keine Aussicht, bei den gestrengen Kritikern und Listenschreibern als Meilenstein angesehen zu werden (v.Appen/Doehring 2006). Neben der durch Verkaufszahlen erhobenen Beliebtheit gibt es also eine davon unabhängige zweite Form der Popularität, die sich in dem Konsens widerspiegelt, mit dem sich die Magazin-Autoren und -Leser (dies dürften in erster Linie Intensivkäufer sein) regelmäßig auf die »Alben des Jahres« verständigen.

64

II.0 METHODE UND STICHPROBE Auch von den Favoriten dieser Population sollten sich einige in der Stichprobe befinden, schon, um auch die offenbar grundsätzlich anderen Werthaltungen der Intensivkäufer und »Insider« zu beleuchten (die zwar hinsichtlich der Verkaufszahlen einzelner Alben zu vernachlässigen sind, dabei aber die Gruppe mit dem größten Gesamtumsatz (38%) darstellen, und die zudem häufig dazu neigen, ihre Bekannten mit kopierten CDs zu versorgen). Mit der durch das theoretical sampling bestehenden Möglichkeit der komparativen Analyse kann so gezielt untersucht werden, ob und inwiefern sich die Bewertung von Bestsellern und Listen-Favoriten aus Kundensicht unterscheidet oder ob es womöglich weniger ästhetische als vielmehr soziale Argumente sind, mit denen sich die großen Differenzen erklären lassen. Darüber hinaus können auch gezielt Kritiker- und Kundenurteile bezüglich ausgewählter Alben gegenübergestellt werden. • Begleitende Studien haben weiterhin gezeigt, dass »Klassiker« der Popund Rockmusik, zu denen sich im Internet hauptsächlich retrospektive Beurteilungen finden, oftmals in einem opernführerhaften, historisierenden Ton geschrieben sind, der sich bezüglich seiner Wertungskriterien verstärkt am Kunstdiskurs orientiert (v.Appen/Doehring 2006). Solche Texte werden meist von Experten verfasst, sie spiegeln nicht das alltägliche Musikhören wider. Infolgedessen sollten aktuelle Veröffentlichungen untersucht werden, zumal mit zehn Alben auch keine historische Entwicklung dokumentiert werden kann. Da die Beschränkung auf nur ein Jahr die Stichprobe anfällig für vorübergehende modische Trends macht, sollen Alben aus den Jahren 2001 bis 2004 ausgewählt werden, um eine Momentaufnahme der Gegenwart bieten zu können. • Weder der Nationalität der Musiker noch der Herkunft der Rezensenten sollten von vornherein Grenzen gesetzt werden, da der Pop-Markt stark globalisiert ist. Andererseits sollte die Stichprobenauswahl der starken Dominanz des US-amerikanischen und britischen Angebots Rechnung tragen. Die Untersuchung sollte nicht nur auf Deutschland zugeschnitten sein, sondern allgemein die westliche populäre Kultur betreffen. Zumindest ein deutschsprachiges Album sollte aber zu Vergleichszwecken in die Stichprobe aufgenommen werden. • Die zehn Alben sollten zudem die aktuellen stilistischen Präferenzen der Hörer in ihrer Vielfalt dokumentieren.

65

II. KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK Die Konzentration auf kommerziell oder »künstlerisch«16 besonders erfolgreiche Alben erklärt sich aus drei Gründen. Erstens finden sich zu diesen CDs die meisten Kritiken, sodass jeweils problemlos 100 ausgewählt werden können. Zweitens ist zu erwarten, dass die Rezensionen dieser Alben polarisieren, also besonders deutlich wertend ausfallen. Dies ist für die eindeutige Kodierung der Kriterien hilfreich. Auch werden sich die Autoren bei großer Begeisterung oder Ablehnung eher bemühen, ihre Ansichten ausführlicher und überzeugender herauszustellen als bei Alben, denen sie eher indifferent gegenüberstehen. Drittens lassen sich mit der gewählten Methode »Flops« gar nicht untersuchen: Im Sinne des theoretical sampling hätte es sich angeboten, zur Kontrastierung auch einen eindeutigen kommerziellen und (aus Kritikersicht) künstlerischen Misserfolg zu untersuchen. Doch wie sich während der Recherchen zu Madonnas American Life (2003) herausstellte, finden sich zu Flops nur wenige Kritiken, die zudem meist gegen den Trend positiv ausfallen. Hier fühlen sich offenbar die langjährigen Fans aufgerufen, den Star zu verteidigen. Clever wäre es gewesen, zu Alben von Anastacia oder Adam Green deutsche und amerikanische Kritiken vergleichend zu analysieren: Beide sind in Europa äußerst erfolgreich, werden in ihrer US-amerikanischen Heimat aber kaum wahrgenommen. Doch fanden sich folglich zu diesen Veröffentlichungen bei amazon.com nur 60 bzw. 11 Besprechungen, in denen die jeweiligen Rezensenten die CDs als unbedingt empfehlenswerten Geheimtipp betrachten, nicht als Flop. Da Veröffentlichungen aus dem Bereich der »klassischen« Musik bei den Online-Händlern nur selten besprochen werden, konnten auch sie nicht zu Vergleichszwecken in der Stichprobe berücksichtigt werden. Während sich die gesuchten Bestseller über die genannten nationalen Jahres-Charts leicht ermitteln lassen, muss noch geklärt werden, anhand welcher Merkmale konsensuelle Kritikerfavoriten zu finden sind. Für den deutschen Bereich wurden dazu die im Internet veröffentlichten JahresAbstimmungen der Magazine Rolling Stone, Musikexpress, Intro, Spex und Visions der Jahre 2001 bis 2004 verglichen. Für Großbritannien wurden die Listen des New Musical Express durchgesehen. Besonders aufschlussreich für die amerikanischen Kritiker sind der »Pazz & Jop-Poll« der New Yorker Zeitschrift Village Voice sowie die Website Metacritic.com. Für den Pazz & JopPoll werden seit den 1970er Jahren Stimmabgaben von jährlich ca. 600 bis 800 amerikanischen Kritikern gesammelt. Anhand der vergebenen Punkte wird jedes Jahr eine Liste mit den 40 höchstplatzierten Alben veröffent16 Bis in Abschnitt III.3 zu klären versucht wird, was unter diesem Begriff verstanden werden kann, werde ich ihn vermeiden oder in Distanz ausdrückenden Anführungsstrichen verwenden.

66

II.0 METHODE UND STICHPROBE licht. Ähnlich funktioniert Metacritic.com: Diese Website sammelt beständig Rezensionen zu den wichtigsten Neuveröffentlichungen und überträgt die jeweiligen Wertungen der Magazine in ein 100-Punkte-System, um am Ende des Jahres eine Liste mit 30 Rängen zu veröffentlichen. In der erreichten Punktzahl spiegelt sich dann die durchschnittliche Einschätzung einer CD wider. Dabei bedeutet ein Ergebnis von 100 Punkten, dass ein Album in jeder Rezension die Höchstwertung erzielen konnte. Metacritic.com sammelt auch britische Rezensionen, der Schwerpunkt liegt allerdings auf den Besprechungen amerikanischer Online-Publikationen. Diesen Vorüberlegungen entsprechend wurden für die vergleichende Analyse folgende zehn Alben ausgewählt: Verkaufserfolge: • Anastacia — Anastacia • Eminem — The Eminem Show • Herbert Grönemeyer — Mensch • Norah Jones — Feels Like Home • Robbie Williams — Escapology Kritikererfolge: • Bob Dylan — Love And Theft • Franz Ferdinand — Franz Ferdinand • Queens of the Stone Age — Songs For The Deaf • The Streets — Original Pirate Material • The Strokes — Is This It Tabelle 3 (S. 68) fasst die wichtigsten Daten der Alben zusammen.

Die Auswahl der Kundenrezensionen Die Auswahl der pro Album zu untersuchenden Besprechungen folgte wiederum dem hypothesengeleiteten theoretical sampling. Hier waren die Möglichkeiten der Variantenbildung allerdings durch praktische Zwänge — die maximal verfügbare Anzahl an deutschen, britischen und amerikanischen Rezensionen — teilweise eingeschränkt. Da bei der Lektüre der Is This It-Kritiken auffiel, dass zahlreiche Rezensenten sich zu Beginn ihrer Texte zunächst vom großen Hype um das Album distanzierten, ergab sich die Vermutung, dass sich frühe Kritiken, die stärker unter dem Eindruck der medialen Omnipräsenz standen, in ihrer Wertung aus sozialen Gründen von Kritiken unterscheiden könnten, die drei Jahre später verfasst worden sind. Dementsprechend wurde die Stichprobe aus 50 frühen und 50 späten Texten zusammengesetzt, die separat vonein-

67

The Eminem Show

Mensch

Anastacia

Feels Like Home

Is This It?

Love & Theft

Songs For The Deaf

Original Pirate Material

Franz Ferdinand

Eminem

H. Grönemeyer

Anastacia

Norah Jones

The Strokes

Bob Dylan

Queens of the Stone Age

The Streets

Franz Ferdinand

2004

2002

2002

2001

2001

2004

2004

2002

2002

2002

UK

UK

USA

USA

USA

USA

USA

D

USA

UK

Land

115

214

164

391

2

1

1

7

33/4*

BRD

20

8

6

8

1

UK

111

5

1

USA

Jahres-Charts

0.1

0.6

1.0

2.1

0.4

0.8

BRD

1.2

0.3

0.1

0.3

0.9

1.2

1.2

1.8

UK

1.0

0.5

0.5

0.5

4.0

8.0

USA

Verkaufszahlen in Mio.

17

3

2

1

2

>30

>30

>30

Meta-Critic Position

4

4

11

1

2

8

Pazz & JopPosition

Tabelle 3: Daten zu den Alben der Stichprobe; Leere Felder bedeuten: In der Spalte Jahres-Charts BRD: nicht unter den Top 1000, UK: nicht unter den Top 50, USA: für 2001 >Top 100, danach >Top 200; In der Spalte Verkaufszahlen BRD: