Verkörperungen der Musik: Interdisziplinäre Betrachtungen [1. Aufl.] 9783839427538

What would music be without the dimension of the body: Renowned specialists from musicology, music pedagogy, and music p

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German Pages 234 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Versuch über Technik
Psychologische und neurobiologische Aspekte beim Musizieren – Konsequenzen fürs Üben
Chopins Fragilität
Reduktion, Repetition und Verstärkung — Klavierübungen und musikalisches Denken im 19. Jahrhundert
Vom Berühren der Klaviertasten und vom Berührtwerden von Musik
Ist Mister Utterson musikalisch?
Körperliche Navigation
Was kann uns die Gänsehaut lehren?
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Verkörperungen der Musik: Interdisziplinäre Betrachtungen [1. Aufl.]
 9783839427538

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Jörn Peter Hiekel, Wolfgang Lessing (Hg.) Verkörperungen der Musik

Musik und Klangkultur

Jörn Peter Hiekel, Wolfgang Lessing (Hg.)

Verkörperungen der Musik Interdisziplinäre Betrachtungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: L. v. Beethoven, Cavatina (Streichquartett op. 130, 5. Satz); Matthias Eichele, Siebdruck, 1995 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2753-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2753-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Jörn Peter Hiekel und Wolfgang Lessing | 7

Versuch über Technik Wolfgang Lessing | 13

Psychologische und neurobiologische Aspekte beim Musizieren — Konsequenzen fürs Üben Hans-Christian Jabusch und Eckart Altenmüller | 61

Chopins Fragilität Michael Heinemann | 85

Reduktion, Repetition und Verstärkung — Klavierübungen und musikalisches Denken im 19. Jahrhundert Akeo Okada | 103

Vom Berühren der Klaviertasten und vom Berührtwerden von Musik Mit einer Einleitung zum weit verbreiteten Anathema »Musik und Körper« in der Philosophie und in der Musikwissenschaft Martin Zenck | 117

Ist Mister Utterson musikalisch? Über Gesicht, Gefühl und Mienenspiel beim Musizieren oder: 20 Blicke auf die Musikalische Mimik Wolfgang Rüdiger | 137

Körperliche Navigation Verkörperte und erweiterte Kognition als Hintergrund der Interpretation komplexer Klaviermusik nach 1945 Pavlos Antoniadis | 185

Was kann uns die Gänsehaut lehren? Ein Beitrag zum evolutionären Ursprung der Musik Eckart Altenmüller und Reinhard Kopiez | 211

Autoren  | 231

Einleitung

Innerhalb der Wissenschaften, die sich der Erforschung der Musik widmen, stellt die Dimension des Körpers eine, wenn nicht gar die zentrale Schnittstelle dar. Sie umgreift die Musikwissenschaft und Musikpädagogik ebenso wie die Musikphysiologie. Freilich tritt diese Dimension nicht überall mit gleicher Deutlichkeit zutage. Dass die vergleichsweise junge Disziplin der Musikphysiologie und die mit ihr eng verbundene musikalische Performanzforschung hier entscheidende Ansatzpunkte finden, kann nicht weiter überraschen. Ebenso naheliegend erscheint die Beschäftigung mit dem Körper im Rahmen der Musikpädagogik und dabei insbesondere der Instrumentalpädagogik zu sein – wenngleich die Bedeutung dieses Aspekts für das musikalisch-instrumentale Lernen bislang keineswegs einheitlich gewichtet wird. Die geringste Selbstverständlichkeit besitzt die Thematisierung von Körperlichkeit dagegen wohl immer noch für die Musikwissenschaft. Allerdings deutet sich gerade in diesem Bereich zumindest punktuell eine substantielle Kehrtwendung an: jene im weitesten Sinne strukturalistischen Paradigmen, die nahezu selbstverständlich das Denken und Sprechen über Musik in den vergangenen 150 Jahren bestimmt haben, sind in jüngerer Zeit ins Wanken geraten. Im Anschluss an den Poststrukturalismus, der die akademischen Disziplinen nicht ohne Grund als zu eindimensional kritisierte, wird nun nicht mehr nur ein wie immer auch gearteter musikalischer »Text« zur Basis der Auseinandersetzung erhoben; dieser bildet lediglich eine Einsatzstelle, durch die die Artikulation des Körpers im Sinne einer gleichsam subjektlosen, den »Komponistenkörper«, den »Interpretenkörper« und den »Hörerkörper« gemeinsam umgreifenden Instanz beobachtbar und thematisierbar wird. Die Bedeutung des Themas für heutige Diskurse liegt jedenfalls auf der Hand. Freilich gewährleistet ein derart Gemeinsamkeit stiftendes Thema noch keineswegs automatisch einen fruchtbaren interdisziplinären Austausch. Möglicherweise bringt das gemeinsame Thema sogar die unterschiedlichen Denk- und Herangehensweisen der einzelnen Fächer überhaupt erst richtig zum Vorschein. Ist, so kann gefragt werden, der Körper, von dem die Musikphysiologie spricht, wenn sie die körperlichen Bedingungen eines gelunge-

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nen Übens und Musizierens erkundet, wirklich derselbe wie derjenige, den die Musikwissenschaft auch im Folgenden im Blick hat, wenn sie historisch unterschiedliche Artikulationsformen von Körperlichkeit untersucht? Und wie verhalten sich diese Zugänge zur Umgangsweise der Musikpädagogik, die ja bereits innerhalb ihrer eigenen Disziplin und Tradition in durchaus heterogener Weise mit dem Bereich des Körperlichen umgeht. Wird doch der Körper des Instrumentalschülers1 ebenso oft als eine Art »Werkzeug« angesehen, durch das eine musikalische »Vorstellung« (im Sinne einer Zielbestimmung) realisiert wird, wie als eine Instanz, die noch vor jeder kulturellen Überformung bereits in sich selbst eine spezifische Form von »Musikalität« aufweist. Diese durchaus unterschiedlichen Perspektiven scheinen also, obgleich sie auf den ersten Blick um dasselbe Thema kreisen, durchaus unterschiedlichen Gegenständen zu gelten. Und sie bedienen sich dabei in der Regel auch je eigener Forschungsmethoden, was den interdisziplinären Austausch nicht gerade erleichtert. Solange Disziplinen durch einen gemeinsamen Wissenschaftsbegriff verbunden sind, fällt ein gegenseitiger Austausch vergleichsweise leicht. Doch was passiert, wenn diese Gemeinsamkeit nicht mehr gegeben ist? Berührungspunkte zwischen einem Musikphysiologen und einem Sportwissenschaftler bzw. zwischen einem Musikhistoriker und einem philosophischen Ästhetiker finden sich wohl weitaus häufiger als eine Begegnung zwischen Musikphysiologie und historischer Musikwissenschaft – ungeachtet der Tatsache, dass diese beiden Fächer für den Blick des Laien doch eigentlich um »denselben« Gegenstand, die Musik, kreisen. Doch nichts wäre wohl falscher, als die Seltenheit, in der sich derartige interdisziplinäre Begegnungen ereignen, auf Bequemlichkeit oder gar bösen Willen der Beteiligten zurückzuführen. Denn schließlich verlangt die Forderung, sich auf die Fragestellungen anderer Fächer einzulassen, vom Forscher, ein für ihn ungesichertes Terrain zu betreten und sich damit dem Risiko eines tendenziell ungeschützten Sprechens auszusetzen – ein Risiko, das durchaus auch als »Zumutung« begriffen werden mag, da es mitunter die Preisgabe zweier Grundpfeiler wissenschaftlichen Denkens, Genauigkeit und Verlässlichkeit, impliziert. Mit der Ringvorlesung »Verkörperungen«, die im Wintersemester 2009/10 an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden stattfand, wurde der Versuch unternommen, den oben beschriebenen Schwierigkeiten zum Trotz dennoch einen interdisziplinären Austausch über die »Basisschnittstelle« des »musikalischen Körpers«2 zu initiieren. Neben dem selbstverständlichen Bestreben, der Öffentlichkeit führende Fachvertreter zu präsentieren, 1  |  Hier und in der gesamten weiteren Publikation ist bei allgemeinen maskulinen Personenbezeichnungen stets das generische Maskulinum gemeint. 2  |  Wolfgang Rüdiger: Der musikalische Körper. Ein Übungs- und Vergnügungsbuch für Schüler, Hörer und Lehrer, Mainz 2007.

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ging es den Veranstaltern bei der Konzeption der Vorlesungsreihe vor allem um eine Balance zwischen Beiträgen, die die Forschungsdiskussion innerhalb des jeweiligen Faches widerspiegeln und Referaten, die sich um Querverbindungen bemühen. Die vorliegende Textsammlung, die diese – nun zum Teil zu umfangreicheren Beiträgen ausgearbeiteten – Referate der Öffentlichkeit zugänglich machen möchte, zeigt, dass diese Intention von den Autoren eingelöst worden ist. Zur erstgenannten Gruppe zählen die Überlegungen von Wolfgang Lessing, die anhand der Wandlungen im Begriff der (Instrumental-)Technik die spezifischen Umgangsweisen der Instrumentalpädagogik mit der Dimension des Körpers beleuchten, sowie der Beitrag von Hans-Christian Jabusch und Eckart Altenmüller, der den gegenwärtigen Stand musikphysiologischer Forschung zu Zentralfragen des Übens und der Entwicklung sensomotorischer Fähigkeiten erläutert. Mit der Einlassung Michael Heinemanns zu »Chopins Fragilität« wird exemplarisch gezeigt, welche Wege sich für eine Musikwissenschaft eröffnen, die einerseits die poststrukturalistische Provokation ernst nimmt, ohne dabei doch die zentrale Aufgabe musikhistorischer Arbeit – die Rekonstruktion kompositorischer Problemstellungen aus dem historischen Kontext bei gleichzeitiger Berücksichtigung historischer Aufführungstraditionen – preiszugeben. Die zweite Gruppe von Texten enthält Beiträge, die sich mehr oder minder explizit um eine Überschreitung der Fächergrenzen bemühen. Akeo Okada widmet sich als Musikwissenschaftler zunächst einem vornehmlich musikpädagogischen Gegenstand, den »Klavierübungen« des 19. Jahrhunderts. Die hier herausgearbeiteten pädagogischen Prinzipien der »Reduktion, Repetition und Verstärkung« werden von ihm aber zugleich auch in Beziehung zu zentralen kompositionsästhetischen Prinzipien, nämlich der »Reduktion, Wiederholung und Dynamisierung« gesetzt, die sich etwa in der Technik der Themenverwandlung bei Schumann, Liszt, Wagner und Brahms beobachten lässt. Wird bei Okada ein musikpädagogischer Gegenstand in einen musikästhetischen Kontext gerückt, so lässt sich im Beitrag von Martin Zenck eine nahezu umgekehrte Bewegung beobachten. Wie zuvor Michael Heinemann, so erkennt auch Zenck hinter dem notierten Partitur-Text einen »corporalen Subtext«, der in der Musik der Klassik und Romantik vor allem als ein »oral-mimetischer« in Erscheinung tritt, während er sich in der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts auf das Expressionsorgan des ganzen Körpers bezieht. Zenck konzentriert sich in seinen Ausführungen vorrangig auf die Person des Interpreten, dessen Hände von ihm als pars pro toto körperlicher Artikulation begriffen werden. Ohne dezidiert auf musikpädagogische Fragestellungen einzugehen, baut er damit dennoch eine Brücke zur Instrumentalpädagogik, die im folgenden Beitrag von Wolfgang Rüdiger konsequent beschritten wird. In seinen »20 Blicken auf die Musikalische Mimik« arbeitet Rüdiger die Herkunft musikalischen Aus-

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drucks aus dem »Gesicht, Gefühl und Minenspiel beim Musizieren« heraus und beleuchtet die Bedeutung dieser Verwurzelung für das musikalische Lernen, wobei er pädagogische, ästhetische, historische und physiologische Aspekte gleichermaßen berücksichtigt. Ebenfalls an Zencks Überlegungen schließt der Beitrag von Pavlos Antoniadis an, der die veränderte Bedeutung des Körpers für die Neue Musik, und hier insbesondere für den Bereich der hochkomplexen Klaviermusik nach 1945, diskutiert. Antoniadis widmet sich der wichtigen Frage, welche Bedeutung dieses veränderte Körperbild für die Einstudierung komplexer Partituren und damit für unsere Vorstellungen vom instrumentalen Lernprozess überhaupt mit sich bringt, und entwickelt in diesem Zusammenhang den Begriff der »Körperlichen Navigation«, der u.a. aus einer intensiven Beschäftigung mit den jüngeren Entwicklungen der Kognitionswissenschaften hervorgegangen ist. Damit liefert sein Beitrag einen wichtigen Ansatz, den aufzugreifen nicht nur für die Musikpädagogik, sondern gerade auch für die musikalische Performanzforschung von vielversprechender Bedeutung wäre. Der abschließende Beitrag von Eckart Altenmüller und Reinhard Kopiez kann schließlich als Impuls begriffen werden, der sich an die gesamte communio musicae scientiae richtet; geht es in ihm doch um nichts Geringeres als um die Frage, ob und inwieweit evolutionäre Gründe für die Entstehung der Musik in Rechnung zu stellen sind. Dieses Thema rührt an die grundsätzliche Frage nach dem Nutzen von Musik und verweist damit auf eine Diskussion, die bislang streng getrennt entweder in ästhetisch-historischen oder evolutionsbiologischen Diskursen verhandelt wurde. Ungeachtet der Tatsache, dass die hier versammelten Beiträge auf vielfältige gemeinsame Problemstellungen verweisen, entspringen sie doch jeweils eigenen Fachtraditionen. Das ist nicht zu kritisieren, sondern stellt geradezu eine Grundbedingung interdisziplinären Austauschs dar. Als äußeres Zeichen der Anerkennung dieser unterschiedlichen Traditionen haben sich die Herausgeber entschlossen, bei der Frage der Zitation die unterschiedlichen Gepflogenheiten der einzelnen Fächer zu berücksichtigen. Interdisziplinarität bedeutet keine Einebnung von Grenzen und ist auch mehr als eine bloße Arbeitsteilung verwandter Disziplinen. Sie bedarf klar umgrenzter Fachgebiete und ereignet sich doch erst dort, wo die Bereitschaft besteht, deren Grenzen ein Stück weit hinter sich zu lassen. Ihr Medium ist der Diskurs. Wo in der vorliegenden Textsammlung dieser Diskurs lediglich angedeutet oder womöglich gar nur bezeichnet wird, ist der Leser aufgefordert, ihn weiter zu denken. Ob und inwieweit sich Verbindungslinien zwischen den einzelnen Beiträgen ziehen lassen, hängt nicht zuletzt von seiner kritischen Lektüre ab, zu der die Herausgeber ihn nachdrücklich ermuntern wollen. Es ist den Herausgebern ein Bedürfnis, den Autoren sowohl für ihre Teilnahme an der Ringvorlesung als auch für die z.T. aufwändigen Erweiterungen

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der Referate zu danken. Danken möchten wir ebenso Frau Konstanze Kremtz für die kritische Durchsicht der Manuskripte sowie Herrn Gero Wierichs vom transcript-Verlag für die professionelle Betreuung bei der Drucklegung. Dem Verlag selbst schließlich sei für die Aufnahme der Publikation in sein Verlagsprogramm gedankt. Dresden, im März 2014 Jörn Peter Hiekel Wolfgang Lessing

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Versuch über Technik 1 Wolfgang Lessing

Erst ab ca. 1850 wurde es unter Musikern, Musikpädagogen, Musikkritikern und musikalischen Laien üblich, bestimmte Bereiche des Musizierens und Musiklernens mit dem Begriff der Technik zu belegen. Man bediente sich damit einer Bezeichnung, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt in den allgemeinen Sprachgebrauch eingedrungen war und zunächst vor allem zur Kennzeichnung moderner, arbeitsteiliger und maschinell unterstützter Produktionsweisen verwendet wurde. Zu den auffälligsten Kennzeichen des neuzeitlichen Technikbegriffs zählt seine strikt antithetische Verwendungsweise. In ihren Grundzügen ist diese Antithetik bereits bei Aristoteles angelegt, dessen Gegenüberstellung von Techne und Praxis eine Art Ur-Antithese bildete, an die im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts weitere, nicht minder strikte Gegensatzbeziehungen andocken konnten.2 Techne wurde von Aristoteles als ein Herstellungs-Wissen verstan1  |  Bei diesem Beitrag handelt es sich um die erweiterte Fassung eines Textes, der im Band Grundbegriffe musikpädagogischen Nachdenkens der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik (WSMP), hg. von Jürgen Vogt, voraussichtlich 2014 im LIT-Verlag erscheinen wird. 2  |  Der aristotelische Praxisbegriff ist in der Musikpädagogik häufig zur theoretischen Profilierung des Handlungsbegriffes herangezogen worden (vgl. hierzu grundsätzlich Kaiser 1986, O’Dea 1993; Kaiser 2001, Vogt 2007). – Demgegenüber fungiert »Technik« zumeist als lediglich zweckrationales Gegenstück zum Praxisbegriff. Als bloße ZweckMittel-Relation erscheint sie in aller Regel als defiziente Form menschlichen Tuns, von der dann ein im echten Sinne praxialer Handlungsbegriff unterschieden wird. Dass dem Herstellungsaspekt auf diese Weise kaum Genüge getan wird, hat Kaiser an anderer Stelle herausgearbeitet (Kaiser 2010). Kaiser zeigt, dass die von Aristoteles vorgesehene Reservierung des Handlungsbegriffes auf das »kommunikativ-politische Tätigsein« (a.a.O., S. 50) den Bedingungen der Moderne nicht gerecht wird. Eine »Verständige Musikpraxis«, wie er sie entwickelt, ist auf das Zusammenspiel dreier Faktoren, des Herstellungs- und des Handlungsaspekts sowie der Dimension »Schaffung von Arbeits-

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den, das notwendig auf ein Resultat bezogen ist. Dieses Resultat (etwa eine Vase, ein Tempel oder eine Skulptur) ist zwar das Ziel technischer Verfahrensweisen, in diesen selbst aber noch nicht enthalten. Es bestimmt teleologisch die Abläufe der Operationen, ohne doch in diesen Abläufen selbst schon Präsenz zu erlangen. Wie die Vase letztendlich aussieht, tritt erst zutage, wenn die Arbeit getan und das Produkt erschaffen ist. Anders herum formuliert: Im Produkt verschwindet die Arbeit. Ganz anders hingegen der Begriff der Praxis. Es wäre unsinnig, so Aristoteles, das Ziel einer guten Lebensführung (Eupraxis) von den Handlungen, die diese Lebensführung ermöglichen sollen, trennen zu wollen. Auch die Eupraxis bedarf eines Wissens – Aristoteles bezeichnet es als Phronesis (Verständigkeit, Klugheit) –, doch dieses Wissen wird nicht von außen, im Sinne eines Handlungsplans, an ein Tun herangebracht, sondern tritt im Handeln selbst in Erscheinung. Um »gut« zu handeln, reicht es nicht aus, ein theoretisch als gut konzipiertes Handlungsziel herzustellen. Der »Herstellungsprozess« des Guten, die Handlung, muss selbst bereits jene guten Qualitäten aufweisen, die als Ziel intendiert sind. So wesentlich diese Aristotelische Unterscheidung für ein Verständnis des neuzeitlichen Technikbegriffs zweifellos ist, so bleibt sie für sich genommen doch unvollständig. Technik, wie sie sich mit dem Ende des 18. Jahrhunderts herausbildet, formiert sich nicht allein als Gegensatz zum gleichsam improvisatorischen Handlungsbegriff im Sinne der aristotelischen Praxis, sondern ist das Teilglied weiterer, von Aristoteles noch nicht vorgesehener Antithesen. Diese Erweiterung, die schon recht bald zu einer erheblichen Verunklarung, wenn nicht gar Verdunkelung des Technikbegriffs führen sollte, hängt vor allem damit zusammen, dass der neuzeitliche Technikbegriff an die Idee des Fortschritts gekoppelt wurde, in deren Angesicht ein ganzer Bereich von nun als »rückschrittlich« eingestufter und der Technik antithetisch entgegengesetzter Produktionsformen entstehen konnte. Technik als utilitaristische Ver-

kraft« angewiesen: Schöpferische Arbeit ist, so argumentiert Kaiser im Anschluss an Hegel, dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht einfach im Produkt verschwindet. Sie gibt vielmehr dem Produzenten die Möglichkeit, sich selbst – in Form der in das Produkt eingegangenen Arbeitskraft – im Resultat gespiegelt zu sehen. Arbeit als eine über die bloße Selbsterhaltung des Menschen hinausgehende Tätigkeit ist mithin »ohne die technische Seite des Herstellens und die kommunikative des Handelns nicht denkbar.« (Kaiser 2010, S. 60) – Der vorliegende Beitrag geht nun noch einen Schritt weiter, indem er gegen Ende (vgl. Abschnitt V) die Frage stellt, ob die schroffe aristotelische Scheidung zwischen Herstellen (Techne) und Handeln (Praxis), die Kaiser durch die Integration beider Pole in die Dimension der »Arbeit« zwar entschärft, aber letztlich doch beibehält, unter bestimmten Bedingungen nicht grundsätzlich fragwürdig ist.

Versuch über Technik

bindung von Wissenschaft und Handwerk 3 stand damit nicht nur im Gegensatz zu einem ethisch begründeten Handlungsbegriff, sondern umfasste auch (und vor allem) eine material eigenständige Sphäre des Wirklichen, die sich von anderen Sphären abgrenzen ließ. Als Inbegriff »industrieller« Verfahrensweisen ließ sie sich nicht nur von den Sphären des Handwerks und der Wissenschaft unterscheiden, sondern – je nach weltanschaulicher Prägung – ebenso von den Bereichen der Natur und der Kultur (im Sinne von Tradition). Mit seinem Eingang in den Sprachgebrauch der Musiker wurde eine weitere Demarkationslinie gezogen: Der Begriff einer musikalisch-instrumentalen Technik, der bis zum heutigen Tag zum selbstverständlichen Inventar ebenso des Instrumentalunterrichts wie auch des Feuilletons zählt und der nach wie vor als Beurteilungskriterium sowohl bei Aufnahmeprüfungen an Musikhochschulen wie auch bei internationalen Wettbewerben einen unangefochtenen Platz einnimmt, folgt, wie immer man ihn jeweils konkret fassen mag, zumeist der Grundfigur »Technik vs. Musik/Kunst«. Im Einzelnen können sich die jeweiligen Abgrenzungen dabei durchaus im Widerspruch zueinander befinden. Es ist ein Unterschied, ob ich den Begriff der Technik in das Schema Pflicht-Kür einbinde (»erst Beherrschung der Technik, dann künstlerischeigenständige Leistung«) oder ob ich mit ihm auf einen grundsätzlichen Mangel hinweisen will (»trotz perfekter Technik ließ mich sein Spiel kalt«). Aber einerlei, ob Technik nun als pragmatische Voraussetzung von Kunst oder als deren schlechthinniger Widerpart gewichtet wird: ihre Bedeutung erschließt sich in allen Fällen erst durch das ihr polar entgegengesetzte Begriffsfeld. Sie teilt damit das Schicksal anderer binärer Oppositionen, etwa vom Schlage Körper-Geist oder Kopf-Bauch. Auch hier wird die Bedeutung eines Teilglieds erst unter Hinzunahme des Gegensatzes sinnfällig, der nun aber, um bedeutungshaltig zu sein, seinerseits seines vermeintlichen Widerparts bedarf. Durch die Einbindung in ein Gegensatzpaar wird der pragmatisch-diskursive Gebrauch der einzelnen Teilglieder (Kunst/Musik, Technik) ganz offensichtlich begünstigt: Ich muss nicht genau definieren, worin das entscheidende Charakteristikum einer musikalisch-instrumentalen Technik besteht (Schnelligkeit der Finger? Präzision der Bewegungsabläufe? Reibungsfreie Umsetzung einer musikalischen Idee?). Die polare Gegenüberstellung zum Begriffsfeld Kunst/Musik sichert dem Technikbegriff in jedem Falle eine zumindest vorläufige »Verstehbarkeit« zu, die nur schwer erahnen lässt, dass 3  |  In dieser Prägung erscheint der Begriff erstmals in Christian Wolffs Philosophia rationalis sive logica (Wolff 1727). Wesentlich für die europaweite Verbreitung des Technikbegriffes war die Encyclopédie von d’Alembert und Diderot (erschienen zwischen 1751 und 1772, vgl. d’Alembert 1989), der in Deutschland das achtbändige Technologische Wörterbuch von Karl Gottfried Jacobssohn folgte (vgl. Jacobsohn 1781-95, von Polenz 1994).

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eine genauere Definition schwierig, wenn nicht unmöglich ist. Umgekehrt gilt dasselbe: Was ein »musikalisches« bzw. »künstlerisches« Instrumentalspiel ist, erschließt sich vielleicht erst dann zur Gänze, wenn man es von einer Sphäre des »nur« Technischen abzugrenzen in der Lage ist. Die Teilglieder einer binären Opposition vom Schlage Technik vs. Musik neigen also, überspitzt formuliert, dazu, sich ihre Bedeutungen gegenseitig auszuborgen; man kann mit ihnen selbst dann hantieren, wenn die genaue Bedeutung ihrer Bestandteile ungeklärt ist. Der Befund einer diskursiven Handlichkeit reicht für sich genommen jedoch nicht aus, um die bis heute ungebrochene Bedeutung des musikalischen Technikbegriffs zu erklären (der Verfasser unterrichtet an einer Hochschule, an der es in bestimmten Instrumentalfächern einmal jährlich »Technikprüfungen« gibt). Nicht von der Hand zu weisen ist die Vermutung, dass die Antithese Technik vs. Musik immer auch ein soziales Distinktionsinstrument darstellt, das Musikern die Entscheidung erlaubt, wer zu ihrer »Community of Practice« wirklich dazugehört und wer als Zaungast am Rande steht. Die Zuoder Aberkennung von Technik kann dabei unterschiedliche Funktionen erfüllen. Ihr Vorhandensein lässt sich einerseits als Beleg für eine Mitgliedschaft in der ›Zunft‹ apostrophieren; ebenso denkbar ist aber auch eine Sichtweise, die eine Fokussierung auf technische Fragen als zweitrangig und damit vorkünstlerisch wertet: Der ›echte‹ Künstler schert sich nicht um Technisches. In beiden Fällen dient Technik (bzw. die ihr jeweils entgegen gesetzte Antithese) als Selektionskriterium.4 Dass derartige Antithesen der sozialen Distinktion dienen und sich daher auch ungeachtet ihrer inhaltlichen (Un)triftigkeit am Leben erhalten, lässt sich mit Pierre Bourdieu auf die Tatsache zurückführen, dass ihnen »der primäre Gegensatz zwischen der ›Elite‹ der Herrschenden [bzw. hier: der Künstler als einer gesellschaftlichen Gruppe mit hohem kulturellen Kapital, W. L.] und der ›Masse‹ der Beherrschten zugrunde[liegt], jener kontingenten, amorphen Vielheit einzelner, 4  |  Exemplarisch wird diese Selektion am Ende von Hugo Beckers Mechanik und Ästhetik des Violoncellospiels (Becker 1929) durchgeführt. Selten äußert sich »Zunftgeist« mit derart unverblümter Arroganz. Becker geht es zwar vordergründig um eine Würdigung des »Dilettanten«, aber diese »Ehrenrettung« dient einzig und allein dem Zweck, den Laien von der »Priesterschar« der »echten« Künstler zu trennen: »Respekt also vor dem tüchtigen Dilettanten, dem Leithammel der vielköpfigen Herde [sic!], und Enthaltung von Mißbrauch des guten Wortes diletto für die sich zur Kraft vergeblich aufbäumen wollende Lust, für das nicht könnende Wollen. Bezeichnen wir mit ›Dilettant‹ den verständigen Genießenden des Schönen, nicht einen unberufenen, ohnmächtigen Eindringling in die Priesterschar, der bei seinem wahren Namen Pfuscher heißt.« (Becker 1929, S. 272)

Versuch über Technik die austauschbar, schwach und wehrlos, von lediglich statistischem Interesse und Bestand sind. […] Daß diese scheinbar formalen Gegensätze der sozialen Mythologie eine derartige ideologische Wirksamkeit entfalten können, verdanken sie stets noch der Tatsache, dass sie mehr oder weniger diskret auf die fundamentalsten Gegensätze der sozialen Ordnung bezogen sind. […] Dadurch dass dieselben Klassifikationsschemata (wie die sie wiedergebenden Gegensatzpaare) über fortschreitende Spezifikation im Rahmen unterschiedlicher, bipolar angeordneter Felder funktionieren können, […] basieren auch die Gegensätze zweiter, dritter und n-ter Ordnung […] noch auf jenem fundamentalen Gegensatz, verschleiern dieses Faktum aber bis zur Unkenntlichkeit.« (Bourdieu 2012, S. 731f.)

Eine Auseinandersetzung mit dem Technikbegriff darf nicht an der Tatsache vorbei gehen, dass die vielen Versuche, die sich bemühten, in den vergangenen 150 Jahren die Antithese Technik vs. Musik zu überwinden, nicht zu verhindern imstande waren, dass diese sich immer wieder restituieren konnte. Für diese Restitution sind wohl nicht allein soziologische Tatbestände im Sinne Bourdieus verantwortlich. Es scheint, dass die Sphäre des Technischen in einer Weise in unsere (europäische) Vorstellung vom Lernen eines Instruments eingesenkt ist, dass alle Versuche, diese Sphäre grundsätzlich in Frage zu stellen, häufig mehr Fragen als Antworten provozieren – Fragen, die eben nicht zur Überwindung des Technikbegriffs, sondern eher zu dessen Reformulierung führten. Dass die antithetische Gegenüberstellung von Musik und Technik schief ist und der Richtigstellung bedarf, ist, wie zu sehen sein wird, zwar durchaus richtig, aber eben doch kaum mehr als ein Gemeinplatz, den nahezu alle kritischen Einlassungen zum Technikbegriff gebetsmühlenartig wiederholen. In dieser Hinsicht tritt die Diskussion auf der Stelle – ein Tatbestand, der auf eine Mächtigkeit des Technikbegriffs verweist, die ernst genommen zu werden verdient. Es ist denn auch nicht das Ziel dieser Überlegungen, den Technikbegriff umstandslos hinter sich zu lassen oder gar zu überwinden. Es soll vielmehr darum gehen, über den Weg einer Auseinandersetzung mit ausgewählten Texten auf die Probleme hinzuweisen, die sich sowohl aus der ungebrochenen Verwendung des Technikbegriffs wie auch aus seiner umstandslosen Negation ergeben. Nichtsdestotrotz soll der Versuch unternommen werden, zumindest ein Teil dieser Probleme im letzten Abschnitt einer Lösung zuzuführen: Unter Rückgriff auf den Handwerksbegriff, den der Soziologe Richard Sennett vor einigen Jahren entwickelt hat, werde ich mich bemühen, dem musikalischinstrumentalen Technikbegriff eine Form zu geben, die zumindest einige offene Flanken der zuvor diskutierten Konzeptionen zu schließen imstande ist. Durch die Anbindung an den Handwerksbegriff soll – um die Argumentationsrichtung an dieser Stelle bereits zumindest umrisshaft anzudeuten – die von Sennetts Lehrerin Hannah Arendt scharf beleuchtete neo-aristotelische

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Antithese zwischen der Vorstellung vom Menschen als einem ohne Rücksicht auf Folgen und Konsequenzen hantierenden, technischen Animal laborans einerseits bzw. eines über die materielle Arbeit und Praxis richtenden Homo faber andererseits neu vermessen werden (Sennett 2008, S.  16). Aus dieser Neuvermessung resultiert ein durchaus verändertes Verständnis eines »technischen« Instrumentalübens, das – anders als Arendts Konzeption des Animal laborans nahelegt – in hohem Maße von Unvorhersehbarkeit und Improvisationsfähigkeit geprägt ist. Eine als Handwerk ausgelegte Technik ist demnach geradezu das Gegenstück eines auf systematischer Folgerichtigkeit gründenden Machbarkeitswahns – eines Wahns, der, wie Martin Heidegger in seiner Kritik des Gestells insinuierte, das scheinbar steuernde Subjekt selbst zum Objekt einer immer weiter fortzuschreibenden Steuerung und Regelung macht. Der Handwerker im Sinne Sennetts – und damit kann durchaus auch der Tonleitern übende Geiger gemeint sein – unterläuft hingegen immer wieder die Versuchung absoluter Steuerung und begibt sich bewusst in offene, häufig chaotisch anmutende Handlungssituationen, deren Bewältigung sich gerade nicht aus einem der Situation enthobenen ›technischen‹ Kalkül heraus ergibt. Der ›Technik‹ übende Musiker kann unter bestimmten Bedingungen in ähnlicher Weise unmittelbar auf sein Tun verwiesen sein, wie es Aristoteles als kennzeichnend für den Begriff der Praxis herausgearbeitet hat.

I. Trennung »Bei den nun folgenden kleinen Fingerübungen sehe man auf die richtige Handstellung, sowie darauf, dass die Finger nicht einknicken. […] Die Viertel sind mit scharfer Aussprache laut zu zählen, das erste Viertel jedes Taktes zu betonen und jede Wiederholung, zunächst für die rechte Hand allein, 16-mal zu spielen.« (Theodor Leberecht Steingräber alias Gustav Damm: Klavierschule (1868), zit.n. Röbke 2000, S. 230) »Deine Finger gleichen einer Armee, dein Gehirn dem Generalstab. Deine Nerven sind Telegraphendrähte oder Adjutanten, die Befehle vermitteln. Deine Muskeln sind Offiziere und Unteroffiziere, die blind gehorchen. Und du selbst, dein bewusster Wille als oberster Kriegsherr, kümmerst dich gar nicht darum, wie die Vermittlung geschieht, sondern verlangst die Ausführung zu sehen: das Spiel deiner Finger. Verlangst du nun, dass dein Generalstab, deine Adjutanten, Offiziere und Mannschaften ohne Drill und Manöver so ohne weiteres deine Befehle ausführen, so verlangst du eben Unmögliches. Zwar siehst du nicht, wie dein Offizierskorps arbeitet, außer am Ergebnis dieser Arbeit, doch obwohl dir dieser Teil der Einrichtung größtenteils unbewußt bleibt, so bist du doch für die Wirksamkeit verantwortlich und auf sie durchaus angewiesen. Und du wirst eine vollendete Wirksamkeit dieser Einrichtung nur dadurch erzielen können, dass du in das Tun und Treiben deiner Finger, die du unter deinen Augen hast, mit gründlicher Aufmerk-

Versuch über Technik samkeit, scharfer Beobachtung und bewusster Absicht eingreifst.« (Krall 1910, S. 23f., zit.n. Röbke 2000, S. 228) »Wenn man beobachtet, wie die Preussischen Rekruten marschiren lernen, wie sie erst das Bein mit stark gebogenem Knie scharf in die Höhe heben und eine Zeit lang in dieser Stellung halten müssen, wie sie darauf den Fuß stramm und mit einem Ruck ausstrecken, wieder einen Moment über dem Boden halten und dann erst auf den Boden treten […], so möchte man im Anfange diese Methode mehr bizarr als nützlich finden. […] Aber gerade dieses Exercitium verleiht dem preussischen Soldaten die Festigkeit und Ausdauer beim Marschiren […]. So auch, wenn der Klavierspieler langsamen Uebens die schwerste, seine Kräfte anspannende und konzentrirende Methode anwendet, wird er seine Fingermuskeln in hohem Maße stärken und bei der Ausführung alle Schwierigkeiten mit grösserer Sicherheit und Leichtigkeit überwinden.« (Ehrlich 1878, S. 273, zit.n. Busch 2008, S. 148)

Kostproben aus dem Gruselkabinett einer schwarzen Pädagogik. In allen drei Passagen wird der Körper des Instrumentalisten als geduldiger und gehorsamer Übermittler einer Willenskraft apostrophiert, deren Intentionen rücksichtslos in ihn ›hineingeschrieben‹ werden können. Es geht nicht um seine Entfaltung im Akt des Musizierens oder auch nur um eine Rücksichtnahme auf seine je spezifischen Bedingungen oder Verletzlichkeiten, sondern um fremdbestimmte Zurichtung. Als Methoden dieser Zurichtung bieten sich an: endlose Wiederholungen, Unterwerfung unter das Diktat eines forcierten Langsamübens sowie der Verzicht auf jegliche musikalische Vor- und Einbildungskraft beim Exekutieren der einschlägigen Übungen und Bewegungsfolgen. Musikalische Technik mithin als Inbegriff und Resultat eines gewalttätigen Disziplinierungsprozesses. Seit Michel Foucault derartige Disziplinierungstechniken auf breiter Basis – Architektur, Gesundheits- Militär- und Erziehungswesen, Sexualität und Justiz – analysiert hat (vgl. Foucault 1976, 1977), wissen wir, dass es sich bei den zitierten Textstellen nicht um absonderliche Einzelfälle, sondern um – freilich extreme – Manifestationen eines zentralen Dispositivs des späten 18. und 19. Jahrhunderts handelt, das in den unterschiedlichsten Gestalten und Intensitäten seine Ausprägung fand. Es wäre freilich eine arge – und auch kaum zu belegende – Überzeichnung, wollte man von diesem Dispositiv ausgehend den Instrumentalunterricht des 19. Jahrhunderts in seiner Gesamtheit als versklavend und zurichtend bezeichnen. Eine derartige Kennzeichnung griffe aus drei Gründen ins Leere: Zunächst wäre darauf hinzuweisen, dass die Instrumentalausbildung, zumindest in ihrer professionellen Variante, bis weit in das 19. Jahrhundert hinein eingebettet und integriert war in das Konzept eines umfassenden Musiklernens, das selbstverständlich die Bereiche Improvisation, freie Komposition, Generalbass und Kontrapunkt mit umfasste (vgl. Teriete 2009);

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selbst für Didaktiker, die in körperlich-instrumentaler Hinsicht ein strikt disziplinierendes Gefügigmachen des »Spielapparats« forderten, war, wie wir noch genauer sehen werden, die Idee einer breit angelegten und vernetzten Musikausbildung, die in ihrer Verbindung von produktiven und reproduktiven Fähigkeiten weitaus vielfältiger war als die vergleichsweise engen instrumentaldidaktischen Zielsetzungen des 20. Jahrhunderts, eine Selbstverständlichkeit. Angesichts der bis über die Jahrhundertmitte hinaus dominierenden Zusammenschau instrumentalpraktischer, improvisatorischer, kompositorischer und musiktheoretischer Aspekte ergäbe eine isolierte Betrachtung der körperlichen Disziplinierungsversuche in den instrumentalpraktischen Fächern daher ein zweifellos unzutreffendes Bild. Des weiteren muss prinzipiell zwischen schriftlich vermittelter Lehre einerseits und jenen unmittelbaren Interaktionen von Lehrer und Schüler andererseits unterschieden werden, die wohl zu jeder Zeit deutlich vielfältigere Erscheinungsformen aufwiesen, als aus den didaktischen Zielsetzungen (und nicht selten auch Zuspitzungen!) gedruckter Lehrwerke abgelesen werden könnte. Und zuletzt sollte auch nicht vernachlässigt werden, dass es durchaus unterschiedliche instrumentenspezifische Lernkulturen gab und gibt: Möglicherweise ist die Tendenz zur körperlichen Disziplinierung beim Klavierspiel als immanentem Bestandteil bürgerlicher Bildung besonders stark ausgeprägt gewesen, während etwa in den Bläserschulen des 19. Jahrhunderts durchaus Lern- und Erfahrungswege beschritten wurden, die sich von heutigen Zugängen keineswegs grundlegend unterscheiden.5 Ungeachtet dieser berechtigten Einwände muss jedoch akzeptiert werden, dass der körper- und musikferne Drill, wenn nicht flächendeckend verbreitet, so doch zumindest derart dominierend war, dass er den an der Schwelle zum 20. Jahrhundert entstandenen physiologisch argumentierenden Lehrwerken – es sei hier auf Namen wie Rudolf Maria Breithaupt oder Friedrich Adolf Steinhausen hingewiesen – als negative Legitimationsbasis eigener Gegenentwürfe diente. Die Rolle der schwarzen Pädagogik in der Geschichte der Instrumentaldidaktik ist bereits Gegenstand mehrfacher Erörterungen gewesen, die hier nicht weiter verfolgt werden sollen (vgl. Wehmeyer 1983, Gellrich 1997, Röbke 2000, Busch 2008). An dieser Stelle soll es vielmehr zunächst um die durchaus beunruhigende Frage gehen, wie es denn möglich sein konnte, dass selbst ein so freier und ungebundener Geist wie Robert Schumann, dessen Musik der französische Poststrukturalist Roland Barthes immerhin die Artikulation und Präsenz einer absoluten, nicht an einen Signifikanten gebundenen Kör5  |  Trotz ihres aus heutiger Sicht zunächst »altmodisch« erscheinenden methodischen Zuschnittes, ist etwa die große Flötenschule von Anton Bernhard Fürstenau aus dem Jahre 1844 weitgehend frei von dem körperfernen Drill, der in vielen Klavierschulen vorherrscht (vgl. Fürstenau 1990).

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perlichkeit abgelauscht hat (vgl. Barthes 1990), zeitweise ins Fahrwasser derart drakonischer, im wahrsten Sinne geistloser instrumentaldidaktischer Disziplinierungstechniken gelangen konnte. Um diese Frage zu klären, ist zunächst ein Blick auf die Anfänge des musikalischen Technikbegriffes hilfreich. Betrachten wir dazu einen kurzen Ausschnitt aus den Aesthetisch-historischen Einleitungen in die Wissenschaft der Tonkunst des Bremer Pädagogen Wilhelm Christian Müller aus dem Jahre 1830. In diesem großformatigen Werk, das eine Darstellung aller Bereiche des Musiklebens, vom Instrumentenbau über die Kompositionslehre bis hin zu einer Würdigung aktueller Werke (wie etwa Webers Freischütz) zu sein beansprucht, ist von Technik allenfalls am Rande die Rede. Interesse für unser Thema können Müllers Äußerungen allerdings beanspruchen, wenn man der Frage nachgeht, für welche Aspekte der Begriff der »Technik« verwendet wird – und für welche nicht. Nicht gemeint ist mit ihm, anders als man vermuten könnte, die artistische Geläufigkeit der zeitgenössischen Virtuosengeneration um Paganini, Kalkbrenner, Hummel etc. Für deren Künste finden sich die zeittypischen Zuschreibungen wie »Fingerfertigkeit«, »Geläufigkeit« bzw. pejorative Formulierungen wie »Fingereien« oder – bei Sängern – »Gurgeleien« (Müller 1830, S. 385). Ebenfalls nicht gemeint ist die Zielbestimmung einer instrumentalen Unterweisung – in dem Sinne, in dem etwa Louis Köhler gut 40 Jahre später den ersten Band seiner Systematischen Lehrmethode für Clavierspiel und Musik mit dem Titel Die Mechanik als Grundlage der Technik versah (Köhler 1872). Während Technik bei Köhler als zentraler didaktischer Orientierungspunkt fungiert, nimmt sie bei Müller zunächst noch die Rolle einer bloßen Voraussetzung ein – einer Voraussetzung, die in keiner Weise etwas mit Musik zu tun hat, die aber gleichwohl eine notwendige Vorbedingung des Musizierens darstellt. Es ist aufschlussreich, dass der Begriff der Technik bei Müller in Zusammenhang mit dem seinerzeit berühmten und heute gerne als abschreckendes Beispiel einer »schwarzen Pädagogik« gehandelten Chiroplasten Johann Bernhard Logiers auftaucht, »einer Maschine, den Händen und Fingern die rechte Haltung zu geben« (Müller 1830, S. 393).6 Für Müller sprechen mehrere Gründe für eine derartige äußere Manipulation des Körpers. Diese Gründe werden jedoch, und das muss bei der Bewertung dieses für uns heute aus musikpädagogischen und musikermedizinischen Gründen undenkbaren Verfahrens in Rechnung gestellt werden, nur wirksam, wenn der Chiroplast in dem methodischen Kontext eingesetzt wird, für den er von Logier erdacht wurde: dem instrumentalen Gruppenunterricht: »Die wesentl. Vortheile [des Gruppenunterrichts] können sein: das theoretische Wort ist für alle; b) bei mehreren Schülern ist Wetteifer zu erwecken; c) der Chiroplast […] kann 6  |  Vgl. hierzu auch den Beitrag von Akeo Okada, S. 105ff. dieses Bandes.

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Wolfgang Lessing tausend Worte ersparen; d) die Regeln der mus. Grammatik werden früher als gewöhnlich mit der Technik verbunden.« (Müller 1830, S. 393f.)

Der Chiroplast wird also nicht um einer musikfernen Unterjochung und Disziplinierung willen eingesetzt, sondern vielmehr um schneller zum ›Eigentlichen‹, der »musikalischen Grammatik«, zu kommen, die für Müller kein Randthema darstellt, sondern – ganz im Sinne der großen instrumentaldidaktischen Entwürfe des 18. Jahrhunderts – das eigentliche Zentrum des instrumentalen Musiklernens bildet. Vor diesem Hintergrund ist es kein befremdlicher Widerspruch, dass der vermeintlich ›schwarze‹ Pädagoge Logier zugleich der Verfasser eines der bedeutendsten musiktheoretischen Werke des frühen 19. Jahrhunderts war. Was ergibt sich daraus für den Bereich der Technik, der sich laut Müller mit Hilfe des Chiroplasten schneller auf den Kernbereich der »musikalischen Grammatik« zubewegen lässt? Als wesentlichstes Merkmal des hier und an anderen Stellen bei Müller auftauchenden Technikbegriffes ist die Tatsache hervorzuheben, dass mit Technik anscheinend eine rein körperliche Seite des Musizierens bezeichnet wird, die von dem eigentlichen Kerninhalt noch gänzlich unberührt ist. An dieser Bestimmung sind zwei Aspekte bedeutsam, die sich von der späteren Verwendung des Technikbegriffs durchaus unterscheiden, die aber zugleich auch seiner Rubrizierung unter den Oberbegriff einer zwanghaften schwarzen Pädagogik im Weg stehen. 1) Technik repräsentiert ein Vormusikalisches, rein Körperlich-Manuelles, dem antithetisch die Welt der »musikalischen Grammatik« entgegengesetzt wird. Dahinter steht eine Sichtweise, die, noch ganz im Geiste des cartesianischen Dualismus, den menschlichen Körper zunächst einmal als ein durch und durch geistloses und damit auch präkulturelles Terrain begreift, das erst in einem zweiten Schritt durch die »Wissenschaft der Tonkunst« überformt wird. Der ›reine‹ Körper hat erst einmal gar nichts mit Musik zu tun. Das zeigt sich auch an den großen, um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandenen didaktischen Lehrwerken von Quantz, Carl Philipp Emanuel Bach und Geminiani. Die überaus spärlichen Hinweise zur körperlichen Dimension des Instrumentalspiels (der Begriff der Technik fällt hier noch nicht) tragen in diesen Werken allesamt den Charakter bloßer Prolegomena, die als Setzungen an den Anfang der Unterweisung gestellt und an kaum einer Stelle in entsprechende Übungen überführt werden7. Der in den Instrumentalschulen des späteren 19. Jahrhunderts erstmals auftauchende und bis heute allgemein übliche Gedanke, 7  |  Vgl. bei Quantz das 2. Hauptstück (»Von Haltung der Flöte und Setzung der Finger«) sowie das 4. Hauptstück »Von dem Ansatze, (Embouchure)«.

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dass man einen musikalischen Zusammenhang ›benutzen‹ kann, um mit seiner Hilfe seinen eigenen Körper (bzw. dessen Umgang mit dem Instrument) zu fokussieren und den musikalischen Erfordernissen entsprechend zu verändern, scheint dem 18. und frühen 19. Jahrhundert noch weitgehend fremd gewesen zu sein. Sobald der Körper in den Fokus tritt, geht es nicht mehr um Musik bzw. umgekehrt: sobald ein musikalischer Zusammenhang – und sei er noch so elementar – in Erscheinung tritt, geht es nicht mehr um den Körper. Das Zentrum der Unterweisung besteht also auch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht in dem, was Müller um 1830 beiläufig ›Technik‹ nennt, sondern in der Kenntnis der »musikalischen Wissenschaft«: der Kunst des guten Vortrags, der »Vorschläge und kleinen wesentlichen Manieren« (Quantz), der »freyen Fantasie« (C.P.E. Bach) etc. Selbst Lerngegenstände, die scheinbar auf eine physiologisch-körperliche Dimension abzielen, wie etwa Quantz’ Ausführungen zum »Athemholen, bey Ausübung der Flöte« (Quantz 1992, S. 73ff.), werden gänzlich aus der Perspektive der musikalischen Grammatik heraus erörtert: es geht hier keineswegs um die Frage, wie der angehende Flötist mit seinem Atem umzugehen hat, sondern vielmehr ausschließlich darum, wann geatmet werden soll: »Wenn ein Stück mit einer Note im Aufheben des Tactes anfängt; die Anfangsnote mag nun die letzte Note im Tacte seyn, oder es mag vor derselben noch eine Pause im Niederschlag stehen: oder wenn eine Cadenz gemachet worden, und sich ein neuer Gedanke anfängt: so muß man bey Wiederholung des Hauptsatzes, oder beym Anfange des neuen Gedanken, vorher Athem holen.« (Quantz 1992, S. 74)

Zwar greifen die hier genannten Autoren des 18. Jahrhunderts immer wieder auf das immense Ausdruckspotential des menschlichen Körpers zurück. Doch gerade die Vorliebe für den Bereich psychophysischer Verbindungen, die man etwa bei Carl Philipp Emanuel Bach beobachten kann, ist nicht unbedingt ein Hinweis darauf, dass der Körper selbst für ›musikalisch‹ gehalten wird bzw. ›sich‹ im musikalischen Affekt ›ausdrückt‹. Walter Benjamin hat gezeigt, dass die barocke Allegorisierung des Körpers gerade nicht auf eine Einheit des psychophysischen Leibs abzielte, sondern den Körper ganz im Gegenteil als Rohmaterial einer rational gesteuerten Bedeutungsgenerierung begriff: »Der menschliche Körper durfte keine Ausnahme von dem Gebot machen, das das Organische zerschlagen hieß, um in seinen Scherben die wahre, die fixierte und schriftgemäße Bedeutung aufzulesen.« 8 (Benjamin 1991, S. 391) 8 |  In diesem Zusammenhang muss wohl auch der berühmte §13 im Kapitel »Vom Vortrage« bei Carl Philipp Emanuel Bach gesehen werden. Der »Musickus«, der, um seine Hörer zu rühren, »sich selbst in alle Affeckten setzen« muss und in einem zweiten Schritt

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Der Körper an sich erscheint als ein Naturzustand, der durch bestimmte Vorkehrungen, die bei Müller um 1830 eben unter dem Begriff der Technik laufen, eine Grunddisposition erhalten muss, auf deren Boden in den Instrumentalschulen dann eine musikalisch-instrumentale Kulturalisierung erfolgen kann. Die Herstellung dieser Disposition ist strikt vormusikalisch und wird deshalb auch entsprechend nebensächlich abgehandelt. Und eben weil diese Herstellung vormusikalisch ist, kann sie – wie bei Carl Philipp Emanuel Bach – entweder fast vollständig ignoriert bzw. zum Beginn des 19. Jahrhunderts auch durch mechanische Instrumente wie den Chiroplasten unterstützt werden. Es verwundert nicht, dass Adolf Kullak, ein führender Klavier-Didaktiker in der Mitte des 19. Jahrhunderts, trotz seiner generellen Hochachtung vor Bachs Lehrwerk die darin enthaltenen Aussagen zur körperlichen Dimension des Musizierens als »kindlich« abqualifizierte (Kullak 1861, S. 72). 2) Das Verhältnis zwischen der Sphäre des – wie es bei Müller heißt – »Technischen« und der »Wissenschaft der Tonkunst« ist zwar antithetisch, aber dennoch keineswegs unüberwindbar: beide Bereiche lassen sich durch eine geschickte Unterweisung9 miteinander verbinden. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Ausübung der Kunst für ein im Wesentlichen lehr- und lernbares Geschäft gehalten wird. Auch das steht noch ganz in der Denktradition des 18. Jahrhunderts, die in der Kenntnis der Regeln und der Beherrschung der musikalischen Wissenschaft die entscheidende Bedingung für das Gelingen des Musizierens erblickte. Künstlerisches Arbeiten wird im 18. Jahrhundert selbst dort als im Wesentlichen lehr- und lernbar begriffen, wo die Reflexion gleichzeitig den Begriff des Genies entdeckt, das seine Regel aus sich selbst heraus zu setzen weiß und insofern der Lehre eigentlich nicht mehr bedarf. Dass durch entsprechende körperliche Gesten seinen inneren Affektzustand kundtut, ist keiner, der sich in seinem Musizieren den unbewussten Regungen seines Körpers hingibt, sondern eher jemand, der mit durchaus rationalem Kalkül seinen eigenen Rührungen nachgeht und ihnen eine festumrissene, und daher auch verbindlich kommunizierbare Bedeutung verleiht (Bach 1994, S. 122). Carl Dahlhaus stellt in anderem Zusammenhang treffend fest: »›Rührung‹, sinnlich-seelische Bewegung, war der Effekt, den der Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts von der Musik, vor allem dem Clavichordspiel, erwartete. Und so wenig man sich seiner – allerdings flüchtigen – Tränen schämte, so gering war andererseits die Scheu, von der Mechanik, den ›Werkzeugen‹ zu sprechen, die den Genuß, gerührt zu sein, vermittelten. Man verhielt sich rational zum Irrationalen.« (Dahlhaus 1986, S. 28) 9  |  Der Erfolg einer Unterweisung hängt für Müller vor allem davon ab, ob »der Lehrer die heiligen Lehrgesetze der Aufmerksamkeit, der Geduld und der Freundlichkeit gegen die Schüler beobachtet, und die Schüler für die Kunst zu begeistern weiß.« (Müller 1830, S. 394)

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zwischen einer generellen Lehr- und Lernbarkeit der Kunst und dem freien Wirken des Genies kein unauflöslicher Widerspruch herrschen muss, lässt sich exemplarisch an Kants Kritik der Urteilskraft ablesen: Geht Kant einerseits davon aus, dass das Zustandekommen der »Kunstschönheit« Genie erfordert (Darmstadt 1983, S. 410, B 188/A 185f.), so konzediert er fast im gleichen Atemzug, dass es in der Kunst sehr wohl »Form[en] der Darstellung eines Begriffs« geben kann, »durch welche dieser allgemein mitgeteilt wird.« (ebd., S. 412, B 190f./A 188f.) Für diese Form künstlerischer Erzeugnisse wird kein Genie, »sondern bloß Geschmack erfordert […] daher diese [Form] nicht gleichsam eine Sache der Eingebung, oder eines freien Schwungs der Gemütskräfte sondern einer langsamen und gar peinlichen Nachbesserung ist, um sie dem Gedanken angemessen und doch der Freiheit im Spiele derselben nicht nachteilig werden zu lassen.« (Ebd.)

Mit anderen Worten: die Schönheit, zu deren Darstellung Kant allein das Genie befähigt sieht, ist gar keine Grundbedingung der Kunst. Es gibt Werke, die Geschmack, aber kein Genie zu erkennen geben, die aber gleichwohl der »schönen Kunst« zugerechnet werden können (ebd., vgl. Dahlhaus 1986, S. 54f., Lessing 2007, S. 11). Fassen wir zusammen: Technik erscheint bei Müller als eine bloße Vorbedingung des Musizierens, die selbst noch nichts mit Musik zu tun hat, die sich aber zwanglos mit der Sphäre der musikalischen Kulturalisierung verbinden lässt. Die Kenntnis und das Verständnis dieser »musikalischen Wissenschaft« ist das eigentliche Ziel des instrumentalen Musiklernens. Technik und Musik bilden zwar eine Antithese, allerdings – und darauf kommt es an – eine nicht sonderlich zugespitzte. Möglich wird die Verbindung von »Technik« und »musikalischer Grammatik« durch die Überzeugung einer prinzipiellen Lehr- und Lernbarkeit der »musikalischen Wissenschaft«. Doch was passiert, wenn diese Lernbarkeit nicht mehr automatisch gegeben ist, wenn die Sphäre der Musik plötzlich eine der materiellen Welt enthobene Dimension darstellt, die »für sich« steht und durch die Lehre nicht mehr zu erreichen ist, sondern einzig dem Genie vorbehalten bleibt? Diesem Problem sieht sich die Instrumentaldidaktik im 19. Jahrhundert zunehmend ausgesetzt – mit entscheidenden Konsequenzen für den Technikbegriff, der bemerkenswerter Weise in eben dem Maße, in dem die Musik als eine der Materie enthobene Sphäre apostrophiert wird, an Profil gewinnt. Und zwar einerlei, ob man diese Sphäre nun mit Artur Schopenhauer als »Willen« oder mit Eduard Hanslick als ein Reich »tönend bewegter Formen« auffasst. In beiden Fällen ist die materiell-körperliche Seite des Musizierens dazu verurteilt, das Eigentliche der Musik gar nicht zu erfassen. Technik mutiert damit zu einem Begriff, der auf der einen Seite – wie schon zuvor – die rein materiell-körperliche Seite des Instrumentalspiels um-

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fasst, der aber andererseits nicht mehr zwanglos mit einer »musikalischen Grammatik« zu einem Ganzen verwoben werden kann. Alle Bereiche, die bis ins frühe 19. Jahrhundert diese Grammatik ausmachen – angefangen von der Kunst der Verzierung bis hin zum Bereich der Improvisation – treten allmählich zurück zugunsten einer Vorstellung, die das Telos des Instrumentalspiels in der »Interpretation« großer Meisterwerke sieht. In eben dem Sinne, in dem Friedrich Schleiermacher in seiner posthum veröffentlichten Hermeneutik und Kritik (1838) für das Geschäft der Auslegung ein »divinatorisches« Moment geltend machte, das den Interpreten in die Lage setzt, »sich selbst in den anderen [zu] verwandel[n]« (Schleiermacher 1977, S. 169f.) – in eben diesem Sinne bedarf musikalische Interpretation nun der Einfühlung und ist mit der Kenntnis von »Wissenschaft« und »Grammatik« allein nicht mehr zu bewerkstelligen. Das bringt die Instrumentaldidaktik in eine schwierige Lage: das neue Ziel des Instrumentalspiels, die Interpretation, entzieht sich mehr und mehr der direkten Lehrbarkeit. Lehrbar sind in den Augen der Didaktiker einzig und allein die Bereiche des Körperlich-Materiellen bzw. der per definitionem unschöpferischen »Musiklehre«. Worauf sich das Materielle aber bezieht, lässt sich nicht mehr unmittelbar darstellen, sondern ist der Persönlichkeit und ›Begabung‹ des Interpreten anheimgestellt. Durch ihre Fokussierung auf den metaphysischen Bereich der Interpretation sieht sich die instrumentale Ausbildung, in deren Zentrum nun der Erwerb von »Technik« steht, zugleich in deutlicher Opposition zu allen Tendenzen, in denen die körperliche Dimension zum Selbstzweck erhoben wird. Es fällt auf, dass der Begriff der »Technik« just zu dem Zeitpunkt in den Vordergrund rückt, zu dem die bürgerliche Musikkultur den Körper des Instrumentalisten als Schauplatz spektakulärer Selbstinszenierung zu entdecken gelernt hatte. War doch zwischen 1817 – Niccolo Paganinis ersten Triumphen – und 1847 – jenem Jahr, in dem sich Franz Liszt zu einer Beendigung seiner Karriere als gefeierter Konzertpianist entschloss, – eine Generation von Virtuosen auf den europäischen Konzertpodien zu bestaunen gewesen, deren Kunst keineswegs in der Darstellung einer immateriellen geistigen »Idee«, sondern vielmehr in der handfesten und spektakulären Inszenierung ihres eigenen Körpers terminierte. Es wäre eine erhebliche Verkürzung des romantischen Virtuosenphänomens, wollte man es auf den Aspekt einer bis dahin ungekannten manuellen Meisterschaft allein reduzieren. Bei aller grundsätzlichen Skepsis gibt Eduard Hanslick in seiner Geschichte des Concertwesens in Wien eine nüchterne und präzise Definition des klassischen »Virtuosendecenniums« (er denkt hier an das Jahrzehnt vor der 1848er-Revolution), die zeigt, dass es bei dem Phänomen der Virtuosität um wesentlich mehr als nur um Geläufigkeit geht: »Gefeierte Bravourspieler hat es vor und nach dieser Periode gegeben, was aber das eigentliche Virtuosendecennium charakterisiert, sind zwei Dinge. Erstens die große

Versuch über Technik Zahl von Sternen ersten Ranges, welche dicht und nach einander blendend, jeder wieder von einer Legion schwächerer Trabanten umkreist. Sodann die ungemein und anhaltend enthusiastische Stimmung, mit welcher das Publikum den Virtuosen und ihrer Kunstrichtung entgegenkam.« (Hanslick 1979, S. 325)

Mit seiner zweiten Kennzeichnung gibt Hanslick zu erkennen, dass er Virtuosität nicht nur als Kompetenz-, sondern vor allem als ein Resonanzphänomen begreift – als das Ergebnis einer Interaktion zwischen einer spezifisch virtuosen Leistung und einer auf diese Leistung »enthusiastisch« reagierenden und in Taumel versetzten Publikumsreaktion. Virtuosität erscheint damit vor allem als ein performatives Ereignis, das nicht allein den Aspekt der spektakulären Fingerfertigkeit, sondern ebenso auch den einer eindringlich »überredenden« und in vielen Fällen wahrscheinlich genau im voraus kalkulierten Zur-SchauStellung des elegisch mit-empfindenden, des heroisch-titanenhaften oder des souverän-gebietenden Virtuosenkörpers mit umfasst (vgl. hierzu: von Essen 2006). Es mag mit den offensichtlich inszenierten und kalkulierten Aspekten des Virtuosen-Events zusammenhängen, dass die instrumentaldidaktische Literatur nach 1830 zwar die manuellen, nicht aber die performativ-inszenatorischen Elemente des Virtuosentums thematisierte. Es fällt auf, dass mit dem zunehmenden Erfolg der ersten beiden Virtuosengenerationen in den einschlägigen Lehrwerken das Interesse an der Realität der Podiumssituation bzw. den Möglichkeiten einer Interaktion zwischen Spieler und Publikum rapide abnimmt. Hatte Carl Czerny in seiner Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte (1829/30) oder aber auch im 3. Teil seiner Pianoforte-Schule noch vergleichsweise unbefangen die besonderen Gegebenheiten eines Spielens vor Publikum erörtert, so finden sich in den Lehrwerken der Jahrhundertmitte kaum noch Anmerkungen zu diesem Themenbereich. Die in diesem Zeitraum zu beobachtende Entwicklung der Instrumentaldidaktik – weg von einer aufführungspraktischen Vortrags-, hin zu einer Techniklehre – begreift das Geschäft des Künstlers immer mehr als eine ›einsame‹ Auseinandersetzung des Spielers mit dem Kunstwerk und den zu dessen Hervorbringung notwendigen ›technischen‹ Voraussetzungen, die nun freilich aber von allen Aspekten gereinigt sind, die über das bloß funktionierende Umsetzen einer ›körperlosen‹ künstlerischen Idee hinausgehen könnten. Mit der um 1850 erfolgenden Etablierung des Technikbegriffs schreibt sich die Instrumentaldidaktik mit einiger Verspätung einem Diskurs ein, der in anderen Gebieten bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wirksam war und auf eine grundlegende Disziplinierung des Körpers abzielte – grundlegend, weil sie nicht mehr, wie noch bei Müller, in einem inneren Zusammenhang mit einer Zielbestimmung (der »musikalischen Grammatik«) steht, sondern mehr und mehr zum Selbstzweck wird. Michel Foucaults Kennzeichnung die-

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ser Disziplinierung könnte exakt auf die Instrumentaldidaktik gemünzt sein, geht es doch in vielen Lehrwerken um nichts anderes als darum, »einen fein abgestimmten Zwang auszuüben; die Zugriffe auf der Ebene der Mechanik ins Kleinste gehen zu lassen: Bewegungen, Gesten, Haltungen, Schnelligkeit. Eine infinitesimale Gewalt über den tätigen Körper. […] Es geht nicht oder nicht mehr […] um die Sprache des Körpers, sondern um die Ökonomie und Effizienz der Bewegungen und ihrer inneren Organisation; der Zwang zielt eher auf die Kräfte als auf die Zeichen ab; die einzige wirklich bedeutsame Zeremonie ist die der Übung.« (Foucault 1976, S. 175)

Was Foucault als »infinitesimale Gewalt« bezeichnet, lässt sich keineswegs nur auf jene offensichtlichen Zwangsmechanismen beziehen, die in den Zitaten zu Beginn dieses Abschnitts zu bestaunen waren. Die Trennung zwischen einer körperfernen Sphäre des musikalischen Kunstwerks und einem dieser Sphäre »dienenden« und durch Übung zu perfektionierenden Körper ermöglicht es dem Spieler, und hierin liegt zunächst einmal ein durchaus beträchtliches Innovationspotential von Spieltechnik, seine Bewegungsfolgen in zunehmender Verfeinerung selbst zu beobachten und zum gezielten Gegenstand des Übens zu machen. Deutlich wird das etwa an der Tendenz, musikalische Phänomene, die im 18. Jahrhundert noch als reine Charakter- und Ausdrucksbezeichnungen begriffen wurden, nun als körperlich herstellbare »Spieltechniken« aufzufassen. Noch in der Clavierschule Daniel Gottlob Türks (1789) erscheint der Begriff »legato« als ein »Kunstwort«, mit dessen Hilfe die »Bewegung und de[r] Charakter eines Tonstückes« angedeutet wird, »damit […] der Spieler wisse, […] wie er also seinen Vortrag […] einzurichten habe.« (Türk 1997, S. 114f.) Dieses Kunstwort wird von Türk in einem Atemzug mit Ausdrucksbezeichnungen wie »lagrimoso« und »lamentoso« genannt und erscheint noch in keiner Weise von einer spezifisch »technischen« Bewegungsfolge untersetzt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts mutiert der Begriff des Legatos dann aber mehr und mehr zu einem körperlich-instrumentalen und damit zu einem »spieltechnischen« Phänomen, das sich detailliert beschreiben lässt und das in diesem Zuge den Status einer instrumentalen Grunddisposition erhält, die ohne Rücksicht auf einen konkreten musikalischen Zusammenhang geübt werden kann. Diese allmähliche Umwandlung vormals rein musikalischer Ausdrucksphänomene in spieltechnische Äquivalente ist ein Schritt, dessen Bedeutung für die Entwicklung der Instrumentaldidaktik wohl kaum groß genug gedacht werden kann. Wie sehr er auch didaktische Konzeptionen des 20. Jahrhunderts beherrscht, zeigt ein Blick in eine der auch heute noch meistbenutzten Klavierschulen. Zu Beginn des IV. Abschnitts im 1. Band der Russischen Klavierschule heißt es:

Versuch über Technik »Wenn zwei Töne legato gespielt werden, erzeugt man den ersten von ihnen durch leichtes Herabsenken der Hand und vorsichtiges ›Eintauchen des Fingers in die Taste‹, den zweiten durch geringe Hebung der Hand, wodurch das Armgewicht und damit die Stärke des Tastendrucks verringert wird.« (Nikolajew/Suslin 1999, S. 22)

Die Stücke, an denen dann das Legatospiel trainiert werden soll, sind in keiner Weise zwingend an einen legato-Charakter gebunden, sondern erscheinen eher als ein beliebig austauschbares Tonmaterial, an dem diese spezielle Bewegungsfolge trainiert werden soll. Der Legato-Charakter ist somit kein Ausdrucksphänomen mehr, sondern ergibt sich gewissermaßen nachträglich aus der Umsetzung einer spieltechnischen Bewegungsfolge. Mit der Herausbildung spieltechnischer Äquivalente, die musikalische Phänomene in körperlich beschreibbare Bewegungsfolgen verwandeln, ist zugleich die Möglichkeit gegeben, »Technik« als ein hierarchisch nach Schwierigkeitsgraden gestaffeltes System zu konzipieren. Mit der Etablierung von Grundspielarten (legato, staccato, detaché etc.) als basalem Fundament von Instrumentaltechnik bietet sich die Chance einer progressiv fortschreitenden Ausdifferenzierung. Exemplarisch lässt sich das etwa in den Studienwerken des tschechischen Geigers Otakar Ševčík beobachten. In der Schule der Bogentechnik op. 2 (1895) wird jede Etüde mit einer melodischen »Grundreihe« begonnen (vgl. Abb.  1), die dann in zahlreichen progressiv aufeinander aufbauenden bogentechnischen Varianten geübt werden soll (Abb. 2). Die Grundreihe ist dabei eine gleichsam neutrale Vorordnung, die sich keinem speziellen musikalischen Charakter zuordnen lässt. Das didaktische Ziel ist offenkundig: Anhand eines im Grunde beliebigen Tonmaterials soll der gesamte Phänomenbereich bogentechnischer Modifikationen entfaltet werden. Ohne jede Ablenkung durch im engeren Sinne musikalische Ausdrucksphänomene (Legatound Staccatospiel stehen unmittelbar neben bogentechnischen Modifikationen wie etwa »Mit einem Drittel des Bogens« und sind somit Erscheinungsformen von »Bogentechnik«), soll sich der Spieler auf seinen Bewegungsapparat konzentrieren können, aus dessen differenzierter Beherrschung dann eine geigerische Grundhabitualisierung erfolgt, die – so die Hoffnung – zur Meisterung jeder nur denkbaren Schwierigkeit im »Outdoor«-Gelände »echter« Geigenliteratur führt.

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Abbildung 1: Ševčík op. 2.1, Beginn der Nr. 4 (Grundreihe)

Abbildung 2: Ševčík op. 2.4, Varianten 15-25

Will man ermessen, wie groß die »infinitisemale Gewalt« (Foucault) ist, die hinter diesem Ansatz steht, möge man Ševčíks Konzeption mit der knapp 150 Jahre zuvor entstandenen Violinschule Francesco Geminianis (1751) vergleichen (Geminiani 1952). Im Essempio XXIV listet Geminiani, hierin auf den ersten Blick der Vorgehensweise von Ševčík nicht unähnlich, vielfältige Strichartenkombinationen auf, die auf den leeren Saiten geübt werden sollen. Während Ševčík nun aber eindeutig in spieltechnischen Kategorien denkt und daher in feinen Abstufungen von basalen zu komplexeren Bewegungsfolgen fortzuschreiten in der Lage ist,10 erscheinen Geminianis Stricharten eher wie ein lockeres und wenig systematisches Kompendium von praxisrelevanten Spielfiguren, deren Ausführung noch in keiner Weise durch die Etablierung einer gezielten motorischen Selbstbeobachtung unterstützt wird. Finden sich bei Ševčík immer wieder Hinweise wie »Mit Handgelenk«, »wenig Bogen« oder »Mit der Spitze im Hinaufstrich anschlagen«, so präsentiert Geminiani ausschnitthaft eine Reihe charakteristischer Strichfolgen, deren »Urbilder« sich 10 | Ševčíks Varianten gliedern sich systematisch in folgende Abteilungen: Mit ganzem Bogen (Varianten 1-14), mit halbem Bogen (15-25), mit ganzem und halbem Bogen (2633), mit der Mitte des Bogens (34-38), Legato (39-52), Staccato (54-61), mit einem Drittel des Bogens (62-69), Punktierte Viertel (70-135), Staccato mit dem Handgelenk (136-190), Viotti’s Bogenstrich (191-195), Jeté (196-220), Saltando (221-224), Staccato e volante (225-234), Staccato e jeté (235-242), im Abstrich am Frosch (243-246), im Aufstrich am Frosch (247-249), mit der Spitze im Hinaufstrich anschlagen (250-252), Crescendo/Diminuendo (253-260).

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leicht in seinen eigenen Violinkompositionen festmachen lassen.11 Hier wird nicht der »Geigenkörper« (als Zusammenschluss eines instrumental und physiologisch aufeinander abgestimmten »technischen« Regelsystems) trainiert, sondern ein ausgewählter Bezirk einer musikalischen Sprache.

Abbildung 3: Francesco Geminiani: The Art of Playing the Violin (1751)

Wir sehen: Die Herausbildung einer »Spieltechnik«, die es erlaubt, musikalische Zusammenhänge als Bewegungsfolgen zu denken, zu beschreiben und zu üben, äußerst sich keineswegs allein in einem musikfernen und autoritären Drill, sondern ebenso in einem »leisen« und dabei doch den gesamten Spielprozess umgreifenden Disziplinierungsprozess. Dieser Prozess ist von der verführerischen methodischen Hoffnung geprägt, alle nur denkbaren musikalischen Phänomene in körperliche Äquivalente übersetzen zu können und damit zugleich auch lehr- und lernbar zu machen. Der Preis dieser Fokussierung besteht allerdings in einer zumindest tendenziellen Abkopplung spieltechnischer Phänomene von den musikalischen Zusammenhängen, die durch sie konstituiert werden. In den Worten Foucaults: Nicht die »Zeichen«, sondern die »Kräfte« rücken in den Vordergrund des Übens: Nicht wofür eine bestimmte Bewegungsfolge steht, ist im Fokus des Übenden, sondern die Bewegungsfolge (»Kraft«) selbst, deren saubere Ausführung gleichsam aus sich 11  |  Vgl. etwa seine der Violinschule angehängten Geigenkompositionen (z.B. Nr. 12 F-Dur, T. 32-41).

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selbst heraus einen bestimmten Zeichencharakter erzeugen soll. Der Vergegenwärtigung dieses Zeichencharakters selbst wird demgegenüber kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Sie fällt in den Zuständigkeitsbereich der »Interpretation« und wird – sehr im Gegensatz zur »technischen« Sphäre – immer wieder als letztlich unlernbar dargestellt. Woraus sich die Frage ergibt, welchen Zweck eine immer weiter fortschreitende technische Durchdringung des Instrumentalspiels eigentlich besitzen soll, wenn das aus dieser Technik erfolgende Musizierenkönnen sich letzten Endes dann doch der Lernbarkeit entzieht und darüber hinaus sogar zum entscheidenden Merkmal eines Distinktionsprozesses wird – eines Prozesses, hinter dem die Überzeugung eines Auserwähltseins des »echten« Musikers steht. Hier zeichnet sich ein Grundwiderspruch ab, der viele Lehrwerke des 19., aber auch noch des 20. Jahrhunderts beherrscht. Gegen Ende seines monumentalen Werks Mechanik und Ästhetik des Violoncellospiels (1929), das den Anspruch erhebt, die Prinzipen des Cellospiels von den elementaren Anfängen bis hin zu den Gipfelwerken der Literatur ausgearbeitet zu haben, gesteht der Cellist Hugo Becker gleichsam am Rande ein, dass die genaue Befolgung seiner Lehre höchstens »Richtiges«, keineswegs aber musikalisch Vollgültiges hervorbringen wird. Letzteres bleibt der »Priesterschar« (sic!) weniger Auserwählter vorbehalten, die – und hier tritt die Paradoxie des Technikbegriffs deutlich zutage – gerade wegen ihres Auserwähltseins einer systematischen Anleitung im Grunde gar nicht bedürfen (Becker 1929, S. 270). »Technik« steht damit vor einem kaum auflösbaren Dilemma: Will sie auf der einen Seite den gesamten Phänomenbereich des Instrumentalspiels in körperliche Äquivalente überführen und zugänglich machen, begreift sie sich doch gleichzeitig nur als ein Vorbezirk zu jenem Tempel der Kunst, den betreten zu wollen den Unberufenen in einen »ohnmächtigen Eindringling« verwandelt (vgl. ebd.). Ungeachtet der Tatsache, dass die infinitesimale Gewalt des Technikbegriffs bis heute stets aufs Neue ihre Spuren in zahlreichen Lehrwerken hinterlässt,12 melden sich doch von Beginn des 20. Jahrhunderts an immer wieder Tendenzen zu Wort, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus die antithetische Verwendung des Technikbegriffs kritisieren und zu überwinden versuchen.

12 | Die zahlreichen online-Portale, die – etwa bei youtube – den jeweiligen User in der Kunst des Keyboard-, Gitarre- oder Flötenspiels einführen wollen, sind trotz des innovativen Mediums, dessen sie sich bedienen, nicht selten starre Lehrgangssysteme, in denen der enge Technikbegriff des 19. Jahrhunderts unbefragt fortgeschrieben wird.

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II. B efreiungsversuche Im Jahre 1905 erscheint Die natürliche Klaviertechnik von Rudolf Maria Breithaupt (Breithaupt 1905) – ein monumentales klavierpädagogisches Werk, das sich dem genannten Dualismus in mehrfacher Hinsicht entgegenstellt. Zunächst auf einer ganz vordergründigen Ebene: Dem Anspruch nach begibt sich Breithaupt in seinem Lehrwerk, das keine Klavierschule, sondern eine systematische Darstellung der Pianistik sein möchte, gerade nicht auf die Ebene jenes erbitterten Methodenstreits, der in der Klavierpädagogik seiner Zeit den Charakter regelrechter Grabenkämpfe angenommen hatte. »Methoden« gibt es in Breithaupts Augen mehr als genug, es erscheint daher nicht notwendig, der Klavierpädagogik um jeden Preis noch eine weitere hinzufügen zu wollen. Breithaupt geht es um anderes, und zwar um nichts Geringeres als die Entwicklung der Spieltechnik aus allgemein gültigen, wissenschaftlich abgesicherten physiologischen Erkenntnissen und Gesetzmäßigkeiten. Auf der Basis grundlegender Forschungsarbeiten will er eine Übe- und Unterrichtspraxis überwinden helfen, die den instrumentalen Lernerfolg an unzählige geistund sinnleere technische Studien und deren unermüdliche Wiederholungen bindet. Technik ist für Breithaupt keine andressierte Kunstfertigkeit, sie erschöpft sich nicht in unzähligen abstrakt bleibenden Bewegungsstudien, Etüden etc., sondern fungiert als eine Hilfestellung, deren korrekte Anwendung den Körper des Spielers von allen selbst auferlegten bzw. jahrelang antrainierten Hemmungen und Selbstfesselungen zu befreien imstande ist. Sie umfasst also weniger einen bestimmten ›technischen‹ Übungsstoff, als vielmehr grundsätzliche Bewegungsprinzipien, die der Spieler in seinem Lernprozess nun auf seine je spezifische Körperlichkeit anwenden und übertragen muss (Breithaupt 1905, S. 44). Diesen Bewegungsprinzipien – allen voran der Lehre vom freien Fall des Arms – wird nun freilich objektive Gültigkeit zugeschrieben; sie bilden einen Rahmen, der, einmal erkannt, erfahren und beherrscht, die Meisterung aller nur denkbaren spieltechnischen Situationen garantieren soll. Breithaupt wird nicht müde, diese Situationen mit unerschöpflicher systematischer Energie zu erfassen und zu beschreiben. Es ist unschwer zu erkennen, dass mit dieser Zielsetzung eine fundamentale Umdeutung und Umwertung des Technikbegriffs einhergeht. Anstatt dass der Körper von außen einem umfassenden Disziplinierungsprozess unterworfen würde, möchte Breithaupt mit seinem Buch zu einem Erfahrungsprozess beitragen, in dem sich der Körper auf sich selbst – seine spezifischen Bewegungsqualitäten und -gesetzmäßigkeiten – besinnt. Dieser Prozess nimmt nicht bei der Verabsolutierung vermeintlich »allgemeingültiger« Methoden, sondern bei der je eigenen und unverwechselbaren Körperlichkeit des Spielers seinen Ausgang. Höchst kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang Breithaupts Absage an alle Formen bloßer technischer Übungen. Die Befreiung des

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Körpers mündet zwar in spezifisch freien und »natürlichen« Bewegungsformen, ist aber nicht durch ein ausgefeiltes körperliches Einprägen zu erreichen, sondern bedarf vor allem eines wachsamen und spürenden Erfassens der im Körper angelegten Bewegungsgesetzmäßigkeiten: »Man verstehe mich recht: Wir wollen kein Fingerwerk mehr! Wir wollen eine Erziehung zur natürlichen Selbstbetätigung des Spielorganismus’ und seiner Funktionen zu dem Zwecke, dem Impuls unter Beseitigung jeglicher Hemmungen […] eine möglichst absolute und freie Entfaltung zu sichern, und jeden tonalen Effekt willensgemäß fest und sicher vorauszubestimmen und empfindungsgemäß auszudrücken.« (Breithaupt 1905, S. 302)

Und so ist es auch nur plausibel, wenn es Breithaupt gegen Ende seines Werkes gar riskiert, Technik als ein regelrecht »geistiges« Vermögen zu definieren: »Die Zukunft der Praxis liegt in der geistigen Durchbildung der physiologisch-technischen Funktionen und ihrer körperlichen Analyse (›Bewegungslehre‹). Die Verlegung der Übung ins Hirn bedeutet der Sieg der Technik.« (Breithaupt 1905, S. 431)

Wie verhält sich nun diese Ebene einer der körperlichen Befreiung dienenden »Technik« zur Sphäre der Musik? Breithaupts Antwort ist sonderbar zwiespältig: Er erkennt zunächst sehr wohl an, dass die Ebene der in seinem Sinne verstandenen Technik eine Sphäre genuin ästhetischer Erfahrung ist: »Die Idee des Schönen kann in der reproduktiven Klavierkunst nur durch eine gleich weiche und runde wie gleich schwere und ›gewichtige‹ Bewegung zum Ausdruck gebracht werden. Schwung ist Ton! […] Es erhellt nunmehr: das Ästhetische ist nicht nur ein Geistiges, Psychisches, sondern auch ein Physiologisch-Körperliches. Der Satz ›Gesang ist Seele‹ hat nur einen relativen Wert. Das Ideal der Klavieristik liegt in der Einheit von Empfindung und plastisch-schöner, körperlich-natürlicher Bewegung.« (Breithaupt 1905, S. 121f.)

Man kann beim Lesen dieser Zeilen durchaus den Eindruck erhalten, dass Breithaupt mit dem Begriff der Einheit ein »quid pro quo« von körperlich-instrumentaler und musikalischer Empfindung behauptet. Doch betrachtet man die Gesamtargumentation seines Buches, so wird man schnell registrieren, dass dieser Eindruck trügt. Die in diesem Zitat beschworene »Einheit« markiert für Breithaupt ein selten eingelöstes Ideal, in dem sich zwei an sich getrennte Sphären, das instrumentell-Schöne und das musikalisch Schöne, miteinander verbinden:

Versuch über Technik »[…] der musikalische Sinn erzeugt keineswegs immer und unter allen Umständen auch den instrumentell-technischen Sinn […]. Und umgekehrt schließt das technische Vermögen keineswegs auch das musikalische in sich ein. Und doch soll es so sein! Das Genie hat beides, und das klavieristische Kunstideal liegt in der vollkommenen Vereinigung und harmonischen Ausgestaltung von Physis und musikalischer Psyche.« (Breithaupt 1905, S. 146)

Beide Sphären, »Physis« und »musikalische Psyche«, sind für Breithaupt also gerade nicht aufeinander zurückzuführen. Ganz im Sinne der bürgerlichen Musikästhetik des 19. Jahrhunderts bleibt das Musikalisch-Schöne auch für ihn eine »Welt für sich«, die von der Ebene des Körpers strikt getrennt ist. Die Differenzlinie zwischen beiden Welten trennt dabei auch die Ebenen des Lernund des Nicht-Lernbaren. Während der »technische« Akt der körperlichen Befreiung von jedem Menschen vollzogen werden kann, erscheint die Sphäre des Musikalischen als angeboren: »Der gute, technisch-instrumentell-schöne Ton lässt sich entwickeln, der ideale, seelisch schöne Ton muss geboren sein.« (Breithaupt 1905, S. 320) Mit dieser Trennung verbleibt Breihaupt dann letztlich doch innerhalb jenes Dualismus, dessen Überwindung er zunächst so zielstrebig eingeleitet hatte. Geht es ihm einerseits darum, den Körper durch eine »natürliche Klaviertechnik« von allen Hemmungen zu befreien und dem Spieler damit eine ungehinderte Entfaltung seiner musikalischen Impulse zu ermöglichen, so macht er doch andererseits unmissverständlich klar, dass diese Impulse selbst nicht körperlicher, sondern seelisch-geistiger Natur sind. So sehr er anerkennt, dass der schwingende Körper des Spielers aus sich heraus eine ästhetische Dimension besitzt, so sehr scheut er doch davor zurück, dieser Dimension selbst schon einen genuin musikalischen Charakter zubilligen zu wollen. Dennoch ist es wohl nicht verfehlt, in Breithaupt einen der ersten Vertreter eines Freiheitsdiskurses zu sehen, der für die Instrumentalpädagogik im 20. Jahrhundert insgesamt eine große Rolle spielen sollte. Die Aufgabe des Instrumentalpädagogen besteht für ihn primär in der Aufgabe einer Lösung zuvor erworbener Hemmungen, durch die jene schöpferischen Kräfte sicht-, hör- und fühlbar werden, über die in seinen Augen viele Menschen zwar verfügen, ohne sie doch wirklich einsetzen zu können. Im weitesten Sinne könnte man sein instrumentaldidaktisches Konzept daher mit jenem Begriff der »Nachreifung« in Verbindung bringen, den Heinrich Jacoby rund zwanzig Jahre später sowohl in seiner praktischen Arbeit wie auch theoretisch zu entwickeln begann. Jacoby war freilich weder ein Instrumentaldidaktiker noch ein Musikpädagoge im herkömmlichen Sinn. Gerade durch seine Außenseiterstellung, die sich von Beginn seines Wirkens an herkömmlichen Schablonen widersetzte, hat er jedoch der Musikpädagogik insgesamt wesentliche Impulse zugefügt, die bis heute nachwirken. Für die Instrumentaldidaktik stellt sein pädagogi-

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scher Ansatz nach wie vor eine Herausforderung, ja vielleicht sogar eine Provokation dar, weil hier der geläufige Gegensatz zwischen Musik und Technik nicht einfach überbrückt, sondern regelrecht aus den Angeln gehoben wird. Pointiert ließe sich sagen, dass es Breithaupt um eine Befreiung durch Technik, Jacoby hingegen um eine Befreiung von der Technik ging. Dies sei etwas näher ausgeführt: Der Begriff der Nachreifung, der im Zentrum von Jacobys Arbeit mit erwachsenen Laien steht, lässt sich von der reformpädagogischen Maxime leiten, dass in jedem Kind schöpferische Impulse angelegt sind, deren Entfaltung durch die pädagogischen Institutionen jedoch in der Regel eher verhindert als gefördert wird. Leitend für Jacobys Denken ist die Idee einer »zweckmäßigen Fragestellung« bzw. eines »zweckmäßigen Verhaltens« (vgl. Jacoby 1981). Damit bezeichnet er eine in seinen Augen »natürliche« menschliche Grunddisposition, die den Organismus zu einer Rezeptivität und Offenheit befähigt, durch die eine Passung zwischen ihm und den auf ihn einströmenden Außenreizen hergestellt wird; diese Passung bildet eine entscheidende Grundlage für eine natürliche Interaktion zwischen dem handelnden Organismus und seiner Umwelt. Diese Zweckmäßigkeit des Handelns wird jedoch durch ein regulierendes, auf Normen und extrinsischen Motivationen beruhendes Erziehungssystem unterdrückt, was zur Folge hat, dass Menschen in erlernter Hilflosigkeit weit unter jenen Möglichkeiten bleiben, die ihre Grunddisposition ihnen eigentlich eröffnet. Nachreifung heißt daher: eine Hin- oder besser Rückwendung zu einer Zweckmäßigkeit, die durch Normen und Institutionen zurückgehalten wird. Bezogen auf die Musik bedeutet dies: einen Weg suchen und finden, der ein natürliches, spontanes und vor allem angstfreies Reagieren auf die Musik (wieder) ermöglicht. Jacoby spricht in diesem Zusammenhang gerne von »Bereitschaft«. Es geht zunächst also weniger um aktives Handeln, als um ein rezeptives Hinnehmen der musikalischen Impulse, auf dessen Grundlage dann zweckmäßiges Handeln einsetzen kann. Kennzeichnend für diese Aufnahmebereitschaft ist die Fähigkeit, an die Stelle eines verengenden »Zu-hörens« ein aufnehmendes »Lauschen« zu setzen. Erst wenn das Tönende seinen Weg in die innere Vorstellungsbildung gefunden hat, kann es zur »Äußerung« werden. Das Erlernen eines Instrumentes ist weder auf ein äußerliches Training von Spielbewegungen noch auf die nachträgliche Umsetzung eines vorgegebenen Notentextes zu reduzieren, sondern ein bloßes Mittel oder Werkzeug (»instrumentum«), mit dessen Hilfe einer inneren Vorstellung eine äußere Gestalt verliehen werden soll. In diesem Sinne fordert Jacoby bereits 1921: »Die übliche Art des Instrumentalunterrichts muß von Grund auf verändert werden! Vor allem muß mit dem Spielen eines Instruments gewartet werden, bis der Tonumfang innerlich erlebter Musik die eigenen Ausdrucksmittel, wie Singen, Pfeifen, Klatschen zu überschreiten beginnt. Die Wiedergabe von Werken der Musikliteratur darf später

Versuch über Technik […] auch nur nach vorausgegangener Klang-Empfindung versucht werden. Nur bei Einhaltung dieses natürlichen Ablaufs bleibt das Instrument, was es eigentlich sein soll: Werkzeug, Hilfsmittel für die musikalische Äußerung – und nicht Tummelplatz für eifrige Notenleser und mehr oder weniger geschickte Fingergymnastik. Es ist überraschend, in welchem Maße dann die manuellen Schwierigkeiten zurücktreten, weil die Finger einer intensiven Klang-Empfindung (Klang-Erinnerung-Vorstellung) viel leichter gehorchen als einer intellektuellen Kombination.« (Jacoby 1984, S. 21)

Auch unter der Voraussetzung, dass es Jacoby – im Gegensatz zu Breithaupt – nicht um die professionelle Ausbildung von Pianisten, sondern primär um die Förderung musikalischer Laien geht, zeigt das Zitat doch deutlich, dass hier ein Begriff musikalischer Technik im Raum steht, der sich in grundlegender Weise von seiner Verwendung bei Breithaupt unterscheidet: Obgleich beide Autoren eine Befreiung des Spielers hin zur Musik bzw. eine Lösung erworbener Hemmungen anstreben, ist der Weg zu diesem Ziel doch grundverschieden. Während Breithaupt, ungeachtet seiner generellen Ablehnung eines bloß motorischen Trainings, basale pianistische Bewegungsformen lehr- und lernbar machen möchte – ein Prozess, der für ihn noch nicht direkt etwas mit Musik zu tun hat, dessen erfolgreiche Bewältigung aber ein spontanes Umsetzen der dem Spieler innewohnenden musikalischen Gestaltungsimpulse befördert, – und damit Technik letztlich als ein körperliches Hilfsmittel zur Umsetzung einer geistigen Idee begreift, ist für Jacoby der Glaube an eine derartige Technik selbst schon Teil des Problems, dem sie Abhilfe verschaffen soll. Da das instrumentale Agieren für ihn nur dann als sinnerfüllt gelten kann, wenn es sich als ›Äußerung‹ einer vorausgehenden ›Innerung‹ vollzieht, ist die Qualität jeder Spielbewegung letztlich untrennbar an die Qualität der ihr vorausgehenden musikalischen Vorstellungskraft gebunden. Jedes Arbeiten im Instrumentalunterricht muss daher für ihn bei der Entwicklung des Vorstellungsvermögens einsetzen, dessen Sensibilisierung dann aus sich heraus einen Großteil vermeintlich »technischer« Probleme zu lösen imstande ist. Obgleich Jacoby in seinen Schriften den Begriff der Technik selten verwendet, so ist doch offenkundig, was er darunter versteht und was er von ihm hält: Technik suggeriert für ihn die Vorstellung einer isolierten Auseinandersetzung mit der körperlich-motorischen Dimension des Musizierens, die doch prinzipiell nicht unabhängig von einer rezeptiv-hinnehmenden Haltung des Lauschens gedacht werden kann. Bei einem derart »technischen« Üben »wird das Griffe- und Kniffe-Studieren und ‑Beherrschen zur Hauptsache, und darüber wird vergessen, dass sie immer vom Anfang an nur im Dienste von etwas, was uns erfüllt, Existenzberechtigung haben.« (Jacoby 2003, S. 107)

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In Jacobys Konzeption erscheinen alle Phänomene, die man oberflächlich als »technische Mängel« bezeichnen könnte, als Ausdruck einer unzulänglichen Vorstellungsbildung. Darin nimmt er eine Position vorweg, die später auch Edwin Gordons Konzept der »Audiation« prägen sollte (vgl. Gordon 1990, S.  106f.). Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Phänomene, die gemeinhin unter der Rubrik des Technischen zusammengefasst werden, sich wirklich zur Gänze in diesen Bereich der inneren Vorstellungsbildung einfügen lassen. Schließlich ist ein nicht unbeträchtlicher Teil dessen, was unter dem Begriff »technische Übung« firmiert, an redundante Tätigkeiten (wie etwa Auf bau von Kondition, Gewinnung von Sicherheit) gekoppelt – Tätigkeiten, die sich nur sehr begrenzt (wenn überhaupt) durch das Nadelöhr der inneren Vorstellungsbildung im Sinne Jacobys fädeln lassen. Diese Dimension ist zwar unzweifelhaft in jedem Übeprozess am Werk, findet aber keinen Platz in Jacobys Befreiungskonzeption. Sie wird weder integriert noch überwunden, sondern schlichtweg heimatlos.

III. A usweitung »Der Mensch als Mobile«: Unter dieser Überschrift entwickelte der Musiker und Cellopädagoge Gerhard Mantel den Gedanken eines systemischen Ineinandergreifens körperlicher, emotionaler, wahrnehmender (»ästhetischer«) und imaginativer Dimensionen in den Akten des Spielens und Übens. Im Bild des Mobiles bündeln sich viele Gedanken, die Mantel in anderen Zusammenhängen und an anderer Stelle entwickelt hat; neben vielem anderen impliziert es einen Begriff von Technik, der in den bisher behandelten Konzeptionen so noch nicht zu finden war: »Statt als Haus mit drei Etagen – je einer für Körper, Seele und Geist – können wir uns den Menschen viel eher als eine Art ›Mobile‹ vorstellen, das bei der geringsten Änderung eines seiner Teile mit veränderten Konstellationen aller anderen Teile reagiert. Eine sprachliche Äußerung, ja sogar eine nur innerlich vorgestellte sprachliche Äußerung, hat so gesehen einen Einfluss bis in die letzten Winkel unseres Körpers, ja im Falle des musikalischen Tuns sogar bis in Details unserer musikalischen Vorstellung, und somit des Plans, der die entsprechenden Spielbewegungen überhaupt erst erzeugt. Wir müssen uns verabschieden von der kausalen, oft gar monokausalen Sichtweise im Sinne eines Satzes wie: ›Wenn ich dieses mache, geschieht nur jenes‹. Stattdessen müssen wir eine so genannte systemische Sichtweise einnehmen, für die der Satz gilt: ›Wenn ich etwas Bestimmtes mache, verändere ich mich überall ein bisschen‹, wobei naturgemäß große Überraschungen zu erwarten sind, im Guten wie im Schlechten! […] In diesem Licht erscheint auch die klassische, dem Instrumentalisten so vertraute Trennung von ›Technik‹ einerseits, die dem Körper zugeordnet wird, und musikalischer Gestaltung,

Versuch über Technik also ›Ausdruck‹, für den die Seele und der Geist zuständig sind, als nicht aufrechtzuerhalten. Schon beim rein ›technischen‹ Üben haben wir es mit einer Fülle von ästhetischen […] und emotionalen Aktionen, Reaktionen und Urteilen zu tun. Ebenso spielen beim intensiven Musizieren körperliche Aktivitäten, auch reine Ausdrucksbewegungen, die sogar bis hin zur Mimik reichen, bewusst oder unbewusst eine Rolle. Wir können sie für unsere Arbeit nutzbar machen.« (Mantel 2006, S. 337f.)

Führt diese Sichtweise nun zu einer vollständigen Auflösung des Technikbegriffes? Für diese Annahme spräche zunächst die Tatsache, dass man, analog zu Jacoby, auch Mantels Idee des Mobile mit Fug und Recht als ›ganzheitlich‹ bezeichnen kann, denn auch hier wird ja der tradierte Dualismus von Technik und Musik in Frage gestellt. Dennoch ist leicht zu sehen, dass sich diese Überwindung bei Mantel auf eine ganz andere Art und Weise vollzieht, als wir dies bei Jacoby beobachten konnten. Während es bei Jacoby um die (Wieder-) Gewinnung eines Zustandes ging, der sowohl die musikalische Vorstellung als auch deren instrumentale Umsetzung zu »zweckmäßigen« Fragestellungen, Wahrnehmungen und Handlungen befähigt, geht das Bild des Mobiles von einer gegenseitigen Einflussnahme von Komponenten aus, die an sich auch unabhängig voneinander betrachtet werden können. Ich kann mich als Spieler sehr wohl isoliert mit den ›technisch‹-manuellen Abläufen eines komplizierten Lagenwechsels auseinandersetzen, allerdings muss ich mir darüber im Klaren sein, dass meine Klangvorstellung und Tonhöhenantizipation, ja sogar mein aktuelles Ausdrucksbedürfnis etc. in entscheidender Weise meine Bewegungsbildung mit beeinflussen – ein Tatbestand, den ich mir beim Üben dieses Lagenwechsels zu Nutze machen kann. Umgekehrt vermag ich durch eine vermeintlich rein ›technische‹ Bewegung (vgl. etwa durch einen ›sämigen‹ und ›satten‹ Bogenwechsel, einen ›schmelzenden‹ und ›weichen‹ Lagenwechsel etc.) auch meine klangliche Vorstellungskraft zu stimulieren, aus der am Ende dann sogar neue Interpretationsideen erwachsen können. Es wäre somit keineswegs zutreffend, wollte man sagen, dass Mantel die landläufige Vorstellung von Instrumentaltechnik einfach negiert oder auflöst. Vielmehr trennt er sich von dem Gedanken, dass mit diesem Begriff ein fest umrissener, isoliert zu betrachtender Gegenstandsbereich bezeichnet wird. Natürlich kann es für mich als Übenden unter Umständen auch sinnvoll sein, dass ich den Gegenstand meines Übens momentweise aus der Komplexität des Mobile herauslöse, um den vielfältigen und unübersehbaren Einwirkungen und Einflussfaktoren zu entgehen, die auch noch meine kleinsten Handlungen begleiten. So kann ich mich etwa gleichsam mikroskopisch in die Schwungbewegung eines Lagenwechsels versenken, und alle anderen Parameter (Intonation, Rhythmus, Tongebung) für einen Moment zurückstellen. In diesem Fall handelt es sich bei dem Gegenstand meines Übens jedoch weniger um eine ›objektiv‹ vorgegebene Technik, als vielmehr um das Ergebnis einer von mir vollzogenen

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Reduktionsleistung. Technik im Sinne Mantels ist nicht, sondern sie entsteht – und zwar als Folge einer bestimmten selektiven Aufmerksamkeitsrichtung. Mit dem Begriff der Aufmerksamkeit kommt nun ein Aspekt ins Spiel, der für Mantels instrumentaldidaktisches Denken und seine Unterrichtspraxis insgesamt von großer Wichtigkeit war und auch für unsere Frage nach dem Technikbegriff immense Bedeutung besitzt. Ausgehend von der kognitionspsychologischen Einsicht, dass es sich bei der menschlichen Aufmerksamkeit um eine höchst knappe und begrenzte Ressource handelt, deren Einsatz im Akt des Übens genau gesteuert werden muss, entwickelte Mantel bereits vor fast dreißig Jahren das Modell der »rotierenden Aufmerksamkeit« (Mantel 1987, S. 171ff.). In diesem Modell ging es ihm um eine Steuerung des Übens in Form einer systematischen Veränderung der jeweiligen Aufmerksamkeitsperspektive. In regelmäßigen Abständen wendet sich der Übende jeweils einem anderen Parameter zu (etwa Intonation, Rhythmus, Klangfarbe, Bewegungsabläufe etc.) und sorgt auf diese Weise für eine durchgehende Erhellung all jener Bereiche, die bei einem zu langen oder zu ausschließlichen Verweilen in einer bestimmten Aufmerksamkeitseinstellung unbeleuchtet bleiben würden. Im Rahmen dieses Spiralmodells ist es durchaus denkbar, dass auch scheinbar isoliert ›technische‹ Aspekte für eine begrenzte Zeit im Fokus der Aufmerksamkeit stehen können. Diese Technik existiert dann aber nicht so sehr ›an sich‹, sondern ist die Folge einer bestimmten Aufmerksamkeitsperspektive, die durch den Wechsel der Perspektive jederzeit wieder verlassen bzw. verändert werden kann. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und Mantels Gedankengang folgendermaßen weiterspinnen: Die ›eigentliche‹ Technik ist gar nicht der jeweilige Phänomenbereich (Lagenwechsel etc.), der gerade geübt wird, sondern weit eher der gezielte Umgang mit der Aufmerksamkeit, die diesen Phänomenbereich im Zuge ihrer Hinwendung entstehen lässt. Denn man muss sich vergegenwärtigen, dass mit dem leitenden Paradigma der Aufmerksamkeit zugleich ganz spezifische Wahrnehmungs- und Handlungsakte verbunden sind – Akte des Beobachtens, des Vergleichens, der Fehlerdiagnose bzw. der Entwicklung von Lösungsstrategien etc. –, die sich in einer mehr als nur metaphorischen Art und Weise als ›technisch‹ bezeichnen lassen: Der effiziente Umgang mit Aufmerksamkeit, der stringente und planvolle Auf bau des Übens, der permanente Vergleich von Ist- und Sollwerten: das alles sind Fähigkeiten, die man erlernen und beherrschen muss. Ein Üben, das im wesentlichen auf dem Einsatz dieser Fähigkeiten gründet, grenzt sich, wie wir unten noch genauer sehen werden, dadurch nachdrücklich von der Ebene des Spiels ab, es ist geradezu dadurch definiert, dass es nicht performativ ist.13 An13 | Diese Aussage scheint in eklatantem Widerspruch zu einem anderen Text von Mantel zu stehen, in dem der Begriff des Spiels geradezu als Klammer zwischen Üben und Musizieren fungiert (vgl. Mantel 2008). Üben wird in diesem Text u.a. als ein spie-

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ders formuliert: Mantel löst zwar den Begriff der Technik im Sinne eines fest umrissenen Gegenstandsbereiches auf, aber er setzt an die Stelle eines Übens von Technik eine Technik des Übens, die nicht minder vom performativen Akt des Musizierens getrennt ist, als der konventionelle Technikbegriff, an dessen Stelle sie tritt. In seiner neuen Gestalt als »Übetechnik« wird der Technikbegriff damit aber nicht nur nicht überwunden, sondern – im Gegenteil – geradezu ins Unermessliche ausgeweitet. Denn unter dem Aspekt eines an den Begriff der »rotierenden Aufmerksamkeit« gebundenen Übens gibt es letztlich keinen Gegenstandsbereich mehr, der nicht auf diese Weise ›technisch‹ bearbeitet werden könnte – gleichviel, ob es sich hierbei um motorische Abläufe, Klangbildung, musikalisch-interpretatorische Aspekte, Körpertraining, Fragen des Auswendigspiels oder der Präsentation etc. handelt. Diese Technik fungiert ›bereichsunabhängig‹: Es gibt keine Dimension des Spiels, die nicht zu ihrem Gegenstand werden und damit selbst zu einer ›technischen‹ Kategorie werden könnte. Aus der Idee einer aufmerksamkeitsgesteuerten Übetechnik ergibt sich eine Konsequenz, die für unser Thema von großer Bedeutung ist: Pointiert formuliert lässt sich nämlich sagen, dass ein Üben, bei dem permanent selektive Aufmerksamkeitsakte vollzogen werden müssen, in einem prinzipiell kritischen Verhältnis zum Handeln und Erleben steht, auf dem es fußt. Mit zunächst unübersehbar positiven Folgen: Unstrittig führt ein derartiges Üben dazu, die Wahrnehmung des eigenen Spiels durch die Konfrontation mit bestimmten selektiven Aufmerksamkeitsparametern unablässig zu formen und zu verfeinern. Damit ist zugleich aber auch gesetzt, dass das Erleben des eigenen Spiels immer aus einer Distanz heraus betrachtet wird; es ist nur eine Art lerisches »Problemlösen« bezeichnet. Nun soll es nicht im Entferntesten darum gehen, Mantel vorzuhalten, sein Begriff des Übens entbehre der spielerischen Lust. Allerdings ist zu betonen, dass das Spiel des Problemlösens (Konstruktionsspiel) eine durchaus andere Komponente des Spielbegriffs abdeckt als etwa das Vollziehen eines Regelspiels, eines darstellenden Spiels oder eines psychomotorischen Spiels (um in den Kategorien Jean Piagets zu sprechen). Will sagen: die Klammer des Spielbegriffs darf nicht verdecken, dass das Üben im Sinne eines Konstruktionsspiels einer grundsätzlich anderen Kategorie angehört als das Spielen im Sinne eines psychomotorischen, regelgeleiteten oder darstellenden Vollzugs, das beim nicht-übenden Instrumentalspiel im Vordergrund steht. Überdies muss darauf hingewiesen werden, dass gerade Konstruktionsspiele Gefahr laufen, zur ›Arbeit‹ zu werden, wenn sie sich nämlich aufs Ganze anstatt auf den Akt der Konstruktion des Ganzen beziehen. So wird das Zusammenbauen eines Spielhauses für ein Kind in dem Moment zur Arbeit, sobald die Tätigkeit des Bastelns aus den Augen verloren geht und es sich ganz auf das Ziel (das fertige Haus) konzentriert (vgl. Moor 1973, S. 46ff.).

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Rohmaterial, das durch ein gezieltes und selektives Wahrnehmen, Vergleichen und Analysieren im Akt des Übens bearbeitet werden muss. Fast ließe sich sagen, dass Mantel dem Erleben des eigenen Spiels – so notwendig und unumgänglich es auch sein mag – prinzipiell eher misstraut: die musikalische und instrumentale Wirklichkeit, die den Spieler umgibt, ist in seinen Augen meistens viel zu komplex, als dass sie sich von einer globalen Augenblickswahrnehmung auch nur annähernd erfassen ließe. Es ist daher nur schlüssig, wenn Mantel dem unmittelbaren Wohlgefühl, das sich aus der schieren Lust am Spielen ergeben kann, generell kritisch gegenübersteht: »Es muss hier angemerkt werden, dass der Grad von ›Wellness‹ eines Spielers kein Kriterium für die Qualität einer Interpretation ist. Das Wohlbefinden eines Spielers, neuerdings auch als ›Flow‹ apostrophiert, ist die möglichst restlose Entsprechung von Anspruch und Ergebnis. […] Flow ersetzt nicht eine ernsthafte, ja anstrengende Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk. Das beglückende Dopamin wird im Gehirn als Belohnung für eine erfolgreiche Anstrengung ausgeschüttet, nicht für deren Vermeidung, die sich als ›Intuition‹ tarnt.« (Mantel 2010, S. 138)

Und an anderer Stelle heißt es zum selben Thema: »Da sich eine solche Flow-Bewegung ja so gut anfühlt, kann das Spiel früh in einen Zustand geraten, in dem die Lust an der Bewegung jede darüber hinausgehende künstlerische Erweiterung überspült, zu einer Illusion des Gelingens wird. Es gibt viele Situationen, in denen die körperlich als ideal empfundene Bewegung zunächst keineswegs identisch ist mit der musikalisch idealen, wo vielmehr diese Identität erst nach einem längeren, Anstrengung erfordernden Lernprozess erreicht wird.« (Mantel 2008, S. 22)

Eine Übetechnik wie die rotierende Aufmerksamkeit bietet zweifellos einen schlüssigen Weg, der die Komplexität der musikalischen und instrumentalen Wirklichkeit reduziert und handhabbar macht – um den Preis allerdings, dass der auf diese Weise »technisch« Übende immer ein Stück von jenem musikalisch-körperlichen Erleben getrennt ist, das er analysiert, vergleicht und bewertet. Denn er erlebt sich ja nie ausschließlich als Handelnder, sondern immer zugleich auch als ein Supervisor, der die eigenen Handlungen überprüft, abwägt und durch strategisch geplante und vorbearbeitete Aufmerksamkeitsrichtungen zu verbessern sucht. Ein derart strategisches Handeln führt dann unter Umständen sogar dazu, dass sich der Übende gezielt neue Erlebnisbereiche erschließt und nutzbar macht. So kann er, um ein Beispiel von Mantel zu nennen, etwa seine Klangbildung am Instrument durch den bewussten Einsatz von Sprache zu beeinflussen versuchen:

Versuch über Technik »Es macht beim Streicher einen Unterschied, ob ein Ton als enges ›i‹ oder als weites, offenes ›o‹ gedacht ist. Die jeweils unterschiedliche Konstellation der Kehlkopfmuskulatur erzeugt über die Mobile-Vernetzung unterschiedliche muskuläre Einstellungen auch in den Armen, beim Streicher bis hin zu verändertem Druck- und Strichstellen-Verhalten.« (Mantel 2006, S. 344)

So unübersehbar mit diesem Übevorschlag ein scheinbar entlegener Erlebnisbereich (Sprache) in das Zentrum des instrumentalen Übens gerückt wird, so auffällig ist doch zugleich, dass die Einbeziehung dieses Erlebnisbereiches von vornherein strategischen und übetechnischen Erwägungen unterliegt. Er wird planvoll eingesetzt, um ein bestimmtes Resultat zu erzeugen; das Erleben der Handlung wird damit von vornherein von einem analysierenden und vergleichenden Beobachten begleitet, dem letztlich dann auch die Entscheidung obliegt, ob der Transfer geglückt ist oder nicht. Natürlich würde Mantel zu Recht darauf hinweisen, dass die selektiv bearbeiteten Parameter sich im Akt der Rotation ja durchaus zu neuen Erfahrungen verdichten, die vom Spieler lustvoll erlebt werden können, weil sie sich von den zurückliegenden, unvollkommeneren Erfahrungen positiv unterscheiden. Die Technik der rotierenden Aufmerksamkeit ist für ihn kein Gegner des Erlebens, sondern geradezu ein Helfer und Partner, der das Zustandekommen von immer besseren und genaueren Wahrnehmungen und Handlungen begünstigt. Zudem weist Mantel dezidiert darauf hin, dass es sich bei der Übetechnik der »rotierenden Aufmerksamkeit« lediglich um eine »vorübergehende, übemethodische Arbeitsweise« handelt, die am Ende dann vom Stadium einer »künstlerischen Einheit beim Spiel« (Mantel 1987, S.  172) abgelöst werden müsse. Dies zugestanden, bliebe trotzdem darauf hinzuweisen, dass das Zustandekommen dieser Einheit bei einem Üben mit rotierender Aufmerksamkeit gerade nicht in den Fokus von Aufmerksamkeit geraten kann, sondern sich gewissermaßen a tergo – im Rücken des Spielers – ereignet. Fassen wir zusammen: Mantel überwindet den Dualismus von Technik und Musik durch eine Verwandlung und Ausweitung des Technikbegriffes, die sich aus dessen Einbindung in das Übe-Konzept der rotierenden Aufmerksamkeit ergibt. Der Begriff der Technik wird damit direkt an den Lern- und Übeprozess gekoppelt, in dem er eine, wenn nicht gar die entscheidende Rolle spielt. Indem die Ebene der primären und unmittelbaren Erfahrung (das Erleben des eigenen Spiels) von vornherein in Relation zu vorgegebenen Aufmerksamkeitsparametern gesetzt wird, erfährt sich der Übende nie ›nur‹ als Handelnder, sondern immer auch als Beurteiler und Kritiker seiner Handlungen. Anders formuliert: Handlung, Handlungsplanung und Handlungsbeurteilung sind nicht ineinander verschränkt, sondern werden aus übemethodischen Gründen bewusst als unterschiedliche Akte begriffen. Der Spieler überlässt sich nicht seinem Erleben, sondern registriert und beobachtet es und

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zieht aus ihm Schlussfolgerungen für künftige Handlungen. Der unbestreitbare Vorzug dieses Ansatzes besteht in seiner Effizienz und seiner impliziten Aufforderung zu einer unablässigen Differenzierung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit. Anstatt bequem in einer unscharfen Augenblickswahrnehmung zu verharren, wird der Spieler permanent zu Verbesserungen und Veränderungen ermuntert. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die beschriebene Distanz zum eigenen Erleben, die für Mantel, auch wenn er es selbst vermutlich so nicht formuliert hätte, augenscheinlich die Grundbedingung eines selbstkritischen und ergiebigen Übens darstellt, den Akt des Übens zumindest tendenziell einer möglichen Spontaneität und Offenheit beraubt, ob also eine perfekt beherrschte Übetechnik nicht möglicherweise ab einem bestimmten Punkt die Intensität des Übeprozesses nicht nur nicht zu befördern, sondern womöglich gar zu behindern droht.

IV. I ntegr ation Im Zusammenhang mit dieser Frage scheint es sinnvoll, auf eine Konzeption hinzuweisen, die Wolfgang Rüdiger vorgelegt hat. Rüdiger publizierte 2007 die Idee einer Integration aller am Musizierakt beteiligten Dimensionen unter dem Generalnenner eines »musikalischen Körpers« – so auch der Titel seines Buches (Rüdiger 2007). Diese Integration stellt zunächst ebenfalls einmal die Dichotomie von Technik und Musik nachdrücklich in Frage und lässt sich damit in die Ansätze sowohl Jacobys als auch Mantels einreihen; an die Stelle des klassischen Gegensatzes von »immaterieller« Musik und »materieller« Körperlichkeit tritt bei Rüdiger nun aber die Idee eines bereits aus sich heraus musikalischen und musikfähigen Körpers sowie umgekehrt die Vorstellung von Musik als einer »von Grund auf mimisch-gestische[n] Kunst und Kommunikationsweise, in Klang geformte[n] Körpersprache« (Rüdiger 2007, S. 8). Doch Rüdigers Idee des musikalischen Körpers umfasst noch mehr Dimensionen: Auch das Instrument ist ein Körper, »verstanden als äußere Stimme, Verlängerung des menschlichen Körpers und Erweiterung seiner klanglichen Möglichkeiten« (ebd.). Und schließlich steht auch der von der Musik ergriffene Hörer in einem direkten körperlich-kommunikativen Austausch mit den drei anderen Ebenen. Die Pointe dieses Ansatzes scheint mir darin zu bestehen, dass diese vier Dimensionen (Musik, Körper, Instrument und Kommunikation) sich im Akt des Musizierens gegenseitig durchdringen und dabei eine fünfte Dimension erzeugen, nämlich die Einheit eines »musikalischen Körpers«. Dieser Körper ist keineswegs identisch mit den physischen Körpern des Spielers, des Hörers, des Instruments bzw. den durch das Instrument jeweils hervorgebrachten Schallwellen, sondern er wird im und durch den Akt des Musizierens erzeugt. Genauer: Er tritt exakt in dem Moment hervor, in dem

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der Spieler-Körper seine ihm einwohnende leiblich-seelische Musikalität mit Hilfe seines Instrumentes so zur Präsenz bringt, dass umgekehrt die vermöge dieser Präsenz hervorgebrachte Musik als eine körperhafte und expressiv-mimetisch geformte Äußerung erfahrbar wird und sich in eben dieser Äußerung einem Dritten – einem Hörer-Körper – zuwendet. Weder der Spieler-Körper noch das Instrument sind bloße ›Mittel‹ zur Umsetzung einer immateriellen musikalischen Idee: beide besitzen aus sich heraus ein elementares Musikpotenzial, wie umgekehrt die Musik ihrerseits auf körperlich-mimetischen Gesten, Lauten und Energien fußt. Und alle drei verweisen notwendig auf einen Adressaten, der die musikalischen Impulse seinerseits körperlich aufnimmt. Der Begriff des »musikalischen Körpers« bezeichnet damit so etwas wie das innere Gravitationszentrum jeglichen Musizierens. Alle weiteren den Akt des Musizierens betreffenden Dimensionen – nicht zuletzt auch das Üben – sind für Rüdiger auf dieses Gravitationszentrum verwiesen. In Rüdigers Konzeption des »musikalischen Körpers« taucht der Begriff der Technik (zunächst) nicht auf. Das erscheint durchaus plausibel. Denn einerlei, ob man Technik – wie bei Breithaupt – als eine zwar musikaffine, aber letztlich doch eigenständige Sphäre betrachtet, oder ob man sie mit Mantel in eine Beobachtungs- und Aufmerksamkeitstechnologie überführt: in beiden Fällen ist Technik dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht vollständig mit dem Musizierakt zusammenfällt. Rüdigers Idee des »musikalischen Körpers« lässt nun aber keinen Raum für die Vorstellung einer Technik, die, und sei es auch nur partiell, vom performativen Akt des Musizierens getrennt bliebe. Denn sein Konzept des »musikalischen Körpers« ist prinzipiell nur als performativer und aktiver musikalischer Vollzug zu begreifen. Das zeigt sich auch und insbesondere an den zahlreichen praktischen Übungen zu den Themenkreisen Atem, Haltung, Ausdruckskunst des Körpers (und vielen anderen mehr), die im Mittelpunkt von Rüdigers Buch stehen. Was Rüdiger hier entfaltet, sind keine ›vorbereitenden‹, im landläufigen Sinne ›technischen‹ Übungen, sondern bereits in sich vollgültige Musizierangebote, die, gerade auch, wenn sie elementare körperliche Vorgänge betreffen, sich weniger an ein beobachtendes Analysieren richten, sondern eher als ein erspürendes Forschen verstanden werden wollen. Der Zustand des Nachspürens ist – ebenso wie der mehrfach verwendete Begriff des Lauschens – zunächst insofern ein offener, als er sich von keinen vorab bereit gestellten, objektivierbaren Parametern leiten lässt. Zugleich, und das ist vielleicht noch entscheidender, ist er untrennbar mit der jeweiligen Handlung selbst verbunden. Die vielen kleinen Aufmerksamkeitslenkungen, mit denen ich in meinen Körper hineinhorche, mich in meinen Atem versenke, einem Tonverlauf folge etc., werden nicht durch äußere Zielvorgaben gelenkt, sondern sind untrennbar an die Prozesse des Spürens und Lauschens selbst gebunden. Diese Prozesse sind wahrscheinlich identisch mit jenem Zustand aufnahmebereiter Rezeptivität, den Heinrich Jacoby als »antenniges Ver-

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halten« bezeichnet hat: Sie dienen nicht der Analyse von Ergebnissen, sondern bezeichnen jene wachsame Aufnahmebereitschaft und Empfänglichkeit, derer es bedarf, um aus dem bloß physischen Körper die Präsenz des musikalischen Körpers hervorzurufen. »Wichtig ist, dass wir uns bei allem, was wir tun, bewusst wahrnehmen und jeder Änderung unseres Körpergefühls nachspüren. Alle Bewegungen, die wir vollziehen, werden von einem bewussten Hineinhorchen in ihr Wesen und ihre Wirkung […] begleitet.« (Rüdiger 2007, S. 25)

Während Mantel – wie gesehen – das unmittelbare Erleben der Musik und des eigenen Körpers als zwar notwendig, aber häufig als zu pauschal und ungenau gewichtet und sich vielmehr auf das kritische Wahrnehmen, Vergleichen und Analysieren des Erlebten unter Zuhilfenahme eines rotierenden Wechsels von vorstrukturierten Aufmerksamkeitsrichtungen konzentriert, geht es Rüdiger primär um eine Differenzierung – oder besser: Freilegung – der eigenen Erlebnisfähigkeit auf der Grundlage der Erkenntnis, dass die Musik weniger ein beobachtbares »Gegenüber«, als vielmehr unveräußerlicher Bestandteil des eigenen kreatürlichen Daseins ist. Das hat aber zur Folge, dass in Rüdigers Buch die Dimension des Technischen keinen systematischen Platz mehr zu besitzen scheint – zugunsten einer Dominanz des Performativen. Pointiert könnte man sagen, dass in Rüdigers Konzeption des »musikalischen Körpers« der musikalische Ernstfall gerade nicht geprobt, sondern in selbstverständlicher Permanenz (und in permanenter Selbstverständlichkeit!) vollzogen wird; die Möglichkeit eines im weitesten Sinne »strategischen« Übens – eines Übens also, das zu diesem Ernstfall vielleicht einmal hinführen soll, ihn selbst aber aus mehr oder minder plausiblen Gründen (noch) nicht oder nur teilweise enthält – wird nicht thematisiert (solche Gründe könnten etwa sein: detailliertes Auseinandernehmen von Bewegungsabläufen, schrittweise Erhöhung des Tempos etc.). Die Unterschiede zwischen den Ansätzen Mantels und Rüdigers lassen sich folgendermaßen fokussieren: Mantels Idee einer Übetechnik steht unter dem Leitgedanken des Noch nicht. Jede instrumentale Handlung, der ich mich als Übender im Modus selektiver Aufmerksamkeit zuwende, wird danach befragt, was an ihr noch nicht gelungen, noch nicht überzeugend ist, was noch nicht funktioniert – wobei die Kriterien, dies zu entscheiden, sich aus dem jeweiligen Aufmerksamkeitsfokus ergeben (Intonation? Strichstelle? Bogenwechsel? etc.). Rüdigers Ansatz folgt hingegen der Figur des Immer schon. Bereits in unserer elementaren Körperlichkeit sind wir immer schon musikbegabte und musikbezogene Wesen. Üben bedeutet weniger die Generierung eines ›neuen‹ Zustandes, als vielmehr die Aktualisierung und Verfeinerung einer musikalischen Körperlichkeit, über die wir immer schon verfügen, und

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die wir beim Üben und Musizieren fremder und eigener Musik in jedem Moment ins Spiel zu bringen versuchen müssen. Natürlich würde auch Rüdiger nicht bestreiten, dass es beim Üben darum gehen muss, in irgendeiner Weise ›besser‹ zu werden, d.h. Dinge und Zusammenhänge zu erfahren, die vorher so noch nicht erfahren wurden. Allerdings ist dieses Neue für ihn wohl nicht so sehr als ein reiner Zuwachs zu beschreiben, sondern eher als die Bergung und Differenzierung einer musikalischen Seinsweise zu verstehen, über die wir immer schon verfügen. Blieb der Technikbegriff in seinem Körperbuch unthematisiert, so hat sich Wolfgang Rüdiger in einem später entstandenen Aufsatz hingegen eingehend mit ihm auseinander gesetzt. Es spricht einiges dafür, in diesem Text eine Ergänzung bzw. Komplettierung jener Überlegungen zu sehen, die im Mittelpunkt der Konzeption des »musikalischen Körpers« standen. Es ist kaum überraschend, dass Rüdiger den Technikbegriff zunächst nicht kritiklos übernimmt, sondern von vornherein deutlich macht, dass das landläufige Sprechen über Technik nicht selten von einer hoch problematischen Verengung gekennzeichnet ist. In diesem Sinne differenziert er zwischen »zwei Kulturen der Instrumentaltechnik«: »Die eine bezeichne ich als enge, isolierte, entseelte und entfremdete Technik, reduziert auf einzelne Elemente wie Bogenführung oder Fingerfertigkeit; die andere als weite, vernetzte, physiologisch beseelte und musikalisch sinnerfüllte Technik, vielfältig eingebunden in das Wohnhaus von Mensch und Musik. […] Die erste stellt sich mir dar als ein Fetisch, wurzelnd in einer langen Tradition leistungsorientierter instrumentaler Unterweisung, die sich um des schnellen Fortschritts willen auf motorische Fertigkeiten konzentriert, weitgehend abgeschnitten vom Menschen als leibseelischem Organismus und von Musik als sozialer Praxis zwischen (Ausdrucks-)Kunst und Kommunikation. […] Die zweite, offene und humane […] Anschauung von Technik begreift Bewegungsvollzüge am Instrument (wie im Alltag) als persönlich bedeutsame, an Musik- und Selbsterfahrung orientierte intentionale Handlungsweisen im Kontakt des Menschen mit sich selbst, d.h. mit all seinen körperlich-sinnlichen, ästhetischen, geistigen, emotionalen und sozialen Eigenschaften und Impulsen – Technik als individuelle musikalisch-schöpferische Bewegungskunst am Instrument. Ihre Referenz und Richtschnur ist der Mensch, ihr A und O der individuelle musikalische Körper mit seinem elementaren bis entwickelten Bewegungs-, Empfindungs-, Ausdrucks- und Gestaltungsreichtum.« (Rüdiger 2011, S. 223)

Die erste dieser beiden Alternativen deckt sich weitgehend mit jener ausschließlich negativen Konnotierung, die wir bereits bei Jacoby beobachten konnten. Umso auffälliger aber, dass Rüdiger nun den Technikbegriff nicht umstandslos negiert, sondern für ein erweitertes Verständnis wirbt, das nicht mehr binär konzipiert ist.

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Ähnlich wie Mantel verschränkt Rüdiger den Begriff der Technik auf das Engste mit dem des Übens – allerdings mit durchaus anderer Zielrichtung. Für Mantel, den Didaktiker des Noch nicht, ist der Prozess des Übens dadurch gekennzeichnet, dass er die meiste Zeit über gerade kein Spiel ist; das, was beim Üben geschieht, unterscheidet sich prinzipiell von dem späteren Agieren und Erleben etwa auf dem Konzertpodium. Üben als Vollzug selektiver Aufmerksamkeitsleistungen ist ein durch und durch technischer Vorgang, während das ›Spiel‹ des Ernstfalls dadurch gekennzeichnet ist, dass diese Selektionsleistungen wegfallen: die überkomplexe musikalisch-instrumentale Wirklichkeit ist im Idealfall durch das Üben so bearbeitet worden, dass sich an allen Stellen des Mobile Automatisierungsprozesse eingestellt haben, die es mir als Spieler nun gestatten, mich lustvoll auf mein unmittelbares Erleben zu konzentrieren – der Flow-Zustand als Belohnung für vorhergehende Mühen. Diese relativ schroffe Trennung zwischen dem Üben als (möglicherweise lustvoller) Arbeit und dem Spiel als (möglicherweise arbeitsintensiver) Lust wird von Rüdiger, dem Anwalt des Immer schon, so nicht mitgetragen. Das Üben ist für ihn keine bloße Vorbedingung. In seinem spürend-achtsamen Ertasten und Aktivieren des musikalischen Körpers trägt es bereits selber Züge einer genuin künstlerischen Praxis: »Sehr wohl, so können wir sagen, kommt es aufs Üben von Technik als musikalischer Bewegungskunst [Hervorhebung: W. L.] am Instrument an, doch diese muss man kunstvoll üben. So sind Technik und Üben eng verflochten: Die Art und Weise des Umgangs mit Technik – das aufbauende, erhaltende und erweiternde Üben – bestimmt ihr Verständnis und umgekehrt, das Verständnis von Spieltechnik bestimmt die Technik des Übens. Als geistgeprägte Formen kreativen Handelns und Lernens, Herstellens und Kultivierens von Körper und Kunst [Hervorhebung: W. L.] bildet das Begriffspaar Technik und Üben das Zentrum der Instrumentalpädagogik und verbindet alle Lernfelder des Instrumental- und Gesangsunterrichts.« (Ebd.)

Gegen Ende des Abschnittes über den Technikbegriff bei Gerhard Mantel wurde die Frage gestellt, ob die Übetechnik der »rotierenden Aufmerksamkeit« nicht den Akt des Übens zumindest tendenziell seiner Spontaneität und Offenheit zu berauben droht. Umgekehrt wäre in Hinsicht auf Rüdigers Konzeption die bereits oben gestellte Frage zu wiederholen, ob es nicht sehr wohl pragmatische und strategische Dimensionen des Übens geben kann, die von der Konzeption des »Musikalischen Körpers« nicht erfasst werden. Es wäre zu prüfen, ob eine Konzentration auf »einzelne Elemente wie Bogenführung oder Fingerfertigkeit« wirklich umstandslos als Ausdruck einer »enge[n], isolierte[n], entseelte[n] und entfremdete[n] Technik« gewertet werden müssen. Oder anders formuliert: Führt das »Herstellen und Kultivieren von Körper und

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Kunst« wirklich zu einer Integration der »Technik« in die Gesamtheit des »Musikalischen Körpers«? Oder werden nicht genau durch diesen Integrationsversuch Aspekte des instrumentalen Übens, die sich einer direkten Überführung in performative Kategorien entziehen, ausgegrenzt? Aus dieser Perspektive betrachtet, würden die Ansätze von Mantel und Rüdiger, die auf jeweils eigene Art die Antithetik des Technikbegriffs hinter sich zu lassen versuchen, diese latent fortschreiben. Gibt es aber überhaupt eine Möglichkeit, dieser Antithetik zu entrinnen?

V. N euvermessung Es lohnt sich, an dieser Stelle etwas näher auf Überlegungen einzugehen, die der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem Buch Handwerk (The Craftsman) (Sennett 2008) entwickelt hat. Obgleich Soziologe, verfügt Sennett über eine professionelle Ausbildung als Cellist und Dirigent. Dies mag erklären, wieso er in seinem Buch immer wieder an entscheidender Stelle auf das instrumentale Üben zurückkommt, das für ihn in mehrfacher Hinsicht ein Paradigma handwerklichen Handelns darstellt. Sennett geht es nicht um eine binäre Gegenüberstellung von Handwerk und Technik im Sinne des klassischen Gegensatzes von Mensch und Maschine. Sein Begriff des Handwerks ist vielmehr so konzipiert, dass er unter bestimmten Bedingungen auch vermeintlich ›technische‹ Berufsgruppen umfasst. Handwerker können mittelalterliche Goldschmiede sein, aber ebenso sehr auch Linux-Programmierer, Instrumentalmusiker und Dirigenten ebenso wie Chemie-Laborantinnen. Dadurch wird der Technikbegriff weder negiert noch einfach übernommen, sondern im Grunde neu vermessen. Die Trennlinie verläuft nicht zwischen Technik und Handwerk, sondern durchzieht den Technikbegriff selbst: unter bestimmten Bedingungen kann Technik zum Handwerk werden (ohne dabei aufzuhören, Technik zu sein), unter anderen Bedingungen wiederum nicht. Was sind die Kriterien, durch die arbeitende Menschen zu Handwerkern werden? Sennett nennt im wesentlichen drei Aspekte: Von Handwerk spricht man, wenn Menschen etwas um der Sache willen gut machen wollen, wenn also eine Motivationslage vorhanden ist, die nicht der Erfüllung von außen herangetragener Normen dient. Zweitens folgt handwerkliches Handeln niemals einem strikt vorgegebenen Plan, der einfach ›erfüllt‹ werden muss. Ein Handwerker entwickelt seine Handlungspläne im direkten und unmittelbaren Umgang mit dem jeweiligen Material. Umgekehrt – drittens – lässt sich handwerkliches Können und Wissen niemals vollständig in lehrbuchmäßige Anleitungen zurückübersetzen, da zum handwerklichen Arbeiten sowohl informelle Routinen gehören wie auch das Vermögen, im Zuge der Auseinander-

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setzung mit dem Material immer wieder zu experimentellen und improvisatorischen Lösungen zu gelangen. Wo diese drei Elemente fehlen, tritt ein Mangel an Handwerklichkeit zutage, der sich u.a. darin äußert, dass das jeweilige Erzeugnis Fehler aufweist, die darauf zurückzuführen sind, dass es lediglich ›nach Plan‹, nicht aber in Interaktion mit dem Material hergestellt wurde. Eindrücklich macht Sennett das an dem Umgang mit der CAD-Software deutlich (computer-assisted-design), mit deren Hilfe Architekten die Wirklichkeit ihrer Pläne ›live‹ am Bildschirm überprüfen können, ohne sich dabei ihrer Imagination bedienen zu müssen. Anhand einer neu entstandenen Geschäfts- und Hotelsiedlung am Rande von Atlanta/Georgia zeigt Sennett die Probleme auf, die aus einem unreflektierten Umgang mit CAD erwachsen können: »Der erste Mangel ist die unzulängliche Verbindung zwischen Simulation und Wirklichkeit. Nach dem Plan werden die Straßen des Peachtree Centers von schön gestalteten Straßencafés belebt. Doch der Plan ließ die große Hitze unberücksichtigt, die in Georgia meist herrscht. Tatsächlich bleiben die Außenbereiche der Cafés den größten Teil des Jahres von morgens bis in den späten Abend hinein leer. Simulation ist ein unzureichender Ersatz für das unmittelbare Empfinden des Lichts, des Windes und der Hitze vor Ort. Die Architekten hätten besser daran getan, sich um die Mittagszeit eine Stunde lang ungeschützt in die Sonne Georgias zu setzen, bevor sie sich an die Arbeit machten. Das körperliche Unwohlsein hätte ihnen die Augen geöffnet. Das eigentliche Problem liegt hier darin, dass Simulation kein ausreichender Ersatz für taktile Erfahrung sein kann.« (Sennett 2008, S. 62f.)

Hinter Sennetts Versuch, eine Lanze für die Kategorie des Handwerklichen zu brechen, steht seine Kritik an der aristotelischen Unterscheidung zwischen Praxis und Techne, die er auch im Denken seiner philosophischen Lehrerin Hannah Arendt am Werk sieht: Im gedanklichen Zentrum seines Buches geht es um die Auseinandersetzung mit einer Unterscheidung, die Arendt in einem ihrer Hauptwerke, The human condition (deutsch: Vita activa oder vom tätigen Leben), entwickelt hatte: die Unterscheidung zwischen dem Menschen als »Homo faber« – also als denkendem und beurteilendem Wesen – und als »Animal laborans« – als »arbeitendem Tier«, das die Konsequenzen seiner unermüdlichen Arbeit weder kennt noch versteht. Für Arendt war etwa die Entwicklung der Atombombe, personifiziert durch den Physiker Robert Oppenheimer, ein klarer Ausdruck des Animal laborans (vgl. Sennett 2008, S. 9ff.). Mit großem Geschick und härtester Arbeit wurde hier etwas hergestellt, dessen ethische und politische Implikationen von den Produzenten nicht einmal annähernd verstanden wurden. Sennett stellt nun die Differenzierung seiner Lehrerin nachdrücklich in Frage. Sehr wohl kann das Animal laborans in seinen Augen denken und beurteilen; es kann sogar höchst fantasievoll und kreativ sein, sofern es seine

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Arbeit nämlich – und Sennett sieht keinen Grund, warum er Oppenheimer hier prinzipiell ausschließen sollte, – als Handwerk begreift. Damit stellt Sennett sich zugleich aber der entscheidenden ethischen Frage, ob und inwieweit nämlich im Begriff des Handwerks moralische Implikationen angelegt sind, die Oppenheimer möglicherweise an einer bestimmten Stelle seiner Arbeit an der Bombe zu einem anderen Handeln hätten bewegen müssen. Der Handwerksbegriff scheint in seinen Augen genau deshalb eine Sensibilität für die ethische Dimension zu besitzen, weil ein ihm verpflichtetes Handeln sich gerade nicht aus extrinsischen Motivationsquellen (Streben nach Erfolg, Effizienz) speist, sondern sich ohne Rücksicht etwa auf äußere Zeitfaktoren in einer unmittelbaren Interaktion mit einem Gegenstand versenkt. Hierin erkennt Sennett eine ›Tugend‹, die sich einer Bevormundung durch äußere Zielsetzungen zu entziehen imstande ist. Aufgrund seiner sich ausschließlich aus der Interaktion mit dem Gegenstand ergebenden Zeitplanung bietet sich dem Handwerker immer wieder die Chance des Innehaltens – und damit einer Vergegenwärtigung und Neujustierung seiner Ziele (Sennett 2008, S. 390ff.). Dieses humane Moment des Innehaltens hätte Oppenheimer, dessen Arbeit ja in hohem Maße durch äußere Ziel- und Zeitvorgaben reglementiert wurde, nach Sennett zu einem Infragestellen seiner Zielsetzungen führen müssen. Dass dies nicht geschah, ist für ihn ein Zeichen dafür, dass er in einer entscheidenden Phase der Arbeit gerade nicht als Handwerker operierte. Die anti-aristotelische Anwendung des Tugendbegriffs auf das handwerkliche Handeln veranschaulicht Sennett am Beispiel des instrumentalen Übens: Im Kapitel Tugenden der Hand widmet er sich ausführlich der Frage, ob die Vorgehensweise der Suzuki-Methode, bei der ein angehender Geiger oder Cellist mittels farbiger Klebestreifen auf dem Griff brett eine optische Hilfe zum Zwecke einer reinen Intonation erhält, unter dem Gesichtspunkt seines Handwerksbegriffs legitim ist. Nach ausführlicher Analyse kommt Sennett zu dem Schluss, dass dieses Vorgehen abzulehnen ist, weil die Entwicklung der musikalischen Technik als »Wechselspiel zwischen korrektem Spiel und der Bereitschaft, zu experimentieren und dabei Fehler zu machen« (Sennett 2008, S. 215f.) aufgefasst werden müsse. »Stellen wir uns einen Jungen vor, der ohne Hilfe farbiger Markierungen darum kämpft, [am Cello] die richtigen Töne zu treffen. Er scheint eine Note ganz genau zu treffen, aber dann sagt ihm das Ohr, dass die nächste mit dieser Fingerstellung gespielte Note schief klingt. […] Das Feedback des Ohrs schickt das Signal, dass es einer seitlichen Anpassung am Knöchelkamm bedarf […]. Durch Versuch und Irrtum mag der Neuling auch ohne Markierungen lernen, wie er den Knöchelkamm zusammenziehen kann, doch eine Lösung ist auch dann nicht in Sicht. Er hält die Hand im rechten Winkel zum Griffbrett, und vielleicht sollte er nun versuchen, die Handfläche in Richtung der Wirbel leicht zu höhlen. Das hilft. Nun trifft er den richtigen Ton, weil die Neigung einen Ausgleich für die

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Wolfgang Lessing unterschiedliche Länge des Zeige- und des Mittelfingers schafft. […] Doch diese neue Stellung verdirbt die Lösung, die er für das Problem der seitlichen Knöchelstellung gefunden hatte. Und so geht es weiter.« (Sennett 2008, S. 212)

Aus diesem Nachspüren erwachsen nach und nach Referenzwerte: »Ein Üben, das auf Fehler an der Fingerspitze sogleich reagiert, steigert das Selbstvertrauen. Vermag der Musiker etwas mehr als einmal korrekt zu tun, hat er keine Angst mehr vor Fehlern. Und zugleich besitzt er damit einen Gegenstand, über den er nachdenken und den er durch Variation im Blick auf Gleichheit oder Unterschiede erkunden kann. Das Üben wird so zu einer Geschichte, statt zu bloßer Wiederholung. Die hart erarbeiteten Bewegungen prägen sich dem Körper immer tiefer ein, und der Spieler erwirbt Schritt für Schritt immer größere Fertigkeiten. Bei der Markierung durch die Streifen wird das Üben dagegen bald langweilig, weil hier ein und dasselbe ständig wiederholt wird. Da wundert es nicht, wenn die Handfertigkeit unter diesen Bedingungen eher abnimmt. […] Wenn man einem jungen Musiker nur den korrekten Weg vorgibt, erwirbt er eine falsche Sicherheit.« (Sennett 2008, S. 215f.)

Wenn wir Sennetts Beschreibung mit den von Rüdiger ins Spiel gebrachten »Zwei Kulturen der Instrumentaltechnik« vergleichen, werden wir möglicherweise feststellen, dass die hier wiedergegebene Szenerie zu keiner dieser beiden Technikkulturen so recht zu passen scheint. Erinnern wir uns nochmals an die zweite Kultur, die Rüdigers positive Fassung des Technikbegriffes enthielt. Geht es bei dem ebenso mühsamen wie faszinierenden Erkunden des Griff bretts und der Fingerabstände wirklich um »persönlich bedeutsame, an Musik und Selbsterfahrung orientierte intentionale Handlungsweisen im Kontakt des Menschen mit sich selbst, d.h. mit all seinen körperlich-sinnlichen, ästhetischen, geistigen, emotionalen und sozialen Eigenschaften und Impulsen« (Rüdiger 2011, S. 223)? Geht es um »Technik als individuelle musikalischschöpferische Bewegungskunst am Instrument« (ebd.)? Oder um den »individuelle[n] musikalische[n] Körper mit seinem elementaren bis entwickelten Bewegungs-, Empfindungs-, Ausdrucks- und Gestaltungsreichtum« (ebd.)? Ich tendiere dazu, alle drei Fragen zu verneinen – und zwar vor allem deshalb, weil in Sennetts Beschreibung augenscheinlich in keiner Weise ein ›performatives‹ Element zu erkennen ist, das doch, wie wir gesehen haben, für Rüdigers Konzeption des »musikalischen Körpers« essentiell ist. Es geht dem Jungen am Cello zunächst weder um Empfindungs-, noch um Ausdrucks-, noch um Gestaltungsqualitäten, sondern um ein von Neugier und möglicherweise auch Faszination geprägtes Erforschen der dem Instrument und seiner Hand innewohnenden Eigenschaften. Was Sennetts Junge betreibt, ist noch keine Musik – zumindest nicht in jenem performativen Sinne, der Rüdigers Konzeption zu Grunde liegt –, sondern eine musikbezogene Auseinandersetzung mit einem

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musikalischen Material, aus dem in naher oder ferner Zukunft vielleicht einmal ein performatives Musizieren erwachsen wird. Dies alles müsste nun zu dem Schluss führen, dass hier anscheinend die »erste Kultur« von Instrumentaltechnik vorliegt, nämlich eine »enge, isolierte, entseelte und entfremdete Technik, reduziert auf einzelne Elemente wie Bogenführung oder Fingerfertigkeit« (Rüdiger 2011, S. 223) – mithin ein »Fetisch, wurzelnd in einer langen Tradition leistungsorientierter instrumentaler Unterweisung, die sich um des schnellen Fortschritts willen auf motorische Fertigkeiten konzentriert, weitgehend abgeschnitten vom Menschen als leibseelischem Organismus und von Musik als sozialer Praxis zwischen (Ausdrucks-)Kunst und Kommunikation.« (Ebd.) Aber auch das würde der Situation nicht gerecht. Denn es geht bei Sennett nicht um schnellen Fortschritt (der ließe sich mit Suzuki-Markierungen sicher eher herstellen), und auch nicht um Leistungsorientierung. Allem Anschein lässt sich Sennett, hierin Mantel vergleichbar, eher vom Noch nicht als vom Immer schon leiten. Der handwerkliche Prozess, wie er ihn sieht, wird zwar von einer Zielvorstellung und vielleicht auch einer Ahnung von der Qualität des ›Endprodukts‹ bestimmt, ist aber selbst nicht zwangsläufig von dieser Qualität geprägt; er ist eher der Prozess, in dem sich diese Qualität nach und nach herausbildet. Unter dem Paradigma des Handwerks lenkt Sennett das Augenmerk auf einen Aspekt von Technik, in dem es zwar nicht um jene intensive Präsenz des musikalischen Körpers geht, die Rüdiger als wichtige Grundlage instrumentalen Lernens immer wieder einfordert, der aber dennoch als ein erfülltes, selbstbestimmtes und im informellen Erkunden wurzelndes Lernen und Handeln beschrieben werden kann. Dieser Aspekt fällt nicht mit dem »musikalischen Körper« Rüdigers zusammen (Technikkultur 2) und unterliegt aber ebenso wenig dem Verdikt eines entfremdeten und körperfernen Drills (Technikkultur 1). Aber auch zu Gerhard Mantels Verständnis eines von selektiver Aufmerksamkeit gestützten Übens verhält sich Sennetts Darstellung nicht in jedem Punkt kompatibel. Die offensichtlichste Differenz liegt in der Tatsache, dass die von Sennett beschriebene Lernsituation eine in hohem Maße offene, informelle und improvisatorische ist. Der Junge am Cello folgt nicht so sehr systematischen Übeprinzipien, sondern überlässt sich einem zunächst ungesteuerten, ja chaotischen Ausprobieren, aus dem sich dann Schritt für Schritt feste und verbindliche Kriterien entwickeln. Um zu diesen Kriterien zu gelangen, muss – so Sennett – »der Arbeitsprozess dem ordnungsliebenden Geist etwas Unangenehmes antun – er muss ihm zumuten, sich zeitweilig auf chaotische Zustände einzulassen: auf falsche Wege, verpatzte Anfänge und Sackgassen. Aber in Wirklichkeit ist dieses Durcheinander für den experimentierenden Handwerker in der Technik wie in der Kunst weit mehr

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Wolfgang Lessing als bloßes Chaos. Er produziert es, um seine Arbeitsverfahren besser zu verstehen.« (Sennett 2008, S. 216)

In diesem Kontext ist es wichtig, sich auf Sennetts Verständnis von »Fehlern« im Rahmen eines handwerklichen Arbeitsprozesses zu besinnen und dieses Verständnis mit Mantels Vorstellungen zu vergleichen. Bei flüchtiger Lektüre scheinen beide Autoren diesbezüglich ziemlich genau einer Meinung zu sein, da sie beide nachdrücklich die Wichtigkeit von Fehlern betonen – eine Wichtigkeit, die weit über die Binsenweisheit, nach der man »aus Fehlern lernt«, hinausgeht. Einem etwas genaueren Nachwägen offenbart sich jedoch ein bezeichnender Unterschied: Für Mantel liegt die Funktion des Fehlers primär darin, mit seiner Hilfe den »noch bestehenden Unterschied zwischen ›Soll‹ und ›Ist‹« bestimmen zu können (Mantel 2001, S. 56). Fehler sind also wichtig, um aus einer unvollkommenen Fassung eine vollkommenere zu entwickeln. Sennett geht nun aber noch einen deutlichen Schritt weiter, indem er sagt, dass das Zustandekommen einer vollkommenen Fassung prinzipiell auf vorherige Fehler angewiesen ist. Bei Mantel besteht ja immerhin die theoretische Möglichkeit, dass eine Sache sofort dem Soll-Zustand entspricht und ich mich als Übender daher sogleich weiteren Aspekten zuwenden kann. Sennett hingegen bindet die Möglichkeit des Vollkommenen unauflösbar an die Existenz vorausgegangener fehlerhafter Versuche: »Das vollständige Szenario für eine die Fertigkeit verbessernde Übung besteht also aus folgenden drei Elementen: vorbereiten, Fehler erkunden, zur Form finden. In dieser Geschichte wird Gebrauchsfertigkeit nicht vorausgesetzt, sondern erst geschaffen.« (Sennett 2008, S. 217)

Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Sennetts Verständnis vom »Fehler« große Ähnlichkeiten mit dem in der Bewegungsforschung jüngst entwickelten Konzept des »Differenziellen Lernens« besitzt – eines Lernens, das den scheinbar chaotischen Zustand zwischen ›Soll‹ und ›Ist‹ nicht als überwindungsbedürftigen Zwischenschritt ansieht, sondern als eine notwendige Phase begreift, die von unzähligen kleinen und kleinsten Bewegungsdifferenzen geprägt ist.14 Was einem oberflächlichen Blick als Anzeichen eines noch nicht beherrschten Könnens anmuten mag, ist in Wahrheit der entscheidende Motor des Lernens. Durch den Vergleich zwischen den zahlreichen Differenzen »errechnet« das Gehirn eine Zone günstiger Realisierungsmöglichkeiten. Es gibt nicht die richtige Bewegung (im Sinne eines äußerlich vorgegebenen 14  |  Vgl. hierzu: Schöllhorn et al. 2009, S. 36-40; Schöllhorn et al. 2007, S. 58-62. Ein Versuch, die Lernprinzipien des »Differenziellen Lernens« auf das instrumentale Üben zu übertragen, findet sich bei Widmaier 2012, S. 93-106.

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Soll-Zustandes): Da sich Bewegungen grundsätzlich nicht als identische wiederholen lassen, muss man eher von einem Terrain von als sinnvoll erlebten Bewegungsmodifikationen sprechen. Dieses Terrain ist nicht von vornherein »da«, sondern ergibt sich aus den chaotischen Differenzen der »unvollkommenen« Übungsphase. In Mantels Konzeption wird keine Aussage über das Zustandekommen der präfixierten Aufmerksamkeitsrichtungen getroffen. Ob es um Intonation, Rhythmus, Dynamik, Bogeneinteilung etc. geht: es wird stillschweigend davon ausgegangen, dass der »Soll-Zustand« bereits vor dem eigentlichen Üben vom Übenden begriffen und akzeptiert wird, denn nur als begriffener kann er zum Leitfaden werden, der dem jeweiligen Ist-Zustand eine Orientierung zu bieten vermag. Sennett hingegen betont, dass es eine entscheidende Aufgabe des »experimentierenden Handwerkers« ist, die Kriterien, nach denen er arbeitet und übt, im Übeprozess selbst zu entwickeln, wobei es von den Fehlern bzw. dem Umgang mit ihnen abhängt, in welche Richtung diese Entwicklung gehen wird. Üben bedeutet also nicht nur die Orientierung an einem Soll-Wert, sondern vielmehr dessen Generierung. Bei Mantel war hingegen, wie gesehen, der Vergleich zwischen Ist-Wert und Soll-Wert eine eigenständige Handlung, die gerade nicht deckungsgleich mit dem unmittelbaren instrumentalen Handeln und Erleben war. Indem Sennett die Generierung von Sollwerten direkt aus dem Handeln, der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Instrument, hervorgehen lässt, stößt er das Tor auf zu einem Verständnis, das die Akte des Denkens, Analysierens und Vergleichens als unmittelbare Konsequenzen handwerklichen Handelns begreift. Anders formuliert: Das Tun des Handwerkers führt aus sich selbst heraus zur Welt des »Homo faber«, in der Urteile getroffen, Zusammenhänge hergestellt werden etc. Oder noch kürzer – und in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus, dem sich Sennett verpflichtet weiß, gesagt: »Machen ist Denken.« (Sennett 2008, S. 393) Versuchen wir vor diesem Hintergrund einen direkten Vergleich zwischen Sennetts Verständnis von Handwerk einerseits und den Technik-Konzeptionen von Mantel und Rüdiger andererseits. Aus der Perspektive von Sennett ist die Idee einer unablässigen Differenzierung der Wahrnehmung, die Mantel mit seinem Modell der »rotierenden Aufmerksamkeit« verfolgt, zunächst sicher ein Ausweis für ein im besten Sinne handwerkliches Vorgehen. Auch die Tatsache, dass Mantel den Technikbegriff nicht mehr auf ein fest umrissenes Gegenstandsfeld bezieht, sondern als Folge einer bestimmten Übe- und Aufmerksamkeitshaltung begreift, deckt sich mit Sennetts Intentionen. Und schließlich würde auch Mantels energisches Plädoyer für den »Fehler« wohl weitgehend auf seine Zustimmung treffen. Hier allerdings tritt ein wesentlicher Unterschied zutage, der letztlich darauf zurückzuführen ist, dass Sennett die Trennung von Handlung, Handlungsbeurteilung und Handlungsvorbereitung, die eine wichtige Bedingung für Mantels Vorstellung eines unablässigen

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Vergleichs zwischen einem Ist-Zustand und vorgegebenen Soll-Werten darstellt, nicht akzeptiert. Seine Vorstellung von »handwerklichem Experimentieren« geht vielmehr davon aus, dass Soll-Werte nicht von außen an Handlungen herangetragen werden, sondern aus diesen erwachsen müssen – was zur Folge hat, dass der Übeprozess immer wieder Phasen eines scheinbar chaotischen Suchens enthalten muss, aus denen der Spieler jedoch gestärkt hervorgehen kann, weil er durch sie zu verstehen gelernt hat, was er tut. Insofern würde Sennett nachdrücklicher als Mantel die Momente der Offenheit und der Spontaneität als wesentliche Merkmale eines Übeprozesses betonen. Die Einheit von Handlung, Handlungsbeurteilung und Handlungsplanung, die Sennetts Handwerksbegriff von Mantels Konzeption unterscheidet, stellt nun aber wiederum ein verbindendes Element zum Ansatz von Wolfgang Rüdiger dar. Dessen Idee des »musikalischen Körpers« ist in hohem Maße durch das Fehlen äußerlich vorgegebener Normen gekennzeichnet; alle Entscheidungen und Aufmerksamkeitslenkungen resultieren aus dem Sich-Einfühlen in die Möglichkeiten der eigenen musikalischen Körperlichkeit, die zugleich auch jene Möglichkeiten beschreiben, die dem Spieler in Gestalt der Musik, die er jeweils spielt, gegenübertreten. Allerdings würde Sennett, anders als Rüdiger, das permanente Vorhandensein performativer Elemente im Akt des Übens wohl nicht für notwendig halten, da die Offenheit handwerklichen Handelns durchaus auch momentane Entscheidungen für nicht-performative Optionen zulässt – Optionen, die dem Spieler unter Umständen nahelegen, um der Erreichung eines bestimmten Zieles willen bestimmte Aspekte – etwa die Präsenz seines »musikalischen Körpers« – auch einmal zurückzustellen. Wenn wir den Erwerb instrumentaler Technik mit Sennett als einen Handwerksprozess verstehen und von einem zweckrational bestimmten, auf restlose Steuerbarkeit abzielenden Herstellungsvorgang (im Sinne von Poiesis) abgrenzen, dann verflüchtigt sich die scharfe Demarkationslinie zwischen der aristotelischen Techne und einer musikalischen Praxis, die Jürgen Vogt als die Fähigkeit definiert, »in einer konkreten Situation des Musikmachens […] aufgrund von musikalischer Erfahrung, einzig zum Zweck des Musikmachens, das zu tun, was in dieser Situation im Hinblick auf die jeweilige Musikkultur musikalisch ›richtig‹ und für den oder die Beteiligten ›gut‹ ist.« (Vogt 2007, S. 13) Indem ein handwerklich orientiertes Technik-Üben mit Momenten des scheinbar Chaotischen und Improvisatorischen rechnet, begibt es sich in eine Offenheit, die aus dem Moment heraus operiert und sich dabei vollständig der Interaktion mit dem Gegenstand überlässt. Es ist dabei nicht relevant, ob es sich bei diesem Gegenstand um eine musikalische Idee handelt oder ob er der Verstetigung einer motorischen Bewegungsfolge dient. Entscheidend ist, dass ein derart experimentelles Arbeiten über die bloße Mittel-Zweck-Relation im Sinne von Techne und Poiesis hinausgeht.

Versuch über Technik

Das Plädoyer für ein Verständnis von instrumentaler Technik als Handwerk darf allerdings nicht an der Frage vorbeigehen, ob ein derartiges Handwerksideal unter realen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wirklich immer und überall eingelöst werden kann. Es ist auffallend, dass Sennett, obgleich Soziologe, diesen Rahmenbedingungen in seinem Buch kaum nachspürt. Seine Überzeugung, dass »ein Verständnis der Stufen und Phasen in der Entwicklung handwerklicher Fertigkeiten, durch die man zu einem besseren Handwerker wird, […] Hannah Arendts Überzeugung zu widerlegen [vermag], wonach Animal laborans blind ist« (Sennett 2008, S. 392) – diese Überzeugung wird von ihm zwar durch viele instruktive Beispiele und Einsichten genährt, bleibt allerdings vor der entscheidenden Frage stehen, aufgrund welcher Gesellschaftsstrukturen die Herausbildung handwerklicher Tätigkeit in der Realität immer wieder verunmöglicht wird. Zweifellos hätte Oppenheimer sein Tun handwerklich verstehen können – aber leider hat er es nicht getan. Bezogen auf den Bereich des Musizierens müsste man in vergleichbarer Weise die Frage stellen, ob nicht – zumindest in der professionellen Musikerausbildung – bestimmte Formen von Leistungserwartung, deren Härte und Unerbittlichkeit angesichts eines zunehmend prekärer werdenden Arbeitsmarktes in Zukunft sicher eher wachsen werden, der versunkenen Interaktion zwischen dem Musiker und seinem Gegenstand im Wege steht und gerade dadurch den Technikbegriff in seiner zweckrationalen Variante auch weiterhin am Leben erhalten wird.

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Psychologische und neurobiologische Aspekte beim Musizieren — Konsequenzen fürs Üben Hans-Christian Jabusch und Eckart Altenmüller

Die Ausübung von Musik auf professionellem Niveau erfordert ein Höchstmaß an räumlicher und zeitlicher feinmotorischer Präzision und bewegt sich hier an den Grenzen des menschlichen Leistungsvermögens. Sowohl beim Üben als auch beim Unterrichten ist die Suche nach den optimalen Strategien zum Erwerb und zur Aufrechterhaltung höchst präziser sensomotorischer Koordination von zentraler Bedeutung. Der vorliegende Beitrag ist ausgewählten Fragen zur Praxis des musikalischen Lernens und Lehrens gewidmet, die sich Musikstudierenden und Berufsmusikern sowie Musikpädagogen stellen. Sicherlich hat sich jeder Musiker bereits eingehend mit diesen Fragen befasst, betreffen sie doch zentrale Aspekte des Übens und der musikalischen Ausbildung. Vor dem Hintergrund ihrer hohen Relevanz möchten wir die Fragen jedoch erneut zur Diskussion stellen und hierzu einige dem Musizieren zugrunde liegende neurobiologische Prozesse sowie verschiedene in diesem Zusammenhang stehende musikphysiologische und psychologische Befunde erläutern und ihre Konsequenzen für die Praxis des Übens und für die musikalische Ausbildung erörtern.

Frage 1: Welche tägliche Übedauer ist für Musikstudierende und für Berufsmusiker empfehlenswert? Zu dieser Frage gibt es zahlreiche Stellungnahmen in der pädagogischen Literatur, stellvertretend sollen hier die Aussagen zweier namhafter Instrumentallehrer wiedergegeben werden. Der berühmte Klavierpädagoge Heinrich Neuhaus empfahl Klavierstudierenden eine tägliche Übezeit von mindestens sechs Stunden, wobei er für das Studium des Repertoires und der Technik vier Stunden veranschlagte und weitere zwei Stunden für die »Bekanntschaft mit der Musik« (Neuhaus, 1968, S. 158). Der ungarische Geiger und bedeutende Violinpädagoge Carl Flesch legte seinen Empfehlungen für die Strukturierung des Übeprozesses eine tägliche Übedauer von vier Stunden zugrunde (Flesch, 1923, S. 79).

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Von musikphysiologischer Seite wurde in einem wissenschaftlichen Projekt an Pianisten die langfristige Entwicklung ihrer sensomotorischen Fertigkeiten am Instrument in Abhängigkeit vom Übeverhalten objektiviert (Jabusch et al., 2009). Hierzu wurde unter Einsatz der MIDI-Technologie die Präzision standardisierter Bewegungen am Klavier untersucht. Als Bewegungsaufgabe diente das Tonleiterspiel, da Tonleitern ein zentrales architektonisches Element in der Musik verschiedener Genres darstellen, in der klassischen Musik ebenso wie in der Jazz-, Rock-, und Popmusik. Tonleiterspiel ist daher ein bedeutender technischer Lerninhalt in der pianistischen Ausbildung. 19 Klavierstudenten und professionelle Pianisten im Alter von durchschnittlich 26 Jahren spielten C-DurTonleitern in einem vom Metronom vorgegebenen Tempo (Viertel = 120 bpm bei Ausführung der Tonleitern als 16tel-Lauf). Auf diese Weise wurden von jedem Pianisten mit beiden Händen nacheinander jeweils zehn bis fünfzehn Tonleitern über zwei Oktaven ausgeführt, dies jeweils in beide Spielrichtungen. Zur Objektivierung der sensomotorischen Präzision am Klavier hatte sich in früheren Untersuchungen die zeitliche Ungleichmäßigkeit der Anschlagsabstände (ermittelt anhand der mittleren Standardabweichung der Anschlagsabstände) beim standardisierten Tonleiterspiel als zuverlässiges Maß erwiesen. Sie betrug bei der untersuchten Gruppe über jeweils beide Hände und Spielrichtungen im Median 10,2 Millisekunden – ein immens präziser Wert, der von einem hohen Maß an sensomotorischer Präzision bei den teilnehmenden Pianisten zeugte. Nach einem Zeitraum von durchschnittlich 27 Monaten wurden die Pianisten erneut zu einer Messung eingeladen. In der Zwischenzeit war ihnen das Bevorstehen einer zweiten Messung nicht bekannt, so dass sie in ihrem Übeverhalten unbeeinflusst waren. Im Rahmen des zweiten Besuchs wurden nach der erneuten Tonleiter-Performanzmessung mittels Fragebögen retrospektiv Angaben zum Übepensum und zu den Übeinhalten erhoben. Mithilfe der multiplen Regression wurde nach einem möglichen Zusammenhang zwischen dem Übeverhalten der Pianisten und den Veränderungen der sensomotorischen Präzision am Instrument innerhalb des Beobachtungszeitraums von 27 Monaten gefahndet. Als einziger Einflussfaktor für die Entwicklung der sensomotorischen Präzision wurde die Übezeit am Instrument während des Beobachtungsintervalls identifiziert: allein mit der kumulativen Übezeit ließen sich die Veränderungen der sensomotorischen Präzision zu 43  % vorhersagen. In Abbildung 1 ist für alle teilnehmenden Pianisten die Entwicklung der sensomotorischen Präzision in Abhängigkeit von der täglichen Übezeit dargestellt. Der Wert für die Entwicklung der sensomotorischen Präzision (Differenz der Performanzwerte beider Messungen: MIOI-d) ist positiv bei einer Verschlechterung der sensomotorischen Präzision innerhalb des Beobachtungszeitraums, ein negativer Wert weist auf eine Verbesserung hin. Anhand der gestrichelten Linien ist deutlich erkennbar, dass alle Pianisten mit einer täglichen Übezeit von mindestens 3,75 Stunden eine Verbesserung der sensomotorischen Präzision aufwiesen.

Psychologische und neurobiologische Aspekte beim Musizieren

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen der Entwicklung der sensomotorischen Präzision und der täglichen Übezeit während des Beobachtungszeitraums von durchschnittlich 27 Monaten bei professionellen Pianisten. MIOI-d: Wert für die Entwicklung der sensomotorischen Präzision (Differenz der Performanzwerte aus den Messungen zu Beginn und am Ende des Beobachtungszeitraums): ein positiver Wert weist auf eine Verschlechterung der sensomotorischen Präzision innerhalb des Beobachtungszeitraums hin, ein negativer Wert auf eine Verbesserung. Es bestand eine signifikante Korrelation (Pearson r = -0.60; p < .01) zwischen beiden Variablen (Jabusch et al., 2009).

Die Untersuchung demonstrierte deutlich den engen Zusammenhang zwischen der Übezeit und der sensomotorischen Entwicklung am Klavier über einen langen Zeitraum. Das Ergebnis weist auf die Notwendigkeit einer täglichen Mindestübezeit von knapp 4 Stunden zur Aufrechterhaltung hoher spieltechnischer Fertigkeiten bei professionellen Pianisten hin, gemessen an einem ausgewählten spieltechnischen Element. Vergleicht man diesen Wert mit den bei Klavierstudenten beobachteten Übedauern, so liegen diese häufig darüber. In einer Erhebung an der Musikhochschule in Oslo lag die wöchentliche Übezeit der teilnehmenden Klavierstudenten im Durchschnitt bei 32h 45min, der höchste angegebene Wert betrug 41h (Jørgensen, 1997). Geht man davon aus, dass täglich geübt wurde (diesbezüglich existiert für die teilnehmenden Pia-

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nisten keine explizite Angabe), entspricht dies einer durchschnittlichen täglichen Übezeit von 4h 41min und einem Maximalwert von 5h 52min. An dieser Stelle müssen auch die Grenzen der oben genannten Studie benannt werden: 1. Es gelang nicht, bestimmte Übeinhalte als Prädiktoren für die sensomotorische Entwicklung zu identifizieren. Dies kann einerseits auf erhebliche individuelle Unterschiede in der Übebiografie und in der individuell unterschiedlichen Wirksamkeit bestimmter Übeinhalte hindeuten, andererseits kann auch ein Defizit des zur Erhebung der Übeinhalte verwendeten Fragebogens zu diesem Negativergebnis beigetragen haben. Aus Abb. 1 geht hervor, dass verschiedene Musiker mit unterschiedlich langen täglichen Übezeiten teilweise ähnliche Ergebnisse erzielten. Dieser Befund deutet auf das Vorhandensein weiterer Prädiktoren hin. Es ist zu erwarten, dass bei zukünftigen Untersuchungen eine noch differenziertere Erhebung der Übestrategien zur Identifizierung bestimmter Übeinhalte als weitere Prädiktoren für die sensomotorische Entwicklung führen wird. 2. Das Ergebnis lässt sich nicht auf andere Instrumente oder auf den Gesang übertragen (in der o.g. Erhebung an der Musikhochschule Oslo differierten die durchschnittlichen wöchentlichen Übezeiten je nach Instrument erheblich; bei Geigern lag sie mit 31h 40min ähnlich hoch wie bei Pianisten, für alle Streicher zusammen lag sie bei 28h 10min, für die Holzbläser bei 18h 10min, für die Blechbläser bei 18h 50min und für Sänger bei 10h 50min). 3. Schließlich kann postuliert werden, dass das zur Aufrechterhaltung der sensomotorischen Fertigkeiten am Instrument erforderliche tägliche Übepensum von individuellen Faktoren abhängig ist u.a. vom spieltechnischen Niveau des Musikers. Swjatoslaw Richter formulierte es folgendermaßen: »Je weiter man kommt, desto mehr muss man üben« (Tschemberdschi, 1992, S. 55). Die in der oben geschilderten Studie untersuchten Pianisten wiesen bereits zu Beginn des Beobachtungszeitraums eine extrem hohe sensomotorische Präzision auf. Die Aufrechterhaltung eines niedrigeren spieltechnischen Niveaus, so kann vermutet werden, erfordert eher einen geringeren täglichen Übeaufwand. Zuletzt soll betont werden, dass in dem beschriebenen Projekt nicht die pianistische oder musikalische Entwicklung insgesamt, sondern lediglich ein einziges spieltechnisches Element untersucht wurde. Und doch wies das Ergebnis einer täglichen Mindestübezeit von knapp vier Stunden zur Aufrechterhaltung hoher sensomotorischer Fertigkeiten eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den Empfehlungen von Heinrich Neuhaus auf, interessanterweise auch mit denen von Carl Flesch. Diese Übereinstimmung kann als Hinweis auf die Plausibilität des Ergebnisses gedeutet werden.

Psychologische und neurobiologische Aspekte beim Musizieren

Trotz der oben aufgeführten Grenzen objektivierte die Untersuchung den engen Zusammenhang zwischen der täglichen Übezeit und der Aufrechterhaltung hoher spieltechnischer Fertigkeiten am Instrument. Für professionelle Pianisten kann hierzu eine Größenordnung von knapp vier Stunden ausgesprochen werden. Die an einer Musikhochschule ermittelten Werte für die Übedauer der Pianisten lagen tendenziell darüber. Auf andere Instrumentengruppen sowie auf Sänger lassen sich die Befunde nicht übertragen. Hier stehen analoge Untersuchungen noch aus. Mit den Prädiktoren für den Erwerb spieltechnischer Fertigkeiten im Kindes- und Jugendalter befasst sich die Frage 3.

Frage 2: Welche Rolle spielen Pausen beim Üben und wann sollen sie eingelegt werden? Zu dieser Frage wurde ebenfalls von Carl Flesch dezidiert Stellung genommen. Er empfahl, nach jeder Übungsstunde eine Viertelstunde Pause einzulegen und begründet seine Empfehlung mit der Aussage, dass pausenloses Üben über mehrere Stunden »für die geistige Spannkraft ungemein schädlich« sei (Flesch, 1923, S. 138). Diese Aussage wirft die Frage auf, wie lange eine Übesitzung dauern sollte, bis eine Pause eingelegt wird. Der Zusammenhang zwischen der Dauer einer Übesitzung und dem Übeeffekt beim feinmotorischen Üben wurde von Hettinger und Kollegen bereits 1975 untersucht, dies anhand einer nicht im musikalischen Zusammenhang stehenden Aufgabe (Hettinger et al., 1975). Ihre Versuchspersonen sollten lernen, insgesamt 100 Metallstifte mit einer Hand möglichst schnell einem Reservoir zu entnehmen und in ein Steckbrett zu stecken. Eine Erschwernis bestand darin, dass pro Entnahmevorgang jeweils drei Metallstifte transferiert werden sollten. Die für die Durchführung der Aufgabe insgesamt benötigte Zeit war ein einfaches Maß für den Übeeffekt. 88 Versuchspersonen wurden in acht Gruppen aufgeteilt, die die Aufgabe im Rahmen der jeweiligen Übesitzungen unterschiedlich häufig wiederholten. Die Zahl der Wiederholungen lag für die einzelnen Gruppen bei 10, 30, 50, 100, 150, 200, 250 und 300 und spiegelte damit die Dauer der einzelnen Übesitzung wider. Bei der Auswertung der Übeeffekte nach vier Übungswochen zeigte sich mit zunehmender Dauer der Übesitzung eine kontinuierliche Zunahme der Übeeffekte bis zu einem Maximum, das bei 150 Wiederholungen je Übesitzung lag und im Mittel 32,8 % des Ausgangswertes betrug. Bei weiterer Verlängerung der Übesitzung nahmen die Übeeffekte wieder ab und lagen für die Gruppe, die mit jeweils 300 Wiederholungen geübt hatte, mit einem Mittelwert von 18,7 % etwa in dem Bereich, der bereits von den Probanden mit jeweils 30 Wiederholungen (Mittelwert: 19,6 %) erzielt worden war. Interessant ist hierbei, dass diese Verteilung der Übeeffekte mit einem Maximum für die Gruppe mit 150 Wiederholungen je Übesitzung auch noch zwei Wochen nach

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Übungsende nachzuweisen war. Die Autoren erklärten die Verschlechterung der Übeeffekte bei Überschreitung einer optimalen Übedauer mit einer suboptimalen muskulären Koordination infolge muskulärer Ermüdung. An den geübten Bewegungsabläufen waren jeweils verschiedene Muskeln oder Muskelgruppen in unterschiedlicher Ausprägung beteiligt. Durch zu lange Übeeinheiten ermüdeten diejenigen Muskeln zuerst, die bei der Ausführung der Bewegungen vorrangig aktiviert wurden. Eine Fortsetzung des Übens unter diesen Bedingungen erzwang als Folge die Aktivierung sogenannter Hilfsmuskeln zur erfolgreichen Durchführung der Bewegungen und führte somit zur Erstellung eines Bewegungsprogramms mit suboptimaler muskulärer Koordination. Obgleich dieser eindrucksvolle Befund nicht auf Untersuchungen von Bewegungen am Musikinstrument basiert, ist die Erkenntnis vermutlich auf das Instrumentalüben übertragbar. Als Beispiel für suboptimale muskuläre Koordination nach zu langen Übeeinheiten soll das »Einknicken« eines oder mehrerer Finger genannt werden, das z.B. bei Kindern oder Jugendlichen mit noch unvollkommener Stabilisierung des motorischen Spielapparates z.B. an Tasten- oder Blasinstrumenten auftreten kann. Während zu Beginn der Übeeinheit die schwächeren Finger (beispielsweise der Ringfinger oder Kleinfinger) kontrolliert auf die Tasten oder Klappen aufgesetzt werden, kommt es bei muskulärer Ermüdung infolge zu langen Übens mitunter zu einer Streckung in den Fingerendgelenken, zuweilen auch in den Fingermittelgelenken (Abb. 2). Die Beugung des Fingers erfolgt dann vorwiegend oder ausschließlich im Fingergrundgelenk. Dieses »Kollabieren« des Fingers, das in frühen Stadien des Instrumentallernens auch auf eine noch unzureichend entwickelte Spielmotorik hinweisen kann und dann nicht erst bei muskulärer Ermüdung einritt, ist auf eine suboptimale Koordination der an der Fingerbeugung beteiligten Muskeln und Muskelgruppen zurückzuführen. Für den Übevorgang lässt sich ableiten, dass rechtzeitige Pausen den Übeerfolg fördern – im Gegensatz zum häufig beobachteten ununterbrochenen »Stundensammeln« am Instrument. Diese Empfehlung basiert auch auf den Erkenntnissen zur Festigung der sensomotorischen Gedächtnisinhalte. So besteht heute die Vorstellung, dass die zahlreichen Sinneseindrücke während des Übens überwiegend nur zwischengespeichert werden und die eigentliche Gedächtnisfestigung in den Pausen und im Schlaf erfolgt (Irion, 1949; Fischer et al., 2002). Für die Verschlechterung der Übeeffekte nach Überschreiten der optimalen Übedauer verwenden wir in Anlehnung an die griechische Sage den Ausdruck »Penelope-Effekt«. Penelope trennte das von ihr tagsüber gewebte Gewand nachts wieder auf, um während Odysseus’ Abwesenheit keinen ihrer Freier heiraten zu müssen. Vergleichbar hiermit zerstört der Übende die mühsam erstellten Bewegungsprogramme durch zu langes Üben (Altenmüller, 2007).

Psychologische und neurobiologische Aspekte beim Musizieren

Abbildung 2: Suboptimale Koordination der an der Fingerbeugung beteiligten Muskeln und Muskelgruppen: Einknicken des linken Kleinfingers am Klavier.

An dieser Stelle soll betont werden, dass die Wiederholungszahlen in der Untersuchung von Hettinger et al. (1975) sich keinesfalls auf das musikalische Üben übertragen lassen. Sie stehen lediglich für die Dauer der von den verschiedenen Probandengruppen absolvierten Übeeinheiten. Nach welcher Zeit sollen wir also eine Übepause einlegen? Die zum Erzielen maximaler Übeeffekte erforderliche Übedauer ist abhängig von verschiedenen Faktoren wie z.B. dem Alter, der Aufmerksamkeitsspanne und der Geschicklichkeit des Übenden sowie vom Instrument und der Art der zu bewältigenden Aufgabe. Als ungefähren Richtwert für den fortgeschrittenen Schüler gab Altenmüller die Dauer von 45 Minuten für eine Übesitzung an (Altenmüller, 2007). Im Einzelfall kann der Wert aber auch variieren, dies in Abhängigkeit von der Erfahrung und den Fähigkeiten des Musikers am Instrument, ebenso vom Schwierigkeitsgrad der zu übenden Stücke, aber auch von der Tagesform und der Motivation. Obgleich hierzu für Kinder keine experimentellen Daten vorliegen, kann bei ihnen in der Regel von einer erheblich kürzeren optimalen Dauer einer Übesitzung ausgegangen werden, die bei Anfängern im Kindesalter mitunter bei wenigen Minuten liegen kann.

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Frage 3: Welche Faktoren unterstützen den Er werb sensomotorischer Fertigkeiten bei musizierenden Kindern? Ein zentrales Thema in der musikalischen Expertiseforschung und in der Instrumental- und Gesangspädagogik ist die Suche nach biografischen Faktoren, die den Erwerb herausragender musikalischer Fertigkeiten bei Kindern und Jugendlichen fördern. Bedeutende Studien hierzu fokussierten entweder die musikalische Entwicklung insgesamt (z.B. Sosniak, 1985) oder die Entwicklung im Bereich verschiedener Teilaspekte des Musizierens wie etwa des Auswendigspiels (z.B. McPherson, 2005) oder des Vom-Blatt-Spiels (z.B. Lehmann/Ericsson, 1993; Kopiez/Lee, 2006). Biografische Faktoren, die sich im Hinblick auf diese Zielparameter als bedeutend erwiesen, waren z.B. der Inhalt des Übens, die insgesamt am Instrument verbrachte Zeit, die Motivation des Kindes und das elterliche Interesse an der musikalischen Ausbildung der Kinder. Genauere Untersuchungen zum Inhalt des erfolgreichen Übens führten zum Deliberate Practice-Konzept, in dem das Üben als strukturierte und zielgerichtete Handlung verstanden wird, die eine Verbesserung der Fertigkeiten zum Ziel hat und daher auch stets mit einer Überprüfung des Übeerfolgs einhergeht (Ericsson et al., 1993; Ericsson/Lehmann, 1999). Dieses Konzept beinhaltete übrigens die Aussage, dass Üben zwar mit Anstrengung verbunden und nicht immer angenehm ist, dass der oder die Übende aber durch die bevorstehende Verbesserung der Fertigkeiten zum Üben motiviert wird. Durch den Vergleich von Daten verschieden fortgeschrittener Instrumentalmusiker und anhand der Ergebnisse anderer Autoren zum Expertentum in unterschiedlichen Domänen wiesen Ericsson und Kollegen nach, dass dem sog. Expertenstatus in der Regel eine Gesamtübezeit von 10.000 Stunden an Deliberate Practice vorausgingen, die über einen Zeitraum von 10 Jahren gesammelt wurden (Ericsson et al., 1993). Nachdem Sloboda/Howe (1991) die musikalischen Fortschritte zweier Gruppen von »durchschnittlichen« und »hervorragenden« Musikschülern nicht anhand ihrer Übezeiten erklären konnten, vermuteten sie als Einflussgröße die von ihnen so bezeichnete »intrinsische Faszination«, die inhaltlich mit der intrinsischen Motivation verwandt ist. Ericsson et al. (1993) beschrieben die Motivation als ein Schlüsselelement im Deliberate Practice-Konzept und wiesen in diesem Zusammenhang auch auf die erhebliche Bedeutung der elterlichen Reaktionen für die Entwicklung der Motivation des Kindes hin. Die Eltern-Kind-Interaktionen wurden von zahlreichen Autoren als starker Einflussfaktor für die musikalische Entwicklung des Kindes hervorgehoben. Eltern vermitteln ihren Kindern Ziele und Wertvorstellungen, dies in einem von ihnen geschaffenen emotionalen Klima, und nehmen Einfluss durch ihr Verhalten, z.B. durch ihre gezielte Unterstützung, ihre Begleitung des Übens der Kinder und ihre Reaktionen auf deren musikalische Entwicklung. Eine umfassende Darstellung der Rolle der Eltern sowie

Psychologische und neurobiologische Aspekte beim Musizieren

der Eltern-Kind-Interaktionen für die musikalische Entwicklung des Kindes findet sich bei Gary McPherson (2008). Die Bedeutung des Lehrers für die musikalische Entwicklung des Kindes wurde vielfach untersucht. Sloboda und Davidson (1996) zeigten, dass musikalisch erfolgreiche Kinder ihren ersten Lehrer als freundlich und als guten Musiker wahrnahmen, wohingegen diejenigen Kinder, die das Instrumentalspiel aufgaben, ihren Lehrer als unfreundlich und als schlechten Spieler bezeichneten (Sloboda/Davidson, 1996). Die derartige Verflechtung fachlicher und persönlicher Eigenschaften bei der Charakterisierung des Lehrers blieb bei den Kindern, die das Spielen aufgaben, länger bestehen, während die musikalisch erfolgreichen Kinder hier später eine Differenzierung vornahmen: die fachliche Qualifikation des Lehrers wurde aus deren Sicht wichtiger als persönliche Eigenschaften (Sloboda/Davidson, 1996; Gembris, 2009). Die Suche nach biografischen Faktoren, die den Erwerb spielrelevanter sensomotorischer Fertigkeiten fördern, war Gegenstand einer Untersuchung an 30 klavierspielenden Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 8 und 17 Jahren (Jabusch et al., 2007; Jabusch et al., 2014). Erneut wurde, wie in dem unter Frage 1 geschilderten Projekt, als Maß für die sensomotorischen Fertigkeiten am Instrument die zeitliche Präzision beim Tonleiterspiel untersucht. Zu deren Objektivierung wurde das bereits geschilderte Verfahren eingesetzt, allerdings mit deutlich reduziertem Spieltempo (Viertel = 40 bpm bei Ausführung der Tonleitern als 16tel-Lauf). Im Anschluss an die Messungen wurden mithilfe von Fragebögen biografische Informationen erhoben, darunter Angaben zur Übehistorie, zum musikalischen Umfeld, zur Einstellung der Probanden zum Üben und zur Musik, zu ihren Vorlieben in der Schule und zur Häufigkeit elterlicher Begleitung des Übens. Bei den jüngsten Teilnehmern wurden diese Angaben teilweise unter Mitwirkung der Eltern erhoben. Mithilfe des statistischen Verfahrens der multiplen linearen Regression wurde schließlich der mögliche Zusammenhang zwischen den biografischen Informationen aus dem Fragebogen und der sensomotorischen Präzision am Klavier untersucht. Es ließ sich ein Modell ermitteln, mit dem sich 65 % der Varianz der sensomotorischen Präzision am Instrument erklären ließen. Folgende fünf Einflussgrößen trugen signifikant zu diesem Modell bei und begünstigten jeweils eine hohe sensomotorische Präzision am Instrument: (a) die Dauer des Klavierunterrichts in Jahren; (b) die Häufigkeit, mit der technische Übungen durchgeführt wurden; (c) die Freude an der Musik; (d) die Häufigkeit elterlicher Begleitung des Übens; (e) die Freude am Kunstunterricht in der Schule. Bei der Betrachtung der genannten fünf Variablen fällt auf, dass diese mit einigen der oben genannten biografischen Faktoren übereinstimmen, die bereits zuvor von anderen Autoren als Prädiktoren für eine günstige musikalische Entwicklung identifiziert worden waren. Dies soll nachfolgend verdeutlicht werden. Die Identifizierung der Dauer des Klavierunterrichts in Jahren als Prä-

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diktorvariable für eine hohe sensomotorische Präzision am Klavier (a) unterstreicht die Notwendigkeit einer langfristigen Beschäftigung mit dem Instrument als Voraussetzung für erfolgreiches sensomotorisches Lernen und steht im Einklang mit der von Ericsson und Kollegen berichteten 10-Jahre-10.000 Stunden-Regel. Die Einbeziehung technischer Übungen in den Übeprozess (b) kann als Form des oben genannten Deliberate Practice verstanden werden, eines in diesem Fall auf die Verbesserung der spieltechnischen Fertigkeiten ausgerichteten Übens. Auffällig ist die Identifizierung von drei motivationalen Faktoren (c, d, e) als Prädiktoren für eine hohe sensomotorische Präzision. Neben der Freude an der Musik hatte die Freude am Kunstunterricht in der Schule Einfluss auf die sensomotorische Präzision. Es zeigten sich somit günstige Auswirkungen einer ästhetisch-künstlerischen Disposition, die mit einer intrinsischen Motivation für die Domäne der Musik einherging, die darüber hinaus aber auch einen außermusikalischen künstlerischen Bereich betraf. Die Häufigkeit elterlicher Begleitung des Übens als Prädiktor für sensomotorische Präzision am Instrument (d) spiegelt das elterliche Interesse an der musikalischen Ausbildung des Kindes wider und unterstreicht erneut die erhebliche Bedeutung eines supportiven elterlichen Verhaltens. Die elterliche Begleitung des Übens kann überdies auch als Beispiel für extrinsische Motivation angesehen werden. Sloboda und Davidson (1996) wiesen darauf hin, dass ein dauerhafter Enthusiasmus für die Beschäftigung mit dem Instrument dann eher möglich ist, wenn sich die extrinsische Motivation bis zum frühen Teenager-Alter in eine intrinsische Form der Motivation weiterentwickelt. Die in diesem Unterkapitel genannten, im Rahmen der Untersuchung an 30 klavierspielenden Kindern identifizierten Prädiktoren für sensomotorische Präzision am Instrument stimmen mit einigen der bereits zuvor von Expertiseforschern für die gesamte musikalische Entwicklung verantwortlich gemachten Einflussfaktoren überein. Diese Übereinstimmung ist besonders bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass der Zielparameter im geschilderten Projekt ein einziges spieltechnisches Element war, die zeitliche Gleichmäßigkeit beim Skalenspiel. Als Schlussfolgerung zu Frage 3 kann festgestellt werden, dass auf den Erwerb sensomotorischer Fertigkeiten am Instrument neben der musikalischen Ausbildungsdauer und dem gezielten Einsatz spieltechnischer Übungen in hohem Maße motivationale Faktoren Einfluss nehmen. Neben der Einbeziehung der Eltern in die musikalische Ausbildung des Kindes empfiehlt sich die Schaffung eines reichen künstlerischen Umfeldes als weitere Voraussetzung für eine günstige Entwicklung am Instrument.

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Frage 4: Wie wird das Spieltempo gesteigert? Diese Frage ist besonders relevant beim Üben von Stücken, in denen längere Passagen in schnellem Tempo zu spielen sind. Häufig wird beim ersten Üben solcher Passagen zunächst ein langsames Spieltempo gewählt. Bei der anschließenden Steigerung des Tempos – nicht selten unter Zuhilfenahme eines Metronoms – stellt sich in vielen Fällen eine Geschwindigkeitsbarriere ein, die schwer zu überwinden ist. Wie ist dieses Phänomen zu erklären und wie lässt es sich umgehen? Zur Erläuterung soll an dieser Stelle eine vereinfachte Übersicht über einige an der Bewegungssteuerung beim Musizieren maßgeblich beteiligte Strukturen im zentralen und peripheren Nervensystem und über ihr Zusammenwirken gegeben werden. Zur Orientierung sind diese Strukturen in Abb. 3 stark vereinfacht grafisch dargestellt. Eine Übersicht über die am Musizieren beteiligten Hirnstrukturen und deren Zusammenwirken bietet das Kapitel »Hirnphysiologische Grundlagen des Übens« im Handbuch Üben (Altenmüller, 2007). Die Großhirnrinde besteht aus zwei Hälften (Hemisphären), einer rechten und einer linken, von denen jede vorwiegend die Verarbeitung der sensorischen Informationen und die motorische Steuerung der jeweils gegenseitigen Körperhälfte übernimmt. Abb. 3 zeigt die Aufsicht auf die linke Hirnhälfte. Die Großhirnrinde setzt sich zusammen aus dem vorne gelegenen Stirnhirn (Frontalkortex: FK), den seitlich gelegenen Schläfenlappen (Temporalkortex: TK), den hinter der Zentralfurche gelegenen Scheitellappen (Parietalkortex: PK), an die der hinten gelegene Hinterhauptslappen (Okzipitalkortex: OK) angrenzt. Zur Veranschaulichung der zentralnervösen Planung, Steuerung und Verarbeitung der Bewegungen beim Instrumentalspiel stellen wir uns einen Klavierschüler vor, der im Rahmen eines Klassenvorspiels W. A. Mozarts Sonata facile C-Dur (KV 545) spielen wird. Er hat sich bereits an den Flügel gesetzt, das Publikum ist zur Ruhe gekommen. Die Entscheidung, in den nächsten Sekunden mit dem ersten Satz zu beginnen, geht mit einer Aktivierung im vorderen Teil des Stirnhirns einher. Im Frontalkortex findet jegliche Handlungsplanung statt, im vorderen Stirnhirn die Erstellung eines übergeordneten Handlungskonzepts und die Einschätzung der Folgen des Verhaltens für das Individuum. Möchte der Pianist nun die ersten Takte spielen, so erfordert die Verbindung aus dem scheinbar einfach zu spielenden Thema in der rechten Hand mit der Fingersatzfolge 1-3-5-1-2-3-2-usw. und der Albertibass-Figur in der linken Hand die Bereitstellung eines komplexen Bewegungsprogramms. Diese erfolgt in der so genannten supplementär-motorischen Area (SMA), einem der sekundären motorischen Areale, die ebenfalls im Frontallappen liegen. Die SMA erstellt und speichert komplexe Bewegungsprogramme und ist von zentraler Bedeutung für die Koordination der Bewegungen beider Hände.

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Abbildung 3: Schematische Darstellung der an der Sensomotorik beteiligten Strukturen in vereinfachter Form. Das Gehirn ist in der linken Seitenansicht wiedergegeben, die Stirn weist nach links. Die Pfeile symbolisieren Nervenbahnen und Verbindungen. M1: primäre motorische Rinde; SMA: Supplementär-motorische Area; S1: somatosensorische Rinde; FK: Frontalkortex; TK: Temporalkortex; PK: Parietalkortex; OK: Okzipitalkortex.

Von der SMA aus gelangt die Information an die primäre motorische Rinde (M1), in der die für die Arm-, Hand- und Fingerbewegungen notwendigen Nervenimpulse generiert werden. Weitere in die Bewegungssteuerung maßgeblich eingebundene Hirnareale sind die Basalganglien, die an der Automatisierung komplexer Bewegungsabläufe und an der Anbindung der Bewegungen an die Affekte beteiligt sind, sowie das Kleinhirn, dessen Funktion bei der Bewegungssteuerung vor allem in der Feinabstimmung und zeitlichen Koordination der Bewegungen liegt. Werden die in den Bewegungsarealen generierten Nervenimpulse schließlich in die Peripherie abgeschickt, so erreichen sie über das Rückenmark und die peripheren Nerven die Zielmuskeln in den Händen, Armen, Schultern und im Rumpf und lösen die angestrebten Bewegungen aus. Als Resultat erklingt in unserem Beispiel der Anfang der Sonata facile. Wie er-

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fahren nun die sensomotorischen Areale in der Hirnrinde, ob die angestrebte Bewegung wie gewünscht ausgeführt wurde? Der Bewegungsapparat verfügt über verschiedene Sensoren in den Muskeln und Sehnen, welche die bei der Bewegung auftretenden Kräfte erfassen und diese Information über periphere Nerven und aufsteigende Bahnen des Rückenmarks an die sensomotorischen Areale in der Hirnrinde senden. Auf ähnliche Weise werden die momentanen Gelenkpositionen durch Sensoren in den Gelenkkapseln erfasst und ebenso an die sensomotorischen Areale zurückgemeldet. Gemeinsam mit dem Tastsinn, der mittels verschiedener Mechanorezeptoren die während des Spiels stattfindende Verformung der Haut, z.B. durch die Berührung der Tasten mit den Fingerkuppen, erfasst, liefern die Sensoren des Bewegungsapparates zu jedem Zeitpunkt Informationen aus der Peripherie an die Körperfühlregion (Somatosensorisches Areal: S1), in der ein detailliertes Bild von der ausgeführten Bewegung entsteht. Die Fülle und Komplexität der Informationen, die mit den Arm-, Hand- und Fingerbewegungen beim Spiel dieser ersten Takte der Mozartsonate an das zentrale Nervensystem gesendet werden, lässt sich erahnen, wenn wir uns folgende Zahlen vor Augen führen: in einem Arm verfügen wir über etwa 2500 derartiger Sensoren in den Sehnen und über 4000 Muskelsensoren, die sog. Muskelspindeln; die Zahl der Mechanorezeptoren der Haut beläuft sich allein an einer Hand auf 17000 (Prochazka, 1996). Die derart präzise an die sensomotorischen Areale zurückgemeldete Bewegung kann nun verglichen werden mit einer vor dem Absenden der zentralen Bewegungsimpulse gespeicherten Kopie des angestrebten Bewegungsablaufs, der so genannten Efferenzkopie. Stimmt die Rückmeldung über die ausgeführte Bewegung mit der Efferenzkopie überein, wurde das angestrebte Ergebnis erzielt und in unserem Beispiel die ersten Takte der Sonata facile wie gewünscht gespielt. Kommt aus der Peripherie eine Rückmeldung, die eine Abweichung von dem gewünschten Bewegungsvorgang signalisiert, so kann von den motorischen Steuerzentren ein Korrektursignal ausgesendet werden, das im Idealfall zu einer rechtzeitigen Korrektur der Bewegung führt und somit das gewünschte musikalische Ergebnis doch noch sicherstellt. Bringt der Klavierschüler in unserem Beispiel vor Beginn des Spiels die linke Hand nicht korrekt in die Position des C-Dur Dreiklangs und berührt beispielsweise mit der Fingerkuppe des Kleinfingers nicht nur das c’, sondern zusätzlich auch das h, so melden die Mechanorezeptoren der Fingerkuppe die Verformung der Hautoberfläche durch den Tastenzwischenraum an die somatosensorische Rinde. Ein Korrektursignal, das im besten Fall noch rechtzeitig vor Beginn des Spiels abgeschickt wird, kann dann eine Korrektur der Fingerposition auf die Taste c bewirken. Um zu der eingangs gestellten Frage nach der Steigerung des Spieltempos zurückzukehren, betrachten wir die Zeit, die der oben dargestellte Regelkreis vom Absenden der zentralen Bewegungsimpulse bis zum Eintreffen der Rückmeldung der Informationen über die Bewegungsausfüh-

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rung in den somatosensorischen Arealen und zur Erstellung eines Korrektursignals benötigt. Aus Untersuchungen von Reaktionszeiten geht hervor, dass das Durchlaufen dieses Regelkreises mit einem Zeitbedarf von etwa 120 bis 180 Millisekunden einhergeht (Schmidt/Lee, 2005, S. 158). Stellen wir uns vor, an unserem Instrument einen 32stel-Lauf mit einer Metronomeinstellung von 120 Schlägen pro Minute für eine Viertelnote zu spielen. Vom Moment des Beginns einer 32stel‑Note zur nächsten vergehen dann 62,5 Millisekunden. Beim Vergleich dieses Wertes mit dem oben genannten Zeitbedarf für den sensomotorischen Regelkreis wird deutlich, dass nach dem Absenden der ersten Bewegungsimpulse aus den sensomotorischen Hirnarealen in die Peripherie zwei bis drei Töne gespielt werden, bevor die Rückmeldung über die Ausführung der Bewegung eintrifft und bei Bedarf ein Korrektursignal generiert und in die Peripherie geschickt werden könnte. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass die Bewegungsimpulse für die nacheinander gespielten 32stel-Noten nicht im Anschluss an die Rückmeldung der jeweiligen Vornote generiert werden können, sondern dass ein vorgefertigtes Bewegungsprogramm die Bewegungsabfolge für das Spiel mehrerer 32stel-Noten codiert. Faszinierenderweise spielt die Hand folglich zwei bis drei Töne des 32stel-Laufs, während in den sensomotorischen Hirnarealen noch keine Informationen über die Ausführung der ersten Bewegung vorliegen. Vereinfacht formuliert ist den sensomotorischen Arealen in diesem Moment nicht bekannt, was im Bereich der spielenden Hand soeben geschieht. Die zentrale Bewegungsverarbeitung unterscheidet sich folglich fundamental für langsame und schnelle Bewegungen (Schmidt/ Lee, 2005, S. 149ff.). Langsame Bewegungen, wie etwa die der rechten Hand zu Anfang des 2. Satzes der Sonata facile von Mozart, können als geregelte Bewegungen bezeichnet werden, bei deren Ausführung der sensomotorische Regelkreis von Note zu Note geschlossen ist und die Rückmeldung über den Anschlag eines Tones vor der Vorbereitung für die Folgenote eintrifft. Schnelle Bewegungen hingegen müssen vor dem Beginn der Ausführung als fertiges Programm einer Bewegungskette erstellt und abgeschickt werden. Der oben geschilderte sensomotorische Regelkreis ist offen, die Rückmeldung über den Anschlag eines Tones erfolgt nicht vor dem Beginn der Folgenote. Im Fall der langsamen Bewegung sind Korrekturen von Ton zu Ton möglich, dies im Gegensatz zur schnellen, auch »ballistisch« genannten Bewegung, bei der nach Absenden des Bewegungsprogrammes in die Peripherie Korrekturen von einem Ton zum nächsten nicht oder nur beschränkt möglich sind. In der unterschiedlichen Verarbeitung langsamer und schneller Bewegungen liegt vermutlich ein Grund für die Schwierigkeit, Bewegungen langsam einzustudieren und durch Beschleunigung in schnelle Bewegungen zu überführen. Eine andere Ursache für dieses Phänomen ist bedingt durch die Änderung physikalischer Größen als Folge von Tempoänderungen. So ändern sich beispielsweise die am Bewegungsapparat angreifenden Kräfte infolge von Tem-

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poänderungen bei Sprüngen, schnellen Unterarmbewegungen, aber auch bei raschen großen Fingerbewegungen (Altenmüller, 2007). Bereits in den 1920erJahren zeigten Analysen komplexer Bewegungsabläufe am Klavier, dass die Trajektorien (Bahnkurven) von Handbewegungen bei einer definierten Bewegungsaufgabe (z.B. Tonleiterspiel) in verschiedenen Tempi sehr unterschiedlich waren (Ortmann, 1929). Das bedeutet, dass das Spiel einer Tonfolge im langsamen Tempo mitunter deutlich andere Bewegungen verlangt als das Spiel derselben Tonfolge im schnellen Tempo. Wie soll man angesichts dieser Beobachtungen und der oben genannten Befunde zur Bewegungsverarbeitung schnelle Passagen am Instrument üben? Eine mit diesen Erkenntnissen vereinbare, sinnvolle Übestrategie ist die frühe Einbeziehung des gewünschten Endtempos in den Übeprozess auf dem Weg der Fragmentierung. Lange Passagen, die in schnellem Endtempo zu spielen sind, werden in kurze, teils nur wenige Noten umfassende Fragmente eingeteilt. Diese Fragmente werden frühzeitig in schnellem Tempo geübt und bei fortschreitendem Übeerfolg allmählich zusammengesetzt. Selbstverständlich ist das langsame Üben in vielen Zusammenhängen unentbehrlich, denkt man z.B. an die Optimierung der Intonation bei Streichern. Die Fragmentierung und das frühzeitige Üben der Fragmente in schnellem Tempo ist daher eine ergänzende Übemethode und ersetzt nicht das Üben im langsamen Tempo.

Frage 5: Warum funktioniert mentales Üben und wie setzt man es ein?1 Wie eingangs erläutert, stellt das instrumentale Musizieren eine äußerst komplexe mentale Leistung dar. Dies gilt sowohl für den Übevorgang als auch für die Wiedergabe einstudierter Werke in der Aufführungssituation, die zudem häufig mit situativem Stress einhergeht. Beim instrumentalen Üben können daher als Ergänzung zum Üben am Instrument mentale Techniken eingesetzt werden mit dem Ziel, die zentralnervöse Repräsentation der einzustudierenden Musik sowie der für die Wiedergabe erforderlichen Bewegungsprogramme zu stabilisieren. Überdies werden mit dem mentalen Üben folgende Ziele angestrebt: • den Übeprozess effizienter und zielgerichteter zu gestalten; • das musikalische Verständnis für die einzustudierende Musik zu verbessern; • die Wahrnehmung in den verschiedenen Sinnesmodalitäten zu verfeinern und die Klangvorstellung zu verbessern; 1 | Die Ausführungen zum mentalen Üben sind zuerst erschienen in: Das Orchester 6/2008 (Jabusch/Altenmüller, 2008).

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• technische Schwierigkeiten zu überwinden; • die Spielsicherheit in der Auftrittssituation zu erhöhen und Auftrittsangst zu reduzieren; • Überlastungsverletzungen zu vermeiden. Namhafte Musiker berichteten von ihren positiven Erfahrungen mit mentalem Üben. So erarbeitete Arthur Rubinstein die »Variations symphoniques pour piano et orchestre« von César Franck mental während einer langen Busfahrt und spielte sie unmittelbar anschließend mit Orchester – aus dem Gedächtnis (Rubinstein, 2011, S.  255f.). Obgleich auch Instrumentalpädagogen die Einbeziehung mentaler Techniken in den Übeprozess propagieren (z.B. Leimer/Gieseking, 1998), hat diese Form des Übens unter Musikern bislang keine weite Verbreitung gefunden. Lediglich 23  % einer Stichprobe von 123 Musikern mit spielbedingten Schmerzsyndromen gaben an, vor Beginn der Beschwerden gelegentlich oder häufig mental geübt zu haben (Tiedemann et al., in Vorbereitung). Mit mentalem Üben bezeichnet man im engeren Sinne das Üben einzustudierender Musik im Geist ohne ihre praktische Ausführung. Darüber hinaus zählt auch das observative Üben und die Imitation zu den mentalen Techniken, ebenso die mentale Vorbereitung der Auftrittssituation und autosuggestive Verfahren zur Reduzierung der Auftrittsangst. In diesem Teilkapitel sollen mentale Strategien näher beleuchtet werden, die beim Einstudieren von Musik zur Anwendung kommen. Die Erforschung der dem mentalen Üben zugrunde liegenden neurophysiologischen Mechanismen reicht zurück bis in die frühen achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Wie im Unterkapitel zu Frage 4 erläutert, konnte als Ort für die Erstellung und Speicherung komplexer Fingerbewegungen, wie sie für das Instrumentalspiel erforderlich sind, in der Großhirnrinde die so genannte SMA identifiziert werden. Bahnbrechend war der Nachweis, dass in den Nervenzellverbänden dieses Areals bereits durch die reine Vorstellung solcher komplexer Fingerbewegungen eine Aktivierung stattfand, so wie sie auch beim physischen Üben dieser Bewegungen beobachtet wurde. Neben den bereits beschriebenen sensomotorischen Arealen sind an der zentralnervösen Planung, Steuerung und Verarbeitung des Instrumentalspiels eine Vielzahl weiterer Hirnareale beteiligt, deren gemeinsame, netzwerkartige Aktivierung beim imaginierten Instrumentalspiel in den vergangenen Jahren nachgewiesen werden konnte. Die Vernetzung verschiedener kortikaler Zentren beim Musiker wurde eindrucksvoll am Beispiel der audio-motorischen Koaktivierung gezeigt (siehe Abb. 4). Beim Hören von Tonfolgen zeigte sich bei Pianisten neben der zu erwartenden Aktivierung in der Hörrinde eine zusätzliche Aktivierung im sensomotorischen Kortex, obwohl keine Bewegung stattfand.

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Umgekehrt wurden beim Spiel auf der stummen Klaviatur nicht nur die sensomotorischen Areale, sondern auch der Hörkortex aktiviert (Bangert, 2001). Bei Nichtmusikern war diese audio-motorische Koaktivierung nicht zu beobachten.

Abbildung 4: Audio-motorische Koaktivierung in der Hirnrinde eines professionellen Pianisten, dargestellt mit der funktionellen Kernspin-Untersuchung: Das Spiel auf einer stummen Klaviatur (links) führt zu einer Aktivierung nicht nur in den sensomotorischen Arealen (M, erkennbar an der Graufärbung), sondern auch im auditorischen Kortex (A). Beim Hören einfacher Tonfolgen (rechts) sind neben den auditorischen auch die sensomotorischen Rindenfelder aktiviert (erkennbar an der Graufärbung), (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Dr. Marc Bangert).

Bei Sängern wurden in einer Untersuchung zur Hirnaktivierung während der mentalen Simulation des Singens einer Arie (»Caro mio ben«, Giuseppe/ Tommaso Giordani) nicht nur die sensomotorischen Rindengebiete und der Hörkortex aktiviert, sondern darüber hinaus zahlreiche weitere Hirnareale, die u.a. im Zusammenhang mit der Handlungsplanung, der Sprachverarbeitung und der emotionalen Einfärbung stehen (Kleber et al., 2007). Die Vernetzung der verschiedenen Modalitäten auf zentralnervöser Ebene beim Musizieren verdeutlicht die Notwendigkeit, auch beim mentalen Üben alle beteiligten Sinnesmodalitäten einzuschließen. Nicht nur die Vorstellung des eigenen Musizierens, auch das Beobachten der Bewegungen anderer Instrumentalisten beim Spielen führt bei Musikern zur Aktivierung der sensomotorischen Areale. Die dabei aktivierten Nervenzellverbände werden zu dem sog. System der Spiegelneurone gezählt. Interessant ist, dass auch die reine Beobachtung der Bewegungen eines Musikers an einem stummen Instrument – ohne jeglichen Höreindruck – die auditorischen Areale eines beobachtenden Musikers zu aktivieren vermag (Haslinger et al., 2005). Basierend auf diesen neurophysiologischen Hintergründen sollen nachfolgend Hinweise für die praktische Durchführung des mentalen Übens gegeben werden. Idealerweise geht eine formale und harmonische Analyse des

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einzustudierenden Werkes voraus. Das Erkennen formaler (z.B. Fugenaufbau, Sonatensatzform, Rondo) und harmonischer Strukturen (z.B. Kadenzen, Modulationen) dient nicht nur dem besseren Verständnis der Musik, sondern ermöglicht es zudem, eine Vielzahl einzelner Informationen (z.B. einzelner Noten) zu größeren Informationseinheiten zu verknüpfen, die anschließend leichter memoriert werden können. Eine Untersuchung an unterschiedlich fortgeschrittenen Pianisten zeigte, dass Pianisten im weniger fortgeschrittenen Stadium die Musik weniger strukturiert betrachteten und durch häufiges Wiederholen auswendig lernten, während erfahrene Pianisten vor dem Auswendiglernen eine Analyse vornahmen und bedeutungsvolle Segmente zusammenfassten (Aiello, 2001). Im Rahmen der vorbereitenden Analyse werden weiterhin die Fingersätze geklärt, bei Streichern die Bogenstriche, ferner Details zur Dynamik, Phrasierung und Artikulation. Schließlich wird das Werk in überschaubare Übungsabschnitte unterteilt, deren Länge von der Komplexität des Werkes und von der Erfahrung des Musikers mit dem mentalen Üben abhängt. Für den Vorgang des mentalen Übens sollte man ausgeruht und entspannt sein, der Einsatz einer Entspannungstechnik (z.B. Autogenes Training, Atemtechniken, Progressive Muskelentspannung) kann vorbereitend hilfreich sein. Das eigentliche mentale Üben beginnt mit dem ersten Übungsabschnitt und umfasst folgende Schritte: • Memorieren des Notentextes des ersten Übungsabschnittes unter Zuhilfenahme der zuvor analysierten Strukturelemente, des Fingersatzes etc.; • Vorstellen des ersten Übungsabschnittes, z.B. Note für Note oder Akkord für Akkord, dabei: • gedankliches Erfühlen der taktilen Wahrnehmung am jeweiligen Instrument (Tasten, Klappen, Saiten, Bogen etc.); • inneres Vorstellen der Bewegungen (Finger, Arm, Bogen), ggf. des Atems und der Luftführung; • inneres Hören des klanglichen Ergebnisses; • ggf. Einbringen gedanklicher Bilder mit außermusikalischen Bezügen sowie emotionaler Assoziationen. Vorteilhaft ist bei diesen Vorgängen die multimodale Vorstellung unter Einbeziehung aller beteiligten Sinne, so dass das gesamte oben dargestellte zentralnervöse Netzwerk in den Übeprozess involviert wird. Sobald die mentale Vorstellung des ersten Übungsabschnitts vollständig gelingt, kann dieser am Instrument ausgeführt werden. Eine Abwechslung des mentalen Übens mit physischem Üben hat sich als besonders effektiv herausgestellt. Falls bei der Ausführung Fehler auftreten, erfolgt zunächst eine Analyse der Fehler und der Korrekturmöglichkeiten, bevor der erste Übungsabschnitt erneut mental

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durchlaufen wird. Sobald für diesen bei der Ausführung ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielt wird, werden die folgenden Übungsabschnitte fokussiert. Nach und nach werden anschließend die Übungsabschnitte zusammengesetzt. Diese Form des mentalen Übens setzt eine gewisse Erfahrung am Instrument voraus, so dass auf bereits im Gedächtnis gespeicherte Bewegungsmuster und Klangerinnerungen zurückgegriffen werden kann. Dennoch kann das mentale Üben bereits früh in den Instrumentalunterricht mit eingeflochten werden. Für den Beginn – sei es im Kindes- oder Erwachsenenalter – ist wichtig, dass man mit Werken von relativ einfachem Schwierigkeitsgrad beginnt und dass die mentalen Übeeinheiten anfangs nur kurz sein und wenige Minuten nicht überschreiten sollten. Häufig gelingt die gleichzeitige Vorstellung der verschiedenen Modalitäten nicht sofort. Dann können die verschiedenen Aspekte im Sinne von Gerhard Mantels »rotierender Aufmerksamkeit« nacheinander fokussiert werden (Mantel, 2004). Selbst mit wenig Erfahrung im mentalen Üben lassen sich auf diese Weise bereits überraschend gute Ergebnisse erzielen. Ganz unabhängig von der Vorerfahrung ermöglicht das oben angesprochene System der Spiegelneurone eine weitere Form des mentalen instrumentalen Übens: das Üben durch Beobachten und Imitation. Es ermöglicht dem Instrumentallehrer, Lehrinhalte wie z.B. Spielökonomie, Haltungsoptimierung und Klanggestaltung oder andere, schwer zu verbalisierende Aspekte durch die Demonstration am Instrument zu vermitteln. Hierbei ist wichtig, dass die Demonstration – gerade vor jungen Instrumentalschülern – qualitativ hochwertig sein muss, da besonders im jungen Alter zwischen günstigen und ungünstigen Bewegungsabläufen noch nicht unterschieden werden kann, so dass im negativen Fall auch ungünstige Bewegungsabläufe imitiert werden. Konzertbesuche und die damit verbundene Beobachtung der Bewegungsabläufe bei sehr erfahrenen, konzertierenden Instrumentalisten sind in diesem Zusammenhang empfehlenswert und können eine wesentliche Unterstützung beim Instrumentalüben und bei der Optimierung musikalischer und instrumentaler Fertigkeiten darstellen. So außerordentliche mentale Fähigkeiten, wie Rubinstein sie in der oben geschilderten Episode unter Beweis stellte, sind sicherlich eine Ausnahmeerscheinung. Dennoch vermag die Einbeziehung mentaler Techniken in die tägliche Überoutine eines jeden Musikers nicht nur den Übeprozess und dessen Ergebnis zu optimieren und gleichzeitig die körperliche Belastung zu reduzieren, sondern auch das Erleben der Musik für den Ausführenden – und als Folge auch für den Zuhörer – zu bereichern und zu intensivieren.

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S chlussbemerkung In diesem Beitrag2 wurden einige beim musikalischen Übeprozess sowie beim Unterrichten relevante Fragestellungen diskutiert, dies unter Einbeziehung verschiedener Befunde aus der Neurobiologie, Psychologie und aus angrenzenden Feldern. Zielsetzung war die Optimierung der jeweils zum Einsatz kommenden Strategien. Abschließend möchten wir den Blick noch einmal auf einen unter Frage 3 berichteten Befund lenken. Auf der Suche nach biografischen Faktoren, die die musikalische Entwicklung insgesamt oder die Entwicklung im Bereich verschiedener Teilaspekte des Musizierens wesentlich mitbestimmen, wurde die intrinsische Motivation immer wieder als Voraussetzung für eine positive Entwicklung identifiziert. Sogar bei der Fokussierung eines ausgewählten spieltechnischen Elements am Klavier, der Präzision des Anschlagszeitpunktes, war (neben anderen Variablen) das von den untersuchten Kindern und Jugendlichen angegebene Ausmaß an Freude an der Musik wesentlich an der Varianzaufklärung der Zielvariablen beteiligt. Die heutige professionelle Musikausbildung ist stark geprägt von der Konkurrenzsituation der jungen Musiker und von einem erheblichen Perfektionismus, der u.a. auf die musikalischen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft und auf ihren Umgang mit den musikalischen Medien zurückzuführen ist. Als Folge tritt bei jungen Musikern häufig die Freude als eigentlicher Motivator für ihr musikalisches Schaffen in den Hintergrund. Im Extremfall basiert der Übeantrieb sogar auf negativen Emotionen wie Angst oder einem schlechten Gewissen wegen zu kurzer Übezeiten. Nachdem in diesem Kapitel Möglichkeiten zur Optimierung der Übestrategien thematisiert wurden, möchten wir zum Schluss unserer Überzeugung Ausdruck verleihen, dass eine entscheidende Optimierungsstrategie wahrscheinlich – bei aller erforderlicher Disziplin – darin besteht, die Freude an unserem musikalischen Tun, sei es am Üben, am Unterrichten oder am Vorspielen vor anderen Menschen, immer wieder und ganz bewusst in den Mittelpunkt zu stellen.

2 | Danksagung: Für die zahlreichen fruchtbaren Diskussionen über physiologische und psychologische Hintergründe zu musikalischen Übestrategien möchten wir Herrn Prof. Dr. phil. Reinhard Kopiez und Herrn Dr. rer. nat. Marc Bangert ganz herzlich danken. Herrn Dr. rer. nat. Marc Bangert danken wir überdies für die freundliche Genehmigung des Abdrucks der Abbildung 3. Unser Dank gilt zudem der SCHOT T MUSIC GmbH & Co. KG, Mainz – Germany für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks der Ausführungen zum mentalen Üben, die zuerst erschienen sind in »Das Orchester« 6/2008.

Psychologische und neurobiologische Aspekte beim Musizieren

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Chopins Fragilität Michael Heinemann

Die Fragilität Chopins ist ein Topos seit je, belegt durch zahlreiche Nachrichten aus seinem persönlichen Umfeld, sichtbar gemacht nicht nur in Portraits, unter denen das Gemälde von Eugène Delacroix wohl am nachhaltigsten das Bild eines genialischen, ätherischen Künstlers vermittelt. Dass Chopin ein an Leib und Seele kranker Mann war, ist jedoch nichts weniger als künstlerische Überhöhung des malenden Freunds und auch nicht lediglich eine Projektion der Rezeptionsgeschichte, die freilich das Motiv des schwindsüchtigen Komponisten, der, so Thomas Mann im Doktor Faustus, »leibarmen« Erscheinung umso dankbarer aufgriff, als ein bestimmter Gestus seiner Musik dieser Vorstellung entgegenkam: ein elegischer Tonfall der Mazurken, eine gewisse rhythmische Unschärfe metrisch freier Ziselierungen in den Nocturnes, verwaschene Fakturen, scheinbar unverbindliche, ziellose Linien, das Fehlen vordergründiger Effekte – die Reihe von ähnlichen Parametern, die sich mit Chopins Klaviermusik unmittelbar assoziieren, wäre mühelos zu verlängern, ohne dass schon konkrete Werke benannt werden müssten. Dass hier jedoch keineswegs von der Musik vorschnell auf das biographische Subjekt geschlossen wird, belegen zahlreiche Details aus dem Leben des Komponisten: der Heimatlosigkeit des patriotisch gesinnten Polen im Pariser Exil, der offensichtlich wenig glücklichen Beziehung zu George Sand und einer körperlichen Konstitution, die wohl alles andere als robust zu nennen ist und neben jener Disposition zur Schwindsucht auch von Phobien – von einer generellen Lebensunsicherheit bis hin zu Auftrittsängsten und Lampenfieber – gekennzeichnet war. Das Aperçu Franz Liszts, Chopin sei sein Leben lang gestorben, dürfte weder Sarkasmus noch romantische Überhöhung sein, selbst wenn die Nachrichten von seinem Sterben andererseits auf eine Inszenierung deuten, die mit den glaubhaft überlieferten Mitteilungen eine Unterstützung erfuhr, Bohemiens aus dem Pariser Umkreis hätten sich Plätze am Sterbebett streitig gemacht, um das Ableben des Künstlerfreundes zeichnerisch optimal zu dokumentieren, während im Nebenzimmer Delfina Potocka, Chopins Geliebte aus der Ferne, mit dem Vortrag von Liedern in der Muttersprache die fak-

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tische Heimatlosigkeit habe suspendieren wollen – ein Szenarium, das wohl auch deshalb lanciert wurde, um den Eindruck der Agonie ästhetisierend zu überhöhen: Das Zeitalter der schönen Tode duldete das jämmerliche Verenden zumal bei einem Künstler, der trotz – oder gerade wegen – seiner Leiden zum Helden stilisiert werden sollte, nicht. So wurden bereits die ersten Symptome einer unverkennbaren Tuberkulose verklärt, indem Chopin nachgesagt wurde, noch sein Husten zeige Anmut. Chopins Fragilität ist mithin nicht nur ein Konstrukt der Rezeptionsgeschichte, sondern schon seiner Gegenwart, wobei zunächst unentschieden bleiben kann, ob der Komponist selbst dieses Bild einer zerbrechlichen Künstlerpersönlichkeit forcierte; wenngleich nicht erkennbar ist, dass er dieser Deutung Vorschub leistete, so spricht jedoch auch wenig dafür, dass er ihr einen anderen Entwurf entgegensetzte. Das Moment der Selbststilisierung, ja schon des Selbstentwurfs, wie es aus den Biographien von Liszt, Wagner oder Berlioz vertraut ist – auch als Projektion des Ichs in eine Romanfigur oder die Identifizierung der eigenen Person mit der Gestalt einer fiktionalen Vorlage –, fehlt, soweit bislang zu sehen, in Chopins Biographie (dass er allerdings zum Protagonisten eines literarischen Werkes taugte, bezeugt George Sands Lucrezia Floriani). Nicht zuletzt seine Briefe lassen eine Unverstelltheit erkennen, die es schwer nachvollziehbar macht, er habe mit Rollen und Kostümen nur mehr gespielt. Kurz: Chopins Fragilität steht, was seine Körperlichkeit angeht, außer Frage, da sie zu gut dokumentiert ist in Berichten aus seinem unmittelbaren Umkreis. Offen bleibt jedoch, ob und wie sich diese Fragilität in seiner Musik manifestiert, und zwar jenseits der Phänomene, die bereits angedeutet wurden. Denn der Schluss vom biographischen aufs ästhetische Subjekt, der bei Chopin scheinbar so nahe liegt wie bei kaum einem anderen Komponisten, ist methodologisch auch hier prekär. Zwar drängt sich eine rasche Konvergenz von »fragilem« Tonsatz und einer defizitären körperlichen Konstitution auf, doch dürfte hier ein Zirkelschluss vorliegen: Weil Chopin für Krankheiten anfällig war, scheint seine Musik resignativ zu tönen, und aus dem elegischen Duktus seiner Kompositionen wird auf ein Individuum geschlossen, das depressive Tendenzen, gar seine Verzweiflung künstlerisch umsetzte. Doch lässt nicht jede metrisch ungenaue Gestaltung melodischer Wendungen den Schluss auf ein existenziell verunsichertes Individuum zu, und umgekehrt umfasst das Dispositiv selbst eines zu Verzagtheit und Kleinmut tendierenden Subjekts mehr als nur verhaltene oder schwermütige Klänge, wie etwa der heroische Gestus mancher Polonaisen bezeugt. Im Œuvre von Chopin lassen sich mit Nocturnes und Mazurken, der Berceuse oder dem Finale der b-moll-Sonate wie noch dem »Regentropfen«-Prelude zwar eindrucksvolle Belege anführen, die eine Rede von der in Musik gesetzten Melancholie oder Verzweiflung beglaubigen; doch finden sich nicht selten im unmittelbaren Kontext dieser Opera – pu-

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blizistisch wie entstehungsgeschichtlich – auch Werke, deren gelöster, heiterer Ton und deren zuversichtlich gefärbter Klang die Annahme einer konstant im Werk gespiegelten Fragilität einigermaßen fragwürdig erscheinen lässt. Zumindest, sofern man den Notentext konsultiert. Denn hier müsste jenes Moment einer Unmittelbarkeit subjektiven Ausdrucks gefasst sein, sofern es nicht lediglich von der Rezeptionsgeschichte suggeriert, respektive supponiert wird. So wenigstens in einer traditionellen Perspektive, die ihren Ausgangspunkt beim Notentext, respektive jenen Topoi nimmt, die durch die Rezeptionsgeschichte konstituiert werden: jenen zwei Instanzen, die gemeinhin für die Rekonstruktion eines Moments von Körperlichkeit, das in einem Musikstück auf die Person seines Verfassers zurückweist, virulent gemacht worden sind – auch als Resultat jenes berühmten Ansatzes, den Roland Barthes am Beispiel der Kreisleriana von Robert Schumann formuliert hatte.1 Zwar ist hier der Ausgangspunkt ein Hörerlebnis, das jedoch genutzt wird, um ein biographisches Subjekt des Komponisten zu rekonstruieren. Dabei ergibt sich freilich das Problem der Lektüre eines Textes, dessen Gestalt seinerseits nur mehr das Ergebnis eines intentionalen Aktes oder das Derivat eines Vorgangs ist, dessen Spontaneität ebenso zu fokussieren bleibt wie seine Genese nicht zu beeinflussen, weil unhintergehbar, da durch den Körper des Autors gesteuert. Das Problem freilich ist deren Ermittlung und Beschreibung, da hier der Akt der Vermittlung als eines Vorgangs, der sprachlich oder textlich kommunizierbar wäre, transzendiert wird und die Unmittelbarkeit solcher illokutionären Akte textuell – aus dem Werk heraus – nicht zu ersehen ist. Dieses Defizit ist im Strukturalismus bereits hinlänglich visiert, und auch in Bezug auf Musik schon thematisiert worden, ohne dass freilich schon eine Lösung angeboten worden wäre. Die Dimension der unhintergehbaren Unmittelbarkeit wird dabei von einer bewussten Entscheidung der Verbergung von Subjektivität nicht tangiert, da ihr notwendig vorausgehend, und wird auch nicht durch eine Entscheidung für Sprachlichkeit als Modus der Vermittlung beeinträchtigt. Der Wunsch der Mitteilung und die Verpflichtung zur Sprache, ihr Gebäude, ihre Behausung, ihr Gefängnis, bleiben der Gestaltung des Kommunikats bis zu einem gewissen, noch zu bestimmenden Grade sogar äußerlich, ja intendieren einen Überschuss, der ängstigt, weil er einen rational nicht mehr kontrollierbaren Rest an notwendigerweise subjektiviertem Gehalt impliziert. Worte und auch klangliche Chiffren bieten gerade als Topoi Leerstellen, ein Potential an Verbergung wie auch an Freiräumen heteronomer

1  |  Vgl. Roland Barthes, »Rasch«, in: ders., Was singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied, Berlin 1979, S. 47-68.

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Interpretation. »Sprechen«, so Derrida, »macht mir Angst, denn da ich nie genug sage, sage ich immer auch zu viel.«2 Über die Rezeption der Werke eines Komponisten zu einer bestimmten Zeit reden zu wollen, verdreifacht das Problem: Neben die Sorge um die eigene Sprachfähigkeit tritt die Aufgabe, die vorgängigen Texte zu lesen, die des Kommentators wie die des Autors selbst. Schon dessen Schwierigkeit, sich zu artikulieren, bedarf der Entfaltung, die Lektüre des Rezipienten kaum weniger einer Reflektion in Bezug auf sein Gebundenheit an Konvention und Geschichte. Wenn es denn zutrifft, dass jede(r) stets und nur sich selbst liest im Text eines andern, ist die Gefahr, die Optik in doppelter Brechung gänzlich zu verzerren, umso größer: Der Autor gerät zum Konstrukt der Meta-Kritik. Unter solchen Auspizien hilft auch die Zuflucht zum Text selbst wenig: Die Maxime der klassischen Philologie – »lesen, was da steht« – ermöglicht zwar gegebenenfalls Einblicke in die Konstruktion eines Werkes, der Technik, wie es »gemacht« ist, bietet zur Erkenntnis seines Gehalts freilich wenig. Solche Analyse, die sich aufs Verfahren der An-Ordnung von Tönen beschränkt, ignoriert, dass Noten Chiffren sind, die immer auch auf Kontexte – historisch, sozial, biographisch etc. – verweisen. Erst deren Erschließung ermöglicht, die Intention einer Komposition freizulegen und das Bild eines Autors zu entwerfen, dessen Werke notwendigerweise seine Persönlichkeit spiegeln und damit zugleich einen Blick auf seine Lebenswelt freigeben. Gewiss tat eine Reduktion auf den blanken Notentext zu Zeiten Not, um den zum Klischee geronnenen Entwürfen von Chopin als »romantischem« Künstler Einhalt zu bieten und kompositorische Qualität und ästhetischen Rang seiner Musik zu akzentuieren. Dass gelegentlich deren Autonomie überscharf fokussiert wurde, mochte aus dem Ansatz resultieren, ein abgeschlossenes und vollendetes Werk löse sich aus seinem Entstehungszusammenhang und sei offen für jedwede Deutungsperspektive, ja der Rekurs auf die Genesis könne geeignet sein, die ästhetische Geltung zu verringern; auch die Scheu vor allzu platter Hermeneutik und den Niederungen einer Biographik, die auch vor Kitsch und Kolportage nicht zurückschreckt, ließ die akademische Forschung auf das Werk (im emphatischen Sinne) als ausschließlichen Gegenstand ihres Interesses rekurrieren, hinter dem die Beobachtung biographischer Konstellationen – sofern nicht chronikalisch gefasst und für die Genese von Bedeutung – zurückstehen musste. Mit dem Ziel einer Problemgeschichte des Komponierens, der Rekonstruktion der Frage, auf die ein Werk im Kontext der Gattungsgeschichte als Antwort verstanden werden konnte, wird eine solche Reduktion unschwer nachvollziehbar und die strukturalistische Analyse eine ihrer notwendigen Voraussetzungen. Der Verzicht auf Kontexte jenseits der Intertextualität, die der Diskurs des Komponisten mit seinen Kollegen begrün2 | Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1976, S. 19.

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det, war Programm: »Strukturalist sein heißt, als erstes der Organisierung des Sinns, der Autonomie und dem eigentlichen Gleichgewicht, der gelungenen Herausbildung jeden Moments und jeder Form Aufmerksamkeit schenken; und zurückzuweisen, was durch eine ideale Grundform nicht verstanden werden kann.«3 Dies schließt auch defiziente Modi strukturaler Organisiertheit nicht aus: »Das Pathologische sogar ist nicht bloße Abwesenheit von Struktur. Es ist organisiert. Es läßt sich als Mangel, Abfall oder Zersetzung einer schönen idealen Totalität verstehen. Es ist keine einfache Niederlage des Telos.«4 Diesen ubiquitären Vorzügen strukturaler Analyse steht freilich die schroffe Kritik Umberto Ecos entgegen, der die ontologischen Aporien dieses im letzten selbstzerstörerischen Ansatzes aufzeigte: Bei gleichbleibender Ausgangsposition führe die Differenzierung der Untersuchung der Gegenstände lediglich zu einer Differenzierung der Gegenstände der Untersuchung, die doch stets nur dieselbe (Außen-)Seite eines Werk zu beschreiben in der Lage sei.5 Sofern ein Kunstwerk jedoch nicht nur als Ausweis technologischer Kompetenz seines Verfassers oder als Mittel historiographischer Konstruktion fungiert, rücken die Fragen nach seiner Genese (Ursprung) und seiner Intention (Wirkung) in den Blick, damit zugleich das ästhetische, aber auch das biographische Subjekt seines Verfassers. Impetus, der dieses neuerliche Interesse stimuliert, ist die Rezeption, die in strukturaler Analyse ihr Genüge nicht mehr findet, sondern das unmittelbare Erleben zu berücksichtigen sucht. Dies auch nimmt sie zum Ausgangspunkt, der zu reflektieren, allerdings nicht zu hintergehen ist (ebensowenig wie die Fokussierung auf rein technische Sachverhalte des Tonsatzes als Modus einer prinzipiell intellektuellen Begegnung mit Kunst). Solch gewiss sehr subjektiven Zugang vorzustellen und in seinen Bedingungen und Möglichkeiten bedacht zu haben dürfte Roland Barthes wohl der prominenteste Autor gewesen sein, und seinen Ansatz hier näher zu betrachten, mag gestattet sein, selbst wenn es die Musik Robert Schumanns ist, der er sich wiederholt und mit Leidenschaft widmete. (Seine methodischen Probleme werden, wie zu zeigen sein wird, mit Blick auf einen Komponisten wie Chopin, der zugleich der emphatische Interpret seiner eigenen Werke ist, mindestens ansatzweise lösbar.) Barthes’ erster Zugang zu Schumann wäre schon aufgrund des Titels eines seiner Beiträge leicht als der eines Dilettanten zu denunzieren: Aimer Schumann verheißt nicht unbedingt einen Beitrag akademischer Musikwis3 | Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 46. 4 | Ebd. 5 | Umberto Eco, La struttura assente, dt. in: ders., Einführung in die Semiotik, München 92002, S. 395ff.

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senschaft, und die Eröffnung ist zunächst nicht mehr als eine Behauptung: »Schumann est vraiment le musicien de l’intimité solitaire, de l’âme amoureuse et enfermée, qui se parle à elle-même«.6 Diesen Bezug des Komponisten auf sich selbst im Modus des Gesprächs erkläre die (über-)reiche Verwendung der Vortragsanweisung parlando in Schumanns (Klavier-)Musik und könne als Ausdruck einer frühkindlichen, nie sublimierten Mutterbindung verstanden werden.7 Was wie ein naiv psychologisierender Zugang anmutet, ist doch nicht weniger als ein Versuch über Schumanns Ton: Barthes zufolge spricht Schumann stets selbst in seinen Werken, deren Aussage werde allerdings verständlich nur dem Pianisten bei seinem Spiel – eine These, die der französische Literat umso beherzter wagen kann, als er selbst mindestens zeitweise eine Musikerkarriere bedacht hatte, der eine gewisse Plausibilität freilich zukommen mag, vergleicht man Schumanns Klavierstil mit der exuberanten, gleichwohl glatt, »unkörperlich« wirkenden Virtuosität seiner Zeitgenossen. Diesen Eindruck, der sich von Schumann vermittelt, versucht Barthes nun mit drei Beobachtungen zu verfestigen. Erstens entwerfe Schumann keine Gegenwelt, sondern beziehe sich, wie zahlreiche Titel seiner Klavierstücke zeigten, auf reale Sachverhalte, die knapp, scheinbar beiläufig umrissen werden: Das Intermezzo sei das Prinzip seiner Auseinandersetzung mit der Realität. Zweitens durchziehe Schumanns Klaviermusik ein Tonfall des Schmerzes (»douleur«), der weder an ein Objekt noch an einen Sachverhalt gebunden sei, doch auch keine Attitüde bilde, sondern Ausdruck einer fundamentalen charakterlichen Disposition sei; deren Unvermitteltheit (»pure«) reflektiere eine vergleichsweise schlichte Harmonik: Schumanns Möglichkeit, als Subjekt »Welt« zu bestehen. Deren Anwürfe – drittens – spiegelt der Rhythmus. Markante, mitunter »barbarische« Schläge sind nach Barthes ein Ausweis eigenen, körperlich empfundenen Schmerzes (ein Motiv, das in seinem Kommentar zur Kreisleriana einen zentralen Platz einnimmt). Diese drei Momente, von Barthes als konstitutiv für Schumanns Ton erachtet, verweisen auf sein Naturell: Einfachheit, Züge von Leiden und »Verrücktheit« – verstanden nicht als pathologische Diagnose sondern als Weltfremdheit aufgrund unzureichend ausgebildeter Konfliktfähigkeit (letztere wiederum als Reflex einer Mutterbindung), gegebenenfalls zu kompensieren im Humor, der auch seinerseits eher Rückzug bezeichnet als eine »ernsthafte« Auseinandersetzung mit den Erfordernissen des Tages: der Entwurf eines zutiefst passiven Musikers, dessen Klänge Reflexe einer Realität sind, der sich der Künstler nur stellen kann, indem er Zuflucht zur Nostalgie 6 | Roland Barthes, Aimer Schumann, [Vorwort zu] Marcel Beaufils, La musique pour piano de Schumann, Paris 1979, S. 10. 7 | Barthes, Aimer Schumann, ebd., Fortsetzung des Zitats: »(d’ou l’abondance des parlando dans son œuvre, tel celui, admirable, de la Sixième Kreisleriana), bref de l’enfant qui n’a d’autre lien qu’a la Mère.«

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nimmt, nicht aber durch die Formulierung eines Gegenentwurfs. Schumanns Musik, so Barthes, terminiere in der Nacht. Was hier noch wie ein generalisierender, schöngeistiger Entwurf einer romantischen Künstlerphysiognomie sich anlässt, entwickelt Barthes in seinem Kommentar zur Kreisleriana zu einem alternativen Programm musikalischer Interpretation. In diesem Werk höre er »eigentlich keine einzige Note, kein Motiv, kein Thema, keine Grammatik, keinen Sinn, nichts, was eine irgendwie geartete intelligible Struktur des Werks wiederherzustellen erlauben würde. Nein, was ich höre, sind Schläge: ich höre das, was im Körper schlägt, was den Körper schlägt, oder besser: diesen Körper, der schlägt.« 8 Dementsprechend nimmt Barthes die Einzelsätze der Kreisleriana als Bewegungen eines Körpers wahr, genauer: Schumanns Körpers, das empirische Subjekt, das mit dem ästhetischen nicht allein konvergiert, sondern a priori identisch ist, eines Körpers, der Schläge empfindet und ihnen musikalische Gestalt verleiht. Diese Dimension der Musik ist weder ein Sub- noch ein Paratext, weder dies- noch jenseits einer semiologischen Analyse aller Elemente, die gemäß einer konventionellen Hermeneutik dazu verleiten könnte, diesem Zyklus eine Narration zu substruieren. Sie greift Barthes zufolge auf einer anderen, ungleich unmittelbareren Ebene, einem Ort, an dem die Differenz von Komponist, Interpret und Hörer verwischt, indem die genuine Intention des Autors als körperhafte Präsenz erkennbar wird. Dies kann nur gelingen, sofern man vermag, »die Anagramme des Schumannschen Textes lesen zu können, unter der tonalen, rhythmischen und melodischen Rhythmik das Netz der Betonungen hervortreten zu lassen«. Denn: »Die Betonung ist die Wahrheit der Musik, hinsichtlich der jede Interpretation Stellung nimmt. Bei Schumann werden (nach meinem Geschmack [!]) die Schläge zu ängstlich gespielt; der Körper, der davon Besitz ergreift, ist fast immer ein mittelmäßiger, dressierter, durch die Jahre am Konservatorium oder die Karriere ausgelöschter Körper, oder einfacher gesagt, ein durch die Bedeutungslosigkeit, die Indifferenz des Interpreten ausgelöschter Körper: er spielt die Betonung (den Schlag) wie ein bloßes rhetorisches Kennzeichen; der Virtuose verbreitet einfach die Plattheit seines eigenen Körpers, der unfähig ist, zu ›schlagen‹ (so bei Rubinstein). Das ist nicht eine Frage von Kraft, sondern von Wut: der Körper muß hämmern – nicht der Pianist (dies ist hie und da von Nat und Horowicz gesehen worden).«9 Diese »Figuren des Körpers«, als deren Abbreviatur »Schlag« firmiert, verfehlt konventionelle musikalische Analyse, wenn sie sich auf Bestimmung und Anordnung des Materials beschränkt: »die Kompositionslehrbücher sind ideo-

8 | Roland Barthes, Rasch, S. 47. 9 | Barthes, Rasch, S. 53f. Vgl. hierzu auch Barthes’ Unterscheidung von Phäno- und Genotypus des Sängers, dargestellt am Beispiel von Fischer-Dieskau und Panzera.

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logische Gegenstände, deren Sinn es ist, den Körper zugrunde zu richten«.10 Solche »Figuren des Körpers« zu erfassen aber könne mit einer literarischen Sprache gelingen, sei dem gewandten Schriftsteller eher möglich als der »Wissenschaft«.11 Deren »ideologische Lektüre« eines Textes bedürfe der Korrektur durch die Einbeziehung des Körpers und seiner »Figuren«: Nur so sei es möglich, Musik zu verstehen. Denn anders als bei »gegliederten Texten«, bei deren semiologischer Betrachtung der Referent vernachlässigt werden konnte, da das Signifikat als »Filter« fungiere, dürfe bei der Musik, »Signifikanzfeld und nicht Zeichensystem«, der Referent nicht übersehen werden, »da er hier der Körper ist. Der Körper geht in die Musik ein ohne ein anderes Verbindungsglied als den Signifikanten.«12 Diese Konjunktion erhellten die Vortragsangaben, indem sie – mehr als eine Haltung des Interpreten – auf dessen Körpertonus zielen. Diese Angaben – Reflexe zugleich der Körperhaftigkeit ihres Verfassers – könnten die Grundlage für eine zweite Semiologie werden, »die des Körpers, der zur Musik bereit ist«, und die jene Semantik von Musik eröffnen hilft, die ihr als Diskursmodus adäquat ist. Denn Töne seien keine Zeichen – hier folgt Barthes seinem Kollegen Benveniste –, so dass ein semiotischer Zugang scheitern müsse: »kein Ton hat an sich eine Bedeutung«.13 (Folgerichtig führen Barthes’ Beobachtungen auch nicht zu einer Lektüre der Kreisleriana auf der Folie von Schumanns Biographie und auch nicht zu einer Interpretation auf dem Hintergrund von Hoffmanns Erzählungen.) Was bleibt, ist eine Aporie: der Entwurf einer zweiten Semiologie, mit der die »Figuren des Körpers« zu beschreiben, zu deuten wären. Und ein uneingelöstes Desiderat der Lektüre eines Werkes von Schumann, dessen Person und Œuvre gewiss nicht zufällig von Barthes gewählt wurden – bilden sie doch zugleich eine Projektionsfläche für Momente der eigenen Biographie, des Wunsches nach einer Integration des Körpers ins Werk wie nicht zuletzt in Bezug auf das Motiv einer Mutterbindung, die zu suggerieren die Mitteilungen aus Schumanns Leben wenig Anhaltspunkte bieten. Mithin ist selbstverständlich auch Barthes’ Schumann-Rezeption zu kontextualisieren, einzureihen in sein Werk und seine Biographie wie auch in eine Suite von Schumann-Deutungen und Modi der Rezeption deutscher Romantik in Frankreich, die seinen Zugang in einem Maße präformieren, das den forciert Ich-bezogenen Ansatz nivellieren dürfte. Denn das Prinzip der Intertextualität, das den Autor aufhebt (Foucault), bedeutete auch den Tod des Rezipienten, der seine Individualität allenfalls im Rekurs auf seinen Körper behaupten mag, seinen Erfahrungs- und Denkhorizont indes lediglich als subjektiv gestaltet postulieren kann. 10 | Barthes, Rasch, S. 59. 11  |  Tatsächlich im emphatischen Singular: Barthes, Rasch, S. 60. 12 | Barthes, Rasch, S. 61. 13 | Barthes, Rasch, S. 67.

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Was Barthes mithin leistet, ist die Akzentuierung einer körperhaften Dimension von Musik als Manifestation eines Erlebens des Komponisten, das bei der Interpretation erfahrbar zu werden vermag (und auch den literarischen Kommentar bestimmen darf). Dieser Sachverhalt aber, dass sich der Körper des Komponisten in sein Werk eingeschrieben hat, ist dem Notentext notwendigerweise inhärent, selbst wenn konventionelle »wissenschaftliche« Analyse nur auf einen Teil des Zeichensystems rekurriert. Denn die Möglichkeit, im Notentext körperhafte Erfahrung umzusetzen, schreibt der Schrift ein Potential zu, das ihr bleibt, selbst wenn (oder gerade weil) das Schreiben ein letztlich nicht vollständig rationalisierter Vorgang ist. Die Körperlichkeit schreibt sich ein: das heißt aber doch auch, sie müsste aus der Lektüre – und nicht bloß aus der musica practica – zu ersehen sein; zumindest für den, der das Werk bereits kennt und sich seine klangliche Realisierung imaginieren kann. D.h. aus der Lektüre müssten auch diese Dimensionen erhellen, wenn das Repertoire der Analyseparameter entsprechend erweitert wird. Denn auch dem Text von Barthes ist kein Tonträger beigegeben, selbst wenn die häufige Interpolation von Notenbeispielen die Möglichkeit eröffnet – vielleicht gar insinuiert –, die Lektüre von Barthes’ Kommentar durch das Spiel der zitierten Passagen zu unterbrechen. Wobei offen bleibt, welcher Text den anderen kommentiert: Die Relation von Primärtext und Kommentar ist reversibel. So wie Barthes sich auf das Medium der Schrift beschränkt und aus der Lektüre des Textes seine Intention hinlänglich deutlich werden muss, rekurriert er freilich auf eine Hörerschaft, die mit der Kreisleriana vertraut ist, sei es durch Konzertbesuche, das Hören von Tonträgern oder auch eigenes Musizieren. Vertrauend darauf, dass die eigene Haltung in seinem Text eingeschrieben ist, unterstellt Barthes Selbiges bei Schumann: suggerierend freilich, ihm teile sich solchermaßen eine andere Dimension von dessen Musik mit – auch dies wieder zunächst nicht weniger als eine bloße Behauptung, zu begründen allenfalls aus der eigenen Intuition und in einem schwer zu bestimmenden, doch keineswegs marginalen Maße von Rezeptionskonstanten abhängig, die seinen eigenen Zugang – und wäre es ex negativo – regulieren. Postuliert wird, die Schriftzeichen hintergehen zu können, deren Abwesenheit und Trennung vom Subjekt des Schreibers, die sie nach Derrida bezeichnen, aufheben zu können und die Einsamkeit, aus der es lebt, die es nennt und die es ist, zu transzendieren:14 als Rücknahme des Schreibens mit dem Ziel, die vor-schriftliche Situation, die das Niederschreiben veranlasste, zu rekonstruieren und die

14 | Derrida, Schrift und die Differenz, S. 112.

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Abstraktion, Lösung des Geschriebenen vom Schreiber, aufzulösen.15 Dazu dient methodologisch die Metapher des Körpers, dessen Emanation der Text nicht nur transportiert, sondern ist. Da auch Barthes keine andere Äußerung Schumanns heranzieht, bleibt ihm zur Erschließung dieser Dimension nur, auf eine irrationale Instanz der Lektüre auszuweichen: das Begehren, das zum Impetus und zur Regulative seiner zweiten, freilich nur vage umrissenen, präziser jedoch nicht mehr ausgeführten Semiologie werden soll. Was dieser Ansatz leistet, ist keineswegs wenig. Nicht nur, dass der eigene Standpunkt weit mehr als in vorgängigen Stadien der Rezeptionsgeschichte und der Interpretation Schumannscher Werke reflektiert und verortet wird; eindrucksvoll erscheint mehr noch der Mut zu einem unkonventionellen Zugang: den Klängen der Musik Schumanns nachzuspüren, der Versuch, in ihnen den Verfasser selbst zu spüren. Im Nachvollzug des Hörens (und Spielens) soll dessen Körperlichkeit erlebt, die »Schläge« empfunden, das Subjekt des Komponisten heraus-gehört, mithin seine Authentizität erfahrbar gemacht werden. Gerade hier liegt ein entscheidender Vorzug des poststrukturalistischen Ansatzes, indem die Lektüre nicht nur einen Zugang zum ästhetischen Subjekt des Komponisten eröffnet, sondern auch zum empirischen, biographischen, da sich dessen Körper in das Werk eingeschrieben hat. Zunächst freilich nur – wie gezeigt – intuitiv, respektive durch die musizierpraktische Erfahrung motiviert. Dieses Moment wäre nutzbar zu machen als Textpragmatik im Sinne einer historischen Semantik; denn der Text selbst vermag als Instanz hinlängliche Information auch über das biographische Subjekt zu eröffnen. Dies bedeutete den Versuch, Barthes’ Beobachtungen und Erfahrungen zu kontextualisieren, zu objektivieren, mithin nichts anderes als hermeneutisch zu integrieren. Es wäre abzuwarten, ob sich auf diese Weise ein anderer Zugang zu einer künstlerischen Physiognomie eröffnet, der Leben und Werk produktiv aufeinander beziehen lässt – und dies nicht intuitiv, sondern methodologisch sorgfältig abgesichert. Vielleicht hat Barthes diese hier skizzierten Weiterungen nicht bedacht, vielleicht lagen sie gänzlich außerhalb seiner Intention. Möglich, dass er bei einer – freilich harschen – Kritik an »wissenschaftlicher« Analyse, die auf die körperhafte Erfahrung der Musik, genauer: des Musik-Machens verzichtet, stehen bleiben, ja: verharren wollte. Das Problem, das trotz aller Faszination dem Ansatz von Roland Barthes’ Annäherung an Klaviermusik von Robert Schumann inhärent bleibt, ist die 15  |  Vgl. Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M. 1988, S. 297: »Das Schreiben tritt genau dort auf, wo das Sprechen verstummt, das heißt von dem Augenblick an, wo man nicht mehr ermitteln kann, wer spricht, und nur mehr feststellt, daß es zu sprechen beginnt.«

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defizitäre Reflektion von Topoi der Rezeptionsgeschichte. Konstanten eines Schumann-Bildes, deren Provenienz weder auf ihre Entstehung, noch auch hinsichtlich ihrer Voraussetzungen bedacht werden, leiten mehr als nur im Hintergrund die Rezeption, verbunden mit musikalischen Erfahrungswerten (»Schläge«), die spontan und ohne historische Absicherung auf biographische Momente, gar charakterliche Konstituentien des Komponisten bezogen werden. So attraktiv der pragmatische Zugang und das scheinbar naive Hörerlebnis auch sein mögen, um die individuelle Qualität eines Musikstückes zu erschließen, so vage bleiben die methodologischen Prämissen: neben der Suggestion eines invarianten Zeitindexes musikalischen Hörens auch die Unterschätzung der Virulenz von Rezeptionsmodellen, die auch ihrerseits einer historischen Evaluierung unterzogen werden müssten. Das Dilemma, in das Roland Barthes hier gerät, ist jedoch mit den Mitteln der Semiotik nicht zu lösen, wenn die Kategorie des Textes prävalent bleibt. Denn so trivial die Feststellung auch sein mag, dass sich die Rezeption von Musik nicht in der Lektüre des Notentextes erschöpfen kann, so unklar ist – auch bei Roland Barthes – das Repertoire, das die genuin musikalische Erfahrung mit strukturalistischer Analytik verbindet. Hinzu kommt, dass der Zugang qua Hörerfahrung eine Reflektion auch über Aufführungskonventionen implizieren müsste, der Bereich der Realisierung von Musik seinerseits zu problematisieren und dabei besonders die Person des Ausführenden zu fokussieren ist, der den vorgegebenen Text interpretiert: im mehr oder weniger reflektierten Wissen um Aufführungsmodi und selbstverständlich auch vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung, der Auseinandersetzung mit dem schon geschichtlichen Œuvre eines Komponisten. Dass diese subjektiven Interpretamente die genuine Gestaltungsidee eines Komponisten von seinem Werk überblenden oder gar bis zur Unkenntlichkeit entstellen können, bedarf wohl kaum eines Kommentars. Die Aporie ist zweifach und unvermeidlich: Einerseits können aus einem überlieferten Text nur mehr bedingt Aufschlüsse über die Disposition des Komponisten gewonnen werden, da das Medium der Schriftlichkeit die Erfahrung von Körperlichkeit kategorial versagt und auf die klangliche Realisierung verweist, andererseits aber ist gerade diese Präsentation eines im Notentext gebotenen körperhaften Potentials insbesondere bei größerem zeitlichen Abstand zwangsläufig Verwerfungen unterworfen, deren Schichtungen sorgfältig zu differenzieren eine Aufgabe historischer Interpretationsforschung wäre, die nicht nur Konventionen des Musizierens, sondern auch Fragen der Wahrnehmung zu thematisieren hätte; zu berücksichtigen also sind Parameter und Paradigmata der Entstehung, selbstverständlich vor dem Hintergrund der biographischen Konstellation des Verfassers: eine Fülle von Problemen, die hier nur skizziert sein soll, um der allgegenwärtigen Gefahr, in den schon erwähnten Zirkelschluss zu verfallen, zu entgehen.

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Zurück zu Chopin. Um nun belastbare Aussagen zu einer »Fragilität« zu machen, die in seinen Werken als Reflex des biographischen Subjekts verstanden werden können, genügt es mithin nicht, das von Roland Barthes entwickelte Modell zu adaptieren und mutatis mutandis auf einige seiner Kompositionen zu übertragen – Berceuse und Finale der b-Moll-Sonate wurden bereits als Exempel benannt –, da die Defizite, die am Beispiel von Schumanns Kreisleriana gezeigt wurden, auch hier aufträten. Doch wird ein anderer Zugang durch die Tatsache eröffnet, dass Chopin selbst als Interpret seiner Werke fungierte und zugleich Nachrichten unterschiedlichster Provenienz und Qualität über sein Spiel vorliegen. Diese Rezeptionsdokumente allerdings nur mehr systematisch zu erschließen, wie es Mieczyslaw Tomaszewski demonstriert hat, ist allerdings lediglich ein erster Ansatz; so führt er an, die Zeitgenossen hätten Chopins Spiel benannt als • äußerst originell, ohne Vorbild, individuell und persönlich; • voll von »Luft und Licht«, subtil und delikat, leicht und rein; • außerordentlich klangschön und ausdrucksvoll in reichsten Nuancierungen; • dynamisch vielfältig abgestuft, vor allem im Piano-Bereich, wo es oft auf verschiedenen Stufen pulsierte (wodurch es manchen zu leise schien), in Kulminationsmomenten aber betonte es die Macht des Klanges (»Energie ohne Brutalität«); • rhythmisch ungebunden, nutzte es ein unwiederholbares rubato, wobei aber der metrische Puls und das Tempo streng beachtet wurden; • deutlich artikuliert, in Phrasierungen, die einen Vergleich mit der gesprochenen Sprache nahelegten, zugleich aber realisierte es mit Hilfe eines legato cantabile, eines gesanglich »breiten« Tons, ein bel canto auf dem Klavier; • intim und poetisch, aber ohne jede Affektiertheit und Exaltiertheit, ohne Sentimentalität, Emphase und Pathos; • von Natürlichkeit, Einfachheit und Ebenmaß gekennzeichnet, bei lebhafter Spontaneität (das »Klavier wurde zum Leben erweckt«) und ständiger Variabilität (»nichts zweimal in derselben Weise«).16 Ungeachtet aller letztlich wenig aussagefähiger Kriterien wie »individuell« oder »klangschöne Tongebung« zeichnen sich doch einige Trends ab, die für Chopins Spiel besonders charakteristisch gewesen sein dürften: etwa die Subtilität des Anschlags, ein reich differenziertes Piano, eine große rhythmische Freiheit (rubato), schließlich die Idee, das Belcanto-Ideal der Oper aufs Klavier 16 | Mieczyslaw Tomaszewski, Frédéric Chopin und seine Zeit, Laaber 1999, S. 53.

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zu übertragen sowie die Vermeidung von Emphase, Affektiertheit und Pathos: allesamt Kategorien, die freilich auch ex negativo formuliert wurden, in Abgrenzung zum zeitüblichen Virtuosentum, dessen Erfolg sich an der Zahl von Instrumenten orientierte, die im Laufe eines Konzertes demoliert wurden. Um mehr als in den meist kurzen Rezensionen über Chopins wenige Konzerte und die knappen Hinweise aus Briefen und Tagebuchnotizen seiner Freunde zu erfahren, empfiehlt sich eine Lektüre von Franz Liszts ChopinBuch, in dem größere Abschnitte dem Klavierspiel des Freundes gewidmet sind. Auch hier ist der Ausgangspunkt die fragile Konstitution des Komponistenfreundes: »Seine ganze persönliche Erscheinung schien in ihrer Harmonie keines Kommentars zu bedürfen. Sein blaues Auge war mehr geistvoll als träumerisch; sein Lächeln fein und mild, nie bitter. Sein Teint war zart und durchsichtig, sein blondes Haar seidenartig, seine gebogene Nase ausdrucksvoll, seine Gestalt von mittlerer Größe, sein Gliederbau schwach. Seine Bewegungen zeigten sich anmuthig und wechselreich; die Stimme klang ein wenig gedämpft, oft fast erstickt. Haltung und Manieren trugen ein so vornehmes Gepräge, dass man ihn unwillkürlich wie einen Fürsten behandelte. Seine ganze Erscheinung erinnerte an die Winde, deren auf zartem Stiel sich wiegender Kelch von wunderbarer Farbenpracht, aber von so duftigem Gewebe ist, dass er bei der leisesten Berührung zerreißt.«17

Der Wechsel von präziser Beschreibung der Physiognomie zur poetischen Metapher am Schluss ist gegebenenfalls auch als Wechsel der Verfasser dieser Zeilen zu verstehen; denn der Einfluss, den Caroline Sayn-Wittgenstein, Liszts seinerzeitige Lebensabschnittsgefährtin, auf seine Schriften hatte, ist zwar umstritten, legt aber möglicherweise gerade in solchen Passagen eine Kooperation nahe, wiewohl man auch Liszt die Emphase solcher blumigen Wendungen (im wörtlichsten Sinne) zutrauen darf und nicht für alle überschwänglichen Formulierungen die Fürstin reklamieren muss. Auffällig aber ist, dass dem detaillierten Bericht über Chopins Auftreten immer wieder Partien angefügt werden, deren nur mehr geborgter Euphemismus allerdings geeignet ist, die Glaubwürdigkeit der deskriptiven Passagen des Buches zu erhöhen, indem das Zitat der Eloge zugleich eine Distanz von dessen Pathos impliziert: »An Körper und Geist war er zart organisiert. Für die mangelnde Muskelkraft aber entschädigte ihn die sich gleich bleibende Schönheit einer außergewöhnlichen Physiognomie, die sich weder zu einem bestimmten Alter noch Geschlecht bekannte. Nicht das männlich kühne Äußere eines Abkömmlings der alten Magnaten, die nur zu trinken, 17 | Franz Liszt, Fréderic Chopin, Leipzig 1896 [zuerst 1852], S. 123 (= Gesammelte Schriften, Bd. 1).

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Michael Heinemann zu jagen und Krieg zu führen verstanden, noch die weibliche Lieblichkeit eines rosigen Cherubs war ihm eigen. Etwas den idealen Geschöpfen, welche die mittelalterliche Poesie zur Ausschmückung der christlichen Gotteshäuser schuf, Verwandtes haftete ihm an. Ein Engel schön von Angesicht, wie ein erhabenes schmerzerfülltes Weib, edel und schlank an Gestalt wie ein junger olympischer Gott – so sehen wir ihn vor uns, und diese Erscheinung krönte ein Ausdruck, der zärtlich und streng, keusch und leidenschaftlich zugleich war.«18

Indem Liszt mit der Aufnahme solcher Würdigungen Dritter in sein ChopinBuch die Grenze zum literarischen Klischee tangiert, die mit ausführlichen Zitaten aus George Sands Lucrezia Floriani, einer romanhaft-romantischen Aufarbeitung ihres Verhältnisses zu Chopin, ausgewiesenermaßen überschritten wird, gewinnt seine eigene Charakterisierung an Authentizität, da er ähnliche Floskeln und Topoi kaum je bedient. »Meist war er heiter«, so Liszt weiter, nun auf den Charakter Chopins eingehend. »Mit raschem Blick entdeckte sein scharfer Geist das Lächerliche, auch wo es nicht allen Augen sichtbar auf der Oberfläche lag. Im Gebärdenspiel entfaltete er eine nicht leicht zu erschöpfende spaßhafte Laune. Er vergnügte sich oft damit, in scherzhaften Improvisationen die musikalischen Formeln und eigenthümlichen Gewohnheiten gewisser Virtuosen wiederzugeben, ihre Bewegungen und Gebärden, wie ihren Gesichtsausdruck mit einer Geschicklichkeit nachzuahmen, die augenblicklich die ganze Persönlichkeit vergegenwärtigte. Seine Züge wurden dann völlig unkenntlich, so fremdartig wusste er sie umzugestalten. Aber selbst wenn er das Hässliche und Groteske darstellte, verlor er nicht seine natürliche Anmuth; selbst der Grimasse gelang es nicht, ihn unschön erscheinen zu lassen. Seine Heiterkeit war um so pikanter, als er sie stets innerhalb der maß- und taktvollsten Grenzen hielt. Ein unpassendes Wort, eine unangebrachte Lebhaftigkeit erachtete er selbst im vertraulichen Kreis für anstößig.«19

Abgesehen von immer wieder konstatierten Charakterzügen von Reinheit und mangelnder Fähigkeit zur Verstellung, zeigt das Profil, das Liszt hier umreißt, einige Eigenschaften, die auch Chopins Sozialverhalten illustrieren: Am beliebten Spiel, die Marotten berühmter Zeitgenossen am Klavier zu imitieren, beteiligt sich Chopin, doch gelingt es ihm trotz aller Souveranität nicht, sein individuelles Gepräge zu kaschieren. Zur Kopie ist er ebenso wenig in der Lage wie zur Verstellung. Chopin bleibt Individualist, was, negativ gewandt, auch meint: nicht integriert. Die Homogenität seiner Persönlichkeit, die in solch – hier sicher nicht pejorativ zu bewertender – mangelnder Flexibilität ihren Ausdruck findet, prägt 18 | Liszt, Chopin, S. 155f. 19 | Liszt, Chopin, S. 123f.

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dann auch seinen Habitus als Klavierspieler, wobei stets der Interpret der eigenen Werke gemeint ist. (Dass Chopin sich in seinen wenigen öffentlichen Konzerten Kompositionen seiner Kollegen oder berühmter Vorgänger gewidmet hätte – neben Schumann insbesondere Beethoven oder Bach –, ist nicht überliefert und hinsichtlich des typischen Verhaltens der französischen Virtuosen seiner Zeit auch eher unwahrscheinlich.) Seinen Ausgangspunkt hätten, so wiederum Liszt in seinem Chopin-Buch, die Klavierwerke bei der Literatur genommen: »In der Mehrzahl seiner Walzer, Balladen, Scherzos ruht die Erinnerung an irgend welches flüchtige Gedicht festgebannt, zu der ihn eine dieser flüchtigen Erscheinungen begeisterte. Er idealisiert sie bisweilen derart, leiht ihnen eine so zarte, gebrechliche Gestalt, dass sie nicht mehr unsrer Natur anzugehören, sondern sich vielmehr der Feenwelt anzunähern scheinen und uns die Geheimnisse der Undinen, der Titanias, der Ariels, der Königinnen Mab, der mächtigen und launischen Oberone, aller Genien der Luft, des Wassers und des Feuers enthüllen, die kaum minder als die Sterblichen bitteren Täuschungen und unerträglicher Pein unterworfen sind.«

Neben einer ubiquitären Fragilität dieser Musik, die mit der Märchenwelt der Nymphen und Elfen sowie den Feengestalten des Sommernachtstraumes assoziiert wird, vermerkt Liszt dann einen ebenso unverwechselbaren wie kaum je veränderlichen Zugang Chopins, der seine Musik kennzeichne: »Fühlte sich Chopin von derartigen Eingebungen erfasst, so nahm sein Spiel einen eigenthümlichen Charakter an, welchem Genre im übrigen auch das von ihm ausgeführte Musikstück angehören mochte, ob es der Tanzmusik oder der träumerischen, den Mazurken oder Nocturnes, Präludien oder Scherzos, Walzern oder Tarantellen, Etüden oder Balladen. Allem gab er eine eigenartige Farbe, ein nicht zu beschreibendes Gepräge, einen mehr vibrirenden Pulsschlag, der das Materielle nahezu abgestreift hatte und mehr auf das Innere als auf die Sinne des Hörers zu wirken schien. Bald glaubt man das Getrippel einer neckisch verliebten Peri zu vernehmen, bald hört man sammtartige, in ihrem Farbenschillern an das Kleid des Salamanders erinnernde Modulationen; bald wiederum Töne tiefer Entmuthigung, wie wenn die armen Seelen umsonst auf barmherzige Gebete hoffen, deren sie zu ihrer endlichen Erlösung bedürfen. Zu andern Malen hauchten seine Finger eine so düstere Trostlosigkeit aus, dass man meinte, Byron’s Jacopo Foscari wieder aufleben und die Verzweiflung dessen vor sich zu sehen, der, aus Liebe zum Vaterland sterbend, den Tod der Verbannung vorzog«. 20

So unterschiedlich diese Tonfälle auch sind, die Chopins Musik annehmen könne, so identisch sein Zugriff: Liszt beschreibt weit eingehender als alle sei20 | Liszt, Chopin, S. 80f.

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ne Zeitgenossen die Eigenheiten von Chopins Spiel mit einer Eindringlichkeit, die jenseits aller Klischees doch einige bemerkenswerte Konstanten aufweist: »In seinem Spiel gab der große Künstler in entzückender Weise jenes bewegte, schüchterne oder athemlose Erleben wieder, welches das Herz überkommt, wenn man sich in der Nähe übernatürlicher Wesen glaubt, die man nicht zu errathen, nicht zu erfassen, nicht festzuhalten weiß. Wie ein auf mächtiger Welle getragenes Boot ließ er die Melodie auf- und abwogen oder er gab ihr eine unbestimmte Bewegung, als ob eine lustige Erscheinung unversehens einträte in diese greifbare und fühlbare Welt. Er zuerst führte in seinen Kompositionen jene Weise ein, die seiner Virtuosität ein so besonderes Gepräge gab und die er Tempo rubato benannte: ein geraubtes, regellos unterbrochenes Zeitmaß, geschmeidig, abgerissen und schmachtend zugleich, flackernd wie die Flamme unter dem sie bewegenden Hauch, schwankend, wie die Ähre des Feldes unter dem weichen Druck der Luft, wie der Wipfel des Baumes, den die willkürliche Bewegung des Windes bald dahin, bald dorthin neigt. – Da indeß die Bezeichnung dem, der sie kannte, Nichts lehrte und dem, der sie nicht kannte, ihren Sinn nicht verstand und herausfühlte, Nichts sagte, unterließ Chopin später, sie seiner Musik beizufügen, überzeugt, dass wer überhaupt Verständnis dafür habe, nicht umhin könne, das Gesetz dieser Regellosigkeit zu errathen. Alle seine Kompositionen aber müssen in dieser schwebenden, eigenthümlich betonten und prosodischen Weise, mit jener morbidezza wiedergegeben werden, deren Geheimnis man schwer beikommt, wenn man ihn nicht oftmals selber zu hören Gelegenheit hatte. Er schien bedacht, diese Vortragsart auf seine zahlreichen Schüler und namentlich auf seine Landsleute zu übertragen, denen er vor Andern den Hauch seiner Begeisterung mitzutheilen wünschte.« 21

Was Chopins Spiel diesen Äußerungen zufolge auszeichnet, ist eine Haltung, die unabhängig von Gestus und Gehalt eines Stückes ist: spieltechnisch am sichersten zu benennen mit dem Begriff »tempo rubato«, dem Vermeiden eines starren Zeitmaßes und einer Prosodie, die rhythmische Akzente favorisiert: Eigenschaften, die auch unter dem Oberbegriff »Fragilität« kategorisiert werden können, einem Terminus mithin, der nicht eine kompositorische, satztechnische Qualität meint, sondern eine der Interpretation: Bezeichnenderweise rekurrieren weder Liszt in seiner Beschreibung noch auch Mieczyslaw Tomaszewski in den systematisierenden Zusammenstellungen von Urteilen über Chopins Spiel auf bestimmte Gattungen oder differenzieren dessen pianistische Eigenschaften nach den sowohl vom Impetus wie von der Intention durchaus heterogenen Werkgruppen von Polonaisen und Nocturnes, Walzern und Balladen. Wenn indes Fragilität solchermaßen eine Kategorie des interpretatorischen Zugriffs ist, der den Habitus von Chopins Klavierspiel generell prägt und für ihn konstitutiv genannt werden kann, so wird es schwer, wenn 21 | Liszt, Chopin, S. 82.

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nicht sogar unmöglich, dass er sie suspendiert; dem widerspricht nicht, dass dieses auffällige Moment seiner Pianistik bei einzelnen Werkgruppen besonders emergent wird, die dann in besondere Weise mit seinem kompositorischen Œuvre verbunden werden (etwa Mazurken oder Nocturnes), respektive im Notentext anderer Gattungen – zumal der Polonaise – nicht mehr oder nur ungleich schwerer erkennbar sind. Das aber bedeutet nun nicht, dass Chopin es gelänge, seinen Körper beim Prozess des Komponierens zurückzunehmen, als Relativierung einer Unmittelbarkeit, die in der Praxis des Pianisten schlicht nicht zu eskamotieren ist; sondern vielmehr, dass der Notentext die Kategorie des »Sich-Einschreibens« nur in einem sehr vermittelten Maße erkennen lässt, da die Schrift – kaum weniger die Textualität von Musik und deren implizite Gestaltungsvorgaben – jene Authentizität, die der Komponist als Interpret seiner Werke auszudrücken vermag, objektiviert. Diese Ebene kann durch die Sichtung von Zeugnissen seiner Zeitgenossen rekonstruiert werden, wobei die Fallen der Rezeptionsklischees ebenso zu berücksichtigen sind wie möglicherweise verselbständigte Traditionen der Aufführungsgeschichte. Die »Semiologie des Körpers«, die Roland Barthes annoncierte, ohne doch schon mehr als Ansätze vorlegen zu können, dürfte also analytisch, durch bloßen Rekurs auf den Notentext, kaum gelingen; sie bedarf der Flankierung durch eine traditionell konfigurierte Hermeneutik, als Versammlung aller erreichbaren Dokumente aus dem zeitgenössischen Umfeld eines Komponisten und deren behutsamer Interpretation. Dabei wäre die Methode des »Sich-Einfühlens«, des Collingwoodschen »re-enactment«, wörtlich zu nehmen: als Versuch, sich der Körperlichkeit eines Komponisten bewusst zu werden, um zu verstehen, welche Handlungsoptionen er hatte und welches Dispositiv an Aktionen sich ihm bot. Was im Falle des Pianisten Chopin bedeutet, die Freiheiten, die er sich nicht nur nach den Ausführungen von Liszt nahm, zu spiegeln an den Regularien, zu denen die zeitgenössische Klaviermethodik verpflichtete. Das aber meint nicht, die Subjektivität seines Zugriffs lediglich als Devianz von starren Reproduktionsmustern verbreiteter Lehrbücher zu verstehen, da auf diese Weise lediglich (doch immerhin) ein Moment von Souveranität erkennbar wird, das als Attitüde oder Manier im Konzert der Virtuosen durchaus wohlfeil und nicht zuletzt auch mit Blick auf den merkantilen Erfolg zu nutzen gewesen wäre. Von hier aus verstellte sich freilich die Perspektive auf eine Authentizität des Spiels, das Chopin indes allseits attestiert wurde. Und so sehr konzediert sein mag, dass Chopin in einem Interpretationsansatz, der mit dem Begriff »Fragilität« ein individuelles Moment erkannte und es als Alleinstellungsmerkmal kultivierte, so wenig ist zu suggerieren, dass hier lediglich ein Kalkül waltete, das auch anders hätte ausfallen können. Die Nachrichten über seine Person wie sein Klavierspiel sind allein statistisch zu homogen, als dass eine derartige Berechnung ihm zu unterstellen wäre. Nichts deutet darauf hin, dass Chopin – anders als Liszt – über ein größeres Repertoire von Spielar-

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ten (im wörtlichen Sinne) verfügte, aus dem er nach Gutdünken, Willkür oder auch Vorsatz hätte wählen können. Vielmehr resultiert sein Zugang zum Klavier als Medium der Selbstverständigung wie der Kommunikation aus einer Praxis, die auch für den Virtuosenhabitus seiner Zeitgenossen signifikant und konstitutiv ist. Liszts Rede, dass für ihn das Klavier denselben Stellenwert einnehme wie für den Araber das Pferd, zielte nicht auf den Gegenstand selbst als Basis materieller Einkünfte. Vielmehr dürfte er eine Vertrautheit mit einem Instrument annonciert haben wollen, das es ihm in einer leicht nachvollziehbaren Unmittelbarkeit gestattete, seiner affektiven Situation nicht nur einen formalisierten Ausdruck zu verleihen. Dabei ist die Dimension körpernaher Verbindung, die Pferd und Reiter idealiter zur Einheit werden lässt, in seinem Diktum eine kaum zufällige Parallele der Beziehung von Musiker und Instrument, über das nicht mehr verfügt wird, sondern das gleichsam ein Teil des musizierenden Ichs wird. Die Niederschrift eines Werks ist dann lediglich der Nachvollzug eines Vorgangs (weniger schon einer reflektierten Handlung), sie ist das Derivat einer oft spontanen Aktion, keineswegs aber Beitrag zu einer Problemgeschichte des Komponierens, in die es sich erst bei einem späteren Stadium der Überarbeitung, die zugleich zu einem der Objektivierung wird, fügt. Wenn es denn gestattet ist, Liszts schöne Formulierung auf Chopins Pianistik zu adaptieren, hieße, seine Musik verstehen zu wollen, sie auf der Folie seiner Körperlichkeit nachzuvollziehen. Was methodisch meint, den Ansatz der französischen Dekonstruktivisten des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die in Bezug auf die Sprache eine Differenz zwischen Phono- und Logozentrismus einführten, um eine Dimension zu erweitern, die zum Verständnis von Instrumentalmusik als Somazentrismus zu bezeichnen wäre, heißt in Bezug auf Chopin, für einen Augenblick Abstand vom Notentext zu nehmen, um des Moments körperhafter Unmittelbarkeit gewahr zu werden, das in seiner Musik den heutigen Hörern eher als den Zeitgenossen verborgen ist: eine Differenz von Erscheinung und Wesen, die Schumann – um ihn dann doch noch einmal zu bemühen – mit seinem berühmten Wort von den Kanonen, die in Chopins Musik unter Blumen eingesenkt seien, illustriert; geäußert kaum zufällig nach einem Konzerterlebnis und nicht bloß nach der Lektüre seiner Werke, unter dem unmittelbaren Eindruck von Chopins Fragilität.

Reduktion, Repetition und Verstärkung — Klavierübungen und musikalisches Denken im 19. Jahrhundert Akeo Okada

1. M usik alische I nterpre tation als V ortr ag und ihre K rise im 19. J ahrhundert Das Zeitalter der musikalischen Romantik ist eine Epoche, die von technischen Übungen besessen war. Zum ersten Mal in der Musikgeschichte finden sich hier Musikstücke, die ausschließlich das Fingertraining zum Zweck haben. Das Studio per il pianoforte von Johann Baptist Cramer, das auch Beethoven seine Schüler üben ließ, wurde 1804/10 publiziert, der Gradus ad Parnassum von Muzio Clementi erschien in den Jahren 1817/1819/1826 und die meisten Lehrwerke von Carl Czerny stammen aus den 1820er- und 30er-Jahren. Während die Idee, die Finger möglichst beweglich, kräftig und robust zu machen, dem 19. Jahrhundert eigen ist, steht in den Instrumentalschulen des 18. Jahrhunderts (z.B. dem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen von Carl Philipp Emanuel Bach [1753], dem Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen von Johann Joachim Quantz [1752] und der Gründlichen Violinschule von Leopold Mozart [1756]) vor allem die Vortragslehre im Vordergrund. In seiner Clavierschule aus dem Jahre 1789 erhebt Daniel Gottlob Türk im Zusammenhang mit dem Postulat der »Deutlichkeit in der Ausführung« u.a. die Forderung »von der richtigen Verbindung und Absonderung musikalischer Perioden«. Deutlichkeit bezieht sich also nicht auf Technik im modernen Sinne (wie z.B. brillante Klarheit im Anschlag), sondern vor allem auf die musikalische Interpunktion. Dies erklärt Türk durch den folgenden Vergleich: »So wie die Worte: Er verlor das Leben nicht nur sein Vermögen etc. einen ganz entgegen gesetzten Sinn erhalten, je nachdem man so interpunktiert: Er verlor das Leben, nicht nur etc. oder so: Er verlor das Leben nicht, nur etc.: eben so undeutlich, oder vielmehr falsch, wird der Vortrag eines musikalischen Gedankens durch eine unrichtige Inter-

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Akeo Okada punktion. Wenn also der Klavierspieler […] einen Gedanken da trennt, wo er nicht getrennt werden soll: so begeht er eben den Fehler, welchen ein Redner beginge, wenn er mitten im Worte einhielte und Athem holte.«1

Die Vortragslehre von Türk ist eine Art Agogiktheorie, wie sie später von Hugo Riemann systematisiert werden sollte. Die Tradition des musikalischen Vortrags wird im 19. Jahrhundert zwar immer schwächer, ist aber bis in die 1830er-Jahre noch stets gegenwärtig. So bemerkt Friedrich Kalkbrenner in seiner Klavierschule aus dem Jahr 1831: »Im Anfange dieses Beispiels, […] wo der Satz in einer gewissen Spannung ist, könnte man sagen, daß er ein Fragezeichen erheischt; bei No.3 kommt die Endung und dieser Schluss verlangt einen Punkt. Man könnte also folgende Interpunktion annehmen: für die Satzschlüsse der vollkommenen Cadenzen einen Punct; für unvollkommene, von der Tonika zur Dominante gehende Cadenzen einen Strichpunkt; für die abgebrochenen Cadenzen oder Übergänge ein Ausrufungszeichen; für solche Abschnitte, wo Viertelspausen stehen, ein Komma.«2

Es ist Carl Czerny, der diese Interpunktionskunst noch ausführlicher erläutert. Im letzten Band seiner Vollständigen theoretisch-practischen Pianoforteschule (Von dem Vortrage) aus dem Jahr 1839 hält er zunächst allgemeine Grundregeln für nicht notierte Ritardandi fest und erklärt dann, an welcher Stelle man das Tempo beschleunigen oder zurücknehmen soll.3 Sowohl bei ihm als auch bei seinem Zeitgenossen Friedrich Kalkbrenner, die beide neben Hummel zur ersten Generation der modernen Klaviervirtuosen gehören, kommt es nicht nur auf Fingerfertigkeit, sondern immer noch auch auf den Vortragscharakter der musikalischen Darstellung an. Dieser rhetorischen Erbschaft aus dem 18. Jahrhundert drohte aber zunehmend Gefahr, je weiter das 19. Jahrhundert voranschritt. Ein Artikel der Neuen Zeitschrift für Musik aus dem Jahr 1842 diagnostizierte: »Üben! das ist das große Wort, welches täglich Tausende von Pianofortespielern in vielstündige Geschäftigkeit versetzt; ja freilich: Üben! das ist sehr richtig; aber nicht blos die Finger, sondern auch das Gehör, auch die Sprache des Gemüths, die Declamation

1  |  Daniel Gottlob Türk, Klavierschule, oder Anweisung zum Klavierspielen für Lehrer und Lernende (Erstausgabe 1789), Kassel 1997, S. 340. 2 | Friedrich Kalkbrenner, Méthode pour apprendre le piano à l’aide du guide mains, Paris 1831, S. 19. 3 | Carl Czerny, Von dem Vortrage (1839), hg. von Ulrich Mahlert, Wiesbaden 1991, S. 24ff.

Reduktion, Repetition und Verstärkung – Klavierübungen und musikalisches Denken in der Musik, den Vortrag. Wird nicht ein Schauspieler, der die Verse radebricht, ausgepfiffen? Und wo ist je mehr Radebrechens gewesen, als in dem heutigen Spielen!« 4

Es leuchtet ein, dass dieser Zerfall der Vortragskunst in engem Zusammenhang mit der Popularisierung der Klaviererziehung steht, die mit dem 19. Jahrhundert begann. In der Allgemeinen Musikalischen Zeitung heißt es schon im Jahr 1799: »Niemals ist mehr geklimpert und gefiedelt worden als jetzt, aber nicht begnügte man sich auch so mit Mittelmäßigkeit und Seichtigkeit«. 5

Die zunehmende Demokratisierung der Musik forderte ihr Opfer. In diesem Zusammenhang zu beachten ist die Bemerkung von Czerny über das so genannte brillante Spiel aus der schon herangezogenen Schrift Von dem Vortrage. Wenn man eine Stelle »ruhig und sanft im gemäßigten Tempo vor einer größeren Anzahl von Zuhörern (etwa in einem großen Saale)« vorträgt, so wird sie nach Czernys Einschätzung »allenfalls einen nicht unangenehmen Eindruck machen, aber doch gewiss nicht besondere Aufmerksamkeit oder gar Bewunderung erregen.«6 Wenn man dieselbe Stelle dagegen »rasch, kräftig, pickant, mit scharfer Betonung, und der zum Staccato nöthigen Bewegung der Hand« spielt, so wird sie »nicht nur schwerer scheinen, sondern es auch wirklich sein. Sie wird mehr Aufmerksamkeit erregen.« Czerny schließt: »Ein größeres Publikum kann auf jeden Fall leichter zur Bewunderung als zur Rührung hingerissen werden.« Und weiter: »Es liegt in der Natur der Dinge, dass ein großes und folglich gemischtes Publikum durch etwas Außerordentliches überrascht werden muss«.7 Um die Zuhörer der großen Säle zu überwältigen, muss man, wie es Chopin gegenüber Liszt einmal gesagt haben soll, niederschlagende Waffen besitzen. Eines der frühesten Beispiele für einen Klavierunterricht, der diese »Demokratisierung« der Musik voraussetzt, stellt das bekannte Logier-System dar. Johann Bernhard Logier, geboren 1777 in Kassel, seit 1791 in Dublin wohnhaft und als Militärmusiker tätig,8 ist vor allem für einen Klavierübungsapparat 4 | Gustav Heuser, Das moderne Pianoforte, in: Neue Zeitschrift für Musik 17 (1842), S. 201. 5 | Über den Zustand der Musik in Böhmen, in: Allgemeine musikalische Zeitung 2/1799-1800, S. 517. 6 | Czerny, Von dem Vortrage, S. 58f. 7 | Czerny, Von dem Vortrage, S. 63. 8 | Vgl. Georg Sowa, Anfänge institutioneller Musikerziehung in Deutschland (18001843), Regensburg 1973, S. 151ff. und Claudia de Vries, Die Pianistin Clara WieckSchumann, Mainz 1996, S. 119.

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namens »Chiroplast« bekannt, den er im Jahr 1814 patentierte.9 Dieses Gerät besteht aus einer Ruheleiste, auf die das Kind die Hand stützt. Darüber montierte er eine zweite Holzleiste, in der horizontal beweglich zwei Fingerführer angebracht sind. Die Fingerführer bestehen aus einem dicken Block mit fünf runden Öffnungen für die Finger. Dieser Chiroplast war Teil eines umfassenden Klavierunterrichtssystems.10 Zu diesem gehörten über der Tür angebrachte Tafeln zum raschen Einprägen von Noten, ein dem heutigen instrumentalen Guppenunterricht durchaus vergleichbares Unterrichten von mehreren Schülern gleichzeitig, ein modernes Vermarktungssystem mit Lizenzvergabe und manches anderes. In London gründete Logier den »Logier Club«, und bis 1817 entstanden in England 28 Akademien. Das Logier-System war in den 20er-Jahren auch in Deutschland eingeführt worden und wurde das offizielle staatliche System des Musikunterrichts in Preußen. Friedrich Wieck, Vater von Clara Schumann, sowie Adolph Bargiel, der zweite Ehemann von Claras Mutter, übernahmen jeweils die Führung eines Logier Clubs. Den Gruppenunterricht im Logier Club beschreibt ein Artikel der Allgemeinen Musikalischen Zeitung aus dem Jahr 1818 folgendermaßen: »Die Einrichtung und die Bedingungen der gegenwärtigen Akademien sind kürzlich folgende: Eine Reihe bequemer Zimmer sind für den Gebrauch der Zöglinge bestimmt. Im größesten Zimmer sind acht bis zehn Instrumente zu gleichzeitigen Musikaufführungen, und in diesem erhalten auch die Zöglinge Unterricht über Harmonie, und schreiben ihre Übungsversuche in derselben nieder. In jedem Lehrzimmer steht ein Pianoforte für einzelne oder Privat-Lectionen. Die Zöglinge kommen Partienweise zu zwölf, sechzehn oder vierundzwanzig für zwey Stunden jedesmal zusammen, welche zum Studium der Harmonie und zum Spiel des Pianoforte, sowol einzeln, als gemeinschaftlich angewandt werden.«11

Es ist u.a. dieses Gruppenunterrichtssystem, das von den Zeitgenossen stark kritisiert wurde. Z.B. heißt es in dem 1818 publizierten Buch An Exposition of the musical System of Mr. Logier von einem anonymen Verfasser: »Mr.Logier’s practice of teaching a number of children to play together, is attended with many serious disadvantages. Their ears are spoiled, and their tastes corrupted, by the loud and dissonant jargon to which they are every day accustomed. […] All are involved in a hopeless confusion of jarring elements. […] Instruction in Piano Forte playing to 9 | Beilage zu Allgemeine musikalische Zeitung 29/1818 Nr. 52 vom 30. Dezember. 10 | Vgl. hierzu die Ausführungen über den Chiroplasten im Beitrag »Versuch über Technik« von Wolfgang Lessing im vorliegenden Band. 11 | Einige Nachricht über den Chiroplasten und die neue musikalische Unterweisung des Herrn Logier in England, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 1818, S. 897.

Reduktion, Repetition und Verstärkung – Klavierübungen und musikalisches Denken more than one person at a time is indeed impossible; a teacher of elocution might as well pretend to instruct ten or twelve children to read passages from Shakespeare or Milton, simultaneously.«12

Zu beachten ist, dass der Verfasser sich hier auf den Vergleich mit dem sprachlichen Vortrag beruft. Der schon zitierte Artikel der Neuen Zeitschrift für Musik aus dem Jahr 1842 spricht von »Radebrechen«, und in dieser Logier-Kritik ist nun die Rede von »read passages from Shakespeare or Milton, simultaneously«.

2. D ie E ntstehung des F ingertr ainings Mit dieser flächendeckenden Ausweitung der Klaviererziehung steht das Auftreten eines neuen Typus der Fingerübung in engem Zusammenhang. Während die Etüden von Muzio Clementi oder Carl Czerny, die den 1820er- und 30er-Jahren entstammen, noch »Musikstücke« waren, wobei neben technischen Studien auch Etüden im polyphonen oder gesanglichen Stil standen, erschienen gegen Mitte des Jahrhunderts in großer Menge Stücke, deren ausschließlicher Zweck im Drillen der Finger bestand und die sich etwa darauf beschränkten, fünftönige einfache Figuren beliebig oft wiederholen zu lassen, um damit die Fingermuskeln zu stärken. Hier handelt es sich oftmals weniger um Musik als vielmehr um Turnübungen für die Finger. Ein scheinbarer Vorläufer dieser Drill-Übungen lässt sich in der Ausgabe Ausführliche theoretisch-practische Anweisung zum Pianoforte-Spiel von Johann Nepomuk Hummel aus dem Jahr 1828 finden. Jede Seite strotzt vor Passagen dieser Art. Bei genauerer Betrachtung erweist sich jedoch, dass diese Passagen ungeachtet ihres rein »technischen« Charakters durchaus noch etwa in einem Klavierkonzert z.B. als Begleitfigur als modulierende Phrase oder als Kadenz verwendbar sind. Zu beachten ist u.a. die schematische Darstellung des Harmoniegangs, die am Anfang jeder Passage steht. Diese Übungen zielen also auf die Pflege der Fähigkeit, ein bestimmtes harmonisches Schema möglichst vielfältig zu variieren. Die Klavierschule von Hummel ist, um mit einem Artikel der Neuen Zeitschrift für Musik aus dem Jahr 1837 zu sprechen, eine »unendlich reiche Sammlung von Passagen aller Art, voll kostbarer Erfahrungen und Fingerzeige.«13 Hier handelt es sich offenbar noch nicht so sehr um eine reine Fingerfitness im späteren Sinne als um eine Art Figuren-Wörterbuch im brillanten Stil, die der Spieler u.a. zum Improvisieren zur Verfügung haben sollte. 12 | A committee of professors in London. An exposition of the musical system of Mr. Logier with strictures on his chiropolast, London 1818, S. 38-40. 13 | E. Montag, Johann Nepomuk Hummel, in: Neue Zeitschrift für Musik 6/1837, S. 158.

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Anders als Hummels Klavierschule, die noch Spuren der Improvisationstradition zeigt, stellt Czernys Vollständige theoretisch-practische Pianoforteschule aus dem Jahr 1839 ein Beispiel für ein rein technisches – und in diesem Sinne abstraktes – »Fingertraining« dar.14 Czerny bemerkt: »Alle diese Übungen müssen täglich drei- bis viermal (jedesmal ungefähr eine halbe Stunde) unverdrossen geübt werden, so dass der Schüler, während er zu den nachfolgenden Gegenständen übergeht, dieselben bereits ziemlich schnell auszuführen im Stande sei.«15

Czernys Übungen sind jedoch noch nicht in so hohem Maße systematisiert wie in den technischen Studien der späteren Zeit und zielen, so scheint es, weniger auf reine Muskelverstärkung als vielmehr auf die Förderung der Fingergeläufigkeit. In der schon zitierten Klavierschule von Kalkbrenner, in der ebenso wie in Czernys Lehrwerken noch Spuren der alten Vortragslehre zu erkennen sind, finden sich demgegenüber Fingerübungen, die einen ganz anderen Charakter aufweisen.16 Hier findet sich eines der frühesten Beispiele der so genannten Stützfingerübung, bei der alle fünf Tasten hinuntergedrückt werden, ein Finger sich zur Übung hebt, während die anderen fortfahren, die Tasten niedergedrückt zu halten. Bei dieser Übung kommt es in erster Linie darauf an, die Finger unabhängig und kräftig zu machen, und zwar durch das Mittel des Fesselns. Dieses Moment der Verstärkung durch Belastung, das den Klavierschulen von Hummel oder Czerny noch so gut wie ganz fehlt, ist eines der Charakteristika, die die Klaviererziehung ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts für lange Zeit kennzeichnen werden. Es ist insbesondere die Klavierschule von Ignaz Moscheles, die diesen neuen Typ der Klavierübung vertritt. In der von ihm und seinem Kollegen François Joseph Fétis verfassten Méthode des Méthodes de Piano aus dem Jahr 1840 – der ersten Klavierschule, die vom Auftreten des neuen Virtuosentums ausgeht, wie es Franz Liszt, Sigismund Thalberg oder Frédéric Chopin verkörpern – kann man eine ganz neue Entwicklungsphase der Klavierpädagogik erkennen. Am Anfang der vermutlich von Fétis verfassten Vorrede heißt es: »Toutes les parties de la musique ont subi tour à tour des modifications et même des transformations complètes. Plus tard, et progressivement, un changement total s’est opéré dans le systême de la construction, et par suite dans le systême du toucher. La 14 | Carl Czerny, Vollständige theoretisch-practische Pianoforteschule op. 500. 1. Theil, Wien o.J. (1839), S. 8. 15 | Czerny, Vollständige theoretisch-practische Pianoforteschule, S. 10. 16 | Kalkbrenner, Méthode, S. 29.

Reduktion, Repetition und Verstärkung – Klavierübungen und musikalisches Denken nécessité, de plus en plus sentie, d’augmenter l’intensité du son, a fait allonger le levier des marteaux, leur a donné plus de poids, une action plus puissante, a compliqué leur mécanisme des combinaisons d’un échappement, et a fait donner plus d’enfoncement aux touches. […] Des conditions de force dans les doigts se sont donc réunies aux conditions de légèrté, et les principes du mécanisme du toucher ont dû être modifiés en raison de ces nouvelles conditions.«17

Die Notwendigkeit der Kraft (d.h. force) kommt hier zum ersten Mal in der klavierpädagogischen Literatur zur Sprache. In dieser Méthode des Méthodes de Piano wird der Schwerpunkt so sehr auf rein technische Übungen gelegt, dass mehr als 30 Seiten einem ebenso mechanischen wie systematischen Fingertraining gewidmet sind. Zunächst kommen Anschlagsübungen mit nur einem Finger, während die anderen vier still niedergedrückt werden sollen; dann zwei Fingerkombinationen mit drei gefesselten Fingern; und dann drei anschlagende Finger mit zwei liegenden etc. Eine derartige Systematisierung stellt eine neue Erscheinung in der Klavierliteratur dar. In der Klavierschule von Moscheles/Fétis ist das technische Studium zwar der wichtigste, aber nicht der einzige behandelte Aspekt. Im zweiten Teil beispielsweise sind verschiedene Stücke zeitgenössischer Klavierkomponisten abgedruckt, zu denen auch Chopins drei Etüden op. posth. gehören. Louis Plady geht in seinen Technischen Studien aus dem Jahr 1857 dann noch einen Schritt weiter.18 Er verzichtet nämlich vollständig auf im engeren Sinne musikalische Aspekte und widmet das Buch ausschließlich den mechanischen Übungen. Berufen von Mendelssohn, war Plady lange am Leipziger Konservatorium tätig und dort hauptsächlich mit der technischen Ausbildung der Studenten beauftragt. Er unterrichtete dort auch Edward Grieg (dieser soll aber Pladys trockene Methode gehasst haben) und war ein Kollege von Moscheles. Letzterer war damals Starprofessor des Konservatoriums, lehrte nur 2 Tage pro Woche jeweils von 15 bis 18 Uhr und bezog dennoch ein sehr hohes Gehalt.19 Pladys Technische Studien sind Moscheles gewidmet. In der Vorrede bemerkt Plady: »Beginners must give the most of their time to finger exercises, and that too until they have attained a certain degree of firmness of touch.«

17  |  Francois Joseph Fétis/Ignaz Moscheles, Méthode des Méthodes de Piano, Paris 1840/Genève 1973, S. 1f. 18 | Louis Plady, Technische Studien (1857), Leipzig 1869. 19 | Vgl. Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig, 150 Jahre Musikhochschule 1843-1993, Leipzig 1993; Carl Reinecke, My pupils and myself, in: The Etude 1908, S. 7. 3

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Plady geht also davon aus, dass man erst dann Musik machen könne und solle, wenn man sich bereits alle technischen Fertigkeiten angeeignet hat. Die Dimension der Musik ist zu diesem Zeitpunkt vollständig von dem Aspekt des Körpers getrennt.

3. V om F ingertr aining zum F ingerübungsappar at Eine der letzten Konsequenzen der Neigung, Klaviererziehung auf das rein Mechanische zu reduzieren, stellen Fingerübungsapparate dar, zu deren frühen Beispielen der erwähnte Chiroplast von Logier gehört. Die Entwicklungsetappen dieser mechanischen Mittel lassen sich wie folgt beschreiben. 1. Der Chiroplast Logiers oder der »Guide-main« (Hand Guide) von Kalkbrenner dienen dazu, das Handgelenk still und locker zu halten.20 Diese Apparaturen dienen noch ganz dem so genannten ›Fingerspiel‹ des 18. Jahrhunderts. Die Absicht, die Finger zu stärken, fehlt hier noch ganz. 2. Die neue Entwicklungsphase vertritt das Dactylion von Henri Herz. Dieses 1836 patentierte Gerät besteht aus zehn Ringen für die Finger, die an Fäden über der Tastatur herabhängen. Das Dactylion war noch am Ende des 19. Jahrhunderts zu erwerben.21 3. Den dritten Typ stellen Apparate dar, die zum Gebrauch ohne Tasten bestimmt sind. So z.B. erfand Leonhard Mälzl im Jahr 1837 eine Trillermaschine namens Fingerschneller. Die zu übenden Finger, vor allem der Ringfinger, werden auf zwei Tasten gelegt, die mit der jeweils freien Hand mittels einer Kurbel abwechselnd angehoben wurden. Nach einem Artikel der Neuen Zeitschrift für Musik aus dem Jahr 1837 soll die Trillerbewegung »72000 mal in einer Stunde von sich gehen. […] Es müsste daher in weit kürzerer Zeit die Finger zum Triller sich eignen, als es bis jetzt geschah, wo man erst nach 5 oder 6 Jahren des Unterrichts einen guten Triller zu hören bekam.«22 Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde eine Anzahl von Fingerfitnessmaschinen aller Arten erfunden, darunter gab es auch solche, die eine Reihe von unterschiedlichen Übeeinrichtungen versammelten. Einen der Prototypen hierfür

20 | Kalkbrenner, Méthode, S. 28. 21 | The Etude 1889, S. 44. 22 | Joseph Fischhof, Über die Art der von Leonhard Mälzl neu erfundenen k.k.privil. Maschinen: des Fingerschnellers und Fingerspanners, in: Neue Zeitschrift für Musik 6/1837, S. 115f. u. 119f.

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stellt der Chirogymnaste aus dem Jahr 1841 dar.23 Das Technikon gehört auch zu den multifunktionalen Geräten und war in den 80er-/90er-Jahren in Amerika sowie in Deutschland sehr populär.24 Unter den damaligen Klavierstudenten muss es viele gegeben haben, die diese Fingerapparate zwar souverän bedienen konnten, aber nur über eine mittelmäßige Begabung für Musik verfügten. Bei den zuletzt herangezogenen Beispielen ist die Klavierübung immer mehr vom Klavier entfernt und auf eine reine Muskeldisziplinierung reduziert, und zwar so weit, dass zwischen der Tastatur der Schreibmaschine und jener des Klaviers offenbar kaum mehr ein Unterschied gesehen wird. Am Ende des Jahrhunderts gab es tatsächlich viele Frauen, die eine Klavierausbildung erhielten, aber letztendlich beruflich Maschinenschreiberin wurden. Ein Berufsleitfaden von 1895 mit dem Titel Die Frau im Handel und Gewerbe vermerkte: »Es wird überraschen, hier einen praktischen Nutzen der zur wahren Landplage gewordnen Ausbildung junger Mädchen im Klavierspiel zu finden: die hierbei gewonnene Fingerfertigkeit ist für die Handhabung der Schreibmaschine sehr wertvoll«. 25

Ein amerikanischer Medizinstudent hatte sogar eine Schreibmaschine gebaut, deren Tastatur als Klaviatur mit schwarzen Ober- und weißen Untertasten gestaltet war.

4. K lavierübung als »O n /O ff -S ystem «? Die Geschichte der Klavierpädagogik des 19. Jahrhunderts lässt sich als ein Abstraktionsprozess beschreiben, der die komplizierte Bewegungsmechanik des Körpers in möglichst einfache Elemente zerlegt. Ich möchte diesen Vorgang provokativ als eine Digitalisierung des Körpers bezeichnen (bekanntlich lässt sich das Wort »digital« etymologisch von »doigt« [= Finger] herleiten). Hier handelt es sich also darum, die Körperbewegung zu einem »On/Off-System« zu reduzieren. Als Beispiel hierfür sei die Klavierschule eines gewissen Eugenio Pirani aus dem Jahr 1905 angeführt. Am Beginn steht die folgende Stützfingerübung, die die Pflege der sog. soliden Finger zum Ziel hat. Nach Anweisung von Pirani sollen diese Übungen folgendermaßen geübt werden: 23 | Martin Kirnbauer, »La Haute Gymnastique Musicale« – Apparate zur Ausbildung des Körpers am Klavier im 19. Jahrhundert, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis XX (1996), S. 123-137. 24 | Theinhardt, Brotherhood’s Technikon in: Der Klavier-Lehrer 10/1887, S. 235-237. 25 | Zit. nach Andreas Ballstaedt/Tobias Widmaier, Salonmusik, Stuttgart 1989, S. 244f.

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Akeo Okada »Je höher – bei ›1‹ – der Finger gehoben wird, desto kräftiger wirkt der nachfolgende Schlag. Anfangs ist die Hauptaufmerksamkeit dem Aufheben zu widmen und dieses für sich zu üben. Die Bewegung jedes einzelnen Fingers ist unabhängig von der Hand und den anderen Fingern auszuführen, d.h. die nicht beteiligten Finger sollen ganz ruhig bleiben und keine unwillkürliche Bewegung machen. Als Kontrolle für die ruhige Handhaltung lege man auf die Handdecke eine Münze, welche beim Üben nicht herunterfallen darf.«26

Die Bewegung der Finger ist also auf ein binäres System von »Auf« und »Ab« reduziert. Von vielfältiger Schattierung des Anschlags ist keine Rede mehr. Das Ziel dieser On/Off-Methode auf der Tastatur lässt sich unter drei Aspekten betrachten: Nivellierung, Automatisierung und Verstärkung der Finger. Die zehn Finger haben eigentlich ihre jeweils eigene Form, Funktion und Eigenschaft. Von Natur aus sind sie unterschiedlich, während die Klaviererziehung des 19. Jahrhunderts aber, so scheint es, von der Idee begeistert war, alle Finger gleichförmig zu machen. Der kleine Finger soll so stark wie der Daumen sein; der Ringfinger soll sich so hoch wie der Mittelfinger heben; der Daumen soll so beweglich wie ein Zeigefinger sein. Diese Nivellierung der unterschiedlichen Qualitäten der einzelnen Finger gehört zu den wichtigsten Zielen der Klavierpädagogik im 19. Jahrhundert. Hans von Bülow erhebt beispielsweise in der Vorrede der von ihm bearbeiteten Cramer-Etüden die folgende Forderung: »[O]hne mechanische Vorbereitung und ohne vorhergegangene Überlegungsschmerzen, dasselbe Klavierstück in jede beliebige Tonart zu transponieren: Beethovens Op. 57 [=Appassionata] muß von einem modernen Virtuosen echten Kalibers beispielsweise ebenso behaglich in Fis-moll als in F-moll vorgetragen werden können.«

Am Ende des 19. Jahrhunderts führte dieses Streben nach Gleichförmigkeit der Finger sogar dazu, dass ein amerikanischer Arzt namens Dr. Forbes versuchte, die störenden Sehnen, die den Ringfinger mit den Nachbarfingern verbinden, durchzutrennen.27 Die Sehnenschnitte wurden vielerorts, auch in Deutschland, als Routineoperation für Pianisten eingeführt. Mit der Nivellierung der Finger steht deren Automatisierung in engem Zusammenhang. Bülow spricht davon, dasselbe Stück in beliebige Tonarten gleichsam automatisch zu transponieren. Wenn alle Finger, wie zehn Zylinder 26 | Eugenio Pirani, High School of piano-playing op. 88, Berlin 1905, S. 6f. 27 | Liberation of the ring finger, in: The Etude 1898, S. 112. Vgl. auch: Martin Gellrich, Die Disziplinierung des Körpers. Anmerkungen zum Klavierunterricht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Musik und Körper, hg. von Werner Pütz, Essen 1990, S. 125.

Reduktion, Repetition und Verstärkung – Klavierübungen und musikalisches Denken

einer Maschine, dieselbe Form und dieselbe Funktion hätten, dann würde dies alles von sich aus gehen – so mag das Idealbild des Klavierspiels im 19. Jahrhundert gewesen sein. Es ist weithin bekannt, dass viele Virtuosen, z.B. Friedrich Kalkbrenner, Clara Schumann oder Adolph von Henselt, die Zeitung, die Bibel oder Kant lesend Tonleitern zu üben pflegten. Kalkbrenner bemerkt: »Bald beschloss ich zu versuchen, ob ich nicht zugleich lesen könnte, während ich meinen Fingern ihre tägliche Nahrung gab. Während der ersten Stunden kam mir dies schwer vor, den andern Tag hatte ich mich daran gewöhnt. Seitdem habe ich mich immer lesend geübt. Ich erzähle diese Einzelheiten in der Hoffnung, dass Andere daraus Vortheil ziehn werden. Das Leben ist zu kurz, als dass ein wirklicher Künstler alles, was ihm zu wissen unentbehrlich ist, lernen könnte, ohne einige sinnreiche Mittel, die Zeit zu hintergehn. Raphael liess sich vorlesen, während er malte; Voltaire dictirte seinem Secretair aus seinem Bette und beim Ankleiden: zwei ausgezeichnete Beispiele zur Befolgung.«28

Vollkommen automatisierte Finger befreien den Geist. Das 19. Jahrhundert mag von den Fingern eines Androidos geträumt haben. Idealismus und Mechanismus verschränken sich hier auf merkwürdige Weise miteinander. Einleuchtend in diesem Zusammenhang ist die unverkennbare Analogie zwischen der Klavierübung und dem Turnen, das ja auch ein Produkt der Neuzeit ist. Frühere Epochen kennen weder ein ausschließlich zum Fingerdrill bestimmtes Musikstück noch eine vom konkreten sportlichen Anlass getrennte Körperdisziplinierung. Johann Christoph Friedrich Gutsmuths, ein Begründer des Turnens, erklärt in seiner Schrift Gymnastik für die Jugend aus dem Jahr 1793 den Körper zu einem gehorsamen Knecht des Geistes. Je schwächer der Knecht sei, so Gutsmuths, desto mehr befehle er. Der Knecht soll also stark sein, um gehorsam zu sein (»Plus le corps est faible, plus il commande.; plus il est fort, plus il obéit. Il faut que le corps ait de la vigueur pour obéir à l’ame: un bon serviteur doit être robuste«).29 Und dazu sei es u.a. notwendig, alle Teile des Körpers gleichmäßig zu kräftigen. Es liegt nahe, dass sowohl die Klavierübung als auch das Turnen auf dasselbe Körperideal zielten. Diese Verstärkung der Finger ist also, neben Nivellierung und Automatisierung, eines der wichtigsten Ziele der modernen Klavierübung. Die Stützfingerübungen von Moscheles oder Plady, das Dactylion von Herz, der Fingerschneller von Mälzl, Chirogymnaste oder Technikon haben alle zum Zweck, die Finger durch Fesseln zu kräftigen. Die Finger werden zu unnatürlicher Stellung gezwungen, um durch Anstrengung die Muskeln robust zu machen. 28 | Kalkbrenner, Méthode, S. 3f. 29 | Joh. Chr. Fr. Gutsmuths, Gymnastik für die Jugend, Schnepfenthal 1793/Berlin 1957, S. 61.

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Franz Brendel, der als Nachfolger von Robert Schumann die Redaktion der Neuen Zeitschrift für Musik leitete, empfiehlt beispielsweise in seinem Artikel Studien über Pianofortespiel aus dem Jahr 1851 die gezwungene Handhaltung, da sie die Muskeln der Hände belaste. »Einige Anstrengung braucht dabei nicht vermieden zu werden, ist im Gegentheil gut. [….] Ich ziehe das bezeichnete Verfahren allen Apparaten, welche Aehnliches bezwecken vor.« 30

Auch ein Artikel in der amerikanischen Klavierzeitschrift The Etude aus dem Jahr 1891 empfielt diese »depressed knuckle-joint piano practice«, und zwar aus demselben Grund: »If a certain exercise is to be practiced ten times each day, and each time till the muscle begins to be tired, by the depressed position of knuckle joint, the muscles can be tired in from one to ten seconds, say five seconds, 10 times 5, fifty seconds, less than one minute, for ten times.« 31

Nach Wolfgang Schivelbusch sollen sich im 19. Jahrhundert eine Anzahl von Physiologen der Forschung des Ermüdungsmechanismus gewidmet haben.32 Es wurde sogar ein Gerät erfunden, das die Müdigkeit der Muskeln messen konnte. Erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert kam eine andere Richtung des Klavierspiels, das so genannte Gewichtsspiel auf, die der bisherigen »Anstrengungsmethode« kritisch gegenüberstand. Bei diesen neuen Strömungen, die u.a. im Act of Touch von Tobias Matthay aus dem Jahr 1903 und in der Schrift Die natürliche Klaviertechnik von Rudolf Maria Breithaupt aus dem Jahr 1905 in Erscheinung treten, handelte es sich in erster Linie darum, den Körper locker in natürlicher Haltung zu halten.3334 Bezeichnenderweise ist das Auftreten dieser Theorien eine zeitgenössische Erscheinung der neuen Körperdisziplinierung wie sie in der rhythmischen Gymnastik von Dalcroze oder im modernen Tanz von Isadora Duncan auftreten.

30 | Franz Brendel, Studien über Pianofortespiel in, Neue Zeitschrift für Musik 46/1857, S. 233. 31 | Chas M. Harman, Depressed knuckle-joint piano practice, in: The Etude 1889, S. 173. 32 | Wolfgang Schivelbusch, The Railway journey, New York 1979 (u.a. Kap. 7). 33  |  Rudolf Maria Breithaupt, Die natürliche Klaviertechnik Bd. 1, Leipzig 1920/51927, S. 97. 34 | Vgl. hierzu auch den Beitrag »Versuch über Technik« von Wolfgang Lessing im vorliegenden Band.

Reduktion, Repetition und Verstärkung – Klavierübungen und musikalisches Denken

Das 19. Jahrhundert schwärmte offenbar für die merkwürdige Idee, dass man, wenn man die Körperbewegung in abstrakte Elemente reduziert, sie bis zur Erschöpfung repetiert und daraus wieder das Ganze rekonstruiert, die perfekte Klaviermechanik erreichen kann, d.h. zehn Finger, die vollkommen gleiche Funktionen haben, perfekt automatisiert und robust wie eine Maschine sind. Ein deutscher Klavierlehrer namens Gustav Stoeve schreibt im Jahr 1886: »Eine der wichtigen Aufgaben der musikalisch-physiologischen Bewegungslehre besteht darin, die vollen Bewegungen, wie sie in der Technik des Klavierspiels vorkommen, in einzelne Theile zu zerlegen. Die Zerlegung ist um so besser, je kleiner die einzelnen Theile, Momente genannt, geworden sind, und je mehr es ermöglicht wird, die einzelnen Momente auch einzeln zu üben. Die dann erfolgende Zusammensetzung besteht darin, dass nach und nach einander verschiedene Momente zu einem vereinigt werden, bis schließlich die ganze Bewegung in einem Zuge gemacht wird.« 35

Die Mechanisierung der Klavierübungen im 19. Jahrhundert ist also als dialektischer Dreischritt zu beschreiben, d.h. als »Reduktion (bzw. Zersetzung), Wiederholung und Verstärkung (bzw. dynamisierte Wiedervereinigung).«36 Es scheint paradox, dass die musikalische Romantik, die auf der einen Seite so emphatisch das geistige und organische Wesen der Musik betonte, auf der anderen so sehr von der Anatomie des musizierenden Körpers begeistert war. Meiner Ansicht nach sind diese beiden Seiten aber einander nicht so fremd wie es beim ersten Blick erscheinen mag. Das Prinzip der »Reduktion, Wiederholung und Dynamisierung« ist nicht nur ein Charakteristikum, das den mechanischen Duktus vieler Übungsstücke oder Etüden kennzeichnet, sondern ist auch in den Werken der großen Komponisten des 19. Jahrhunderts durchaus zu finden. Man denke z.B. an die Technik der Themenverwandlung von Schumann und Liszt, an die dynamische Form von Wagner oder an die entwickelnde Variation von Brahms usw. Die 51 Übungen für Klavier von Brahms stellen ein einleuchtendes Beispiel hierfür dar. Hier handelt es sich zwar um vornehmlich mechanische Übungen in der Art von Plady, aber gleichzeitig enthalten diese Übungen unverkennbare Züge der Brahmsschen Kompositionsweise, indem sie nämlich einige diastematische Zellen immerfort variierend entwickeln. In einer deutschen landwirtschaftlichen Zeitschrift aus dem Jahr 1845 wird die Vermutung ausgesprochen, dass die mühsame Arbeit eines Bauers 100 Jahre später, d.h. im Jahr 1945, wohl von einer Maschine übernommen werde, 35 | Gustav Stoeve, Die Klaviertechnik dargestellt als musikalisch-physiologische Bewegungslehre, Berlin 1886, S. 59. 36 | Vgl. Hennig Eichberg, Leistung, Spannung, Geschwindigkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./19. Jahrhunderts, Stuttgart 1978.

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um dem Bauern damit zu ermöglichen, zugleich sein Feld zu bestellen und dabei bequem die Zeitung zu lesen.37 Dieser Gedanke erinnert an die schon herangezogene Episode von Kalkbrenner: Wenn einmal der Körper zur Maschine wird, dann wird der reine Geist freigesetzt – dieser Gedanke ist eines der wesentlichen Merkmale der musikalischen Anschauungen des 19. Jahrhunderts. Mechanisierung des Körpers und Befreiung des Geistes sind also Phänomene, die einander nicht widersprechen, sondern sich wechselseitig ergänzen.

37 | Heinz Haushofer, Die deutsche Landwirtschaft im technischen Zeitalter, Stuttgart 1963, S. 144.

Vom Berühren der Klaviertasten und vom Berührtwerden von Musik Mit einer Einleitung zum weit verbreiteten Anathema »Musik und Körper« in der Philosophie und in der Musikwissenschaft Martin Zenck

D as A nathema »M usik und K örper « Obwohl das Körper-Thema bereits 1944 im Kapitel »Interesse am Körper« der Dialektik der Auf klärung unter der Devise einer zu rekonstruierenden »unterirdischen Geschichte Europas«1 virulent und wissensprogrammatisch skizziert wurde, ist es dann für längere Zeit unter den Tisch gefallen. Selbst das beinahe tausendseitige Konvolut von 1996 mit dem einfachen und doch vermessenen Titel Vernunft von Wolfgang Welsch, dessen »Konzept einer transversalen Vernunft« gerade die Entgrenzung der Vernunft zum Körper hin hätte durchführen können, bleibt der Körper-Thematik vieles schuldig. Zwar erscheint der Körper dort, wo er gar nicht zu umgehen war, nämlich in Nietzsches Vorstellung von der »großen Vernunft des Leibes«2 und weiter in seiner auf Freud bezogenen These von den »Übergangsfähigkeiten der Instanzen der inneren Natur, der inneren, nicht im verbalen Sinn sprachlosen inneren Stimmen des Körpers«3; schließlich nimmt der Körper zwar im Hinblick auf Foucault4 und Lacan5 Gestalt an, aber weder werden die scheinbar radikal dualistischen LeibGeist-Konzepte etwa von Descartes auf die korrelative oder nicht korrelative 1 | Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969, S. 246. 2 | Wolfgang Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept einer transversalen Vernunft, Frankfurt a.M. 1996, S. 143 und S. 616ff. 3 | Vgl. Welsch, Vernunft, S. 852. 4 | Vgl. Welsch, Vernunft, S. 179. 5 | Vgl. Welsch, Vernunft, S. 276.

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Kraft der »passions de l’âme«6 geprüft (was den rigiden Dualismus von corpus und anima in Frage stellen würde), noch findet der Gegenentwurf des Körpers durch die Künste eine entsprechende und eingreifende Berücksichtigung. Die Thematisierung des Körpers, seiner Entfesselung wie seiner Bändigung, nimmt repräsentativ oder fiktiv Gestalt an in den bildenden und darstellenden Künsten. Sie zeichnet sich weiter ab in den oralen und sub-textuellen Codes7 der musikalischen Körpergeschichte, wie sie bisher von der Musikwissenschaft weitgehend ausgeblendet wurde. Im autonomen oder transversalen Vermögen des Körperwissens in den Künsten könnte eine Gestalt des Wissens angenommen werden, die nicht von der Vernunft, sondern vom Körper aus seine Eigenmächtigkeit oder sein transversales Vermögen behauptet. Damit steht dieses Konzept im Gegensatz zu der von Dietmar Kamper noch im Erwartungshorizont der Dialektik der Auf klärung vorgetragenen Forderung einer sich in ihrem Absolutheitsanspruch noch selbst einschränkenden Vernunft, durch die, weil sie auch die Instanz der Körperbemächtigung gewesen sei, erst und alleine eine wahre Emanzipation des Körpers8 möglich werden könne.9 Warum sollte der in den Künsten auf ihre eigene Weise geführte, zwar unter der rationalen Disziplinierung stehende Körperdiskurs nicht auch zugleich der Bereich der Befreiung des Körpers sein? Entgegen Kamper, der die Auffassung vertritt, dass der Körper um keinen Preis als natürlich oder ursprünglich10 angenommen werden könne, wird im vorliegenden Beitrag der Körper in seiner leibhaftigen Gegenwärtigkeit vor allem im Hinblick auf die Befreiung des Fingers beim Klavierspielen von seiner 6 | René Descartes, Les passions de l’âme (1649), in: ders.: Die Leidenschaften der Seele, hg. und übersetzt von Klaus Hamacher, Hamburg 1996. 7 | Vgl. zum oral-mimetischen und corporalen Subtext, der dem geschriebenen »Noten- und Partitur-Text« einbeschrieben ist: Martin Zenck, »Luigi Nono – Marina Abramovic. Eingeschriebene, bewegte und befreite Körper zwischen Aufführungspartitur, Live-Elektronik und freier Improvisation/Performance«, in: Performance im medialen Wandel, hg. von Petra Maria Meyer, München 2007, S. 119-145 (vgl. dort insbesondere das 1. Kap. »Der corporale Subtext des Notentextes«, S. 121-125). 8  |  Dietmar Kamper, Art. »Körper«, in: Vom Menschen. Handbuch Historischer Anthropologie, hg. von Christoph Wulf, Weinheim/Basel 1997, S. 411. 9  |  Zu prüfen wäre eigens, inwiefern das so verdienstvolle und wichtige Buch Die Wiederkehr des Körpers eine grundsätzlich andere Position innehat als der zitierte Leitartikel aus dem Handbuch historischer Anthropologie. Vgl. Die Wiederkehr des Körpers, hg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Frankfurt a.M. 1982; vgl. weiter das Buch Das Schwinden der Sinne, hg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Frankfurt a.M. 1984 (vgl. dort vor allem die Beiträge von Friedrich A. Kittler [»Der Gott der Ohren«] und von Dietmar Kamper [»Vom Hörensagen. Kleines Plädoyer für eine Sozio-Akustik«]). 10  |  Kamper, Art. »Körper«, S. 407.

Vom Berühren der Klaviertasten und vom Berührtwerden von Musik

nur die musikalische Sprache (Syntax, Satz, Sätze, Interpunktionen etc.) artikulierenden Funktion zugunsten eines Klavierspiels aus dem ganzen Körper heraus behauptet. In der Musikwissenschaft sind zwar Neuansätze zum Thema »Körper und Musik« erkennbar, wobei diese noch weitgehend in der Folge der »cultural studies«11 und der Theaterwissenschaften12 stehen, aber eine grundsätzliche Befassung mit dieser Thematik ist in einer Disziplin, die immer noch weitgehend die »Geistfähigkeit des Materials« im Sinne von Eduard Hanslick und Theodor W. Adorno fordert und damit die intellektuelle Nobilitierung der Musik in der Musikwissenschaft betreibt, mehr als dringend erforderlich. (Von wenigen Ausnahmen abgesehen, die noch ausführlich zu diskutieren wären: so etwa die zahlreichen Publikationen,13 die im Zusammenhang der am SPP »Theatralität« [Gesamt-Leitung: Erika Fischer-Lichte, FU Berlin] beteiligten Bamberger und Würzburger Musikwissenschaft [Leitung: Martin Zenck] entstanden sind, weiter das Buch von Christine Fesefeld14 über das frühe Klavierwerk von Pierre Boulez mit den Auswirkungen des Theaters und der 11 | Vgl. dazu exemplarisch Körperinszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel, hg. von Erika Fischer-Lichte und Anne Fleig, Tübingen 2000; vgl. weiter Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild, hg. von Margreth Egidi u.a., Tübingen 2000; vgl. weiter Sprachformen des Körpers in Kunst und Wissenschaft, hg. von Gabriele Genge, Tübingen/Basel 2000; vgl. schließlich Michael Lobe: Die Gebärden in Vergils Aeneis. Zur Bedeutung und Funktion von Körpersprache im römischen Epos, Frankfurt a.M. 1999. 12 | Vgl. wiederum ausgewählte Publikationen: Verkörperung, hg. von Erika FischerLichte, Christian Horn und Matthias Warstat, (=Theatralität, Bd. 2), Tübingen/Basel 2001 (dort insbesondere die von Martin Zenck für die Musikwissenschaft geleitete Forschergruppe mit dem Beitrag: »Gestisches Tempo. Die Verkörperung der Zeit in der Musik. Grenzen des Körpers und seine Überschreitungen«, S. 345-368); vgl. insbesondere zur Geste: Petra Maria Meyer, »Die Geste als intermediale Vergleichskategorie: Zur Umwertung von Sprachgesten und Gestensprachen zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert«, in: Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien, hg. von Christopher Balme und Markus Moninger, München 2004, S. 55-73; vgl. neuerdings Martin Zenck, »L’écriture du geste théâtral, cinématographique et musical dans lap pensée de Roland Barthes, Jean-Luc Godard et Pierre Boulez«, in: Expression et geste musical (=arts 8). Sous la direction de Susanne Kogler et Jean Paul Olive, Paris 2013, S. 77-92. 13  |  Vgl. entsprechende Nachweise: Martin Zenck, »Der Begriff des ›Imaginären‹. Wirkungen des Theatralitätskonzepts in der Musikwissenschaft«, in: Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, hg. von Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Sandra Umathum und Matthias Warstat, (=Theatralität, Bd. 6), Tübingen 2004, S. 213. 14 | Christine Fesefeld, Bild – Körper – Schrift. Zur Poetik und Kompositionspraxis bei Pierre Boulez (= Schrift und Bild in Bewegung, Bd. 14), Bielefeld 2006 (Diese Studie untersucht etwa durchaus im Sinne von Messiaen die »rhythmische Gestalt als Profil der Geste« und stellt ihre« Organisation in die Reihensyntax«, vor allem in den Douze Notations).

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Artaud-Rezeption und schließlich die Studie Körper. Medien. Musik. Körperdiskurse in der Musik nach 1950 von Stefan Drees15 [vgl. die ausführliche Kommentierung dieses Buches weiter unten]). Auch wenn Kant der Musik »mehr Genuß als Kultur« zusprach und sie deswegen als der Gartenbaukunst nahe stehend empfand, wäre es nicht die schlechteste Vorstellung, die Musik in den domestizierten Gärten zu lokalisieren, die immerhin an die wilde Natur angrenzen. Sie hätte damit Berührung mit einem der »Drei Körper«, von denen Paul Valery16 sprach, deren einer der anarchische, wild in alle Richtungen wirbelnde wäre. Dies Bild eines im ungezähmten Zustand multidirektional ausbrechenden Körpers könnte der Musikwissenschaft aufhelfen, den Körper der Musik im Diskurs der einander auch irritierenden Sinne und der Aisthesiologie17 zu verhandeln und nicht im Bereich einer von ihrer Materialität abgelösten Cerebralität.

D oppelter A nsat z mit W ittgenstein : D ie tak tile Ü bertr agung der B e wegungsempfindung In seinen Philosophischen Untersuchungen hat Ludwig Wittgenstein Abstand genommen von der Vorstellung seines Tractatus, dass die für das Verstehen 15 | Stefan Drees, Körper. Medien. Musik. Körperdiskurse nach 1950, Hofheim 2011; diese Studie rezipiert zwar den performativen Turn auch über Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen, nicht aber deren sechsjährigen Forschungsschwerpunkt eines SPP der »Theatralität«, der zeitweise über 20 Disziplinen mit wechselnden Schwerpunkten integrierte. Daraus sind sieben Bände entstanden, die von der Authentizität als Inszenierung (Bd. 1) über Verkörperung, (Bd. 2), Wahrnehmung und Medialität (Bd. 3), Performativität und Ereignis (Bd. 4), Ritual und Grenze (Bd. 5) bis hin zur Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften (Bd. 6) und Diskurse des Theatralen (Bd. 7) reichen. In allen Bänden ist die Musikwissenschaft einschlägig durch einen entsprechenden Forschungsschwerpunkt mit Körper-Studien vertreten, vor allem in Band 2 (über »Gestisches Tempo«) und in Bd. 7 mit dem Beitrag von Tim Becker und Raphael Woebs: »›Alsdann, soll er uns etwas denken?‹ – Der Körper zwischen Anathema und interdisziplinärem Modell innerhalb der Musikwissenschaft« (dort S. 49-64). 16 | Paul Valéry: Réflexions simples sur les trois corps, in: ders., Œuvres I, Paris 1957, S. 923-931; deutsche Übersetzung unter »Einfache Überlegungen zum Körper« und »Das Problem der drei Körper«, in Paul Valéry, Werke, Bd. 4 Zur Philosophie und Wissenschaft, hg. von Jürgen Schmidt Radefeldt, Frankfurt a.M. 1989, S. 201-205 und S. 205-210. 17 | Es gibt von meiner Seite zahlreiche Studien zum Zentrum und Umfeld einer solchen Aisthesiologie (etwa über das »Ephemere«, die »Atmosphäre«, die »Wiederholung«, »Handhabung«, »Intuition« etc.), die zu einem späteren Zeitpunkt unter dem Titel: »Der Sinn der Sinne. Texte zur musikalischen Anthropologie« erscheinen werden.

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grundlegenden Bedeutungen in einem System von Definitionen fixiert werden könnten. Statt dessen hat er auf dem Aushandeln von Bedeutung im Sprachspiel insistiert, dass Bedeutungen sich aus ihrer diskursiven Verwendung beim Sprechen ergeben würden. Es gibt in den Philosophischen Untersuchungen einen sprachtheoretisch-taktilen Ansatz, den ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen machen möchte. Einmal ist dort der Zusammenhang von Wort und Ding thematisch, zum anderen ist vom Lernen des Kindes die Rede, das diesen Zusammenhang zwischen Wort und Ding über das »gehörte Wort« herstellt, weil mit dem entsprechenden Sprachklang »dem Kind das Bild vor die Seele tritt.«18 Es folgt dann ein für unseren thematischen Kontext entscheidender Satz, der die Wörter überhaupt mit Lautreihen in Verbindung bringt und sie mit der Artikulation von Tönen auf der Tastatur des Klaviers vergleicht: »Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.«19 Diese Überlegungen stehen mit am Anfang von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen von 1945 und können zugleich als Reflexionen über den Ursprung der Sprache verstanden werden, weswegen sie auch der Ausgangspunkt im Prolog von Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter wurden. Dort geht die Sprache aus einem dunklen Urgrund des Schweigens hervor. Solange sie dann sprechbar, d.h. oralkörperlich artikulierbar ist wie in Mandelstams »oraler Poesie«, können sich die Dichter äußern. Wenn die Sprache dagegen nur noch Schrift ist, scheitern die jungen Dichter an der von Mandelstam behaupteten körperlichen Präsenz des Sprechens, das in der Schrift zum toten Textcorpus erstarrt. Wittgenstein hat an verstreuten Stellen der Philosophischen Untersuchungen und dann später vor allem in den späten Aufzeichnungen immer wieder diesen Zusammenhang zwischen dem Sprechen, der Sprache und der Musik sowie der Möglichkeit, diese eben von der Sprache aus zu verstehen, thematisiert und zwar vor allem in Hinblick auf die taktile Bewegungsübertragung des Rhythmus von der Musik auf den Hörer. Vollkommen richtig geht er dabei vom Tanz, von den stilisierten Tänzen der barocken Topik aus, deren angemessenes Spiel auf dem Cembalo nur möglich ist, wenn der Interpret selbst Sarabanden, Pavanen, Menuette und Giguen tanzen und sie auch in dieser Form auf sein Spiel übertragen kann. Damit ergibt sich eine Verbindung, die Wittgenstein an der diskutierten Stelle nicht ganz lückenlos schließt, zwischen der Bewegungsvorstellung des Tanzes, ihrer Einschreibung in die Notation (diese inskribierte

18 | Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1929-1945), in: ders., Tractatus logico-philosphicus. Werkausgabe in acht Bänden, Bd. 1 Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1984, S. 240. 19 | Ebd.

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Körperlichkeit thematisiert Wittgenstein nicht) und der Bewegungsempfindung, die der Hörer dann im Zusammenhang des Vortrags hat. Obwohl nun diese beiden diskutierten Textstellen inhaltlich auseinander liegen, gibt es doch die Möglichkeit, sie hier auch aus methodischen Gründen ineinander zu lesen. Die erste Textstelle mit der Artikulation des Anschlags auf den Tasten des Klaviers, welche Wittgenstein dort mit der Äußerung von Lautreihen eines oder mehrerer Wörter vergleicht,20 tritt mit der späteren Textmarke21 insofern in Verbindung, als dort das energetische Moment des Anschlags, der den Ton mit Spannungen auflädt, insgesamt zu einer dynamisierten Vorstellung einer rhythmisierten Bewegungsempfindung entwickelt wird, die für den späten Wittgenstein zum Schlüssel des Verstehens von Musik wird. Wie die späteren Vermischten Bemerkungen von 1948 im achten Band der Schriften zeigen, ist nicht die »Erklärung« hilfreich (sie steht dem Verstehen der Musik eher im Wege), sondern das Ansinnen eines anderen Sinns, die taktile Übertragung der rhythmisierten Bewegung ist es, die den Hörer uranfänglich erfasst. Damit diese Überlegung Wittgensteins, dass die Identifikation mit der rhythmischen Bewegungsempfindung der Musik für das Wahrnehmen der Musik entscheidend sei,22 nicht ins leer Spekulative gerät, ist es an dieser Stelle wichtig, die Transformation vom kompositorisch eingeschriebenen Bewegungsrhythmus über die taktile Artikulation beim Klavierspielen oder Dirigieren zur entsprechenden Bewegungsempfindung beim Hörer genauer anzugeben. Denn im Unterschied zum haptischen Bild, das seine taktile Energie durch die glatte Leinwand oder den körnigen Farbauftrag spontan auf den Betrachter überträgt, tritt in der Musik notwendigerweise der Interpret/ Dirigent/Orchester oder die Live-Elektronik zwischen Partitur/Notation und Auditorium. Gerade am Modell des Klavierspiels kann deswegen die artikulatorisch taktile und energetische Aufladung des einzelnen Tons und Klangs zwingend aufgewiesen werden und dies nicht einfach in Entsprechung zur Notation, sondern zuweilen auch über das intentional Notierte der Partitur hinaus. Wenn sich der Pianist nicht nur als purer Vollstrecker des in der Partitur fixierten Sinns versteht, sondern als reproduzierender Künstler, so enthält das Spiel, wie jegliche Wahrnehmung, einen Überschuss, der über das Gerahmte und objekthaft Gegebene entschieden hinausweist.

20 | Ebd. 21 | Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 440. 22 | Vgl. Ludwig Wittgenstein, »Vermischte Bemerkungen« [1948], in: ders., WerkAusgabe in acht Bänden, Bd. 8, hg. von Georg Henrik von Wrihgt, Frankfurt a.M. 1989, S. 548.

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Tak tile A rtikulation des »Toucher «: der F inger als F ortse t zung des M undes Bevor dieser Sachverhalt der taktilen Bewegungsübertragung an drei Modellen entwickelt wird, ist die Zuordnung des artikulierenden Fingers zum Körper oder zum Mund entscheidend. Sofern Musik sprachähnlich ist, also den syntaktischen und idiomatischen Eigenschaften der Sprache folgt, wie etwa Beethovens Hinweis in einer der Bagatellen von op. 33, dass sie »con una certa espressione parlante« (also mit einem bestimmten sprechenden Ausdruck) zu spielen sei, ist das Espressivo-Spiel23 wie das vergleichbare Cantabile-Spiel oral konzipiert, also nach Maßgabe des artikulierenden, d.h. des sprechenden und singenden Mundes. Die Artikulation der Sinneinheiten der musikalischen Phrase/Periode durch einen entsprechenden Anschlag und eine entsprechende Fingersetzung korrespondiert dem Vorgang des Sprechens: Die Applikatur, der Fingersatz buchstabiert gewissermaßen den »Text«. Einen ersten Hinweis auf diesen Zusammenhang von Finger und Mund entnehmen wir dem Klaviertraktat L’Art de toucher le clavecin von François Couperin aus dem Jahre 1717. Dort unterscheidet Couperin einmal zwischen »bien jouer« und »toucher«, und vergleicht vor allem das Verhältnis von Grammatik und Deklamation mit der Tabulatur bzw. der spielerischen Umsetzung der zahlhaften Akkordnotation auf dem Cembalo. Die Kritik an der Fixierung des Notentextes durch die Tabulatur braucht uns hier nicht näher zu interessieren. Wichtig ist der Bezug zur Rhetorik: wie die Deklamation die Grammatik der Sprache zu Gehör bringt, so ist das Berühren der Tasten auf dem Manual des Cembalos (das toucher) die akustische Umsetzung der im Notentext chiffrierten Musik. Die Finger sind aber nicht nur mit dem Mund, seiner Artikulation, verknüpft, sondern konkret mit der Prosodie des Sprechens. So hält Carl Czerny in seiner großen Pianoforteschule den Vergleich von schweren und leichten Akzenten beim Klavierspielen mit Arsis und Thesis der Prosodie fest. Die in der Musik viel feiner skalierte Differenzierung metrischer und rhythmischer Einheiten richtet sich gleichwohl nach den Grundregeln der abgestuften und geordneten Metrik von gebundener Dichtung. Dies gilt, wie die Bemerkungen Beethovens zu den Etüden Jean-Baptiste Cramers24 und dann in seiner eige23  |  Vgl. zur Unterscheidung von »espressivo« und »cantabile« bei Beethoven: Martin Zenck, »Weberns Wiener Espressivo und seine Voraussetzungen im späten Mittelalter und bei Ludwig van Beethoven«, in: Anton Webern I. (=Musik-Konzepte. Sonderband), hg. von Rainer Riehn und Heinz-Klaus Metzger, München 1984, S. 218-237. 24  |  Vgl. Beethovens Anmerkungen zu den Etuden von Jean-Baptiste Cramer. Dazu die grundlegende Studie von Harry Goldschmidt unter dem Titel »Beethovens Anweisungen

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nen Klaviersonate op. 110 zeigen, nicht nur für die Skandierung thematischer Modelle, sondern sogar für das Betonungssystem von figurativen Passagen, wie den Klangkaskaden der Akkordbrechungen, die dem As-Dur-Thema des ersten Satzes von op. 110 folgen. Beim Klavierspielen habe ich als Spieler also nicht nur das Cantabile-Thema mit den Fingern nach dem Betonungssystem der Sprache zu artikulieren, sondern diesem hat auch das Spiel der rhythmisch freier gestalteten Arpeggi zu folgen.

Abbildung 1: L. van Beethoven, Klaviersonate As-Dur, I, Thema und Akkordfiguration

zum Spiel der Cramer-Etuden: eine ästhetische Quelle«, in: Harry Goldschmidt, Die Erscheinung Beethoven, Leipzig 1974, Kap. 6.

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Hier ist der Zusammenhang zwischen der Taktilität des Fingers/der Hände mit der oralen Artikulation versifizierter Dichtung ganz ausdrücklich notiert mit dem entscheidenden Unterschied, dass wir im Gedicht die Unterscheidung von regulativer Syntax durch die Prosodie und die Semantik der sprachlichen Gestalt festhalten können, während wir uns die Semantik in der Musik in Beethovens op. 110 über die Art und Weise, wie gesprochen, d.h. wie mit den Fingern artikuliert wird, erschließen müssen. Die Cantabile- und EspressivoCharaktere, also orale und gestische Charaktere, sagen uns über die Art der durch die Finger artikulierten Phrasen »etwas« über den Sinn dieser Musik. Dieses »etwas« wird uns nicht alleine durch das Zuhören zugänglich, sondern durch die taktile, energetisch-rhythmisch aufgeladene Bewegungsübertragung des Pianisten. Kant hat diesen performativen Sinn des Sprechens ganz ausdrücklich bereits in der Kritik der Urteilskraft von 1790 formuliert, wo er beim Sprechen einen Zusammenhang von »Artikulation, Gestikulation und Modulation«25 fordert. Wenn er dann unter den transitorischen Künsten neben der pantomimischen Kunst und des Schauspiels auch die Musik verhandelt, diese aber nun denn doch mit der Gartenkunst vergleicht, so ist ihm offenbar die unmittelbare Verbindung zwischen der sprachlichen und musikalischen Artikulation verborgen geblieben. Obwohl Kant diese Verknüpfung im Dunklen lässt, liegt der Zusammenhang mit den Spielanweisungen des Klavierspiels auf der Hand. Um im Bilde zu bleiben: die »Artikulation« betrifft den Anschlag, die Art des Anschlags des einzelnen Tons sowie die Phrasierung einer musikalischen Sinneinheit, die »Gestikulation« betrifft die Umsetzung von Bewegungscharakteren – etwa im Kopfsatz von op. 110, die eines lieblichen Cantabile, das aber nicht nur singend, sondern zugleich expressiv in jeder Note zu gestalten ist. Die »Modulation« schließlich bezieht sich auf die Einfärbung eines jeden Tons durch eine entsprechende Anschlagsart und in der Verbindung mit dem folgenden Ton, dann aber vor allem auf die Hervorbringung einer neuen Tonart, durch welche – vor allem bei Schubert – die bisherige Landschaft in einer grundsätzlich veränderten Beleuchtung erklingt (die Verteilung von Licht und Schatten, die schon Schumann bei Schubert beobachtete). Ist also für die sprachähnliche Musik der Zusammenhang des artikulierenden Fingers mit der oralen Verlautbarung des Sprechens zwingend, so gilt diese Verknüpfung zwischen diesen beiden Körperteilen des Fingers/der Hand und des Mundes nicht unbedingt für jede Form der Musik. Es könnte sich hierin eine Ambiguität ausdrücken, welche Roland Barthes bereits der Stimme zusprach: ist sie mehr Ausdruck des Mundes, der die schmerzliche

25 | Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), Hamburg 1963, S. 176.

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Grenze vom Inneren und Äußeren des Körpers markiert oder ist sie überhaupt ganzheitlich das Expressionsorgan des Körpers?

D ie F inger /D ie H and als E xpressionsorgan des K örpers — 3 M odelle Die Trennung des direkten Zusammenhangs von Finger/Hand und Mund scheint geradezu bestimmend zu werden für die Entwicklung der Neuen Musik, vor allem der Klaviermusik seit 1945 in den Werken etwa von Stefan Wolpe, Giacinto Scelsi, Pierre Boulez, Olivier Messiaen und Luigi Nono. Dort sind die Finger der Hand weniger bedeutsam im Sinne einer Verlängerung des artikulierenden, sprechenden oder singenden Mundes, sondern die Hand wird unmittelbar zum Ausdruck des ganzen Körpers eingesetzt. Damit vollzieht sich eine grundlegende Veränderung von den differenziert taktilen Artikulationsmöglichkeiten der Finger zur schlagenden Hand, welche aus dem Körper heraus perkussiv-rhythmische Patterns herausschleudert. Die Finger sind kein touchierendes Artikulationsorgan mehr, sondern taktiles Expressionsorgan des ganzen Körpers (weniger des Kopfes, obwohl dieser Musik gerade immer ihre zu einseitige Vergeistigung vorgeworfen wurde): Es ist gerade die aus dem Körper herausgepresste Ausdruckswucht der schlagenden, hämmernden und perkussiv eingesetzten Hände mit der auch latenten Gewaltanwendung gegen den Corpus des Konzertflügels. Über dieses Stück, von Wolpe, habe ich zusammen mit dem Pianisten Geoffrey Douglas Madge am Klavier eine Diskussion geführt, welche die prohibitiven Schwierigkeiten der technischen Realisierung betrifft. Es ist erstens das Problem, trotz der starken Aktivität der Fingerarbeit dies Stück aus einer übergreifenden Körperbewegung heraus zu spielen. Zweitens ist diese Körperbewegung notwendig, um der immer wieder gebrochenen Figuration eine übergeordnete Einheit des Zusammenhalts zu geben, denn sonst zerfielen die Phrasen in Einzelmomente. Drittens zeigt sich dies Prinzip der »broken sequences« einmal in der ständigen asymmetrischen Verschiebung scheinbar ostinat symmetrischer Pattern von 6/8, 7/8,6/8,5/8,6/8,5/8,9/8 etc; die Gefahr besteht darin, einen scheinbar durchlaufenden Giguencharakter im 6/8-Takt zu spielen; es müssen also die Akzentverlagerungen realisiert werden bei gleichzeitig übergreifendem Spiel aus dem ganzen Körper. Darüber hinaus ist schließlich das zu den Satzenden eintretende Delay-Verfahren der Zeitdehnung durch die überraschenden tonalen Fixpunkte eine besondere Schwierigkeit, weil hier die Körperwucht des Spielers gleichsam gewaltsam still gestellt wird. Insgesamt zeigt sich hier aber eben der entscheidende Übergang von einer oral gesteuerten Artikulation der Finger zu einer Körperbewegung, bei der die Finger/die Hand »nur noch« das Expressionsorgan des Körpers sind.

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Abbildung 2: Modell 1: Stefan Wolpe, Battle piece (1946-1948)

In einer neuerlichen Studie habe ich im Anschluss an das Konzept eines »vierten organischen Modus« (»Art der Bewegung«), wie ihn Stefan Wolpe entwickelt hat, mit Blick auf Wolpes Battle Piece den Begriff einer »Körper-Musik«26 verhandelt und dabei die spezifisch historisch-anthropologischen Bedingungen einer scheinbar anti-körperlichen Musik des Serialismus herausgearbei26  |  Martin Zenck, »Über eine schmerzende Leerstelle in René Leibowitz’ und Theodor W. Adornos Musikgeschichtsschreibung der 1930er und 1940er Jahre. Die nicht nur historische Bedeutung von Stefan Wolpes Körper-Musik und das Problem ihrer zurückdatierbaren Aktualität«, in: Stefan Wolpe II (=Musik-Konzepte. Neue Folge, Bd. 152/153), hg. von Ulrich Tadday, München 2011, dort insbesondere S. 83f. und, mit Blick auf JeanLuc Nancy, S. 85f.

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tet. Wobei der Vorwurf des Anti-Körperlichen so undifferenziert nicht aufrecht erhalten werden kann, wie etwa das »schwarze Klanggewitter« von Boulez’ Structures I, b und die Artaud-Rezeption in der zweiten Klaviersonate von Boulez zeigen. Überdies legitimiert sich ein körperkritischer Ansatz der seriellen Musik von 1951-53 durch den zu gewinnenden Abstand gegenüber dem Missbrauch des Körpers in der medialen Nazi-Ideologie. Im erwähnten Beitrag habe ich dann vor allem gezeigt, dass die Diskussion unter Berücksichtigung des Buches Noli me tangere. Auf hebung und Aussegnung des Körpers (2009) von Jean-Luc Nancy zu verlaufen hätte. Nach Nancy steht die Kultur möglicherweise zwischen dem Berührungs- und Überwältigungsbegehren des Körpers auf der einen Seite sowie einer strikten Zurückweisung eines solchen, erotischleiblich gerichteten Verlangens auf der anderen. Dass der Verweigerung dabei eine besonders intensiv orientierte Expressivität des Körpers einbeschrieben ist, versteht sich von selbst. Die Körperdiskurse in der Musik nach 1950 27 wurden erst vor dem Hintergrund einer anti-corporalen Konzeption der seriellen Musik möglich, welche sich durch ihre strikt numeralen Prinzipien der Organisation zunächst als Kritik an der Indienstnahme des Körpers, seiner Empfindungen und seiner medial geglätteten oder stählernen Medialität in der Nazi-Ideologie verstand. Eine Musik wie die serielle konnte von keinem politischen System vereinnahmt werden. Zugleich – und das wäre die zweite Voraussetzung, die bei Stefan Drees nicht berücksichtigt wird – sind selbst die höchst komplexen und intrikaten rhythmischen Proportionen von 13:12 in den frühen Klavierstücken Karlheinz Stockhausens (No. 2 Klavierstücke I, T. 6) als Zeichen von Corporalität zu lesen und vor allem zu spielen, als ein ausgeschriebenes »tempo rubato«, das vergleichbar in einigen Stücken von Chopin anzutreffen ist.28 Wenn also dort bereits eine corporale Einschreibung durch ein ausformuliertes tempo rubato zu finden ist und damit auch die strikt serielle Musik nicht jenseits der von Stefan Drees reklamierten »Körperdiskurse nach 1950« zu veranschlagen ist, so sind schließlich die auf Artauds Konzeption eines pulverisierten Phonems zurückgehende Ausbruchszone in Boulez 2. Klaviersonate (IV. Satz, S. 47, erste Akkolade: »Extrèmement vif/pulvériser le son; attaque brève, sèche, comme de bas en haut«) und vor allem dann die Zone des mit dem »schwarzen Klanggewitter« umrissenen Teils von Boulez’ Structures I,b als Ausdrucksbereiche 27 | Drees, Körperdiskurse. 28  |  Darauf machte mich seinerzeit Heinz-Klaus Metzger in einer schriftlichen Gegenrede eines »Addendum in motu contrario« zu meinem Espressivo-Aufsatz aufmerksam; vgl. Heinz-Klaus Metzger, »Addendum In motu contrario«, in: Anton Webern I (= MusikKonzepte. Sonderband), hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1983, S. 207-211, sowie Martin Zenck, »Weberns Wiener Espressivo. Seine Voraussetzungen im späten Mittelalter und bei Beethoven«, in: ebd., S. 179-206.

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einer den Körper gerade umfassend integrierenden Klanglandschaft zu verstehen. Durchaus plausibel setzt dann Stefan Drees mit der Bedeutung der Körperstimme in der Musik der 50er-Jahre ein, die etwa in Berios Tema: Ommagio a Joyce (1956) auf eine Emanzipation der Stimme aus strikt seriellen Kontexten setzt und damit zwingend die Brücke zu einem neuen Musiktheater, wie später dann vor allem in Laborintus II29 schlägt. Der systematischen Bestimmung einer thematischen Eröffnung eines »Körperdiskurses in der Musik nach 1950« bei Stefan Drees kann ich zwar zustimmen (also den ersten beiden Kapiteln »Leiblichkeit und Stimme«30 und »Der Körper im Spannungsfeld von Befreiung und intermedialem Einsatz«31), aber nur unter der Bedingung, dass sich solche Befreiungsversuche des »Körpers« von strikt numeralen Ordnungsprinzipien noch selbst innerhalb der seriellen Musik und dann im Übergang zu den Sprachkompositionen und den semi-szenischen Werken vollzieht. Die Kritik an Stefan Drees’ Buch bezieht sich also auf die historische Voraussetzungslosigkeit, mit der er die »Körperdiskurse nach 1950« anheben lässt. Ein abschließender Gesichtspunkt, der oben bereits mit Blick auf Paul Valérys Les trois corps angesprochen wurde, betriff den Begriff des Körpers oder besser seine jeweilige Vorstellung von ihm. Ohne hier seine ganze kategoriale und ethnographische Dimension zu entfalten, ist es doch zumindest für die Diskussion des Buches von Stefan Drees und für meinen hier vorgelegten Beitrag wichtig, folgende Bestimmungen des Körpers wenigstens thesenhaft zusammenzufassen. Zu unterscheiden ist zunächst der Körper als corpus, der als Leichnam, als abgestorbene res extensa, als anatomisches Skelett verstanden wird im Gegensatz zum Leib, zur organisch-vegetativ atmenden und blühenden Leiblichkeit. Darüber hinaus entsteht mit Paul Valéry und Roland Barthes die Frage, in welchem Zustand sich der Körper, über den gesprochen, der verhandelt wird, der sich selbst darstellt, zeigt: ob im Status der Ruhe (in der Pose des Stillstands, wie bei Valéry und Barthes kritisch ausgeführt, weil sich die mit dem Körper verbindbare Schönheit vollkommen anders stellt, wenn er sich in Bewegung, d.h. sich nicht in der Pose der Ruhe befindet), weiter unter den Bedingungen der »Diskontinuität« oder »Spontaneität«. Dabei ist es wichtig, Barthes’ Kritik an der Figur als Schema32 hervorzukehren, weil dabei der Kör29  |  Vgl. dazu Martin Zenck, »Von musikalischen, literarischen und wirklichen Labyrinthen. Eduard Steuermann – Pierre Boulez – Jorge Luis Borges – Luciano Berio – Markus Hechtle«, in: Neue Zeitschrift für Musik, H. 5/2013, S. 34-41; vgl. insbesondere zu »Laborintus II«, S. 38f. 30 | Drees, Körperdiskurse, S. 17-40. 31 | Drees, Körperdiskurse, S. 41-63. 32 | Vgl. zum Figur- und Körperbegriff bei Paul Valéry und Roland Barthes: Martin Zenck, »Die mehrfache Codierung der Figur: ihr defigurativer und torsohafter Modus bei Johann Sebastian Bach, Helmut Lachenmann und Auguste Rodin«, in: de figura. Rhe-

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per immer nur im Zustand der Erstarrung und nicht in der der Bewegung gesehen wird (vgl. etwa in der Plastik und Skulptur der Unterschied zwischen Canova und Rodin, wie er vor allem durch Rilke gesehen wurde). Mit Barthes können wir dann sinnvoll und zwingend auf die beiden anderen Körper von Valéry übergehen, der sich dann aus dem Zustand der Ruhe und Unbewegtheit löst und in eine »diskontinuierliche Aktivität«33 und eine »Spontaneität«34 übergeht. Dabei zeigen sich gerade seine unbeherrschbaren Züge, sein multidirektionales Heraustreten aus sich selbst – und gerade diese Züge dürften es sein, welche die Neue Musik nach 1950 dann im Bereich der Sprachkomposition, des Musiktheaters und vor allem in der performance verstärkt aufsucht. Obwohl die berühmte Rhythmus-Etüde der Mode de valeurs et d’intensités von Olivier Messiaen aus dem Jahre 1949 äußerst streng, wenn nicht seriell, so doch zwingend auch nach rhythmischen Modi organisiert ist und deswegen immer dem logischen Konstruktivismus zugeschrieben wurde, ist sie doch zugleich eine massive Befreiung der Finger von ihrer historisch gewachsenen Artikulationsfunktion. In dem Maße, wie alle Anschlagsarten (attaques) zusammen mit den anderen Ordnungsgrößen vor allem der Dynamik, der jeweiligen Zeitdauer und der Klangfarbe durchskaliert sind, wird der Spieler ihrer Extreme und ihrer graduellen Abstufung dergestalt inne, dass er sie eben nicht mehr nur aus den Fingern heraus, sondern nur noch aus dem ganzen Körper heraus spielen kann. Diese perkussiv-taktile Einschreibung im Notentext führt über den Pianisten zu einer zuschlagenden Präsenz des Körpers, der sich in dieser rhythmisierten Wucht vor allem und auch auf den Körper des Zuhörers/Zuschauers überträgt. Die sichtbare Aktion und das Zusehen beim Spielen wird dabei zu einem unverzichtbaren, weil integralen Bestandteil der perkussiven Handhabung des Klaviers. Es ist nun kein Instrument mehr des »toucher«, sondern des losgelassenen »martellare«, des Schlagens mit den Händen auf die Tastatur und auf den Klangkörper des Klaviers, der zudem insgesamt – wie auch in Luigi Nonos Klavierstück …sofferte onde serene… – als Schlagfläche, als Schlagzeug benutzt wird. Bei Messiaens Rhythmus-Etüde ist daran zu erinnern, dass sie durch Boulez’ Verwendung ihres Modus in seinen Structures Ia später dann in eine rezeptionsgeschichtliche Schieflage geraten ist. Denn weder ist die Rhythmus-Etüde in irgend einer nachweisbaren Weise seriell organisiert – sie verwendet Modi, die einen jeweils bestimmten Ausschnitt aus einem Materialreservoir umfassen und wenn dieser zwölftönig organisiert ist, dürfte dies vor allem im Vergleich mit den anderen drei Rhythtorik – Bewegung – Gestalt, hg. von Gabriele Brandstetter und Sybille Peters, München 2002, S. 267 (zu Barthes vor allem S. 277). 33 | Valéry, Einfache Überlegungen zum Körper, S. 201. 34 | Ebd.

Vom Berühren der Klaviertasten und vom Berührtwerden von Musik

mus-Etüden von Messiaen purer Zufall sein – noch behandelt Boulez diesen Modus in vergleichbarer Weise, sondern transformiert ihn in ein spezifisches Reihensystem. Darüber hinaus ist der zwingende Zusammenhang dieser weitgehend isoliert betrachteten Rhythmus-Etüde mit den anderen drei Etüden der eine Einheit darstellenden Quatre Etudes de rythme und vor allem mit dem früher entstandenen Klavierstück Cantéyodjajâ (1948/49) zu sehen, zu hören und zu spielen. Bei Messiaen kann in diesem Zusammenhang von seinem Begriff »rhythmischer Individuen« ausgegangen werden, wie er sie mit Bezug auf seine Analyse von Stravinskys Sacre du printemps entwickelt und von einem Begriff einer »rhythmischen Formation« und »rhythmischen Gruppierung« in seinem Traité du rythme abgesetzt hat. Er verweist damit auf eine grundlegende anthropologische Bedeutung des Rhythmus, wie ihn später Mesonnic im Sinne Messiaens als Zuschreibung des Rhythmus auf einen bestimmten Körper, als Einschreibung des Rhythmus in den Körper verstanden hat. Den Hintergrund solcher Überlegungen bildet das berühmte Buch Le rythme, la musique et l’éducation35 von Jaques-Dalcroze, für den der Rhythmus als Körper weder nur mechanisch noch numeral vermessbar (seriell reihend) organisiert ist, sondern Körperbilder evoziert, die bereits auf Foucault, Bataille, Klossowski und eben auf Mesonnic verweisen. Im Vergleich zwischen der zweiten Rhythmus-Etüde der Mode de valeurs et d’intensités (Darmstadt 1949) und den drei anderen Rhythmus-Etüden stellt die artikulatorisch fein differenzierte rhythmische Untergliederung der zweiten Etüde eher die Ausnahme dar, weil in ihr der Anschlag mehr noch aus der Schnellkraft der Fingerbewegung kommt als in drei anderen Etüden, in denen die entfesselte Energie des Spiels vollkommen aus dem ganzen Körper heraus erzeugt werden muss (vor allem in der Ille de feu). Einen zwingenden Zusammenhang stellt dabei der Vorgriff auf die zweite Rhythmus-Etüde in Cantéyodjajâ dar, in dem die beiden extrem verschiedenen Spielhaltungen mit- und gegeneinander kontrastieren. In jedem Fall vermittelt die jeweilige Physiologie – die des Gesangs, des Dirigierens und des Klavierspiels – eine bestimmte Körpertechnik und mit ihr verbunden ein spezifisches Körperwissen nicht nur der Musik, sondern überhaupt der anthropologischen Eigenschaft der Handhabung von Dingen. Bei der Aufführung werden durch die Organe des Körpers – der Stimme, der Hand mit oder ohne verlängernden Dirigierstab und im Klavierspiel der Hände, deren Aktivitäten sich in den Klangkörper des Konzertflügels hinein verlängern – Klänge verwirklicht, die ihrerseits auf corporal-gestische Einschreibungen des Komponisten in den Text bzw. »Noten-Text« zurück geführt werden können.

35  |  Émile Jaques Dalcroze, Le rythme, la musique et l’éducation, Paris 1920.

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Abbildung 3: Modell 3 : Luigi Nono, …sofferte onde serene…, Partitur und Formplan

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Neu hinzu kommt dann die analoge oder digitale Rückkoppelung des Klaviers mit einem Zuspielband und das Reagieren auf dieses durch den Pianisten in Luigi Nonos …sofferte onde serene…36: So hat Mauricio Pollini anhand von Vorgaben des Komponisten im Studio Klänge improvisiert, die live-elektronisch verändert und auf Band aufgenommen wurden. Dieses Tape wird an bestimmten mit »nastro« bezeichneten Stellen der Partitur dem Pianisten im Konzertsaal zugespielt, während dieser die Partitur vorträgt. Der Pianist kommt also mit seiner eigenen auf Band aufgenommenen Taktilität in Berührung, reagiert mit seinen Fingern und Händen auf das Zuspielband, soweit dies der Spielraum des Notentextes zulässt. Zwar sind beim Zuhören und beim Zusehen die teils elektronisch verfremdeten Klavierklänge des Tapes als solche erkennbar, es entsteht aber ein verwirrendes Ineinander von Live-Spiel und Tonband. Das Instrument wird zu einem Super-Klavier mit unerhörten Klängen, welche zusätzlich über die beiden Lautsprecher im Konzertsaal übertragen werden. Zu hören sind quasi improvisierte tremoloartige Klangeruptionen mit starken, verfremdeten Bass- und Discant-Frequenzen sowie gleichsam sub-terrestrische und chtonische Klänge, wie sie – elektroakustisch bearbeitet – aus dem Schlagen mit den Händen auf dem Konzertflügel hervorgehen. Hier sind ineinander gebrochen die taktilen Aktionen auf der Tastatur mit denjenigen der Schlaghand am Corpus des Konzertflügels und mit denjenigen der verzerrten Klänge, welche auf den Pianisten und das Publikum in einem multidimensionalen und rotierenden Klangraum zu bewegt werden. Der Zuschauer/Hörer im Konzertsaal sitzt nicht frontal zum Konzertpodium, von dem der Klang herkommt, sondern inmitten dieser rotierenden Klangbewegung. Die Taktilität der Aktion überträgt sich direkt über den Transmitter der Luft auf ihn.

S ynästhesie und Ü bertr agung : A ustausch und K omplementarität der S inne ? Seit dem von Leonardo da Vinci ausgehenden Paragone-Streit37 geht es um die spezifischen Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen der einzelnen Sinne in den verschiedenen Künsten und Medien. Obwohl der visus, der Gesichts36 | Vgl. zur Analyse und Interpretation von …sofferte onde serene… ausführlich: Martin Zenck, »Nono – Mozart. Das Verstehbare und Nicht-Verstehbare ihrer Kunst«, in: Kunst verstehen – Musik verstehen. Ein interdisziplinäres Symposion, hg. von Siegfried Mauser (=Schriften zur musikalischen Hermeneutik, Bd. 3), Laaber 1993, S. 218-226. 37  |  Vgl. Hans Körner, »Paragone der Sinne. Der Vergleich von Malerei und Skulptur im Zeitalter der Aufklärung«, in: Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung. Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt a.M., 22. August 1999 bis 9. Januar 2000, München 1999, S. 365-378.

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sinn, auf Grund seiner Augenzeugenschaft, dem »testo«38, und wegen seiner Untäuschbarkeit für die philosophische Erkenntnis privilegiert erschien, wurde er nicht ausschließlich von der Malerei thematisiert. Im Gegenteil: im Zuge einer Ästhetik des Wahrscheinlichen wurde gerade mit dem trompe d’oeil gespielt und in der barocken Allegorese wurden vor allem auch andere Sinne in den Diskurs der Sinnlichkeit einbezogen. An die Stelle einer Hierarchisierung der Sinne trat ein System von Komplementarität, das nicht selten auf die je anderen Sinne verwies, genauer auf die Möglichkeit der Übergängigkeit des einen Sinns in den anderen. Ob dieser Diskurs der Sinne innerhalb einer Archäologie der Sensationen eher auf das Konstrukt einer umfassenden Aisthesis zurückzuführen ist oder eher auf einer ausweisbaren Annahme einer Synästhesie beruht oder sich schließlich einer Übertragungsleistung der Vorstellung und Einbildungskraft verdankt, durch deren Tätigkeit eben erst die einzelnen Sinne miteinander verbunden werden, mag hier offen bleiben. Grundlegend scheint mir aber der Zusammenhang zwischen der barocken Topik der allegorisierten Sinne und der wissensgeschichtlichen Aktualität einer solchen Topik in der gegenwärtigen Diskussion der Aisthesis.

Abbildung 4: Jan Breughel der Ä./Peter Paul Rubens, Allegorie auf Geschmack, Tastsinn und Gehör, 1618, Madrid, Prado

So ist die Darstellung der drei Sinne – des Geschmacks, des Tastsinns und des Gehörs – in Jan Breughel des Ä./Peter Paul Rubens Allegorie auf den tactus, gustus und auditus nicht nur eine Würdigung der jeweiligen einzelnen Sin38 | Leonardo, Trattato della pittura (nach 1498?). Introduzione e apparati a cura di Ettore Camesasca, Milano 1995 (vgl. dort den Zusammenhang von »viso«, »testo« und »gusto«).

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ne39, sondern thematisiert gerade die Übergängigkeit und Übertragungsfähigkeit zumindest zweier Sinne. Dem ungeübten Auge stehen sich auf der linken Bildseite die auf den Gehörsinn gerichtete Musik und im Streicheln eines Hermelinfells der Tastsinn des Gefühls einander gegenüber. Verstärkt wird der auditus dann vor allem durch die Klangmöglichkeiten, die zur gespielten Laute mit dem geöffneten Cembalo und den Violinen und Violen hinzukommen. Entscheidend scheint mir aber der Zusammenhang zwischen dem taktilen Schlag des Lautenisten und der mit der linken Hand gegriffenen Akkorde mit dem tastenden Sinn von Hand und Arm, die beide den Hermelin streichelnd kosen. Hier ist also der intime tactus, das erotische Gefühl (man denke auch an Rubens Bild der Dame mit dem Pelzchen) über das taktile Spiel der Laute mit dem Gehörsinn der Musik verbunden. Ohne diesen Diskurs der Sinne des 17. Jahrhunderts in der barocken Topik hier weiter zu verfolgen, kann zumindest über die lange Geschichte synästhetischer Wirkungen bis heute so viel gesagt werden, dass wir nach den verschiedenen turns, auch des performativen und corporalen, der sich in der »Wiederkehr des Körpers« abzeichnet, auch gegenwärtig eine intensive Aufarbeitung der Sinnesleistungen als Teil unserer Erkenntnisfähigkeit beobachten können. Der trans-epochale Zusammenhang zwischen der barocken Topik und einer umfassenden Aisthesis, wie sie in letzter Zeit vor allem von den Kulturwissenschaften, etwa von Gernot40 und Hartmut Böhme41 in den Blick genommen wurde, hat ihre Ursache nicht nur in einer wissensgeschichtlich bis dahin verdrängten Körpergeschichte, sondern nicht zuletzt in der transversalen Sinnlichkeit der Künste selbst. Es sind also die Künste selbst, der Paragone des 16. und 17. Jahrhunderts und das Prinzip der Intermedialität, welche den Diskurs der Sinne jeweils angestoßen und durchgeführt haben. Wie die barocke Allegorese der Sinne ihre jeweilige 39  |  Vgl. Ronald Kanz, der sich in der Bildinterpretation ganz auf den gusto konzentriert (Ronald Kanz, Malerei als Augenschmaus. Der »gute« Geschmack und die Allianz der Sinne in der Kunst des Barock (=Düsseldorfer Kunsthistorische Schriften, Bd. 3), Düsseldorf 2001, S. 25-30; vgl. unter der Perspektive der Auftragsgeber, dessen Reichtum an Gegenständen, betrachtbaren und essbaren, auszustellen waren: Barbara Welzel, »Barocke Leidenschaften in neuzeitlichen Sammlungen«, in: Peter Paul Rubens. Barocke Leidenschaften. Herzog Anton-Ulrich Museum Braunschweig. Kunstmuseum des Landes Niedersachsen, hg. von Nils Büttner und Ulrich Heinen, München 2004, S. 73f. 40  |  Vgl. Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a.M. 1989; vgl. ders., Atmosphäre, Frankfurt a.M. 1995, vgl. dazu auch neuerdings Martin Zenck: »Atmosphäre – eine ästhetische Kategorie der Unbestimmtheit?«, in: Atmosphäre(n) II, hg. von Rainer Goetz und Stefan Graupner, München 2012. 41 | Vgl. Hartmut Böhme, insbesondere zur Thematik der Taktilität: »Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. Anthropologische und historische Ansichten vorsprachlicher Aisthesis«, in: Anthropologie, hg. von Gunter Gebauer, Leipzig/Stuttgart 1998, S. 214-225.

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Überschreitung im Blick hat, so richten sich nun die einzelnen Künste auch auf die Wahrnehmungsformen aus, die bisher den anderen Künsten und Medien vorbehalten schienen: Musik kann gesehen und berührt werden, Bilder werden haptisch wahrgenommen wie Skulpturen, die Bilder von Vermeer oder Caravaggio können still oder schreiend wie die Musik sein; die live-elektronische Musik von Luigi Nono, Installationen und Klanginstallationen sind Projektionsräume einer umfassenden Sinnlichkeit. Auf alle Sinne bezogen ist das bisherige Gesamtwerk von Helmut Lachenmann. Verstärkt wird dort die Taktilität nicht nur durch das Perkussive, sondern vor allem durch Druckverhältnisse, durch Aggregatszustände, die ein Ton oder ein Klang durch den Spieler erfährt. Nicht zufällig heißt eines für dieses Thema der Taktilität zentrale Werk Pression für einen Cellisten, in dem unterschiedliche Druckverhältnisse vom Flageolett, der leichten Berührung der Saite mit der Griff hand bis zum hart bürstenden Strich auf der Saite ausprobiert werden und sich nicht nur akustisch-taktil auf unsere Haut übertragen, sondern uns vor allem auch optisch durch das Zusehen bei der Performance berühren. Eine wahre Wunderkammer der Sinne scheint mir schließlich Lachenmanns musiktheatrales Werk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern 42 zu sein, in dessen asymmetrisch versetztem Herzstück …Zwei Gefühle… Musik mit Leonardo der geschichtlich übergreifend taktile Zusammenhang von der oralen Artikulation über die Stöße der glossa bis hin zu den unterschiedlich dichten Klangaggregaten thematisch sind, die sich direkt haptisch auf den Haut- und Tastsinn übertragen. Gehört wird mit allen Sinnen, vor allem aber taktil mit der Haut, mit dem auch, was unter die Haut geht. Der Paragone wurde entscheidend durch Leonardos Trattato della pittura ausgelöst. Es scheint kein Zufall zu sein, dass gerade dieser Autor wieder in der Spannung von verlangender und angstbesetzter Erkenntnis durch die Sinne im verschobenen Zentrum von Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern steht.

42 | Vgl. dazu Martin Zenck, »am abgrund. Heinz Holligers Schneewittchen und Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, in: Neue Zeitschrift für Musik 1/2006, S. 42-50, und ders., »Tasten-tasten. Körpermusik und gestische Schrift in Klavierwerken von Wolfgang Rihm und Pierre Boulez«, in: Neue Zeitschrift für Musik, 4/2006, S. 46-52.

Ist Mister Utterson musikalisch? Über Gesicht, Gefühl und Mienenspiel beim Musizieren oder: 20 Blicke auf die Musikalische Mimik Wolfgang Rüdiger

1. S prechende G esichter und die F r age nach der musik alischen M imik »Mister Utterson, der Anwalt, war ein Mann mit einem charaktervollen Gesicht, das nie von einem Lächeln erhellt wurde; er war leidenschaftslos, unzugänglich, im Gespräch verlegen und jeder Gefühlsäußerung abhold, mager, lang, verstaubt und düster, und doch war er irgendwie liebenswert. Bei freundschaftlichen Zusammenkünften und wenn der Wein seinem Geschmack entsprach, strahlte etwas wie tiefe Menschlichkeit aus seinen Augen; etwas, das nie in seinem Gespräch zum Ausdruck kam, das sich aber nicht nur in diesen schweigenden Symbolen seines After-Dinner-Gesichtes zeigte, nein, öfter noch und lauter aus seiner Lebensführung sprach.«1

Innerhalb der Theorie und Praxis des musikalischen Körpers, die die Körperhaftigkeit von Musik mit der Musikalität des Interpretenkörpers verbindet,2 nimmt das Gesicht eine Sonderstellung ein. Es ist der exponierteste, sensorisch reichhaltigste, subtilste, individuellste und expressivste Teil des musikalischen Körpers, der auch dann noch spricht, wenn der Rest schweigt, ruhig gestellt oder gelähmt ist, und dessen Informationen sich »von jenen des Körpers unterscheiden können«,3 ja zumeist mehr kundgeben als die Sprache des 1  |  Robert Louis Stevenson, Dr. Jekyll and Mister Hyde (1886). Novelle, aus dem Englischen übersetzt von Hermann Wilhelm Draber, Stuttgart 2008 (revidierte Ausgabe 1984), S. 3. 2 | Vgl. Wolfgang Rüdiger, Der musikalische Körper. Ein Übungs- und Vergnügungsbuch für Spieler, Hörer und Lehrer, Mainz 2007. 3  |  Paul Ekman/Wallace V. Friesen/Phoebe Ellsworth, Gesichtssprache. Wege zur Objektivierung menschlicher Emotionen, Wien/Köln/Graz 1974, S. 10.

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Körpers. Während Metrum und Rhythmus, nach Elias Canetti, in den Füßen und Beinen wurzeln,4 ist das Gesicht – sofern nicht maßlos überschminkt, verschleiert oder maskiert, verletzt oder »verloren«5 – omnipräsenter Schauplatz der Gefühle, universal sichtbar, offen-kundig und geheimnisvoll, faszinierend und verwirrend zugleich, Ort der Atmung und Nahrungsaufnahme sowie Sitz reichen »sensorischen Inputs« (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken) und »kommunikativen Outputs«: Lautgestik und Mienenspiel, Vorläufer von Sprache und Gesang, haben hier ihren Ort von Geburt an. Dabei sind die Muskeln des Gesichts so ungeheuer rasch beweglich und so »komplex beschaffen, daß sie Tausende von Ausprägungen der Gesichtserscheinungen zustande bringen«.6 In ihnen spiegeln sich, oft im Verbund mit anderen Ausdruckssignalen, Gefühle, Stimmungen und Persönlichkeitsmerkmale, Lebensalter und Laster, Krankheit und Gesundheit, Individuelles und Allgemeines, unwillkürlich oder willentlich gesteuert, biologisch und sozial determiniert zugleich, sodass verwirrende Vieldeutigkeit herrscht und Verstehen schwer fällt – verwandt in all dem der Musik und dem Musizieren, für die Ähnliches gilt. Wie Musik ist das Gesicht, besser: die Mimik, eine Zeitkunst in der späten Prägung einer Partitur, voll Identität und Wandel, mit Lichtenberg zu sprechen: »Aus einem Augenblick läßt sich kein Gesicht beurteilen, es muß eine Folge da sein.« 7 Die fundamentale Verbindung von Musik und Mimik gründet nach Adorno, von dem der Begriff »musikalische Mimik« stammt, in einer gemeinsamen anthropologischen, genauer: magisch-rituellen Wurzel beider Bereiche: »der Musik als solcher wohnt das Mimische inne. […] Musik ist das Echo des animistischen Schauers, Mimikry ans unsichtbare, gefürchtete Mienenspiel der Naturgottheit.« Sie ist zutiefst »mimisch insofern, als bestimmte Gesten, ein bestimmtes Spiel der Gesichtsmuskulatur an sich notwendig musikalischen Klang ergibt, Musik ist gewissermaßen die akustische Objektivation des Mienenspiels, die von diesem vielleicht überhaupt erst historisch sich getrennt hat. Wenn ›ein Schatten über ein Gesicht zieht‹, ein Auge sich aufschlägt, Lippen sich halb öffnen, so steht das dem Ursprung der Musik am nächsten.« 8

4  |  Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht (1960), Frankfurt a.M. 1991, S. 28ff. 5  |  Vgl. Jonathan Cole, Über das Gesicht. Naturgeschichte des Gesichts und unnatürliche Geschichte derer, die es verloren haben, München 1999. 6  |  Ekman et al., Gesichtssprache, S. 12. 7  |  Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, hg. von Franz H. Mautner, Ausgabe Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1984, S. 284 [= F 646]. 8 | Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata, hg. von Henri Lonitz, Frankfurt a.M. 2001, S. 223 und 237.

Ist Mister Utterson musikalisch? Über Gesicht, Gefühl und Mienenspiel

Verknüpfen wir die noch näher zu untersuchende These einer ursprünglichen Einheit von Musik und Mimik mit der Tatsache, dass sich im Gesicht des Menschen die Fülle der Emotionen spiegelt, die wiederum, nach älteren und neueren Theorien, zu den Definitionsmerkmalen von Musik und Musikalität in unserem Kulturkreis gehören,9 so ist die Hypothese nicht ganz abwegig, dass Mr. Utterson, die Hauptfigur in Stevensons Dr. Jekyll and Mister Hyde, mit seinem schweigenden Gesicht, bar jeden Licht- und Schattenspiels, nicht musikalisch oder zumindest keines musikalischen Ausdrucks fähig ist, vom stehenden Quintglanz einer »tiefen Menschlichkeit« in seinen Augen vielleicht abgesehen. Zu leicht jedoch täuscht der vordergründige Eindruck. Das menschliche Gesicht ist ein zu komplexes, vieldeutiges, trügerisches Gebiet, als dass vorschnelle Zuordnungen erlaubt wären. Das personifizierte Gegenteil von Mr. Utterson, der mimisch hypermobile Dodo in Bruno Schulz’ gleichnamiger Erzählung, macht dies in aller Schärfe deutlich: »Manchmal gelang es ihm auch, das Gespräch noch […] länger hinzuziehen, […] und zwar dank des Vorrates an ausdrucksvollen Mienen und Gesten, über die er verfügte. Sie leisteten ihm wegen ihrer Mehrdeutigkeit universale Dienste, füllten die Lücken in der unartikulierten Rede aus und riefen durch ihre lebendige, mimische Ausdruckskraft die Suggestion einer sozusagen vernünftigen Resonanz hervor. Das war jedoch eine Täuschung, die bald zerstob, und die Unterhaltung brach kläglich zusammen, während sich der Blick des Gesprächspartners langsam und nachdenklich von Dodo abwandte, der – sich selber überlassen – wiederum auf dem Hintergrund der allgemeinen Konversation in die ihm eigene Rolle eines Statisten und passiven Beobachters verfiel.«10

Mitnichten erweist sich das bewegte Antlitz Dodos als offenbare Zeichensprache eines musikalischen »Tragöden voll Wissen und Trauer um alle Zeiten«11 sondern als Folge einer Gehirnkrankheit im Kindesalter. In weniger extremen, mehr alltäglichen Fällen könnte die lebhafte Mimik eines Erwachsenen auch als bewusste Vortäuschung von Gefühlen, ja als Lüge entlarvt werden, denn das »Vorhandensein eines emotionalen Ausdrucks allein beweist noch nicht 9  |  Vgl. dazu u.a. Heiner Gembris, Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung, Augsburg 1998, S. 79ff., S. 44 und S. 95ff.; Inge Cordes, Der Zusammenhang kultureller und biologischer Ausdrucksmuster in der Musik, Münster 2005, S. 16ff. sowie Richard Parncutt und Annekatrin Kessler, »Musik als virtuelle Person«, in: Bernd Oberhoff, Sebastian Leikert (Hg.), Die Psyche im Spiegel der Musik. Musikpsychoanalytische Beiträge, Gießen 2007, S. 217ff. und S. 233ff. 10 | Bruno Schulz, Dodo, in: Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen, Frankfurt a.M. 1981, S. 271. 11 | Schulz, Dodo, S. 273.

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das Vorhandensein einer Emotion«, geschweige denn eines musikalischen Gefühls, für das wie für Emotionen generell »eine Merkmalsmenge« von einander unterstützenden Erkennungssignalen erforderlich ist12 – wie sie, anders als bei Dodo, in seltener Überfülle dem begnadeten Sänger Jonah Strom in Richard Powers’ Roman Der Klang der Zeit gegeben ist, dessen bewegtes Mienenspiel mit hoher Musikalität zusammenfällt: »Das Gesicht meines Bruders war ein Schwarm Fische. Sein Lächeln ein Gewimmel von hundert verschiedenen Dingen.«13 Da die simple dichotomische Zuordnung »kein Mienenspiel = kein musikalisches Gefühl« und »viel Mimik = viel Ausdruck« also nicht oder nur bedingt greift, fragen wir uns: Wie verhalten sich Gesicht, Gefühl und Mienenspiel beim Musizieren zueinander, wie viel Gesichtsausdruck muss, wie wenig darf sein? Wie weit erstreckt sich das Spektrum musikalischer Gesichter, und wie gehen wir als Musiker und Musiklehrer damit um? Gibt es so etwas wie ein »Gesicht der Musik«, und worin gründet es? Und gibt es eine Verbindung zwischen unseren alltäglichen, empirischen Gesichtsausdrücken und der ästhetischen Mimik beim Musizieren? Kann man auch mit einem ruhigen Gesicht bewegt musizieren, ja ist Mister Utterson vielleicht doch musikalisch? Mit diesen Fragen konzentrieren wir uns vornehmlich auf das Verhältnis von Gesicht und Gefühl beim Musizieren und grenzen unser Thema weitgehend von all jenen Gesichtsausdrücken ab, die wenig mit Emotionen zu tun haben, vielmehr andere musikalische Aufgaben erfüllen: Genannt sei der Ausdruck von Aufmerksamkeit beim Zusammenspiel, das stumme Signalisieren von Einverständnis durch Augenbrauenheben, Zuzwinkern o.Ä.; das Markieren musikalischer Phrasen, das Unterstreichen von Akzenten, die Illustration der Klang-Rede insgesamt oder schließlich jene gesangs- und spieltechnisch notwendigen Muskelbewegungen, die die emotionale Mimik ggf. einschränken oder steigern. Wenn Cecilia Bartoli z.B. ihre Unterlippe vorstülpt, so ist dies nicht unbedingt ein emotionaler Ausdruck von Trauer, sondern kann allein der Klanggestaltung geschuldet sein – ein Glücksfall, wenn beides zusammenfließt. Wie das Verstehen von Gefühlen allgemein, hängt m.E. auch das Verstehen musikalischer Emotionen in Werk, Wiedergabe und Wirkung »von einem umfassenden Verständnis des Gesichts« ab.14 Und dies ist das Ziel meiner Ausführungen zum Mienenspiel beim Musizieren in 20 verweilenden bis schwei12 | Paul Ekman, Gesichtsausdruck und Gefühl. 20 Jahre Forschung von Paul Ekman, Paderborn 1988, S. 164; zum Thema Täuschung vgl. auch Paul Ekman, Weshalb Lügen kurze Beine haben. Über Täuschungen und deren Aufdeckung im privaten und öffentlichen Leben, Berlin/New York 1989. 13 | Richard Powers, Der Klang der Zeit (original The Time of our Singing, New York 2003), Frankfurt a.M. 42005, S. 21. 14  |  Ekman et al., Gesichtssprache, S. 147.

Ist Mister Utterson musikalisch? Über Gesicht, Gefühl und Mienenspiel

fenden Blicken: musikalische Emotionen und ihren mimischen Ausdruck besser zu verstehen und auszuschöpfen, um intensiver, expressiver, wirkungsvoller, musikalischer zu musizieren. Doch hat auch dies seine natürliche Grenze. Denn keiner kennt und sieht sein eigenes Gesicht in actu. Also schauen wir uns andere an.

2. D er A usdruck von G efühlen im G esicht

Abbildung 1: Emotionaler Gesichtsausdruck

Abb. 1 zeigt sieben Gesichter, die fundamentale Emotionen ausdrücken, und dies auf nahezu gleiche Weise in allen schriftlichen und schriftlosen Kulturen – so das Ergebnis der langjährigen Mimik-Forschung von Paul Ekman und seinen Mitarbeitern.15 Diese kulturinvarianten, weltweit gleichen charakteristischen Formen des Ausdrucks von Gefühlen im Gesicht – ihre Zahl ist umstritten, die ersten sechs werden am häufigsten genannt – sind Teil unseres biologischen Erbes und werden von einem Gesichts-Affektprogramm gesteuert, dessen Auslöser, Bewertungsformen, »Darbietungsregeln«16 und Bewältigungsstrategien von Kultur zu Kultur verschieden sind. Der grundlegende Gefühlsausdruck im Gesicht ist bei allen grundsätzlich gleich, doch in welcher Intensität er auftritt und »wer welches Gefühl in welcher Situation wem gegen15  |  In: Philip G. Zimbardo/Richard J. Gerrig, Psychologie, 7., neu übersetzte und bearbeitete Auflage Berlin u.a. 1999, S. 362, Abbildung 8.2. 16 | Ekman, Gesichtsausdruck, S. 21 und S. 30f.

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über zu welchem Zeitpunkt zeigen darf« und wie,17 ist eine Frage der kulturellen Prägung, Sozialisation und Erziehung. Die ausführlichen Beschreibungen, die Ekman für pankulturelle »Erscheinungsveränderungen des Gesichts bei sechs Gefühlen« gibt (Überraschung, Angst, Ärger/Wut, Ekel, Trauer, Glück/ Freude), sind das Ergebnis wissenschaftlicher Messungen nach der von Ekman und Mitarbeitern entwickelten »Technik zum Kodieren von Affekten im Gesicht« (FAST); sie gliedern sich in die drei klar unterscheidbaren Bereiche Augenbrauen/Stirn, Augenlider und unteres Gesicht. Imitieren wir mit sensibler Selbstwahrnehmung und Einfühlung der Reihe nach einen jeden der sieben Ausdrücke und imaginieren bzw. intonieren dazu entsprechende vokal-melodische Lautgesten, Klänge und Gesänge, so ergeben sich aller Wahrscheinlichkeit nach eindeutige, intersubjektiv gültige Zuordnungen von Sehen und Hören bzw. Gesicht und Lautausdruck: Mit glücklichem Lächeln verbinden wir einen deutlich anderen Tonfall als mit dem Antlitz der Trauer, das Schnauben der Wut unterscheidet sich klar von der »hörbaren Mimik«18 der Angst. Diese funktionelle Koppelung von Gesicht und Gehör bzw. Mimik und Stimmklang hat verschiedene (musik-)historischkulturelle und biologische Gründe. Hier seien zunächst einige historische Aspekte der diffizilen Korrespondenz von musikalischem Gefühlsausdruck und Gesicht angedeutet. Vor allem vier der hier abgebildeten und angeklungenen Basisemotionen: Freude und Traurigkeit, Furcht und Zorn sind es, die in verschiedenen vokalinstrumentalen Gattungen und Gewändern die Musikgeschichte vom Barock bis heute prägen. Die musikalische Rhetorik, Affektenlehre und Vortragspädagogik des 18. Jahrhunderts – bei Mattheson, Marpurg, Quantz u.a. – ordnet ihnen grundlegende, vielfach körpergestisch vermittelte musikalische Darstellungsmittel zu, die weit bis ins 19. Jahrhundert, ja in gewissem Sinne bis heute Gültigkeit besitzen,19 ähnlich wie der fundamentale Gefühlsausdruck im Gesicht jenseits aller historischen Wandlung und kulturellen Prägung über Zeiten und Räume hinweg gleich bleibt. Die kulturellen und ästhetischen Produktions- und »Darbietungs«-Regeln indes, sprich: Kompositionsverfahren und Vortragsregeln, ändern sich und schreiten fort, und mit ihnen die Wandlungsfähigkeit und Differenziertheit der musikalisch kodierten und einkomponierten Emotionen. Herrscht im Barockzeitalter z.B. weitgehend eine 17  |  Ebd., S. 30f. 18  |  Die Bezeichnung stammt von Ivan Fónagy, »Hörbare Mimik«, in: Phonetica. Internationale Zeitschrift für Phonetik, Vol. 16, 1/1967, S. 25-35; vgl. dazu Cordes, Der Zusammenhang, S. 19f. 19 | Vgl. Rüdiger, Der musikalische Körper, S. 84ff. und ders., »Eine Folge von Tönen aus leidenschaftlicher Empfindung. Wie Gefühle in die Musik hinein- und wieder herauskommen«, in: Üben & Musizieren 6/2008, S. 8-13.

Ist Mister Utterson musikalisch? Über Gesicht, Gefühl und Mienenspiel

affektive Eindeutigkeit und »Objektivität« im Gefühlsausdruck eines Satzes oder Werkes, so bilden schnell wechselnde subjektive, gemischte und ambivalente Gefühle das Merkmal von Musik und musikalischem Empfinden etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts und bringen einen musikalischen Mienen-, Gesten- und Gestaltenreichtum hervor, der in Mozarts Werk kulminiert und sich bei Beethoven, Schubert und im fortschreitenden 19. Jahrhundert auf das Subtilste ausdifferenziert und ausweitet. Vergegenwärtigen wir uns die Spannweite mimisch-musikalischer Ausdrucksformen an einigen prägnanten Opern-Charakteren Mozarts, in denen sich das ganze Spektrum direkter bis diskreter Mienen widerspiegelt. In der so genannten Marter-Arie des Osmin (in Die Entführung aus dem Serail) zieht Mozart alle musikalischen Register zornig erregten, ja wütenden Sprechens bzw. Singens.

Notenbeispiel 1: W. A. Mozart: Die Entführung aus dem Serail, Marter-Arie

Osmin singt sich in Rage, gerät außer sich vor Zorn und explodiert förmlich vor Wut: in hohem Tempo, erhöhter Stimmlage, starken Tonhöhenschwankungen, Staccato-Hieben, kurzatmigen Betonungen und abrupten, schreienden Ausschlägen nach oben gegen den Takt, gewaltig in Stimm- und Orchesterdynamik, mit geballten Fäusten gleichsam, rollenden Augen und schäumendem

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Mund.20 Eine entsprechende Mimik aus wenig späterer Zeit, eindeutig wie die Musik, zeigt die Zeichnung in Abb. 2.21

Abbildung 2: Charles Bell: Rage (1806)

Anders, komplizierter schon und ambivalenter zeichnet Mozart die Figur des Belmonte in dessen A-Dur-Arie, 1. Aufzug, Nr. 4. Das Herzklopfen der Liebe enthält hier Anteile von Furcht und Liebesfeuer gleichermaßen und indiziert eine Mischung zweier Emotionen, deren Elemente sich auch im Gesichtsausdruck widerspiegeln. Noch vielschichtiger und differenzierter, verhaltener und beherrschter stellt sich die musikalisch-emotionale Mimik der Gräfin in der Vergebungsszene am Ende von Die Hochzeit des Figaro dar. Ihre Liebe zum untreuen Grafen erweist sich, ganz im Sinne von Adam Smith, als eine reife Mischung von Gefühl und Humanität, Großzügigkeit und Achtung. Existieren zwar noch, so sagt und suggeriert es die Musik, Restbestände von Zorn und Zweifel – leerer Quintsprung zum Sextakkord im Gegensatz zur selbstgefällig-satten Gefühlssexte des Grafen – sowie Trauer (im Trugschluss), so überwiegen doch bei weitem die Momente von Zärtlichkeit und inniger Verbundenheit (Vorhaltsbildung und ausgreifend kreisende Melodiebewegung) und offenbaren, umgekehrt proportional zu Osmins ungehemmtem Zornesausbruch, ein komplexes 20  |  Zum vokalen Emotionsausdruck vgl. Astrid Paeschke, Prosodische Analyse emotionaler Sprechweise, Berlin 2003, S. 226ff. 21  |  Aus: Charles Bell, Essays on the Anatomy of Expression in Painting, London 1806, Fig. 16, S. 139.

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musikalisch-emotionales Gefüge von Gefühlsmischungen und geistigen Werten, innerer Haltung und gefasstem äußerem Verhalten, deren Zusammenspiel sich mimisch weder abbilden noch erkennen lässt und nur in der Musik vernehmbar ist, die weit über jede empirisch reale Mimik hinausweist.

Notenbeispiel 2: W. A. Mozart, Die Entführung aus dem Serail, Arie des Belmonte

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Notenbeispiel 3: W. A. Mozart: Die Hochzeit des Figaro, Finale, Gräfin

Dass wir es heute in Kunst und Alltag weniger mit einer emotionalen Eindeutigkeit und Direktheit des Gefühlsausdrucks à la Osmin, sondern zumeist mit schwankenden, fluiden, verwirrenden Emotionsmischungen zu tun haben, denen wir, je nach Haltung, verschieden Ausdruck geben können, hat seinen Grund wahrscheinlich neben vielen anderen Faktoren auch in der Wirkungsgeschichte mimisch-gestisch hoch differenzierter bis »vergeistigter« Musik als Ausdruck komplexer moderner Subjektivität, deren körperhaft biologische Wurzeln im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts vielfältig kulturell und kompositorisch überformt und in subtilste Nuancen verfeinert worden sind, die uns bis heute mit allen positiven und negativen Folgen prägen. Die etlichen Vermischungen und Schwankungen, Überblendungen und Wandlungen verwandter bis widersprüchlicher Gefühle, die wir heute allenthalben erleben und erleiden und in den Griff zu bekommen versuchen, ohne an Lebendigkeit zu verlieren, spiegeln sich auf verschiedene Weise in unserem Gesicht. Das Spektrum reicht von der Gleichzeitigkeit verschiedener Emotionen über schnell wechselnde, emotional widersprüchliche Mienenspiele und gekappte, d.h. unterbrochene und überdeckte Ausdrücke bis zu flüchtig aufblitzenden Mikro-Expressionen wie z.B. einem kaum wahrnehmbaren Anflug von Trauer auf einem lächelnden Gesicht. In den »Dutzende(n) von Ausdrucksarten des Lächelns«, dem am meisten verbreiteten Mittel der Tarnung und Maskierung, kommt diese Vielfalt der Emotionsmischungen sinnfällig zum Ausdruck.22 Abb. 3 zeigt eine Kombination von Überraschung und Angst mit einer deutlichen Kombination von Ausdruckselementen beider Emotionen im Gesicht.23

22 | Vgl. Ekman, Weshalb Lügen kurze Beine haben, S. 102ff. und S. 121ff. 23 | Nach Ekman, Gesichtsausdruck und Gefühl, Tabelle 4.2, S. 156. Vgl. auch Powers, Der Klang der Zeit, S. 689: »Wut und Gleichgültigkeit lieferten sich eine erbitterte Schlacht auf seinem Gesicht« – oder das zwischen aufkeimendem Glücksempfinden und tiefgreifender Unsicherheit und Angst schwankende Gesicht von Frank Wheeler in der Frühstücksszene am Ende von Richard Yates’ Zeiten des Aufruhrs, München 2008, S. 318f. (original Revolutionary Road, Boston 1961), kongenial verkörpert von Leonardo DiCaprio in der gleichnamigen Verfilmung des Romans von Sam Mendes, USA 2008.

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Abbildung 3: Überraschung und Angst

Ein prägnantes musikalisches Beispiel für die Verwandtschaft von Freude und Traurigkeit in der Liebe (von Mattheson bereits 1739 beschrieben) finden wir in Franz Schuberts Lied Lachen und Weinen op. 59 Nr. 4, dessen musikalisch-mimische Darbietung vom Doppelschlag des Vorspiels bis zur neapolitanischen Einfärbung des Abendscheins (Fes-Dur/E-Dur etc.) die Gesichter von Interpreten und Hörerinnen zum Mitleuchten und »Lächelnweinen« einlädt. Im Lichte unserer Ausführungen erweist sich hier wie oft Franz Schuberts Enharmonik als musikalische »Enharmimik.« In allen diesen Beobachtungen zeigt sich die ganze Komplexität unseres Themas. Eine 1:1-Zuordnung von komponiertem Gefühlsausdruck und Gesicht gibt es nur in den seltensten Fällen. Und auch wenn scheinbar emotionale Eindeutigkeit vorherrscht, muss sich dies nicht in der Mimik spiegeln. Dem musikalischen Zornesausbruch des Osmin verwandte Werke wie Beethovens Wut über den verlorenen Groschen op. 129 – nach Schumann eine »Schnurre«, »liebenswürdigste, ohnmächtigste Wut« – oder Cori­ún Aharoni­áns radikales

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Klavier­stück ¿Y Ahora? (Und was nun?) von 1984, dessen Anfangsgeste »wie mit Wut« einen politisch motivierten Aufschrei formuliert, verlangen eher eine ironische bis distanzierte Haltung, mit rational gebändigter, reflektierter Wut und symbolisch geballten Fäusten. Ähnliches gilt für die objektive Darstellung barocker Affekte wie für Werke zeitgenössischen kritischen Komponierens, die einen anderen Umgang mit Gefühlen – jenseits subjektiver Kundgabe – und das Ausdruckskonzept eines aufklärerisch distanzierten Zeigeverhaltens verfolgen.24

3. G esicht und S timme Worin aber gründet das Phänomen, dass bei aller Differenzierung bestimmte Musik doch offensichtlich mit einem entsprechend bewegten Mienenspiel verbunden ist, das sie hervorruft und möglicherweise gar verlangt? Wie kommt es, dass Mimik die Assoziation von Klang erweckt, nach Adorno »ein bestimmtes Spiel der Gesichtsmuskulatur an sich notwendig musikalischen Klang ergibt«? Mehrere Theorien geben darauf eine Antwort, auf einige davon gehe ich im Folgenden ein: a) entwicklungspsychologische, die »Ontogenese des Affektausdrucks«25 betreffend, b) (bio-)phonetische, die den Zusammenhang von Stimmausdruck und Gesicht belegen, und c) phylogenetische, denen zufolge Musik und Sprache aus Gestik und Gebärdensprache hervorgegangen sind. Zu a): Entwicklungspsychologisch gründet die Musik-Mimik-Beziehung in den protomusikalischen Erfahrungen der frühesten Kindheit, in der Vokalklang, Gesicht, Körperbewegung und Emotion eine »Wirkungstotalität der Expressivmittel« zur elementaren Kundgabe und Kommunikation von Gefühlen bilden (diese frühen »Lautgebärden« – ein Terminus von Wilhelm Wundt – könnten dabei aus einer allgemeinen »Gebärdensprache« entstanden sein).26 Vom inkommensurablen Gesicht der Geburt an verständigen sich Eltern und Kinder mittels Körperkontakt, resonierendem Gesichtsausdruck, Stimme und Bewegung. »Musik und Sprache [haben] einen gemeinsamen Ursprung in den frühkindlichen Vokalisationen der Mutter-Kind-Interaktionen, in der [sic!]

24 | Vgl. dazu »Über musikalischen Ausdruck. Nicolaus A. Huber im Gespräch mit Stefan Orgass«, in: Positionen 17/1993, S. 30-36 und Rüdiger, Eine Folge von Tönen, S. 11f. 25 | Martin Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt a.M. 91999, S. 120. 26  |  Vgl. Parncutt/Kessler, »Musik als virtuelle Person«; Felix Trojan, Die Generatoren des stimmlichen Ausdrucks, in: Klaus R. Scherer (Hg.), Vokale Kommunikation. Nonverbale Aspekte des Sprachverhaltens, Weinheim/Basel 1982, S. 75f.

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wechselseitig Gefühle ausgedrückt und verstanden werden«27 – wobei das Gesicht selbstverständlich wesentlich mitspielt: Dem lächelnden Antlitz inniger Anteilnahme entspricht der sanfte Tonfall liebevoller Zuwendung, dem Tonfall der Beruhigung das Gesicht des Wiegenlieds, dem O-Gesicht der Überraschung der staunend weite Mund und Tonfall des Erstaunens usw. In diesen frühen Dialogen zwischen Eltern und Säuglingen vermischen sich Lautäußerungen, Blicke und Mienenspiele, Körperkontakt und -bewegung zu einem komplexen emotionalen Assoziationsnetz (R. Parncutt), das für die Entwicklung des Gefühlslebens und des sozialen Kontakts von entscheidender Bedeutung ist. Neben anderen Funktionen dienen die lautmimischen Interaktionen, einem frühen musikalischen Dialog vergleichbar, der grundlegenden »Affektabstimmung« zwischen Kindern und Eltern.28 In diesem affect attunement spielt das Gesicht, die wechselseitige Spiegelung emotionaler Mimik zwischen Kind und Erwachsenen, eine zentrale Rolle, stets gekoppelt an den korrespondierenden Ausdruck von Stimme und Körperbewegung. Wenn die nonverbale »motherese« (»parentese«, »infant directed speech« oder »Ammensprache«), deren »prototypische[n] Melodien […] in den unterschiedlichsten Kulturen anzutreffen« sind, eine melodisch-mimische »Urmusik« in der Verbindung von Klang, Gesichts-Bewegung und Emotion darstellt und als »früheste Form der musikalischen Erziehung« betrachtet werden kann,29 in der das Kind, auf der Basis angeborener Ausdrucksmuster, die grundlegenden kommunikativ-emotionalen Bedeutungen erlernt, so kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass musikalische und mimische Parameter – Melodiekontur, Tempo, Dynamik etc. und zugehöriger Gesichtsausdruck – von Anfang an synaptisch verbunden und neuronal repräsentiert werden. Jeder emotionale Lautausdruck, so könnte man sagen, impliziert und evoziert einen zugehörigen Gesichtsausdruck, und umgekehrt. Man kann davon ausgehen, dass in der Entwicklung emotionalen Ausdrucks die von Anbeginn gekoppelten Ausdrucksbereiche Stimme und Gesicht – zusammen mit physiologischen und kognitiven Anteilen – eine sich gegenseitig verstärkende Funktionseinheit bilden, die sich sehr früh ausprägt und bis ins hohe Alter anhält. Über die »Synchronisation von Sprache und Motorik« hinaus ist »die Verbindung der Lautäußerungen mit einem direkten Blickkontakt zwischen

27 | Heiner Gembris, Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung, Augsburg 1998, S. 44. 28 | Zur »Affektabstimmung«, englisch »affect attunement«, vgl. Daniel Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 82003 (1. Auflage 1992, Originaltitel: The Interpersonal World of the Enfant, New York 1985), Kapitel 7, S. 198ff. 29 | Heiner Gembris, Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung, S. 309 und S. 312.

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dem Kind und seiner Bezugsperson« eine »besonders wirksame Kommunikationsform«30 und Quellgrund der Entfaltung aller Emotionen. Säuglinge können bereits ab der sechsten Woche einfache Emotionen erkennen und in bewegten Gesichtern »einen fröhlichen von einem ärgerlichen oder neutralen Gesichtsausdruck unterscheiden. Zwischen dem vierten und neunten Lebensmonat nehmen sie die kreuzmodalen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Ausdruckskanälen wie Stimme und Mimik wahr« und vermögen Stimm- und Gesichtsausdruck einander zuzuordnen.31 Zudem reagieren sie auf einen emotionalen Gesichtsausdruck mit einer entsprechenden Resonanz, ja »bestimmte Emotionsausdrücke des menschlichen Gesichts [sind] angeboren«32 – und entwickeln sich sehr früh im Laufe der »Affektsozialisation«: der O-Mund und die Augen der Überraschung von Geburt an, das Lächeln der Freude spätestens ab der vierten Woche (evtl. schon ab Geburt), die Mienen von Traurigkeit und Ärger mit drei bis vier Monaten, das Schreigesicht der Furcht ab dem sechsten Monat. »Mindestens sechs diskrete Affekte sind also in den ersten drei bis vier Lebensmonaten im Gesichtsausdruck nachweisbar.«33 Dabei ist der frühkindliche Ausdruck von Gefühlen im Gesicht nicht lediglich ein Indikator, sondern ebenso ein »Indukator«, d.h. wesentlicher Bestandteil und Produzent von Gefühlen zugleich, der zu ihrer Entstehung, Aufrechterhaltung und Entwicklung maßgeblich beiträgt. Zusammenfassend können wir festhalten: Von Geburt an sendet »jede Emotion […] ihre eigenen Signale. Am stärksten bemerkbar machen sich diese über unsere Stimme und in unseren Gesichtszügen«34, wobei beide Systeme ursprünglich zusammengehören und sich auch in entwickeltem Stadium wechselseitig beeinflussen, schwächen oder stärken können, z.B. die Stimme das Gesicht beim emotionalen Erleben und umgekehrt. Das aber hat entscheidende Folgen für das Musizieren und Musiklernen. Wenn Stimme und Gesichtsausdruck einander stärken, und wenn entwickeltes Instrumentalspiel aus vokalem Ausdruck entspringt (historisch wie pädagogisch), dem Mimik eingeschrieben ist, so können wir schlussfolgern, dass ausdrucksvolle Instru-

30 | Hanus Papousek und Mechthild Papousek, »Zur Frühentwicklung der Kommunikation«, in: Klaus R. Scherer (Hg.), Vokale Kommunikation. Nonverbale Aspekte des Sprachverhaltens, Weinheim und Basel 1982, S. 84. 31 | Heiner Gembris, Grundlagen musikalischer Begabung, S. 295. 32 | Dornes, Der kompetente Säugling, S. 112. Dornes bezieht sich hier auf eine Zentralthese von Charles Darwin. 33 | Dornes, Der kompetente Säugling, S. 120. 34 | Paul Ekman, Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, München 2004, S. XVI.

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mentalmusik ebenso die »Falten der Leidenschaft«35 ins Gesicht zu zaubern vermag, wie umgekehrt dem Üben und Musizieren eine bewegte Mimik zu Hilfe kommt. Sie vermag den musikalisch-klanglichen Gefühlsausdruck zu intensivieren, wenn nicht gar zu induzieren, um dadurch umso eindringlicher auf die Spieler und ihre Hörer zu wirken, die selbst dann, wenn sie die Musiker nicht sehen, sondern »nur« hören, mimisch-musikalisch mitbewegt werden: Ihr Mienenspiel macht sich dem der Musik gleich, die »hörbare Mimik« der Musik erzeugt mitklingende Gesichter. Zu b): Dies hat seinen phonetischen Grund darin, dass jeder affektive Ausdruck unserer Stimme, von elementaren Interjektionen bis zu expressivem Sprechen, auf einer bestimmten Konstellation und Spannung der Stimmbänder und Taschenlippen beruht, die, verbunden mit entsprechender Atmung, als »Mimik auf glottaler Ebene«36 bezeichnet werden kann. Die gepresste Stimme verhaltenen Zorns, der »weiche Schmelzton« liebevoller Gefühle, der wahrhaft enge Tonfall der Angst und der wohlig weite des Behagens und der Freude – bereits die Sprache spiegelt dies klanglich wider – sie alle zeugen von den ältesten Generatoren stimmlichen Ausdrucks, die stets auch mimische Anteile enthalten, ja mimisch-vokaler Ausdruck sind: Rachenenge und -weite, Schon- und Kraftstimme, spannungsreiche und -arme Stimmbildung mit trophotroper (ernährungsorientierter) oder ergotroper (werkorientierter) Bewegungsrichtung, offen und aufnahmebereit von außen nach innen oder umgekehrt. Und dass im bloßen Stimmausdruck nicht nur die zugrunde liegende Emotion, sondern auch deren mimischer Ausdruck »hörbar« wird, belegen phonetische Experimente: Das Nachsprechen bloß gehörter emotionaler ungarischer Einwortsätze erfolgt mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie beim ursprünglichen Sprecher. »Die Mimik kann, so scheint es, auch mit Hilfe des Gehörs wahrgenommen werden«, der »Gesichtsausdruck spiegelt sich im Klangbild«37 – was Artur Schnitzlers Fräulein Else 1924 bereits sorgenvoll erfühlt: 35 | J.A. Unzer, Der Arzt. Eine medizinische Wochenschrift. Zweyter Teil (1769), S. 520, zit.n. Alexander Ko­s e­n ina, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›elo­q uen­t ia corporis‹ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, S. 95. 36  |  Ivan Fónagy, »Mimik auf glottaler Ebene«, in: Phonetica. Internationale Zeitschrift für Phonetik 4/1962, S. 209-219. 37 | Ivan Fónagy, »Hörbare Mimik«, in: Phonetica, S. 27 und S. 35 und Felix Trojan, »Die Generatoren des stimmlichen Ausdrucks«, in: Klaus R. Scherer (Hg.), Vokale Kommunikation. Nonverbale Aspekte des Sprachverhaltens, Weinheim/Basel 1982, S. 5977. Vgl. dazu die biophonetische Annäherung an eine Mozart-Sonate in Rüdiger, Der musikalische Körper, S. 32-35. Einen historisch-ästhetischen Vorläufer des Begriffes hörbare oder musikalische Mimik finden wir im Terminus »Mimik für das Ohr«, mit dem im späteren 18. Jahrhundert eine deklamatorische Ausdruckskunst oder stimmliche

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Wolfgang Rüdiger »Um Himmels willen, ich habe ja Tränen in der Stimme. […] Ich habe gewiß jetzt auch ein ganz anderes Gesicht als sonst.«

Zu c): Dass »Tränen in der Stimme« und Trauerzeichen im noch so beherrschten Gesicht eine Funktionseinheit bilden, die auf andere höchst ansteckend wirkt, diagnostiziert bereits Friedrich Nietzsche 1878 und nimmt damit wichtige Erkenntnisse der modernen Gehirn- und Emotionsforschung vorweg. So scheint sich in der Tat die menschliche Sprache vor ca. 300.000 Jahren aus Gesten und Lautgebärden entwickelt zu haben.38 Diesen Gedanken entwickelt Nietzsche im Aphorismus 216 aus Menschliches, Allzumenschliches, in dem er nebenbei die so genannte absolute Musik als implizit körpergestische Musik dekuvriert, geboren aus Gebärde und Gesicht: »216.Gebärde und Sprache – Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zurückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichtes ansehen können (man kann beobachten, dass fingirtes Gähnen bei Einem, der es sieht, natürliches Gähnen hervorruft). Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der nachahmte, zu der Empfindung zurück, welche sie im Gesicht oder Körper des Nachgeahmten ausdrückte. So lernte man sich verstehen: so lernt noch das Kind die Mutter verstehen. […] Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine Symbolik der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton und Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte. – Es scheint sich da in früher Zeit das Selbe oftmals ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der Entwickelung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich geht: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus (Gebärdensprache), leeSeelenmalerei bezeichnet wurde (vgl. Ko­s e­n ina, Anthropologie und Schauspielkunst, S. 167). Umgekehrt konnte J.J. Engel die – als Schauspielkunst insgesamt verstandene – Mimik bzw. ihre metrisch-rhythmischen Momente als »Musik für das Auge« bezeichnen, so wie Musik »gleichsam Tanz für das Ohr« ist; vgl. Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik. Zwei Teile, Berlin 1785-1786, Faksimile-Nachdruck Hildesheim 1968, 2. Teil, S. 108. 38 | Für den Hinweis dankt der Verfasser Eckart Altenmüller. Ausführlicher dazu vgl. Michael Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Aus dem Englischen von Jürgen Schröder, Frankfurt a.M. 2009 und Michael C. Corballis, »From Hand to Mouth: The Gestural Origins of Language«, in: Language Evolution (Studies in the Evolution of Language), edited by Morten H. Christiansen, Simon Kirby, Oxford 2003, p. 201-218.

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res Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. Man redet dann von absoluter Musik, das heisst, von Musik, in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird.«39 Nietzsches Aktualität zeigt sich hier sowohl in der Rückführung von Musik auf die Gebärdensprache des Körpers als auch in der Vorwegnahme neuester Kommunikations- und Sprachentwicklungstheorien. Aktuellen Forschungen zufolge markieren frühgeschichtliche Zeige-Gesten und Gebärden, verbunden mit Lautgebung, den Beginn von Sprachentwicklung und sozialer Intelligenz, verstanden als Ausdruck von Kooperation und Kommunikation, gegenseitiger Mitteilung und Verständigung, wie man sie bereits in der meist rechtshändigen, d.h. linkshemisphärischen Gestik von Menschenaffen beobachten kann. Wurde die soziale Gestik dabei von Lauten lediglich begleitet, so kehrt sich dies mit fortschreitender Sprachentwicklung um in die Begleitung von Sprache durch jene Gesten, aus denen sie hervorgegangen ist.40 Aus anderem Blickwinkel unterstützt dies die These der sozialen Gehirntheorie, der zufolge sich als Folge des zunehmend komplex gewordenen menschlichen Soziallebens das Gehirn des homo sapiens – im Unterschied zum Tier – zu einer bis dahin unbekannten Größe und Differenziertheit entwickelt hat. Laut einer statistischen Untersuchung kann sich jeder Mensch durchschnittlich an ca. 1.400 Menschen erinnern, wobei das Gesicht als individuelles, persönliches Erkennungszeichen eine entscheidende Rolle spielt, verbunden mit je eigenem Stimmklang.41 Vor diesem Hintergrund kommt der musikalischen Mimik als doppelt kodierter, hör- und sichtbarer Zeichensprache des Gefühls eine Schlüsselfunktion in der Geschichte der Menschheit zu, erscheinen doch beide, Musik und mobile Mimik, als Mittel sozialer Bindung und emotionaler Botschaft zugleich. Jonathan Cole zufolge konzentrierte sich bereits bei den Primaten »die Gebärdensprache […] mit der Zeit auf das Gesicht und bildete dort ein immer breiteres Spektrum an Ausdrucksformen aus. […] Bei Menschenaffen emanzipiert sich der Gesichtsausdruck von der Körpersprache und wird schließlich bei den Menschen zu einem Zeichensystem sui generis. […] Je mehr Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit das Gesicht gewann, desto mehr wurde auch seine Gefühlssprache verfeinert.« 42 39 | Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, in: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Neuausgabe München 1999, S. 176f. 40 | Vgl. Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. 41  |  Den Hinweis verdankt der Verfasser Eckart Altenmüller. 42 | Cole, Über das Gesicht, S. 251f.

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So gibt es gute Gründe zu vermuten, dass die Entwicklung der mobilen Mimik – das In-Bewegung-Geraten des Gesichts, das zugleich voll bewegten Klangs ist – einen zentralen Bestandteil der Entwicklungsgeschichte der Menschheit zur sozialen Interaktion und emotionalen Intelligenz bildet, verliefen doch Entwicklung von Geist und Gefühl, Gesicht und Hand weitgehend parallel. Diese phylogenetische Sichtweise auf die musikalische Mimik lässt sich gehirnphysiologisch und ontogenetisch stützen durch die Tatsache, dass der somatosensorische Homunculus – das Körperbild auf der motorischen und sensorischen Gehirnrinde – zu zwei Dritteln aus Hand und Gesicht und dieses wiederum zum größten Teil aus Mund besteht: aufgrund der bevorzugten Funktionen von Nahrungsaufnahme, Sprachentwicklung, Werkzeuggebrauch und mimischem Ausdruck im sozialen Kontakt. Und schließlich ist diese Musik-Mimik-Einheit von höchster instrumentalpädagogischer Relevanz, verläuft doch die älteste Form des Lernens – das mimetische Lernen – über das System der Spiegelnervenzellen, das die neurobiologische Basis für die wechselseitige Nachahmung von musikalischen Körper- und Gesichtsbewegungen beim Gesang und instrumentalen Musizieren bildet (vgl. unten Abschnitt 5 und 12).43

4. G esichter des G esangs Der musikalischen »Ursprache« von Gesten und Lautgebärden am nächsten ist das ausdrucksvolle Singen; ja Singen selbst kann in einem weiten Gebrauchssinne als emotionale »Ausgangssprache der Menschheit« bezeichnet werden.44 Beim kunstvollen Singen erscheint die Gesichtsmuskulatur naturgemäß gestalterisch aktiv und ausgebildet. Über die mimische Beteiligung an der bloßen Artikulation und Klanggestaltung hinaus finden wir in den Gesangslehren der Vergangenheit und Gegenwart jedoch ebenso reichhaltige Hinweise zur musikalischen Mimik als physiologische Basis von Klang und Gefühl, die Vorbildcharakter für das Musizieren und Musiklernen allgemein haben. Einige davon seien hier aufgeführt:

43  |  Vgl. Joachim Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, München 2006. Zur Bedeutung der Mimesis in Lernprozessen vgl. Christoph Wulf, »Mimetisches Lernen«, in: Michael Göhlich, Christoph Wulf, Jörg Zirfas (Hg.), Pädagogische Theorien des Lernens, Weinheim/Basel 2007, S. 91-101. 44 | Vgl. Eckart Altenmüller/Michael Grossbach, »Singen – die Ursprache? Zur Hirnphysiologie des Gesangs«, in: Üben & Musizieren 3/2003, S. 34–39. Auf die Tradition dieses Motivs von Rousseau über Nietzsche bis Michel Serres verweist Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 113.

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a) In Johann Adam Hillers An­wei­sung zum musikalisch-richtigen Gesang von 1774 lesen wir: »Hell ist die Stimme, wenn sie durch den offenen Mund, ohne Zwang und Drücken der Kehle, frey aus der Brust heraus kömmt«, mit der »Miene eines sanften Lächelns.«45 Diese Vortragsregel einer »lächelnden Mundhaltung« – in der Tradition der »alten italienischen Gesangsmaestri« – begreift Carl Adolf Martienssen in seinem Buch Schöpferischer Klavierunterricht als physische und als »psychische Weisheit« zugleich: »Denn bei einem Lächeln ist die Verkrampfung des Kehlkopfes unmöglich«, was sich auf das gesamte körperliche Wohlbefinden beim Spielen auswirkt. »Die alten Maestri wußten um die ungeheure Bedeutung eines steten Glücksempfindens beim Üben.«46 Nach heutigen Erkenntnissen bewirkt Lächeln unter anderem physiologische Veränderungen im autonomen Nervensystem dergestalt, dass sich die Herzfrequenz verlangsamt47 (kann aber auch, wenn es ständig erzwungen werden muss wie z.B. bei Models oder Stewardessen, krank machen). b) Unter den großen Sängern der Gegenwart ist es besonders Thomas Quasthoff, der im Gesicht einen Quell der Begeisterung sieht und für dezidierte musikalische Mimik plädiert: »›Manchmal wird nur über Technik nachgedacht, aber man muss in den Gesichtern lesen können, was gerade in den Sängern vorgeht: Ich möchte als Hörer berührt und geschockt werden.‹ Er selbst sei aufgrund seiner körperlichen Benachteiligung in der ›glücklichen Situation, keine Gestik zur Verfügung zu haben‹ und konzentriere sich deshalb auf den wahrhaftigen Ausdruck im Gesicht.«48 c) An Beispielen expressiven Singens, live oder auf Video, können wir die musikalischen Gesichter der Freude und der Trauer, des Ärgers und der Angst am besten studieren und uns zum Vorbild nehmen. Ein Musterbeispiel musikalischer Mimik bietet ohne Zweifel Cecilia Bartoli. Auf ihrer DVD Viva Vivaldi! sind einige ihrer prägnantesten und ausdrucksvollsten Auftritte versammelt.49 Cecilia Bartolis begnadetes Auftrittslächeln, ihre wunderbare musikalische Vorhalts-Mimik, ihr musikalisch erfülltes, erfühltes Gesicht zwischen heißer Liebe und eisigem Erstarren, »raging winds« bis »ice in every vein« im Antlitz – dies alles sind Glanzlichter musikalischer Mimik, wie sie, mit anderem

45 | Johann Adam Hiller, Anweisung zum musikalisch-richtigen Gesang, Leipzig 1774, Faksimile-Nachdruck Leipzig 1976, S. 6. 46  |  Carl Adolf Martienssen, Schöpferischer Klavierunterricht, Leipzig 1954, S. 218f. 47 | Ekman, Gesichtsausdruck und Gefühl, S. 9. 48  |  Thomas Quasthoff, zitiert nach neue musikzeitung 9/2003, S. 23. 49 | Viva Vivaldi! Arias and Concertos with Cecilia Bartoli and Il Giardino Armonico, conducted by Giovanni Antonini, DVD Arthaus Musik/arte Edition.

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Repertoire, auch Hildegard Behrens zu eigen waren (oder, in ganz anderer Stilrichtung, der expressiven Janis Joplin): »Viele Sänger mögen, so sagte James Levine, ›tiefe Empfindungen haben, aber nur wenige besitzen die Fähigkeit, sie sichtbar zu machen. Hildegard [Behrens] hat dieses einzigartige Gesicht, auf dem innere Vorgänge zu sehen sind.‹ Dazu gehörte auch das Gesicht ihrer Stimme.« 50

d) Wie in Schuberts Lachen und Weinen begegnet uns im Mittelteil von Georg Friedrich Händels Arie He was despised (aus dem Messias, 2. Teil) das Ausnahmebeispiel eines einkomponierten Gesichts, dessen Affektausdruck sich vom positiv aufstrebenden Gestus der Rejoice-Arie extrem unterscheidet und eine entsprechend affektgeladene Mimik der »Schmach und Schande« erfordert: »He hid not His face from shame and spitting«, lautet der Text, und »spitting« sollte das Gesicht des Sängers auch klingen.

5. M imisches I nstrumentalspiel oder : D as G esicht der M usik » aufse t zen « beim Ü ben Eine solche musikimmanente Mimik nimmt auch das Gesicht des Spielers in die Pflicht: »Musikmachen ist Freude, das sollte man auch sehen.«51 Wenn Körperlichkeit der Musik von Kindheit an genetisch und gestalthaft innewohnt, ja Musik Körper ist in Sang und Klang, in Lautgebärden und Affekten, dann gehört dazu freilich auch das entsprechende Mienenspiel. Die »akustische Pantomime« der Musik Mozarts52 macht dies deutlich und ist nicht denkbar ohne mimische Beteiligung. Spiel musikalisch, mit Gestik und Gefühl, heißt hier so viel wie: Gib der Musik ein Gesicht, spiel mimisch. Die ersten Takte von Mozarts Divertimento Nr. 4 aus KV Anh. 229 (439b)53 z.B. bilden eine Folge von drei kontrastierenden Mienen in schnellem Wechsel: ein Aufruf, eine Aufforderung (wie »Wachet auf«) in aufsteigenden Dreiklangshalben – ein tändelnd verspielter, tänzerischer Charakter im rhythmisch diminuierten Krebsgang – der ferne Blick eines altehrwürdigen Zitates (Dufay’s Missa l’homme armé) – 50  |  Jürgen Kesting, »Man muss der Stimme ein Gesicht geben. Über die Grenzen des Wohllauts: Zum Tod der hochdramatischen Sängerin Hildegard Behrens«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. August 2009, S. 31. 51  |  Erika Takano-Forck im Dezember 2008 bei einer gemeinsamen Messias-Probe. 52 | Marcel Marceau, Die Weltkunst der Pantomime. Nach Gesprächen aufgezeichnet von Herbert Ihering, Frankfurt a.M. 1989, S. 67. Vgl. auch Rüdiger, Der musikalische Körper, S. 93ff. 53  |  Bekannt als eine der Wiener Sonatinen für Klavier in C-Dur.

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diese musikalische Gestenfülle in schneller Folge formt eine Vielfalt von Mienen in kompositorischer Einheit, die ohne entsprechende Gesichtszüge kaum adäquat zu inszenieren ist.

Notenbeispiel 4: W. A. Mozart: Divertimento Nr. 4, KV Anh. 229 (439b)

In diesem Sinne prägt alle gestische, volksmusikalische, vokal-instrumentale, rhetorische, in weitestem Sinne szenisch-theatralische Musik in sich eine reiche musikalische Mimik aus, die wiederum, geboren aus mimischem Spiel, einer mehr oder weniger ausgeprägten spielerischen Mimik bedarf. Weitere ähnlich charakteristische Beispiele begegnen uns z.B. in Mozarts Klaviersonate C-Dur KV 309, 1. Satz; im rhetorischen Beginn von Beethovens Klaviersonate Es-Dur op. 31 Nr. 3, 1. Satz; im 2. Satz von Beethovens op. 90 (mit seinem »langen musikalischen Blick«, so Hermann Danuser) und im Hauptthema des 1. Satzes von C. M. von Webers Fagottkonzert F-Dur op. 75.54 Mitunter verweisen Komponisten expressis verbis auf jene mimisch-gestische Gebrauchsmusik als Inspirationsquelle, deren Verwandlung ins instrumentale Kunstgebilde das ursprüngliche Mienenspiel auf bewahrt, das ihm zugrunde liegt: das Seufzen und Greinen z.B. in Bela Bartóks Nr. 28 Gram aus den 44 Duos für zwei Violinen, dessen Vorbild auch die Interpreten mit bedenken sollten: »Wir müssen das Mienenspiel des singenden Bauern sehen, wir müssen an seinen Tanzvergnügungen, Hochzeitsfesten, Weihnachtsfeierlichkeiten und Beerdigungen teilnehmen«.55

54 | Vgl. Rüdiger, Der musikalische Körper, S. 124 und S. 111ff. 55 | Béla Bartók (Ungarische Volksmusik und neue ungarische Musik, 1928), zit.n. Peter Röbke, »Béla Bartók: Gram (aus: 44 Duos für zwei Violinen). Musikpädagogische Musik, autonomes Kunstwerk, verwandelte Lautgebärde?«, in: Matthias Schmidt (Hg.), Kunst lernen. Zur Vermittlung musikpädagogischer Meisterkompositionen des 20. Jahrhunderts, Regensburg 2008, S. 64.

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So kann beim Üben und Interpretieren die mimische Fantasie und Praxis den musikalischen Ausdruck motivieren, intensivieren, ja mit kreieren – oder auch nicht, je nach Persönlichkeit des Spielers. Doch wer sich darauf einlassen mag und Spaß am mimischen Üben, Experimentieren und Gestalten hat oder entwickelt, der wird reich belohnt. Indem jede Musik ein je verschiedenes, wandelbares Gesicht besitzt, formt und bildet sie die Gesichter ihrer Spieler und erzieht zu einer differenzierten Mimik vice versa: Differenzierte Mimik, vollziehe sie sich auch lediglich in der Vorstellung, wirkt sich auf den Klang aus und verhilft zum erfüllten Musizieren. Denn, so Gerhard Mantel (Paul Ekman u.a. folgend), die Gesichtsmuskeln sind die »ausdrucksvollsten« Muskeln, ohne die musikalischer Ausdruck gar nicht möglich sind. Das kann man beim Singen einer musikalischen Sequenz mit verschiedenen Gesichts-Ausdrucks-Kombinationen am eigenen Leib erfahren: a) musikalisch gleicher Ausdruck im zweiten Sequenzteil bei verändertem Gesichtsausdruck, z.B. »finster« anstelle »freundlich«; b) musikalisch veränderter Ausdruck bei gleichem Gesichtsausdruck – beides misslingt oder klingt unecht, verkrampft und gekünstelt.56 Dies hat folgenden Grund: Muskuläre Bewegungen im Gesicht werden an unser Hirn weiter geleitet, als Emotionssignale erkannt, verarbeitet und mit anderen Ausdrucksträgern des emotionalen Assoziationsnetzes, besonders der Stimme, verbunden. Emotionspsychologische Experimente legen nahe, dass die verschiedenen Emotionssysteme – Gesichtsausdruck, Autonomes Nervensystem, Kognition, Stimme – dicht miteinander verknüpft sind und einander beeinflussen – dergestalt, dass »eine Veränderung in dem einen System (Gesicht) eine Veränderung in dem anderen System (ANS [autonomes Nervensystem, W. R.]) nach sich zieht« (s. oben, Abschnitt 3). Das »Aufsetzen« eines bestimmten Gesichts kann also mit entsprechenden physiologischen Veränderungen einhergehen und eine bestimmte Emotion hervorrufen.57 Einen Vorläufer dieser Erkenntnis finden wir in der influxus corporis-Theorie des späten 18. Jahrhunderts, der zufolge willkürlich erzeugte körperliche Ausdrucksmuster auf das seelische Empfinden rückwirken, ja Gefühle – eine gewisse Empfänglichkeit und Übung vorausgesetzt – hervorrufen können, wobei der Gesichtsausdruck natürlich eine zentrale Rolle spielt.58 Ein einfaches Praxisbeispiel dafür gibt der Cellist Gerhard Mantel: »Ein leichtes Nach-vorn-schieben des Kinns zeigt und bewirkt technische und musikalische Entschlossenheit.«59

56  |  Gerhard Mantel, »Der Körper als Mobile. Was hat Körperbewegung mit musikalischer Fantasie zu tun?«, in: Üben & Musizieren 1/2005, S. 14. 57 | Vgl. Ekman, Gesichtsausdruck und Gefühl, S. 159ff. 58 | Vgl. Rüdiger, Der musikalische Körper, S. 100-103 und S. 111. 59 | Mantel, Der Körper als Mobile, S. 14.

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Wir machen also den Körper und das Gesicht »durchlässig« für die Gefühle der Musik – im Detail einer musikalischen (Einsatz-)Geste und im Ganzen einer Phrase oder eines Satzes, wobei Experimente mit verschiedenen Mienen und Gesichtern und auch Übertreibungen zwischen vollkommener Ausdruckslosigkeit und totaler Überzeichnung möglich und sinnvoll sein können. Im Ergebnis sollten natürlich Geste und Gesicht des Spielers sowohl seinem Wesen, seiner Persönlichkeit, als auch der Musik, ihrem interpretierten Ausdrucksgehalt entsprechen. Hilfreich für die musikalische Gesichtsdynamik kann es sein, Übungen und Improvisationen zum Bewusstwerden der Gesichtsmuskulatur zu machen, beginnend mit dem Anspannen und Entspannen einzelner Partien wie in der Progressiven Muskelrelaxation und in der Atempädagogik. Und mimische Improvisationen aus der Theaterpädagogik sind ebenfalls ein guter Weg zum In-Kontakt-Treten mit unserem Gesicht und seinen verschiedenen Ausdrucksbereichen, z.B. in der Übung des »Knetgesichts«.60 Ein solches Bewusstmachen und Üben, Spannen und Entspannen der Gesichtsmuskeln kann auch möglichen negativen Folgen der synaptischen Verschaltungen beim angespannten Üben und Musizieren entgegen wirken. In manchen Fällen spiegelt die Mimik beim Musizieren die Schwierigkeiten beim Erlernen eines Musikstücks wider, was dem Spieler nicht immer bewusst ist. Eine Video-Aufzeichnung und -Analyse hilft hier, störende Muskelbewegungen und der Musik widersprechende Mienen zu enthüllen und einen Anstoß zur Selbstkontrolle zu geben. Der Pianist Alfred Brendel berichtet über seine Erfahrungen: »Als ich mich das erste Mal im Fernsehen sah, war das wie ein Schock. Mir wurde bewusst, wie sehr mein Aussehen während des Spielens von der Musik ablenkte; Gesten und Grimassen widersprachen nicht nur der Vorstellung, die ich selbst von den notwendigen Bewegungsvorgängen hatte, sie widersprachen auch in grotesker Weise dem, was ich tatsächlich spielte. Man musste damals die Augen fest schließen, um zu hören, was ich tatsächlich spielte.« Wie bei den Selbstversuchen des Begründers der Alexandertechnik wirkt hier ein großer Spiegel Wunder: »Er half mir dabei, meine musikalische Vorstellung mit dem zu koordinieren, was ich durch Bewegungen ausdrücken wollte. Es gibt viele Beispiele für Stellen, in denen der Spieler optisch eingreifen muss. Am Schluss der h-moll-Sonate von Liszt etwa, vor dem Eintritt des pianissimo auf den drei H-Dur-Akkorden, ist ein wichtiges crescendo auf einem Akkord vorgeschrieben, welches man nur durch eine Körperbewegung suggerieren kann«61 – und durch entsprechende Mimik, deren beständi-

60  |  Silke Egeler-Wittmann, »bone meets noises. Eine experimentelle Musik-Tanz-Performance mit Schülerinnen entwickeln«, in: Üben & Musizieren 3/2003, S. 64. 61  |  Alfred Brendel, zit.n. Martin Zenck, Tobias Fichte, Kay-Uwe Kirchert, »Gestisches Tempo. Die Verkörperung der Zeit in der Musik – Grenzen des Körpers und seine Über-

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ges Exercitium wundersame Ergebnisse zeitigt. Folgende Beispiele mögen dies veranschaulichen.

6. B eispiele für M imik beim M usizieren heute »Brendels ereignisreiche Miene spiegelt all das wider, was er tiefenmelodisch empfindet, seine Körperbewegung, was er rhythmisch wahrnimmt.« 62 »Wie er [Alfred Brendel] die Musik lebt, wie er manchen Triller mit vibrierendem Unterkiefer zu transportieren scheint, wie die musikalischen Seufzermotive scheinbar aus seinem Körper kommen«. 63 »Man weiß nicht, was man an Simon Rattle mehr bewundern soll: seine musikalische Gestaltungskraft […] oder seine enorme schauspielerische Begabung, die es ihm erlaubt, die feinsten musikalischen Ausdruckswerte durch Gestik und Mimik zu kommunizieren.« 64

Und Vladimir Horowitz? Horowitz verzieht keine Miene beim Spielen der schwersten und expressivsten Stellen, und das geht auch. Ist dies Ausdruck einer inneren, vollkommen verinnerlichten musikalischen Mimik (vgl. unten, Abschnitt 20)?

7. G esicht und musik alischer G efühlsausdruck im 18 . J ahrhundert Nicht zufällig haben wir bislang Beispiele aus der Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts zur Veranschaulichung der Korrespondenz von Musik und Mimik herangezogen, beginnt doch hier, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, das Gesicht sich zu individualisieren. Ja man kann sagen: Die Geburt der Musik als subjektive Ausdruckskunst fällt zusammen mit der Entdeckung und Erweckung des Gesichts als »Bühne der Gefühle« (Antonio Damasio) und der zugehörigen Wissenschaft und Kunst der Physiognomik bei Johann Caspar Lavater Mitte der schreitungen«, in: Verkörperung, hg. von Erika Fischer-Lichte u.a., Tübingen/Basel 2001 (= Theatralität, Band 2), S. 357. 62 | Süddeutsche Zeitung vom 7. November 2008, Bericht über Alfred Brendels Münchener Abschiedskonzert. 63 | Badische Zeitung vom 8. Dezember 2008, Bericht über Alfred Brendel in BadenBaden. 64 | Max Nyffeler, »Scharf beobachtete Podiumsherrscher. Dirigenten-DVDs von Carlos Kleiber, John Eliot Gardiner, Simon Rattle und Claudio Abbado«, in: Neue Zeitschrift für Musik 4/2003, S. 65.

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1970er-Jahre sowie der Mimik bei Johann Jakob Engel Mitte der 1980er-Jahre. »Gott schuf den Menschen sich zum Bilde!« lautet das Motto von Lavaters Physiognomische[n] Fragmente[n], zur Beförderung der Menschen­kenntnis und Menschenliebe (1775-1778), und ihr Leitsatz lautet: »Was in der Seele vorgeht, hat seinen Ausdruck auf dem Angesichte.«65 Physiognomik ist die nach 1775 rasch sehr populär werdende Kunst und »Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menschen sein Inneres zu erkennen«, bei Lavater vor allem im Ausgang von den festen Formen des Äußeren, z.B. dem ruhenden Antlitz; im engeren Sinne bedeutet sie die »Kenntnis der Gesichtszüge und ihrer Bedeutung«.66 Diese statische Auffassung musste freilich die Kritik der Zeitgenossen provozieren, allen voran Georg Christoph Lichtenberg, der Lavaters Physiognomik die Pathognomik als Lehre von den flüchtigen, bewegten Formen, als »Wissenschaft der Zeichen der Leidenschaften« entgegensetzt,67 ebenso wie J.  J. Engel in seinen späteren Ideen zu einer Mimik »die vorübergehenden körperlichen Bewegungen untersucht«.68 Seit den späten 70er-Jahren tobt der Kampf zwischen den »Physiognomisten« und den »Anti-Physiognomisten«, angeführt von dem skeptischen Aufklärer Lichtenberg, der formuliert: »Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht« und Lavaters fragwürdige Physiognomik kritisiert: »Aus einem Augenblick läßt sich kein Gesicht beurteilen, es muß eine Folge da sein«69 – und damit der musikalischen Mimik, die stets eine fluide, flexible Gesichtssprache ist, weit entgegen kommt. Denn dies alles, die Lehre von der Bedeutung des Gesichts, seine Individualisierung und Beseelung sowie die Beteiligung bewegter Mimik beim Musizieren lässt sich in Ästhetik, Vortragslehre und kompositorischer Entwicklung im 18. Jahrhundert vielfach wiederfinden. So postulierte 1739 bereits Johann Mattheson eine pantomimische »Stellungs-Kunst«, »die mit artigen anständigen Geber­den und Mi­nen zu thun« hat, als ein »Haupt-Stück« der Musik. Wie in der Rede­kunst herrsche in der musikalischen »Klang-Rede« die »Ac­tion«, das überzeugende Spiel des Körpers in Hal­tung, Gestik, Mimik, Blick. Denn »die Mei­nung mit dieser gantzen Wissen­schaft zielet dahin, daß Geberden, Worte und Klang eine dreifache Schnur machen, und zu dem Ende mit einander vollkommen übereinstimmen sollen, daß des Zuhörers Gemüth beweget 65 | Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschen­kenntnis und Menschenliebe (1775). Eine Auswahl, hg. von Chri­s toph Siegrist, Stuttgart 1984, S. 49. 66 | Lavater, Physiognomische Fragmente, S. 21f. 67 | Vgl. Norbert Borrmann, Kunst und Physiognomik. Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland, Köln 1994, S. 125f. und S. 131ff. 68 | Engel, Ideen zu einer Mimik, S. 7. 69 | Lichtenberg, Sudelbücher, S. 245 [= F 87] und S. 284 [= F 646].

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werde«.70 Matthesons apologetischer Begriff der »Klang-Rede« umfasst Musik, »Ac­tion«, »Geberde«, »Minen-Wissenschaft«, »Pantomime« und kann als mu­ sik­ästhetisch-pädagogischer Paradigmen­wech­sel mit phy­sio­logi­scher Wendung zum Körper und Klang im 18. Jahr­hun­dert verstan­den werden, die sich insbesondere bei C. Ph. E. Bach in Vortragslehre und -praxis fortsetzt: Man kann nur rühren, wenn man selbst gerührt ist und dies auch hör- und sichtbar macht, wobei dem Gesicht eine Schlüsselrolle zukommt.71 So berichtet Char­les Bur­ney von C. Ph. E. Bachs »beseelter Miene« und völligen Begeisterung beim Klavierspiel, die sich bisweilen zum Antlitz »eines außer sich Entzückten« steigerte;72 der Stürmer und Dränger Christian Friedrich Daniel Schubart postuliert den »Herzausdruck im Gesicht« beim schönen Vortrag,73 Diderot (Rameaus Neffe) und E. T. A. Hoffmann (Ritter Gluck, Kreisler) beschreiben expressive musikalische Mienenspiele,74 und auf Werkseite lobt Franz Liszt 1859 John Field’s Nocturnes als »schmeichelnd«, »wie ein tränenfeuchter Blick«.75

8. M usik der M imik in K unst und P hilosophie Die angeführten Zitate zeigen, dass expressive Mienenspiele seit Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend zur Zeichensprache einer besonderen, mitunter gebrochenen musikalischen Empfindungs-, Imaginations- und Ausdrucksfähigkeit werden, ja dass die Entwicklung musikalischer Mimik, vorbereitet 70 | Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, FaksimileNachdruck Kassel 1954, S. 33ff. 71 | Vgl. dazu Wolfgang Rüdiger, »Körper, Klang und künstlerischer Ausdruck im 18. Jahrhundert und heute«, in: Üben & Musizieren 2/1994, S. 16-24. 72  |  Char­l es Bur­n ey, Ta­g ebuch einer musika­li­s chen Rei­s e, Nach­d ruck der Ausgabe Ham­b urg 21772, hg. von Eber­h ardt Kle­m m, Wil­h elms­h aven 1980, S. 458. 73  |  Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, ca. 1784 (hg. von Ludwig Schubart Wien 1806), hg. von Jürgen Mainka, Leipzig 1977, S. 282. 74 | Vgl. die Schilderungen expressiver musikalischer Pantomime in Diderots Dialog »Rameaus Neffe« (ca. 1762/1774): »Die Leidenschaften folgten einander auf seinem Gesichte, man unterschied den Zorn, die Zärtlichkeit, das Vergnügen, den Schmerz, man fühlte das Piano und Forte, und gewiß würde ein Geschickterer als ich das Stück an der Bewegung, dem Charakter, an seinen Mienen, aus einigen Zügen des Gesangs erkannt haben, die ihm von Zeit zu Zeit entfuhren.« (Denis Diderot, Erzählungen und Gespräche. Übersetzt von Katharina Scheinfuß, Leipzig 1953; Frankfurt a.M. 1981, S. 207). Die Schilderungen musikalischer Mienenspiele in E. T. A. Hoffmanns Erzählung »Ritter Gluck« (1809) orientieren sich an Diderots Vorbild. 75 | Vgl. Rüdiger, Der musikalische Körper, S. 110.

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von der rhetorischen Tradition, von Mattheson u.a., recht eigentlich mit der Entstehung moderner Subjektivität zusammenfällt. Dass Musik mimisch ist und Mimik musikalisch, erscheint seit dem späten 18. Jahrhundert als eine kultur- und kunstgeschichtliche Konstante, deren Spuren, neben etlichen Beispielen aus der Bildenden Kunst, auch in Literatur, Film und Philosophie zu finden sind. Genauer gesagt: Liest man Gesichtsausdrücke und Mienenspiele nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Ohren, als Gesichtsmusik und »hörbare Mimik« (Ivan Fónagy, vgl. Abschnitt 2), so lassen sich etliche künstlerische Darstellungen und Beschreibungen der Mimik problemlos auf die dynamischen Kräfte der Musik beziehen und legen eine Interpretation im Sinne musikalischer Mimik nahe. Einige Beispiele mögen dazu einladen: a) »Das Timbre ihrer Stimme, der Rhythmus ihrer Hände, wenn sie sich gegen die Brust schlug und gegen ihre schweren Halsketten aus Silbermünzen, und vor allem die Hingerissenheit in ihrem Gesicht und in ihren Augen, eine Art von abgemessener rhythmischer Trance, übten ihre Macht aus über alle, die dabei waren.« 76 b) »Er begreife nicht, wie sein Schwiegervater stundenlang in einer Partitur lesen könne und beim Überfliegen der Noten alle Bewegungen der Musik höre, bald lächelte, bald die Stirn runzelte […] ›Es muß ein großer Genuß sein‹, hatte der Vater gesagt, ›die Musik in ihrem Urzustand in sich aufzunehmen.‹« 77 c) »Diese Erzählung habe sie, viel mehr als alles bisher, zu leben gelehrt, sagte meine Frau, und schon zum zweiten Male an diesem Abend huschte dieses rasch wechselnde und auffliegende Mienenspiel über ihr Gesicht, diese, ich kann es nicht anders sagen, Chromatik ihres Lächelns, die in mir das Gefühl erzeugte, zerschmelzen und mich in was auch immer verwandeln zu können.« 78 d) In der zentralen Tanzszene des ersten Teils von Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm TABU (1929/1931) moduliert die bewegte Mimik der Protagonistin Reri vom Affektausdruck einsamer Trauer zum Ausdruck überschwänglicher Freude in vier Schritten: allmähliches Auflichten des Gesichts in Mundwin76  |  Jean-Marie Gustave Le Clézio über die Erzählerin Elvira vom Indianerstamme der Emebrá in seiner Nobelpreisrede am 7. Dezember 2008, zitiert im Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 9. Dezember 2008 (Hervorhebung: W. R.). 77 | Vladimir Nabokov, Lushins Verteidigung. Roman, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 59. 78 | Imre Kertész, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Roman, Reinbek bei Hamburg 22002, S. 101.

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keln und Augen mit leichter Öffnung des Mundes – Tanzdrehung und breites Lächeln mit strahlenden Augen und hohen Wangen – trunkenes Lachen der Freude mit weit geöffnetem Mund und tanzenden Kopf bewegungen zum Geliebten hin – ein über das ganze Gesicht, den ganzen Körper erstrahlendes Lachen, das allen in die Beine fährt. Wie Musik erscheint Reris wandlungsvolles Mienenspiel: beginnend im dunklen Pianissimo der Trauer und mimisch immer heller, glänzender, lauter werdend in Tonhöhe und Dynamik (Mundund Vokalstellung!), bewegter in der Rhythmik und schneller im Tempo – musikalische Merkmale der Mimik, die »Musik für das Auge« ist (J. J. Engel, vgl. oben) und jeden musikalischen Körperausdruck der Affekte begleitet. e) Bei genauem Hinschauen lassen sich etliche strukturelle Parallelen zwischen Musik und Mimik entdecken. Sie betreffen das Verhältnis von Mannigfaltigkeit und Einheit bzw. von Teilen und Ganzem, die Differenziertheit ihrer Wirkungselemente, die Analogie von musikalischem und mimischem Einschwing- und Ausschwingvorgang, das Verhältnis von Gestalt und Gehalt u.v.m. Wie die Beschreibung eines integralen Musikwerks erscheinen die Ausführungen des Philosophen Georg Simmel zur Ästhetik des Gesichts: »Innerhalb des menschlichen Körpers besitzt das Gesicht das äußerste Maß dieser inneren Einheit. Das erste Symptom und der Beweis dafür ist, daß eine Veränderung, die, wirklich oder scheinbar, nur ein Element des Gesichts angeht, sofort seinen ganzen Charakter und Ausdruck modifiziert: ein Zucken der Lippe, ein Rümpfen der Nase, die Art des Blickens, ein Runzeln der Stirn.« – »Es giebt […] kein Gebilde, das eine so große Mannigfaltigkeit an Formen und Flächen in eine so unbedingte Einheit des Sinnes zusammenfließen ließe, wie das menschliche Gesicht. Das Ideal menschlichen Zusammenwirkens: daß die äußerste Individualisierung der Elemente in eine äußerste Einheit eingehe […] – diese fundamentalste Formel des Lebens hat im Menschenantlitz ihre vollendetste Wirklichkeit innerhalb des Anschaulichen gewonnen. Und wie man als den Geist einer Gesellschaft eben den Inhalt solcher Wechselwirkung bezeichnet […] – so ist die Seele, die hinter den Gesichtszügen und doch in ihnen anschaubar wohnt, eben die Wechselwirkung, das Aufeinanderhinweisen der einzelnen Züge.« 79

Analog dazu bedingt ein Ton in seinem Verhältnis zu den anderen das Gesicht eines Akkordes oder eines Motivs und das Antlitz unserer Interpretation; ebenso erscheint in der beziehungsreichen Mannigfaltigkeit musikalischer 79 | Georg Simmel, »Die ästhetische Bedeutung des Gesichts«, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Band 1, S. 36-42 (= Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Band 7). Wie von Simmel berührt erscheint Thomas Manns Beschreibung des lieblich-lebensbereiten Gesichtes Rahels im ersten Band Die Geschichten Jaakobs der Romantetralogie Joseph und seine Brüder (Abschnitt Jaakob kommt zu Laban).

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Gestalten der Geist und Körper des Ganzen von Werk und Wiedergabe. Ja, im Wesen des Gesichts leuchten Grundzüge aller Kunst auf, vor allem der fluiden Körper- und Zeitkunst Musik: »Thatsächlich löst das Gesicht am vollständigsten die Aufgabe, mit einem Minimum von Veränderung im Einzelnen ein Maximum von Veränderung des Gesamtausdruckes zu erzeugen. Für das Problem aller Kunst: die Formelemente der Dinge durcheinander verständlich zu machen […] erscheint nichts prädestinierter als das Gesicht, in dem die Bestimmtheit jedes Zuges mit der Bestimmtheit jedes anderen, d.h. des Ganzen, solidarisch ist. Ursache und Folge hiervon ist die ungeheure Beweglichkeit des Gesichts, die ja, absolut genommen nur über sehr geringfügige Lageverschiebungen verfügt, aber durch den Einfluß jeder einzelnen auf den Gesamthabitus des Gesichts gleichsam den Eindruck potenzierter Veränderungen erregt. Es ist, als wäre ein Maximum von Bewegungen auch in seinem Ruhezustand investiert.« 80

9. B licke und M ienen beim E nsemblespiel Beim gemeinsamen Musizieren formen die Gesichter der einzelnen Spieler mit ihren Stimmen den Körper des Werkganzen, vom Duo bis zum Orchester. Ein Beispiel für mimisch beglücktes und beglückendes Musizieren bietet Jacqueline du Pré im Zusammenspiel mit ihrem Lehrer William Pleeth und mit Daniel Barenboim, in dem die Gesichter musikalischer Gesten harmonisch mit der gemeinsamen Gestaltung des Ganzen zusammen schwingen.81 Mit allen Fasern ihrer Mimik verkörpert Jacqueline du Pré die Musik, die sie spielt; sie zeigt ihre Gefühle beim Musizieren und, stumm kommentierend, ihre Haltung zur Musik: zwischen temperamentvoller Freude und beseelter Innigkeit; und sie offenbart ihre musikalische Nähe zum Mitspieler, mit dem sie aufs Intensivste und Natürlichste interagiert: mit Blicken, Lächeln, Lidbewegungen und allen zur Verfügung stehenden Mitteln, hochexpressiv. Jacqueline du Prés so reiches, wandelbares, offenes Gesicht besitzt mehrere Dimensionen und lässt eine dreifache musikalische Mimik erkennen: die Mimik der Musik (mimetisch); die Mimik zur Musik (bewundernd, dankbar, begeistert); die Mimik zum Mitspieler (offen, nah, voll Freude). Emotionale wie gestisch-illustrative Konversationssignale, die musikalische Rede unterstreichend, und Gesichtsembleme mit klarer Bedeutung (»Achtung: Aufmerksamkeit«) spielen hier zusammen und demonstrieren die »ästhetische Bedeutung

80  |  Ebd., S. 41f. 81 | Remembering Jacqueline du Pré (deutsch: Die unvergessliche Jacqueline du Pré), Filmporträt von Christopher Nupen, WDR/Allegro Films London 1994.

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des Gesichts« (Simmel) beim Zusammenspiel, bei dem zwar vornehmlich das Ohr, doch auch das Auge eine wichtige Rolle spielt. Blickkontakt ist eine wesentliche Voraussetzung gelingenden Ensemblemusizierens und ein zentraler Probenaspekt vom Einsatzgeben und Abwinken (z.B. mit den Augenlidern) über das Anzeigen rhythmischer Impulse und Entwickeln dynamischer Energien bis zum emotionalen Führen, individuellen Verkörpern und gemeinsamen Inszenieren von Musik. So kann zu Beginn einer Probe das gemeinsame Sich-Anschauen und der wechselseitige Blickkontakt aller Spieler geübt werden – ein Sich-Vergewissern der physischen Präsenz aller Mitwirkenden durch ein systematisches »Blickgefunkel«, das im weiteren Verlauf immer wieder aktiviert werden sollte, um dem Versinken in den Noten entgegen zu wirken. Und nicht zuletzt: Auch das Auge des Hörers »isst mit«, das Publikum genießt und versteht die Musik mit Ohren und Augen und erfreut sich an der sichtbaren Freude der Ensemblespieler.

10. W irkungen musik alischer M imik Untersuchungen von Klaus-Ernst Behne u.a. zeigen, dass die visuelle Komponente das Musik-Erleben und -Beurteilen maßgeblich mit beeinflusst. Interpreten mit unbewegt musizierendem Körper, zurückhaltender Gestik und teilnahmslosem Gesicht kommen bei weitem nicht so gut an wie Musiker mit einem körpersprachlich aktiven, engagierten Auftreten und mimisch-gestisch ausdrucksvollem Spiel.82 Der optische Eindruck bestimmt auch den akustischen der Interpretation (selbst wenn das akustische Substrat das gleiche ist) und zeigt, wie wichtig Mimik in ihrer Rückwirkung auf Körper, Klang und musikalischen Ausdruck beim Musizieren und Musikhören ist. Dies wusste bereits Johann Nepomuk Hummel, der in seiner Klavierschule von 1828 berichtet, wie wichtig ihm beim öffentlichen »Phantasieren« vor Kennern und Nichtkennern die Wirkung in »ihren Mienen und andern Regungen während des Fortgangs meines Spiels« war.83 Warum mimisch-gestisch bewegtes Musizieren, sofern wir dazu bereit und aufnahmefähig sind, so stark auf unsere Gefühle wirken und bewegen kann, ist seit den frühen 1990er Jahren erforscht. Der Gefühlsausdruck in Körper, Klang und Antlitz eines guten 82  |  Klaus-Ernst Behne, »Schönheit oder Engagement? Über die notwendigen visuellen Attribute eines Musikers«, in: Ders., Gehört – Gedacht – Gesehen. Zehn Aufsätze zum visuellen, kreativen und theoretischen Umgang mit Musik, Regensburg 1994, S. 67. 83 | Johann Nepomuk Hummel, Ausführliche theoretisch-practische Anweisung zum PianoForte-Spiel, Wien 1828, 2. Auflage Wien 1838, zit.n. Ulrich Mahlert, Einführung, in: Carl Czerny, Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte op. 200, Faksimile der Originalausgabe Wien 1829, hg. von Ulrich Mahlert, S. VII.

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Spielers aktiviert wie ein emotionales Feuerwerk unser Spiegelneuronsystem: Wir hören, sehen, fühlen, spüren den Klangstrom und Gesichtsausdruck der Gefühle im Werk, den ein Musiker uns beim beseelten, bewegten Musizieren vermittelt, als wäre er unser eigener. In diesem Sinne spielen Mienen und Gebärden – als Klang und mit Klang – eine bedeutende Rolle beim Interpretieren und Erzeugen emotionaler Atmosphären im Konzert.

11. Z wischenstand : G efühle zeigen — beseelte M imik beim lebendigen M usizieren Die Mimik ist ein starker Ausdrucksträger, Spiegel und Stimulus, Produkt und Produzent von Gefühlen beim Musizieren, sowohl bei großen Interpreten als auch bei Schülern und Studierenden, z.B. wenn es nicht gut läuft und eine gute Miene hilft, das Spiel zu steuern und zu steigern. Das emotionale Mienenspiel von Musik und Ich in ausgeglichener Balance im Gesichte zu tragen beim Spielen, zwischen Spontaneität und Kontrolle, z.B. bei Fehlern, die man sich mimisch nicht anmerken lässt, und das eigene Gesicht dem Gesicht der Musik anzupassen und behutsam zum Mit-Klingen zu bringen sowie umgekehrt die Musik dem eigenen klingenden Gesicht, sodass ein »drittes Gesicht« entsteht (Klaus Theweleit), ein Gesicht aus Klang und Körper – dies wäre ein erfülltes Musizieren und Musikhören. Wenn in der Auf bruchszeit der musikalischen Moderne, mit dem Erwachen expressiver Subjektivität, Musiker nach der Maxime C. Ph. E. Bachs »nicht anders rühren« können, sie sind »dann selbst gerührt«84, und wenn dazu unabdingbar musikalische Gebärden gehören, die man sehen und hören kann, dann spielt in diesem Rahmen das Gesicht und sein bewegtes Mienenspiel eine zentrale Rolle, vor allem bei Werken mit schnellen Affektwechsel wie z.B. C. Ph. E. Bachs Sonata 1 a-moll, Berlin 1742.

12. M imik im I nstrumentalunterricht Exemplarische Beispiele für Mimik im Unterricht auf höchstem Spielniveau vermittelt ein Filmporträt des Geigers Maxim Vengerov.85 Mit überschäumendem Temperament und grandioser, musikdienlicher Schauspielkunst unter84 | Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Faksimile-Reprint der Ausgaben von 1753 und 1762, hg. von Wolfgang Horn, Kassel 1994, S. 122. 85 | Maxim Vengerov. Playing by Heart von Simon Broughton, The National Video Corporation LTD. 1998.

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richtet Vengerov Studierende verschiedenen Ausbildungsstands. Und es klingt in der Tat anders, wenn er Musik mit allen Fasern seines Körpers inszeniert und musikalische Geschichten auf der Geige (vor)mimt, z.B. Fritz Kreislers Tambourin chinois, oder die Gefühlswelten von Camille Saint-Saëns’ Introduktion und Rondo Capriccioso mimisch-gestisch auslotet. Ähnlich und vielseitiger noch können wir im Instrumentalunterricht von Anfang an mit musikalischem Gefühlsausdruck umgehen, indem wir Tonleitern, Tonverbindungen, Motive, Phrasen, Sätze, Werke auf ihren mimischemotionalen Bedeutungsgehalt hin untersuchen sowie mimisch-gestisch darstellen, sei es mit Hilfe eines Emotionswürfels oder in Form eines »musiktheatralischen Spiels« mit einfachen Tonfolgen in verschiedenen Ausdruckscharakteren durch Veränderung von Rhythmus, Tempo, Dynamik, Spielanweisung, wie Bernhard Logier es vermittelt.86 Ein probates Mittel individueller Ausdrucksschulung stellt auch ein selbst gebasteltes mimisches Emotionsrad dar, mit wechselnden Mundformen zur Imitation und Induktion von Trauer, Freude, Überraschung.

Abbildung 4a: Emotionswürfel

86 | Vgl. Peter Röbke, Vom Handwerk zur Kunst. Didaktische Grundlagen des Instrumentalunterrichts, Mainz 2000, S. 308f. Diesem Buch sind die Abbildungen 4a und 4b entnommen.

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Abbildung 4b: Bernhard Logier

Ähnlich arbeitet der Musikpädagoge Andreas Doerne mit dem von ihm entwickelten »Prinzip der Emotionalen Partitur«, das drei Schritte zum mimisch bewegten und beseelten Musizieren umfasst: 1. »Aufdecken und schriftliches Fixieren emotionaler Bedeutungsgehalte«; 2. »Erkunden und Hineinversetzen in die Emotionen« mit Darstellung des emotionsspezifischen Gesichtsausdrucks und einer passenden Körperhaltung; 3. »Verknüpfen mit instrumentaler Realisation« und Verwandlung der musikalischen Mienen in erfüllten Klang.87 Doerne arbeitet dabei mit Emotionsvokabeln, Smileys und Emoticons, mit denen Schüler ihre »emotionale Partitur« von Klavierstücken wie Pink Panther erstellen, sich zu eigen machen und klanglich verkörpern – und dadurch die musikalische und die individuelle menschliche Gefühlswelt zusammen führen. Ein ähnliches verbales Verfahren verfolgte bereits 250 Jahre früher C. Ph. E. Bach mit seinen Anmerkungen zur Triosonate c-moll, deren erster Satz ein affekt- und effektvolles Gespräch zwischen einem Sanguiniker und Melancholiker darstellt, das nebenbei nur funktioniert, wenn beide Spieler mimisch-gestisch interagieren.88 Ein offener Blick, ein anerkennendes Lächeln und das resonierende Mienenspiel einfühlenden Verstehens, das auch von allen Mimik-Übungen absehen kann, wenn dies dem Schüler zu viel wird, bilden die Basis aller musikalischen Mienen-Spiele. Sie sind konstitutiv für alles nonverbale, musikalisch-körper87 | Andreas Doerne, Umfassend Musizieren. Grundlagen einer Integralen Instrumentalpädagogik, Wiesbaden 2010, S. 140-153. 88  |  Vgl. dazu Rüdiger, Der musikalische Körper, S. 113ff.

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sprachliche Lehren und Lernen, für jede Lehrer-Schüler-Beziehung, jeden gelingenden Unterricht und für alle ästhetischen Gesichtsbewegungen beim Üben, Interpretieren und Konzertieren.89

13. F ür eine E rziehung zu laut- mimischer E xpressivität Wenn der Ausdruck fundamentaler Gefühle im Gesicht beim Säugling sowohl angeboren als auch kulturell geprägt ist, bereits in den ersten Lebensmonaten differenziert auftritt und sich in der lautmimischen Affektabstimmung zwischen Eltern und Kind weiter entwickelt (vgl. oben), so kann gefolgert werden, dass eine lebhafte Ansprache und Interaktion mit Mienen, Klängen und Lautgesten aller Art von frühester Kindheit an förderlich ist, legt dies doch den Grundstein für die spätere spezifisch musikalische Expressivität. Folgen wir dem musikalischen Emotionsforscher John A. Sloboda, so bildet in der Tat die alltägliche außermusikalische, »empirische« Expressivität in Stimme, Mimik und Gestik (die in sich schon tendenziell lustvoll-ästhetisch sein kann) die Voraussetzung für musikalisch-künstlerische Ausdruckskraft und bedarf einer Expressivitätserziehung von Anfang an, die vor allem in der Familie, im gemeinsamen lautgestischen Singen, Spielen und Erzählen, ihren ersten Ort hat. »Wahrscheinlich, so stellen Sloboda & Davidson (1996) fest, erfordert das musikalisch ausdrucksvolle Spielen eines Instrumentes neben intensivem Training über lange Zeit noch andere, zusätzliche außermusikalische Elemente. […] Diese Gesten rühren von körperlichen Ausdrucksbewegungen oder von stimmlichen Zeichen her, die Emotionen transportieren (z.B. Gestus der Zärtlichkeit oder Aggressivität, ein Seufzer oder Schluchzen). […] Eine dem jeweiligen Stück angemessene Aufführung […] wird eher durch die Bewußtheit der emotionalen Wirkung von bestimmten musikalisch-gestischen Merkmalen in der musikalischen Struktur vermittelt, weniger durch die analytische Identifikation solcher musikalischer Strukturen. Diese Bewußtheit bezeichnen die Autoren als ›echte‹ oder ›instinktive‹ musikalische Expressivität. Sie […] verlangt […] ein gewisses Repertoire an expressiven Gesten, dessen Vorhandensein mit einer allgemeinen, außermusikalischen Expressivität zusammenhängt. Ebenso muß selbstverständlich auch eine sensible Reagibilität auf solche expressive Gesten vorhanden sein […]. Je früher ein Kind zu singen beginnt, desto mehr Übung erlangt es vermutlich auch im musikalischen Ausdrucksvermögen und Ausdrucksverständnis.« 90

89 | Vgl. Anselm Ernst, Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht. Ein pädagogi­ sches Hand­b uch für die Praxis, Mainz 1991, S. 143. 90 | Gembris, Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung, S. 167f.

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Etliche Kinderlieder, Bewegungslieder (z.B. von Wolfgang Hering) und Spiele mit lautmimisch-gestischer Beteiligung, expressiver Agogik und immenser Dynamik bieten sich hier an, z.B. Kleiner Tommy Tinker (aufjauchzende Freude mündet hier in Trauer), Der Trommelkönig von Kalimbo von Uli Führe (spielerisch kann in der 2. Strophe Wut ausagiert werden), Süße Drops – Saure Drops – und viele andere, in denen primäre Gefühle in Fülle und Veränderung zum Ausdruck kommen – klingende Goldgruben emotionaler Erfahrung und Erziehung, die auch Erwachsenen Spaß machen.91

14. M usik alische G esichter von E pochen und K ulturen — ein V ersuch Eine solche Erziehung zu lautmimischer Ausdruckskraft von Kindheit an hat ihre Größe und Grenze darin, dass sie maßgeblich kulturell bedingt ist. Wie jedes Werk, besitzen hypothetisch jede musikalische Epoche und jede Kultur ihr eigenes, mehr oder weniger bewegtes Gesicht, das nicht über einen einheitlichen expressiven Erziehungskamm zu scheren ist. Ein Versuch, musikalische Gesichter von Epochen und Kulturen zu erfassen, kann freilich nur schematisch bleiben und allgemeine Tendenzen in den Blick nehmen, die auf subjektiven Entscheidungen und selektiven Kenntnissen beruhen. So ist der folgende Blick selber historisch und kulturell geprägt. Quer zu allen musikhistorisch fragwürdigen Epocheneinteilungen unterscheide ich heuristisch Gesichter dreier Jahrhunderte. Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert kristallisieren sich in diesem Sinne drei musikalische Gesichter heraus: a) das erwachende, in Bewegung geratende Gesicht des 18. Jahrhunderts; b) das ekstatische oder exzessive Gesicht des 19. Jahrhunderts; c) das erhörte bis unerhörte Gesicht des 20. Jahrhunderts. a) Seit ca. Mitte des 18. Jahrhunderts erwacht das Gesicht der Musik und des Menschen zu expressiver Individualität, seelischer Einfühlung und wandlungsfähiger Bewegtheit. Dies beginnt auf Musikseite mit dem Wandel von der barocken Rhetorik und Affektenlehre zum subjektiven Ausdruck, auf Mimikseite mit der Ablösung der an Descartes orientierten rationalen, schematischen Darstellung der Leidenschaften bei Charles Le Brun durch die psychologisierende Ausdruckskunst in Schauspieltheorie und Physiognomik bei Lessing, Lavater, Lichtenberg, Engel u.a., mit allen ästhetisch-kompositorischen und mimischen Entsprechungen bei den Bach-Söhnen, Haydn, Mozart und Beethoven. Anschauliche Modelle für diesen Paradigmenwechsel bilden das un91  |  Vgl. Rüdiger, »Eine Folge von Tönen…«, S. 10, und, »Süße Drops – Saure Drops«, zit. n. Birgit Bach/Peter Boch »Streicherklassenunterricht nach Paul Rolland«, in: Musik und Unterricht 49/1998, S. 63.

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persönliche, geschminkte und mit Schönheitspflästerchen versehene Gesicht des menschlichen »Kleiderpuppen«-Körpers im Ancien Régime einerseits, das tränenüberströmte Gesicht des weinenden Säkulums ab Empfindsamkeit und Sturm und Drang andererseits.92 Die in diesem Zusammenhang entwickelte Theorie und Praxis des influxus corporis, d.h. der Erzeugung von Gefühlen durch gezielte Körpergesten und Gesicht, besitzt Gültigkeit bis heute und findet Bestätigung in neueren Forschungen zur Wechselwirkung von Gesicht und Gefühl bei Silvan Tomkins, Paul Ekman, Carroll E. Izard und anderen. b) Das musikalische Gesicht des 19. Jahrhunderts wird auf Musikseite geprägt vor allem von der persönlichen Leidens-, Wollens-, Sehnsuchts- und Erlösungsgestik der Musik Beethovens. Ein literarisches Pendant könnte man, mit Richard Sennett, in den metaphorischen Gesichtsschilderungen Balzacs sehen, in denen sich die »Personalisierung der Gesellschaft« im 19. Jahrhundert spiegelt,93 im deutschen Sprachraum vorher schon in den unbotmäßigen Blicken und Mienen der Figuren E. T. A. Hoffmanns. Von den exzessiven Mienenspielen, exaltierten Lachsalven und bohrenden Blicken des Kapellmeisters Johannes Kreisler ist es nur ein kleiner Schritt zu den virtuosen Expressionen Paganinis und anderer öffentlicher Stars – oder Freaks – der Romantik. Ähnlich ekstatische Doppel- und Mehrfachantlitze finden wir in den musikalisch-mimischen Psychogrammen und Doppelgängern Schumanns – z.B. die Temperamentsmimik Florestans versus Eusebius’ seliges Lächeln – bis hin zu den mimischen Abgründen von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, zu den Ekstasen Elektras und Salomes und zum Fin-de-Siècle-Bildnis des Dorian Gray. Vorbereitet vom skeptischen Realisten Lichtenberg im späten 18. Jahrhundert, spaltet sich das Gesicht des 19. Jahrhunderts in eine Ästhetik des Hässlichen und des Schönen, der Verehrung und Verzerrung, »Gliedermann« und »Gott« in Literatur, Kunst und Karikatur, musikalisch gefasst z.B. in Wilhelm Buschs Bilderfolge Der Virtuos.94 c) Im 20. Jahrhundert wandern Gesicht und Mienenspiele – wie Atem und Körper insgesamt – verstärkt in die unendlich sich ausweitende Musik ein und werden Thema und Sinn klingender Kunstwerke aller Art. Der Klang der Mimik wird als eigener Ausdrucksträger erhört und zu unerhörten neuen Formen und Faltungen, Verschiebungen und Perspektivwechseln geführt. Einerseits wandelt sich das romantisch-expressive Gesicht der Musik in eine reale Musik des Gesichts in Futurismus und Dadaismus. Andererseits verfeinert es seine Züge in 92  |  Vgl. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt a.M. 1986, S. 93ff. 93 | Sennett, Verfall und Ende, S. 205-209. 94  |  Vgl. Ulrich Mahlert, »Gliedermann« und »Gott«. »Der Virtuos« von Wilhelm Busch«, in: Üben & Musizieren 3/1996, S. 9–19.

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die subtilen Mienenspiele der Miniaturen Arnold Schönbergs und Anton Weberns. Und drittens verschachtelt es sich in die perspektivischen Simultaneitäten und Verzerrungen des Kubismus mit seinen Doppelgesichtern en face und en profile gleichzeitig, z.B. in den Porträts Pablo Picassos, die wiederum Entsprechungen in der körperhaften Musik und sperrigen Klangwelt von Edgard Varèse finden und Komponisten wie N.A. Huber bis heute beeinflussen.95 Die Vielfalt mimischer Erscheinungen in der Musik des 20. Jahrhunderts, die wir im Folgenden kursorisch Revue passieren lassen, bewegt sich zwischen den Polen des stillen und des ekstatischen Gesichts in Werken von John Cage und Jani Christou.

15. G esichtsthematik und mimisches The ater in W erken des 20 . J ahrhunderts Im 20. Jahrhundert – dem Jahrhundert des erhörten und unerhörten Gesichts – werden Mienenspiele zum Ausgangspunkt und integralen Bestandteil musikalischen Schaffens. Ein Gedicht von Christian Morgenstern hebt Gestik und Gesicht gar in den Status eines Kunstwerks selbst und nimmt hellsichtig kommende Entwicklungen vorweg:96 Christian Morgenstern, L’art pour l’art (1910) Das Schwirren eines aufgeschreckten Sperlings begeistert Korf zu einem Kunstgebilde, das nur aus Blicken, Mienen und Gebärden besteht. Man kommt mit Apparaten, es aufzunehmen; doch v. Korf »entsinnt sich des Werks nicht mehr«, entsinnt sich keines Werks mehr anläßlich eines »aufgeregten Sperlings«.

Ein frühes Beispiel für die Integration von Mienensymbolen ins Notenbild, das hier nur aus Pausen besteht, finden wir in Erwin Schulhoffs drittem Stück, In

95 | Vgl. Wilfried Gruhn, »Klang als Raum. Der Einfluß der Malerei auf die Musik von Edgard Varèse«, in: Visionen und Aufbrüche. Zur Krise der modernen Musik 1908-1933, hg. von Günther Metz, Kassel 1994, S. 159-176 (= Hochschuldokumentationen zu Musikwissenschaft und Musikpäd­a gogik Musikhoch­s chule Freiburg, Band 5). 96 | Christian Morgenstern, Gedichte – Verse – Sprüche, Limassol 1993, S. 104.

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Futurum. Zeitmass – zeitlos, aus den Fünf Pittoresken für Klavier, Werk 31, Dresden 1919, »Dem Maler und Dadaisten George Grosz in Herzlichkeit zu eigen!«97

Abbildung 5: Erwin Schulhoff, In Futurum

Beispiele für die vielfältige Arbeit mit Gesicht und Mimik im 20. Jahrhundert sind Luciano Berios Sequenza III für Gesang und Visage für Stimme und Tonband (1961), Jani Christous emotionale Gesichtssymbole zur Beeinflussung der Psychogestik und »Metapraxis« seiner Interpreten, Nicolaus A. Hubers Werke mit »instrumentalen und akustischen Mienenspielen« (s.u.), die Körperkompositionen von John Cage, Mauricio Kagel (z.B. Con Voce, 1972), Heinz Holliger (Cardiophonie, 1971), Vinko Globokar (dessen ?Corporel von 1984 mit dem Abtasten des Gesichts beginnt), Ian Willcock (Face, 1989) und Isabel Mundry (Gesichter nach dem Gedicht Ges-ICH-ter von Yoko Tawada, 1997). Und in Bruno Madernas Elektronischer Komposition Le Rire (1962) wie in Les rires du Gilles für Orchester (1981) von Michael Levinas begegnen uns zwei Werke, die eine Art kompositorische Anatomie des Lachens vorlegen. 97 | Vgl. dazu Marianne Betz, »›In futurum‹« – von Schulhoff zu Cage«, in: Archiv für Musikwissenschaft 4/1999, S. 331-346.

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Eine kritische Auseinandersetzung mit der »Natur« von instrumentalen Mienenspielen als Ausdruck »rein subjektiver« Innerlichkeit und körpertonalem Merkmal bürgerlicher Musikkultur leistet N. A. Huber 1971/72 in seinem Werk Anerkennung und Auf hebung (Georg Lukács). Dessen »erste [Film-]Schicht [auf der großformatigen farbigen Hauptleinwand] besteht aus 300 Muskelkombinationen (Auge, Blickrichtung, Stirn, Mund, Hals, Brust, Arme, Bauch, Beine), die, paarweise kombiniert […], das heißt: mit musikalischen Mitteln, größere Ausdrucks-Reichhaltigkeit erhalten. Die Mienen stellt kein Schauspieler dar, sondern ein Musiker, der auch seinen Körper (als Interpret) genau kennt.«98 Die zweite der insgesamt fünf sich gegenseitig reflektierenden, »in ihrer direkten Wirkung verfremdeten« audiovisuellen Schichten – in Schwarz-Weiß auf eine der drei kleineren Nebenleinwände projiziert – besteht aus insgesamt 41 stummen Instrumental-Aktionen, denen »das Ausdrücken von wütend, ablehnend, starr, sadistisch, elegisch« etc. »aufmoduliert« wird. Die dritte Schicht ist eine reflektierende Text-Schicht, die vierte enthält akustische Ereignisse als mehrere »Vertikalstücke«, die das mimische Reiz-Reaktions-Geschehen – die emotionale Resonanz, heute als Spiegelneuronwirkung erkannt – durchkreuzen und »Schall-Mitschwingreaktionen« hervorbringen. Die fünfte Schicht attackiert die »Seh-Hörer« mit »direkteren Reizschichten« wie »tiefer Brumm, Wind, Husten«… Auge und Ohr »wissen«, »helfen«, reflektieren und lernen voneinander. »Wie sensibel und hellhörig ist man am Ende geworden? […] Man hört hier keine Musik als Komposition, sondern Menschen und ihre Vielfältigkeit, um über Musik etwas zu lernen« – und über Mimik beim Instrumentalspiel und beim wachen, distanzierten, kritischen Hören. Denn: »Im Saal sind mehrere Spiegel verschiedener Vergrößerung und Verzerrung aufzustellen, damit das Publikum seine eigenen Gesichtsmienen studieren und vergleichen kann« (Partitur S. 3) – ein audiovisuelles, kritisches Seh-Hör-Stück Musik über Musik und musikalischer Mimik über Mimik. In Werken wie Seifenoper (OmU) für Ensemble (1989), »Mit etwas Extremismus« und einer Muskel-Coda (1991) und En face d’ en face für großes Orchester und Tonband (1994) greift Huber die Gesichtsthematik unter veränderten historischen Vorzeichen wieder auf: »Ein Gesicht im Gesicht als Gesicht ist eine wunderbare Vorstellung.«99

98 | Nicolaus A. Huber, Werkkommentar zu Anerkennung und Aufhebung (Georg Lukács), in: Ders., Durchleuchtungen. Texte zur Musik 1964-1999, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden 2000, S. 347f.; die folgenden Zitate ebd. und in der Partitur. Als Quelle für seine mimischen Anweisungen nennt Huber in der Partitur: Philipp Lersch, Gesicht und Seele, München 61966. 99  |  Nicolaus A. Huber, Werkkommentar zu En face d’ en face für großes Orchester und Tonband (1994), in: Durchleuchtungen, S. 377.

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16. D as G esicht der S tille und die M imik der E ntfesselung – C age vs . C hristou Jenseits jeden subjektiven Ausdrucks bewegt sich das Gesicht von John Cages 4’33’’ aus dem Jahr 1952, von David Tudor kongenial am Klavier verkörpert;100 besser: Es bewegt sich nicht und ist doch voll da. Denn ebenso präsent, gelassen, unbewegt und leer wie die Musik ist das Gesicht David Tudors beim Zelebrieren des »stillen Stücks«, das das musikalische Gesicht der Stille ins Werk setzt: ein Fallenlassen aller Emotionen und zu objektivem Klang Werden oder Kommen Lassen der Welt. Welch ein erfülltes Gesicht der Stille, platzend vor Leere gleichsam, in der ein neuer Bezug von Ich und Welt sich stiftet, und welch ein Gesicht höchster musikalischer Intensität, voll sparsamster Handlung und spürbarer Wahrnehmung beim Spielenden, der in Wahrheit ein Bespielter ist, mehr Antenne als Aktion.

Abbildung 6: Jani Christou, Anaparastasis III — The Pianist (1968)

Und welch ein Gegensatz dazu die Mimik der Entfesselung in den »Vergegenwärtigungen« ferner Vorgeschichte und ihren rituellen »Wiederaufführungen«, so die Bedeutung der Anaparastasis-Werke von Jani Christou, in denen die Spieler, inspiriert durch Mienensymbole, alle mimischen und musikalischen Schranken durchbrechen, die Fesseln herkömmlicher instrumentaler Praxis

100  |  In dem Filmporträt Ich habe nichts zu sagen und ich sage es. John Cage von Allan Miller. Eine American Masters Produktion für RM Arts und den Südwestrundfunk, WNET/RM Arts 1998.

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sprengen und sich in einen orgiastischen Rausch, ja in eine archetypische Ekstase hineinsteigern, die ebenso befreiend wie erschreckend wirkt.101

7a) Gefühllosigkeit 7b) laute Fröhlichkeit 7c) Aggressivität 7d) Angst Abbildung 7: Gesichtssymbole bei Jani Christou, in: Jani Christou: Im Dunkeln zu singen, S. 80

17. L eere und kontrollierte G esichter , unterdrück te M ienenspiele , M askierung und G esichtsverlust Viel erschreckender noch und jenseits sowohl der stillen Mimik Cages wie der stupenden Christous, die auf gegensätzliche Weise eine volle Leere und Fülle von Welt inszenieren, gibt es eine leere Leere des Gesichts, die nicht einmal mehr Stille ist im Sinne Cages und gänzlich ohne Klang, einer Mimik des Todes gleich. Beschrieben wird sie in dem Roman Gefährliche Geliebte von Haruki Murakami:102

101 | Vgl. die Texte von Hans W. Koch und Anna-Martine Lucciano in: Jani Christou: Im Dunkeln singen. Symposion Jani Christou Hamburg 1993, hg. von Klaus Angermann, Hofheim 1994, S. 75-92 und S. 93-102. 102 | Haruki Murakami, Gefährliche Geliebte. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni Bandini und Ditte Bandini, Köln 72001, S. 219f.

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Wolfgang Rüdiger »In ihrem Gesicht war nichts, was man Ausdruck hätte nennen können. Nein, das trifft es nicht ganz. Ich sollte es so beschreiben: Ein Zimmer, das man restlos ausgeräumt hat, war ihr Gesicht von allem entkleidet, was man als ausdrucksvoll hätte bezeichnen können, und nichts war übriggeblieben. Nicht der leiseste Anflug einer Regung streifte ihr Gesicht; es war wie der Grund eines tiefen Ozeans, stumm und tot. Und mit diesem vollkommen ausdruckslosen Gesicht starrte sie mich an. Zumindest glaubte ich, dass sie mich ansah. Ihre Augen blickten starr in meine Richtung, doch in ihrem Gesicht zeichnete sich nichts ab. Oder was sich darin abzeichnete, war eine unendliche Leere. Ich stand sprachlos da, wie betäubt. Kaum noch fähig, mich aufrecht zu halten, atmete ich langsam ein und aus. Für ein, zwei kurze Augenblicke brach mein Ichgefühl auseinander […]. Durch das Glas [des Taxis] hindurch streichelte ich langsam dieses gesichtslose Gesicht. Izumi bewegte keinen Muskel, blinzelte nicht einmal. War sie tot? Nein, nicht tot. Sie war noch am Leben, in einer reglosen Welt. In einer tiefen, stummen Welt hinter dieser Glasscheibe lebte sie. Und ihre unbewegten Lippen sprachen von einem unendlichen Nichts.«

Gesichter, die der durchglühten musikalischen Mimik denkbar fern sind und jeder »Gesichtsarbeit« ( face work) als sozialdienliches Verhalten im Sinne Erving Goffmans spotten,103 sind keine Seltenheit in Literatur, Kunst und Musik. In der Tradition französischer Orgelmusik beispielsweise, vertreten durch die Schule Marcel Duprés, ist eine Praxis und Pädagogik virtuosen Orgelspiels ganz ohne Gesichtsausdruck und Körperbewegung verbreitet. Angesiedelt gleichsam auf der anderen Seite unserer Thematik, können solche Hinweise und Darstellungen, ebenso wie Formen übermäßiger Kontrolle, Maskierung und Gesichtslähmung,104 unser Thema profilieren und das Phänomen musikalischer Mimik in ein neues Licht rücken – daher die folgende kleine Literaturauswahl: »Ihr [der Nonne Oljas, des vormals koketten, lach- und lebenslustigen Pflegekindes] Gesicht war jetzt leidenschaftslos und ausdrucksarm, wirkte kalt und bleich, geradezu durchsichtig, als ob in ihren Adern Wasser statt Blut flösse.«105 103  |  Vgl. Terry Landau, Von Angesicht zu Angesicht. Was Gesichter verraten und was sie verbergen, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 230f. Den gleichen Obertitel trägt der Katalog der Ausstellung im Städtischen Museum Leverkusen Schloß Morsbroich Von Angesicht zu Angesicht. Mimik – Gebärden – Emotionen, hg. von Oliver Zybok, Leipzig 2000, eine historisch-systematische Fundgrube von Gesichtsdarstellungen aller Art. 104 | Wie sehr z.B. eine Gesichtslähmung, das so genannte Möbiussyndrom, mit einer Beeinträchtigung des emotionalen Erlebens und des sozialen Lebens einhergehen kann, schildert Cole, Über das Gesicht, S. 18f. und 165ff. 105 | Anton Tschechow, Wolodja der Große und Wolodja der Kleine, in: Anton Tschechow, Von der Liebe. Erzählungen aus den Jahren 1880 bis 1898, Düsseldorf 2006, S. 129f.

Ist Mister Utterson musikalisch? Über Gesicht, Gefühl und Mienenspiel »Er war von einer besonderen, etwas starren Schönheit, seine schwarzen Haare hingen ihm in schlichten Spitzen von der Stirn herab, ein Gesicht beschattend, das, ernst und klug, seine Mienen niemals veränderte.«106 The Love Song of J. Alfred Prufrock »[…] And indeed there will be time For the yellow smoke that slides along the street, Rubbing its back upon the window-panes; There will be time, there will be time To prepare a face to meet the faces that you meet«.107 Der Spiegel »Ich blickte in den Spiegel und wusste sofort: das bin nicht ich. Das war nicht mein Gesicht. Das war ein anderer, der so tat, als wäre er ich. Vielleicht war es auch ein anderer, der so tat, als wäre er ein anderer. Aber es war nicht mein Gesicht. Es war nicht das Gesicht, mit dem ich geboren wurde, und auch nicht das Gesicht, mit dem ich sterben werde. […] Ich habe ein anderes Gesicht.«108

18. A ntlit z und Tr anszendenz — D as G esicht hinter allen G esichtern Wir sehen: Man hat sein Gesicht, wie das Leben, nicht in seiner Hand. Wir sind unser Gesicht und es ist mehr als wir, Poesie und Religion zugleich (Rainer Marten). Vielleicht sind wir gar mehrere Gesichter, und mehrere Gesichter haben uns. Denn auf dem Grunde eines jeden individuellen Gesichts ruht ein anderes, größeres, das Gesicht aller Gesichter, das tiefer noch ist als das Gesicht von Geist und Gesellschaft, das »Urantlitz« des Zen, das eines der frühesten Koans formuliert: »Wenn dein Geist nicht im Zwiespalt von Gut und Böse weilt, was ist dann dein ursprüngliches Antlitz, bevor du geboren warst?«109 Auf eine weitere Stufe des Brunnens der Gesichter – man kann mindestens fünf bis sechs Ebenen unterscheiden, wobei die empirischen drei das persönliche Gesicht, das Gesicht der Musik und das »dritte Gesicht« der musikalischen Mimik beim Musizieren ist – führt uns Francois Cheng: 106  |  Heinrich von Kleist, Der Findling, Reclam-Ausgabe, Stuttgart 2012, S. 54. 107  |  T. S. Eliot, The Love Song of J. Alfred Prufrock (1910/11). 108 | Harold Pinter, Der Spiegel (2007). Aus dem Englischen von Matthias Fienbork, zit.n. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Dezember 2008, S. 29. 109 | Zit.n. Eugen Herrigel, Der Zen-Weg, München 131994, S. 25 und Daisetz T. Suzuki, Die große Befreiung. Einführung in den Zen-Buddhismus, Bern/München/Wien 16 1976, S. 144.

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Wolfgang Rüdiger »Was insbesondere das menschliche Gesicht angeht, mache ich mir folgenden Gedanken von Henri Maldiney zu eigen – einen Gedanken, der mir lieb und teuer ist: ›Jedes menschliche Gesicht strahlt eine Transzendenz aus, die man nicht zu seinem Besitz machen kann, die uns umhüllt und durchdringt. Sie ist nicht die Transzendenz eines besonderen seelischen Ausdrucks, sondern geht auf die Seinseigenschaft eines jeden Gesichts zurück, auf seine metaphysische Dimension. Sie ist die Transzendenz der Realität, die sich in ihm befragt und in ihm nachdenkt, und in eben diesem Fragen ist sie die exklamative Dimension des Offenen.‹« […] »Vom Gesicht gilt es, in Begriffen von Opfergabe oder Öffnung zu sprechen. Denn das Geheimnis und die Schönheit des Gesichtes kann letztlich nur durch die Blicke anderer oder durch ein andersartiges Licht verstanden und erschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, das schöne französische Wort ›visage‹ zu bewundern. Es legt den Gedanken an eine sich frei ausbreitende Landschaft nahe und – zusammen mit diesem Sich-Ausbreiten – an ein ›Vis-à-vis‹, ein Gegenüber.«110

Von hier aus wäre des Weiteren der Begriff des Antlitzes bei Emmanuel Levinas zu untersuchen, Rudolf Kassner zu befragen und seine Spuren bei Robert Musil zu verfolgen111 – weit reichende Aufgaben – oder Léon Bloy das Wort zu geben: »Jedes menschliche Antlitz ist eine genau bezeichnete Paradiespforte, die mit keiner anderen Himmelstür zu verwechseln ist und welche niemals von mehr als einer einzigen Seele durchschritten werden kann.«112

19. D as A ntlit z G ottes und die K unstreligion Welches aber ist das »andersartige Licht«, das das Geheimnis des Gesichts versteht und erschließt? Alle Beschäftigung mit dem Gesicht und Mienenspiel ruht im tiefsten Inneren auf dem Grunde der Religiosität: der Frage nach dem Antlitz Gottes, der »den Menschen sich zum Bilde [schuf]«, so das Motto der Physiognomischen Fragmente Lavaters, für den Religion stets »Physiognomie, und Physiognomie Religion« ist.113 Wenn die Geburtsstunde der modernen Seelensprache im menschlichen Gesicht mit dem Höhepunkt des religiösen, 110 | François Cheng, Fünf Meditationen über die Schönheit. Aus dem Französischen von Judith Klein, München 2008, S. 25, 57f. und 130f. 111  |  »Wenn sich Musik aber mit dem Gesicht verbindet, dann schwanken die Mauern, und aus dem Grab der Gegenwart steht das Leben der Kommenden auf.« Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, hg. von Adolf Frisé, Band 1: Erstes und Zweites Buch, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 712. 112 | Léon Bloy, Tagebücher 1892-1917. Hg., ausgewählt und zum Teil erstmals aus dem Französischen übertragen von Peter Weiß, Wien/Leipzig 2008, S. 59. 113 | Borrmann, Kunst und Physiognomik, S. 121.

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philosophischen und ästhetisch-künstlerischen Sturm und Drang zusammenfällt und von den Fragmenten Lavaters über Lichtenberg und Engel in die Kunstreligion des 19. Jahrhunderts und die Leib-Seele-Diskussion bis heute einwandert, so ist die Frage nach Mimik und Musik implizit getränkt von der Frage: »Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue?« (Psalm 42), der Aufgabe, »Suchet sein Antlitz allezeit!« (Psalm 105) und der Bitte um die Gnade göttlichen Segens (4. Mose 6, 24-26). Und so haben »unzählige Menschen über das Thema des Blicks – und darüber hinaus über das Thema des menschlichen Gesichts – in Verbindung mit dem Blick Gottes meditiert« – nach einem mystischen Spruch Meister Eckharts, der Hegel faszinierte: »Das Auge, mit dem ich Gott sehe, ist dasselbe Auge, mit dem Gott mich sieht.«114 Oder wie fragt Friedrich Hölderlin: Was ist Gott?… »Was ist Gott? Unbekannt, dennoch Voll Eigenschaften ist das Angesicht Des Himmels von ihm. […]«

20. N och einmal : M r . U tterson oder W ie viel G esicht muss , wie viel G esicht darf sein beim Ü ben und M usizieren ? »… das ganze Gesicht nachdenklich, beinahe düster. […] Keine Schönheit … aber was für ein ausdrucksvolles Gesicht! Reglos … aber ausdrucksvoll! Ein solches Gesicht habe ich noch nie gesehen.«115

Reglos und unzugänglich, aber ausdrucksvoll – dies gilt auch, wie wir jetzt behaupten dürfen, für das Gesicht von Mister Utterson, einem durch und durch musikalischen Gesicht in einem Zwischenstadium von Cages Stille und potenziell bewegter Fülle – ein Gesicht, das aufnimmt und abgibt, beobachtet, mitfühlt, eingreift und ergreift (leider zu spät – vielleicht aufgrund seiner verhängnisvollen Verschwiegenheit). Ablesbar aber ist dies an seinen Augen. Sie sind das Feuer von Menschlichkeit, Mitgefühl, Toleranz und Hilfsbereitschaft im charaktervollen Gesicht Mister Uttersons, der natürlich musikalisch ist und wohl lediglich verlernt hat, dies offen zu zeigen. Ein geringes In-Bewegung-Geraten seiner affektkontrollierten Gesichtszüge, so mutmaßen wir, würde den Bann seiner abgetöteten Leidenschaft zum Theater brechen und ihn womöglich in die Oper treiben, wo 114 | Cheng, Fünf Meditationen über die Schönheit, S. 102. 115 | Ivan Turgenev, Klara Milic. Zwei Novellen. Aus dem Russischen übersetzt von Dorothea Trottenberg, Zürich 2006, S. 68 und S. 102.

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sein jahrzehntelang berufsbedingt beherrschtes Antlitz ins Mitsingen, Klingen, Jubeln, Lachen, Weinen geraten könnte. Zudem bedeutet, wie wir gesehen haben, ein »unzugängliches« Gesicht noch lange nicht die Abwesenheit von Emotionen, die internalisiert werden und in innerer physiologischer Erregung des autonomen Nervensystems ohne äußere Anzeichen glühen können.116 Darüber hinaus gibt es subtile Mienenspiele in Form von schwach ausgeprägten, partiellen Ausdrücken oder Mikroausdrücken, die mit dem bloßen Auge nicht erkennbar sind.117 Zudem kann es sich bei Mr. Utterson, im Unterschied zu vielen anderen, um einen »besonders fähigen Unterdrückungskünstler« handeln.118 Und nicht zuletzt gibt es Menschen, die ihre Emotionen weniger im Gesicht, vielmehr in ihrer Stimme zeigen: »Mr. Utterson seufzte tief.«119 Denn es scheint »schwerer, Anzeichen von Emotionen in der Stimme zu unterdrücken als im Gesichtsausdruck, und auch schwerer, den Gefühlsausdruck im Gesicht zu unterbinden als in den Körperbewegungen.«120 Lassen wir also Gefühle zu beim Musizieren und unsere Mimik dabei los. Und lassen wir Gefühle los und ein Gesicht zu, das die Welt und uns zum Klingen bringt – das ruhige, gelassen ausdrucksvolle Gesicht aufmerksamen Horchens. So sagen wir uns: Lasse die Gefühle durch Dich hindurchgehen, Du hast sie in Dir – und mach’ die Mimik nicht, verstelle sie nicht, sondern mach’ sie Dir bewusst, übe sie als der, der Du bist, und lasse sie geschehen. Konzentriere Dich und Dein Gesicht. Und bedenke stets: Nicht gibt es ›die Musik‹, sondern nur historisch und kulturell geprägte, und dies gilt ebenso für musikalische Mimik: das Mienenspiel der Musik und beim Musizieren, das individuell ist und historisch-kulturell bedingt – und zugleich mehr als das. Mimik darf sein, muss aber nicht sein beim Musizieren, das auch mit minimaler Bewegung und mikrologischem Blick auf Musik und Menschenwelt wirkungsvoll sein kann. Mimik ist so vielfältig wie Musik, der sie innewohnt von Anbeginn, in Werk, Kultur, Epoche, und höchst individuell bei jedem Musiker, dessen Gesicht und Mienenspiel ein Rätsel bleiben lebenslang, unvordenklich, unverfügbar – Offenbarung und Geheimnis, Enthüllung und Verhüllung, Transzendenz und Tanz zugleich.

116  |  Vgl. Carroll E. Izard, Die Emotionen des Menschen. Eine Einführung in die Grundlagen der Emotionspsychologie, Weinheim 31994, S. 102ff. und Dornes, Der kompetente Säugling, S. 124. 117 | Ekman, Gefühle lesen, S. 323. 118 | Ekman, Gesichtsausdruck und Gefühl, S. 172. 119 | Stevenson, Dr. Jekyll and Mister Hyde, S. 12. 120 | Ekman, Gesichtsausdruck und Gefühl, S. 172.

Ist Mister Utterson musikalisch? Über Gesicht, Gefühl und Mienenspiel

Z um S chluss Durs Grünbein: Der Eisberg und seine Spitze »Von Anfang war da Mimik. Fragt sich, was soll es bedeuten? Der wippende Weidenzweig, das Beben der Schmetterlingsflügel Sind wie das Säuglingslächeln, unbewusst. Warum gerad heute? Kein Fältchen kreuzt diesen Pfad über die Pausbackenhügel, Wo die Laune heraufkriecht. Ist das Traurigkeit? Ist es Süße? Ein Köpfchen, behaart wie die Kokosnuß, so weich wie Papayas, Und schon liegt die Stirn gerunzelt, ein Schneefeld für Krähenfüße. Was heißt denn Ausdruck? Sie lüften den Schleier der Maya, All die Grimassen, seraphischen Mienen, doch keine läßt Spuren. Manchmal erschauern die Lider, kräuselt der Mund sich, nur so. Noch sind sie blau, diese Augen. Ihr Blick folgt den Konturen Der Gesichter dort oben, der Kissen, des Zimmers, der Brüste. Dann erscheint sie, die Spitze des Eisbergs, blank wie der Po, Dieses Etwas, das einmal Ich sagen wird. »Wenn ihr wüsstet …« All dieses Kichern, Sichzieren, Beleidigttun, Aufstöhnen ist So unfassbar wie die Laus auf der Leber, das Wetter, der jüngste Tag. Das Deuten überläßt er den Seinen, dieser winzige Expressionist. Und so geht es, ein Leben lang. Verstehen wird ihn nur, wer ihn mag.«121

121 | Durs Grünbein, Una storia vera. Ein Kinderalbum in Versen, Frankfurt a.M. und Leipzig 2002, S. 19.

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Körperliche Navigation Verkörperte und erweiterte Kognition als Hintergrund der Interpretation komplexer Klaviermusik nach 1945 Pavlos Antoniadis

E inleitung : A porien der I nterpre tation Die interpretationstheoretische Auseinandersetzung mit Werken der zeitgenössischen Musik wurde bislang von Prämissen dominiert, deren Bezugspunkt eigentlich das traditionelle Repertoire darstellte – ungeachtet der radikalen Umbrüche im Komponieren nach 1945. Unter diesen Vorzeichen blieb dann kaum etwas anderes übrig, als die in den Werken nach 1945 ins Auge springende Steigerung der musikalischen Komplexität vorrangig als eine Herausforderung für das Verständnis und die Spieltechnik der Interpreten zu betrachten, deren Tätigkeit vom olympischen Motto »schneller, höher, weiter« gesteuert erschien. Ganz in diesem Sinne findet man beispielsweise anlässlich von Paavli Jumppanens Aufnahme der drei Klaviersonaten von Pierre Boulez den folgenden Kommentar des Komponisten: »Paavali Jumppanen versteht den Text dieser Sonaten und hat die technischen Möglichkeiten, sie zu spielen […]. Es war interessant zu sehen, wie jemand, der in einer anderen Zeit aufgewachsen ist, diese Stücke auffasst. Für mich waren sie Stufen in meiner Entwicklung, ein Teil meiner selbst, und für ihn sind sie Objekte, die er auf seinem Weg gefunden hat, und nun muss er sich damit befassen und etwas damit machen.«1

In diesem Zitat beschwört Boulez nicht nur die traditionelle Kette von Verständnis, Technik und Interpretation, sondern bezeichnet zugleich auch die Grundaporie jeder total bestimmten Partitur: Die objektiven Voraussetzungen 1 | Pierre Boulez: Die drei Klaviersonaten, Klavier: Paavali Jumppanen, Deutsche Grammophon 2005, Booklettext von Pierre Boulez (Hervorhebung P. A.).

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eines interpretativen Ansatzes, als Verständnis des Textes und als Spieltechnik bestimmt, lassen, so muss man Boulez verstehen, anscheinend einen unbestimmten persönlichen Ausdrucksraum für den Spieler. Zusätzlich erhebt dieser interpretative Raum keinen Anspruch auf Authentizität im Sinne einer Autorintention.2 Die Frage ist unvermeidbar: Was kann der Interpret jenseits dieser Voraussetzungen wirklich hinzufügen? Worin genau besteht die Interpretation, wenn alles durch die Notation schon fixiert ist? Der erste Interpret der zweiten Klaviersonate, der Amerikaner David Tudor, geht weiteren und komplizierteren Fragen nach. In einem rückblickenden Interview berichtet er über die Herausforderungen, die sich ihm bei der Vorbereitung der Uraufführung der zweiten Sonate stellten »Ich war immer berühmt für meine Fähigkeit, mit komplexen Partituren umzugehen, aber hier spürte ich einen ständigen Zusammenbruch der Kontinuität […]. Ich habe mir ernsthafte Sorgen gemacht, dass [meine Interpretation] voll mit Fehlern und Lücken sei. Boulez hat keinen Kontrapunkt und keine Nebenstimmen geschrieben, und nichts könnte untergeordnet werden, da nichts die Musik leitet; es gibt nichts, worauf sich die Musik fokussiert«. 3

Der Bericht Tudors weist auf eine spezifische aufführungspraktische Erfahrung hin, und zwar die des Unverständnisses einer komplexen Partitur während der ersten Phase des Lernprozesses. Was passiert, wenn die zentrale Interpretationsvoraussetzung des Verständnisses, und demzufolge dann auch die der Technik, derartig sabotiert wird? Wie ist Interpretation im gewöhnlichen Sinne dann noch möglich? Handelt es sich nur um eine Frage von Zeit und Geduld? Oder müsste man angesichts dieser Probleme den Ansatz der Interpretation selbst überdenken? Solche Fragen werden noch dringender, wenn man die zahlreichen und noch weitaus radikaleren Entwicklungen im Komponieren nach 1945 verfolgt: Der vermeintlich transparente Zusammenhang zwischen dem Nachvollzug kompositorischer Handlungen (Verständnis) und den sich hieraus ergebenden performativen Lösungen (Technik) wird ständig durch eine Steigerung der textuellen Komplexität problematisiert, entweder explizit (beispielsweise im Werk und in den Texten von Brian Ferneyhough) oder implizit (wie bei den vielfältigen performativen Unmöglichkeiten im Werk von Iannis Xenakis). Ich werde darauf später noch einmal ausführlicher zu sprechen kommen; für jetzt genügt es, zu bemerken, dass das traditionelle Modell einer linear geordneten 2  |  Man könnte hier fast an den Begriff des »objet trouvé« von Marcel Duchamp denken. 3 | David Tudor, »From Piano to Electronics«, in: John Holzaepfel, »Cage and Tudor« in David Nicholls (Hg.), The Cambridge Companion to John Cage, Cambridge 2002, S. 169-85, hier S. 170. (Übersetzung: P. A.)

Körperliche Navigation: Verkörperte und erweiterte Kognition

Kette Verständnis–Technik–Interpretation eher Aporien als Erklärungen zu erzeugen scheint. In diesem Text wird versucht, den philosophischen und kognitionswissenschaftlichen Hintergrund eines neuen Modells der Interpretation, jenseits der traditionellen Kette von Verständnis–Technik–Interpretation, zu beschreiben. Die Problematisierung dieser Kette führt zu einem Paradigmenwechsel4 in der Klavieraufführungspraxis, der den kompositorischen Entwicklungen nach 1945 gerecht wird. Zwei zentrale Themen sind entscheidend für das vorgeschlagene Modell: einerseits die Fokussierung auf die Körperlichkeit der Aufführung und die Bestimmung dieser Dimension als zentralem aufführungspraktischem Orientierungspunkt, der bereits dem Notationsvorgang zugrunde liegt; andererseits die Ersetzung des traditionellen Begriffs der Lektüre des musikalischen Textes durch den Begriff der Navigation durch einen Partitur-Raum – also der Wechsel von einem traditionell-hermeneutischen Verstehensbegriff hin zu einem verkörperten und nichtlinearen Modell. Diese beiden Themen verschmelzen im vorgeschlagenen neuen Modell von Interpretation: der körperlichen Navigation. Den Hintergrund dieses Modells bilden einerseits die oben erwähnten Entwicklungen im Komponieren sowie andererseits die neuesten Richtungen der Kognitionswissenschaft. Diese Richtungen lassen sich unter dem Oberbegriff einer »verkörperten und erweiterten Kognitionswissenschaft« (VEKW)5 fassen. Im Folgenden werden zunächst jene aktuellen Entwicklungen der Philosophie des Geistes (Philosophy of Mind) und der Kognitionswissenschaft vorgestellt, die eine Alternative zu den Dichotomien von Körper und Geist bzw. dem Verständnis von Spieltechnik und Interpretation anbieten. Im zweiten Teil werden diese Ansätze zurückbezogen auf traditionelle Vorstellungen der Klaviermethodik. Dies geschieht durch den Vergleich von zwei bekannten klavierpädagogischen Methoden, die hier jetzt im Licht der VEKW diskutiert werden. In einem dritten und letzten Schritt werden die Ergebnisse dieses Vergleichs dann auf das Repertoire der komplexen Klaviermusik nach 1945 übertragen und die Folgen sowie das Potential eines externalistischen Ansatzes für die Entwicklung eines Modells von körperlicher Navigation aufgezeigt.

4  |  Vgl. auch Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (dt. Übersetzung von Kurt Simon und Hermann Vetter), Frankfurt a.M. 2001. 5 | Dieser Begriff ist eine Übersetzung des englischen Terminus »embodied and extended cognition«.

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1. E nt wicklungen in der K ognitionswissenschaf t : nicht- cartesianische R ichtungen 1.1 Internalismus und E xternalismus in der Philosophie des Geistes Meine These lautet, dass die Entwicklung vom traditionellen Modell der Interpretation (einer seriellen Ordnung von Verständnis, Technik und Interpretation) hin zu einem Modell der körperlichen Navigation der Bewegung vom cartesianischen Internalismus zu einem Externalismus in der aktuellen Philosophie des Geistes6 entspricht. In diesem Text werde ich mich eher mit den kognitionswissenschaftlichen Auswirkungen der kognitiven Wende zum Ende der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts beschäftigen als mit den vielfältigen kognitiven Wenden früherer Epochen. Trotzdem ist es wichtig, schon an dieser Stelle im Blick zu behalten, dass der Begriff des Internalismus auf ein strukturelles, aber oft verborgenes Element des Cartesianismus aufmerksam macht, das selbst dort in Erscheinung tritt, wo scheinbar mit dem Prinzip des Cartesianismus gebrochen wird. Laut Mark Rowlands, dem Hauptvertreter der VEKW, ist für die Entwicklung einer angeblich nicht-cartesianischen Kognitionswissenschaft die Idee entscheidend, dass der Geist innerhalb der Körpermaschine liegt, irgendwo im Kopf, oder anders ausgedrückt: dass der Geist identisch mit dem Gehirn, d.h. mit seiner neuralen Implementation, ist. Diese Idee wird als Internalismus bezeichnet und scheint sich zunächst diametral vom Internalismus im Sinne der klassischen cartesianischen Dualität von Körper und Geist zu unterscheiden.7 Ein solcher Internalismus trägt Rowlands zufolge jedoch latent durchaus cartesianische Züge. Von ihm wäre eine im echten Sinne nicht-cartesianische Kognitionswissenschaft zu unterscheiden. Diese basiert »auf einer vollständigen Ablehnung des cartesianischen Konzeptes des Geistes. Sie ist natürlich materialistisch, ohne eine Umkehr zu nichtphysischen Substanzen […] Zugleich lehnt sie auch die Vorstellung ab, dass mentale Prozesse exklusiv im Gehirn stattfinden.«8 Mit dem letzten Satz spielt Rowlands auf die Tatsache an, dass der cartesianische Internalismus die kognitive Wende insofern durchaus überlebt hat, als er nämlich die traditionelle Form der Kognitionswissenschaft (Standard Cognitive Science) beeinflusste, 6 | Der Begriff »Philosophie des Geistes« entspricht hier dem englischen Begriff »Philosophy of mind« und unterscheidet sich vom Hegelschen »Weltgeist«. Eine historisch orientierte Begriffsbestimmung findet sich bei Paul Natterer, Philosophie des Geistes, Vol. 5 von Edition novum studium generale, Norderstedt 2011, S. 5. 7 | Vgl. Mark Rowlands, Externalism: Putting Mind and World Back Together Again, Chesham 2003, S. 9. 8 | Mark Rowlands, The New Science of the Mind: from extended mind to embodied phenomenology, Massachusetts 2010, S. 12f. (Übersetzung: P. A.).

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die ihrerseits einem Dualismus unterlag: zwar nicht mehr dem von Körper und Geist, dafür aber dem von Körper und Gehirn.9 Dieser traditionellen Form der Kognitionswissenschaft gemäß sind die mentalen Prozesse identisch mit Gehirnprozessen oder werden ausschließlich durch Gehirnprozesse realisiert. Mentale Repräsentationen und Informationsverarbeitungen nach bestimmten Regeln sind für diese Anschauung zentral. Denkvorgänge werden sozusagen als abstrakte Rechnerprogramme beschrieben (Software), die im Computer des Gehirns realisierbar sind (Hardware).10 Demzufolge versucht die traditionelle Kognitionswissenschaft, etwa in der Kognitionspsychologie, die Programme zu identifizieren und herauszufinden, wie genau diese Programme im Gehirn implementiert werden (kognitive Neurowissenschaft). Im Gegensatz zu diesem internalistischen Konzept bezeichnet der Begriff des Externalismus einen hybriden und nicht-cartesianischen Ansatz der Kognition. Die Kognition findet nicht ausschließlich »im Kopf« statt, sondern erstreckt sich über Gehirn, Körper und Umwelt. Die mentalen Prozesse sind teils handlungsorientiert (enactive), teils situiert (embedded), teils erweitert (extended) und teils verkörpert (embodied), was, den englischen Begriffen entsprechend (embodied, embedded, enacted and extended cognition), als »4E Cognition« bezeichnet wird.11 Um die mentalen Prozesse zu verstehen und zu konstruieren, benötigt man dann nicht mehr eine Rechner-, sondern eher eine Roboter-Analogie.12

1.2 Kurze Geschichte und Varianten der VEK W Shaun Gallagher bezeichnet den Bereich der verkörperten und erweiterten Kognition (VEKW) als eine »dritte Welle« in der Geschichte der Kognitionswissenschaft: »Das Projekt, die Rolle des Körpers in Wahrnehmungs- und Verhaltensprozessen bis hin zu begrifflichen Vorgängen höherer Ordnung und abstraktem Denken aufzuweisen, nach dem frühen Computermodell (erste Welle) und dem von der Neurowissenschaft inspirierten sogenannten Kon9  |  Ein anderer Hauptvertreter der VEKW, Laurence Shapiro, erwähnt Projekte wie Allen Newells und Herbert Simons General Problem Solver, Saul Sternbergs Forschung über Gedächtnisabruf, und rechnerische Analysen der Wahrnehmung (David Marrs Modell der visuellen Wahrnehmung zum Beispiel) als Beispiele der Standard cognitive science. In Lawrence Shapiro, Embodied Cognition, London/New York 2011, S. 7. 10  |  Die Rechnermetapher ist mehr als nur eine Metapher: Entwicklungen in der Informatik und in der künstlichen Intelligenz steuern die Geschichte der Kognitionswissenschaft von Anfang an. 11 | Rowlands, The New Science of the Mind, S. 3. 12  |  Vgl. Mark Rowlands, The body in mind: Understanding Cognitive Processes, New York 1999, S. 30.

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nektionismus (zweite Welle), hat eine dritte Welle der Kognitionswissenschaften ausgelöst.«13 Obwohl das Feld der VEKW (das oft auch mit Begriffen wie environmentalism, externalism, vehicle externalism u.a. belegt wird) eher als gemeinsamer Ort von verschiedenen Einzeldisziplinen14 erscheint (mit allen dazu gehörenden Problemen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses), ist seine Frontstellung sowohl zur ersten Welle von rechnerischen Modellen wie auch zur zweiten – zur konnektionistischen Vorstellung eines neuronalen Netzwerkes als nicht-linearem Modell der Kognition – unübersehbar. Ebenso unübersehbar für die »dritte Welle« ist der Einfluss von früheren Theorien, etwa Gibsons ökologischer Theorie der visuellen Wahrnehmung15, der Forschungen Vygotskys und Lurias16, der Phänomenologie des Leibes von Merleau-Ponty oder schließlich der Ansätze von Varela, Thompson und Rosch, die in dem Buch The Embodied Mind ihren Niederschlag fanden. Laut Gallagher wird allerdings erst in dem letztgenannten Werk die Idee Merleaus-Pontys explizit weiter entwickelt, wonach »Kognition kein bloßer Gehirnvorgang ist, sondern Gehirn, Körper und Umwelt involviert.«17 In meiner Übersicht der VEKW möchte ich ferner noch zwei Bezugspunkte nennen, die ein tieferes Verständnis des Feldes ermöglichen: einerseits die bereits erwähnte 4E-Typologie zur VEKW nach Mark Rowlands, andererseits drei Leitgedanken von Lawrence Shapiro. Diese Ansätze werden im Folgenden zentral für die Entwicklung eines Modells der körperlichen Navigation.

Mark Rowlands: 4E-Kognition Ich beginne mit der Typologie von Mark Rowlands, da sein Konzept eine zentrale Rolle für die Entwicklung des hier vorgestellten Konzeptes der körperlichen Navigation gespielt hat.18 Nach Rowlands wird in nicht-cartesianischen Ansätzen die Rolle der mentalen Repräsentationen abgeschwächt, während der 13  |  Shaun Gallagher, »Kognitionswissenschaften – Leiblichkeit und Embodiment«, in Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, hg. von Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny und Tobias N. Klass, Tübingen 2012, S. 320. 14 | Inklusive der situierten Robotik und künstlichen Intelligenz, der Wahrnehmungspsychologie, der dynamischen Ansätze zur Entwicklungspsychologie, der kognitiven Neurowissenschaft, der Phänomenologie und der Philosophie. 15  |  James J. Gibson, An Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979 (dt. Wahrnehmung und Umwelt: Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, München 1982). 16 | Aleksandr Luria und Lev Vigotsky, Ape, Primitive Man and Child. Studies on the History of Behaviour, Massachusetts 1992. 17  |  Gallagher, »Kognitionswissenschaften …«, S. 321. 18 | Vgl. Pavlos Antoniadis, »Learning complex piano music: Environmentalist applications«, in: Proceedings of the International Conference Beyond the Centres: Musical

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Handlungsbegriff eine größere Rolle erhält. Die vormalige Rolle der mentalen Repräsentationen wird teilweise von äußeren informationstragenden Strukturen übernommen, die der Handelnde ausnutzt, manipuliert und umstellt. Diese äußere Informationsverarbeitung reduziert die Handlungskomplexität (allerdings nur, wenn die Kosten für die Umstrukturierung selbst geringer sind).19 Dieses Konzept ist explizit verbunden mit dem psychologischen Ansatz von Gibson, der den Wahrnehmungsakt nicht mehr ausschließlich vom Wahrnehmenden her betrachtet, sondern als Interaktion zwischen Akteur und Umwelt begreift. Diese Interaktion zeigt sich etwa an der Tatsache, dass sich der wahrnehmende Akteur die Struktur der Lichtreflexion und -diffusion (ambient optic array) durch die Navigation der Umgebung zu Nutze macht. Hieraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass eine Umgebung Merkmale (so genannte »Affordanzen«) besitzt, die vom jeweils Handelnden als aktionsorientierte Eigenschaften begriffen werden können.20 Bereits an dieser Stelle sei die Bedeutung dieses nicht-cartesianischen Ansatzes für das Lernen und Aufführen einer komplexen Klavierpartitur nach 1945 erläutert: Anstatt Lernen als neuronale Verarbeitung der in der Partitur stehenden Symbole und der durch sie ausgedrückten musikalischen Ideen zu begreifen (Verständnis und Auswendig-Lernen), anstatt also mit »Verständnis« die Verarbeitung von mentalen Repräsentationen zu bezeichnen, werden hier äußere Strukturen wie Partitur, Instrument, die performative Körperlichkeit im Sinne von Rowlands als fester Bestandteil des Kognitionsprozesses begriffen. In seiner Diskussion des Forschungsstandes listet Rowlands vier verschiedene Ansätze auf, durch die sich die Bezugnahme der Kognition auf äußerliche Strukturen und Prozesse erklären lässt. Er weist bei seinem Literaturüberblick auf feine Konflikte hin, die zwischen diesen Ansätzen bestehen. Deren ausführliche Diskussion würde den Rahmen der vorliegenden Darstellung sprengen. Dennoch möchte ich diese Ansätze zumindest kurz skizzieren, um meinen anschließenden Versuchen einer Neuformulierung des musikalischen Interpretationsbegriffes eine größere Klarheit zu verleihen. a) Der Ansatz der Verkörperten Kognition (embodied cognition) Kognitionsprozesse bestehen neben dem Gehirn und dem Zentralen Nervensystem (die zweifelsohne auch körperlich sind) aus weiteren körperlichen Strukturen und Prozessen. Rowlands zitiert in diesem Zusammenhang eini-

Avant-gardes since 1950, Thessaloniki, Greece, 1-3 July 2008 http://btc.web.auth. gr/_assets/_papers/ANTONIADIS.pdf (letzter Zugriff: 3.7.2013). 19 | Vgl. Rowlands, The New Science of the Mind, S. 17f. 20  |  Zum Beispiel: der Ast bietet dem Vogel einen Platz, nicht aber dem Schwein.

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ge zentrale Überlegungen von Lawrence Shapiro21 und Antonio Damasio.22 So beinhaltet die interaurale Laufzeitdifferenz (ITD, Interaural Time Difference), also der Unterschied bezüglich der Lauzeit des Schalls zwischen beiden Ohren, wichtige Informationen, die über die Herkunft der Schallquelle Auskunft geben. Deswegen wäre eine Beschreibung der akustischen Wahrnehmung in Gestalt eines rein rechnerischen Gehirnprozesses falsch. Die Tatsache der physikalischen Stereophonie bestimmt sozusagen den rechnerischen Algorithmus im Gehirn und muss als integraler Bestandteil der Kognition betrachtet werden. Und umgekehrt: Eigenschaften des »Geistes« spiegeln Eigenschaften des Körpers wider. b) Der Ansatz der Erweiterten Kognition (extended cognition) Kognitionsprozesse dehnen sich in der Umwelt aus, in dem Sinne, dass sie teilweise aus Handlungen in der Umwelt bestehen. Diese von Clark und Chalmers entwickelte Form des Funktionalismus23 möchte ich später, im Kontext der Diskussion der Typologie von Lawrence Shapiro, ausführlicher darstellen. Für den Moment gilt es lediglich, mit Rowlands zu betonen, was unter erweiterter Kognition nicht verstanden werden sollte. Anders als der VEKW unterstellt wird, geht es bei dem Begriff der erweiterten Kognition nicht um den absurden Anspruch, dass mentale Repräsentationen identisch mit informationstragenden Strukturen in der Umgebung sein können.24 Die Notizen im Notizbuch eines Alzheimerpatienten können nicht identisch mit den Gedanken und Vorstellungen eines gesunden Akteurs sein, trotz seiner ähnlichen Funktion. Daher kann auch die auf der Medientheorie McLuhans gründende These, dass das Internet das globale Zentrale Nervensystem der Menschheit sei,25 als philosophisch und praktisch problematisch eingeschätzt werden. c) Der Ansatz der Situierten Kognition (embedded mind) Gehirnprozesse sind häufig in die Umgebung eingebettet. Sie sind, mit anderen Worten, so beschaffen, dass sie oft (und provisorisch) nur im Zusammenhang mit einer bestimmten Umgebung funktionieren können.26 Dieser Ansatz bezeichnet eine Spielart des Funktionalismus (Effizienz durch Verteilung der Leistung zwischen Gehirn und Umgebung), die sich durchaus vom Ansatz der erweiterten Kognition unterscheidet, in der die Kognitionsprozesse lediglich 21 | Lawrence Shapiro, The Mind Incarnate, Cambridge, MA 2004. 22 | Antonio Damasio, Descartes’ Error, New York 1994. 23 | Andy Clark und David Chalmers, »The Extended Mind«, in: Analysis, 58/1998 S. 7-19, in: The Extended Mind, hg. von Richard Menary, Cambridge MA 2010. 24 | Vgl. Rowlands, The New Science of the Mind, S. 67. 25  |  Vgl. Marshall McLuhan, Understanding Media, New York 1964. 26 | Vgl. Rowlands, The New Science of the Mind, S. 69.

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als abhängig von Handlungen und ihren Umgebungsbedingungen begriffen werden. Diese Bedingungen sind dort also kein Bestandteil der Kognitionsprozesse, was das cartesianische Bild des Geistes im Grunde bestehen lässt. d) Der Ansatz der Handlungsorientierten Kognition (enacted cognition) In der Theorie von O’Regan und Noë27 wird die visuelle Wahrnehmung durch die unseren erlernten Handlungsmustern zugrundeliegenden sensomotorischen Erwartungen und Möglichkeiten geprägt. Ein Beispiel: Ungeachtet der Tatsache, dass wir jeweils nur einen beschränkten Aspekt eines Objektes erfahren können, ist die Kenntnis dessen, wie sich dieser Aspekt durch unsere Handlungen ändern wird, eine Voraussetzung für die Zusammensetzung der Teilaspekte zu ganzen Objekten.28 Wie beim Ansatz der erweiterten Kognition stehen auch hier Handlungen im Vordergrund, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Hier werden jetzt Handlungen thematisiert, in denen es um wissensabhängige Potentiale, um Erwartungen und Möglichkeiten, nicht aber um reale Aktionen geht.29 In seiner ausführlichen Kritik weist Rowlands auf die Tatsache hin, dass nicht alle diese Ansätze gänzlich inkompatibel mit der traditionellen Kognitionswissenschaft sind – das gilt besonders für die von der Husserlschen Phänomenologie beeinflusste handlungsorientierte Theorie O’Regans und Noës und teilweise auch für verkörperte und situierte Ansätze, die durchaus nicht davor geschützt sind, in cartesianische Sackgassen zurückzufallen. Rowlands selbst verknüpft in seinem eigenen Ansatz die verkörperten und erweiterten Varianten und bestimmt in diesem Sinne Kognition als eine von Intentionalität gesteuerte aufdeckende Tätigkeit (revealing activity), die sich permanent der Struktur und Eigenart der jeweiligen Umwelt bedient.30 Mehr noch: Die vorgängige Einschätzung und Bewertung des Ausmaßes, in dem die internen Aktivitäten durch externe Einflüsse geformt werden, ändert ständig die quantitativen und qualitativen Eigenschaften der internen mentalen Leistung selbst,31 was auf einen Rückkoppelungskreis zwischen Gehirn, Körper und Umwelt verweist.

27  |  J. Kevin O’Regan und Alva Noë, »What it is like to see: A sensorimotor theory of perceptual experience«, in: Synthese 79/2000, S. 79-103. 28  |  Vgl. Alva Noë, Action in Perception, Cambridge, MA. 2004, S. 77. 29 | Vgl. Rowlands, The New Science of the Mind, S. 74. 30 | Vgl. Rowlands, The New Science of the Mind, S. 163-187. 31 | Vgl. Rowlands, The Body in Mind, S. 122.

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Lawrence Shapiro: Drei Themen der Verkörperung In seinem Buch Embodied Cognition32 bietet Lawrence Shapiro eine alternative Betrachtung des Forschungsfeldes der VEKW an. Der Unterschied zu Rowlands besteht darin, dass das Feld hier teilweise durchaus kritisch aus der Perspektive des Standard-Modells der Kognitionswissenschaft diskutiert wird. Shapiro geht es eher um eine Kritik des Feldes von innen heraus als um das Aufzeigen von Unterschieden bzw. Gemeinsamkeiten zwischen den verkörperten und erweiterten Varianten, die im Zentrum von Rowlands Überlegungen stehen. Laut Shapiro sind drei Themenfelder unerlässlich für eine vollständige Definition der VEKW: 1. Konzeptualisierung (Conceptualization): Die körperlichen Eigenschaften eines Organismus begrenzen und bestimmen die Konzepte, die er erwerben kann, und das Verständnis seiner Umgebung.33 In diese Kategorie gehören die Theorie der Farbwahrnehmung von Varela, Thomson und Rosch34, die Metapherntheorie von Lakoff und Johnson35 und die indexikalische Hypothese von Glenberg36. Die von Lakoff und Johnson begründete kognitive Linguistik geht etwa davon aus, dass Metaphern als Überlagerungen und netzartige Verbindungen von Konzepten aus verschiedenen Lebensbereichen zu begreifen sind (was die Autoren »metaphor as cross-domain conceptual mapping« nennen). Ihr Verständnis bedarf grundlegender Konzepte der Raum- und Handlungserfahrung, die sich nicht durch andere Metaphern, sondern nur auf Grund unserer eigenen körperlichen Erfahrung und der Beschaffenheit unserer Umgebung entwickeln können. Wenn wir uns beispielsweise erheben, verfügen wir über das motorische Programm, das es ermöglicht, ›oben‹ und ›unten‹ zu konzeptualisieren, was wir als homogene kugelförmige Lebewesen außerhalb eines Gravitationfeldes, ohne Kenntnis oder Vorstellung körperlicher Erfahrung, nicht formulieren könnten.37 Shapiros Bewertung der unter dieser Kategorie versammelten Ansätze, fällt insgesamt recht negativ aus: sie laufen in seinen Augen oft Gefahr, triviale, selbstverständliche oder tautologische Schlussfolgerungen zu ziehen; sie können experimentell nicht bestätigt werden und stehen hinsichtlich ihrer Er32 | Shapiro, Embodied Cognition, S. 4. 33 | Ebd. 34 | Francisco Varela, Evan Thomson und Eleanor Rosch, The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience, Cambridge, MA 1991. 35  |  George Lakoff und Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago 1980. 36 | Arthur Glenberg und David Robertson, »Symbol Grounding and Meaning: A Comparison of High-Dimensional and Embodied Theories of Meaning«, in: Journal of Memory and Language Vol. 43, Okt. 2000, S. 379-401. 37  |  Lakoff und Johnson, Metaphors We Live By, S. 57.

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klärungskraft den kognitionswissenschaftlichen Standardmodellen deutlich nach. Seine Kritik gilt jedoch eher der Verfahrensweise und nicht so sehr dem Inhalt, denn die aktuelle neurowissenschaftliche Forschung – und hier bezieht er sich insbesondere auf die Entdeckung der Spiegelneuronen38 – weisen in seinen Augen auf die Relevanz dieser Kategorie hin. 2. Ersetzung (Replacement): Der dynamische »Tanz«, also die ständige Wechselwirkung des Körpers mit seiner Umgebung, kann mentale Repräsentationen und Regeln der Informationsverarbeitung ersetzen.39 Diese radikale, anti-repräsentatorische Richtung betrifft sowohl die so genannte Theorie dynamischer Systeme – in den Bereich der Kognition übertragen durch Esther Thelen (Entwicklungspsychologie)40, Tim van Gelder (Philosophie und KW)41 und Randall D. Beer (KW)42 – wie auch die Subsumption-Architektur von Rodney Brooks in der Robotik. Das einfachste Beispiel zum Verständnis dieser Ersetzungskategorie liefert Brooks: Die so genannten mobots (mobile robots) erreichen effiziente Bewegungen in veränderlichen Umgebungen mittels einer Ersetzung der möglichen (aber komplizierten und aufwendigen) Repräsentation dieser Umgebungen durch Schichten einfacher Verhaltensmuster, von denen das jeweils adäquate automatisch ausgewählt wird. Diese Roboter kennen keine Repräsentation von Welt, um sich in ihr zurecht zu finden. Es gilt das Motto von Brooks: »It’s better to use the world as its own model«.43 Ein dynamisches System besteht aus Bestandteilen, die sich im Laufe der Zeit ändern. Überall sind drei Schritte üblich für seine Beschreibung, näm38  |  Bei den Spiegelneuronen geht es um die Vorbereitung willkürlicher Bewegungen und Abfolgen von Bewegungen, also Aktionen: Bei dieser Vorbereitung wird die Wahrnehmung und Kategorisierung von Objekten nicht nur durch dessen Eigenschaften, sondern auch durch dessen Affordanzen beeinflusst: Der Tennisball wird nicht nur als Kugel, sondern auch als eine mit der Hand zu greifende Kugel wahrgenommen, wohingegen der Pingpongball als eine mit dem Daumen und dem Zeigefinger zu greifende Kugel erscheint. Vgl. Shapiro, Embodied Cognition, S. 108-111. 39 | Vgl. Shapiro, Embodied Cognition, S. 4. 40  |  Esther Thelen und Linda Smith, A Dynamic Systems Approach to the Development of Cognition and Action, Cambridge, MA 1994. 41  |  Tim Van Gelder, »The Dynamical Hypothesis in Cognitive Science«, in: Behavioral and Brain Sciences, Vol. 21, 1998, S. 615-665. 42  |  Randal D. Beer, »Dynamical Systems and Embedded Cognition«, in: Keith Frankish und William Ramsey (Hg.), The Cambridge Handbook of Artificial Intelligence, Cambridge 2013. 43  |  Brooks, »Intelligence Without Representation«, in: Artificial Intelligence, Vol. 47, 1991, S. 139-159, Zitat S. 139.

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lich (a) die Identifizierung der veränderbaren Bestandteile/Parameter, (b) das Mapping aller möglichen Zustände (was Zustandsraum [state space] heißt) und (c) eine mathematisch beschriebene Regel von Entwicklung. Andere zentrale Konzepte sind die Idee der Emergenz oder Selbstorganisation und die Idee der Kopplung von Bestandteilen. Dieser Ansatz, dessen Terminologie auf den ersten Blick vielleicht allzu technisch erscheint, vereint Eigenschaften, die für unser Modell der Körperlichen Navigation geeignet sind. (1) Die algorithmischen Kausalitätsketten der traditionellen Kognitionswissenschaft (Kognitionsprozesse mit bestimmten Schritten, Anfang-Mitte-Ende, Eingabe und Ausgabe) werden von durchlaufenden selbstorganisierten Rückkopplungskreisen ersetzt – das heißt, dass das Element einer Verarbeitung in Echtzeit betont wird, wodurch Abstraktion reduziert wird. (2) Dieser Kausalitätskreis kann sich über Körper, Zentrales Nervensystem und Umwelt als aneinander gekoppelte Bestandteile erstrecken (verkörperte und situierte Kognition). (3) Das Verhalten des Systems wird als nichtlineare Selbstorganisation oder Emergenz beschrieben, die ohne mentale Repräsentationen auskommt. (4) Durch die Mathematik entsteht die Hoffnung, die Einheit in der Vielfältigkeit der dynamischen Phänomene aufzudecken. 3. Konstitution (Constitution): Diese Kategorie weist Gemeinsamkeiten zu Rowland auf. Allerdings wird der Körper bzw. die Umwelt hier explizit als Bestandteil – und nicht nur Verursacher – der Kognitionsprozesse begriffen. Sechs Ideen des Philosophen Andy Clark, wie Shapiro sie resümiert,44 ergänzen seine Überlegungen und bilden zugleich einen Bezugspunkt für die Idee einer VEKW: (1) Nontrivial Causal Spread (Nicht-triviale Kausalitätsverteilung): Mobots und Spielzeuge können sich sowohl passiv (mit der Hilfe von Schwerkraft und Reibung) als auch aktiv (mit dem steuernden Gehirnprogramm) bewegen. Der Energieaufwand des Systems ist dadurch deutlich geringer. (2) Principle of Ecological Assembly (Prinzip des ökologischen Auf baus): Ein Problem zu lösen, wird effizienter durch die Auswahl einer ökologischen Strategie, die sich der Ressourcen in der Umgebung bei der Lösung von Problemen bewusst ist. Zum Beispiel: Kaum jemand lernt eine Landkarte auswendig, um eine komplizierte Route zu verfolgen. Vielmehr wird auf eine Karte in bestimmten Situationen zurückgegriffen; an die Stelle des Gedächtnisses treten Wahrnehmung und Aktion.

44 | Shapiro, Embodied Cognition, S. 65-67.

Körperliche Navigation: Verkörperte und erweiterte Kognition

(3) Open Channel Perception (Direkte Wahrnehmung): Die Akteure explorieren und verfolgen die Umgebung, statt einen Plan und einen Weg vorzubereiten. (4) Information Self-Structuring (Selbststrukturierung der Information): Handlungen vollziehen sich nicht auf der Grundlage abstrakter Algorithmen, sondern durch dynamische Wechselwirkungen. (5) Perception as Sensorimotor Experience (Wahrnehmung als sensomotorische Erfahrung): diese Kategorie deckt sich mit dem im Zusammenhang mit Rowlands referierten Ansatz der handlungsorientierten Kognition. (6) Dynamisch-rechnerische Komplementarität (Dynamic-Computational Complementarity): Clarks zufolge können rechnerische und repräsentationsbegründete Ansätze durchaus noch eine Rolle in der VEKW spielen. Für strenge »Dynamizisten« wäre das nicht annehmbar.

1.3 Fazit Die dargestellten Richtungen und Typologien spiegeln die Vielfältigkeit des Feldes der VEKW wider und bieten einen Rahmen für das Verständnis von Begriffen an, deren Bedeutung für ein erneuertes Modell der Interpretation komplexer Klaviermusik nach 1945 im Folgenden weiter erklärt wird. Hier seien nochmals die zentralen Schlagworte genannt, die von einer Wechselwirkung von Gehirn, Körper und Welt im Lauf der kognitiven Prozesse ausgehen und so einen hybriden Ansatz zur Konstitution von Kognition anbieten und damit in einem deutlichen Gegensatz zur traditionellen Kognitionswissenschaft mit ihrer Orientierung an Symbolen, Regeln und Repräsentationen stehen: (1) Effizienz: Die Ausnutzung der äußerlichen Strukturen erleichtert die mentale Leistung und ist Bestandteil der Kognition (vgl. Rowlands, Clark). (2) Dynamische Systeme: Selbststrukturierende oder -organisierte Rückkoppelungskreise zwischen den Sinnen und der Motorik ermöglichen eine Dynamik, die ohne Repräsentationen (vgl. den Konnektionismus bei Van Gelder und Clark) auskommt. (3) Konzeptualisierung: Eigenschaften der Verkörperung bestimmen die Konzeptualisierung unserer Welt durch die Sprache (vgl. die Metapherntheorie bei Lakoff und Johnson). (4) Navigation: Kognition kann als Navigation begriffen werden und ist durch Ausnutzung der Echtzeit, durch direkte Wahrnehmung und die Exploration von Affordanzen charakterisiert (vgl. Gibson, Clark).

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2. A nwendungen der verkörperten und erweiterten K ognitionswissenschaf t in der K lavier aufführungs pr a xis heute

2.1 Das Klavierspiel zwischen Internalismus und E xternalismus In diesem Abschnitt möchte ich das Thema des Externalismus und der VEKW auf das Klavierspiel zurückbeziehen. Die in Kapitel 1.3 resümierten Ideen bilden die Grundlage einer Auseinandersetzung mit traditionellen Klaviermethoden und sollen die Entwicklung eines neuen Modells jenseits der traditionellen Kette von Verständnis–Technik–Interpretation stimulieren. An diese Überlegungen schließen sich einige Bemerkungen über die Aporien der Interpretation heute (2.2) und ein Überblick über das vorgeschlagene Modell der körperlichen Navigation (2.3) an. Die zwei aus der Literatur der Klaviermethodik ausgewählten Beispiele, die Methoden von Leimer/Gieseking45 und von György Sándor,46 erscheinen aus der Perspektive der VEKW als Antipoden, obwohl beide sich an selbstbestimmten rationalen and wissenschaftlichen Leitlinien des »modernen« Klavierspiels orientieren. Was die beiden Methoden stark unterscheidet, ist das zugrundeliegende Paradigma, das internalistisch für Leimer/ Gieseking und externalistisch für Sándor ist. Der hier durchgeführte Vergleich beider Methoden folgt den Ideen Mark Rowlands (besonders dem Aspekt des environmentalism) und entspricht den zentralen, in 1.3 rekapitulierten VEKWSchlagworten der Effizienz und der Dynamischen System 47 präsentiert.

Internalistische Ansätze: Leimer/Gieseking Die Methodik von Leimer/Gieseking priorisiert das Selbstzuhören des Spielers. Das bedingt ein vorgängiges Auswendiglernen der Noten: »Eine unerläßliche Voraussetzung für diese Schulung des Ohres ist genaueste Kenntnis des Notenbildes. Es ist daher notwendig, daß wir vor Beginn des Studiums das Notenmaterial vollkommen beherrschen, und dies ist nach meiner Meinung nur dann zu erreichen, wenn wir das Notenbild vollständig im Kopf haben, also das betreffende Stück tadellos auswendig können. Um dies auf schnelle Weise zu erreichen, bedarf es wiederum eines speziellen Trainierens des Gedächtnisses. Ich benutze dazu die Reflexion, und zwar in sehr ausgiebiger Weise«.48 45  |  Karl Leimer und Walter Gieseking, Modernes Klavierspiel, Mainz 1998 (Originalausgabe 1931). 46 | György Sándor, On Piano Playing. Motion, Sound and Expression, New York 1981. 47  |  Für eine ausführliche Fassung dieses Gedankengangs vgl. Antoniadis, »Learning complex piano music«. 48  |  Leimer/Gieseking, S. 16f.

Körperliche Navigation: Verkörperte und erweiterte Kognition

Nach der Diskussion des Internalismus in 1.1 lässt sich das zugrundeliegende kognitive Paradigma dieses Ansatzes leicht entdecken: Das Lernen fängt »mit dem Kopf« – ohne Körper oder Instrument – an (Cartesianismus) und findet ausschließlich »im Kopf« statt (Internalismus). Das Notenmaterial wird eher als Hindernis betrachtet, das schnellstmöglich verlassen werden muss. Nur unter dieser Voraussetzung kann das »eigentliche« Üben beginnen. Die erste Voraussetzung dessen, was ich als die Kette von Verständnis–Technik–Interpretation bezeichnet habe, wird hier also ›algorithmisch‹ von körperlichen und klanglichen Zuständen isoliert. Ebenso algorithmisch ist die Beschreibung dessen, was Leimer/Gieseking »Reflexion« nennen:49 Takt für Takt, Note für Note wird das Notenbild im Gedächtnis eingeprägt. Eine Art episodischen Gedächtnisses, hier sogar ohne die semantischen Eigenschaften, die man im Sinne von Boulez (vgl. den Anfang dieses Beitrags) als »Verstehen« bezeichnen kann, markiert den Beginn der Auseinandersetzung. Und noch interessanter: nicht nur die Partitur, sondern der Körper selbst und das Instrument sollten nach Leimer/Gieseking idealerweise im Kopf repräsentiert werden, da die spieltechnischen Fähigkeiten selbst als internalistisch begriffen werden und daher auch ohne Instrument verarbeitet werden sollen: »Bei weiterer Vervollkommnung dieses Verfahrens ist man sogar in der Lage, auch die technische Aufführung durch Reflexion so vorzubereiten, daß ein Stück ohne jede Übung am Instrument auswendig einwandfrei vorgetragen werden kann, und zwar in verblüffend kurzer Zeit«. 50

Wie schon in der Diskussion von Rowlands angedeutet: Wenn wir uns die Prozesse des Lernens und der Aufführung als ein Dynamisches System mit bestimmten Bestandteilen vorstellen (Spieler [als embodied mind], Instrument, Partitur), die in Wechselwirkung und im Echtzeit-Modus miteinander interagieren, dann erscheinen im Ansatz von Leimer/Gieseking offensichtlich alle Eigenschaften ausgeblendet, die man als äußerliche Strukturen dieses Systems bezeichnen könnte. Das lässt sich – anders als von den Autoren intendiert – durchaus auch negativ, als bewusster Verzicht auf Systembestandteile interpretieren, die nicht nur die reale Aufführung prägen, sondern darüber hinaus den Lernprozess selbst, also die Interpretation als ganzheitliches Konzept, steuern und erleichtern.

49  |  Leimer/Gieseking, S. 18-30. 50  |  Leimer/Gieseking, S. 17.

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E xernalistische Ansätze: Györg y Sándor Einen alternativen und durchaus VEKW-kompatiblen Ansatz bietet die Methodik von György Sándor in On Piano Playing an. Hier sind drei Kernpunkte erkennbar, in den die VEKW-Thesen der Effizienz und der dynamischen Systeme spürbar werden: (1) Die Nutzbarmachung zweier Quellen von Energie, Gravitation und Muskelenergie für das Klavierspiel. Die Grundlage der Sándorschen Technik ist die gezielte Minimierung unseres eigenen Energieaufwands. Die Gravitation selbst kann im Sinne Rowlands als eine äußerliche Struktur gedacht werden, deren Ausnutzung die inneren Kosten – in diesem Fall die Kosten der körperlichen Leistung – auf Körper und Umgebung verteilt. (2) Die Priorisierung von Muskelkoordination und -interdependenz. Laut Sándor basiert nicht nur die Ausnutzung der Gravitation, sondern auch die Struktur der Muskulatur selbst auf Komplementarität und dem effizienten Einsatz von Energie. Der performative Körper ist gewissermaßen schon Umgebungsinformation. Diese Information ist nicht zu konstruieren, sondern unmittelbar zu erspüren. Im Sinne Gibsons lässt sich diese Kenntnis als eine Exploration von Affordanzen verstehen. (3) Die Entwicklung eines visuogestischen Codes. Neben der Schwerkraft und dem Körper als äußerlichen Strukturen, weist Sándor auf die Integration eines dritten Faktors hin, nämlich auf die Integration der Partitur in das System des Klavierspiels. Sándors einfacher, aber bedeutender Beitrag besteht in der Entwicklung einer Typologie von spieltechnischen Mustern im Bezug auf die Notation. Dieses »Alphabet« priorisiert körperliche Bewegung, Kontinuität oder Diskontinuität der musikalischen Gruppierung sowie Artikulation und Dynamik. Ich nenne diese Typologie einen »visuogestischen Code«, im Sinne einer mit visuogestischen Mitteln erfolgenden äußerlichen Informationsspeicherung, die Rowlands, wie erwähnt, unter Berufung auf Luria und Vygotsky thematisiert. Der Nutzer des Codes kann nach Jahren der Ausbildung eine unmittelbare Übersetzung der Notation in Gesten erreichen, ohne die Noten auswendig lernen zu müssen oder die musikalischen Beziehungen auch nur im traditionell hermeneutischen Sinne zu verstehen, sondern ausschließlich durch einen Prozess der Muster-Identifizierung und der Vervollständigung. In diesem Sinn werden die Gesten, das Instrument und die Partitur in einem aufführungsspezifischen interaktiven Schema miteinander verflochten. Dieser kurze Vergleich der Aspekte »Klaviertechnik« und »Notenlernen« bei Leimer/Gieseking und Sándor zeigt zusätzlich, wie sehr der Diskurs, in diesem Falle also die Konzeptualisierung des Klavierspiels, den musikalischen Ansatz determiniert und auf ihn zurückwirkt (VEKW-These 3): Im Fall Leimers/Gie-

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sekings kommt dem Lernen im Kopf (Lesen des musikalischen Textes) eine ähnliche Stellung zu wie der einer Eingabe zu einem Algorithmus, der dann mit dem Selbstzuhören als Ausgabe sein Ende findet. Was dazwischen steht – Körper, Noten, Instrument – sind nur Mittel zum Zweck. Bei Sándor dagegen werden die mentalen Prozesse mit allen äußerlichen Strukturen (Schwerkraft, Körper, Instrument, Partitur) in einem hybriden navigatorischen Ansatz kombiniert. Von Anfang an ist der Interpret in einen selbstorganisierten Rückkopplungskreis eingebunden: Er spielt das zu spielende Stück nicht »im Kopf« und unter Zuhilfenahme des Klaviers, sondern steht in ständiger, in Echtzeit erfolgender, Rückkopplung mit seinem Instrument, das nun seinerseits (im Sinne von Affordanz) angemessene körperliche Anpassungen induziert (das Spiel auf einem Steinway D erzeugt eine ganz andere Körpererfahrung als auf einem Erard des 19. Jahrhunderts oder einem digitalen Keyboard); die Rückkopplung des Körper als Quelle von Umgebungsinformation kann nun zum effizienten Energieeinsatz durch die jeweils passenden Muskelkoordinationen und die passende Ausnutzung der Schwerkraft führen; und schließlich fungiert die Rückkoppelung der Notation selbst als Schnittstelle, die man im Sinne des visuogestischen Code Sándors gestisch übersetzen kann. Alle diese scheinbar äußeren Umgebungsinformationen steuern also den Spielprozess und ändern im Lauf der Zeit die qualitativen und quantitativen Eigenschaften der Gehirnprozesse.

2.2 VEK W und komplexe Klaviermusik nach 1945: Aporien der Interpretation Die Bedeutung, die der VEKW-Ansatz für das traditionelle Klavierspiel spielen kann, nimmt, so die hier vertretene These, noch zu, sobald es sich um das komplexe Repertoire der Musik nach 1945 handelt. Um diese These begründen zu können, sei an dieser Stelle nochmals den Aporien der Interpretation heute nachgegangen, auf die bereits in der Einleitung kurz hingewiesen wurde – hier jetzt unter Bezugnahme auf das Werk und theoretische Schaffen von Franklin Cox, Brian Ferneyhough und Iannis Xenakis. In seinen veröffentlichten Texten und in seinem kompositorischen Schaffen problematisiert Brian Ferneyhough »die instabile Schnittstelle Performer/ Notation, die äußerst künstliche und fragile Natur dieser oft naiv unhinterfragten Bindung, die ständig die Fiktionalität des Werkes als greif bare, vollbestimmte Entität, als etwas, das unmittelbar kommuniziert werden kann, betont«.51

51 | Brian Ferneyhough, »Aspects of Notational and Compositional Practice«, in: Collected Writings, London/New York 1995, S. 5 (Übersetzung: P. A.).

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Ein zentrales Mittel solcher Problematisierung ist für Ferneyhough der Einsatz einer fast undurchdringlichen Notation, die den Spieler in jedem Moment um Priorisierung und um Exploration zu bitten scheint, oder wie Ferneyhough selbst schreibt: »Eine Notation, die vom Spieler eine Formulierung des bewussten Auswahlprozesses der Information und die Bestimmung von Kombinationen von Elementen oder Schichten, die in jedem Moment des Prozess priorisiert werden, anfragt.« 52

Um es mit der Terminologie von Gibson zu formulieren: Ferneyhough präsentiert mit seiner Notation ein raffiniertes navigatorisches Modell, das den Spieler zur Exploration von möglichen, in der Notation enthaltenden Affordanzen, anregt. Obwohl die Beschreibungen Ferneyhoughs immer das mentale, innere und bewusste Element dieses navigatorischen Ansatzes zu betonen scheinen, gibt er selbst einen stillschweigenden, aber entscheidenden Hinweis: Wenn das Verständnis der Notation und die Klarheit des Klangbildes so explizit problematisiert wird – und zwar sowohl qualitativ (als Vielfältigkeit von Wegen, Schichten und Beziehungen zur performativen Exploration) wie auch quantitativ (als bloße Explosion der Information) –, dann wird auch die ganze kausale Struktur, d. h die Kette zwischen Verständnis, Technik und Interpretation selbst ausgehöhlt. Die performative Körperlichkeit kann nicht mehr die traditionelle Rolle eines möglichst neutralen und transparenten Mittels für einen demgegenüber entkörperten musikalischen Zweck übernehmen. Die Lösung dieser Kette stellt den Unterschied zwischen Körper und Geist in Frage und plädiert damit unterschwellig für den VEKW-Ansatz. Genau diese Schlussfolgerungen zieht auch der Cellist, Komponist und Theoretiker Franklin Cox in seinem Text Notes Towards a Performance Practice for Complex Music.53 Die komplexe Musik hat einen radikalen Paradigmenwechsel aufgrund der Veränderungen der Notation ausgelöst. In komplexen Partituren finden sich »Extreme von textueller Dichte und feinen Details sowie eine Verschmelzung von hochrationalisierten Materialien […] und einer extremen Körperlichkeit und […] Irrationalität des Ergebnisses«. Der Paradigmenwechsel besteht in der Verwandlung der kommunikativen Kette (Komponist–Interpret–Hörer) in eine »überlappende Reihe von volatilen Konflikten zwischen Inkompatibeln« und »eröffnet die Möglichkeit einer neuen Art kör-

52  |  Brian Ferneyhough, »Aspects«, S. 4 (Übersetzung: P. A.). 53  |  Frank Cox, »Notes Toward a Performance Practice for Complex Music«, in: ClausSteffen Mahnkopf, Frank Cox und Wolfram Schurig (Hg.), Polyphony and Complexity, New Music and Aesthetics in the 21st Century Vol.1, Hofheim 2001, S. 70-132.

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perlichen Denkens, das über die Mittel- und zweckorientierte Ausbildung (z.B. der traditionellen Virtuosität) hinausweist.«54 Trotz dieser Perspektiven herrschen die traditionellen Aporien noch vor. In meiner Kritik an der aktuellen Aufführungspraxis von Xenakis55 habe ich an anderer Stelle angemerkt, dass Interpretation hier entweder unter dem Aspekt einer extremen körperlichen Leistung thematisiert wird, die sich als (vergeblicher) Versuch körperlicher Selbstüberschreitung konzeptualisieren lässt oder aber in einen internalistischen gehirnorientierten und entkörperten Ansatz eingeordnet wird, der von der Möglichkeit eines objektiven Verständnisses des Xenakis’schen Klangbildes ausgeht. Diese zwei Pole sind komplementär zueinander und spiegeln die Dichotomie von Körper und Geist und damit also die traditionellen interpretativen Aporien wider.

2.3 Körperliche Navigation: Konzeptualisierung und Praxis In anderen Zusammenhängen56 habe ich bereits die Kernpunkte des Modells der »körperlichen Navigation« präsentiert: Mit dem Begriff des Körperlichen weise ich darauf hin, dass die performative Körperlichkeit ein zentraler Bestandteil der kognitiven Prozesse zum Lernen und zur Aufführung ist. Der Begriff der Navigation ist die Konzeptualisierung eines nichtlinearen dynamischen Modells, das seine Wurzeln in der Theorie Gibsons und in der Metapherntheorie hat, die auf die Erfahrung der körperlichen Motorik und Gestik hinweist und diese Erfahrung mit der komplexen Notation verknüpft. Das Modell lässt sich als die Konjektur der dargestellten Entwicklungen im Bereich der VEKW und der hier ebenfalls kurz skizzierten Aporien in der heutigen musikalischen Interpretationsdiskussion begreifen. Mit diesem Modell möchte ich zum einen die Idee einer untrennbaren Verbindung von Lernprozess und Aufführungspraxis begründen. Zugleich bildet es einen Schlüssel zum Verständnis bestimmter kompositorischer Ideen sowie deren körperlicher Artikulation und akustischer Wahrnehmung. Die Einheit und Zusammengehörigkeit dieser Aspekte ist Merkmal der performativen Erfahrung. Zentrale Elemente dieses Modells – Effizienz, dynamisches System und selbstorganisierende Rückkopplungskreise – wurde schon in 2.1 angespro54 |  Ebd., S. 70. (Übersetzung: P. A.) 55 | Pavlos Antoniadis, Physicality as a performer-specific perspectival point to Iannis Xenakis’s piano work. Case-study Mists, Vortrag im Rahmen der Iannis Xenakis International Conference, Goldsmiths University, London 2011. www.gold.ac.uk/media/07.3%20 Pavlos %20Antoniadis.pdf (letzter Zugriff: 3.7.2013). 56  |  Neben den bereits zitierten Texten vgl. »Inter-structures: Rethinking continuity in post 1945 piano repertoire«, in: JIM Online Journal (Spring 2009). www.musicstudies. org/JIMS2009/Stefanou_JIMS_0932105.pdf (letzter Zugriff: 3.7.2013)

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chen. An dieser Stelle möchte ich jetzt die Bedeutung der Konzeptualisierung (vgl. 1.3) und der Navigation (vgl. 1.3) für das Modell ausführlicher darstellen. Im Anschluss daran diskutiere ich zum Ende dieses Beitrags dann einige praktische Konsequenzen und mögliche Anwendungsformen. a) Konzeptualisierung: Partitur-Raum Der Begriff des »Partitur-Raums« ist eine Metapher, die von grundsätzlicher Bedeutung für das Verständnis des Begriffs der Navigation ist. Wie gezeigt, geht der Forschungsansatz der kognitiven Linguistik davon aus, dass die metaphorische Sprache auf grundlegenden Konzepten der Raum- und Handlungserfahrung auf baut. Demgemäß lassen sich auch musikalische Phänomene als »grundsätzlich verkörperte kognitive Strukturen« begreifen, »die aus der Erfahrung unseres eigenen Körpers«57 abgeleitet sind. In diesem Sinne lässt sich das Konzept des Partitur-Raums aus der körperlichen, motorischen Erfahrung des Performers mit einem Werk ableiten – angefangen mit dem Medium »Partitur« (das ihn begleitet, seit er mit dem Stück beschäftigt ist), über den Lernprozess bis hin zu seinen Erfahrungen bei einer oder mehreren Aufführungen. Im Gegensatz zu einer Konzeptualisierung der Partitur als Zeitlinie, und folglich auch im Kontrast zu einer Konzeptualisierung des Lernens als Algorithmus mit Anfang und Ende, Input und Output, Ein- und Ausgabe sowie zu einer Konzeptualisierung der Aufführung als einer bloßen Wiederholung des Notenmaterials, erlaubt der Begriff des Partitur-Raums die Formulierung der zeitlichen und räumlichen Erfahrung des Spielers als vielschichtige, nicht-lineare Bewegung innerhalb der Partitur, und zwar als Navigation, d.h. als Exploration der Affordanzen der Notation (im Sinne von Gibson). Die Zeitlichkeit und die Räumlichkeit der Auseinandersetzung mit dem Stück entspricht selten der linearen Zeitlinie des Stücks im Rahmen einer Aufführung: Gerade die Auseinandersetzung mit komplexen Stücken nach 1945 vollzieht sich subjektiv als ein kompliziertes Geschehen, das von einem chaotisch anmutenden Umherwandern im Stück, von einem inneren Widerstand gegenüber der Viskosität polyphoner Texturen, von chirurgischen bzw. statischen Entzifferungen komplexer Rhythmen sowie von verzweifelten Uraufführungen wegen zu geringer Vorbereitungszeit geprägt sein kann. Es ist genau diese Vielfältigkeit der performativen Erfahrung, die mich dazu bewogen hat, den Partitur-Raum als den Raum von allen möglichen handlungsorientierten Eigenschaften der Partitur zu bestimmen. In diesem Sinne schlage ich vier Dimensionen dieses Raums vor. Diese Dimensionen entsprechen nicht einzelnen Phasen des Lernens, sondern bezeichnen eher unabhängige 57 | Bob Snyder, Music and Memory: An Introduction, Cambridge, MA. 2000, S. 107120, hier S. 108.

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Modi der Partitur, deren Wechselwirkung entscheidend für das klingende Ergebnis wird. (1) Mit assamblage-view bezeichne ich die Dimension einer grundlegenden, sehr personalisierten gestischen Schablone, die bei der ersten Wanderung durch die Partitur erzeugt wird; eine spontane Ansammlung von Gesten. (2) Die forward-moving stratification ist die Dimension, in der die gestische Schablone erste Regelmäßigkeiten erhält: Gruppierungen aller Art: gestische, melodische, harmonische, rhythmische u.a., im weitesten Sinne sogar jede Form von Kontinuität. (3) In der resistance to the flow werden alle Momente in die Schablone projiziert, die sich der Kontinuität entgegenstellen. (4) Die line of flight (Fluchtlinie) ist schießlich die wirkliche Aufführung, als eine in Echtzeit erfolgende lineare Durchführung, bei der die drei vorherigen Dimensionen durchwandert werden. b) Praxis: Körperliche Navigation Aus dem Begriff des Partitur-Raums als eine Art vielschichtigen Zustandsraumes des Systems Embodied Mind-Instrument-Partitur geht nun der Begriff der körperlichen Navigation hervor. Diese aus der gestischen Bewegung stammende Metapher bezeichnet sowohl die hybriden Prozesse des Lernens wie auch den Prozess der Aufführung. Der ganze Prozess der Interpretation wird in diesem Sinne von der Grundlage der körperlichen Bewegung als aktiver Exploration von Affordanzen der Notation bestimmt und gesteuert. Die Eigenschaften dieser diachronischen Wanderung zwischen den Dimensionen des PartiturRaumes bestimmen das klingende Ergebnis in einer aufführungsspezifischen Weise. Die Verschiedenartigkeit der Wege und Arten der Navigation verweisen auf ein interpretierendes Individuum. Im Gegensatz zur romantischen Vorstellung einer letztlich irrationalen Interpretion durch einen kongenialen Interpreten lassen sich diese Wege nun aber wesentlich präziser darstellen. In meiner bisherigen Forschung habe ich schon die erste Dimension des Partitur-Raums im Sinne einer personalisierten, außer der Zeit liegenden gestischen Schablone unter Zuhilfenahme mehrschichtiger Tabulaturen für komplexe Musik dargestellt. Die Art und Weise, wie diese Tabulaturen zustande kommen, wird ausführlich in meinem Text über Xenakis beschrieben:58 Von einer entkörperten, traditionellen Notation einer Xenakis’schen »Wolke« navigiert man durch die Repräsentation von drei verschiedenen Schichten von bestimmten körperlichen Gruppierungen: Finger, Griffen, Armbewegungen. Durch eine Rotation der Partitur von 90 Grad nach rechts wird eine Schablone aller möglichen Bewegungen und Trajektorien sichtbar, die die Notation 58  |  Vgl. Anm. 56.

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verkörpert und die reale Perspektive des Pianisten in Bezug auf die Tastatur abbildet (vgl. Abb. 1).

Diese Art von Repräsentation kann trotzdem nicht die Navigation selbst, also die dynamische Wechselwirkung der Dimensionen (2) bis (4) in Echtzeit, darstellen. Eine derartige Darstellung sollte die Verwandlung der Schablone selbst nach den Bewegungen des Spielers/der Spielerin beinhalten. Diese Transformation besteht aus einer Verarbeitung der Einzelgeste in Echtzeit sowie einer seriellen und sequentiellen Verknüpfung der Gesten bzw. deren Verschmelzung in neuen, erweiterten Gesten. Die Transformation besteht also aus der Navigation entlang der Dimensionen von Kontinuität und Diskontinuität.

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Es wird darum gehen, eine Realisierung dieses Modells körperlicher Navigation auf den Weg zu bringen und mit elektronischen Mitteln ein Werkzeug zu entwickeln, das in Form einer personalisierten, verformbaren und mehrschichtigen Tabulatur dem Spieler die Möglichkeit gibt, die Notation in performative Gesten zu überführen.59 Die Navigation im Partitur-Raum wird als gestische Annotierung sichtbar. Dieses Werkzeug dokumentiert Lernprozesse 59  |  Vgl. hierzu das bevorstehende Projekt Gesture cutting through textual complexity: Towards a tool for online gesture analysis and control of complex piano notation processing www.ircam.fr/1117.html?&L=1 (letzter Zugriff: 3.7.2013).

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und kann zu einer erheblichen Erleichterung bei der Entzifferung komplexer Notation führen. Der bislang als statisch und präfixiert verstandene Zentralbestandteil des Systems, die Notation, wird lebendig. Die Konzeption dieses Projektes basiert auf dem von Frédéric Bevillacqua entwickelten gesture follower, der eine gestische Verarbeitung eines Audios in Echtzeit ermöglicht.60

2.4 Fazit Die technische Entwicklung des Modells der körperlichen Navigation stellt einen biologische und künstliche Systeme übergreifenden Forschungsansatz dar. Das dargestellte Modell basiert auf vier bestimmten Merkmalen der VEKW: Effizienz durch die Ausnutzung äußerlicher Strukturen, Elemente Dynamischer Systeme, metaphorische Konzeptualisierung und Navigation als Exploration von Notationsaffordanzen. Körperliche Navigation bedeutet die Bewegung zwischen verkörperten Strukturen des festgestellten Partitur-Raums, die einen neuen und immer veränderbaren performativen Raum schafft. Diese Bewegung funktioniert zwischen Lernen und Aufführung, zwischen Detailaspekten und globalen Aspekten und zwischen der Kontinuität der Darbietung und dem Widerstand der Entzifferung. Die Qualitäten dieser Navigation – ihre Richtung, ihre Geschwindigkeit, ihre Viskosität u.a. – definieren, was aus dem sich dem Verständnis sperrenden und unspielbar erscheinenden komplexen Notenbild klingen kann. Interpretation ist dann die diachronische Bewegung durch den Partiturraum und nicht mehr lediglich die Wiedergabe eines vorab fixierten Klangbildes. In diesem Licht möchte ich die anfänglichen Fragen beantworten: • Was kann der Spieler jenseits der traditionellen Vorstellungen von Verständnis und Technik wirklich einem Notentext hinzufügen? – Kurz gesagt: Nichts. Interpretation findet schon mit jeder körperlichen Bewegung statt. Sie ist nicht das Ziel des Spiels oder eine geistig-musikalische Struktur, die dem Spielakt vorausgeht, sondern bezeichnet die Art und Weise, in der der Spieler durch den Partiturraum navigiert.

60  |  Frédéric Bevilacqua, Norbert Schnell, Nicolas Rasamimanana, Bruno Zamborlin, Fabrice Guedy, »Online Gesture Analysis and Control of Audio Processing«, in: Musical Robots and Interactive Multimodal Systems, Jorge Solis & Kia Ng (Hg.), Berlin/ Heidelberg 2011.

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• Worin genau besteht die Interpretation, wenn alles schon so fixiert durch die Notation ist? – Interpretation, so lautet meine Antwort, besteht in der Wechselwirkung jener körperlich-gestischen Elemente, die der Notation vorausgehen und die durch sie freigesetzt werden. • Was passiert, wenn, wie eingangs skizziert, die erste Voraussetzung von Verständnis und demzufolge auch die von Technik, derartig sabotiert wird? Wie ist die Interpretation in gewöhnlichem Sinn noch möglich? – Hier ist Tudors Antwort, der es nichts hinzuzufügen gibt: »Es gab plötzlich eine andere Art, die musikalische Kontinuität zu sehen […]. Ich versuchte meinen Geist in einen Zustand von Nicht-Kontinuität, Nicht-Erinnerung zu versetzen, so dass jedes Moment lebendig wurde.«61 Was bleibt, ist die Unerreichbarkeit einer geistigen Totalität des Klangbildes und die Bedeutung des Körpers nicht als Mittel, sondern als immanente und aufführungsspezifische Schicht des Werkes. Wird durch das, was ich hier zu entwickeln versucht habe, die Werktreue bedroht? Vermutlich nicht: Die Kraft einer Partitur als »gefundenes Objekt«, im Sinne von Boulez, wird durch die Legitimität von vielfältigen möglichen Interpretationen eher gesteigert.62

61  |  »All of a sudden there was a different way of looking at musical continuity […] I had to put my mind in a state of non-continuity – not remembering – so that each moment is alive« (Tudor, zitiert nach Holzaepfel »Cage and Tudor«, S. 171). 62  |  Herzlichen Dank an Lilian Peter für ihre Hilfe bei der sprachlichen Einrichtung und Wolfgang Lessing für seine sprachlichen und inhaltlichen Vorschläge.

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Was kann uns die Gänsehaut lehren? Ein Beitrag zum evolutionären Ursprung der Musik Eckart Altenmüller und Reinhard Kopiez

D ie schwierige F r age : W er oder was hat die M usik erfunden ? Es besteht allgemein Übereinstimmung darin, dass alle menschlichen Kulturen musikalische Aktivitäten ausübten und auch noch heute ausüben. Unter den ältesten kulturellen Artefakten findet man Flöten aus Rentier-, Schwanen- und Geierknochen und aus Mammut-Elfenbein. Die in der »Hohle-Fels«Höhle und in der »Geißenklösterle«-Höhle nahe Blaubeuren gefundenen Instrumente sind etwa 35.000 Jahre alt. Interessant ist, dass die Grifflöcher so gebohrt sind, dass beim korrekten Anspielen an der Anblaskante und vollständigem Abdecken der Löcher mit den Fingern eine diatonische Tonleiter mit Ganz- und Halbtonschritten gespielt werden kann. Auf der »Geißenklösterle«-Flöte ist es sogar möglich, das Hauptthema aus Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge zu spielen (Münzel et al. 2002). Nicholas Conard, der Leiter der Ausgrabungen in der »Hohle-Fels«-Höhle vermutet eine auf die Altsteinzeit zurückgehende kulturelle Tradition. Er spekuliert, dass sich diese diatonische Tonleiter als ein Charakteristikum der mitteleuropäischen Musik über Zehntausende von Jahren erhalten hat (Conard et al. 2009). Möglicherweise ist das eine zu romantische Idee, da wir ja gerade im oberen Donautal zahlreiche Siedlungsphasen mit Menschen unterschiedlichster geographischer Herkunft und damit unterschiedlicher kultureller Prägung nachweisen können. Die jungsteinzeitlichen Donaukulturen pflegten intensive Handelskontakte mit Osteuropa und Kleinasien, in der Bronzezeit bestanden Verbindungen zur baltischen Kultur, Kelten und Frühgermanen wurden von den Römern kolonialisiert, Alemannen siedelten lokal und später stießen sogar die Hunnen bis Süddeutschland vor. Außerdem ist es bis heute unsicher, ob diese Flöten wirklich für ästhetische Zwecke als Musikinstrumente eingesetzt wurden, oder ob sie nicht eher zum Beispiel Jägern als Signalwerkzeuge dienten. Sicherlich unterschied sich das emotionale Leben der steinzeitlichen

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Menschen nicht grundsätzlich von unseren Empfindungen. Vermutlich hatten die Menschen damals ähnliche Freuden, Sorgen und Leiden. Die Lebensbedingungen waren hart und die durchschnittliche Lebenserwartung betrug nur 25 Jahre. Die Würmeiszeit bedingte eine dem heutigen Klima in Grönland vergleichbare durchschnittliche Jahrestemperatur, die Vegetation in der Randlage der aus den Alpen vordringenden Gletscher bestand überwiegend aus Tundra mit einzelnen Birken, allerdings war ausreichend Nahrung durch die reichen Wildbestände vorhanden. Man kann sich daher gut vorstellen, dass die steinzeitlichen Menschen abends am Feuer saßen und ausdrucksvolle Melodien spielten, um so das Wohlbefinden und den Gruppenzusammenhalt zu fördern. Für eine musikalische Funktion der Flöten spricht auch der Umstand, dass die Herstellung insbesondere der Elfenbeinflöten technisch sehr aufwändig war und erhebliche Expertise erforderte. Die Mammut-Rohlinge wurden vorsichtig ausgehöhlt und die beiden Halbrohre mussten dann genau aufeinander angepasst und mit Birkenpech dicht verklebt werden (Münzel/Conard 2009). Für eine reine Signalflöte hätten die Steinzeitmenschen sicher geringeren Aufwand betrieben. Wahrscheinlich gab es bereits vor der Periode der jungsteinzeitlichen Funde musikalische Aktivitäten, aber hier sind keine sicheren Zeugnisse überliefert. Denkbar ist, dass die Instrumente aus weniger haltbarem Material, z.B. aus Schilf und Holz gefertigt wurden, möglich ist aber auch, dass gemeinsamer Gesang, rhythmisches Klatschen und Trommeln auf Holzgegenständen dominierten. Es bleibt eine offene Frage, warum musikalische Aktivitäten in der Evolution von Homo sapiens entstanden sind. Die Herstellung der Instrumente und das Einüben der Melodien waren arbeitsintensiv und damit teuer. Wertvolle Zeit, die auch zum Jagen oder Sammeln hätte genutzt werden können wurde hier trotz des ständigen Kampfes um das Überleben investiert. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist die Frage nach dem Ursprung der Musik schwierig zu beantworten. Es existieren zu wenig gesicherte Quellen über die musikalischen Aktivitäten in prähistorischen Zeiten. Musik versteinert nicht. Wir besitzen mit den Flötenfunden nur spärliche Dokumente und es gibt bemerkenswert wenige Darstellungen von Musikern in Höhlenmalereien. Dennoch gibt es Gründe anzunehmen, dass die Musik als Universalie alte evolutionäre Wurzeln hat. Dies müsste allerdings dann wieder mit einem Selektionsvorteil, einem adaptiven Wert für das Leben der Menschen einhergehen. Im Folgenden wollen wir ausführen, welche Gründe dafür sprechen, dass Musik einen Selektionsvorteil und adaptiven Wert für die Menschen der Urzeit hatte. Wir wollen dann die Gegenposition darlegen, nämlich dass Musik dem Käsekuchen vergleichbar sei: angenehm und schmackhaft, aber unnütz. Dann wollen wir die Frage behandeln, ob Musik ähnlich wie die Kontrolle des Feuers eine relativ späte Erfindung des Menschen sein könnte. Eine Kurzüber-

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sicht über die Ergebnisse unserer Gänsehautexperimente beim Musikhören soll dann auf alte biologische Wurzeln der Musik verweisen. Alle diese Befunde wollen wir schließlich in ein Modell zur Entstehung der Musik integrieren.

I st M usik eine e volutionäre A npassung ? Aus Platzgründen wollen wir hier nur verkürzt die Diskussion über einen potenziellen adaptiven Wert der Musik wiedergeben.1 Zusammenfassend gehen die »Adaptionisten« davon aus, dass unsere Fähigkeit, Musik zu machen und zu genießen, das Resultat einer natürlichen Selektion ist, die in der Evolution des Menschen einen Beitrag zum »Überleben des Stärkeren« leistete. Parallel mit dem Verhalten wurden auch die körperlichen Voraussetzungen des Musizierens entwickelt. Dazu gehören spezialisierte Hirnregionen, in denen Musik bevorzugt verarbeitet wird, zum Beispiel im Bereich der oberen rechten Schläfenwindung. Der prominenteste Vertreter dieser Position war Charles Darwin. In seinem 1875 in deutscher Sprache erschienenen Buch Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl schreibt er Folgendes zum Ursprung der Musik: »Die Musik erweckt verschiedene Gemüthserregungen in uns, regt aber nicht die schrecklicheren Gemüthsstimmungen des Entsetzens, der Furcht, Wuth u.s.w. an. Sie erweckt die sanfteren Gefühle der Zärtlichkeit und Liebe, welche leicht in Ergebung übergehen. In den chinesischen Annalen wird gesagt: ›Musik hat die Kraft, den Himmel auf die Erde herabsteigen zu machen‹. Sie regt gleichfalls in uns das Gefühl des Triumphes und das ruhmvolle Erglühen für den Krieg an. Diese kraftvollen und gemischten Gefühle können wohl dem Gefühle der Erhabenheit Entstehung geben. Wir können, wie Dr. Seemann bemerkt, eine größere Intensität des Gefühls in einem einzigen musikalischen Tone concentrieren als in seitenlangen Schriften. Ungefähr von denselben Gemütsbewegungen werden höchst wahrscheinlich auch die Vögel ergriffen, wenn das Männchen im Wetteifer mit seinen Nebenbuhlern die ganze Fülle seines Gesanges ertönen lässt, um das Weibchen zu gewinnen. Die Liebe ist noch jetzt am häufigsten Gegenstand unserer Lieder. […] So ist es wahrscheinlich, dass die Vorfahren des Menschen, männlichen und weiblichen Geschlechts, bevor sie sich ihre Liebe in artikulierter Sprache zu erklären vermochten, einander mit Hilfe musikalischer Töne und Rhythmen zu gewinnen bemüht waren« (Darwin 1875, S. 315-317).

Darwin argumentierte weiter, dass die Musik auch ein Vorläufer unserer Sprache sei. Dieser Gedanke wurde vor wenigen Jahren in dem »Musilanguage«1 | Für den aktuellen Stand der Diskussion sei auf den Sonderband der Zeitschrift Musicae Scientiae 2009/2010 mit dem Titel Music and Evolution verwiesen.

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Modell von Steven Brown ausgearbeitet (Brown 2000). Die Idee, dass musikalisch-emotionsbeladene Ausrufe auch Vorläufer der Sprache sein könnten ist allerdings nicht neu und findet sich bereits bei Johann Gottfried Herder (Herder 1772). Die von Darwin angesprochene Rolle von Musik bei der Werbung um Sexualpartner kann auch mit der Demonstration verborgener Qualitäten in Zusammenhang gebracht werden. Man kann sich gut vorstellen, dass das Singen eines jungen Mannes nicht nur ästhetischen Zwecken dient, sondern auch Auskunft über seine Gesundheit geben kann. Denn ein kräftiger Sänger leidet höchst wahrscheinlich nicht unter einer floriden Lungentuberkulose, eine Information, die immerhin bis zu Beginn des letzten Jahrhunderts für eine potenzielle Eheschließung von großer Bedeutung war. Die starke emotionale Wirkung, die von kräftigen Männerstimmen ausgeht – man denke an das berühmt-berüchtigte »hohe C« der Tenöre –, könnte also mit einer derartigen Demonstration von Fitness in Zusammenhang gebracht werden. Aber es sind nicht nur die verborgenen Qualitäten des Musikanten, sondern auch direkte akustische Merkmale von Musik, die bestimmte Wirkungen entfalten. So wissen wir heute, dass ausdrucksvolles Musizieren zur Ausschüttung von Endorphinen führen kann, wodurch Glücksgefühle ausgelöst werden, die beim gemeinschaftlichen Hören der Intensivierung einer Bindung dienen können (Panksepp/Bernatzky 2002). Auf der Gruppenebene kommt Musik eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Herstellung sozialer Kohärenz zu. So wird der Tanz zum Beispiel in zahlreichen Gesellschaften bei religiösen Festen und gesellschaftlichen Riten eingesetzt. Tanz scheint über eine verstärkte Oxytocin-Ausschüttung der Hypophyse eine stabilere Gedächtnisbildung zu bewirken (Huron 2006). Damit wird die Erinnerung an ein spezifisches Gruppenerlebnis gefördert. In ähnlicher Weise wird Musik als Markersignal von Gruppenidentität bei zahlreichen anderen Gelegenheiten eingesetzt. Man denke nur an Nationalhymnen, Fußballgesänge und an die identitätsstiftende Wirkung, die bestimmte Lieder von ethnischen Minderheiten in einem Staatswesen haben. Ein eindrucksvoller Hinweis auf die Wertschätzung, die Musik als Mittel zur Organisation sozialer Gruppen genießt, ist der Einsatz von Musik beim Militär. Möglicherweise ist hier der vorrangige Zweck des Musizierens die Verhaltenssynchronisation. Dies kann auch beim Einsatz von Musik in der Arbeitsorganisation, etwa als »Spinnerlied«, »Dreschegesang« etc. angenommen werden. Wie McNeill in seiner kulturgeschichtlichen Untersuchung über die sozialen und evolutionären Funktionen der Bewegungssynchronisation aufzeigt, haben gemeinsam und synchron ausgeführte rhythmische Bewegungen wie sie z.B. beim Tanzen eingesetzt werden, hauptsächlich eine gruppenbindende Funktion (McNeill 1995). Auch hier kann leicht der evolutionär adaptive Wert erkannt werden: Erst durch die soziale Organisationsform der Gruppe konnte sich die Spezies homo sapiens gegenüber der Tierspezies sowohl bei der Jagd

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als auch beim Schutz der Gruppenmitglieder durchsetzen. Diese Fähigkeit zur sozialen Organisation wäre evolutionär mindestens genauso bedeutsam wie der Werkzeuggebrauch, und Musik hätte aus dieser Sicht eine zentrale Bedeutung.2 Derartige Funktionen von Musik sind heute mit der Differenzierung und Individualisierung von Arbeitsvorgängen in den Hintergrund gedrängt worden. Bereits bei Kindern scheint gemeinsames Musizieren die soziale Kohärenz, Kooperativität und Hilfsbereitschaft zu fördern (Kirschner/Tomasello 2010). Neben sexueller Selektion und Gruppenzusammenhalt wird als dritte wichtige evolutionäre Anpassung die frühe Eltern-Kind Interaktion mit Wiegenliedern und rhythmisch-gestischer Interaktion angeführt. Diese Form der emotionalen Kommunikation hat drei Hauptfunktionen: Die Bindung zwischen Elternteil (meist der Mutter) und Kind wird gestärkt, der Spracherwerb wird unterstützt und der Erregungszustand des Kindes kann gesteuert werden. Weltweit werden Wiegenlieder bei überaktiven Kindern beruhigend, bei zu passiven Kindern aber aktivierend gestaltet (Shenfield/Trehub 2003). Alle drei Funktionen verbessern die kindlichen Überlebenschancen und wirken daher auch auf die natürliche Selektion. Als weitere Eigenschaft sozialer »Wirkung« von Musik kann schließlich ihr Einsatz als Heilmittel angesehen werden. Musizieren kann zu einer verbesserten Körperabwehr führen und angstlösend wirken. In vielen Kulturen wird Musik als begleitende Therapie bei medizinischen Eingriffen durchaus sinnvoll eingesetzt (Panksepp/Bernatzky 2002). Die Bedeutung von Musik als potenzielle evolutionäre Anpassung wird durch neurobiologische Erkenntnisse unterstrichen. Wir besitzen spezifische Hirnregionen und neuronale Netzwerke für die Wahrnehmung von Melodien und Tönen. Dies wird eindrucksvoll durch den selektiven Verlust dieser Wahrnehmungsleistung bei angeborenen und erworbenen Amusien verdeutlicht. Erstere ist durch ein genetisch bedingtes Defizit der Tonhöhenwahrnehmung aufgrund eingeschränkter Funktion neuronaler Netzwerke im rechten vorderen Schläfenlappen bedingt (Ayotte et al. 2002). Ferner besitzt der Mensch spezifische neuronale Netzwerke, die seine Sensomotorik steuern und die es ihm ermöglichen, sich zu wechselnden Tempi zu synchronisieren und sich im Tempo einer rhythmischen Stimulation anzupassen. Zu den neurobiologischen Auswirkungen der Musik mit evolutionär adaptivem Wert gehören auch die starken Emotionen, die gelegentlich beim Musizieren und Musikhören entstehen. Verschiedene Neurotransmitter, insbesondere Dopamin und Endorphin spielen hier eine wichtige Rolle. In einer kürzlich erschienenen Arbeit aus der Gruppe von Robert Zatorre wurde die 2  |  Für weitere Ausführungen zu diesem Thema sei auf Kopiez 2005 verwiesen.

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Ausschüttung von Dopamin bei intensiven Gänsehauterlebnissen durch Musik beschrieben. Dabei wurden die Hirnregionen aktiviert, die im Mittelhirn, im Accumbens-Kern, im Striatum sowie im unteren vorderen Stirnhirn für die Vermittlung von Belohnungs- und Glücksgefühlen zuständig sind. Interessanterweise war die Ausschüttung des Motivations- und Belohnungshormons Dopamin im Striatum einige Sekunden vor dem eigentlich Glücksgefühl in der Phase der Erwartung der »Gänsehaut« nachweisbar, während die Glückserfahrung selbst zur Dopaminausschüttung im Accumbens-Kern führte (Salimpoor et al. 2011). Einen ähnlichen Verlauf der neurohormonalen Ausschüttung findet man auch bei anderen stark lustbetonten Aktivitäten, etwa beim Essen nach längerer Hungerperiode oder bei sexueller Aktivität. Solche Ergebnisse können auch erklären, warum Musik in allen menschlichen Gesellschaften ein so hoher Wert beigemessen wird. Die oben beschriebene dopaminerge Aktivierung reguliert und erhöht die Aufmerksamkeit, unterstützt Motivation und Gedächtnisbildung im episodischen und prozeduralen Gedächtnis. Damit wird das Erinnern musikalischer Ereignisse, die stark emotional bewertet werden, massiv unterstützt.

I st M usik eine menschliche E rfindung ? Die Gegenposition zu den Adaptionisten geht davon aus, dass Musik eine menschliche Erfindung ohne direkte adaptive biologische Funktion sei. Dennoch wird nicht abgestritten, dass einige der Merkmale von Musik durchaus biologisch nützliche Nebeneffekte haben können und das Wohlbefinden befördern. Eine Analogie dazu wäre die Erfindung der Kontrolle des Feuers, die vermutlich vor 150.000 Jahren stattfand (Brown et al. 2009). Natürlich gibt es kein »Feuer«-Gen und keine neurologischen Syndrome, die durch die Unfähigkeit, Feuer zu machen und zu kontrollieren, charakterisiert werden können. Aber niemand wird bestreiten, dass die Kontrolle des Feuers nicht nur einen enormen Einfluss auf das menschliche Wohlbefinden und die Ernährung hatte, sondern auch auf physiologische Parameter. Durch die Möglichkeit, leichter verdauliche und leicht zu kauende Nahrung herzustellen, verkürzte sich der Darm und es bildeten sich die großen Kiefer mit den Eck- und Mahlzähnen zurück. Warum sollte nicht auch die Musik eine derartig geniale Erfindung des Menschen sein? Historisch gesehen geht diese Sichtweise auf Herbert Spencer und seinen 1857 erschienenen Essay »Über den Ursprung und die Funktion der Musik« zurück (Spencer 1857). Spencer argumentierte, dass die Musik sich aus den Rhythmen und der ausdrucksstarken Sprachmelodie der leidenschaftlichen Rede entwickelt habe. Der prominenteste moderne Protagonist dieser nichtadaptionistischen Position ist Steven Pinker, der in seinem Buch How the Mind Works feststellt:

Was kann uns die Gänsehaut lehren? »Was Ursache und Wirkung im biologischen Sinne angeht, ist Musik nutzlos. Sie ist von ihrer Anlage her nicht auf das Erreichen eines Ziels ausgerichtet, wie ein langes Leben, Enkel oder die Fähigkeit, die Welt genau wahrnehmen und Voraussagen über ihr Verhalten machen zu können. Im Gegensatz zu Sprache, Sehfähigkeit, sozialen Schlußfolgerungen und physikalischen Kenntnissen könnte unserer Spezies die Musik genommen werden, ohne daß sich das Leben in den übrigen Bereichen grundlegend veränderte. […] Ich vermute, daß Musik akustischer Käsekuchen ist.« (Pinker 1998, S. 663)

Ein elegantes Konzept, Musik als menschliche Erfindung zu konzipieren und dennoch die oben genannten neurobiologischen Spezialfunktionen zu berücksichtigen, ist die von Aniruddh Patel vorgeschlagene Theorie der Musik als »Transformative Technology of the Mind«, als »umgewandelte Technologie des Geistes« oder kurz als »TTM« (Patel 2010). Patel entwickelt diese Theorie aus einem vergleichenden Ansatz: Zahlreiche Aspekte der Wahrnehmung und Produktion von Musik seien in anderen, nicht Musik bezogenen Hirnfunktionen verwurzelt, die wir mit Tieren gemeinsam haben. Die dahinter stehende Logik ist folgende: wenn unsere musikalischen Fähigkeiten sich auf andere Hirnfunktionen stützen, dann ist es nicht Musik, die unser genetisches Material durch natürliche Selektion geformt hat. Wie bei der Erfindung des Feuers, deren Voraussetzung der aufrechte Gang und die damit entstandene Kontrolle der Handmotorik war, stützen sich unsere musikalischen Fertigkeiten auf die Umwandlung zuvor erworbener Fähigkeiten, z.B. das Tonhöhenunterscheidungsvermögen oder die Synchronisation von Bewegungen zu wechselnden Tempi. Ist Musik einmal in der Lebenswelt etabliert und erprobt, bleiben (wie in der Feuer-Analogie) Auswirkungen auf biologische Merkmale nicht aus. Hier wären etwa die Entwicklung des rechten vorderen Schläfenlappens für ein leistungsfähiges auditives Arbeitsgedächtnis oder die Verfeinerung der sensomotorischen Handregionen zur Kontrolle der virtuosen Fingerfertigkeiten zu nennen. Zusammenfassend gesagt existieren durchaus gültige Argumente, Musik als eine menschliche Erfindung anzusehen, die sich aus bereits bestehenden kognitiven und motorischen Fähigkeiten entwickelt hat. Allerdings vernachlässigt die TTM-Theorie die starke Wirkung von Musik auf Emotionen! Es ist interessant, dass der emotionale Aspekt der Musik seit jeher im Mittelpunkt der adaptionistischen Position, beginnend mit Darwin, stand. Im Folgenden werden wir zeigen, dass Musik verschiedene Arten von Emotionen auslösen kann, nämlich 1.) die ästhetischen Emotionen, die keine unmittelbare vitale Bedeutung für den Organismus haben, und

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2.) die oben genannten starken Emotionen, die durch Begleitreaktionen des autonomen Nervensystems und durch Ausschüttung von Neurohormonen gekennzeichnet sind. Zu diesen starken Emotionen gehört unter anderem die oben genannte Chilloder Gänsehautreaktion. Wir werden argumentieren, dass die ästhetischen Emotionen vermutlich auf eine Erfindung des Menschen zurückgehen, während die starken Emotionen evolutionär alt sind und auf einem akustischen Kommunikationssystem von Affekten beruht, das auch schon bei anderen Säugetieren angelegt ist.

Ä sthe tische E motionen beim M usikhören Die meisten Menschen stimmen überein, dass Musik fröhlich oder traurig klingen kann. Allerdings besteht weniger Konsens, ob Musik wirklich beim Hörer Emotionen auslöst. Eine detaillierte Wiedergabe dieser Diskussion würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Wir verweisen hier auf eine kürzlich erschienene Übersichtsarbeit (vgl. Hunter/Schellenberg 2010). Grundsätzlich wird die »kognitivistische« und die »emotivistische« Position unterschieden. Kognitivisten argumentieren, dass fröhliche oder traurige Musik diese Emotionen nicht im Hörer erweckt, sondern nur in dieser Weise vom Hörer klassifiziert und bewertet wird (Kivy 1990). Allerdings kann eine solche Bewertung der Musik Emotionen induzieren (Scherer 2004). Zum Beispiel könnte die langweilige und ungenaue Wiedergabe eines sonst als »fröhlich« klassifizierten musikalischen Meisterwerks, z.B. der Badinerie aus der hmoll-Suite von Johann Sebastian Bach, bei einem Musikliebhaber Gefühle von Ärger, Frustration und Trauer auslösen, die natürlich auf seinen Kenntnissen anderer, angemessenerer Interpretationen beruhen. Im Gegensatz dazu postulieren die Emotivisten, dass Musik direkt Emotionen induziert. Mehrere Mechanismen werden für derartige Wirkungen von Musik diskutiert. Einer davon ist die oben genannte kognitive Bewertung. Juslin und Västfjäll haben sechs weitere Wirkmechanismen vorgeschlagen, nämlich 1.) Hirnstamm-Reflexe, 2.) Konditionierung, 3.) Verankerung im episodischen Gedächtnis, 4.) emotionale Ansteckung, 5). Imaginationen und 6.) auditive (z.B. harmonische) Erwartungen, die erfüllt oder getäuscht werden (Juslin/Västfjäll 2008). Zu den Hirnstammreflexen rechnen Juslin und Västfjäll automatische Reaktionen auf sehr dissonante und laute Klänge, die über ein fest verdrahtetes neuronales Netzwerk des Hirnstamms vermittelt werden. Obwohl dieses Phänomen eindeutig existiert, halten wir die Bezeichnung für unglücklich, da in

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der Neurologie Hirnstammreflexe – zum Beispiel die Verengung der Pupille bei Lichteinfall – hochgradig reflexhaft sind und im Gegensatz zur Reaktion auf Musik weniger individuell durch Lernvorgänge moduliert werden können. Passender wäre hier der Begriff »Hirnstamm-Reaktionen«. Die emotionale Kraft der Konditionierung von Musik und des episodischen Gedächtnisses wurde meisterhaft in dem Kapitel »Eine Liebe von Swann«, aus dem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust porträtiert (Proust 2004, S. 499f.): Der Held Swann verliebt sich in eine Frau, während eine Melodie des Komponisten Vinteuil gespielt wird. Anschließend wird das Stück als »Nationalhymne ihrer Liebe«, mit stark positiven Emotionen der Zärtlichkeit und Sehnsucht verbunden. Nach dem Auseinanderbrechen der Liaison erzeugt das Hören des Stückes intensive negative Emotionen wie Gefühle der Angst, der Melancholie und des Hasses bei Swann. Hier bewirken die Assoziationen von Musik mit wichtigen, nicht musikalischen Lebensereignissen gegenteilige Emotionen, obwohl der »Stimulus« gleich bleibt. Emotionale Ansteckung von Musik beruht auf der Idee der »sympathischen« Reaktion. Danach löst traurige Musik traurige Gefühle aus (Levinson 1996). Die Induktion von Emotionen durch Bilder beim Hören von Musik lässt sich am besten in Oper und Film-Musik belegen. Oft werden bestimmte Motive, Klangfarben, oder Instrumente mit emotional aufgeladenen Szenen oder Persönlichkeiten verbunden. Ein gutes Beispiel ist die Mundharmonika-Melodie in Ennio Morricones Musik zum Film Spiel mir das Lied vom Tod von Sergio Leone. Hier verkörpert das Sekundmotiv die düsteren Emotionen und Erinnerungen, die den Rachefeldzug der Figur »Mundharmonika«, dargestellt von Charles Bronson begleiten. Auf bau, Erfüllung und Täuschung musikalischer Erwartungen wird bereits seit Leonard Meyer als wesentlicher Auslöser von Emotionen beim Hören von Musik diskutiert (Meyer 1956). David Huron hat diese Idee in seinem Buch Sweet Anticipation ausgearbeitet (Huron 2006). Danach entsteht eine gewisse emotionale Befriedigung, wenn Erwartungen erfüllt werden. Bleiben die musikalischen Erwartungen unerfüllt, führt dies nicht zwangsläufig zu negativen Gefühlen, sondern das Ergebnis kann Lachen, Staunen oder sogar eine starke Reaktion in Form einer »Gänsehaut« sein. Kommen wir zurück zu der Frage nach dem evolutionären Anpassungswert der durch Musik induzierten Emotionen. Hier ist es unseres Erachtens sinnvoll, zwischen starken Emotionen, die zu den oben genannten physiologischen Reaktionen führen, und ästhetischen Emotionen zu unterscheiden. Auch Scherer unterscheidet zwei Klassen von Emotionen, nämlich erstens die utilitaristischen Emotionen (z.B. Wut, Ekel, Angst, Freude, Trauer, Überraschung) und zweitens ästhetische Empfindungen (Scherer 2005). Während erstere objektiv durch psychophysiologische Messungen erfasst werden können und in Bezug auf das Überleben relevant sind, sei es in Hinsicht auf Part-

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nerwahl, auf Gruppenkohäsion oder auf Vermeidungsverhalten, sind letztere durch stark subjektive Gefühle gekennzeichnet. Die physiologischen Komponenten ästhetischer Emotionen sind häufig sehr subtil und die emotionalen Reaktionen bleiben sehr individuell. Zentner und Kollegen haben das Vokabular von Beschreibungen der durch Musik ausgelösten Emotionen analysiert (Zentner et al. 2008). Dabei konnten sie die verbalen Äußerungen in neun Kategorien einteilen: Erstaunen, Transzendenz, Zärtlichkeit, Nostalgie, Friedfertigkeit, freudvolle Aktivierung, Spannung und Traurigkeit. Es ist sicher schwierig, diesen Kategorien einen evolutionär adaptiven Wert zuzuschreiben, obwohl sie unbestritten das menschliche Wohlbefinden steigern und Sinn, Trost und Sicherheit vermitteln können. Derartige ästhetische Emotionen sind also gute Kandidaten, um als menschliche Erfindung und Bestandteil einer TTM zu gelten.

D ie C hill-R eaktion als B eispiel für starke E motionen beim M usikhören : P hänomenologie und auslösende Parameter Auf der Suche nach einem objektiven Maß für starke Emotionen haben wir uns in den letzten Jahren mit der Chill-Reaktion beim Musikhören befasst. Derartige »Chills«, »Thrills«, oder »Gänsehauterlebnisse« sind mit dem Gefühl eines Fröstelns und mit Schauern, die den Rücken hinunterlaufen, verbunden. Die Chill-Reaktion tritt in vielen Zusammenhängen auf und kann durch ganz unterschiedliche Sinnesreize ausgelöst werden. Physiologisch geht die Chill-Reaktion mit einer Aktivierung des sympathischen autonomen Nervensystems einher. Dadurch entsteht eine Kontraktion der winzigen Haaraufsteller-Muskeln (Musculi arrectores pilorum) in der behaarten Haut. Darüber hinaus werden Chills von anderen Reaktionen des sympathischen Nervensystems begleitet. So erhöhen sich häufig die Herzfrequenz, der Blutdruck, die Atemfrequenz und die Schweißproduktion. Wie bereits oben erwähnt, gehen Chills mit einer dopaminergen Aktivierung im Bereich der Belohnungszentren des Striatums und des Accumbenskerns einher. Die dadurch verursachte Steigerung der Erregung und der Motivation unterstützt damit die Gedächtnisbildung. Auf diese Weise werden Ereignisse, die zu Chill-Reaktionen führen, verstärkt in das Langzeitgedächtnis überführt. Diese Tatsache ist wichtig, wenn wir später den evolutionär adaptiven Wert der Chill-Reaktion beim Hören von Musik diskutieren. Die Chill-Reaktion tritt auch bei anderen behaarten Säugetieren bei Kälte, Wut und Angst auf. Bei Kälte wird durch die aufgestellten Haare der Wärmeabtransport von der Haut vermindert, bei Wut und Angst erscheint das Tier größer und erschreckt so die Feinde. Dies kann gut bei Schimpansen, aber auch bei Mäusen, Ratten und verängstigten Katzen beobachtet werden. Ein

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Sonderfall der akustisch ausgelösten Chill-Reaktion scheint bei mütterlichen Trennungsrufen einiger Affenarten aufzutreten. Diese Rufe führen bei den abgelegten Affenbabys zum Aufstellen der Haare. Jaak Panksepp argumentiert, dass Gefühle des Verlustes und der sozialen Kälte so durch die mütterlichen Laute gelindert werden können (Panksepp 1995). Seiner Meinung nach könnte dies erklären, warum beim Menschen häufig Chill-Reaktionen bei trauriger oder sehnsuchtsvoller Musik auftreten. Kritisch anzumerken ist, dass bislang keine systematische Untersuchung dieser Chill-Reaktion bei Primaten durchgeführt wurde. Auch wenn Panksepps These häufig zitiert wird, haftet ihr somit etwas Anekdotisches an. Beim Menschen können Chills durch auditive, visuelle, taktile, somatosensorische, gustatorische und enterozeptive (z.B. Druck auf die Blasenwand) Reize induziert werden. Obwohl die meisten Untersuchungen zu dem Phänomen die Chill-Reaktion bei angenehmer, traurig-nostalgischer Musik betreffen (vgl. Guhn et al. 2007), darf nicht vergessen werden, dass unangenehme akustische Reize, wie das kratzende Geräusch von Kreide auf einer Tafel oder des Bohrers beim Zahnarzt eine solche Chill-Reaktion noch zuverlässiger auslösen (Grewe et al. 2010). Diese aversiven Reize zeichnen sich psychoakustisch durch große Lautstärke, hohes Frequenzspektrum und häufig durch ein hohes Maß an Rauigkeit (»Kratzigkeit«) aus. Im Folgenden werden wir uns nur auf die mit angenehmen Gefühlen verbundenen positiven Chill-Reaktionen beim Hören von Musik konzentrieren. Wir werden kurz unsere Ergebnisse zu den musikalischen Parametern, die eine Chill-Reaktion begünstigen, referieren. Dann werden wir Hörereigenschaften beleuchten und die Merkmale der »Chill-Persönlichkeit« darstellen. Vorab ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Chill-Reaktionen beim Hören von Musik selten sind. Nach Goldstein erleben überhaupt nur etwa 70 % der Bevölkerung gelegentlich diese Reaktionen (Goldstein 1980). Interessanterweise gibt es Unterschiede zwischen den Berufsgruppen. Musikstudenten sind mit bis zu 90 % anfälliger für Chills als Medizinstudenten (80 %), und Verwaltungsmitarbeiter einer Forschungseinrichtung (53  %). Selbst in einer ausgewählten Gruppe von Amateur-Chorsängern erlebten nur 72 % eine ChillReaktion wenn sie unter Laborbedingungen 30 Minuten sehr emotionale Chor-Musik anhörten (Grewe et al. 2009). Grundsätzlich ist anzumerken, dass Chill-Reaktionen flüchtig und nicht einfach reproduzierbar sind. So zeigte sich in einem Experiment, dass selbst typische individuelle »Chill-Stellen« an sieben aufeinander folgenden Tagen nicht regelmäßig die gleichen Reaktionen auslösten und insgesamt die Chills immer seltener wurden, die Probanden sich also habituierten. Darüber hinaus sind Chill-Reaktionen stark vom Kontext abhängig. In einer Untersuchung konnten wir nachweisen, dass das Hören emotional stark wirksamer Musik in einer Gruppe von Freunden zu weniger Chill-Reaktionen führt,

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als wenn diese Musik von den Teilnehmern allein gehört wurde. Dies weist auf eine weitere interessante Facette des Phänomens hin: zumindest in unserer Kultur werden Chill-Reaktionen als sehr intim empfunden und sind möglicherweise auch mit Scham-Gefühlen verbunden (Sutherland et al. 2009). In einer Reihe von weiteren Studien haben wir versucht, musikalische Faktoren zu bestimmen, die die Wahrscheinlichkeit für Chill-Reaktionen erhöhen. Die Hypothese war, dass bestimmte harmonische Progressionen, Klangfarben, Stimmen oder Lautstärkeverläufe zu diesem Phänomen beitragen. Die Ergebnisse waren sehr ernüchternd. Erstens fanden wir keine einfache Reiz-Reaktions-Beziehung, d.h. auch bei emotional sehr anregender Musik sind Chill-Reaktionen eher selten und nicht einfach reproduzierbar. Zweitens gab es keine Kombination von musikalischen Faktoren, die bei unterschiedlichen Hörern zuverlässig Chill-Reaktionen erzeugten. Das einzige Merkmal, dass in unseren Experimenten als eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung einer Chill-Reaktion gefunden wurde, war ein unerwarteter Bruch in der musikalischen Struktur oder, in der Terminologie von David Huron, eine Nicht-Erfüllung von Erwartungen (Grewe et al. 2007). Bei 38 hinsichtlich Alter, musikalischer Vorbildung und Geschlecht heterogenen Probanden (Alter: 11-72 Jahre, 29 Frauen, fünf professionelle Musiker, 20 Amateurmusiker und 13 Nicht-Musiker) analysierten wir die musikalischen Parameter der jeweils individuellen Gänsehaut-Musik im Labor. Bei 29 % der Musikstücke konnten wir den Einsatz einer Melodiestimme, sei es eines Instrumentes oder einer Singstimme, identifizieren. Bei 19  % fanden wir einen Spitzenwert in der Lautheit und bei 14 % einen Spitzenwert in der Brillanz, der sich in einem Anstieg der Energie im Frequenzbereich zwischen 920 und 4.400 Hz niederschlug. Weniger ausschlaggebend war die Erhöhung des Parameters »Rauigkeit«. Bei 12 % der Chill-Reaktionen wurde eine Erhöhung der Rauigkeit durch ein reduziertes Ton/Rausch-Verhältnis beobachtet. Dies entspricht einer Steigerung im Bereich der akustischen »Dichte« (Nagel et al.2008). Dies geschieht zum Beispiel, wenn mehrere Instrumente im Orchestersatz hinzukommen, und Lautstärke und Tempo zunehmen. In der Empfindung der Probanden gehen alle diese akustischen Veränderungen mit einem Anstieg der Erregung einher, die wir in Echtzeit während des Hörens mittels einer Computermaus und des Programms »EMuJoy« erfassten (Nagel et al. 2007). Dabei werden Änderungen der Erregung (Arousal) und des Gefallens (Valenz) stufenlos auf einem zweidimensionalen Koordinatensystem abgebildet. Ein typisches Beispiel für alle oben genannten Kriterien ist der »Barrabas-Ruf« aus der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. Wie oben schon erwähnt ist die Chill-Reaktion beim »Barrabas-Ruf« nicht reflexhaft, sondern hängt von vielen Faktoren ab, z.B. von der Hörsituation des Individuums, vom allgemeinen Wohlbefinden, von der Aufmerksamkeit und von der Tagesform.

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In Bezug auf Persönlichkeits-Faktoren unterschieden sich in der oben untersuchten heterogenen Gruppe die Teilnehmer mit häufigen Chill-Reaktionen (Chill-Responder) stark von jenen, die keine Chills verspürten. Chill-Responder waren vertraut mit klassischer Musik, bewerteten Musik als wichtiger für ihr Leben, identifizierten sich mehr mit der Musik, die sie bevorzugten und hörten im Alltag häufiger Musik. In Bezug auf psychologische Merkmale zeigten Chill-Responder eine allgemeine Tendenz zu niedrigeren Reizschwellen, waren empfindsamer und waren stärker abhängig von anderen Menschen und von emotionaler Zuwendung (vgl. Grewe et al. 2007). Da die Vertrautheit mit dem musikalischen Genre und persönliche emotionale Erinnerungen wichtige Faktoren für die Auslösung von Chill-Reaktionen zu sein schienen, wollten wir dies in einem weiteren Experiment genauer überprüfen. Wir rekrutierten 54 Patienten aus drei verschiedenen AmateurChören, die Mozarts Requiem aufgeführt hatten (im folgenden »Mozart-Gruppe« genannt) und 41 Teilnehmer aus Gospel- und Pop-Chören (im folgenden als »Kontrollgruppe« bezeichnet). Letztere waren nicht mit dem Mozart-Requiem und mit klassischer Musik vertraut. Wir spielten nun diesen Teilnehmern emotional bewegende Auszüge aus Mozarts Requiem (Lacrimosa, Confutatis, Rex tremendae, Tuba mirum, Dies irae) vor, wobei wir sowohl eigene Aufnahmen aus der Mozart-Gruppe als auch eine Interpretation von Herbert von Karajan verwendeten. Darüber hinaus wurden Auszüge aus dem Requiem von Puccini und aus der Motette Unser Leben ist ein Schatten von Johann Bach gespielt, die jeweils nur von einem der drei Chöre der Mozart-Gruppe gesungen worden waren. Gemessen wurden die subjektive Intensität der Gefühle und die wahrgenommenen Chill-Reaktionen mit dem EMuJoy-Programm. Zusätzlich wurden Hautleitfähigkeit, Herz- und Atemfrequenz abgeleitet. Vergleichbar mit früheren Ergebnissen von Guhn und Goldstein berichteten nur etwa zwei Drittel der Teilnehmer eine Chill-Reaktion (Guhn et al. 2007, Goldstein 1980). Es gab eine hohe interindividuelle Variabilität. Die maximale Chill-Anzahl während des etwa eine Stunde dauernden Experiments betrug bei einem Probanden n = 88! Im Durchschnitt erlebte jeder Teilnehmer neun Chill-Reaktionen. Interessanterweise zeigte sich kein Zusammenhang mit dem Alter, Geschlecht oder mit der Vorliebe für klassische Musik. Allerdings beeinflusste die Vertrautheit mit der Musik die Häufigkeit der Chill-Reaktionen. Sie traten weitaus häufiger in der Mozart-Gruppe als in der Kontrollgruppe (72 % gegenüber 56 % der Teilnehmer) auf, und die Gesamtzahl der Chill-Reaktionen war in dieser Gruppe viel höher als in der Kontrollgruppe (679 vs. 173 Chill-Antworten). Auch beim Hören der Bach-Motette und des Puccini-Requiems waren die Chill-Antworten signifikant häufiger bei den Choristen, die diese Stücke gesungen hatten. Weniger wichtig schien zu sein, ob die eigene oder eine fremde Interpretation gehört wurde (Grewe et al. 2009/10). Offensichtlich ist die Vertrautheit mit dem Stimulus ein wichtiger

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Faktor bei der Auslösung von Chill-Reaktionen. Die musikalische Biografie und individuelle Assoziationen (zum Beispiel die Erinnerungen an eine erhebende Aufführung in einer großartigen gotischen Kathedrale) fördern die Empfänglichkeit für eine Chill-Reaktion enorm. Im Folgenden wollen wir unsere Befunde in Bezug zum übergreifenden Thema dieses Aufsatzes – nämlich auf den evolutionär adaptiven Wert der Musik –, stellen. Demnach beruht die Chill-Reaktion biologisch auf einer phylogenetisch alten, reflexartigen Reaktion des sympathischen Nervensystems in Zusammenhang mit Thermoregulation und Droh- und Einschüchterungsgebärden. Sie ist biologisch mit Zunahme der Erregung verbunden und erleichtert die Gedächtnisbildung. Beim Menschen erfolgt die Reaktion im auditiven Bereich einerseits in Zusammenhang mit negativ bewerteten, lauten, hochfrequenten und rauen Geräuschen, andererseits im Zusammenhang mit angenehmen musikalischen Stimuli, die mit einer Aktivierung des dopaminergen Belohnungssystems im Gehirn einhergehen. Faktoren, die diese positiven Chill-Reaktionen fördern sind: die plötzliche strukturelle Veränderung der Musik, der Anfang von etwas Neuem, die Erhöhung der Lautstärke im hohen Register, die Verknüpfung mit positiven emotionalen Erinnerungen und eine allgemeine Vorliebe für das betreffende Musikgenre. Chill-Reaktionen sind außerdem bei empfindsamen und sozialen Persönlichkeiten häufiger. Im folgenden letzten Abschnitt werden wir zeigen, wie die Chill-Reaktion einen adaptiven Wert der Musik in der menschlichen Evolution begründen könnte. Schließlich werden wir unser Modell der »gemischten Ursprünge der Musik« (MOM) in der menschlichen Evolution vorstellen.

Z u den e volutionären W urzeln der M usik : H inweise aus der C hill-R e ak tion Der evolutionär adaptive Wert der Chill-Reaktion liegt auf der Hand, wenn man die oben genannten biologischen Begleiterscheinungen bedenkt. Negative Chill-Reaktionen waren vielleicht die Reaktionen auf die kreischenden, panischen Schreie von Artgenossen, die von einem Feind angegriffen wurden. Sie können als Reste eines evolutionär alten affektiven Kommunikationssystems betrachtet werden. Noch heute findet man bei vielen sozial lebenden Säugern bei Bedrohung derartige Lautäußerungen. Außerdem fördern die negativen Emotionen ein Vermeidungsverhalten, so dass der Abstand zur Schallquelle erhöht wird. Auf diese Weise wird ein Sicherheitsabstand erzielt und das Gehör geschützt. Schließlich wird in Zusammenhang mit kämpferischen Auseinandersetzungen der Gegner durch die aufgestellten Haare eingeschüchtert und gleichzeitig die Gedächtniskonsolidierung für die Situation gefördert. Auf

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diese Weise werden die Situationen besser memoriert und auch die damit verbundenen akustischen Muster eingespeichert. Vielleicht reichen ja die Wurzeln eines solchen Verhaltens ca. drei Millionen Jahre zurück, als unser ca. ein Meter kleiner Vorfahr, Australopithecus afarensis, durch das hohe Gras der zentralafrikanischen Trockensteppen streifte und von den Schreien der ihn jagenden großen afrikanischen Adler in Panik versetzt wurde. Die Situation für die positive Chill-Reaktion beim Hören von Musik ist komplizierter. Die häufig zitierte, oben erwähnte »Trennungsruf«-Hypothese von Jaak Panksepp ist bislang noch nicht empirisch belegt (Panksepp 1995). Gegen den Trennungsruf als ursprüngliche Quelle der Chill-Reaktion spricht der fehlende Nachweis von akustisch evozierten Chill-Reaktionen bei Säuglingen und Kleinkindern, zum Beispiel beim Hören von beruhigenden Wiegenliedern. Eventuell ist ein solches Phänomen bislang übersehen worden. Aber nach unseren informellen Befragungen von Kindern und Jugendlichen scheinen die positiven Chill-Reaktionen frühestens kurz vor Erreichen der Pubertät aufzutreten. Zugegebenermaßen fehlt auch zu diesem interessanten Thema noch empirische Forschung. Es gibt zwei weitere Möglichkeiten, den positiven Chill-Reaktionen einen evolutionär adaptiven Wert zuzusprechen. Da Chill-Reaktionen ja vor allem bei neuen, unerwarteten akustischen Stimuli entstehen und die Gedächtnisbildung erleichtern, wird dadurch unser akustisches Muster-Erkennungsvermögen erhöht und unser Repertoire an akustischen Gestalten erweitert. Darüber hinaus ist die Chill-Reaktion ja mit der Aktivierung der neuronalen Belohnungsnetzwerke verbunden, wodurch die Erlebnisse positiv bewertet werden und unsere Neugier auf unerwartete akustische Ereignisse lustvoll gesteigert wird. Dies wiederum war von evolutionärer Bedeutung, da eine schnelle und präzise Klassifizierung von akustischen Reizen eine Voraussetzung für ein optimales Verhalten war. So konnten wir die Geräusche eines sich nachts anschleichenden Raubtiers, aber auch die feinen Nuancen der emotionalen Lautäußerungen unserer Artgenossen sicher erkennen. Wir vermuten daher, dass die treibende Kraft für die Entwicklung unseres überlegenen auditiven Gedächtnisses eben jene chill-vermittelte Belohnung bei der Identifizierung neuer akustischer Muster war. Vermutlich boten auch die ersten Lieder und Gesänge, die ersten Klänge von primitiven Musikinstrumenten, z.B. das Schlagen mit Hölzern auf hohle Baumstämme, einen sicheren Rahmen um das auditive Unterscheidungsvermögen zu trainieren. Darüber hinaus wurden die stimmlichen Fähigkeiten verbessert und damit auch die Voraussetzungen für ein hochdifferenziertes akustisches Kommunikationssystem, nämlich Sprache, geschaffen. Das zweite evolutionär adaptive Merkmal der Chill-Reaktion ist die Erzeugung von positiven Emotionen. Durch Aktivierung des sympathischen Nervensystems und des Belohnungssystems konnte Musik als eine »transfor-

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mative Technologie des Geistes« (TTM) Momente des Glücks und des Trostes im harten Leben der frühen modernen Menschen bereiten. Vor 35.000 Jahren lagen die Hohle-Fels- und Geißenklösterle-Höhlen in alpiner Tundra. Erkrankungen des Bewegungsapparats, Magen-Darm-Infektionen, Parasiten, Zahnschmerzen und die allgegenwärtige Kälte machten das Leben beschwerlich. Musik konnte hier Momente des Wohlbefindens erzeugen und so die Liebe zum Leben neu erwecken. Was sind dann die Ursprünge der Musik und wann begann Musik, Teil unseres menschlichen Daseins zu werden? Im Folgenden wollen wir unsere »Mixed Origins of Music«-Theorie, oder kurz »MOM-Theorie«, darstellen. Darin versuchen wir, die verschiedenen Aspekte zu berücksichtigen, die für einen evolutionär adaptiven Wert der Musik sprechen. Wir sind uns dessen bewusst, dass diese Theorie – wie viele andere Theorien zur Evolution – nicht direkt nachgewiesen werden kann, da es keine Aufzeichnungen über die musikalischen Aktivitäten der ersten Menschen gibt. Allerdings sind wir bestrebt, unsere Argumente mit physiologischen Befunden, die auf phylogenetisch alte Mechanismen verweisen, zu unterstützen. Wenn wir die Chill-Reaktion bei Musik betrachten, so kann man davon ausgehen, dass ihre Wurzeln phylogenetisch alt sind und ursprünglich der Thermoregulation, aber auch der Abwehr gedient haben. Das erklärt, warum diese Reaktion einerseits bei positiv bewerteten Reizen, die mit »sozialer Wärme« einhergehen, andererseits bei negativ bewerteten schrillen Lauten auftritt. Im Lauf der Phylogenese wurden diese sehr einfachen Reaktionen veränderbar und die reflexartigen Verschaltungen wurden durch Lernen moduliert. Insbesondere, nachdem die Behaarung und damit der ursprüngliche thermoregulatorische Zweck verloren war, konnte die Chill-Reaktion für andere Sinnesmodalitäten genutzt werden. Die begleitende Erregung und die Ausschüttung von Neurohormonen unterstützten die Gedächtnisbildung. Dies war insbesondere in der akustischen Modalität von Vorteil, da sich das soziale Lautrepertoire der frühen Hominiden enorm erweiterte und somit vor allem auch ein leistungsstarkes Gedächtnis für auditive Muster notwendig wurde. Vermutlich traten diese Chill-Reaktionen bei einfachen emotionalen Lautäußerungen, zum Beispiel beim Stöhnen und Lachen auf. Nach und nach entwickelte sich eine differenzierte rhythmisch-melodische Unterscheidungsfähigkeit, die erst die Voraussetzung für die »Erfindung« der Musik bildete. Dieser Vorgang könnte mit der Erfindung der Kontrolle des Feuers vergleichbar sein. Musik hatte dabei zahlreiche positive Wirkungen: sie unterstützte auf spielerische Weise die auditive Mustererkennung, sie förderte das Wohlbefinden und den sozialen Zusammenhalt. In Abb. 1 haben wir unsere MOM-Theorie graphisch dargestellt und das oben gesagte zusammengefasst.

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Abbildung 1: Flussdiagramm der »Mixed Origins of Music«-Theorie.

Zusammenfassend argumentieren wir, dass auf der Grundlage eines sehr alten affektiven Kommunikationssystems auditives Lernen durch die Chill-Reaktion belohnt wurde. Dies führt zu einer zunehmenden Verfeinerung der auditiven Diskriminationsfähigkeit, zur präzisen Wahrnehmung von Rhythmen und Melodien. Dies wiederum könnte den Boden für den Erwerb von Sprache und auch für die »Erfindung« der Musik bereitet haben. Musik diente dabei zahlreichen Funktionen, wie ja auch die Kontrolle des Feuers zahlreiche positive Konsequenzen für die Menschen hatte. Musik bot einen sicheren »Spielplatz« für neue Hör-Erfahrungen, förderte die Gruppen-Synchronisierung, den Gruppenzusammenhalt, die Mutter-Kind-Bindung und den Spracherwerb. Musik erhöhte das Wohlbefinden – und in seltenen Momenten erzeugte Musik sogar Glücksgefühle: die Chill-Reaktion.3

3  |  Eine deutlich erweiterte und veränderte englische Version des Beitrags erschien in dem Buch Evolution of Emotional Communication: From Sounds in Nonhuman Mammals to Speech and Music in Man « hg. von Eckart Altenmüller, Elke Zimmermann und Sabine Schmidt, Oxford 2013.

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Autoren Prof. Dr. Eckart Altenmüller, Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin, Kontakt: eckart.alten [email protected] Pavlos Antoniadis, Berlin, Kontakt: [email protected] Prof. Dr. Michael Heinemann, Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, Institut für Musikwissenschaft, Kontakt: michael.heinemann@ hfmdd.de Prof. Dr. Jörn Peter Hiekel, Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, Institut für Neue Musik, Kontakt: [email protected] Prof. Dr. Hans-Christian Jabusch, Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, Institut für Musikermedizin, Kontakt: [email protected] Prof. Dr. Reinhard Kopiez, Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, Institut für musikpädagogische Forschung (ifmpf), Kontakt: reinhard. [email protected] Prof. Dr. Wolfgang Lessing, Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, Institut für musikalisches Lehren und Lernen, Kontakt: wolfgang. [email protected] Prof. Dr. Akeo Okada, Kyoto University, Japan, Institute for Research in Humanities, Kontakt: [email protected] Prof. Dr. Wolfgang Rüdiger, Robert Schumann Hochschule Düsseldorf, Kontakt: [email protected] Prof. Dr. emer. Martin Zenck, Universität Würzburg, Institut für Musikforschung, Kontakt: [email protected]

Musik und Klangkultur Camille Hongler, Christoph Haffter, Silvan Moosmüller (Hg.) Geräusch – das Andere der Musik Untersuchungen an den Grenzen des Musikalischen November 2014, ca. 150 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2868-5

Teresa Leonhardmair Bewegung in der Musik Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen November 2014, ca. 330 Seiten, kart., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2833-3

Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.) Unlaute Noise/Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 Oktober 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2534-9

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Musik und Klangkultur Christina Richter-Ibáñez Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957) Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen April 2014, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2662-9

Steffen Scholl Musik – Raum – Technik Zur Entwicklung und Anwendung der graphischen Programmierumgebung »Max« Januar 2014, 236 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,99 €, ISBN 978-3-8376-2527-1

Christian Utz Komponieren im Kontext der Globalisierung Perspektiven für eine Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts Februar 2014, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2403-8

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